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German Pages 488 Year 2016
Lydia Wegener Der ‚Frankfurter‘/‚Theologia deutsch‘
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 201
Lydia Wegener
Der ,Frankfurter‘/ ,Theologia deutsch‘
Spielräume und Grenzen des Sagbaren
ISBN 978-3-11-044371-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044687-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044611-1 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3 2.2.3.4 2.2.3.5 2.2.3.6 2.3 2.3.1
IX Einleitung 1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘ 1 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise 10 Einblicke in den Forschungsstand 10 Vorüberlegungen zum Erkenntnisinteresse der Arbeit 17 Methodische Vorgehensweise 38 Vorausschau auf die folgenden Kapitel 63 Augustinus im ‚Frankfurter‘? 69 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung zu Luthers Perspektive auf den ‚Frankfurter‘ 69 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ 91 Vorbemerkungen zur Augustinus-Rezeption in Mittelalter und früher Neuzeit 91 Grundaspekte augustinischer Spiritualität in der ‚deutschen Mystik‘ und die Opposition des ‚Frankfurter‘ 109 Die Natur des Menschen: natura elevata und natura vitiata 109 Das Gott-Mensch-Verhältnis: Intimität und Fremdheit 119 Der Adel des Menschen: ontologischer Gottesbezug und imitatio Christi 136 Der Mensch als Bild Gottes – ontologischer Bezug versus Zueignung von außen 143 Dominikanische imago-Lehren 143 Die Gottebenbildlichkeit in der deutschen mystischen Prosa 150 Die Verschiebung der diskursiven Koordinaten in der Bildlehre des ‚Frankfurter‘ 154 Einbindung und Abgrenzung der Bildlehre des ‚Frankfurter‘ 163 Der ‚Frankfurter‘ und Augustinus: Abwehr einer ‚doppelten Anthropologie‘ 169 Der ‚Frankfurter‘ und Augustinus: Abwehr einer ‚doppelten Bildlehre‘ 173 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses: von Meister Eckhart zum ‚Frankfurter‘ 181 Von der natura elevata zur natura vitiata 182
VI
2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.5.1 2.3.5.2 2.3.5.3 2.3.5.4 2.3.5.5 2.3.6
Inhaltsverzeichnis
Die Befähigung des Menschen zum Guten als subjektiver Wahn oder heilsökonomisches Faktum? 207 gelâzenheit versus Verdienststreben innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ 207 Die Abweisung des Verdienststrebens bei Meister Eckhart und im ‚Frankfurter‘ 211 Die Distanz Meister Eckharts zum ‚Frankfurter‘ hinsichtlich der Anerkennung menschlicher Verdienstfähigkeit 221 Die Anerkennung des Verdienststrebens in der nacheckhartischen Mystik und die Gegenposition des ‚Frankfurter‘ 235 Gottes Wirken im Menschen als Zuwendung zum Geschöpf oder autistischer Selbstbezug? 244 Die Geltung des facere quod in se est in der ‚deutschen Mystik‘ und seine Zurückweisung im ‚Frankfurter‘ 257 Die Freiheit vom Gesetz und die Gefahr der Separation von ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Menschen 270 „ubi spiritus, ibi libertas“ – zur Reformulierung eines augustinischen Motivs 270 Die Konzeption der libertas Christi im ‚Frankfurter‘ 273 Gesetzesfreiheit versus Gesetzlosigkeit: die Abwehr häretischer Irrlehren 277 Das Ideal der freien Gesetzesbindung: die ‚Erleuchteten‘ und ihre Gegner 286 Der erzieherische Nutzen des Gesetzes bei Augustinus und im ‚Frankfurter‘ 293 ‚Freier‘ und ‚befreiter‘ Wille 297
Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘ 313 Vorbemerkungen 313 317 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘ ‚Gott als Gottheit‘: das Problem absoluter Unbezogenheit des Göttlichen 317 3.2.2 ‚Gott als Gott‘: die Entdynamisierung des Göttlichen 323 3.2.3 ‚Gott, insofern er Mensch ist‘: die Abhängigkeit Gottes von der Kreatur 335 3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre 341 3.3.1 Gottes ‚Autismus‘ 341 3.3.2 Gott als Leidender 348 3.3.2.1 Leiden und Leidenthobenheit von Mensch und Gott im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ 348
3 3.1 3.2 3.2.1
Inhaltsverzeichnis
3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.4 4.2.4.1 4.2.4.2 4.2.5
VII
Leidlosigkeit und Leiden des vergotteten Menschen im ‚Frankfurter‘ 354 Die Auswirkungen der Dependenzlehre auf das Leidenskonzept des ‚Frankfurter‘ 360 Der falsche Anspruch der ‚freien Geister‘ auf Leidenthobenheit 377 Resümee und Ausblick 384 Resümee 384 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘ (1516, 1518, 1520) 387 Einführung 387 Eyn geyſtlich edles Buchleynn – die Wittenberger Druckausgabe von 1516 392 Das Titelblatt 392 Die Vorrede 394 Die drei lateinischen Randbemerkungen 395 Inhaltliche Aspekte 399 Eyn deutſch Theologia – die Wittenberger Druckausgabe von 1518 411 Titelblatt und Vorrede 411 Inhaltliche Aspekte 415 Eyn Deutſch Theologia – die Wittenberger Druckausgabe von 1520 425 Inhaltliche Aspekte 426 Die Randbemerkungen 430 Schlussbemerkung 434
Anhang 436 Abkürzungen 436 Literaturverzeichnis 437 Verzeichnis der Handschriften 470 Verzeichnis der Drucke 470 Personen- und Werkregister 471
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Gleichwohl befand sie sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem vorläufigen Zustand, so dass für den Druck eine grundlegende Überarbeitung notwendig war. Zwar handelt es sich bei der jetzigen modifizierten, ergänzten und aktualisierten Fassung noch immer um die gleiche Arbeit, insofern sich das Thema, die These und der Argumentationsgang nicht verändert haben. Sie entspricht in der Ausführung aber nun erst der eigentlich geplanten Studie. Bedanken möchte ich mich hier vor allem bei Prof. Dr. Erich Kleinschmidt, der das Entstehen dieser Arbeit über mehrere Jahre hinweg intensiv begleitet hat und dessen wissenschaftliche Anregungen in vielfacher Hinsicht Eingang in die Analyse gefunden haben. Ohne seine stets inspirierende Unterstützung wäre diese Studie in der jetzigen Form nicht zustande gekommen. Ferner gilt mein Dank Prof. Dr. Andreas Speer, der mir während meiner Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thomas-Institut der Universität zu Köln die Möglichkeit geboten hat, meine philosophischen Interessen in ausgiebigen Gesprächen mit ihm und den Institutsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern zu erweitern und zu vertiefen. Ohne diese Kenntnisse hätte ich die Arbeit ebenfalls nicht schreiben können. Zu besonderem Dank bin ich ferner Herrn PD Dr. Martin Schubert verpflichtet, der mir in der Fertigstellungsphase der Arbeit stets mit Rat und Tat zur Seite stand und ohne dessen sorgfältige Korrektur der druckfertigen Version mancher Fehler unentdeckt geblieben wäre. Weitere Unterstützung bei der Endkorrektur erhielt ich durch Frau Sandra Hofert, die in akribischer Durchsicht meines Typoskripts ebenfalls viele kleine Ungereimtheiten aufgespürt hat. Auch ihr möchte ich meinen Dank aussprechen. Danken möchte ich zudem meinen derzeitigen und früheren Arbeitskolleginnen und -kollegen bei der Arbeitsstelle ‚Deutsche Texte des Mittelalters‘ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die mich gerade in schwierigen Phasen stets dazu motiviert haben, die Studie allen Widrigkeiten zum Trotz endgültig fertigzustellen. Mein herzlicher Dank gilt des Weiteren Prof. Dr. Friedrich Vollhardt und Prof. Dr. Jan-Dirk Müller für die Aufnahme der Arbeit in die Buchreihe ‚Frühe Neuzeit‘. Schließlich kann ich mich nicht genug bei meinem Lebensgefährten Andreas Brands bedanken, der zeitweilig schon nicht mehr daran glaubte, dass diese Studie jemals in den Druck gelangen würde und mir trotzdem durch alle Krisen hindurch konstant zur Seite stand. Ihm sei dieses Buch gewidmet. Berlin im August 2015
1 Einleitung 1.1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘ In einem Brief vom 06. Mai 1517 an den Geheimsekretär des sächsischen Kurfürsten Georg Spalatin spricht Martin Luther eine geradezu überschwängliche Literaturempfehlung aus, die sich keineswegs auf eine der großen kirchlichen Autoritäten, sondern auf ein kurzes volkssprachliches Werk bezieht: tercium, scilicet Adamum brevissimum, sed cuius mihi simile (non mentior) in manus non venit, theologicissimum Ecce mitto. Penitebit autem missionis, si indiligenter legeris. Ecce Erasmus Eruditissimus una cum sibi laudatissimo Hiero[nymo] Nescio an possent talem componere; non composuisse eos talem certus sum.1
Auch wenn das ,überaus theologische‘ Werk hier keinen Titel im eigentlichen Sinne trägt, so lässt es sich anhand der Bezeichnung Adamum brevissimum doch leicht identifizieren: In der kurzen Passage geht es um jenen – wohl am Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstandenen2 – mittelhochdeutschen Traktat, der bis heute unter dem Namen ‚Theologia deutsch‘ einige Berühmtheit genießt: Denn schließlich handelt es sich hier nicht nur um das erste bekannte Zeugnis von Luthers verlegerischer Tätigkeit, das zugleich das Interesse des Wittenberger Theologieprofessors an volkssprachlichen Texten dokumentiert, sondern um einen Grundtext der Reformation, von dessen Siegeszug die vor einem guten halben Jahrhundert entstandene Bibliographie Georg Barings noch immer eindrucksvoll Zeugnis ablegt.3
1 Weimarer Ausgabe, Briefe (im Folgenden: WA.B) 1, S. 96 (Nr. 39), Z. 8–12. 2 Der Überlieferungskontext (siehe dazu auch Kap. 1.2.1, S. 12–14) verankert die ‚Theologia deutsch‘ noch im vierzehnten Jahrhundert. Siehe dazu die Einleitung Wolfgang von Hintens zur kritischen Textausgabe (‚Der Franckforter‘), S. 2–3 sowie S. 58–60. Siehe ferner ‚Der Franckforter‘ (hg. Haas), S. 13. Dass es sich um ein spätes Zeugnis der sogenannten ‚deutschen Mystik‘ handelt, wird vor allem durch den theologisch-philosophischen Gehalt des Traktats nahegelegt, insofern dieser die im Anschluss an Meister Eckharts Verurteilung in volkssprachlichen Texten geführten Diskussionen aufnimmt und in einer Weise fortsetzt und radikalisiert, die anderen mystischen Predigten und Traktaten unbekannt ist. Dies wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit deutlich herausstellen. Von elementarer Bedeutung wird dabei vor allem die inhaltliche Verwandtschaft zum Tauler-Œuvre sein, die bereits Martin Luther erkannt hat (vgl. dazu Kap. 2.1). 3 Baring: Bibliographie. Er kann bis 1961 190 Ausgaben nachweisen, davon 124 deutschsprachige. Luthers Erstausgabe des vollständigen Textes (Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1518) wurde allein bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts über zwanzig Mal nachgedruckt.
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1 Einleitung
Im Jahre 1517 indessen war die prägnante Etikettierung der Schrift als ‚Theologia deutsch‘ selbst ihrem ersten Herausgeber noch unbekannt: Als Luther den Traktat – im Übrigen nicht das vollständige Werk, sondern eine aus den Kapiteln 7 bis 28 bestehende Kurzfassung4 – fünf Monate vor dem zitierten Brief (am 04. Dezember 1516) in den Druck gab, geschah dies in Ermangelung eines ursprünglichen Titels5 unter der Überschrift Eyn geyſtlich edles Buchleynn von rechter vnderſcheyd vnd vorstand, was der alt v new menſche ſey, Was Adams v was gottis kind sey, v wie Adā ynn vns ſterben vnnd Chriſtus ersteen ſall.6 Luthers Bezeichnung Adamum brevissimum kondensiert diese Inhaltsbeschreibung zu einer griffigen Formel. Erst 1518, nachdem der Wittenberger Theologieprofessor eine vollständige Version des ‚Büchleins‘ entdeckt7 und unter dem ebenso neuen
4 Nach der Zählung in der Ausgabe von Hintens, die wiederum der Dessauer Handschrift folgt. Die Kapitelzählung schwankt in den einzelnen Überlieferungszeugen geringfügig, ohne dass sich dies auf den Inhalt auswirkt. So enthält die Dessauer Handschrift 53, die Frankfurter Handschrift 54 und der Lutherdruck von 1518 56 Kapitel. 5 Worauf Luther in seiner Vorrede zur Erstausgabe explizit hinweist: „[…] dan dißmall ist das buchleyn an titell unnd namen funden.“ Weimarer Ausgabe (im Folgenden: WA) 1, S. 153. 6 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 11 (Titelblatt des Erstdrucks). Die Zeichensetzung wurde in der obigen Wiedergabe modernisiert. 7 Die Frage, wo Luther die handschriftlichen Vorlagen für seine beiden Druckversionen aufgespürt hat, ist in den letzten Jahren von Henrik Otto und Hans Schneider diskutiert worden. Siehe Otto: Die Herkunft; Schneider: Zur Herkunft. Ausgehend von drei Besitzvermerken in einem Augsburger Tauler-Druck von 1508, der sich heutzutage in der British Library in London befindet (Signatur: 691.f.8), kommen sowohl Otto als auch Schneider zu dem Schluss, dass Luther eine zweibändige Textzusammenstellung, die auch die ‚Theologia deutsch‘ enthielt, aus dem Kölner Konvent der Augustinereremiten entliehen hatte und diese Vorlage für einen der beiden Drucke verwendete. Während Otto jedoch annimmt, dass die entliehenen Manuskripte der Kölner Niederlassung der Augustinereremiten gehörten, vertritt Schneider aufgrund einer Neuinterpretation der Besitzeinträge die Auffassung, dass der eigentliche Besitzer die fratres heremitarum Sancti Augustini in Himmelpforten gewesen seien, welche die Bände nach Köln ausgeliehen hatten. Übereinstimmend sind Otto und Schneider dann wieder der Meinung, dass der Tauler-Band als Ersatz für die von Luther entliehenen Bände diente, die nicht mehr zurückgefordert werden konnten, „quia luther postea hereticus factus est et ab ecclesia reiectus cum sibi adherentibus“ (zit. nach Schneider, S. 83). Die Frage, für welchen der beiden Luther-Drucke der aus Köln entliehene Text als Vorlage diente, muss einstweilen offen bleiben; da Luther offenbar keine Zeit mehr fand, die Leihgabe zu restituieren, spricht sich Schneider für die spätere (d. h. vollständige) Edition aus, die zu einer Zeit erschien, als Luther von den beginnenden Streitigkeiten um seine Theologie bereits sehr in Anspruch genommen war. Auf jeden Fall zeigt sich durch die Besitzvermerke, dass sowohl die ‚Theologia deutsch‘ als auch die Predigten Taulers im Orden der Augustinereremiten bekannt waren, wobei es äußerst fraglich ist, ob Ersterer vor Luthers Interessenbekundung jemals viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Sie scheint hier analog zu vielen selten oder sogar unikal überlieferten anonymen Traktaten im übergreifenden Zusammenhang einer mystischen Sammelhandschrift mittransportiert worden zu sein, wie es auch bei der heute noch vorhandenen mittel-
1.1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘
3
wie programmatischen Titel ‚Eyn deutsch Theologia‘8 veröffentlicht hatte, erfolgte durch den findigen Augsburger Drucker Silvan Otmar die Umbenennung in ‚Theologia Teütsch‘9 – eine Pointierung, die fortan die Überlieferungsgeschichte prägen sollte.10 Zwar kennt die Mediävistik bereits seit dem 19. Jahrhundert einen noch im Mittelalter entstandenen Titel des Traktats; dieser dürfte nach heutigem Wissen jedoch an jene redaktionelle Bearbeitung gebunden sein, welche sich nur in der Frankfurter (früher Bronnbacher) Handschrift erhalten hat und den ursprünglichen Textbestand um etwa zehn Prozent erweitert.11 Hier lautet die Über-
alterlichen Überlieferung der ‚Theologia deutsch‘ der Fall ist. Siehe dazu auch Kap. 1.2.2, S. 19– 23. Vor Otto und Schneider hatten sich bereits Georg Baring und Edward Schröder mit den Vorlagen für Luthers Drucke auseinandergesetzt. Siehe dazu die Diskussion bei Otto: Die Herkunft, S. 440–441. Hier sei nur eine Anmerkung zu Barings – von Otto bezweifelter – These hinzugefügt, dass Luthers Erstdruck der ‚Theologia deutsch‘ auf der Handschrift einer preußischen Deutschordens-Kommende beruhe. Grundlage für Barings These ist eine Bemerkung Johannes Agricolas in seiner Sprichwörtersammlung aus dem Jahr 1529, die sich auf das aus der ‚Theologia deutsch‘ stammende Sprichwort Nr. 720 bezieht. Sie lautet (zit. nach Otto, S. 441; vgl. VD 16: A 957, fol. 230r): „Es ist bey meinem gedencken inn Preussen ein tewtsch büchlin funden worden auff einem Kometerhofe /des titel ist /Ein geystlich büchlin von rechter vnterschyd /was der alt und new mensch sey /darynne wirdt dises sprichwort gebrauchet.“ Der hier genannte Titel stammt indessen von Luther, der den Traktat nach eigener Auskunft ohne Titel aufgefunden hatte (s. o., Anm. 5). Auch von daher erscheint Agricolas Auskunft fragwürdig. 8 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 28. Der vollständige Titel lautet (nach VD 16: T 896): Eyn deutſch Theologia. das iſt Eyn edles Buchleyn /von rechtem vorſtand /was Adam vnd Chriſtus ſey /vnd wie Adam yn vns ſterben /vnd Chriſtus erſteen ſall. 9 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 34. Auch hier bleibt die bereits in der Erstausgabe programmatisch in den Vordergrund gestellte Opposition von Adam und Christus erhalten, lautet der komplette Titel doch Theologia Teütsch. Das ist ain edels vnd kostlichs büchlin /von rechtem verstannd /was Adam vnd Christus sey /vnd wie Adam in vnns sterben /vnd Christus ersteen soll etc. Siehe zur Adam-Christus-Antinomie auch Kap. 2.2.3.3–2.2.3.5. 10 Im ersten Jahrzehnt nach Otmars Umbenennung halten sich noch beide Titel. Von den elf bei Baring nachgewiesenen deutschen Druckausgaben bis 1530, die auf den Otmar-Druck folgen (Baring: Bibliographie, S. 34–47), übernehmen sieben Otmars prägnante Formulierung, während vier an Luthers Titel festhalten. Nach 1530 gewinnt jedoch die Bezeichnung ‚Theologia deutsch‘, die als Theologia Germanica auch in die lateinischen Übersetzungen Eingang findet, eindeutig die Oberhand. 11 Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 25 sowie S. 34–39. Unter ‚ursprünglichem Textbestand‘ wird hier der Textbestand verstanden, den die beiden vollständigen Handschriften D und E sowie Druck B (Luther-Ausgabe von 1518) überliefern. Tatsächlich weist auch dieser die Merkmale einer redaktionellen Ergänzung auf, die allerdings schon kurz nach der Entstehung des Traktats anzusetzen ist. Siehe dazu auch unten, Anm. 17 sowie Kap. 1.2.1, S. 15.
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1 Einleitung
schrift – wohl ein sekundärer, aus dem Prolog extrahierter Zusatz – ‚Der Franckforter‘.12 Die anderen sieben der acht bisher entdeckten spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen der ‚Theologia deutsch‘ tragen jedoch keinen Titel.13 Dass dasselbe für die verloren gegangenen Vorlagen der beiden von Luther besorgten Ausgaben gegolten haben dürfte,14 geht nicht nur aus der innovativen Titelgebung der Editionen und aus Luthers Vorrede von 1516 hervor.15 Darüber hinaus hat ein im Rahmen der kritischen Ausgabe durchgeführter Vergleich der Drucke mit den erhaltenen Handschriften eindeutig erwiesen, dass der Wittenberger Theologieprofessor die erweiterte Redaktion, und damit auch den mittelalterlichen Titel, nicht kannte.16 Vielmehr entsprechen die beiden Ausgaben in ihrem Textbestand jenen sieben Manuskripten, die eine ursprünglichere Textversion17 bieten. Kehren wir nach diesem kurzen überlieferungsgeschichtlichen Exkurs zum Titel der ‚Theologia deutsch‘ nun wieder zum Eingangszitat zurück. Luthers prägnante Verdichtung des Traktatinhalts zu der Bezeichnung Adamum brevissimum deutet bereits darauf hin, dass er die Schrift aus einer ganz bestimmten
12 Frankfurter Handschrift (C), fol. 84v: „Hie hebet ſich an der frāckforter vnd ſeczt gar hoche vnd gar ſchn dingk von eynem volkomen leben.“ Ein ähnlicher Titel ist im Bibliothekskatalog der Erfurter Kartause Salvatorberg belegt. Da der hier verzeichnete „tractatus profundus, qui intitulatur Franckenfordensis“ (vgl. ‚Der Franckforter‘ [hg. von Hinten], S. 3; von Hinten: Art. ‚Der Frankfurter‘, Sp. 803–804) nicht mehr auffindbar ist, muss offen bleiben, ob es sich tatsächlich um unseren Traktat – wahrscheinlich ebenfalls in der überarbeiteten Fassung – gehandelt hat. 13 Zu den Handschriften siehe Kap. 1.2.1, Anm. 45. 14 Eine weitere möglicherweise von Luther besorgte Ausgabe der ‚Theologia deutsch‘ erschien 1520 in Wittenberg – wiederum bei Rhau-Grunenberg. Vgl. Grosse: Der junge Luther, S. 216; Schneider: Zur Herkunft, S. 80; VD 16: T 902. Sie basiert allerdings auf dem vollständigen Druck von 1518. 15 Siehe oben, Anm. 5. 16 Luthers Verhalten als Editor ist diskutiert in der Ausgabe Wolfgang von Hintens, S. 52–57. 17 Trotz aller Eingriffe in den Text, die Wolfgang von Hinten in der ‚Charakteristik der Handschriften und Erstdrucke‘ (Einleitung zur Ausgabe, S. 29–51) dokumentiert, ist dieser in einer bemerkenswerten Konstanz überliefert. Mit Ausnahme der Frankfurter Handschrift (C) gehören alle Überlieferungszeugen – einschließlich der beiden Erstdrucke – derselben, dem Ursprungstext nahestehenden Redaktion an. Allerdings gilt es zwei Einschränkungen zu machen: 1.) In den meisten Handschriften und dem Erstdruck ist der Traktat nur auszugsweise enthalten; es lässt sich daher nicht mit letztgültiger Sicherheit feststellen, ob redaktionell bearbeitete Vorlagen verloren gegangen sind. 2.) Vermutlich haben ein oder mehrere Redaktoren den Text bereits kurz nach seiner Entstehung ergänzt. Diese Ergänzungen haben sich so genuin mit dem Traktat verbunden, dass sie in alle vollständigen Überlieferungszeugen (Druck B, Handschriften C, D und E) Eingang gefunden haben und auch fester Bestandteil der kritischen Edition sind. Vgl. auch oben, Anm. 11 und Kap. 1.2.1, S. 15.
1.1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘
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Perspektive liest, hätte diese doch zahlreiche alternative Ansatzpunkte für eine solche Zusammenfassung geboten. Mit der Fokussierung auf Adam – die vollständigen Titel der ersten Druckausgaben zeigen, dass der ‚alte Adam‘ im Kontrast zum ‚neuen Menschen‘ bzw. Christus gemeint ist18 – spricht Luther jedoch bewusst ein zentrales Thema der sich im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts formierenden Wittenberger Theologie an. Die Edition des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ offenbart also weitaus mehr als das Interesse eines humanistisch orientierten Gelehrten an mittelalterlichen volkssprachlichen Texten. Ihre Einbettung in einen spezifischen historischen Kontext lässt vielmehr auf eine programmatische Funktion schließen, die auch in dem Seitenhieb auf Erasmus und den Kirchenvater Hieronymus zum Ausdruck kommt. Denn indem Luther das ,überaus theologische‘ Werk über den berühmten niederländischen Humanisten und dessen favorisierte patristische Autorität erhebt, spielt er auf eine von ihm selbst forcierte und fest in der Wittenberger Theologie verankerte Frontstellung an, nämlich ‚Erasmus/Hieronymus‘ contra ‚Luther/Augustinus‘.19
18 Siehe oben, S. 2 sowie Anm. 8 und 9. 19 Bereits in einem Brief vom 19. Oktober 1516 – keine zwei Monate vor der erstmaligen Drucklegung der ‚Theologia deutsch‘ – macht Luther Erasmus den Vorwurf, eine unzulängliche Lehre von Erbsünde und Rechtfertigung zu vertreten, während sich deren ‚richtige‘ Auffassung in den antipelagianischen Schriften des Augustinus finde. Den von ihm wahrgenommenen Gegensatz zwischen seinem eigenen und Erasmus’ Standpunkt macht er explizit an ihrem unterschiedlichen Verhältnis zu den Kirchenvätern Augustinus und Hieronymus fest. Vgl. WA.B 1, S. 70 (Nr. 27), Z. 17–19: „Ego sane in hoc dissentire ab Erasmo non dubito, quod Augustino in scripturis interpretandis tantum posthabeo Hieronymum, quantum ipse Augustinum in omnibus Hieronymo posthabet.“ Siehe dazu auch Aland: Die theologischen Anfänge, S. 562; Oberman: ‚Tuus sum‘, S. 361 mit Anm. 47; ders.: Werden und Wertung, S. 94. Bereits 1515 hatte der niederländische Humanist Hieronymus programmatisch zum summus theologus erhoben (vgl. Oberman: ‚Tuus sum‘, S. 361– 362) und dieses Werturteil 1516 mit seiner neunbändigen Hieronymus-Edition unterstrichen. Zur Hieronymus-Verehrung des Erasmus, die sich in den breiteren Kontext einer humanistischen Hochschätzung des Gelehrten-Heiligen einfügt, siehe ferner Bietenholz: Erasmus; den Boeft: Erasmus; Hamm: Hieronymus-Begeisterung, bes. S. 180–182. Zwar wurde im Zuge des „programmatischen humanistischen Aufbruchs der Universität Wittenberg“ (Bubenheimer: Thomas Müntzer, S. 165) im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts neben Augustinus auch Hieronymus in die Lehre einbezogen (vgl. ebd., S. 153–170). Kruse (Universitätstheologie, S. 48) weist jedoch darauf hin, dass sich bereits in der Edition der Hieronymus-Briefe durch Luthers Mitstreiter Johannes Lang (1515) Hinweise auf eine inhaltliche Bevorzugung des Augustinus finden. Ende 1516 war die augustinisch-antipelagianisch ausgerichtete Theologie Luthers durch die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (siehe Kap. 2.1, S. 76 und S. 85) der universitären Öffentlichkeit bekannt geworden. Darüber hinaus wurden punktuell bereits bürgerliche Kreise von einer am späten Augustinus orientierten Gnadentheologie erreicht, so durch die Nürnberger Adventspredigten des Johann von Staupitz, welche in ihren „christologischen und recht-
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1 Einleitung
Luther platziert die ‚Theologia deutsch‘ hier also implizit an der Seite des von ihm bevorzugten Kirchenvaters – eine Vereinnahmung, die an dieser Stelle zunächst nur registriert werden soll, die aber im weiteren Verlauf dieser Studie noch eine zentrale Rolle spielen wird. In keinem unmittelbaren Zusammenhang damit scheint zunächst eine weitere Lektüreempfehlung Luthers zu stehen, die er einige Zeilen später in dem Brief an Georg Spalatin ausspricht: „Et librum sermonum Tauleri, de quo et antea tibi verbum feci, tibi quaqua poteris vendica.“20 Tatsächlich konstatiert der Wittenberger jedoch eine enge inhaltliche Verbindung zwischen dem Œuvre des Straßburger Dominikaners und der ‚Theologia deutsch‘ und integriert damit auch die Tauler-Predigten in die oben genannte Frontstellung.21 Wie dem Traktat schreibt er so auch ihnen eine legitimierende Rolle für seinen neuen theologisch-anthropologischen Entwurf zu. In Hinblick auf Luthers Wertschätzung der ‚Theologia deutsch‘ dürfte bereits jetzt deutlich geworden sein, dass diese aus einer von speziellen theologischen Interessen geformten Lektürehaltung resultiert, die bestimmte Aspekte fokussiert, während sie andere ausblendet. Dass die zweifache Edition des Traktats im Zusammenhang mit der Konzeption der Wittenberger Theologie erfolgte, lässt ferner darauf schließen, dass Luther die spätmittelalterliche Schrift für die Abgrenzung gegenüber etablierten theologischen Traditionen in Anspruch genommen hat. Die Begeisterung Martin Luthers für die ‚Theologia deutsch‘ findet einen Widerhall in modernen Interpretationsansätzen. Die Prämissen sind nun allerdings völlig andere, insofern die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Schrift auch die Kenntnisnahme ihres ursprünglichen literarhistorischen Kontextes bedingt. Und so gilt die ‚Theologia deutsch‘ als eine „Grundschrift deutscher Mystik“.22 Diese Einschätzung spiegelt sich in den überschwänglichen, teils geradezu emotional gefärbten Urteilen der Forschung wider: Um ein „Kleinod spätmittelalterlicher Mystik“23 handele es sich, um eine „Perle von besonderem Werte in der christlichen Literaturgeschichte“24 und um das „hervorragendste
fertigungstheologischen Grundzügen strikter Anti-Hieronymismus“ waren (Hamm: HieronymusBegeisterung, S. 228). Die Erstausgabe der ‚Theologia deutsch‘ ist in diesem Kontext einer vorsichtigen Publikmachung der neuen Wittenberger Theologie zu verorten. Siehe dazu auch Kap. 4.2.2. 20 WA.B 1, S. 96 (Nr. 39), Z. 21–22. 21 Siehe dazu Kap. 2.1. 22 So der Titel zur neuhochdeutschen Übersetzung von Gerhard Wehr. 23 Theologia deutsch (hg. Wehr), S. 14. 24 Baring: Neues von der ‚Theologia Deutsch‘, S. 1.
1.1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘
7
theologische Originalwerk des Mittelalters in deutscher Sprache“25 – freilich neben den volkssprachlichen Werken Meister Eckharts.26 Doch obwohl die ‚Theologia deutsch‘ als ein besonders bemerkenswertes Zeugnis der ‚deutschen Mystik‘ angesehen wird, bleibt die Erschließung ihres spezifischen theologisch-philosophischen Profils innerhalb dieses Kontextes seltsam verschwommen. Denn anstatt die durchaus konzedierte Originalität der Schrift herauszuarbeiten27 und so eine Erklärung dafür zu bieten, warum es sich um „ein für die deutsche Ideengeschichte äußerst wichtiges Werk“ handelt,28 zielen die Forschungsbeiträge eher darauf, die inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit anderen mystischen Prosatexten zu ermitteln.29 Diese Tendenz kann so weit gehen, dass die ‚Theologia deutsch‘ als eine Art Kompendium der ‚deutschen Mystik‘ erscheint,30 der Originalitätsaspekt also ausgeblendet wird. Doch selbst jene Studien, die den inhaltlichen Besonderheiten des Traktats gerecht zu werden suchen, binden dessen Aussagen letztlich doch wieder an Altbekanntes zurück und weichen der Auseinandersetzung mit jenen Passagen aus, bei denen eine solche Bezugnahme nicht möglich ist.31 Ein Grund für diese Zurückhaltung gerade gegenüber den extravaganten, in anderen mystischen Predigten und Traktaten so nicht auffindbaren Positionen der ‚Theologia deutsch‘ scheint darin zu liegen, dass sie auch manchen modernen Forschern noch als eine Art opus theologicissimum gilt, wodurch sich eine merkwürdige Parallele zu Luthers Einschätzung ergibt. Doch anders als bei dem Wittenberger, der den Traktat für seine theologisch-anthropologische Neuausrichtung vereinnahmt und ihn damit zugleich gegen seine theologischen Gegner in Stellung bringt, besteht heutzutage eher die umgekehrte Tendenz, die ‚Theologia deutsch‘ als literarisches Zeugnis einer ebenso zeitlos gültigen wie konfessionelle Grenzen überschreitenden christlichen Spiritualität zu betrachten. So bezeichnet Ozment die Schrift als „a truly ecumenical document“,32 Haas sieht in
25 von Hinten: Art. ‚Der Frankfurter‘, Sp. 806. 26 So bereits Pahncke: Zur handschriftlichen Überlieferung, S. 275, der den Traktat zum „hervorragendsten theologischen Originalwerk […] des Mittelalters in deutscher Sprache nach und neben Meister Eckharts ‚Rede der underscheidunge‘ und seinem ‚Buoch der gotlichen trostunge‘ “ kürt. 27 McGinn z. B. spricht von der ‚Theologia deutsch‘ als „one of the most original mystical treatises of the late Middle Ages“. Ders.: The Harvest, S. 404. 28 Mossman: Die Konzeptualisierung, S. 335. 29 Siehe dazu auch Kap. 1.2.2, S. 35. 30 Vgl. Kap. 2.1, S. 71 mit Anm. 8. 31 Siehe dazu auch Kap. 1.2.2, S. 35–38. 32 Ozment: Mysticism and Dissent, S. 23.
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1 Einleitung
ihr ein Plädoyer „für die Grundpfeiler christlichen Daseins“33 und Wehr lobt ihren „ausgesprochen ökumenisch-überkonfessionelle[n] Charakter“.34 Die vorliegende Arbeit enthält sich jeden subjektiven Werturteils über die ‚Theologia deutsch‘. Sie will dem Traktat weder – wie Martin Luther – einen Platz in der Geschichte des ‚wahren‘ Christentums in Abgrenzung von einer deformierten Universitätstheologie zugestehen noch ihm – wie manche moderne Studien – einen Status als überzeitlich gültiges ‚mystisches Kleinod‘ konzedieren. In methodischer Hinsicht allerdings bezieht sie eine klare Position: Sie möchte, und damit ist dann doch eine Verbindung zu Luthers Perspektive gegeben, das Besondere der ‚Theologia deutsch‘ herausarbeiten; im Anschluss an die mediävistische Forschung geschieht dies unter Hinzuziehung ihres ursprünglichen literarhistorischen Kontextes – der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts. Die Spezifika des Traktats lassen sich allerdings nur eruieren, wenn zugleich die formalen und inhaltlichen Übereinstimmungen innerhalb jenes Textfeldes beachtet werden, in dem er aufgrund seiner thematischen Schwerpunkte und seiner Terminologie verankert ist. Es kann und wird in den folgenden Kapiteln also nicht darum gehen, der Genialität der ‚Theologia deutsch‘ auf die Spur zu kommen. Vielmehr besteht das Ziel darin, innerhalb jener Aussageserien, aus denen sich die mystischen Prosaschriften konstituieren und die sie als Bestandteile eines gemeinsamen Textfeldes erweisen, solche diskursiven Verschiebungen zu belegen, die sich in der ‚Theologia deutsch‘ in einer derartigen Intensität niederschlagen, dass sie ihr eine Sonderstellung innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ verleihen – jedoch, ohne sie daraus zu isolieren. Die ‚Theologia deutsch‘ soll damit als engagierter und vitaler Diskussionspartner innerhalb jener zeitgenössischen Debatten herausgestellt werden, die sich im Anschluss an die Verurteilung Meister Eckharts in den zur nacheckhartischen Mystik gehörenden Texten entspinnen. Mit dieser Einbettung des Traktats in die damals virulenten intellektuellen Diskussionen möchte sich die Arbeit dem von Foucault formulierten Ziel annähern, „den vergangenen Diskurs seiner Bewegungslosigkeit zu entreißen und für einen Augenblick etwas von seiner verlorenen Lebhaftigkeit wiederzufinden“.35 Aus den zahlreichen ‚Stimmen‘, mit denen die ‚Theologia deutsch‘ spricht – und die daher ganz unterschiedliche Lesarten gestatten –, sollen dabei vor allem jene herausgefiltert werden, die das ‚Eigene‘ des Traktats zum Ausdruck bringen und diesen teils durchgängig, teils nur punktuell Grenzen überschreiten lassen, die andere mystische Prosatexte ausdrücklich
33 ‚Der Franckforter‘ (hg. Haas), S. 24. 34 Theologia deutsch (hg. Wehr), S. 5. 35 Foucault: Archäologie, S. 179.
1.1 opus theologicissimum und ‚Kleinod spätmittelalterlicher Mystik‘
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oder implizit setzen. Doch nicht nur das, was die ‚Theologia deutsch‘ sagt, ist in diesem Zusammenhang von Interesse, sondern ebenso das, was sie nicht sagt. Es werden also auch jene Aspekte Beachtung finden, die zu den breit akzeptierten Grundkonstituenten der ‚deutschen Mystik‘ gehören, in diesem Traktat jedoch stillschweigend übergangen werden. Es wird sich zeigen, dass durch diese stumme Verweigerung gegenüber bestimmten Aspekten des ‚mystischen Diskurses‘ andere – sonst unterdrückte oder zumindest domestizierte – Gesichtspunkte verstärkt zur Geltung kommen. Zwar befasst sich die Arbeit in erster Linie mit im deutschen Sprachraum entstandenen mystischen Prosatexten des vierzehnten Jahrhunderts. Dass die ‚Theologia deutsch‘ ihre eigentliche Popularität dem Engagement Martin Luthers verdankt – dessen positives Urteil eine völlig neue mediale Präsentation des Traktats bewirkte und ihn damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte –, soll dadurch jedoch nicht in Vergessenheit geraten. Im Gegenteil: Luthers Entscheidung, die im Spätmittelalter wohl keineswegs weit verbreitete Schrift mehrfach zu edieren und sie sowohl mit der Konzeption der Wittenberger Theologie als auch mit seiner patristischen Leitautorität Augustinus in Verbindung zu bringen, hat den entscheidenden Impuls gegeben, um ihren Eigencharakter herauszuarbeiten. Dies wird zwar, wie bereits erwähnt, unter Lösung von der reformatorischen Perspektive und unter ausschließlicher Beachtung spätmittelalterlicher Vergleichsliteratur geschehen. Die Erschließung der diskursiven Verschiebungen innerhalb dieses Textfeldes und die daraus resultierende Positionierung der ‚Theologia deutsch‘ können dennoch Aufschluss darüber geben, warum Luther gerade diesen und nicht irgendeinen anderen spätmittelalterlichen Traktat zu einer theologischen Autorität ersten Ranges erhoben hat. Überspitzt ließe sich auch sagen: Bereits im vierzehnten Jahrhundert entscheidet sich, warum Luther mehr als ein Zentennium später aus dem ‚Frankfurter‘ die ‚Deutsch Theologia‘ machen wird. Ein Vergleich der Aussagen des Traktats mit jenen seines ursprünglichen literarischen Bezugsfeldes, der die erkennbaren Unterschiede nicht zu ignorieren oder durch eine verharmlosende Interpretation zu nivellieren sucht, offenbart allerdings auch, dass der ihm aus verschiedenen Perspektiven zugeschriebene Status eines opus theologicissimum zumindest vor dem Hintergrund der christlich-abendländischen ‚Normaltheologie‘36 des vierzehnten Jahrhunderts nicht in
36 Unter ‚Normaltheologie‘ verstehe ich hier und im Folgenden jene aufgrund von kirchlichen Lehrentscheiden und Konzilsbeschlüssen als allgemein gültig anerkannten theologischen Dogmen und Grundsätze, die sich allen doktrinären Differenzen entziehen (also etwa die Dreipersonalität Gottes oder die Doppelnatur Christi).
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1 Einleitung
jeder Hinsicht Bestand hat. Eine Bewertung des Traktats soll diese Feststellung allerdings nicht implizieren, nur die Erkenntnis, dass sich die volkssprachliche mystische Traktatliteratur der amtskirchlich festgelegten Trennlinie zwischen Orthodoxie und Häresie zu entziehen versteht.37
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise 1.2.1 Einblicke in den Forschungsstand Da die kompetente Aufarbeitung des Forschungsstandes zur ‚Theologia deutsch‘ durch Andreas Zecherle noch immer Gültigkeit hat,38 mögen im Folgenden einige Bemerkungen zu den in den letzten Jahren und Jahrzehnten hauptsächlich diskutierten Aspekten genügen. Dazu gehören die Überlieferung, die Verfasserfrage, die Datierung, die Textkonstitution und der philosophisch-theologische Gehalt der spätmittelalterlichen Schrift. Weitere auf den methodischen Umgang mit dem Traktat bezogene Hinweise, welche die eigene Vorgehensweise schärfer konturieren sollen, werden sich zudem in den anschließenden Paragraphen (1.2.2 und 1.2.3) finden. Ausgeklammert wird hier zunächst der Themenbereich ‚Luther und die Mystik‘,39 weil die Auseinandersetzung mit der mediävistischen Forschung zur ‚Theologia deutsch‘ für die Konzeption dieser Arbeit ausschlaggebend war40 und weil das in einem komplexen Wechselspiel von Einbindung und Abgrenzung bestehende Verhältnis des Traktats zum ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts in ihrem Zentrum stehen wird. Leidenschaftlich diskutiert wurde insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Textstatus der damals als einziger mittelalterlicher Überlieferungszeuge bekannten Frankfurter (früher Bronnbacher) Handschrift, die in ihrem Textbestand auffällig von den beiden ersten Luther-Drucken – insbesondere dem vollständigen aus dem Jahr 1518 – abweicht.41 Mit dem Auffinden weiterer handschriftlicher Textzeugen durch Max Pahncke und Kurt Ruh42 fand die bereits
37 Vgl. dazu auch Largier: Das Glück, S. 828, 855. 38 Siehe Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘. Zum Forschungsstand vgl. ebd., S. 1–21. 39 Siehe dazu Kap. 2.1, S. 87–90. 40 Den Impuls zu dieser Auseinandersetzung hat allerdings Martin Luthers Beurteilung der ‚Theologia deutsch‘ gegeben. Siehe Kap. 1.1, S. 9. 41 Zu diesen Diskussionen siehe auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 9–13. 42 Pahncke: Zur handschriftlichen Überlieferung; Ruh: Der ‚Frankfurter‘; ders.: Eine neue Handschrift.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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seit Pfeiffers Edition des Traktats43 schwelende Debatte darüber, ob die Frankfurter Handschrift eine ursprünglichere Textversion enthalte und ob Martin Luther in seinen Druckausgaben sinnverändernd in den Text eingegriffen habe,44 jedoch ihr vorläufiges Ende, da sich die Plusstücke der Frankfurter Handschrift gegenüber den Luther-Drucken als Bestandteile jener bereits erwähnten erweiternden Redaktion herausstellten, die hier singulär erhalten ist.45 Der von Wolfgang von Hinten durchgeführte detaillierte Vergleich der Luther-Ausgaben mit der handschriftlichen Überlieferung konnte dieses Ergebnis dann endgültig bestätigen: Der Wittenberger hat den Aussagegehalt des Traktats nicht verändert – schon gar nicht in tendenziöser Weise, um seine neue theologische Konzeption zu
43 Diese Ausgabe (Theologia deutsch, Erstedition: 1851) basiert auf der Frankfurter Handschrift, bietet also die Zusätze zum ursprünglicheren Textbestand. Ebenfalls der Frankfurter Handschrift folgt Uhls Edition (Der Franckforter) mit dem Ziel eines wortgetreuen Abdrucks, der bei Pfeiffer nicht gegeben ist. Mandels Ausgabe (Theologia deutsch) dagegen beruht auf dem Luther-Druck von 1518, da er diesem den Vorrang vor der Frankfurter Handschrift einräumt (ebd., S. VIII–IX: „Ja es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Texte Luthers bei weitem ursprünglicher sind“). 44 In chronologischer Reihenfolge sind hier vor allem folgende Beiträge zu nennen: Karl Müller: Zum Text der Deutschen Theologie (Müller hält die Frankfurter Handschrift für die ursprüngliche Version, während der Text in Luthers handschriftlichen Vorlagen durch einen Redaktor gekürzt worden sei); Gottlob Siedel: Nochmals zum Text der ‚Theologia Deutsch‘ (Siedel bezieht Stellung gegen Müller, indem er die Plusstellen der Bronnbacher Handschrift gegenüber den LutherDrucken als Erweiterungen eines Redaktors zu erweisen sucht); Edward Schröder: Die Überlieferung des ‚Frankfurters‘ (Schröder plädiert wie Siedel für die größere Ursprünglichkeit der Luther-Texte, während die Bronnbacher Handschrift Zusätze eines Redaktors aufweise). Einen Überblick über die Forschungsdebatte in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt Eberhard Teufel: Die ‚Deutsche Theologie‘. 45 Es handelt sich bei der Frankfurter Handschrift (C) um Ms. germ. oct. 30 aus der Universitätsbibliothek Frankfurt. Sie stammt aus der Zisterzienserabtei Bronnbach und ist auf 1494 bzw. 1497 datiert. Die ‚Theologia deutsch‘ findet sich auf fol. 84v–153r. Den Volltext enthalten ferner die Handschriften D (Dessau, Landesbücherei, Hs. Georg. 44.8°, 1477 bzw. 1478, fol. 4r–71r) und E (Prag, Nationalbibliothek, Cheb MS. 45/330 [9] [früher Eger/Cheb (Böhmen), Franziskanerkloster, Cod. 45/330], 1465, fol. 60r–155v). Fragmentarisch ist der Traktat überliefert in den Manuskripten F (München, Universitätsbibliothek, 4° Cod. ms. 482, Ende 15. Jh., fol. 31r–49r, Kap. 1–28), G (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1014, Ende 15. Jh., S. 287–297, Kap. 1–3), H (Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III.1.8° 22, 1453 und 1460–75, fol. 12v–18r, Kap. 7–9), I (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 61, 1489–90, fol. 115r–126r, Kap. 7–28) und K (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII, 22, Ende 15. Jh., fol. 177r–215v, Kap. 22, 23, 25–33, 38, 48–51). Zu den einzelnen Handschriften siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 7 sowie S. 9–15 und S. 34–51. Auf der Drucküberlieferung basieren die beiden späten Handschriften W (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4079, frühes 16. Jh., fol. 42r–70r) und M (München, Staatsbibliothek, cgm 854, 1528–34, fol. 1r–170v), die daher in der Edition Wolfgang von Hintens nicht zur Textherstellung herangezogen wurden (vgl. ebd., S. 7).
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stützen.46 Dass Luther ein Dokument der ‚deutschen Mystik‘ für geeignet hielt, ohne inhaltsverändernde Texteingriffe seine theologische Position zu repräsentieren, ist indessen höchst bemerkenswert, scheinen zwischen den auf die unio von Gott und Mensch ausgerichteten Traktaten und Predigten des vierzehnten Jahrhunderts und der augustinisch-paulinisch geprägten Wittenberger Theologie des frühen sechzehnten Jahrhunderts doch Welten zu liegen. Ergebnislos blieb bis heute die Suche nach dem Autor der ‚Theologia deutsch‘.47 Dabei scheint die Ausgangsposition für ein solches Unterfangen ungleich günstiger als bei den meisten anderen anonymen Texten der ‚deutschen Mystik‘. Denn in einem kurzen Prolog finden sich konkrete Angaben zur Entstehung des Traktats, wenn sich diese bisher auch nicht verifizieren ließen.48 Als gescheitert gelten müssen wohl die Versuche Rudolf Haubsts, den Heidelberger Theologieprofessor Johannes von Frankfurt als Verfasser der ‚Theologia deutsch‘ nachzuweisen.49 Die bereits 1956 veröffentlichte Notiz von Karl Wessendorft, die auf vage Anspielungen des im Jahr zuvor verstorbenen Museumsdirektors Heinrich Bingemer zu einem „Herrn Heinrich von Bergen“ als Autor des Traktats rekurriert,50 kann ohne Zweifel einen gewissen Skurrilitätswert für sich verbuchen,51 hat jedoch keine wissenschaftliche Aussagekraft. Für diese Arbeit wird die Verfasserfrage keine Rolle spielen, da ihr Erkenntnisinteresse auf diskursive Konstellationen, nicht auf das Ingenium von Autoren zielt. Als schwierig erweist sich die Datierung der ‚Theologia deutsch‘.52 Zwar stammen alle mittelalterlichen Überlieferungszeugen aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts – die älteste bekannte Handschrift H mit drei Kapiteln
46 Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 52–57. Lediglich minimale Eingriffe Luthers bzw. des Setzers in die Textgestalt des Druckes von 1518 können laut von Hinten nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden. 47 Siehe dazu auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 2–5. 48 Die Passage lautet in der Edition von Hintens (S. 67, Z. 1–4): „Diß buechelein hat der almechtige, ewige got auß gesprochen durch eynen weißen, vorstanden, worhafftigenn, gerechten menschen, seynen frunt, der do vor czeitenn gewest ist eyn deutschir herre, eyn prister vnd eyn custos yn der deutschen herren hauß zu franckfurt […].“ Alle folgenden Zitate aus dem ‚Frankfurter‘ werden, soweit nicht anders angemerkt, dieser Edition entnommen. 49 Haubst: Johannes von Franckfurt; ders.: Welcher ‚Frankfurter‘ schrieb die ‚Theologia deutsch‘? Zur Kritik an Haubsts Thesen siehe Schiel: Heinrich von Bergen. 50 Wessendorft: Ist der Verfasser der ‚Theologia Deutsch‘ gefunden? 51 Die Notiz rekapituliert im Wesentlichen die fruchtlos gebliebenen Diskussionen des Verfassers mit Heinrich Bingemer darüber, ob und wann dieser seine Kenntnisse publik machen müsse. Sie bietet jedoch keinerlei historische Belege für dessen These. 52 Siehe dazu auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 5–8.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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des Traktats wurde 1453 von Johannes Buchbinder (Basel) geschrieben53 –, auf die Entstehungszeit lässt dies jedoch kaum einen Rückschluss zu. Schließlich erfolgt die Tradierung geistlicher Texte des vierzehnten Jahrhunderts zum Großteil in Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts.54 Einen zuverlässigeren Anhaltspunkt für die Datierung bietet das Tauler-Zitat im dreizehnten Kapitel,55 insofern sich mit seiner Hilfe zumindest ein Terminus post quem festlegen lässt: Taulers Lebensdaten umfassen den Zeitraum von ca. 1300 bis 1361;56 die älteste erhaltene Predigtsammlung lässt sich auf das Jahr 1359 datieren.57 Damit ist eine Entstehung der ‚Theologia deutsch‘ im späten vierzehnten Jahrhundert gut möglich. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass keine unmittelbare zeitliche Nähe zwischen der ersten Tradierung des Tauler-Korpus und dem knappen namentlichen Hinweis in unserem Traktat bestehen muss – zumal die TaulerPredigten erst im fünfzehnten Jahrhundert zu größerer Popularität und damit zu einer weiteren Verbreitung innerhalb der literarischen Klosterkultur gelangten.58 Außerdem ist die Herkunft des sehr kurzen Tauler-Zitats unklar59 und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass es einer sekundären Quelle entstammt.60 Ungeachtet dieser Ungewissheiten hat sich aufgrund des Überlieferungskontextes, der u. a. aus Schriften Meister Eckharts, Johannes Taulers und Rulman Merswins besteht,61 eine Datierung der ‚Theologia deutsch‘ ins ausgehende vier-
53 Vgl. Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften (Katalog), S. 468. Siehe zu den einzelnen Handschriften auch oben, Anm. 45. 54 Siehe z. B. Williams-Krapp: Observanzbewegungen, S. 180. Vgl. auch Kap. 2.1, Anm. 5. 55 Kap. 13, S. 87, Z. 1–2: „Eß spricht der Tauler: ‚Eß synt menschen yn der czite, die den bilden czu frue orlaup geben‘ […].“ Das vollständige, allerdings nur wenige Zeilen umfassende Kapitel 13 ist wiedergegeben in Kap. 2.1, Anm. 14. 56 Vgl. Gnädinger: Johannes Tauler, S. 11 und 79. 57 Es handelt sich um die Predigtzusammenstellung in Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 124. Siehe die Kurzcharakterisierung unter www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/bke/0124 (17. August 2015). 58 Vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 21–23. 59 Es stimmt jedenfalls nicht mit dem Text im Engelberger Predigt-Korpus (s. o., Anm. 57) überein. Dort lautet die kurze Passage: „und ſi hant den bilden urlob gegeben e zit“ (fol. 44v; vgl. in der Vetter-Ausgabe S. 167, Z. 16). Im von Martin Luther gelesenen Augsburger Taulerdruck von 1508, dem die von Mayer als solche bezeichnete ‚Vulgata‘-Fassung des fünfzehnten Jahrhunderts zugrunde liegt (vgl. ders: Die ‚Vulgata‘-Fassung, S. 10), lautet die Textstelle ähnlich: „v ſy habē den bilden vrlaub geben ee der zeit.“ Siehe Augsburger Tauler (VD 16: J 783), fol. 174va. Zum abweichenden Text der ‚Theologia deutsch‘ siehe oben, Anm. 55. 60 Siehe dazu Kap. 2.1, Anm. 15. 61 Vgl. Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 7. Siehe zum Überlieferungskontext auch die Ausführungen in Kap. 1.2.2, S. 19–23.
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zehnte Jahrhundert als Forschungskonsens etabliert.62 Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass die spätmittelalterlichen Codices auch nachweislich im fünfzehnten Jahrhundert entstandene Werke beherbergen – so etwa den auf das Jahr 1450 datierbaren ‚Sendbrief vom Betrug teuflischer Erscheinungen‘.63 Dennoch bleibt die Präsenz der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts in den ‚Theologia deutsch‘-Handschriften ein starkes Indiz für eine genuine Zugehörigkeit des Traktats zu diesem literarischen Feld.64 Die vorliegende Studie wird sich der bestehenden communis opinio daher anschließen. Neben den überlieferungsgeschichtlichen sprechen dafür auch inhaltliche Argumente: Denn wie noch zu zeigen sein wird, bringt sich die ‚Theologia deutsch‘ nachdrücklich in jene Diskussionen ein, die in der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts über das angemessene Gott-Mensch-Verhältnis geführt werden. Die Relevanz ihrer Aussagen erwächst dabei aus signifikanten Abweichungen von bestimmten Grundprämissen des ‚mystischen Diskurses‘, die sie diesem zwar partiell entfremden, jedoch keine völlige Herauslösung bewirken. Durch solche Absonderungstendenzen der ‚Theologia deutsch‘ entstehen Anschlussmöglichkeiten an andere theologische Diskurse, die das reformatorische Interesse an dem opusculum erklären können. Zugleich verleiht diese spezifische theologisch-philosophische Signatur dem Traktat gerade in Hinblick auf seine spätmittelalterliche Tradierung einen prekären Status: Seine durchgehend negative Anthropologie, seine schwierigen metaphysischen Spekulationen und seine theologisch brisanten Äußerungen – vor allem zur Abhängigkeit Gottes vom Menschen – lassen ihn kaum als geeignete Lektüre für Laien erscheinen, wie sie die Reformtheologen des fünfzehnten Jahrhunderts propagierten. Eher gehört die ‚Theologia deutsch‘ zu jenen „spitzigen subtilen“ Büchern, vor denen nachdrücklich gewarnt wurde.65 Auch die magere spätmittelalterliche Über-
62 Siehe Kap. 1.1, Anm. 2. Vgl. ferner McGinn: The Harvest, S. 394; Blamires: Theologia deutsch, S. 3; Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 8. Zurückhaltender äußert sich Anderson, indem sie die Entstehung der ‚Theologia deutsch‘ in einem Zeitraum „somewhere between 1350 and 1430“ ansiedelt. Vgl. The Discernment, S. 121. 63 Siehe Handschrift E, fol. 355r–374r; Hs. F: fol. 49v–56v. Zur Datierung und Herkunft dieses Traktats siehe Williams/Williams-Krapp: Eine Warnung, S. 170–171. 64 Alois Maria Haas hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass inhaltliche Parallelen zwischen Verhörprotokollen des späten vierzehnten Jahrhunderts und der antifreigeistigen Polemik der ‚Theologia deutsch‘ bestehen. Vgl. dazu Kap. 2.3.5.3, Anm. 824. Diese Beobachtung kann eine Datierung ins späte vierzehnte Jahrhundert zusätzlich stützen. 65 Vgl. Williams-Krapp: Observanzbewegungen, S. 181–183. Das Zitat stammt von dem dominikanischen Seelsorger und Reformer Johannes Nider und bezieht sich auf Meister Eckhart. Es ließe sich aber ebenso gut auf die ‚Theologia deutsch‘ anwenden.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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lieferung – von den acht bekannten Handschriften enthalten ja nur drei den Text komplett66 – lässt darauf schließen, dass der Traktat im fünfzehnten Jahrhundert keine besondere Reputation genoss.67 Eine Entstehung in diesem Säkulum schließt dies freilich nicht aus, zumal sich die ‚Theologia deutsch‘ – wie andere mystische Predigten und Traktate auch – hinsichtlich ihrer konventionelleren Aussagen als durchaus kompatibel mit frömmigkeitstheologisch68 ausgerichteten Interessen des fünfzehnten Jahrhunderts erweist.69 Aber auch eine solch späte Abfassung würde nichts daran ändern, dass die Schrift thematisch und terminologisch an theologische Diskussionen des vierzehnten Jahrhunderts anschließt. Hinsichtlich der Textkonstitution hat Luise Abramowski wichtige Anregungen gegeben,70 insofern sie anhand einer Reihe textinterner Akzentverschiebungen und Unstimmigkeiten wahrscheinlich machen kann, dass der Prolog, das Register sowie die Kapitel 52 und 53 nachträglich – aber noch bevor die Verbreitung der ‚Theologia deutsch‘ ihren Anfang nahm – von einem Redaktor hinzugefügt wurden. Eine kritische Würdigung dieser These erfolgte vor wenigen Jahren durch Andreas Zecherle. Er stimmt im Wesentlichen Abramowskis Ausführungen zu, schließt aufgrund terminologischer Eigentümlichkeiten der letzten beiden Kapitel aber auf unterschiedliche Redaktoren.71 Auch wenn sich für diese Argumentation kein überlieferungsgeschichtlicher Nachweis erbringen lässt, erscheint sie doch plausibel, zumal manche der vermuteten Erweiterungen des ursprünglichen Textbestandes terminologische Präzisierungen beinhalten, die vielleicht bewusst zur Orthodoxiesicherung eingefügt wurden. Diese Arbeit wird für die Erschließung jener diskursiven Verschiebungen innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts, die der ‚Theo-
66 Vgl. oben, Anm. 45. Auch wenn außer den Vorlagen der beiden Luther-Drucke möglicherweise noch weitere ‚Theologia deutsch‘-Handschriften verloren gegangen (oder bloß noch nicht als solche erkannt worden) sind, bleibt die Überlieferung spärlich. 67 Damit steht er durchaus in einer Reihe mit anderen theologisch anspruchsvollen und intellektuell herausfordernden volkssprachlichen Werken aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘, die im fünfzehnten Jahrhundert nur noch wenig Anklang fanden. Hierzu zählt etwa Heinrich Seuses hochspekulatives ‚Buch der Wahrheit‘. Vgl. Williams-Krapp: Observanzbewegungen, S. 181. 68 Siehe zu diesem Begriff Kap. 2.1, Anm. 63 (mit Literaturangaben). 69 Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 19–28. 70 Abramowski: Bemerkungen. Zur ‚Theologia deutsch‘ siehe ebd., S. 85–92. 71 Demnach stammen Prolog und Register von demselben Redaktor, während Kapitel 52 und 53 einer weiteren Person zuzuschreiben sind. Vgl. Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 14–18.
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logia deutsch‘ ihr spezifisches theologisch-anthropologisches Profil verleihen, zwar den Gesamttraktat heranziehen, wie ihn die Edition Wolfgang von Hintens präsentiert.72 Wenn die nachträglich hinzugefügten Textelemente Begrifflichkeiten mit sich führen, die der Verankerung der Schrift in der christlichen ‚Normaltheologie‘ dienen, wird dies jedoch Erwähnung finden. Mit diesem Hinweis auf die terminologischen Besonderheiten der ‚Theologia deutsch‘ ist die Brücke zu ihrem philosophisch-theologischen Aussagegehalt geschlagen. Dieser hat seit der kritischen Edition des Textes durch Wolfgang von Hinten mehrfach Aufmerksamkeit erfahren, zunächst durch einen Aufsatz von Alois Maria Haas,73 der das zentrale Thema des Traktats – die „gnadenhafte Vergottung des Menschen im Lichte der vermittelnden Vorbildlichkeit des Lebens Christi“74– in seinen verschiedenen Facetten beleuchtet. Ebenfalls eine Gesamtschau auf den Traktat bieten die Studien von Elisabetta Zambruno75 und Andreas Zecherle.76 Wichtigen inhaltlichen Gesichtspunkten der ‚Theologia deutsch‘ – der Gotteslehre, der Notwendigkeit der imitatio Christi, der Unterscheidung zwischen ‚richtigem‘ und ‚falschem‘ unio-Streben – widmet sich ferner Bernard McGinn in seiner Mystikgeschichte.77 Auf signifikante Einzelaspekte des Traktats, nämlich seine Willens- und Unterscheidungslehre78 sowie auf sein ‚Gelassenheits‘-Verständnis, sind die Forschungsbeiträge von Mossman,79 Anderson80 und Enders81 ausgerichtet. Aus unterschiedlichen Perspektiven gewähren auch die Einleitungen zu diversen modernen Übersetzungen der ‚Theologia deutsch‘ aufschlussreiche Einblicke in die mystagogische Lehre der spätmittelalterlichen Schrift. Zu
72 Denn nach jetzigem Forschungsstand handelt es sich hierbei um die zur Verbreitung vorgesehene Version der ‚Theologia deutsch‘. 73 Haas: Die ‚Theologia Deutsch‘. 74 Ebd., S. 370. 75 Zambruno: La ‚Theologia Deutsch‘. 76 Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘. 77 McGinn: The Harvest, S. 392–404. 78 Zu verstehen ist darunter die Lehre von der ‚Unterscheidung der Geister‘ (discretio spirituum), ein Thema, das im weiteren Fortgang dieser Arbeit immer wieder auftauchen wird. 79 Mossman: Die Konzeptualisierung. 80 Anderson: The Discernment, S. 121–122. Anderson streift die ‚Theologia deutsch‘ nur im Rahmen ihrer umfassenden Studie zu spätmittelalterlichen Unterscheidungslehren. Sie macht jedoch deutlich, dass der Traktat in eine virulente Diskussion um die discretio spirituum eingebunden ist. 81 Enders: Die Semantik.
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nennen sind hier die Beiträge von Alois Maria Haas,82 Marco Vannini,83 Alain de Libera84 und David Blamires.85 Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, den in den genannten Forschungsbeiträgen behandelten inhaltlichen Aspekten der ‚Theologia deutsch‘ etwas Neues, bisher Übersehenes hinzufügen zu können. Sie wählt jedoch einen methodischen Zugang, der im Altbekannten des Traktats das Originelle, von den Aussagen anderer mystischer Prosatexte Abweichende aufscheinen lässt. Die Gratwanderung besteht darin, die ‚Eigenstimme‘ der ‚Theologia deutsch‘ innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ herauszuarbeiten, ohne sie ihrer inhärenten ‚Vielstimmigkeit‘ zu berauben. Denn während Erstere die weiter oben bereits erwähnte tendenzielle Ablösung vom ‚mystischen Diskurs‘ bewirkt und dadurch zugleich Verbindungen zu anderen theologischen Diskursen herstellt, sorgt Letztere dafür, dass der Traktat dennoch in sein ursprüngliches diskursives Bezugsfeld eingebunden bleibt.
1.2.2 Vorüberlegungen zum Erkenntnisinteresse der Arbeit Zwar haben die beiden vorangegangenen Kapitel das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – und damit auch die Zuversicht, diesem gerecht werden zu können – bereits zum Ausdruck gebracht. Dennoch erscheint die Bestrebung, das philosophisch-theologische Eigenpotenzial der ‚Theologia deutsch‘ innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ zur Geltung zu bringen, zunächst wenig erfolgversprechend. Denn weder eine erste Lektüre des Traktats an sich noch die zusätzliche Beachtung seines Überlieferungskontextes und der in mehreren Handschriften enthaltenen Marginalien lassen ihn aus der Fülle spätmittelalterlicher geistlicher Literatur als besonders bemerkenswert hervortreten. Und auch die bereits erwähnten Forschungsbeiträge zur ‚Theologia deutsch‘ heben vor allem ihre Einbindung in die ‚deutsche Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts hervor, was die Anerkennung
82 Einleitung zu: ‚Der Franckforter‘. Theologia deutsch. In neuhochdeutscher Übersetzung herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Alois M. Haas. Einsiedeln 1980. 83 Einleitung zu: Anonimo Francofortese. Libretto della vita perfetta. A cura di Marco Vannini. Edizione integrale. Roma 1994. 84 Einleitung zu: Anonyme de Francfort. Le Petit Livre de la Vie Parfaite. Theologia Deutsch. Traduit du moyen haut allemand par Gérard Pfister et présenté par Alain de Libera. Paris 2000. 85 Einleitung zu: Theologia deutsch. Theologia Germanica. The Book of the Perfect Life. Translated with an Introduction and Notes by David Blamires. Walnut Creek e. a. 2003 (The Sacred Literature Series).
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spezifischer inhaltlicher Akzentsetzungen innerhalb des Traktats freilich nicht ausschließt.86 Angesichts des immensen publizistischen Erfolges der ‚Theologia deutsch‘ in der Frühen Neuzeit fällt die Lektüre des Traktats zunächst ernüchternd aus. Denn bar jener auratischen Überhöhung, die der Schrift aus Martin Luthers Wertschätzung und ihrem anschließenden medialen Triumph erwachsen ist, verliert sie erst einmal jede Besonderheit. In der handschriftlichen Überlieferung ermangelt sie nämlich nicht etwa nur der äußeren Faktoren, die für ihren reformatorischen Siegeszug konstitutiv waren: der Popularität ihres ‚Entdeckers‘ Martin Luther,87 der modernen Aufbereitung in Flugschriftform88 und der Prägnanz des Titels.89 Auch ein spezifisches inhaltliches Profil ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Stattdessen findet man in den spätmittelalterlichen Codices einen sporadisch und zumeist fragmentarisch überlieferten Traktat ohne übergreifende argumentative Struktur vor,90 der die – teils von Meister Eckhart grundgelegten, teils auf seine Lehre reagierenden – gängigen Themen der nacheckhartischen Mystik abhandelt: die ontologische Nichtigkeit des Geschöpfs; die Unzulänglichkeit der natürlichen Seelenkräfte in ihrem Streben zum göttlichen Ursprung; die Notwendigkeit der Selbstaufgabe (Eckharts ‚Gelassenheit‘), um einen Zustand absoluter Empfänglichkeit für Gott und damit die unio zu erreichen; die Auseinandersetzung mit den ‚freien Geistern‘ als Gefährdern der Kirche und die Betonung der imitatio Christi als einziger möglicher Weg zum Heil. Angesichts dieses Befundes könnte man
86 Enders z. B. sieht solche Neuakzentuierungen im Bereich der Gelassenheitslehre. Vgl. ders.: Die Semantik. 87 In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Erstauflage der ‚Theologia deutsch‘ vom Ende des Jahres 1516 – als Luther noch ein weitgehend unbekannter Theologieprofessor in einem winzigen Universitätsstädtchen war – nur einen einzigen Nachdruck erfahren hat. Die Verbreitung des Traktats setzte erst mit der zweiten Edition des Jahres 1518 ein, als ‚die Luthersache‘ bereits große Aufmerksamkeit erregt hatte, und dies auch außerhalb von Luthers unmittelbarem akademischen Umfeld. 88 Erst in diesem spezifisch frühneuzeitlichen Medium, das den Erfolg der Reformation wesentlich mitbegründet hat, erhält der Traktat ein optisch prägnantes Profil, das ihn auf den ersten Blick als eigenständige Schrift erkennbar macht. Siehe den Faksimileabdruck der Erstausgabe in der Bibliographie von Baring, S. 11–25. In den mittelalterlichen Sammelhandschriften dagegen bleibt er ganz in den Rahmen textübergreifender Leseinteressen eingespannt, vor deren Hintergrund sich eine individuelle visuelle Hervorhebung erübrigt. Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten, S. 19–23. 89 Mit der griffigen Betitelung als ‚Theologia teütsch‘ durch Silvan Otmar (s. o., Kap. 1.1, S. 2–3) erhält der Traktat ein programmatisch geprägtes eigenes ‚Gesicht‘. 90 Der Text bietet statt eines systematischen Aufbaus eine lockere Aneinanderreihung von Einzelkapiteln, die nicht stringent aufeinander folgen, sondern bestimmte thematische Schwerpunkte umkreisen. Siehe auch die Ausführungen in Kap. 1.2.3, S. 51–52.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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geneigt sein, dem vor Jahrzehnten gefällten Urteil Josef Bernharts über das Werk auch heute noch zuzustimmen: „[…] und was sein Gedankengut betrifft, so bringt es nichts Neues […].“91 Diese inhaltliche Übereinstimmung der ‚Theologia deutsch‘ mit den etablierten Standardthemen des ‚mystischen Diskurses‘ scheint eine zusätzliche Bestätigung in der Art ihrer spätmittelalterlichen handschriftlichen Tradierung zu finden. Bei den erhaltenen Codices handelt es sich ausnahmslos um mystischaszetische Sammelhandschriften, von denen fünf nachweislich einem monastischen Umfeld entstammen.92 Auch für die anderen drei Überlieferungsträger ist eine klösterliche Herkunft anzunehmen.93 Die thematische Ausrichtung der konsequent volkssprachlichen Textzusammenstellungen94 ist in allen Überlieferungsträgern sehr ähnlich.95 Sie kreist um die – teils vom Menschen zu leistende, 91 Eine deutsche Theologie (hg. Bernhart), S. 118. 92 Es handelt sich um folgende Handschriften: C aus der Zisterzienserabtei Bronnbach, F aus dem Franziskanerkloster Landshut, G aus dem Kloster St. Leonhard in St. Gallen (Franziskanertertiarinnen), H aus dem Kloster Kirchheim im Ries (Zisterzienserinnen) und K aus dem Nürnberger Katharinenkloster (Dominikanerinnen). Zu den einzelnen Handschriften siehe auch Kap. 1.2.1, Anm. 45. Zur Provenienz vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 9–15 sowie die einzelnen Katalogbeschreibungen (siehe unten, Anm. 95). 93 Es handelt sich um die Handschriften D, E und I. Letztere Handschrift stammt evtl. wie K aus dem Nürnberger Katharinenkloster. 94 Allein bei der bereits dem sechzehnten Jahrhundert angehörenden Handschrift W handelt es sich um eine lateinische Sammelhandschrift (zum Inhalt siehe Tabulae, S. 156–157), die als einzigen volkssprachlichen Text die ‚Theologia deutsch‘ – eine Abschrift des Luther-Drucks B – enthält (www.handschriftencensus.de/11641; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). Die zweite aus dem sechzehnten Jahrhundert erhaltene Handschrift M dagegen – sie stammt aus dem Pütrich-Regelhaus München (Franziskanertertiarinnen) – ähnelt in der Textzusammenstellung den spätmittelalterlichen Codices. Sie enthält neben der ‚Theologia deutsch‘ ein Exzerpt aus dem ABC zum Lob Christi (aus dem Buchstaben H: Hoc est corpus meum; der Abschnitt handelt vom Altarsakrament) sowie eine „andechtige predig von dem kindlen Jesus“. Die Handschrift wurde allerdings aus zwei zeitlich weit auseinanderliegenden Teilen zusammengebunden. Während die Abschrift der ‚Theologia deutsch‘ zwischen 1528 und 1534 entstand, stammen die beiden anderen geistlichen Texte vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts (siehe Schneider: Die deutschen Handschriften, S. 645–646; www.handschriftencensus.de/8111; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung sowie zu einem Farbdigitalisat des Codex). Bemerkenswert ist ferner, dass als Vorlage dieser ‚Theologia deutsch‘-Abschrift Ludwig Hätzers Ausgabe diente, die 1528 bei Peter Schöffer in Worms erschien. Siehe dazu auch Baring: Ludwig Hätzers Bearbeitung. 95 Zum Inhalt der ‚Theologia deutsch‘-Handschriften siehe die folgenden Katalogbeschreibungen sowie die entsprechenden Seiten im Handschriftencensus. Hs. C: Weimann: Die Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, S. 121–124 (www.handschriftencensus.de/13243; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung sowie zu einem Farbdigitalisat des Codex). Hs. D: Pensel: Verzeichnis der altdeutschen Handschriften in der Stadtbibliothek Dessau, S. 39–51 (www.handschriftencensus.de/3668; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). Hs.
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1 Einleitung
teils von Gott zu gewährende – Überwindung der Sünde zugunsten der Erringung des ewigen Seelenheils und ist auf wenige Aspekte fokussiert: die Passion Christi und deren erlösende Kraft;96 den Nutzen des Leidens in der Christusnachfolge;97 die Rolle Marias als Gottesmutter und Fürbitterin;98 vanitas und contemptus mundi, teilweise mit mystischer Akzentuierung;99 die richtige Sterbevorbereitung (ars moriendi);100 den angemessenen Sakramentsempfang;101 die ‚Unterscheidung der Geister‘ (discretio spirituum);102 christliche Tugend- und geistliche Ver-
E: Ruh: Der ‚Frankfurter‘, S. 206–209 (www.handschriftencensus.de/8413). Hs. F: Kornrumpf/ Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München, S. 134–139 (www.handschriftencensus.de/6446; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). Hs. G: ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 10–14 (www.handschriftencensus.de/16835). Hs. H: Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg, S. 468–476 (www.handschriftencensus.de/4356; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). Hs. I: Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, S. 446–449 (www.handschriftencensus.de/5536; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). Hs. K: Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, S. 295–296 (www.handschriftencensus.de/10942; dort auch ein Link zur Katalogbeschreibung). 96 Als Beispiele seien genannt: der Passionstraktat in Hs. C, fol. 10r–19v; der Passionstraktat (Predigt) in Hs. F, fol. 92r–111v; die ‚Betrachtung des Leidens Christi‘, ebd., fol. 113r–123r; der Auszug aus dem Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen, ebd., fol. 280v–281r; ‚Von der Sündenvergebung durch Christi Leiden‘ in Hs. I, fol. 2v–3r; Michael de Massa, Vita Christi (deutsch) in Hs. K, fol. 2r–176v. 97 Als Beispiele seien genannt: der Hiob-Traktat des Marquard von Lindau in Hs. H, fol. 163r–201r; ‚Von Leiden und Aufgabe des Eigenwillens‘, ebd., fol. 208r–218r; ‚Kurzes Textstück vom Leiden‘ in Hs. I, fol. 3r; ‚Vom Leiden‘, ebd., fol. 5r–5v; ‚Geistliche Belehrung über den Nutzen des Leidens‘, ebd., fol. 105v–115r. 98 Als Beispiele seien genannt: der Mariengruß in Hs. C, fol. 3v–9r; das Marienleben des Heinrich von St. Gallen in Hs. I, fol. 128r–196v; die Magnificat-Auslegung des Heinrich von St. Gallen, ebd., fol. 196v–215r. 99 Letztere tritt dann zutage, wenn das innere ‚Leerwerden‘ von allen Kreaturen, um Raum für das innerseelische göttliche Wirken zu schaffen, thematisiert wird. Als Beispiele seien genannt: Gedicht über Buße und Abkehr von der Welt in Hs. C, fol. 19v–20r; ‚Man wird Gottes reich, wenn man der Kreatur arm wird‘ in Hs. D, fol. 256r–256v; Gott geb dir ein willigen abker von allen creaturen in Hs. E, fol. 158v–162r; ‚Betrachtung der Vergänglichkeit‘ in Hs. I, fol. 2r–2v. 100 Als Beispiel sei genannt: Wye man schol lernen wol vnd vernüfftiglichen sterben dar czu synd syben Dingk nucz vnd gut (aus Marquards von Lindau ‚Auslegung der Zehn Gebote‘) in Hs. G, S. 238–245. 101 Als Beispiele seien genannt: der Traktat ‚Vom Sakramentsempfang‘ in Hs. D, fol. 71r, der ebenfalls in Hs. E, fol. 154v–155r, und Hs. K, fol. 216r–216v, enthalten ist; die ‚Betrachtungen über das Sakrament‘ in Hs. G, S. 119–128. 102 Dieses in der geistlichen Literatur des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts äußerst populäre Thema existiert in verschiedenen Ausformungen. Die ‚Theologia deutsch‘-Handschriften enthalten den in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entstandenen ‚Sendbrief vom Betrug teuflischer Erscheinungen‘ (Hs. E: fol. 355r–374r; Hs. F: fol. 49v–56v; siehe auch Kap. 1.2.1, S. 14
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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vollkommnungslehren, die mystische Aufstiegsmodelle integrieren können.103 Hinzu treten Exempel, die Fragen des spirituellen Daseins – teilweise ebenfalls mit mystischer Akzentuierung – in narrativer Form behandeln.104 Diese frömmigkeitstheologische, durch ‚normative Zentrierung‘105 gekennzeichnete thematische Orientierung der Handschriften erfährt eine bedeutende Erweiterung durch die Aufnahme von Schriften aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts.106 Auch wenn hier bei der Werkauswahl
mit Anm. 63) und Eberhard Mardachs 1422 verfassten ‚Sendbrief von wahrer Andacht‘ (Hs. E: fol. 374r–387r; Hs. G: S. 89–116). Zu letzterer Schrift vgl. Williams/Williams-Krapp: Die Dominikaner. Im Fokus beider Traktate steht – mit deutlich misogyner Akzentuierung – die Warnung vor trügerischen Visionen und anderen geistlichen Sondererfahrungen, die zwar eine göttliche Herkunft vorgaukeln, tatsächlich aber vom Teufel inszeniert sind. In der ‚Theologia deutsch‘ spielt die ‚Unterscheidung der Geister‘ – bzw. deren Versagen – auch eine wichtige Rolle; allerdings geht es hier im Anschluss an Diskussionen des vierzehnten Jahrhunderts um die Verwechslung der natürlichen Vernunft mit dem göttlichen Intellekt. Siehe dazu Kap. 2.2.2.1, S. 117. 103 Als Beispiele seien genannt: Kuttenmann: ‚Vom Reuer, Wirker und Schauer‘ in Hs. D, fol. 86v–112v; der ‚Spiegel eines frommen Lebens‘, ebd., fol. 257r–262v; ‚Der geistliche Palmbaum‘ in Hs. E, fol. 168v–172r und in Hs. H, fol. 74r–107v; der ‚Spiegel lobwürdigen Lebens‘ in Hs. F, fol. 123v–163r; Pseudo-Albertus Magnus: Paradisus animae (deutsch), ebd., fol. 164r–244r; ‚Traktat von einem christlichen Leben‘, ebd., fol. 245r–272r; Martin von Amberg: Gewissensspiegel (Auszug), ebd., fol. 276r–280r; ‚Von anfangenden und zunehmenden Menschen‘ in Hs. G, S. 169– 179; ‚Fünfmal sieben Dinge für anfangende, zunehmende und vollkommene Menschen‘ in Hs. H, fol. 50r–51v; die Exempel und Sprüche von Demut in Hs. I, fol. 1r–2r. 104 ‚Christus und die sieben Laden‘: Hs. C, fol. 21r–35r; ‚Meister Eckharts Wirtschaft‘: Hs. D, fol. 263r–265r, Hs. G, S. 117–119; ‚Das Frauchen von 22 (21) Jahren‘: Hs. I, fol. 11r–12r; Exempel von einem Einsiedler und einer Klausnerin: ebd., fol. 215r–216r. Bei ‚Meister Eckharts Wirtschaft‘ handelt es sich um die am weitesten verbreitete der sogenannten Eckhart-Legenden, in denen es zur Begegnung eines akademisch gebildeten Theologen mit charismatischen Laien kommt, die in einem unmittelbaren Gottesbezug stehen. Siehe dazu Gottschall: Eckhart, S. 540–551 (zu ‚Meister Eckharts Wirtschaft‘ S. 544–546). 105 Unter ‚Normativer Zentrierung‘ innerhalb der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie ist nach Berndt Hamm die Konzentration auf jene Leitthemen zu verstehen, deren Kenntnis und Integration in die Frömmigkeitspraxis für das Seelenheil unabdingbar schien. Hamm zählt dazu (Normative Zentrierung, S. 28): „die Passion des Gottessohnes, seine Leidensgestalt mit der Seitenwunde, die Sühnekraft des Blutes, Maria als Garantin von Gnade und Barmherzigkeit, der gnädige Richter, in dessen Gerechtigkeit die Barmherzigkeit Eingang gefunden hat, die Eucharistie und ihr Meßopfer des Passionsleibes und -blutes Christi, das vertrauensvolle Gebet, die wahre Buße und die Hoffnung der sündigen Menschen.“ Siehe auch Kap. 2.3.4, S. 260 mit Anm. 753. 106 Ähnlich wie bei der ‚Theologia deutsch‘ ist eine sichere Datierung der Schriften nicht immer möglich. So steht der in Hs. F (fol. 19v–30r) enthaltene Traktat Ein verstantlich beschouwunge zwar in der Nachfolge Meister Eckharts und Johannes Taulers, stammt aber vielleicht erst aus dem frühen fünfzehnten Jahrhundert. Siehe Zapf: Art. ‚Ein verstantlich beschouwunge‘, Sp. 799.
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1 Einleitung
bestimmte Selektionsmechanismen zum Tragen gekommen sein mögen,107 wird dem zentralen eckhartischen Theologumenon der ‚Gottesgeburt im Seelengrund‘ und damit der unio mystica breiter Raum zugestanden. So ist Meister Eckharts aus vier Predigten bestehender ‚Gottesgeburtzyklus‘ in zwei Codices vollständig präsent.108 In einer weiteren Handschrift findet sich außerdem eine dem ‚Buch von der heiligen lebine‘ des Hermann von Fritzlar entnommene ‚Fragenfolge über die Geburt des Wortes in der Seele‘.109 Die eckhartische Abgeschiedenheits- bzw. Gelassenheitslehre ist das titelgebende Motiv im Traktat Von abegescheidenheit, der in drei Handschriften vorhanden ist;110 sie spielt ebenfalls in dem populären kleinen Traktat ‚Von den drîn fragen‘ eine wichtige Rolle, in dem zudem der eckhartischen Lehre vom ‚Durchbruch‘ eine differenzierte Betrachtung zuteil wird. Diesen Traktat enthalten zwei ‚Theologia deutsch‘-Handschriften.111 TaulerPredigten finden sich in vier der acht erhaltenen Codices; vor allem Handschrift D bietet mit einer zusammenhängenden Reihe von 19 Predigten einen ausführlichen Einblick in das Schaffen des Straßburger Dominikaners.112 Die Heinrich Seuse zugeschriebenen Werke haben ebenfalls Eingang in die ‚Theologia
107 So enthalten die Handschriften außerhalb des eckhartischen Gottesgeburt-Zyklus nur eine einzige vollständige Eckhart-Predigt. Es handelt sich um Pr. Q 5b in Hs. H, fol. 128r–139r. Dieselbe Handschrift bietet zudem eine unvollständige Version von Eckhart-Predigt Q 49 (fol. 108r–125v), eine Dicta-Sammlung mit eckhartischen Texten (fol. 38r–42v) und Exzerpte aus Predigten des Meisters (fol. 227v–229v). Auch Tauler, der ja zahlreiche eckhartische Motive aufgreift, könnte selektiv rezipiert worden sein, zumal nur Handschrift D mit einer längeren Reihe von TaulerPredigten aufwarten kann (siehe auch Anm. 112). Sichere Aussagen über die Auswahlkriterien der Schreiber oder Schreiberinnen lassen sich allerdings nicht machen, da dies eine genaue Kenntnis der ihnen zugänglichen Vorlagen voraussetzen würde. Außerdem muss der Ausschluss von Texten nicht zwangsläufig durch inhaltliche Vorbehalte motiviert sein. So konnte auf das Abschreiben eines Werkes, das in der Klosterbibliothek bereits vorhanden war, unter Umständen verzichtet werden (vgl. hierzu in Bezug auf Seuses ‚Büchlein der Ewigen Weisheit‘ Blumrich: Die Überlieferung, S. 190–191). 108 Der ‚Gottesgeburtzyklus‘ umfasst die Eckhart-Predigten S 101–104. Siehe auch Kap. 2.1, Anm. 2. Enthalten ist er in Hs. D, fol. 114r–141v und in Hs. E, fol. 233r–277v. In Hs. E finden sich außerdem Eckharts Rede der underscheidunge (fol. 295r–350r). 109 Hs. H, fol. 222r–231v. 110 Es handelt sich um die Handschriften D und E, die den Traktat jeweils vollständig enthalten, und um Handschrift F, die nur Auszüge bietet (D: fol. 76r–86v; E: fol. 194r–210r; F: fol. 15r–16r). 111 Hs. F: fol. 89r–91v; Hs. H: fol. 6r–12r. 112 Es handelt sich nach der Zählung der Vetter-Edition um folgende Predigten (fol. 142r–251r): V 69, 78, 7, 57, 73, 47, 3, 4, 5, 6, 48, 19, 26, 60f, 60h, 67, 55, 81 und 50. Hinzu kommen ein Auszug aus Predigt V 64 (fol. 72r–73r) und ein Fragment von Predigt V 56 (fol. 256v). In den anderen Handschriften sind jeweils zwischen ein und fünf Tauler-Predigten vorhanden. Hs. E: V 60d, 3, 43 (fol. 172v–193v); V 69, 78 (fol. 278r–294r); Hs. F: V 60e, 26 (fol. 1r–15r); Hs. G: V 60f (S. 129–156).
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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deutsch‘-Handschriften gefunden, wenn auch nur auszugsweise;113 die ‚Gottesfreundliteratur‘114 wird durch das ‚Meisterbuch‘ vertreten.115 Die ‚Theologia deutsch‘ fügt sich unauffällig in das skizzierte geistliche Profil der Sammelhandschriften ein. Optisch erscheint sie als ‚gewöhnlicher‘ Traktat, dem keine Sonderbehandlung zuteil wird;116 inhaltlich nimmt sie viele der genannten Themen auf: Die Fokussierung auf das Christusleben ist in ihr ebenso präsent wie die Leidensthematik und die Forderung einer Abwendung von den Kreaturen zugunsten innerer gelâzenheit; die ‚Unterscheidung der Geister‘ wird ebenso verhandelt wie die Möglichkeiten und Bedingungen der unio mystica. In einigen Fällen scheint sogar ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Mitüberlieferung und einzelnen Kapiteln oder Aspekten der ‚Theologia deutsch‘ zu bestehen.117
113 Handschrift D enthält das 22. Kapitel aus dem ‚Büchlein der Ewigen Weisheit‘ (fol. 251v–253r) sowie zusätzlich eine Paraphrase der Worte Halte dich innerlich, luterlich, lediglich, affgezogenlich (fol. 253v–255r). Vgl. Büchlein der Ewigen Weisheit (hg. Bihlmeyer), Kap. 22, S. 290, Z. 1–2. In Handschrift E befindet sich das 49. Kapitel aus der ‚Vita‘ (fol. 228v–232r). 114 Der von Ioh 15, 14 („vos amici mei estis“) inspirierte Begriff ‚Gottesfreunde‘ taucht in den deutschen mystischen Texten des vierzehnten Jahrhunderts regelmäßig auf. Zu seiner inhaltlichen Füllung bei Seuse und Tauler siehe Schiewer: ‚Vos amici Dei estis‘, S. 233–244. Auch in der ‚Theologia deutsch‘ findet der Terminus mehrfach Verwendung: im Prolog (S. 67, Z. 2 und 6), im Registereintrag zu Kap. 21 (S. 69, Z. 45; die Überlieferung bietet hier sowohl die Bezeichnung frunt Christi als auch frunt gottes; vgl. den Apparat zur entsprechenden Stelle in von Hintens Edition, S. 69) und in Kap. 12 (S. 87, Z. 12). Siehe dazu auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 16. Zur ‚Gottesfreundliteratur‘ im eigentlichen Sinne gehören jedoch nur jene Schriften, die in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‚Grünen Wörth‘ überliefert sind und in den Handschriften entweder Rulman Merswin oder dem ‚Gottesfreund aus dem Oberland‘ zugeschrieben werden. Vgl. Krusenbaum-Verheugen: Figuren der Referenz, S. 1, Anm. 1. 115 Aufgrund seiner narrativen Ausgestaltung – die Rahmenhandlung des ‚Meisterbuchs‘ erzählt die Bekehrung eines scholastisch gebildeten ‚Lesemeisters‘ zum geisterfüllten ‚Lebemeister‘ – ist der Traktat mit den in den ‚Theologia deutsch‘-Handschriften vorhandenen Exempeln verwandt (s. o., Anm. 104). Zum Inhalt des ‚Meisterbuchs‘ siehe die Zusammenfassung bei Gnädinger: Johannes Tauler, S. 88–90. Das Verfahren der Textkomposition dieses Werkes, das eine ‚narrative Kompilation‘ darstellt, erläutert ausführlich Krusenbaum-Verheugen: Figuren der Referenz, S. 486–517; der Terminus ebd., S. 502. Zu finden ist das ‚Meisterbuch‘ komplett in Hs. C (fol. 35v–84r) und in Hs. I (fol. 12r–26v), während Hs. H nur eine Predigt aus dieser ‚Gottesfreund‘-Schrift enthält (fol. 18v–29r). 116 Das bedeutet indessen nicht, dass der Traktat ohne Sorgfalt behandelt wird (man vergleiche etwa die akkurate, mit diversen Gliederungsmerkmalen versehene Wiedergabe in Handschrift C). Er wird jedoch im Vergleich zur jeweiligen Mitüberlieferung nicht visuell hervorgehoben. 117 So enthält Handschrift D den kurzen Text ,Über zwei Antlitze in der Seele‘ (fol. 112v), der in direktem Bezug zu Kapitel 7 der ‚Theologia deutsch‘ zu stehen scheint (hg. von Hinten, S. 77, Überschrift: Von czweien geistlichen augen, mit den der mensch sith yn die ewikeit vnd yn dy czeit, vnd wie eyns von dem andern gehindert wird). Auch die Erklärung zum ‚Unterschied zwischen fünf
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Die problemlose Integration unseres Traktats in ein allgemein konsensfähiges Programm spätmittelalterlicher Frömmigkeit findet in den zeitgenössischen Marginalien eine zusätzliche Bestätigung. Exemplarisch seien hier die Handschriften C und D vorgestellt, die beide mit einer reichhaltigen, in ihrem Charakter jedoch unterschiedlichen Annotation aufwarten können. Handschrift C weist vorwiegend lateinische Randbemerkungen auf. Diese dienen der Textstrukturierung ebenso wie der Vermittlung von Hintergrundwissen und der Aufmerksamkeitslenkung, ohne dass diese Funktionen immer deutlich voneinander geschieden werden können. Bei der inhaltlichen Orientierung helfen Randzählungen118 und die Nennung der im Text vorkommenden Autoritäten119 ebenso wie die Einführung von Gliederungsmerkmalen aus der akademisch-scholastischen Wissenskultur.120 Letzteres ist ein Hinweis darauf, dass die ‚Theologia deutsch‘ – wie andere volkssprachliche Predigten und Traktate auch121 – nicht von den theologinatürlichen und fünf gnadenreichen Lichtern in der Seele‘ in Handschrift H (fol. 126r–127r) findet einen Widerhall in der ‚Theologia deutsch‘, insofern hier die Unterscheidung zwischen ‚natürlichem‘ und ‚göttlichem‘ Licht eines der zentralen Themen darstellt. 118 Siehe fol. 105v die Nummerierung 1 2 3 4 zu Kap. 22 (Edition: S. 100, Z. 30–37) sowie fol. 125v–126r die Randzählung Die erſten, Die andern, Die drittē, Die vierden zu Kap. 39 (Edition: S. 124, Z. 10, 12, 17; S. 125, Z. 19). 119 Siehe z. B. fol. 86r den Namenshinweis paul[us] zu Kap. 1 (Edition: S. 72, Z. 26) oder fol. 91v die Autoritätennennung Dionysi[us] zu Kap. 8 (Edition: S. 79, Z. 11). Hier und im Folgenden sind Abbreviaturen in eckigen Klammern aufgelöst. 120 Siehe z. B. zu Kap. 1 fol. 86r: Sed diceres (Edition: S. 72, Z. 20–22); Solucio (Edition: S. 72, Z. 22–24), Alia qu[ae]ſti(o) [das ‚o‘ ist aufgrund einer Beschneidung des Buchblocks nicht mehr vorhanden] (Edition: S. 72, Z. 31–33). Vgl. ferner fol. 91r (Kap. 8), 93r (Kap. 9), 101v (Kap. 17), 111v (Kap. 26, Kap. 27), 115v–116r (Kap. 31), 143v (Kap. 51). 121 Der fließende Übergang zwischen Latein und Volkssprache innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ zeigt sich in hervorragender Weise im Œuvre Meister Eckharts, dessen begriffliche Schärfung der deutschen Sprache zur Wissenschaftssprache in seiner Praxis zum Tragen kommt, dieselbe komplexe Lehre in beiden Idiomen zu vermitteln (siehe dazu Largier: Meister Eckhart. Perspektiven der Forschung, S. 41, 63, 67–68; vgl. ferner Hasebrink: Grenzverschiebung). Eckhart selbst macht immer wieder auf die sprachübergreifende Einheit seiner Lehre aufmerksam. Siehe etwa Pr. Q 10, DW I, S. 173, Z. 1–3: „Ich predigete einest in latîne, und daz was an dem tage der drîvalticheit, dô sprach ich: der underscheit kumet von der einicheit, der underscheit in der drîvalticheit“; Pr. Q 14, DW I, S. 235, Z. 4–5: „jch sprach zo paris in der schoelen, dat alle dynck sollen volbraht werden an deme rechten oitmoedegen mynschene.“ Die Gleichwertigkeit beider Idiome wird zudem durch ein Verweissystem zur Geltung gebracht, das die Bezüge zwischen den lateinischen und deutschen Werken explizit macht (vgl. Goris: Eckharts Entwurf, bes. S. 379–382 sowie Speer: Zwischen Erfurt und Paris, bes. S. 15–26 sowie 30–33). In der nacheckhartischen Mystik bleibt diese Tendenz zur Zweisprachigkeit, und damit die Anbindung an das lateinische Schrifttum, erhalten – sei es in der Verwendung von Lehnwörtern und -übersetzungen (zu dieser Rezeption scholastischer Fachsprache siehe Ruh: Bonaventura deutsch, S. 78–90), sei es in der Darbietung von Texten in beiden Sprachen, wie es etwa bei Heinrich Seuses ‚Büchlein der Ewigen
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
25
schen und philosophischen Diskussionen der Zeit isoliert werden kann.122 Hintergrundwissen wird durch Quellenangaben123 und die Rückübersetzung von Bibelzitaten ins Lateinische124 vermittelt; die Aufmerksamkeitslenkung erfolgt durch Nota-Vermerke,125 Zeigehände126 und die Nennung von Schlagworten.127 Insgesamt gesehen, zielen die Marginalien in Handschrift C darauf, den Text für
Weisheit‘ (zur Entstehung der deutschen vor der lateinischen Ausgabe siehe die Argumentation in Seuse: Horologium Sapientiae [hg. Künzle], S. 28–54) oder dem pseudo-eckhartischen Traktat Diu zeichen eines wârhaften grundes der Fall ist (siehe Meckelnborg: Der Pseudo-Eckhartsche Traktat, S. 310–311). 122 Zumal die quästionalen Elemente nicht ausschließlich von außen an den Text herangetragen werden, sondern bereits in diesem angelegt sind. Siehe dazu auch Haas: Die ‚Theologia deutsch‘, S. 414–415, Anm. 10 und Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 21. Am durchgeformtesten findet sich dieser Rekurs auf den scholastischen Hintergrund im 42. Kapitel, das unter der Überschrift Eyne frage, ab man got moge bekenne vnd nicht lieben, vnd wie czweierley licht vnd liebe ist: ware vnd falsche (S. 132) eine Utrum-An-Frage aufwirft, wie sie sich auch in der universitären Literatur findet. Die in den ersten vier Zeilen des Kapitels formulierte Alternative lautet, ob die Erkenntnis Gottes unabhängig von der Liebe zu Gott oder unauflöslich mit dieser verbunden sei. In seiner Antwort auf diese auch im akademischen Kontext diskutierte Frage schlägt der ‚Frankfurter‘ allerdings einen eigenständigen Weg ein. Siehe dazu Kap. 3.3.1, Anm. 128. Wie bereits Lisco (Die Heilslehre, S. 16) festgestellt hat, verzichtet die ‚Theologia deutsch‘ weitgehend auf dem Lateinischen entnommene Fremdwörter und beschränkt sich auf die etablierten Ausdrücke crêatûre und exempel (persônlîcheit ist noch zu ergänzen). Dass der Traktat trotzdem nicht nur durch seine quästionalen Elemente, sondern auch teminologisch auf die akademische Wissenskultur verweist, zeigt sich in der Lehnübersetzung des lateinischen procedere als vorgehen, um die innergöttliche Personenkonstitution zum Ausdruck zu bringen. Siehe dazu Kap. 3.2.2, S. 325–326. 123 So wird auf fol. 89r zu Beginn von Kapitel 6 die Quelle für das dortige Boethius-Zitat genannt (Edition: S. 76, Z. 1–2), nämlich De consolatione philosophiae. 124 Siehe etwa fol. 119v, wo die ‚Theologia deutsch‘ im 33. Kapitel Lk 23, 34 (nicht 23, 24, wie in der Edition angegeben) zitiert: „Vater vorgibe y, Wa ſÿ wiſſen nit was ſÿe thv“ (Edition: S. 118, Z. 23–24). Die Marginalie lautet: „pater ignoſce illis q[uia] neſciūt.“ 125 Siehe fol. 85v, 97v, 124v, 130v, 136v. 126 Siehe fol. 86r, 104r, 118v, 130r, 132r, 136v, 149v, 152v. In der Regel treten Nota-Hinweise und Zeigehände getrennt voneinander auf. Eine Ausnahme ist fol. 136v, wo die Verworfenheit des menschlichen Eigenwillens im Gegensatz zum göttlichen Willen hervorgehoben wird (Edition: Kap. 43, S. 135, Z. 36–39). 127 Siehe z. B. fol. 85r: das volkomē (Edition: Kap. 1, S. 71, Z. 3) / vnvolkomē (Edition: Kap. 1, S. 71, Z. 8); fol. 95v: „(I)n inferno n[ulla] redempcio“ [das ‚I‘ ist aufgrund einer Beschneidung des Buchblocks nicht mehr vorhanden] (Edition: Kap. 11, S. 85, Z. 22–23); fol. 98v: Obediēcia (Edition: Kap. 15, S. 89, Z. 5) / (I)nobediēcia [das ‚I‘ ist aufgrund einer Beschneidung des Buchblocks nicht mehr vorhanden] (Edition: Kap. 15, S. 89, Z. 15). Diese aufmerksamkeitslenkenden Marginalien können auch den Charakter von prägnanten Randtiteln annehmen, so z. B. zu Kapitel 2 (86v): „Peccatū quid ſit“ (Edition: S. 73, Z. 1–2).
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einen mit den scholastischen Ausdrucksformen vertrauten Leserkreis aufzubereiten.128 Auf eine weitergehende Kommentierung des Traktats wird zwar verzichtet; die vorhandenen Annotationen drücken jedoch eine affirmative Haltung gegenüber der ‚Theologia deutsch‘ aus. Nur an einer einzigen Stelle wird ein Kritikpunkt vermerkt, der auf eine vom Schreiber wahrgenommene Auslassung des Traktats zielt und zum frömmigkeitstheologischen Profil der Handschriften passt. Auf fol. 131r stellt ein Kommentar zu der rhetorischen Frage: „Wer iſt nv der, der ſich vnſchuldig weyſz da alleyn criſtus vnd wenigk yemāt mer?“129 ergänzend fest: „Maria gotes mter auch.“ In den Marginalien der Dessauer Handschrift D artikuliert sich ebenfalls eine bestätigende Einstellung gegenüber den Aussagen der ‚Theologia deutsch‘, wovon eine Vielzahl oft gehäuft auftretender Nota-Vermerke, Zeigehände und Randanstreichungen Zeugnis ablegt. Wie in C werden vereinzelt Namenshinweise130 und regelmäßig lateinische wie deutsche Schlagworte vermerkt.131 An C erinnert auch die lateinische Wiedergabe eines Bibelzitates, das hier zusätzlich mit einer Stellenangabe versehen ist.132 Anders als C beinhaltet D außerdem eine ganze Reihe kommentierender deutscher Marginalien, die aus wechselnder Perspektive133 Anweisungen zu einem gottgefälligen Leben geben. Im Fokus stehen dabei die Aufforderungen zu
128 Zu denken ist hier an die Mönche der Zisterzienserabtei Bronnbach, in der Handschrift C entstanden ist. 129 In der Edition von Hintens Kap. 40, S. 129, Z. 116–117. 130 Siehe z. B. fol. 13r: dyoniſi[us] (Edition: Kap. 8, S. 79, Z. 11). 131 Siehe z. B. fol. 16r: Cont[ri]cio vera (Edition: Kap. 11, S. 84, Z. 17); fol. 18r: Obediēcia vera (Edition: Kap. 15, S. 89, Z. 5) / Inobediencia (Edition: Kap. 11, S. 89, Z. 15); fol. 18v: „de hūanitate Criſti“ (wie die senkrechte Randanstreichung mit zwei integrierten Nota-Hinweisen zeigt, bezieht sich der Vermerk auf Kap. 15, S. 89, Z. 23–S. 90, Z. 31 [Edition]); fol. 25r: kunſt (wie die senkrechte Randanstreichung zeigt, bezieht sich der Vermerk auf Kap. 22, S. 100, Z. 25–29 [Edition]); fol. 42v: mercenarii (wie die senkrechte Randanstreichung zeigt, bezieht sich der Vermerk auf Kap. 38, S. 123, Z. 18–21 [Edition]); fol. 58r: Gelaſſenheit (wie die Randanstreichung zeigt, bezieht sich der Vermerk auf Kap. 46, S. 140, Z. 12–20 [Edition]). 132 Es handelt sich auf fol. 65v um die vervollständigende Rückübersetzung von Ioh 14, 6 zu Beginn von Kap. 52. Innerhalb des Kapitels wird die Stelle verkürzt wiedergegeben: „CRistus spricht: ‚Nymant kumpt czu dem vater dan durch mich‘“ (Edition, S. 148, Z. 1). Die Marginalie bietet stattdessen: „Ego ſū via v[eri]ta[s] et vita neō vēit ad p[at]rem n[isi] p[er] me joh xiiij.“ In anderen Randbemerkungen wird zwar die Bibelstelle, nicht aber der Text angegeben. Vgl. fol. 30r (math [aeus] xi), fol. 30v (math[aeus] v). 133 Teilweise äußert sich in den Randbemerkungen eine nicht näher identifizierte irdische Lehrinstanz, teilweise handelt es sich um Anweisungen, die als Wort Gottes zu verstehen sind. Siehe auch Anm. 135, 137.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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demütigem Gehorsam,134 leidender Christusnachfolge,135 innerer Hinwendung zu Gott136 und absolutem Gottvertrauen,137 also Themen, die mit dem mystischaszetischen Profil der Sammelhandschriften konform gehen. Besonders intensiv warnen die Marginalien vor einem rein theoretischen Erkenntnisstreben, das zwar nach Vermittlung in Form von Predigt und Lehre drängt, jedoch nicht zu einer besseren Lebensführung motiviert.138 Die in der nacheckhartischen Mystik oft
134 Beispiele (hier und im Folgenden mit moderner Interpunktion, ansonsten zeichengenau): fol. 17v (zu Kap. 13, S. 88, Z. 4–5 [Edition]): „hore, was d[er] h[er]re ſp[ri]cht v thü eſz, ſzo komeſtu yn freuden: bleib bÿ mir, das behait mir“; fol. 31v (zu Kap. 27, S. 110, Z. 7–11 [Edition]): „Jch wil dynen will nicht, das iſt eȳ kurtz lectien. Eſz geht alleine durch den willen. hore, waz der h[er]re ſpricht v thu eſz, ſo kōmeſtu zü freud.“ Dieselbe Anmerkung (bis „alleine durch den willen“) findet sich auch auf fol. 59r (zu Kap. 47, S. 141, Z. 10–13 [Edition]). Siehe ferner fol. 34r (zu Kap. 30, S. 113, Z. 20–21 [Edition]): „biſz gehorſam, gehorche, getruwe gentzlich, czwifel nicht, volge noch.“ 135 Beispiele: fol. 26r (zu Kap. 23, S. 101, Z. 12–14 [Edition]): „was haſtu noch gelid vb meynen will? vor gib ym ſeȳ ſchuldich, das ich dir vorgebe deyne ſchult“ (hier handelt es sich um einen der Kommentare, die ausschließlich die göttliche Perspektive wiedergeben); fol. 51v (zu Kap. 42, S. 133, Z. 42–46 [Edition]): „No[ta]. Eſz iſt gar ſwere. Hoffe. Jch wil dir helffe. man müſz yn hoffenūge leb v eyn lidende leben fur. folge nach“; fol. 65v (zu Kap. 51, S. 147, Z. 135–S. 148, Z. 137 [Edition]): „dü ſoldeſt vb leid bit. dü biſt gar ſwach. was haſtu noch vb mynen will geliden?“ 136 Beispiele: fol. 25v (zu Kap. 23, S. 101, Z. 9–10 [Edition]): „ſtehe allewege yn got heymlich equalit[er]“; fol. 62v (zu Kap. 51, S. 145, Z. 55–57 [Edition]): „Stirb vō groſz v clein v halt vür got allein.“ 137 Beispiele: fol. 26v (zu Kap. 24, S. 102, Z. 5–7 [Edition]): „laſz mich ſchaffe, ſorge nicht.“ Dass es sich hier um ein göttliches Postulat handelt, macht der Textbezug deutlich, denn die ‚Theologia deutsch‘ erläutert an dieser Stelle die Ersetzung des menschlichen Wirkens durch eine Alleinwirksamkeit Gottes. Die Marginalie übernimmt zwar diese Fokussierung auf die alleinige Aktivität Gottes, überführt sie jedoch in eine Aussage von solcher Allgemeinheit, dass sie von der spezifischen unio-Lehre der ‚Theologia deutsch‘ nichts mehr erahnen lässt. Zur Forderung absoluten Gottvertrauens siehe ferner fol. 39r (zu Kap. 34, S. 119, Z. 16–17 [Edition]): „darſtu gleüben. volge nach. wā dich alle werlt leſzet, ſo laſz ich dich nicht.“ 138 Siehe z. B. fol. 28r–28v (zu Kap. 25, S. 105, Z. 36–40 [Edition]): „Thü auch das maul zü. rede langſam, wol bedacht vnde kurtze rede. mā hat balde eȳ wort geſp[ro]ch, das mā uſſz dē recht wege komet […]. p[re]dige nicht, lere nicht, thü den mūt czu. was haſtu noch mit mir vor ſwecz? Her wiſet andern luth den weg v blibet ſelb[er] yn d[er] grub v yn der ſchult.“ Besonders reiche Kritik an einem verfehlten Erkenntnisstreben des Menschen findet sich in den Kommentaren zu Kap. 42 auf fol. 50v–51r. Zwei davon seien hier wiedergegeben. Zur negativen Beurteilung des wissensstolzen ‚natürlichen Lichts‘ in der ‚Theologia deutsch‘ ergänzt die Marginalie auf fol. 50v (zu Kap. 42, S. 132, Z. 20–22 [Edition]): „No[ta]. laſz dir genugen mit dē hertz ī got. alſo beſchiſſet d[er] ſchalg die leute durch das jar“ und auf fol. 51r (zu Kap. 42, S. 133, Z. 28–31 [Edition]): „weme das wiſſen v das leren libir iſt den das thun, der fluget ÿn das hymelrich alſzo eȳ berauft hun.“ Zugleich wird die Notwendigkeit der ‚Bücher‘ jedoch anerkannt. So lautet der Kommentar zu einer Passage in der ‚Theologia deutsch‘, welche die Abwendung eines geistlich Hoffärtigen von der schrifft kritisiert (fol. 27v, zu Kap. 25, S. 104, Z. 9–12 [Edition]): „Er gibbt die bucher enweg. er meȳt, er hat vnſ[er]n h[er]n got gereite bi den fuſſzen.“
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thematisierte, im ‚Meisterbuch‘ narrativ ausgestaltete Unterscheidung von ‚Lesemeister‘ und ‚Lebemeister‘139 mag hier ebenso im Hintergrund stehen wie die programmatische Kritik frömmigkeitstheologischer Schriften an scholastischen subtilitates ohne konkreten Nutzen für eine christliche, dem Seelenheil dienende Daseinsgestaltung. Im Vergleich zu C spielt in D die aufmerksamkeitsleitende Funktion der Marginalien durch die überaus zahlreichen Nota-Vermerke, Zeigehände und Randanstreichungen eine dominante Rolle gegenüber den Aspekten der Vermittlung von Hintergrundwissen und der Textstrukturierung. So findet sich in den Annotationen der Handschrift D anders als in C kein Hinweis auf eine Vermittlung der ‚Theologia deutsch‘ mit der akademisch-scholastischen Wissenskultur, auch wenn der Schreiber offenbar mit einer lateinkundigen Leserschaft gerechnet hat.140 Dagegen bietet die reichhaltige volkssprachliche Kommentierung eine – in C nicht vorhandene – Lektürehilfe, die das Textverständnis durch die Vorgabe eines bestimmten Interpretationsrasters nicht nur erleichtert, sondern auch lenkt. Der unterschiedliche Charakter der Randnotizen in den Handschriften C und D verweist zwar auf deren divergierende Funktionen und damit vielleicht auch auf verschiedenartige Leserkreise und -interessen. Davon unberührt bleibt jedoch ihr grundsätzlich affirmativer Bezug zum Inhalt der ‚Theologia deutsch‘. Der in der Textlektüre entstehende und sich in der handschriftlichen Überlieferung zusätzlich manifestierende Eindruck, dass die ‚Theologia deutsch‘ ungeachtet einiger inhaltlicher Pointierungen im Ganzen gesehen nichts Neues bietet, findet in der mediävistischen Forschung eine weitere Bestätigung. Bereits die Zwischenüberschriften, mit denen Andreas Zecherle seine Inhaltsanalyse des Traktats versieht, lassen deutlich die Gemeinsamkeiten mit anderen mystischen Prosatexten erkennen. Sie lauten: ‚Ontologische Aussagen über Gott und das Geschaffene‘; ‚Die Sünde‘; ‚Die Bedeutung Christi‘; ‚Die Vergottung des Menschen‘ (mit den weiteren Unterkapiteln ‚Der Weg zur Vergottung‘ und ‚Die Vereinigung mit Gott‘) sowie ‚Auseinandersetzung mit den freien Geistern‘.141 Diesen Themen widmen sich – mit unterschiedlichen Gewichtungen – auch die Schriften Meister Eckharts und die Predigten Johannes Taulers, die dementsprechend vielfach als dominante literarische Bezugspunkte der ‚Theologia deutsch‘ geltend gemacht werden. Wie bereits erwähnt, zielt das Erkenntnisinteresse dabei vornehmlich darauf, die Übereinstimmungen des Traktats mit diesen beiden wichti-
139 Die Unterscheidung dürfte nicht auf Eckhart selbst, sondern auf Johannes Tauler zurückgehen. Vgl. Steer: Eckhart der meister, S. 720–723. 140 Siehe dazu auch den lateinischen Abschluss des 25. Kapitels auf fol. 28v: „Paup[er]tas vera implet[ur] in homi[n]e qui nichil h[abet] nichil querit niſi pure deűm.“ 141 Siehe Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 23–80.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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gen Vertretern der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts zu erweisen. Als repräsentativ können folgende Hinweise aus der Studie Zecherles gelten: „Mit seinen ontologischen Aussagen über das Geschaffene steht der Autor der ‚Theologia Deutsch‘ der Position Meister Eckharts sehr nahe.“142 „Ebenso wie bei Tauler ist also der Gedanke der Nachahmung Christi in der ‚Theologia Deutsch‘ von großer Bedeutung.“143 „Indem das Ich des Menschen sich selbst preisgibt, schafft es, so behauptet der Verfasser im Anschluss an Eckhart und Tauler, Raum für das Wirken Gottes.“144 Die unspektakuläre Integration der ‚Theologia deutsch‘ in den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts dürfte ein Grund dafür sein, dass sie im Vergleich zu anderen mystischen Traktaten zwar relativ viel,145 im Vergleich zu
142 Ebd., S. 31. 143 Ebd., S. 41. 144 Ebd., S. 49. Vgl. auch ebd., S. 34, 37, 43, 44, 48, 55, 64, 65, 66, 75 sowie Paragraph 8 ‚Quellen und Einflüsse‘ (S. 80–83). Hier stellt Zecherle abschließend nochmals fest: „Insgesamt ist der Traktat von Gedanken Eckharts und Taulers beeinflusst.“ Schon Josef Bernhart war davon überzeugt, dass in der ‚Theologia deutsch‘ „an allen Ecken und Enden der ungenannte Eckhart hervorblickt“ (Frankfurter, hg. Bernhart, S. 82). Dieser Ansicht schließt sich Josef Koch an, auch wenn der Traktat „vor allem von Joh. Tauler geprägt ist“ (Meister Eckharts Weiterwirken, S. 156). Siehe ferner Haubst: Welcher ‚Frankfurter‘, S. 218: „Daß die ‚Theologia deutsch‘ von Eckhart und Tauler inspiriert ist, läßt sich durch Textvergleich leicht erheben“; Haas: Die ‚Theologia deutsch‘, S. 423–424: „[…] eine Auffassung, die durchaus mit der Willensauffassung von Eckharts ‚Reden der Unterweisung‘ korrespondiert“; ebd., S. 395: „[…] ganz nach eckhartischer Vorlage […]“ (siehe außerdem ebd., S. 371, 396, 398, 399); Abramowski: Bemerkungen, S. 90–91: „Die Terminologie, die zur Kennzeichnung der Frömmigkeit und des Lebens der ‚falschen freien Geister‘ verwendet wird, hat nichts Originelles, sondern ist bereits die Taulers“; Anonimo Francofortese (tr. Vannini, Introduzione), S. 9: „In effetti l’Anonimo di Francoforte non ha la ricchezza e l’audacia spirituali di Eckhart, e forse è più da Taulero che il suo pensiero prende le mosse, ma nell’ essenziale ha compreso i termi di fondo del Meister […]“; Anonyme de Francfort (tr. Pfister, introd. de Libera), S. 7: „En dépit des censures et des condamnations, des procès et des rétractations, une chaîne ininterrompue relie Eckhart au ‚Maître de Francfort‘“; The Book (tr. Blamires, Introduction), S. 3: „Its general tenor and the manuscript context in which it is transmitted link it with the writings of Meister Eckhart (c. 1260–1327/8) and Johannes Tauler (c. 1300–61).“ 145 Die ‚deutsche Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts erweist ihre Produktivität in einer Fülle volkssprachlicher, vielfach Meister Eckhart rezipierender Traktate, die zum Großteil keinen Verfassernamen tragen und lange Zeit von der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben sind. Am ‚mystischen Diskurs‘ partizipieren dabei nicht nur selbständig verfasste Schriften wie die ‚Theologia deutsch‘ oder das ‚Geistbuch‘, sondern auch Mosaik- und Komposittraktate (zur Terminologie vgl. ‚Blume der Schauung‘ [hg. Ruh], S. 22), die auf bereits vorhandene Textbausteine zurückgreifen und dementsprechend in ihrem Textbestand stark fluktuieren können. Nichtsdestotrotz artikuliert sich in der Auswahl und Zusammensetzung der einzelnen Elemente ein eigenständiges Interesse an bestimmten Aspekten des Gott-Mensch-Verhältnisses. Exemplarisch vorgeführt hat dies Freimut Löser in seiner umfassenden Studie zum Eckhart-Redaktor Lienhart Peuger (Meister
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literarischen ‚Höhenkammwerken‘ wie den Schriften Meister Eckharts jedoch ausgesprochen wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Zwar wurde die Forderung nach einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Ausgabe 1982 durch
Eckhart in Melk), die eine Neuedition des von Peuger kompilierten Traktats Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (= Pfeiffer II, Traktat III) beinhaltet. Wie dieser Traktat finden auch andere mystische Prosatexte – deren Verfasser vorwiegend im Dunkeln bleiben – erst in der jüngeren Forschung ein verstärktes Interesse. Zum einen treten sie als mögliche Sekundärzeugen für die Eckhart-Überlieferung in den Blick (siehe dazu Steer: Die Schriften, bes. S. 274–277; Gottschall: Eckhart); zum anderen werden nun auch ihre Kompositionsprinzipien und die damit verbundenen inhaltlichen Aspekte einer genaueren Analyse unterzogen. So kann Burkhard Hasebrink bei drei kurzen Mosaiktraktaten (die zum Konglomerat von ‚Spamers Mosaiktraktaten‘ gehören) eine an scholastischen Texterschließungsverfahren orientierte Konzeption nachweisen (siehe ders.: Zersetzung?). Im Anschluss an Hasebrink zeigt Regina Schiewer einen möglichen ‚Sitz im Leben‘ von ‚Spamers Mosaiktraktaten‘ auf, nämlich die Novizen- und Predigerausbildung der Dominikaner. Anhand der ‚Gelassenheits‘-Semantik führt sie zudem die Spannung zwischen spekulativem Anspruch und pastoralen Erfordernissen vor, welche die Textsammlung durchzieht (siehe dies.: Gelassenheit). Dem philosophischen Gehalt und den Kohärenzprinzipien der Compilatio mystica (‚Greiths Traktat‘) widmet sich eine Studie von Maxime Mauriège (La Compilatio mystica). Eine inhaltliche Analyse mehrerer mystischer Traktate – Von abegescheidenheit, Vorsmak des êwigen lebennes, ‚Traktat von der Minne‘, ‚Blume der Schauung‘ und der Schriften vom ‚Meister des Lehrgesprächs‘ – findet sich zudem im dritten Band von Ruhs ‚Geschichte der abendländischen Mystik‘ (S. 355–388). Ferner sind hier die Studien von Karl-Heinz Witte zu nennen (Der ‚Traktat von der Minne‘; Die Rezeption; Vorsmak). Mit mehreren Traktaten, welche die zeitgenössischen Intellekt- und Glückseligkeitsdebatten reflektieren (am bekanntesten dürfte unter diesen die Ler von der selykeit bzw. der ‚Traktat von der wirkenden und möglichen Vernunft‘ sein), setzen sich die Beiträge von Largier (Das Glück sowie ,intellectus in deum ascensus‘) und Winkler (Dietrich von Freiberg) auseinander. Einige anonym überlieferte deutsche Traktate liegen in modernen Editionen mit begleitenden Kommentaren und teilweise flankiert von weiteren Studien vor. Dazu zählen das sogenannte ‚Lehrsystem der deutschen Mystik‘ bzw. ‚Greiths Traktat‘ (The Compilatio Mystica, hg. Cadigan), Pfeiffer-Traktat VI ‚Schwester Katrei‘ (ediert von Schweitzer innerhalb der Studie ‚Der Freiheitsbegriff‘), der ‚In-principio-Dialog‘ (hg. Witte), der ‚Traktat von der Minne‘ (hg. Ruh, Witte), die ‚Blume der Schauung‘ (hg. Ruh), der ‚Spiegel der Seele‘ (hg. Vogl) und das jüngst edierte ‚Geistbuch‘ (hg. Gottschall; dazu begleitend die Studien von Beccarisi: Dietrich; dies.: Meister Eckhart; Gottschall: Mystik). Ferner ist hier die Textsammlung ‚Buch der Vollkommenheit‘ des PseudoEngelhart von Ebrach (hg. Schneider) zu nennen. Die bereits von Preger edierte Ler von der selykeit liegt in einer auf Preger basierenden Neuausgabe Norbert Winklers vor (ders.: Von der wirkenden und möglichen Vernunft, Text und Übersetzung auf S. 37–65). Diese enthält auch einen Neuabdruck des – ebenfalls von Preger edierten – Traktats ‚Von dem Schauen Gottes durch die wirkende Vernunft‘ (Text und Übersetzung auf S. 331–350). Eine lateinische Übersetzung des von Franz Pfeiffer als Nr. VII herausgegebenen Traktats Diu zeichen eines wârhaften grundes, der lange Zeit nur in deutschen und niederländischen Fassungen bekannt war und als ‚Stückpredigt‘ Eingang in das erste Kapitel des ‚Meisterbuchs‘ gefunden hat, wurde von Christina Meckelnborg zugänglich gemacht (Der Pseudo-Eckhartsche Traktat).
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Wolfgang von Hinten erfüllt.146 Das mediävistische Interesse an einer inhaltlichen Analyse des Traktats blieb jedoch auch nach dieser Bereitstellung eines editionsphilologisch abgesicherten Textes überschaubar. Offenbar klafft eine Lücke zwischen der Aura, welche dem Medienerfolg der ‚Theologia deutsch‘ zu verdanken ist, und ihrer Attraktivität als mystischer Text sui generis, insofern sie sich einem Mainstream der Eckhart- und Taulerrezeption einzufügen scheint, der für eine selbständige Profilierung innerhalb der ‚areas of discussions‘,147 welche die deutsche Regionalphilosophie des vierzehnten Jahrhunderts prägen,148 wenig Raum
Weitere Traktateditionen befinden sich im Stadium der Vorbereitung, so die in Überlieferungsgemeinschaft tradierten Pfeiffer-Traktate XI (Von der übervart der gotheit), XIII (Von dem anefluzze des vater) und XVI (Von dem zorne der sêle) (Bearbeiterin: Lydia Wegener) und der bereits dem fünfzehnten Jahrhundert angehörende Traktat ‚Vom Reuer, Wirker und Schauer‘ des Kuttenmanns (Bearbeiter: Wolfgang Beck; vgl. handschriftencensus.de/editionsbericht/E_Beck. html [16. August 2015]). Der mit der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts eng verquickten niederländischen Mystik werden hinsichtlich der anonymen Traktatliteratur ebenfalls intensive Forschungstätigkeiten gewidmet. Genannt seien nur zwei Beiträge der letzten Jahre: Schweitzer (hg.): Meister Eckhart und Scheepsma (hg.): Zwei mittelniederländische Texte. Diese Auflistung dokumentiert zwar das zunehmende Forschungsinteresse an der mystischen Traktatliteratur; sie sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Edition und Erforschung dieser für die Erschließung des ‚mystischen Diskurses‘ äußerst wichtigen Texte noch am Anfang steht. Nach wie vor sind zahlreiche Traktate nur in Editionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zugänglich, die modernen philologischen Standards nicht mehr entsprechen. Genannt seien hier nur die Pfeiffer-Traktate I Von den XII nutzen unsers herren lîchames (vgl. Jahn: Art. ‚Von den zwölf nutzen‘); II Von der edelkeit der sêle (auch: Der înslac; vgl. Zapf: Art. ‚Der înslac‘) und XVIII Diu glôse über daz êwangelium S. Johannis (vgl. Zapf: Art. ‚Diu glôse‘). Auch die anderen in Pfeiffer II aufgenommenen Traktate sind noch vielfach unediert. Moderne Ausgaben fehlen ferner vom ‚Buch geistlicher Armut‘ oder von dem Traktat Von den drîn fragen. Zu den bisher gar nicht publizierten mystischen Prosatexten zählen die ‚Schule des Geistes‘ (vgl. Jahn: Art. ‚Schule‘), der Sendbrief Ach ir gottes minnerin (vgl. Jahn: Art. ‚Ach ir gottes minnerin‘) oder der Traktat ‚Von Vollkommenheit‘ (vgl. Zapf: Art. ‚Von Vollkommenheit‘). Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche anonyme Prosatraktate der ‚deutschen Mystik‘ noch einer Erschließung harren, hat die ‚Theologia deutsch‘ ein vergleichsweise großes Forschungsinteresse auf sich gezogen. 146 Der bereits 1939 geäußerte, ebenso dramatische wie nationalistische Appell Teufels, mit einer kritischen Ausgabe endlich eine „Ehrenschuld der deutschen Forschung“ einzulösen (Die ‚Deutsche Theologie‘, S. 315), war zunächst ungehört verhallt. Erst dreißig Jahre später kündigten sowohl Pahncke als auch Schiel eine Neuedition an (siehe Ruh: Der ‚Frankfurter‘, S. 205), aber noch mehr als eine Dekade musste vergehen, bis 1982 dann tatsächlich die unter der Ägide Kurt Ruhs entstandene Dissertation Wolfgang von Hintens vorlag. 147 Ausdruck nach Largier: Recent Work, S. 159. 148 Die Erkenntnis, dass die großen internationalen Universitätsstädte Paris und Oxford nicht den einzigen Bezugspunkt bei der Beurteilung philosophischer Entwürfe des Mittelalters darstel-
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lässt. Ihrem Status als opus theologicissimum dürfte dies allerdings entgegenkommen: Denn so lässt sie sich widerstandslos für eine christliche Spiritualität in Beschlag nehmen, die ihr ebenso wie anderen ‚großen‘ Mystikern eine zeitlose Gültigkeit zuschreibt.149 Da bereits eine kursorische Textlektüre darauf schließen lässt, dass die ‚Theologia deutsch‘ formal wie inhaltlich in erster Linie dem ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts verpflichtet bleibt, muss sich ihr philosophisch-theologisches Eigenpotenzial innerhalb des durch diesen Diskurs konstituierten Textfeldes entfalten; wie noch zu zeigen sein wird, erweist es sich nicht in thematischen Innovationen, sondern in der sprachlichen Positionierung hinsichtlich jener Aspekte des Gott-Mensch-Verhältnisses, die auch in anderen Predigten und Traktaten verhandelt werden. Allein darin, wie die ‚Theologia deutsch‘ ihre Aussagen strukturiert, welchen Topoi des ‚mystischen Diskurses‘ sie sich verschließt und welche Äußerungen sie im Unterschied zu inhaltlich verwandten Werken zulässt, offenbart sich ihre Originalität. Dieses kreative Potenzial tritt allerdings weder bei einer oberflächlichen noch bei einer isolierten Lektüre zutage, sondern zeigt sich erst in der – konzeptuelle wie terminologische Details miteinbeziehenden – Zusammenschau mit anderen Prosaschriften der ‚deutschen Mystik‘. len dürfen, sondern dass vielmehr das konkrete Entstehungsumfeld – das heißt die regionalen Wissenschaftszentren und die aus ihnen entspringenden Diskussionen – als adäquater historischer Referenzrahmen dienen muss, verdankt sich Loris Sturlese. Siehe ders.: Die deutsche Philosophie, bes. S. 9–14. Im deutschsprachigen Raum des vierzehnten Jahrhunderts war dieses regionale Wissenschaftszentrum das 1248 von Albertus Magnus in Köln gegründete dominikanische Studium generale. Siehe ebd., S. 324–326. Die hier geführten Diskussionen fanden, insofern sie das Verhältnis von Gott und Mensch neu zu bestimmen versuchten und in Predigten weitervermittelt wurden, auch in Laienkreisen Interesse. Ein Panoptikum der zahlreichen Studien Sturleses zur deutschen Regionalphilosophie bietet der Sammelband Homo divinus. Siehe zum Konzept der Regionalphilosophie ferner die Einleitung von Pasquale Porro zur Festschrift Per perscrutationem philosophicam (hg. Beccarisi u. a.). Während Sturlese die Zeit der ‚deutschen Mystik‘ mit Berthold von Moosburg († 1361) an ihr Ende gelangen lässt (vgl. ders.: Die Kölner Eckhartisten, S. 135), bezeugt die frühestens am Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstandene ‚Theologia deutsch‘ (siehe oben, Kap. 1.2.1, S. 12–14) eine Fortführung der Diskussionen. 149 Vgl. Kap. 1.1, S. 7–8. Insbesondere bei Meister Eckhart zeichnet sich überaus deutlich das Bestreben ab, seine Spiritualität aus ihrer Einbindung in einen spezifischen historischen Kontext – die durch die ‚deutsche Dominikanerschule‘ geprägte Regionalphilosophie des vierzehnten Jahrhunderts – zu befreien und für moderne Formen der Sinnsuche fruchtbar zu machen. Von diesen Aneignungsversuchen zeugt die laufend erweiterte Bibliographie der Meister-EckhartGesellschaft, die aus einer annähernd vollständigen Liste aller wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Publikationen zu Meister Eckhart und seinem Umfeld besteht (www.meistereckhart-gesellschaft.de/publikationen.htm). Als Beispiel sei nur der von Katja Becker, Frank-Tilo Becher und Wolfgang Achtner herausgegebene Sammelband ‚Magister, Mystiker, Manager – Meister Eckharts integrale Spiritualität‘ genannt.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Nur in dieser vergleichenden Perspektive kristallisiert sich heraus, wie sehr die ‚Theologia deutsch‘ in ihrer Anthropologie, Metaphysik und Christologie von bestimmten Grundprämissen des ‚mystischen Diskurses‘ abweicht, ohne diesen jemals zu verlassen. Vielmehr formuliert sie die – von anderen Predigten und Traktaten verschwiegenen – Konsequenzen aus, die sich aus der Problematisierung des Gott-Mensch-Verhältnisses in der nacheckhartischen Mystik ergeben und deutet gängige Konzepte des ‚mystischen Diskurses‘ so um, dass sie nicht mehr in den Horizont christlicher ‚Normaltheologie‘ integrierbar sind.150 Die hier zunächst nur behauptete, noch nicht erwiesene Extravaganz der ‚Theologia deutsch‘ scheint ihrer unproblematischen Einordnung in die gängigen Raster spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu widerstreiten, wie sie sowohl durch ihr handschriftliches Überlieferungsumfeld als auch durch die zeitgenössischen Marginalien bestätigt wird. Dieser Eindruck einer Konformität ist auch keinesfalls falsch, greift der Traktat doch genau jene Themen auf, die sowohl in der deutschen Mystik des vierzehnten Jahrhunderts als auch in frömmigkeitstheologischen Schriften des fünfzehnten Jahrhunderts von größter Relevanz sind und in den Handschriften durchgängig in Erscheinung treten.151 Dennoch bedarf es hier in mehrfacher Hinsicht einer Modifikation: Zunächst einmal ist zu beachten, dass die Rezeption der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts im fünfzehnten Jahrhundert nicht ohne Vorbehalte erfolgte. Die hochspekulativen unio-Konzepte Meister Eckharts, Johannes Taulers und anderer mystischer Predigten und Traktate widersprechen der Forderung der Reformtheologen nach einer schlichten, ganz der Sicherung des Seelenheils verpflichteten Frömmigkeit, die keinen Raum für häretische Verirrungen bietet.152 Dass die ‚Theologia deutsch‘ nach Ausweis der noch erhaltenen und erschließbaren Überlieferung relativ selten und meist nur auszugsweise rezipiert worden ist, dürfte ein Hinweis auf solche Ressentiments sein, zumal ihre vom ‚mystischen Diskurs‘ abweichenden Sonderpositionen zusätzliches Gefährdungspotenzial beinhalten. Wenn insbesondere in den mystisch-aszetischen Sammelhandschriften des fünfzehnten Jahrhunderts – so auch in den Codices, welche die ‚Theologia deutsch‘ enthalten – dennoch eine Fülle mystischer Texte des vierzehnten Jahr-
150 Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten, S. 35–38 sowie Kap. 1.2.3, S. 55. 151 Siehe weiter oben in diesem Kapitel, S. 19–28. 152 Insbesondere die eckhartischen ‚Subtilitäten‘ sahen sich im fünfzehnten Jahrhundert einer heftigen Kritik ausgesetzt. Vgl. Williams-Krapp: Mystikdiskurse, S. 264. Vgl. auch Kap. 1.2.1, Anm. 67. Williams-Krapp (ebd., S. 285) stellt in Bezug auf das fünfzehnte Jahrhundert ferner fest, dass die meisten „theologisch-philosophische[n] Texte mit mystischer Spiritualität nur auf begrenztes Interesse“ stießen und verweist in diesem Zusammenhang explizit auf die ‚Theologia deutsch‘: „Es bedurfte Martin Luthers, um dem ‚Frankfurter‘ zur großen Wirkung zu verhelfen.“
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hunderts überliefert wird, so lässt dies darauf schließen, dass die Predigten und Traktate vielfach selektiv und unter Einnahme einer Lektürehaltung rezipiert wurden, welche allein den Gemeinsamkeiten mit den gängigen Frömmigkeitskategorien Beachtung schenkte, die spezifisch mystischen Aspekte aber ausblendete. Dass so mit den Predigten Taulers verfahren wurde, hat Ottos Analyse von Annotationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tauler-Drucken detailliert herausgearbeitet.153 Auch die Marginalien zur ‚Theologia deutsch‘ in den Handschriften C und D weisen auf eine affirmative, von der kritischen Kommentierung problematischer Passagen absehende Rezeption hin.154 Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die zahlreichen Randnotizen in Handschrift D,155 deren Ratschläge zur richtigen Lebensgestaltung zwar durch bestimmte Aussagen der ‚Theologia deutsch‘ stimuliert wurden, in dieser Form aber auch neben zahlreichen anderen mystischen oder frömmigkeitstheologischen Texten stehen könnten. Ihre Anbindung an die ‚Theologia deutsch‘ ist nicht argumentativer, sondern assoziativer Natur, so dass sie über das spezifische philosophischtheologische Profil des Traktats keinerlei Auskunft geben. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die ‚Theologia deutsch‘ genug inhaltliche Übereinstimmungen mit anderen mystischen und frömmigkeitstheologischen Texten beinhaltet, um gemeinsam mit diesen in monastische Sammelhandschriften des fünfzehnten Jahrhunderts aufgenommen zu werden. Zugleich weist ihre verhaltene Rezeption darauf hin, dass sie – anders als zum Beispiel Heinrich Seuses ‚Büchlein der Ewigen Weisheit‘156 – keinen allgemeinen Anklang fand. Vielleicht deutet sich so in der Überlieferung der ‚Theologia deutsch‘ bereits an, was sie inhaltlich besonders interessant macht und zugleich ihre Analyse erschwert: nämlich das Lavieren zwischen Konvention und Provokation, indem sie die geläufigen, auch im fünfzehnten Jahrhundert noch aktuellen Themen der ‚deutschen Mystik‘ abhandelt, diese aber durchgängig oder punktuell so um-
153 Siehe Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Auf besonderes Interesse stießen demnach folgende Haupt- und Nebenaspekte der Theologie Taulers: Abwendung von der Welt, Demut und Selbstverleugnung (ebd., S. 97–104); Kreuz und Leiden (ebd., S. 104–110); ‚Hohe Anfechtung‘ und Resignatio ad Infernum (ebd., S. 110–115); die individuelle Frömmigkeitspraxis (ebd., S. 116–129); ethische Anweisungen (ebd., S. 129–135); die Problematisierung der geistlichen Lebensformen, wie sie etwa in der Kritik am ‚Pharisäertum‘ zum Ausdruck kommt (ebd., S. 136–145); der Mensch im Kampf mit dem Teufel (ebd., S. 145–148). Weitgehend unbeachtet blieben dagegen die genuin mystischen Themen unio und ‚Grund‘ (die vereinzelt auch explizite Kritik hervorrufen konnten). Siehe ebd., S. 148–161. 154 Siehe oben, S. 24–28. 155 Siehe oben, Anm. 134–138. 156 Hierbei handelt es sich um das „wohl verbreitetste Erbauungsbuch des deutschen Mittelalters“ (Williams-Krapp: Ordensreform, S. 47).
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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formt, dass sie den ‚mystischen Diskurs‘ ebenso wie frömmigkeitstheologische Kategorien immer wieder durchbrechen. Dass die ‚Theologia deutsch‘ aufgrund der ihr inhärenten ‚Vielstimmigkeit‘ verschiedene – selbst einander entgegengesetzte – Auslegungen erlaubt, zeichnet sich auch in den Forschungsbeiträgen der letzten Jahre ab. Wie bereits erwähnt, konkurriert hier der Anspruch, die Originalität des Traktats zu erweisen, mit dem Anliegen, seine Nähe zu den (heute) anerkannten Autoritäten der ‚deutschen Mystik‘ – vor allem Meister Eckhart und Johannes Tauler – zu dokumentieren.157 Insbesondere jene Aspekte der ‚Theologia deutsch‘, die sich weiter von der christlichen ‚Normaltheologie‘ des vierzehnten Jahrhunderts entfernen, als dies der ‚mystische Diskurs‘ ohnehin impliziert, werden daher eher unterdrückt, als in ihrer Tragweite zur Geltung gebracht. Dies sei anhand von drei Beispielen kurz dargestellt: Alois Maria Haas hebt den einseitig negativen Naturbegriff der ‚Theologia deutsch‘ hervor, der mit der Vollkommenheit Christi kontrastiert wird und dazu führt, dass dem in der Christusnachfolge stehenden Menschen jedes Recht auf Selbstverfügung zugunsten einer absoluten Instrumentalisierung durch Gott abgesprochen wird.158 Dieser Befund wird allerdings sofort zugunsten einer Einbin-
157 Siehe Kap. 1.1, S. 7 sowie oben, S. 28–29. Dass eine solche Anerkennung zumindest von Seiten der Amtskirche nicht immer gegeben war, erweist die posthume Zensurierung der eckhartischen Werke durch Papst Johannes XXII. (1329) zur Genüge. Zwar konnte das Verdikt das Weiterwirken Eckharts weder im lateinischen noch im volkssprachlichen Bereich verhindern (siehe dazu oben, Anm. 145; vgl. ferner Koch: Meister Eckharts Weiterwirken; Sturlese: Meister Eckharts Weiterwirken; Bray: The Reception) und auch sein Name blieb in den monastischen Codices erstaunlich präsent (zum Nürnberger Katharinenkloster siehe Gottschall: Meister Eckhart-Rezeption). Dennoch zeigen die teilweise scharfen Reaktionen auf seine Schriften im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert (siehe oben, Anm. 152; Kap. 2.3.5.3, Anm. 840; Koch: Meister Eckharts Weiterwirken, S. 137, 150–151; Gottschall: Eckhart, S. 540–551), die auf Orthodoxiesicherung zielenden Transformationen seiner Lehre in der nacheckhartischen Mystik (z. B. hinsichtlich der imago-Lehre; vgl. Kap. 2.2.3.2 mit Anm. 328) und die zersplitterte Überlieferung seines volkssprachlichen Œuvres (vgl. Steer: Die Schriften, S. 226–227, 233–237; Bray: The Reception, S. 484), dass ein unbefangener Umgang mit dem Meister schwierig geworden war. Anders als Eckharts Predigten wurden diejenigen Taulers bereits seit dem vierzehnten Jahrhundert in Sammlungen tradiert und lagen seit dem ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert in Druckausgaben vor (wobei eckhartische Predigten anonym oder zumindest versteckt mitgeführt wurden; vgl. Kap. 2.1, Anm. 2; Steer: Eckhart der meister, S. 728–729). Dennoch zeigen die Abgrenzungsbemühungen zu ‚falschen‘ Mystikern in den Predigten Taulers, die verhaltene, vereinzelt auch sehr kritische Aufnahme seiner unio-Lehre im fünfzehnten Jahrhundert (vgl. oben, Anm. 153) und die (konfessionell geprägten) Anfeindungen Taulers im sechzehnten Jahrhundert (vgl. Wegener: Ain Faſt Edele, nutzliche, vnd ergrúndte Sermon, zu Matthias Lauterwald), dass auch er nicht immer und überall als unangefochtener ‚Lebemeister‘ galt. 158 Vgl. Haas: ‚Der Franckforter‘, S. 17–22.
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dung der ‚Theologia deutsch‘ in pastorale – und damit allgemeinen Frömmigkeitsnormen entsprechende – Interessen entschärft: „Man wird die genannten Engführungen einer extremen Christologie allerdings nicht überbewerten wollen. Sie sind Ergebnis einer seelsorglichen Intention, eines ‚kräftigen Seelsorgergeistes‘ (J. Bernhart), der sich immer wieder gerade in den pointiertesten Stellungnahmen in erfrischender Unmittelbarkeit bezeugt.“159 Ob der unbekannte Verfasser der ‚Theologia deutsch‘ mit seiner an mystische Traditionen anschließenden, die Entgrenzung von göttlichem und menschlichem Sein aber wesentlich weiter treibenden Lehre160 tatsächlich pastorale Intentionen verfolgte, muss im Dunkeln bleiben. Für das historiographische Konstrukt, dass es sich bei dem Traktat „ursprünglich um eine Sammlung von Kollationen, Betrachtungen, die in einem dem Deutschherrenhaus von Frankfurt (Sachsenhausen) zugeordneten Schwesternkonvent von einem Priesterbruder vorgetragen wurden“, handelte,161 gibt es in der erhaltenen Überlieferung keinen tragfähigen Hinweis. Mit den bereits im vierzehnten Jahrhundert aufkommenden, durch die ‚Literaturexplosion‘ des fünfzehnten Jahrhunderts noch größere Bedeutung gewinnenden Pastoralbestimmungen, dass christliche Laien vor schwierigen theologischen Spekulationen geschützt werden müssten,162 lässt sich die Lehre von der menschlichen Selbstaufgabe zugunsten einer – das psychische wie physische Sein des Menschen umgreifenden – Alleinwirksamkeit Gottes jedenfalls nicht vereinbaren. Doch gerade in dieser die Grenze zur Heterodoxie überschreitenden Brisanz, die durch die Umdeutung eines in mystischen Predigten und Traktaten durchgängig zum Tragen kommenden Theologumenons entsteht,163 erweist sich die Eigenstän-
159 Ebd., S. 23. 160 Insofern die ‚Theologia deutsch‘ nicht nur eine ‚Vergottung‘ des Menschen, sondern auch eine ‚Vermenschung‘ Gottes lehrt, die dazu dient, einen Gott innewohnenden Mangel auszugleichen. Siehe dazu die Ausführungen zur Gotteslehre der ‚Theologia deutsch‘ (Kap. 3). 161 Haas: ‚Der Franckforter‘, S. 23. Anders als in den formal ähnlichen Rede der underscheidunge Meister Eckharts findet sich in der ‚Theologia deutsch‘ nirgends ein Hinweis darauf, dass sie auf Collationes zurückgeht. Auch gibt es weder inhaltliche noch überlieferungsgeschichtliche Belege für eine primäre Ausrichtung auf die cura monialium. Zur Provenienz der spätmittelalterlichen Handschriften siehe oben, Anm. 92 und 93. 162 Siehe oben, Anm. 152. Schon im vierzehnten Jahrhundert sah sich die Leitung des Dominikanerordens dazu veranlasst, die Vermittlung von ‚gefährlichen‘ Lehren an theologisch Unbedarfte zu unterbinden. Vgl. Steer: Der Prozeß, S. 57. 163 Denn während die Ersetzung des menschlichen Wirkens durch eine Alleinwirksamkeit Gottes in den mystischen Texten häufig als Ausdruck der unio erscheint, gilt die dadurch bewirkte Transformation nur für den Menschen, greift aber nicht auf das göttliche Sein aus. Diese Wahrung der göttlichen immutabilitas durchbricht die ‚Theologia deutsch‘, indem sie die Immaterialität Gottes zu einem Mangel erklärt, der allein durch den Menschen ausgeglichen werden kann. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 3.2.2 und Kap. 3.2.3.
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digkeit der ‚Theologia deutsch‘ innerhalb ihres literarischen Umfeldes. Im Rahmen dieser Arbeit wird sie daher nicht nivelliert, sondern herausgearbeitet werden. Bernard McGinn betont zwar die Originalität der ‚Theologia deutsch‘,164 übt jedoch Zurückhaltung gegenüber einer Darstellung jener Aspekte ihrer Metaphysik, die sich außerhalb des ‚mystischen Normaldiskurses‘165 befinden. Dies betrifft insbesondere die Äußerungen des Traktats über den göttlichen Willen, der nur dann zur Wirkmächtigkeit gelangen könne, wenn er zuvor von einer ‚Kreatur‘ – d. h. von einem Menschen – Besitz ergriffen habe.166 McGinn zieht sich von einer systematischen Verfolgung dieses bemerkenswerten Motivs, das an verschiedenen Stellen der ‚Theologia deutsch‘ auftaucht und für ihre Bestimmung des GottMensch-Verhältnisses von entscheidender Bedeutung ist, zurück: „This unusual view of God’s need to create raises questions that cannot be pursued here.“167 Das Bestreben, die Konformität der ‚Theologia deutsch‘ mit anderen Schriften der ‚deutschen Mystik‘ zu erweisen, tritt auch in Andreas Zecherles Darlegungen zur Gotteslehre des Traktats zutage. Ihm zufolge fügt sich die ‚Theologia deutsch‘ weitgehend unproblematisch in ein verbreitetes Grundmuster des zeittypischen ‚mystischen Diskurses‘ ein: Dem Traktat liege ein ontologisches Konzept neuplatonischer Prägung zugrunde, wonach Gott als der Vollkommene, Eine und Gute alles Geschaffene in urbildlicher Form in sich enthalte und diesem auch nach seinem Heraustritt in Raum und Zeit das Sein kontinuierlich mitteile. Zwar sei die Dreipersonalität Gottes zugunsten des Einheitsgedankens zurückgedrängt, jedoch ohne dadurch den Rahmen des dogmatisch Vertretbaren zu verlassen. Insgesamt bewege sich die ‚Theologia deutsch‘ in der von Meister Eckhart vorgezeichneten Bahn, freilich ohne die theologische Fundierung und spekulative Tiefe des Dominikaners zu erreichen.168 Das bereits erwähnte Irritationsmoment, dass sich in dem Traktat Aussagen finden, „die den Eindruck erwecken, die Schöpfung sei für Gott absolut notwendig“,169 wird dabei sehr wohl zur Kenntnis genommen, jedoch sofort mit dem Hinweis auf die freiwillige Selbstbeschränkung des Verfassers in das konsensfähige Grundkonzept zurückgeführt: „Er [der Autor] erkennt schließlich aber doch, dass er dabei in Bereiche vorzudringen droht, die Gott vorbehalten sind.“170
164 165 166 167 168 169 170
Siehe Kap. 1.1, Anm. 27. Zur Definition dieses Begriffs siehe Kap. 1.2.3, S. 61. Siehe Kap. 2.3.6, S. 308–312 und Kap. 3.3.1, S. 345–346. McGinn: The Harvest, S. 397. Vgl. Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 23–32. Ebd., S. 28. Ebd.
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Nun stimmt es zwar, dass die ‚Theologia deutsch‘ explizit eine intellektuelle Selbstbeschränkung einfordert, insofern sie sich – und anderen – die weitere gedankliche Durchdringung der Problematik verbietet: Man muß hie wenden vnd bliben. Man mochte dißem also verre nach volgen vnd nach krichen, man wisset nicht, wo man were ader *wie man wider vß krichen sold.171
Diese Restriktion eliminiert die unmittelbar zuvor getroffene Aussage, dass Gott ohne Schöpfung zur Wirkungslosigkeit gezwungen und damit völlig nutzlos sei,172 jedoch keineswegs. Diese bleibt in ihrer ganzen Tragweite erhalten, zumal der Traktat seine Überlegungen inhaltlich weder abschwächt noch aufhebt. Vielmehr nimmt er aufgrund der unorthodoxen Implikationen des Gesagten nur von einer tieferen intellektuellen Durchdringung Abstand. Das schöpfungstheologische Faktum als solches jedoch wird im Kontext der ‚Theologia deutsch‘ nicht in Frage gestellt, sondern bildet eine Serie von Aussagen, die ihr unio-Konzept bestimmt. Die folgenden Ausführungen werden sich vorrangig jenen Aspekten der ‚Theologia deutsch‘ widmen, die bei einer Erstlektüre des Traktats nicht zutage treten, in der handschriftlichen Überlieferung keine gesteigerte Aufmerksamkeit finden und in der Forschung eher zurückgedrängt als hervorgehoben werden. Diese Elemente sollen jedoch nicht isoliert betrachtet, sondern innerhalb jener diskursiven Konstellationen verortet werden, welche die ‚deutsche Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts prägen und denen auch die ‚Theologia deutsch‘ verpflichtet bleibt.
1.2.3 Methodische Vorgehensweise Da es dieser Arbeit nicht um die Würdigung der ‚Theologia deutsch‘ als autonomes literarisches Werk, sondern um ihre Erschließung als Produkt und Mitkonstituens des ‚mystischen Diskurses‘ geht, steht sie nicht als ingeniöses Erzeugnis einer – bisher unbekannten – Autorenpersönlichkeit,173 sondern als zentraler Text innerhalb eines Feldes sie umgebender gleichwertiger Texte im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, gewissermaßen als „Knoten in einem Netz“.174 Da 171 Kap. 31, S. 115, Z. 33–36. 172 Kap. 31, S. 115, Z. 30–33. Zitiert in Kap. 3.2.3, Anm. 99 und S. 340. 173 Mit Foucault gesprochen, erfolgt die Analyse „also ohne Bezug auf ein Cogito“ (Archäologie, S. 178). 174 Ebd., S. 36.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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es zugleich das vorrangige Bestreben dieser Studie ist, gerade nicht die Übereinstimmungen der ‚Theologia deutsch‘ mit anderen mystischen Prosaschriften, sondern ihr philosophisch-theologisches Eigenprofil herauszuarbeiten, wird sie dennoch als von anderen Predigten und Traktaten inhaltlich unterschiedene Texteinheit betrachtet. Die Arbeit wird also versuchen, zwei scheinbar gegenläufige Perspektiven miteinander zu verbinden: Die ‚intertextuelle Perspektive‘ bezieht sich auf das gesamte Textfeld und verfolgt, welche Aussagen175 sich seriell durch alle – oder doch viele – der zugehörigen Texte hindurchziehen. Insofern diese Aussagen auch die ‚Theologia deutsch‘ mitkonstituieren, ist sie Bestandteil des ‚mystischen Normaldiskurses‘. Wie bereits gezeigt, hebt die mediävistische Forschung zu unserem Traktat gerne diese Übernahme etablierter Terminologien und Konzepte – besonders wenn sie auf Meister Eckhart und Johannes Tauler zurückgehen – hervor. Die ‚intertextuelle Perspektive‘ soll jedoch vor allem auch erweisen, welche Aussagen sich in der ‚Theologia deutsch‘ gerade nicht finden oder derartig transformiert werden, dass sie nicht mehr in den ‚mystischen Diskurs‘ integrierbar sind.176 In dieser Neuziehung der Grenzen zwischen Sagbarem und Nichtsagbarem behauptet sich die ‚Theologia deutsch‘ – so die These – als originelles, wenn auch stets auf sein Textfeld bezogenes ‚Werk‘.177 Dementspre-
175 Unter Aussagen werden im Folgenden mit Foucault „regelmäßig auftauchende und funktionstragende Bestandteile eines Diskurses“ (Landwehr: Geschichte, S. 111) verstanden. Zur Definition der Aussage siehe auch Foucault: Archäologie, S. 115–127. Wesentlich ist, dass eine Aussage nie für sich alleine stehen kann. Vielmehr wird eine sprachliche Sequenz erst dadurch zur Aussage, dass sie „in ein Aussagefeld eingetaucht ist, wo sie dann als ein besonderes Element erscheint“ (ebd., S. 144). Damit steht die Aussage in engster Verbindung zu einem weiten poststrukturalistischen Intertextualitätskonzept, wie es auch für diese Arbeit in Anspruch genommen wird. Die ‚Theologia deutsch‘ wird also nie als literarischer Solitär behandelt, sondern stets als Teil „eines Feldes anderer, zeitgenössischer Texte“ (Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 13; vgl. ebd., S. 74). 176 Dieses Aufspüren ‚diskursiver Innovationen‘ (vgl. Parr: Diskursanalyse, S. 92) steht im Fokus der Arbeit. Damit vertritt sie eine andere Position als Zecherle, der bei einer zu starken Beachtung des literarischen Umfeldes einen Verlust an individuellem Aussagegehalt fürchtet. Siehe ders.: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 22: „Bei einer rein textimmanenten Vorgehensweise besteht die Gefahr eines ahistorischen Textverständnisses. Bei einer Deutung, die von Werken anderer Autoren ausgeht, kann hingegen leicht das Spezifische des zu interpretierenden Textes übersehen werden.“ Die folgenden Ausführungen stehen vielmehr unter der Prämisse, dass „Einzeltexte ihren Sinn erst im Zusammenhang mit anderen Texten, also im Kontext von Textgeflechten [erhalten], die den Diskurs formen“ (Landwehr: Geschichte, S. 101). Siehe auch die vorhergehende Anmerkung. 177 Nicht in thematischen Innovationen also offenbart sich die Besonderheit der ‚Theologia deutsch‘, sondern in ihrer „einmaligen Konfiguration diskursiven Materials“ (Henke: Diskurs-
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chend wird die für die ‚intertextuelle Perspektive‘ unabdingbare Auflösung der Textgrenzen178 in der ‚Werkperspektive‘ wieder zurückgenommen. Die für die Postmoderne charakteristische „völlige Loslösung von Ganzheits- und Einheitskonzepten“179 wird hier also nicht – oder zumindest nicht in ihrer Radikalität – mitvollzogen. Vielmehr bezieht sich die ‚intertextuelle Perspektive‘ ausschließlich auf die paradigmatische Dimension der ‚Theologia deutsch‘, während sie auf der syntagmatischen Ebene als eigenständiges ‚Werk‘ anerkannt wird.180 Insofern aber die Werkebene vor allem durch jene diskursiven Verschiebungen181 in der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts legitimiert ist, die in der ‚Theologia deutsch‘ einen besonders intensiven Niederschlag finden und daher ihr Eigenprofil prägen, bleiben ‚intertextuelle Perspektive‘ (Paradigma) und ‚Werkperspektive‘ (Syntagma) stets untrennbar miteinander verbunden. Betrachtet man die ‚Theologia deutsch‘ als ‚Werk‘, d. h. als von ihrem literarischen Umfeld abgegrenzte syntagmatische Einheit,182 weist sie hinsichtlich des
analyse, S. 259). Zu dieser Möglichkeit, der Einbindung eines Textes in einen bestimmten Diskurs mit seinen Regeln und Zwängen gerecht zu werden, ohne seine im Syntagma (und damit auf der Werkebene) verankerte Individualität aufzugeben, siehe auch Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 81. Dies bedeutet zudem, dass dem unbekannten Autor sowie den anonymen Redaktoren der ‚Theologia deutsch‘ die Möglichkeit zuerkannt werden muss, bestimmte Aspekte des ‚mystischen Diskurses‘ bewusst umgeformt zu haben (zur Verfügungsgewalt von Subjekten über den Diskurs siehe auch Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 34, 35). Inwieweit dies tatsächlich der Fall war, bleibt allerdings im historischen Dunkel. Die diskursiven Innovationen der ‚Theologia deutsch‘ werden daher im Folgenden stets auf der Werkebene, nie auf der Subjektebene verortet: Denn als von anderen mystischen Prosatexten unterschiedenes ‚Werk‘ ist der Traktat überlieferungsgeschichtlich greifbar (siehe die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel), während es sich der Überprüfung entzieht, inwieweit sein(e) Verfasser die ihm inhärenten Abweichungen vom ‚mystischen Diskurs‘ absichtlich integriert haben. 178 Vgl. Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 36. 179 Ebd., S. 22. 180 Dies im Anschluss an Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 88: „Die Grenzen des Textes sind fließend, aber nicht im Syntagma, sondern allein in seiner paradigmatischen Dimension.“ 181 Man kann mit Parr (Diskursanalyse, S. 104) auch von ‚diskursiven Transformationsprozessen‘ sprechen. 182 Vorausgesetzt ist dabei jene ‚Offenheit‘ des Werkes, die aus den spezifischen Überlieferungsbedingungen der mittelalterlichen Schriftkultur erwächst (vgl. Löser: Postmoderne Theorie, S. 287). Wenn von der ‚Theologia deutsch‘ als ‚Werk‘ die Rede ist, dann also nicht im Sinne des „klassische[n] Werkbegriff[s], der die definitive Geschlossenheit des Kunstwerks voraussetzt“ (Müller: Aufführung, S. 152), sondern im Sinne einer Texteinheit, die in den sie überliefernden Handschriften von umgebenden Texteinheiten abgegrenzt wird und die auch bei fragmentarischer Überlieferung und trotz zahlreicher Varianten in ihren unterschiedlichen Repräsentationen genug inhaltliche Übereinstimmungen aufweist, um als der gleiche Text erkannt zu werden (siehe dazu auch die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel). Von dieser überlieferungsgeschicht-
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‚mystischen Diskurses‘ also sowohl Kohärenz- als auch Divergenzmerkmale auf, je nachdem ob ihre Aussagen mit denen des sie umgebenden Textfeldes äquivalent sind oder eine Opposition zum Ausdruck bringen. Darauf wird gleich noch näher einzugehen sein. Zuvor soll geklärt werden, ob die ‚Werkperspektive‘ der spätmittelalterlichen Überlieferung des Traktats angemessen ist. Denn sie setzt voraus – will sie sich nicht völlig vom konkreten handschriftlichen Befund isolieren –, dass der Traktat bereits im Mittelalter als feste Texteinheit wahrgenommen wurde, die nicht nach Belieben in einzelne ‚Mosaiksteine‘ zerlegt werden konnte, um diese in andere Texte zu integrieren oder mit weiteren frei verfügbaren Textbausteinen zu neuen Textverbünden zusammenzuschließen.183 Wenden wir uns also der durch Wolfgang von Hinten rekonstruierten Überlieferungsgeschichte der ‚Theologia deutsch‘ und den erhaltenen Handschriften und Drucken als deren konkret fassbarem Niederschlag zu. Anders als die benutzerfreundlich aufbereitete Edition zunächst suggeriert, enthält keine der Handschriften sowohl das zwischen Prolog und erstem Kapitel befindliche Register als auch die vor jedem Kapitel stehenden Überschriften, die mit den Registereinträgen identisch sind. Allein Handschrift C – die ja eine eigene Redaktion der ‚Theologia deutsch‘ bietet – löst das Register zu einzelnen Kapitelüberschriften auf, die es jedoch nicht ergänzen, sondern ersetzen. Die in der modernen Edition enthaltene Fülle werkstrukturierender Merkmale, welche die ordnende Hand eines Autors suggeriert, spiegelt also nicht die Überlieferungsrealität wider. Dennoch handelt es sich bei der Darbietung der ‚Theologia deutsch‘ als kohärenter, durch ein Register erschlossener und durch die Aufteilung in Kapitel übersichtlich gegliederter Traktat nicht um ein rein herausgeberisches Konstrukt, sondern um die Optimierung eines Werkzusammenhangs, der in den Handschriften je nach überlieferungsgeschichtlichem Status mehr oder weniger stark ausgeprägt, aber immer erkennbar ist.
lichen ‚Offenheit‘ der ‚Theologia deutsch‘, die auf der syntagmatischen Ebene sichtbar wird, ist ihre ‚Offenheit‘ im diskurstheoretischen Sinne zu unterscheiden, die sich auf ihre paradigmatische Achse bezieht. Zur Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen theoretischen Konzepten des ‚offenen Textes‘ zu differenzieren, siehe Schnell, ‚Autor‘ und ‚Werk‘, z. B. S. 45, 71. Eine Identität der ‚Theologia deutsch‘ im modernen Sinne einer Textkonstanz und eines fest mit ihr verbundenen Titels entsteht erst nach ihrer Überführung in die frühneuzeitliche Druckkultur (mit Luthers Edition der vollständigen Version 1518 und der zunehmenden Durchsetzung der Bezeichnung ‚Theologia Teütsch‘; siehe auch Kap. 1.1, S. 2–3 mit Anm. 10). 183 Eine solche immense Fluktuation einzelner Textelemente ist typisch für mystische Mosaiktraktate. Hier gehen die kurzen sprachlichen Segmente, aus denen die Texte bestehen, unter Umständen in jeder Handschrift neue Verbindungen ein. Siehe dazu die detaillierten Aufschlüsselungen, die Adolf Spamer zu den von Franz Pfeiffer in seiner Eckhart-Ausgabe (Pfeiffer II) edierten Traktaten bietet. Vgl. Spamer: Zur Überlieferung, S. 370–398.
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Folgt man dem Stemma Wolfgang von Hintens,184 so teilt sich die Überlieferung der ‚Theologia deutsch‘ in zwei Gruppen: *X mit den beiden Vollhandschriften C und D und *Y mit dem Lutherdruck B (1518), der Vollhandschrift E sowie den fragmentarischen Überlieferungszeugen A (dem Lutherdruck von 1516), F, G, H, I und K. In der Gruppe *X enthalten beide Handschriften den kompletten Text inklusive Prolog.185 Anfang und Ende des Traktats sind jeweils deutlich markiert186 und beide Handschriften weisen eine weitestgehend konstant bleibende Kapiteleinteilung auf.187 Während D mit dem kompletten Register aufwartet, dafür aber auf Kapitelüberschriften verzichtet,188 verhält es sich bei C – wie bereits beschrieben – genau umgekehrt. Ungeachtet der redaktionellen Überarbeitung in C erscheint die ‚Theologia deutsch‘ in beiden Codices als klar konturierte und strukturierte Texteinheit. In der Gruppe *Y überliefern sowohl der Luther-Druck B als auch Handschrift E den vollständigen Text einschließlich Prolog und Register.189 Während die
184 ‚Der Franckforter‘, S. 17. Das Stemma wird in den folgenden Ausführungen nicht als Wegweiser zur verloren gegangenen Urfassung der ‚Theologia deutsch‘ verstanden, sondern dient als Hilfsmittel, um die in den erhaltenen Handschriften dokumentierte Textentwicklung nachzuvollziehen. Siehe zu dieser Funktion des Stemmas auch Löser: Postmoderne Theorie, S. 289. 185 Siehe auch die Handschriftencharakteristiken von Hintens (‚Der Franckforter‘), S. 34–39 (C) und S. 39–40 (D). 186 In Handschrift C geht dem Prolog jene Rubrik voraus, die dem sonst namenlosen Traktat den Titel ‚Der Frankfurter‘ verleiht: „Hie hebet ſich an der frāckforter vnd ſeczt gar hoche vnd gar ſchn dingk von eynem volkomen leben“ (fol. 84v). Auf fol. 153r wird das Ende des Traktats über das abschließende ‚Amen‘ hinaus explizit kundgetan: „Hie endet ſich der franckforter got dem her ſeÿ lob vnd ere vnd der edele konigē vnd iūckfrawē marie gotes muter amen 1497 an dem tag der heilgen merter Coſme vnd damiani.“ In Handschrift D steht die ‚Theologia deutsch‘ als erster Text. Der Beginn des Prologs ist durch eine zweizeilige Lombarde und die Unterstreichung der ersten drei Zeilen markiert (fol. 4r). Dem durch das abschließende ‚Amen‘ gekennzeichneten Schluss des Traktats folgt zwar unmittelbar ein kurzer Traktat zum Sakramentsempfang (fol. 71r), dieser ist durch die verkleinerte Schrift jedoch als eigenständige Texteinheit ausgewiesen. 187 Das gilt ungeachtet der redaktionellen Erweiterungen und sprachlichen Änderungen in C. Die Kapitelanfänge in C und D sind einander so ähnlich, dass die Kapiteleinteilung als identisch wahrgenommen wird. Allein das letzte Kapitel unterteilt C abweichend von D nochmals (vgl. fol. 151r), so dass die Handschrift nicht 53, sondern 54 Kapitel aufweist. 188 Keineswegs aber verzichtet D auf eine Kapitelunterteilung. Vielmehr sind die Kapitelanfänge durch Absatz, Lombarde und Unterstreichung markiert. Zudem steht am Textrand die jeweilige Kapitelnummer. So bleibt ungeachtet der fehlenden Kapitelüberschriften die Verbindung zum Register gewahrt. 189 Siehe auch die Druck- bzw. Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 31–34 (B) und S. 40–43 (E).
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Handschrift Textbeginn und -ende ähnlich wie D markiert,190 hat der LutherDruck den Traktat aus seinem ursprünglichen Überlieferungsumfeld isoliert und für das neue Medium der Flugschrift aufbereitet.191 Ausgestattet mit dem programmatischen Titel ‚Eyn deutſch Theologia‘,192 einem Titelholzschnitt, der den Kontrast von Adam und Christus in Szene setzt,193 der Vorrede Martin Luthers,194 einem Kolophon und der Druckermarke Johann Rhau-Grunenbergs, gehört der Traktat nun nicht mehr dem nur beschränkt zugänglichen Bereich monastischaszetischer Spiritualität an, sondern drängt in die sich allmählich konstituierende ‚reformatorische Öffentlichkeit‘195 hinaus. Der bereits in den spätmittelalterlichen Sammelhandschriften visuell markierte, innerhalb der Fülle der Mitüberlieferung aber nicht besonders hervorgehobene Status der ‚Theologia deutsch‘ als eigenes Werk gelangt erst durch diesen medialen Transfer zur vollen Geltung. Untrennbar damit verbunden ist die Einspeisung in den Reformationsdiskurs, der einen namenlosen mystischen Traktat zu einem volkssprachlichen Legitimationszeugen für die Wittenberger Theologie umfunktioniert.196
190 Die ‚Theologia deutsch‘ beginnt hier ebenfalls auf einer eigenen Seite (nach einem Freiraum auf fol. 58v–59v) und endet mit dem abschließenden ‚Amen‘. Wie in D folgt dann der kurze Traktat zum Sakramentsempfang. 191 Für die folgenden Bemerkungen wurde das von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisierte Exemplar des Wittenberger Drucks von 1518 4 P.lat.1580 (VD 16: T 896) eingesehen. 192 Zum vollständigen Titel siehe Kap. 1.1, Anm. 8. 193 Während mehrere Putti den ‚alten Adam‘ mit Schaufeln und Spitzhacken bestatten, steigt der auferstandene Christus, dessen geöffneter Sarkophag am rechten unteren Bildrand ausschnittsweise erkennbar ist, in einer Wolkengloriole voller Putti in den Himmel empor. In der linken Hand hält er das Siegesbanner, die rechte ist zum Segensgestus erhoben. 194 Siehe dazu Kap. 2.1, S. 81. 195 Dazu grundlegend Wohlfeil: ‚Reformatorische Öffentlichkeit‘; vgl. ferner Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert, S. 48–64. 196 Siehe dazu Kap. 2.1. Eine dritte evtl. von Luther besorgte Ausgabe der ‚Theologia deutsch‘ aus dem Jahre 1520 ist ähnlich aufbereitet wie der Druck von 1518. Titel, Titelholzschnitt und Luthers Vorrede werden übernommen; auch die Kapiteleinteilung bleibt bestehen. Das Kolophon wird angepasst, Rhau-Grunenbergs Druckermarke entfällt. Neu hinzu tritt eine Reihe vielleicht von Luther selbst stammender Randglossen (vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 13–32; Grosse: Der junge Luther, S. 216; siehe auch Kap. 4.2.4). Anders als im Druck von 1518 findet sich auf der zweiten Seite der Vorrede eine Kopfzeile mit dem Namen des inzwischen prominenten Theologieprofessors. Überhaupt treten Kopfzeilen als neues paratextuelles Element hinzu. Das Register ist mit ihnen versehen (‚Register‘), und ab fol. 1v (in der Zählung des Drucks) findet sich jeweils der Titel ‚Die deutsch Theologia‘ als Headline gesetzt (‚Die deutsch‘ immer auf der Verso-, ‚Theologia‘ immer auf der Recto-Seite; nur auf der letzten Seite steht ‚Die deutsch Theo:‘ zusammen. Der besseren Orientierung dient ferner eine Blattzählung ab Kapitel 1 jeweils rechts oben auf jeder Recto-Seite (Folium i) usw. Vgl. VD 16: T 902.
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1 Einleitung
Von Hinten siedelt den Luther-Druck B auf der Überlieferungsstufe *Y an, die noch keinen Schwund hinsichtlich der Paratexte Prolog und Register aufweist. Auch eine der *X-Gruppe entsprechende Kapiteleinteilung dürfte in der handschriftlichen Druckvorlage vorhanden gewesen sein, die in der Flugschrift allerdings modifiziert wird. Vereinzelte Caputzeichen innerhalb der Kapitel markieren jedoch die ursprüngliche Untergliederung.197 Handschrift E dagegen – sie repräsentiert nach von Hinten die Untergruppe *Y2 – weist zwar Vorwort und Register, jedoch keine Kapiteluntergliederung auf. Vielmehr ist der Text fortlaufend geschrieben. Dieser Verlust von Gliederungsmerkmalen ist ebenfalls charakteristisch für die fragmentarische Überlieferung der ‚Theologia deutsch‘ innerhalb der *YGruppe. Hier bilden von Hinten zufolge der Lutherdruck A sowie die Handschriften F, H und I insofern eine Einheit, als sie (über verschiedene Zwischenstufen) auf eine gemeinsame Überlieferungsstufe *Y4 verweisen. Keine dieser Handschriften enthält Prolog und Register. Eine Kapitelunterteilung ist nur teilweise vorhanden. Dennoch wird die Identität der ‚Theologia deutsch‘ insofern bewahrt, als Zusammenhang und Reihenfolge der Kapitel erhalten bleiben. Zudem werden Traktatanfang und -schluss markiert, um ihn von den umgebenden Texten abzugrenzen.
197 Vgl. dazu von Hinten, S. 31. Sowohl im Register als auch im Traktat selbst werden die knappen Kapitel 12, 13 und 14 zu einem einzigen Kapitel (Das xij. Capittel) zusammengefasst. Innerhalb dieses Kapitels markieren zwei Caputzeichen die ursprünglichen Kapitelanfänge von Kapitel 13 und Kapitel 14. Ebenfalls zusammengefasst werden die ursprünglichen Kapitel 49 und 50 (Das xlvij. Capittel). Innerhalb dieses Kapitels signalisiert wiederum ein Caputzeichen den ursprünglichen Beginn von Kapitel 50. Im Register werden außerdem die beiden letzten Kapitel – ursprünglich 52 und 53 – zu einem Eintrag gebündelt. Aufgrund dieser Einsparungen müsste der Druck statt 53 (wie in Handschrift D) eigentlich 49 Kapitel aufweisen, und dementsprechend enthält das Register auch nur 49 Einträge. Allerdings deutet der letzte Registerabsatz eine Diskrepanz zum Text an, heißt es hier doch abschließend: „Leret er durch ſiebē Capittel biſz an des buchs ende.“ Tatsächlich unterteilt der Traktat die originären Kapitel 51–53 in neun Kapitel. Diese entsprechen in der Flugschrift den Kapiteln XLVIII–LVI. Der Registereintrag rechnet zum 49. Kapitel also nochmals sieben Kapitel hinzu und kommt so auf die 56 Kapitel, mit denen der Traktat aufwartet. Inhaltlich passt der 49. Registereintrag allerdings nicht zu Kap. XLIX der Flugschrift, da er sich auf die ursprünglichen Kapitel 52 und 53 (in der Flugschrift Kapitel LII–LVI) bezieht. Der ursprüngliche Kapitelbeginn von Kapitel 52 ist wiederum durch ein Caputzeichen markiert, das sich innerhalb des Kapitels LII der Flugschrift befindet. Er entspricht dem Kapitelbeginn in den Handschriften C und D. Dass der ursprüngliche Beginn des 53. Kapitels (in der Flugschrift innerhalb von Kapitel LIII) nicht durch ein Caputzeichen ausgewiesen wird, lässt vielleicht auf eine Vorlage schließen, die Kapitel 52 und 53 nicht voneinander getrennt hat (auch Handschrift D fasst Kapitel 52 und 53 im Register zusammen; die Trennung erfolgt nur innerhalb des Traktats).
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
45
Am deutlichsten tritt dieser Werkcharakter der ‚Theologia deutsch‘ wiederum im Luther-Druck A hervor,198 der ebenso wie der spätere Druck B als Flugschrift konzipiert ist und die Kapitel 7–28 enthält.199 Die Kapitelunterteilung dieses Drucks stimmt zu Beginn (Kap. 7–10) noch mit derjenigen in den Volltexten C und D überein, beschreitet danach aber eigene Wege.200 Sie dürfte entweder auf Martin Luther oder auf den frühneuzeitlichen Setzer zurückgehen, zumal die dem Druck am engsten verwandte Handschrift I fortlaufend geschrieben ist.201 Hier markieren eine einzeilige Lombarde202 sowie das abschließende ‚Amen‘ und die Jahreszahl 1490203 Traktatbeginn und -schluss. Ebenfalls fortlaufend geschrieben ist die ‚Theologia deutsch‘ in Handschrift F, welche mit den Kapiteln 1–28 aufwartet.204 Auch hier ist der Traktat von den vorhergehenden und folgenden Texten deutlich separiert.205
198 Siehe auch die Druckcharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 29–30. 199 Als Titelholzschnitt wurde eine Kreuzigungsszene gewählt, die den Kontrast von Adam und Christus zwar nicht so prägnant ins Bild setzt wie der Titelholzschnitt des Druckes B, mit der Passionsthematik aber eines der Kernthemen der ‚Theologia deutsch‘ aufgreift. Dem ersten Kapitel des Traktats (ursprünglich handelt es sich um das siebte Kapitel) geht eine knappe Vorrede Martin Luthers voraus; den Abschluss markiert ein Kolophon. 200 So wird das ursprüngliche Kapitel 11 in zwei Kapitel unterteilt; Kapitel 12 und 13 werden zu einem Kapitel zusammengefasst, ebenso Kapitel 14 und ein Teil des fünfzehnten Kapitels. Der Rest des fünfzehnten Kapitels (Edition: S. 89, Z. 19–S. 90, Z. 35) bildet dann ein eigenständiges Kapitel, ebenso der erste Teil des originären sechzehnten Kapitels (Edition: S. 90, Z. 1–S. 91, Z. 24). So geht es weiter; anders als in Druck B gibt es keinerlei Hinweise auf eine originäre Kapiteleinteilung der als Vorlage dienenden Handschrift. Insgesamt kommt die Flugschrift auf 23 (nach von Hinten, S. 29: 22) Kapitel. 201 Siehe auch die Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 47–48. Von Hinten vermutet eine gemeinsame Vorlage, da beide Überlieferungszeugen die Kapitel 7–28 enthalten und übereinstimmende Textlücken aufweisen. Zudem bieten sie vom 24. Kapitel nur den Schluss (dieser ist im Luther-Druck mit einem Teil des 22. Kapitels [Edition: S. 100, Z. 22–42] und dem 23. Kapitel zu einem eigenen Kapitel verbunden). Offen bleiben muss allerdings, ob die übereinstimmende Kapitelunterteilung von A und C/D in den Kapiteln 7 bis 10 auf einen Zufall zurückzuführen ist oder ob die handschriftliche Vorlage von A zu Beginn noch eine Kapitelunterteilung aufgewiesen hat. 202 Fol. 115r. 203 Fol. 126r. 204 Siehe auch die Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 43–46. 205 Mit der ‚Theologia deutsch‘ beginnt hier eine neue Lage innerhalb der Handschrift (fol. 31r). Vgl. Kornrumpf/Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 134. Der Traktat endet auf fol. 49r mit dem abschließenden ‚Amen‘; auf fol. 49v folgt dann der ‚Sendbrief vom Betrug teuflischer Erscheinungen‘.
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1 Einleitung
Nur drei Kapitel der ‚Theologia deutsch‘ (7–9) bietet Handschrift H.206 Diese werden jedoch nicht – wie es angesichts der Fluktuation von Textbausteinen innerhalb der mystischen Prosaliteratur keineswegs ungewöhnlich wäre – in andere Texte integriert, sondern mit einer knappen Einleitung versehen als eigener Traktat präsentiert. Dessen Beginn sowie die Anfänge von Kapitel 8 und 9 – deren Einteilung derjenigen von C und D entspricht – sind jeweils durch eine dreizeilige Lombarde deutlich hervorgehoben. Der Schluss des Traktats ist zwar nicht durch die Akklamationsformel ‚Amen‘ gekennzeichnet, durch einen mehrzeiligen Freiraum, dem Schreiber- und Besitzereintrag folgen,207 aber deutlich von der anschließenden Predigt aus dem ‚Meisterbuch‘ separiert.208 Ebenfalls drei Kapitel (1–3) weist Handschrift G auf,209 die von Hinten auf der Überlieferungsstufe *Y3 – und damit vor der Gruppe AFHI (*Y4) – ansiedelt. Von Hinten vermutet, dass diese Handschrift noch einen Volltext zur Vorlage gehabt hat, da sie den Anfang des Prologs und die ersten vier Absätze des Registers mitüberliefert. Die Registereinträge 3 und 4 werden allerdings zu einem Eintrag zusammengefasst, vielleicht um sie der Kapitelanzahl anzugleichen. Auffallenderweise ist sowohl nach dem Register als auch nach dem Ende von Kapitel 3 ein größerer Raum freigelassen, möglicherweise um später gegebenenfalls Text ergänzen zu können.210 Das erste Kapitel wird mit einer einzeiligen Lombarde eingeleitet;211 dem Beginn von Kapitel 2 geht ein gekürzter Registereintrag voraus,212 Kapitel 3 schließt unmittelbar an das vorausgehende Kapitel an.213 Auch wenn das Fragmentarische der ‚Theologia deutsch‘ hier vor allem durch den Freiraum von fast einer Seite zwischen Registerende und Traktatbeginn visualisiert wird, bleibt die Identität des Traktats durch den verknappten Prolog und die Kongruenz zwischen den Registereinträgen und den drei dargebotenen Kapiteln doch gewahrt.214
206 Siehe auch die Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 47. 207 Fol. 18r: „joh[ann]es bůchbind[er] an ſant johans des tffers aubēt 1453“ [Schreibereintrag]; „jtē in dem iar als man zalt 1433 iar bin ich geborn worden v ſant bortlomes tag“ [Besitzereintrag]. 208 Diese beginnt auf fol. 18v. 209 Siehe auch die Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 46–47. 210 Dies würde eher auf eine fragmentarische Vorlage schließen lassen. Allerdings weist die Handschrift mehrfach Leerseiten auf (vgl. die Beschreibung von Hintens: ‚Der Franckforter‘, S. 10–14). 211 Hs. G, S. 289. 212 S. 292: „Was Sund ſeÿ.“ In Handschrift C findet sich dieselbe Formulierung in lateinischer Sprache als Randtitel. Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 127. 213 Hs. G, S. 294. 214 Bei den Handschriften, in denen die ‚Theologia deutsch‘ fragmentarisch überliefert wird, stellt sich die Frage, ob dies auf bewusster Selektion oder auf überlieferungsgeschichtlichen Zufällen beruht (vgl. zur Notwendigkeit dieser Fragestellung auch Löser: Postmodernes Mittel-
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Hinsichtlich der ursprünglichen Kapitelreihenfolge der ‚Theologia deutsch‘, die sowohl in allen vollständigen Handschriften (inklusive Luther-Druck B) als auch in den vier fragmentarischen Überlieferungszeugen der Untergruppe *Y4 und in G gewahrt wird, nimmt sich nur Handschrift K größere Freiheiten heraus.215 Von Hinten siedelt diesen Codex auf der Überlieferungsstufe *Y1 – d. h. zwischen Luther-Druck B (*Y) und Kompletthandschrift E (*Y2) – an. Diese Platzierung macht es wahrscheinlich, dass die Vorlage der Handschrift mit Prolog und Register versehen war, welche aber bei der Abschrift weggelassen wurden. Diese Reduktion könnte durch die Selektion und Umstellung der Kapitel motiviert worden sein,216 die zumindest teilweise mit eigenen Überschriften versehen wurden.217 Die Überschrift des Eingangskapitels kann auch als Titel des Gesamttextes verstanden werden.218 Nach dem 38. Kapitel ist zudem ein Traktat über die Keuschheit eingeschoben,219 dessen Anfang wie bei den genuinen ‚Theologia deutsch‘-Kapiteln durch eine Lombarde gekennzeichnet ist. Damit fügt er sich unauffällig als weiteres Kapitel in den Textzusammenhang ein. Doch selbst diese Umgestaltung der ‚Theologia deutsch‘ lässt ihren Werkcharakter letztlich unangetastet. Denn sie wahrt nicht nur kleinere und größere Kapiteleinheiten,220 sondern auch die ursprüngliche Kapiteleinteilung, welche derjenigen von C und D entspricht.221 Nur Kapitel 51 – das letzte Kapitel in Hand-
alter?, S. 229). Bei dieser Handschrift scheint es eher so, als ob der unvollständige Charakter der Vorlage dokumentiert worden ist (vgl. Anm. 210). Angesichts der geringen und vorwiegend fragmentarischen Tradierung des Traktats ist es allerdings auch nicht unwahrscheinlich, dass er im fünfzehnten Jahrhundert aufgrund seiner schwierigen theologischen Inhalte vorwiegend selektiv rezipiert worden ist (wobei dieser Selektionsprozess auch schon in den unbekannten Vorlagen der erhaltenen Handschriften stattgefunden haben kann). 215 Siehe auch die Handschriftencharakteristik von Hintens in ‚Der Franckforter‘, S. 49–51. 216 Vorausgesetzt, dass es sich bei der Vorlage um einen Volltext und nicht schon um eine Auswahl handelte, wählte der Schreiber (die Handschrift stammt zwar aus dem Nürnberger Katharinenkloster, wurde aber nicht dort geschrieben, sondern von dem Nürnberger Dominikaner Johann Forster von Ansbach entliehen; siehe Schneider: Die mittelalterlichen Handschriften, S. 295) folgende 17 Kapitel aus: 22, 23, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 25, 26, 27, 38, 48, 49, 50 und 51. 217 Kap. 22 (zugleich Traktattitel): Wie man kūmen mag auff den weck der worheÿt iſt zu v[er]ſten (fol. 177r); Kap. 23: von etlichen wegen (fol. 179r); Kap. 28: Von der vereyniūg (fol. 180r); Kap. 29: von vnleidenlichkeÿt (fol. 181v); Kap. 30: Vō tugenden (fol. 183r); Kap. 32: Wie guet er iſt (fol. 186v); Kap. 27: Von laſſen aller ding (fol. 200r). 218 Siehe die vorhergehende Anmerkung. 219 Fol. 203v–205v. 220 Kapitel 22–23, 28–33, 25–27 und 48–51. Einzeln aus dem ursprünglichen Textverbund herausgelöst wurden nur Kap. 35 und 38. 221 Das gilt trotz der Texterweiterungen, die manche Kapitel gerade am Schluss aufweisen. Die von C und D vorgegebene Kapitelkontur bleibt immer erhalten.
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1 Einleitung
schrift K – ist auf fol. 211v nochmals unterteilt.222 Durch den Titel (bzw. die Überschrift zum Eingangskapitel) und das abschließende ‚Amen‘ mit folgendem Freiraum sind Beginn und Ende des Traktats zudem deutlich markiert. Dass die Handschrift – anders als C – nicht die Registereinträge zu Überschriften auflöst, sondern aus den jeweiligen Kapiteln eigene schlagwortartige Überschriften generiert, entspricht der auch in C und D beobachtbaren Gepflogenheit, durch solche Paratexte die Lektüre zu erleichtern.223 Im Großen und Ganzen lässt der Überlieferungsbefund also darauf schließen, dass die ‚Theologia deutsch‘ bereits im Spätmittelalter als ‚Werk‘ im Sinne einer dynamischen, von anderen mystischen Predigten und Traktaten unterschiedenen Texteinheit wahrgenommen wurde. Diese zunächst auf rein äußerlichen Merkmalen – der Abgrenzung des Traktats von anderen Texten, der Wahrung der Kapitelreihenfolge und zumindest eines Teils der werkstrukturierenden Elemente – beruhende Beobachtung findet auf der Textebene insofern eine Bestätigung, als hier durch eine Reihe impliziter und expliziter Rückverweise ein innerer Zusammenhalt der Kapitel suggeriert wird.224 So stellt etwa der Konditionalsatz in Kap. 16: „Wanne man auch spricht von sterben vnd von vorterbenn vnd des gleich, so meynet man, das der alde mensch *solde czu nicht werde […]“,225 indirekt eine Verbindung zu der Verssequenz in Kapitel 11 her.226 Direkte Hinweise auf etwas zuvor bereits Geschriebenes finden sich unter anderem in den Kapiteln 17, 23, 24, 26, 35, 42, 43 und 53.227
222 Edition: Kap. 51, S. 145, Z. 63 (erste Zeile des neuen Kapitels in K). 223 Nur setzen C und D die Schlagwörter als Randglossen. Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 24–26 mit Anm. 127 (zu C) und S. 26–28 mit Anm. 131 (zu D). 224 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Edition von Hintens mit der Leithandschrift D. 225 Kap. 16, S. 90, Z. 4–5. 226 Kap. 11, S. 85, Z. 24–27: „Vorderben, sterben, /ich lebe an trost, /vßen vnd ynnen vordampt, /nymant bite, das ich werde erloßt.“ Weitere implizite Rückverweise finden sich in Kap. 31 und Kap. 51. So schlägt der Beginn von Kapitel 31: „Aber das ander, das man spricht: Man solle beide, Cristus leben vnd alle gebote vnd gesetze, wiße vnd ordenung vnd der glich hin legen vnnd uff schiben […]“ (S. 114, Z. 1–2) einen Bogen zurück zu Kapitel 30, das gleich zu Beginn die Auseinandersetzung mit zwei Fehlauslegungen der Christusnachfolge ankündigt: den Überstieg über alle Tugenden und die Missachtung äußerer Gebote. In Kapitel 51, S. 145, Z. 63–66 wird eine Verbindung zwischen der Kardinalsünde des ‚Annehmens‘ (siehe dazu Kap. 2.3.1, S. 193–195) und Adams Apfelbiss hergestellt. Damit ist auf Kapitel 3 zurückverwiesen, welches in direktem Anschluss an Kapitel 2 das ‚Annehmen‘ als adamitische (und zugleich teuflische) Ursünde qualifiziert (S. 73, Z. 1–6). 227 Kap. 17, S. 94, Z. 6–7: „Neyn czwar, ym ist nicht also; ym ist, als *vor geschriben ist […]“; Kap. 23, S. 101, Z. 15–18: „Sich, diß were eyn gut weg czu dem besten vnd bereitunge czu dem letzten ende, das der mensche yn der czeit vbirkummen mag; das ist das lipliche leben Cristi, wanne yn dem
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Durch diese textimmanenten Rückverweise positioniert sich die ‚Theologia deutsch‘ als zusammenhängendes – wenn auch nicht in sich geschlossenes228 – Werk innerhalb der mystischen Predigt- und Traktatliteratur. Zugleich macht sie ihre Einbindung in sehr viel umfassendere diskursive Kontexte immer wieder deutlich, indem sie sich in der Form von Zitaten oder Anspielungen auf anderswo Geschriebenes oder Gesagtes bezieht, dessen Herkunftsort sie jedoch in der Regel im Dunkeln lässt.229 So heißt es etwa in Kapitel 11: „Vnde die weile der mensche also yn der helle ist, so mag yn nymant getrosten, wider got noch creatur, als geschriben stet: In der helle ist keyn erlosunge.“230 Bei dem Zitat handelt es sich wohl um die Übersetzung einer Passage aus dem Totenoffizium: „Quia in inferno nulla est redemptio.“231
leben Cristi synt vnd worden die vor genanten wege behalden volliclich, gentzlich biß yn das ende des lieplichen lebens“; ebd., S. 102, Z. 21: „Vnde was dar czu gehoret, do von ist etwas vor gesaget“; Kap. 24, S. 102, Z. 1: „Aber doch synt auch wege czu dem leben Cristi, also vor gesaget ist“; Kap. 26, S. 108, Z. 72–75: „Vnd wer anders wenet, der ist betrogenn vnnd betruget ander mit ym, als vor gesaget ist. Vnd dar vmmb gehet alle natur vnnd selbheit von dissem leben vnd heldet sich czu dem falschen, ledigen leben, als vor gesprochen ist“; Kap. 35, S. 120, Z. 15–16: „Vnd von dißer leczsten sache vnd von dissem letzsten artikel kumpt ware demutikeit, vnd auch *von dem andern artikel“; Kap. 42, S. 132, Z. 12: „Nu ist vor gesagt, das daß falsch licht naturlich vnd natur ist“; Kap. 43, S. 135, Z. 31–32: „Vnd do wirt nicht geclaget den allein sunde, vnd was das sey, das ist vor gesaget.“ Besonders interessant ist der Rückverweis im 53. Kapitel, der sich wohl auf Kap. 10 bezieht. Die entsprechende Passage lautet (S. 152, Z. 89–S. 153, Z. 93): „Eyn ander kurtze rede: Mag der mensch dar czu werden, das er gotte sey, als dem menschen seyne hant ist, ßo laß er ym genugen, vnd das sal werlich seyn. Vnnd eyn itlich creatur ist das selb von rechte vnd yn der warheyt got schuldig, vnd besunder eyn iglich redelich creatur, vnd aller meist der mensch. Das mercket bey eym, das yr vor geschriben habt“ [Hervorhebung L. W.]. Singulär ist hier die Anrede in der zweiten Person Plural innerhalb des Rückverweises. Angesichts der von Abramowski und im Anschluss daran auch von Zecherle vertretenen These, dass Kapitel 53 nachträglich von einem Redaktor verfasst wurde (vgl. Kap. 1.2.1, S. 15 sowie die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel), drängt sich die Vermutung auf, dass hier ein Reflex auf die Mehrfachautorschaft der ‚Theologia deutsch‘ erhalten geblieben ist. 228 Vgl. oben, Anm. 182. 229 Allein wenn die Zitate mit Namen wie Paulus, Boethius oder Dionysius verbunden sind, lässt sich ihre Herkunft relativ leicht ermitteln. In diesen Fällen weist auch die Edition von Hintens auf den Ursprungsort hin (welche historische Quelle dem Verfasser der ‚Theologia deutsch‘ tatsächlich vorlag, bleibt freilich verborgen). 230 S. 85, Z. 11–13. 231 Die Passage befindet sich innerhalb des siebten Responsoriums der dritten Nokturn des Totenoffiziums. Vgl. Officium Defunctorum (hg. Nehr/Hoffmann), S. 82. Weitere intertextuelle Hinweise finden sich z. B. in Kap. 16, 23, 29, 30, 31 und 42. Kap. 16, S. 91, Z. 26: „Auch ist geschriben: Sunde ist, das sich die creatur ab kert von dem schepfer“; ebd., S. 92, Z. 46: „Dar vmmb ist auch geschriben: […]“; ebd., Z. 48: „Auch ist geschriben: […]“; Kap. 23, S. 102, Z. 21–23: „Vnd alles das, das hie *ader anders wo gesprochen vnd geschriben ist, das ist alles weg ader wegeweiße
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Indem die ‚Theologia deutsch‘ so über sich hinausweist, bringt sie die ‚intertextuelle Perspektive‘ als Ergänzung zur ‚Werkperspektive‘ selbst wieder ins Spiel.232 Anders gesagt: Obgleich sie sich als syntagmatische Einheit konstituiert, hält sie bei ihren Rezipienten das Bewusstsein von der Existenz ihrer ‚paradigmatischen Achse‘ wach,233 durch die sie in den religiösen Diskurs ihrer Zeit eingebunden ist, weil sie sich zustimmend oder ablehnend gegenüber bestimmten Aussagen positioniert. Diese Affirmation oder Negation muss allerdings nicht explizit erfolgen; sie kann auch in die diskursiven Strukturen des Traktats eingeschrieben sein und nur durch den Vergleich mit thematisch verwandten Texten zutage treten. Dieses umfassende Intertextualitätskonzept wird den Ausführungen dieser Arbeit zugrunde liegen.234 Die ‚intertextuelle Perspektive‘ geht also weit über die von der ‚Theologia deutsch‘ gemachten Angebote – die der bewussten Kontrolle des Autors oder Redaktors unterliegen – hinaus. Wie der Textvergleich offenbart, befindet sich die ‚Theologia deutsch‘ hinsichtlich bestimmter Aspekte des ‚mystischen Diskurses‘ konsequent in Opposition zu weiteren Predigten und Traktaten des vierzehnten Jahrhunderts, während sie hinsichtlich anderer Facetten ganz oder zumindest teilweise mit ihnen konform geht. Dieses spannungsreiche Verhältnis spiegelt sich auch innerhalb der ‚Theologia deutsch‘ als ‚Werk‘ wider. Denn ungeachtet aller äußeren wie inneren Kohärenzmerkmale weist der Traktat sowohl auf der textgeschichtlichen wie auf
czu dem waren ende“; Kap. 29, S. 111, Z. 1–2: „Eß ist gesprochen vnnd gehort, der mensch muge vnd solle werden yn der czit vnleidelich yn aller weiße, als Cristus was nach der vfferstendunge“; Kap. 30, S. 113, Z. 1: „Man spricht auch, man solle vnd muge kommen vbir alle tugent […]“; Kap. 31, S. 114, Z. 1–4: „Aber das ander, das man spricht: man solle beide, Cristus leben vnd alle gebote vnd gesetze, wiße vnd ordenung vnd der glich hin legen vnnd uff schiben vnd man solle seyn vnachtsam sein vnd vorsmehen vnd haben eß czu *eynem spotte, das ist falsch vnd gelogen“; Kap. 42, S. 132, Z. 1–5: „Sjch, hie kumpt eyn redelich frage. Wan man hat gesprochen, wer got bekennet vnd nicht libet, der wirt nymmer selig von dem bekentniß, das lutet, man muge got bekennen vnd nicht liben. So spricht man anderß wo, wo got bekant wirt, da wirt er auch gelibet, vnd was got bekennet, das muß yn auch lieben. Wie mag diß besteen?“ 232 ‚Intertextualität‘ hier in jenem eng gefassten Verständnis, wie es etwa Genette: Palimpseste, S. 10, formuliert: nämlich im Sinne von Zitat, Plagiat und Anspielung. 233 Die ‚paradigmatische Achse‘ entsteht dadurch, dass Texte in Vergleichszusammenhängen stehen (vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 173). Im Falle der ‚Theologia deutsch‘ konstituiert sich dieser Vergleichszusammenhang in erster Linie aus den Prosatexten der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts. Durch die Absonderungstendenzen des Traktats vom ‚mystischen Diskurs‘ eröffnen sich zudem Anschlussmöglichkeiten an andere Diskurse und damit auch neue Vergleichsperspektiven. Siehe dazu auch die Ausführungen im weiteren Verlauf dieses Kapitels. 234 Siehe auch oben, Anm. 175.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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der inhaltlichen Ebene eine ganze Reihe von bemerkenswerten Brüchen und Unstimmigkeiten auf. Auf der textgeschichtlichen – überlieferungsgeschichtlich allerdings nicht nachweisbaren – Ebene ist eine Reihe solcher Diskrepanzen durch die nachträgliche Hinzufügung von Prolog, Register sowie Kapitel 52 und 53 entstanden. Es handelt sich um terminologische Abweichungen und inhaltliche Missverhältnisse, die Abramowski und Zecherle nachgewiesen haben235 und die sich durch weitere Beobachtungen ergänzen lassen.236 Wie bereits Abramowski festgestellt hat, deutet auch das abschließende ‚Amen‘ nach Kapitel 51 auf einen ursprünglichen Traktatschluss hin.237 Auf der inhaltlichen Ebene grenzt sich der Traktat hinsichtlich bestimmter Aspekte zwar konsequent vom ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts ab. Vor allem gilt das für seine durchgängig negative Bestimmung der menschlichen Natur als widergöttlich und seine Verweigerung gegenüber jenen Theoremen, welche innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ die Intimität von Gott und Mensch garantieren. Hierzu zählen die Vorstellung vom Adel der Seele, von der im intimum animae verankerten Gottebenbildlichkeit des Menschen und von der Sohnwerdung des Menschen durch seine Aufnahme in die trinitarische Dynamik. Die aus dieser Ablehnung essentieller Aspekte des ‚mystischen Diskurses‘ resultierende philosophisch-theologische Grundsignatur der ‚Theologia deutsch‘, die sie gegenüber anderen mystischen Prosatexten auch unabhängig von überlieferungsgeschichtlichen und strukturellen Kriterien als eigenständiges Werk ausweist, ist diejenige einer tiefgreifenden Fremdheit von Gott und Mensch.238 Dieser
235 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 86–90; Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 14–18. 236 So lautet der Registereintrag zu Kap. 12 (Edition: S. 86): „Was rechter, warer, ynnerlicher frede sey, den Cristus seynen jungern zcu letzt [= zuletzt] gelaßen hat.“ Im Unterschied dazu heißt es im Text (S. 86, Z. 4–5): „Vnd dar vmmb so sullen wir mercken vnd war nemen des frides, den Cristus seynen jungern czu letze [= als Abschiedsgeschenk] ließ […].“ Eine terminologische Differenz zwischen Registereintrag und Text besteht in Kapitel 14 (Edition: S. 88). Während der Registereintrag den Terminus ‚Grade‘ wählt, um den dreistufigen mystischen Aufstiegsweg zu beschreiben, spricht der Kapiteltext von ‚Wegen‘. Eine Diskrepanz zwischen Registereintrag und Text des siebzehnten Kapitels ergibt sich dadurch, dass der erste Teil des Kapitels (Edition: S. 94, Z. 1–8) durch den Registereintrag nicht erfasst wird. Noch weniger passt der Registereintrag zum 24. Kapitel (Edition: S. 102) zum Text. Vielmehr scheint er sich auf den Schlussteil von Kap. 22 (Edition: S. 100, Z. 30–42) zu beziehen. 237 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 86. 238 Damit hat die ‚Theologia deutsch‘ eine fundamental andere ‚Darstellungshaltung‘ (Landwehr: Geschichte, S. 114) gegenüber dem Gott-Mensch-Verhältnis als andere Texte der ‚deutschen Mystik‘. In diesen wird zwar auch die subjektive Erfahrung der Gottesferne thematisiert (so z. B. in den Predigten Johannes Taulers), diese ist jedoch stets in den Heilsweg integriert und intensiviert so letztlich die in der naturhaften Gottebenbildlichkeit des Menschen verankerte Intimität von
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anthropologische Pessimismus wird jedoch immer wieder von gegenläufigen Aussagen zur unmittelbaren Nähe von Gott und Mensch durchbrochen, welche den Traktat in den ‚mystischen Diskurs‘ einbinden. Die Aussagen der Schrift zur unio von Gott und Mensch, in der das intime Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf kulminiert, sind jedoch keineswegs einheitlich. Neben einer thematischen Serie, welche die unio als innerseelische Begegnung des Menschen mit dem unum animae konzipiert, steht die der ‚Theologia deutsch‘ eigentümliche Lehre einer Geist und Körper umfassenden Inbesitznahme des Menschen durch Gott, wodurch Letzterer erst seine Vollkommenheit erlangt. Ergänzt und zugleich gebrochen werden diese unio-Entwürfe von konventionelleren Vorstellungen einer Verschmelzung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen, wie sie sich sowohl bei Meister Eckhart als auch in zahlreichen Texten der nacheckhartischen Mystik finden. Ähnliche Spannungen durchziehen den gesamten Traktat und bestimmen sein wechselhaftes – durch Übereinstimmungen wie Abweichungen gekennzeichnetes – Verhältnis zum ‚mystischen Diskurs‘. Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen lässt sich festhalten, dass die ‚Theologia deutsch‘ zwar als ‚Werk‘ überliefert wird, dies jedoch nicht im Sinne einer ‚kohärent durchstrukturierten Abhandlung‘ wie das ‚Geistbuch‘,239 sondern im Sinne eines als zusammengehörig wahrgenommenen und tradierten Textverbundes, der auf verschiedenen Ebenen Brüche und Unstimmigkeiten integriert. Als eigenständiges Werk innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ behauptet sich der Traktat durch die äußeren Kennzeichen seiner konkreten handschriftlichen Überlieferung, durch innere strukturelle wie inhaltliche Kohärenzmerkmale240 und durch jene Äußerungen, die ihn von anderen mystischen Prosatexten unterscheiden. Dabei handelt es sich – wie weiter oben bereits erwähnt – in erster Linie um die konsequent vertretene Desavouierung der menschlichen Natur und die Verweigerung gegenüber grundlegenden Theoremen des ‚mystischen Diskurses‘. Hinzu treten jene der ‚Theologia deutsch‘ zu eigenen Aussageserien, die einzelne Kapitel miteinander verbinden und ihr selbständiges theologisch-philosophisches Profil unterstreichen. Auch in einzelnen Termini manifestiert sich die Originalität der ‚Theologia deutsch‘ im Vergleich zu anderen mystischen Predigten und Traktaten. All diesen werkkonstituierenden Besonderheiten gilt in den folgenden Kapiteln das Hauptaugenmerk. Erschließen lassen sie sich allerdings
Gott und Mensch (insofern sich der Mensch in der demütigen Akzeptanz seiner Gottverlassenheit für die unio öffnet). 239 Vgl. Einleitung zum ‚Geistbuch‘ (hg. Gottschall), S. XIII. 240 Dazu gehören die Abwertung der menschlichen Natur zur natura vitiata, der Kampf gegen die Ichbezogenheit des Menschen, der Aufruf zur Christusnachfolge als einziges Mittel zur Überwindung der Natur und die Verführungskraft des ‚falschen Lichts‘.
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nur aus der ‚intertextuellen Perspektive‘, da es sich nie um thematische Innovationen handelt, sondern stets um spezifische Ausformungen eines im vierzehnten Jahrhundert äußerst vitalen Diskurses. Wie aus den bisherigen Ausführungen dieses Kapitels bereits deutlich geworden sein dürfte, gilt das Interesse der vorliegenden Studie vornehmlich der Frage, wie sich die ‚Theologia deutsch‘ im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts positioniert, genauer: welche Spielräume des Sagbaren sie für sich in Anspruch nimmt, inwiefern sie bei der Darstellung des Gott-Mensch-Verhältnisses Grenzen überschreitet und wie sie diese Grenzüberschreitungen wieder auffängt, um den Ansprüchen und Zwängen des Diskurses Rechnung zu tragen. Der methodische Zugriff wird sich daher an der historischen Diskursanalyse orientieren,241 jedoch ohne die hermeneutische Kategorie des ‚Werkes‘ aufzugeben, da diese für die Herausarbeitung des theologisch-philosophischen Eigenprofils der ‚Theologia deutsch‘ unerlässlich erscheint. Sicherlich hätte auch die Möglichkeit bestanden, die ‚Werkperspektive‘ zugunsten der ‚intertextuellen Perspektive‘ zu eliminieren, zumal der Traktat ja keine argumentative Stringenz aufweist, sondern aus in sich geschlossenen242 Texteinheiten besteht. So wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, für jedes einzelne Kapitel der ‚Theologia deutsch‘ die Äquivalenzen und Oppositionen zu anderen mystischen Prosatexten aufzudecken. Dies hätte jedoch zu einer themenzentrierten Studie geführt, ohne dass der Traktat jemals als syntagmatische Einheit in den Blick getreten wäre. Die Entscheidung für die Einbeziehung der ‚Werkperspektive‘ beruht auf dem bereits geltend gemachten Anspruch, den diskursiven Innovationen der ‚Theologia deutsch‘ gerecht zu werden, auf dem konkreten handschriftlichen Überlieferungsbefund, auf ihren textimmanenten Kohärenzmerkmalen und nicht zuletzt darauf, dass Martin Luther den Traktat als ‚Werk‘ im Kontrast zu anderen ‚Werken‘ wahrgenommen hat und nur so aus dem mittelalterlichen ‚Frankfurter‘ die frühneuzeitliche ‚Theologia deutsch‘ werden konnte. Die Anerkennung der ‚Theologia deutsch‘ als eigenständiges ‚Werk‘ auf der Ebene des Syntagmas ändert nichts daran, dass sie aufgrund ihrer paradigmatischen Achse unüberschaubare Vergleichsmöglichkeiten bietet – und dies selbst dann, wenn das für den Vergleich herangezogene ‚konkrete Korpus‘243 mystischer Prosatexte notwendigerweise begrenzt bleiben muss. Um diese Komplexität zu bewältigen, wird die Arbeit die ‚intertextuelle Perspektive‘ dadurch beschränken, 241 Siehe dazu etwa Landwehr: Geschichte. 242 In dem Sinne, dass jedes Kapitel der ‚Theologia deutsch‘ für sich alleine verständlich ist, auch wenn es innerhalb des Traktats selbstverständlich übergreifende thematische Zusammenhänge gibt. 243 Siehe dazu weiter unten, S. 56–57.
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1 Einleitung
dass sie alle Ausführungen unter zwei übergreifende Vergleichsperspektiven stellt, von denen die eine den ersten Teil der Studie (Kap. 2), die andere ihren zweiten Teil (Kap. 3) bestimmt. Beide Vergleichsperspektiven sind von Martin Luthers Beurteilung der ‚Theologia deutsch‘ inspiriert, beziehen sich aber auf Transformationen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ im vierzehnten Jahrhundert. Die erste Vergleichsperspektive resultiert aus Luthers Integration der ‚Theologia deutsch‘ in den augustinisch geprägten Kontext der Wittenberger Theologie, obgleich der Traktat den Kirchenvater – eine Leitautorität für Meister Eckhart und Johannes Tauler ebenso wie für zahlreiche andere mystische Prosatexte244 – kein einziges Mal erwähnt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die namentliche Nennung des Augustinus innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ mit einer bestimmten Ausprägung augustinischer Spiritualität verbunden ist, der sich die ‚Theologia deutsch‘ konsequent verweigert, wird im ersten Teil der Arbeit eine diskursive Bewegung innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ nachgezeichnet, deren chronologische Anfangs- und Endpunkte das Œuvre Meister Eckharts auf der einen Seite und die ‚Theologia deutsch‘ auf der anderen Seite sind. Dieser Transformationsprozess ist gekennzeichnet durch die zunehmende Entfernung von der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts und eine wachsende (wenn auch keineswegs einlinige) Annäherung an augustinisch-antipelagianische Positionen. Als Resultat ergibt sich die Erkenntnis, dass Martin Luthers Auswahl der ‚Theologia deutsch‘ als volkssprachlicher Textzeuge für seinen eigenen Theologieentwurf durchaus berechtigt ist, auch wenn der Traktat innerhalb seines ursprünglichen Entstehungskontextes kein Vorbote der Reformation ist, sondern im ‚mystischen Diskurs‘ angelegte Verschiebungen zu Extrempositionen führt. Dementsprechend neigt die Schrift dazu, die in ihr angelegten antipelagianischen Tendenzen so weit zu treiben, dass sie den Rahmen christlicher Orthodoxie nicht nur ausreizen, sondern sprengen. Zugleich aber werden sie durch die Einbettung in konventionellere Aussagen abgeschwächt. Die zweite Vergleichsperspektive resultiert aus Luthers Einschätzung der ‚Theologia deutsch‘ als opus theologicissimum, eine Einschätzung, die – wie bereits gezeigt – von manchen modernen Forschungsbeiträgen (wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen) geteilt wird.245 Ausgangspunkt für die Analyse ist hier eine Schlüsselpassage des 31. Kapitels, welche einen Metaphysikentwurf vorstellt, der eine Erklärung für die eigentümliche ‚Dependenzlehre‘ der ‚Theologia deutsch‘ bereithält, d. h. für ihre Lehre einer Abhängigkeit Gottes von der Schöpfung. Hier enthüllt der Textvergleich, dass der Traktat die Grenzen des
244 Vgl. Kap. 2.2.1, S. 108. 245 Siehe Kap. 1.1, S. 7–8.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Sagbaren hinsichtlich der ‚Normaltheologie‘ des vierzehnten Jahrhunderts, aber auch mit Bezug auf den ‚mystischen Diskurs‘ so weit überschreitet, dass er in den Bereich der Heterodoxie vordringt. Luthers Einschätzung lässt sich zwar vor dem Hintergrund seiner augustinisch-antipelagianischen Neuorientierung nachvollziehen, im Kontext zeitgenössischer Metaphysikentwürfe bietet die ‚Theologia deutsch‘ jedoch eine unerhörte Deutung des Gott-Mensch-Verhältnisses. Die beiden Vergleichsperspektiven gehen zwar nicht unmittelbar auseinander hervor; sie sind jedoch in dreifacher Hinsicht miteinander verbunden: 1.) Beide resultieren – wie gezeigt – aus Luthers Bewertung der ‚Theologia deutsch‘. 2.) Beide vermitteln, dass der Traktat die Tendenz zu grenzüberschreitenden Äußerungen hat. 3.) Beide deuten darauf hin, dass die ‚Theologia deutsch‘ die Beziehung von Gott und Mensch als Fremdheitsverhältnis konstruiert.246 Dieses der ‚Theologia deutsch‘ eingeschriebene Motiv einer ethischen, epistemologischen und ontologischen Distanz des Menschen zu Gott wird, da es die philosophisch-theologische Grundsignatur des Traktats entscheidend prägt, im Folgenden als diejenige diskursive Neuerung angesehen, durch die sich der Traktat von anderen Texten der ‚deutschen Mystik‘ abgrenzt und in der Textlektüre zu einem ‚Ereignis‘ wird.247 Diesem Spezifikum gegenüber, das in der ‚Theologia deutsch‘ je nach thematischem Zusammenhang jeweils unterschiedliche Ausdrucksformen findet, wird anderen Aussagen, mit denen sie sich an den ‚mystischen Diskurs‘ anschließt, eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen. Damit kehrt die vorliegende Studie die bisherige Tendenz der Forschung, die Gemeinsamkeiten des Traktats mit anderen mystischen Prosatexten herauszuarbeiten, um. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Stimmenvielfalt der ‚Theologia deutsch‘ durch eine vereinseitigende Analyse eliminiert werden soll. Sie wird durch die Fokussierung auf dieses beiden Vergleichsperspektiven gemeinsame Moment jedoch in ihrer Komplexität reduziert. Das hat zur Konsequenz, dass in der Darstellung jene Aspekte der ‚Theologia deutsch‘, die eine Divergenz gegenüber dem ‚mystischen Diskurs‘ markieren, gegenüber jenen Aspekten in den Vordergrund treten, die sich als Serie von Aussagen durch eine ganze Reihe von Korpus-Texten hindurchziehen. Dies kann bedeuten, dass scheinbar konventionelle Passagen der ‚Theologia deutsch‘ vor dem Hintergrund ihrer negativen Anthropologie oder ihrer eigentümlichen Metaphysik eine Bedeutung entfalten, die ihnen im Kontext des ‚mystischen Normaldiskurses‘ – d. h. auf der paradigmatischen Achse – nicht zukommt. Wo eine solche Sogwirkung innerhalb der ‚Theologia deutsch‘ denkbar
246 Siehe auch oben, S. 51. 247 Vgl. zu diesem Terminus Bogdal: Diskursanalyse, S. 168–169.
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ist, wird sie in ihren möglichen Implikationen dargestellt.248 Das Syntagma, und damit die ‚Werkperspektive‘, erhält in diesem Fall also den Vorzug gegenüber dem Paradigma249 – dies allerdings ohne einen allgemeinen Geltungsanspruch zu erheben, weisen doch gerade die zeitgenössischen Kommentare darauf hin, dass die ‚Theologia deutsch‘ historisch gesehen wohl eher vor der Folie allgemeingültiger Frömmigkeitskategorien gelesen worden ist.250 In anderen Fällen wird auf die ‚Vielstimmigkeit‘ der ‚Theologia deutsch‘ hingewiesen, ohne diese in einer übergreifenden Perspektive aufzufangen. Doch auch in diesen Fällen wird den Absonderungstendenzen vom ‚mystischen Diskurs‘ der Vorrang zuerkannt.251 Die Möglichkeit anderer Lektürehaltungen bleibt dadurch unbenommen.252 Das literarische Feld, das für beide Vergleichsperspektiven herangezogen wird, konstituiert sich aus der mystischen Predigt- und Traktatliteratur des vierzehnten Jahrhunderts.253 Die inhaltliche wie gattungsbezogene Kohärenz dieses
248 Vgl. beispielsweise Kap. 3.3.2.3, S. 360–364. 249 Siehe zum „hauchdünnen […] Primat des gespeicherten Syntagmas“ auch Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 247. 250 Dies gilt jedenfalls für die Rezipienten des späten fünfzehnten Jahrhunderts; von einer früheren Überlieferung des Traktats sind ja keine handschriftlichen Zeugnisse bewahrt worden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die hier vorgeschlagene Lektüremöglichkeit, die aufgrund ihres diskursanalytischen Zugriffs die Kenntnis eines ganzen Textfeldes voraussetzt, von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zugängen zur ‚Theologia deutsch‘ differiert. Leser oder Leserinnen des späten vierzehnten Jahrhunderts haben sie sicherlich anders wahrgenommen als solche des späten fünfzehnten Jahrhunderts; Martin Luthers Entschluss zur Drucklegung ist von wiederum anderen Interessen motiviert (vgl. Kap. 2.1). Die diskursiven Verschiebungen, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen, dürften sich erst aus der historischen Distanz erkennen lassen. Siehe zur Multipolarität des Verhältnisses von Text und Leser auch Löser: Postmodernes Mittelalter?, S. 235. 251 Vgl. Kap. 2.3.4. Hier werden die ablehnenden Äußerungen der ‚Theologia deutsch‘ zum facere quod in se est gegenüber ihrer tendenziellen Anerkennung einer menschlichen Verdienstfähigkeit vor Gott hervorgehoben. Siehe auch Kap. 1.2.4, Anm. 279. 252 Siehe auch oben, Anm. 250. Aus der Einführung der beiden Vergleichsperspektiven und der Fokussierung auf das ihnen gemeinsame Motiv einer Fremdheit zwischen Gott und Mensch ergibt sich also durchaus eine Art der Interpretation. Diese sollte allerdings nicht als „interpretatorische […] Festlegung des Sinnganzen“ der ‚Theologia deutsch‘ verstanden werden (Henke: Diskursanalyse, S. 258), sondern als Mittel einer Komplexitätsreduktion, die einem bestimmten (durchaus subjektiven) Erkenntnisinteresse dient: nämlich der Beantwortung der Frage, inwieweit Martin Luthers Wertschätzung der ‚Theologia deutsch‘ Transformationsprozesse innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ voraussetzt, die sich in diesem Traktat in besonderer Dichte niedergeschlagen haben. 253 Zur Korpusbildung als notwendiger Voraussetzung für diskursanalytische Studien siehe z. B. Karpenstein-Eßbach: Diskursanalyse, S. 104; Landwehr: Geschichte, S. 106; Parr: Diskursanalyse, S. 93.
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Textkorpus bietet die Möglichkeit, Verschiebungen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ zu erkennen und dadurch die Spezifik der ‚Theologia deutsch‘ deutlich herauszuarbeiten. Zur Analyse herangezogen werden vor allem das Œuvre Meister Eckharts und die Predigten Johannes Taulers, die in terminologischer wie thematischer Hinsicht besonders anregend auf die ‚Theologia deutsch‘ gewirkt haben und auch in deren konkretem Überlieferungsumfeld unmittelbar präsent sind.254 In dieser Hinsicht geht die vorliegende Arbeit mit den Ergebnissen der bisherigen Forschung konform. Sie wird allerdings zu zeigen versuchen, dass die ‚Theologia deutsch‘ mit ihrer besonderen Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses gegen Eckhart Position bezieht und die bereits bei Tauler auszumachende Entfernung von der positiven Anthropologie des Meisters so weit treibt, dass sie die Grenzen des Sagbaren – jedenfalls unter den Prämissen christlicher ‚Normaltheologie‘ – überschreitet. Zu den Schriften Eckharts und Taulers treten zur Vervollständigung des konkreten Textkorpus255 weitere mystische Prosatexte hinzu, unter anderem die Schriften Heinrich Seuses und Rulman Merswins sowie eine breite Auswahl der anonymen mystischen Traktatliteratur, die vor allem in der Eckhart-Ausgabe Franz Pfeiffers, aber auch in einer ganzen Reihe von älteren oder modernen Einzeleditionen vorliegt. Wie hier bereits anklingt, unterliegt die vorgenommene Korpusbildung aus pragmatischen Gründen zwei gravierenden Einschränkungen: 1.) Es werden in dieser Studie nur solche Werke herangezogen, die in Editionen vorliegen. Damit fallen all jene mystischen Predigten und Traktate weg, die noch keinen Herausgeber gefunden haben. Die Textauswahl dürfte dennoch repräsentativ sein. 2.) Gravierender ist die zweite Restriktion: Die Arbeit verlässt sich auf die Textgestalt, in der die verwendeten, teilweise auch älteren Editionen ein bestimmtes Werk präsentieren, obgleich dadurch die Varianz und die Unwägbarkeiten der handschriftlichen Überlieferung ausgeblendet werden. Für das Œuvre Meister Eckharts bedeutet dies etwa: Es werden jene Predigten und Traktate als ‚Werke‘ des Meisters angesehen, welche die Stuttgarter Ausgabe Meister Eckhart zuweist, und
254 Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 108 und 112. 255 Die Terminologie entspricht derjenigen Landwehrs (vgl. Geschichte, S. 107), der zwischen ‚imaginärem Korpus‘ (allen einstmals verfügbaren Aussagen zum Diskurs), ‚virtuellem Korpus‘ (dem Restbestand aller erhaltenen Texte) und ‚konkretem Korpus‘ (einer repräsentativen Auswahl aus diesem Restbestand) unterscheidet. Baßler (vgl. Die kulturpoetische Funktion, S. 69) verwendet stattdessen den Begriff ‚paradigmatisches Korpus‘, der hier ebenso angemessen wäre. Verzichtet wird auf Foucaults Terminus des ‚Archivs‘, da dieser gerade keine Summe von Texten bezeichnet, sondern jenes System, das die Möglichkeit bestimmter Aussagen zulässt oder verhindert (vgl. Archäologie, S. 183–190). Das Archiv ist damit dasjenige, was über die Sagbarkeit entscheidet und so das Entstehen des Textkorpus überhaupt erst gestattet.
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zwar in der dort gegebenen Form. Für die Predigten Johannes Taulers findet die Ausgabe Ferdinand Vetters Verwendung, auch wenn damit die Vielfalt der Tauler-Überlieferung unterschlagen wird.256 Ähnliches gilt auch für die weiteren Textausgaben. Die ‚intertextuelle Perspektive‘ beschränkt sich dementsprechend darauf, die diskursiven Bezüge zwischen der ‚Theologia deutsch‘ in ihrer edierten Form und anderen mystischen Prosatexten in ihren edierten Formen nachzuzeichnen. Wenn in dieser Studie vom ‚Werk Meister Eckharts‘ die Rede ist, handelt es sich also immer um einen Hilfsbegriff, der den genannten Einschränkungen unterliegt. Zudem ist zu beachten, dass Autorennamen wie ‚Meister Eckhart‘, ‚Johannes Tauler‘ oder ‚Heinrich Seuse‘ im Folgenden nicht für ingeniöse historische Persönlichkeiten stehen, sondern für bestimmte Ausformungen des ‚mystischen Diskurses‘, die sich in einem Konglomerat von Texten finden, das mit dem jeweiligen Namen verbunden ist. Für beide Vergleichsperspektiven werden gegebenenfalls zudem weitere scholastische Texte herangezogen, um zu verdeutlichen, dass der ‚mystische Diskurs‘ nicht von der akademischen Theologie isoliert betrachtet werden kann. Die erste Vergleichsperspektive, in der es um die zunehmende Annäherung des ‚mystischen Diskurses‘ an augustinisch-antipelagianische Theologieentwürfe geht, bezieht zudem die antipelagianischen Schriften des Augustinus in die Ausführungen mit ein. Zwar besteht kein unmittelbarer Einfluss dieser Werke auf die ‚Theologia deutsch‘;257 durch die Transformationen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ entstehen jedoch Korrelationen zwischen der rigoristischen Gnadenlehre des Kirchenvaters und dem zunehmenden Zweifel an einem unzerstörbaren Gottesbezug des Menschen, wie er in der nacheckhartischen Mystik immer wieder
256 Siehe dazu die Monographie von Mayer: Die ‚Vulgata‘-Fassung. 257 Diese erwähnt Augustinus ja auch kein einziges Mal. In anderen mystischen Predigten und Traktaten, die den Kirchenvater namentlich zitieren, liegt größtenteils wohl Sekundärrezeption vor (vgl. Kap. 2.2.1, bes. S. 106). Meister Eckhart allerdings gibt seine Augustinus-Stellen insbesondere in den lateinischen Werken sehr genau wieder. Vgl. z. B. Prologus in opus propositionum, LW I/1, S. 43, Z. 7–9: „Augustinus 8 De trinitate c. secundo sic ait: deus ueritas est, quoniam deus lux est; et infra: Cum audis ueritas est, noli querere quid sit.“ Auch in den deutschen Werken, in denen der Herkunftsort der Zitate in der Regel nicht identifiziert wird (vielmehr steht allgemein ‚Sant Augustînus sprichet‘), lässt sich deren Quelle vielfach ermitteln (siehe dazu den Kommentar der Stuttgarter Ausgabe). Siehe z. B. Pr. Q 29, DW II, S. 82, Z. 1–3: „Sant Augustînus sprichet: swen des tages verdriuzet und im diu zît lanc ist, der kêre sich in got, dâ kein lancheit enist, dâ alliu dinc inne geruowic sint.“ Als Ursprung des Zitats haben die Herausgeber eine Stelle aus den Enarrationes in Psalmos ermittelt (vgl. ebd., Anm. 2). In seinem lateinischen Sapientiakommentar gibt Eckhart dieselbe Passage mit Quellenangabe wieder (vgl. ebd.). Dies lässt darauf schließen, dass die Augustinus-Kenntnisse des Thüringers auf eine direkte Lektüre der von ihm zitierten Augustinus-Schriften zurückgehen.
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artikuliert wird. Der Vergleich von Aussagen der antipelagianischen Schriften mit jenen mystischer Predigten und Traktate des vierzehnten Jahrhunderts kann daher aufdecken, wie die zunehmende Entfernung von der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts letztlich zu jenem Fremdheitsmotiv führt, das die ‚Theologia deutsch‘ prägt. Dabei ist zwar stets bewusst zu halten, dass die mystischen Prosaschriften durch die historische Distanz eines Millenniums vom Pelagianischen Streit getrennt sind. Dennoch spiegelt sich in Meister Eckharts Huldigung der menschlichen Natur und deren Desavouierung durch die ‚Theologia deutsch‘258 – wenn auch innerhalb einer ganz anderen diskursiven Formation – die Konfrontation zwischen dem anthropologischen Optimismus des Pelagius und der Verwerfung des ‚natürlichen‘ Menschen durch Augustinus259 wider. Nicht von ungefähr entdeckt Martin Luther seine Begeisterung für das Predigtwerk Johannes Taulers, vor allem aber für die ‚Theologia deutsch‘ als dessen epitome parallel zur seiner intensiven Rezeption der antipelagianischen Schriften des Kirchenvaters.260 Schon häufig sind in diesem und in den vorausgehenden Kapiteln die Begriffe ‚deutsche Mystik‘ und ‚mystischer Diskurs‘ gefallen, die noch einer Erläuterung bedürfen. Unter der ‚deutschen Mystik‘ bzw. der ‚Mystik des vierzehnten Jahrhunderts‘ ist hier jene durch die deutsche Dominikanerschule geprägte, aber auch von Laienkreisen rezipierte intellektuelle Strömung zu verstehen, die eine ‚Vergegenwärtigung des Heils‘261 durch die Einswerdung des Menschen mit Gott zum thematischen Zentrum hat.262 Alle Schriftzeugnisse, die sich vorrangig dieser
258 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.1. 259 Mit dem ‚natürlichen‘ Menschen ist hier der Mensch gemeint, dessen Sittlichkeit aus seiner naturgegebenen Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse resultiert, der also die göttliche Gnade – dem späten Augustinus zufolge die Grundvoraussetzung für ein gottgefälliges Dasein – (noch) nicht empfangen hat. 260 Siehe dazu Kap. 2.1. 261 So der Titel eines Aufsatzes von Wouter Goris: Die Vergegenwärtigung des Heils. Thomas von Aquin und die Folgezeit. 262 Zu den Diskussionen um eine adäquate Verwendung des Begriffs ‚Mystik‘ siehe den Forschungsbericht von Largier: Meister Eckhart, Perspektiven der Forschung, S. 52–64. Siehe ferner ders.: Recent Work, S. 163–167. Die vorliegende Arbeit schließt sich der Ansicht Largiers an, dass Philosophie und Mystik nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, insofern ‚Mystik‘ – verstanden als Selbsttranszendierung der Seele in Richtung auf Gott als den schlechthin Anderen und zugleich in ihrem Innersten stets Gegenwärtigen hin – spirituelle, philosophische und theologische Aspekte integriert. Siehe dazu auch Largier: Theologie, Philosophie und Mystik. Auf die lange Tradition des Mystikbegriffs, der sich nie im Gegensatz zur Philosophie definiert hat, sondern vielmehr „als die höchste Stufe der Philosophie“, weist Theo Kobusch hin (ders.: Lesemeistermetaphysik; das Zitat befindet sich auf S. 247). Im Hintergrund steht hier freilich ein
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Thematik widmen, gehören dem ‚mystischen Diskurs‘ – richtiger: dem ‚mystischen Diskurs des vierzehnten Jahrhunderts‘ – an,263 der wiederum ein Teildiskurs des zeitgenössischen philosophisch-theologischen Diskurses ist.264 Bestandteil des ‚mystischen Diskurses‘ sind damit alle Inhalte, die in den Texten mit der unio von Gott und Mensch in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören neben den oben bereits genannten Aspekten etwa die in der Tradition christlicher
spezifisches Metaphysikkonzept, das sich bewusst von rein theoretischen Metaphysikentwürfen abgrenzt und im Anschluss an das antike Verständnis von Philosophie als Lebensform die ‚Sorge um sich selbst‘ bzw. die ‚Sorge um den inneren Menschen‘ in den Mittelpunkt stellt. Siehe dazu auch die Literaturangaben in Anm. 265. 263 Diese Zugehörigkeit gilt in zweifacher Hinsicht, insofern die Texte zugleich Resultat und Ausdrucksform des ‚mystischen Diskurses‘ sind. Denn als Möglichkeitsbedingung für bestimmte Aussagen ist der Diskurs nach Foucault den Schriftzeugnissen vorgeordnet (vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 29–30). Zugleich aber ist er nur in den überlieferten Texten zugänglich. Die Mystik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts wird in dieser Studie mit Ausnahme einiger Verweise ausgeklammert. Das hat zum einen pragmatische Gründe. Zum anderen findet diese Beschränkung ihre Rechtfertigung darin, dass insbesondere die volkssprachliche Mystik des vierzehnten Jahrhunderts (und diese steht im Vordergrund der folgenden Kapitel) stark vom Œuvre Meister Eckharts beeinflusst ist. Dessen Schärfung der deutschen Sprache zur Wissenschaftssprache (vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 121), um seine innovative Gottesgeburtlehre mit ihren metaphysischen und anthropologischen Implikationen einem breiten Publikum vermitteln zu können, ist von essentieller Bedeutung für die thematischen Schwerpunkte und Auseinandersetzungen der nacheckhartischen Mystik, denen auch die ‚Theologia deutsch‘ ihre Existenz verdankt. 264 Die Doppelformel ‚philosophisch-theologisch‘ erscheint aus historischen Gründen angemessen: Zwar gehört die strikte methodische Trennung von Philosophie und Theologie – wie sie sich paradigmatisch im Differenzmodell des Thomas von Aquin zeigt – seit der Aristoteles-Rezeption des dreizehnten Jahrhunderts zu den Grundcharakteristika des abendländischen Christentums. Im Rückgriff auf die ältere boethianische Tradition negiert Meister Eckhart eine solche Separation jedoch und beharrt auf der Konkordanz von Philosophie und Offenbarung, von Metaphysik und Evangelium. Einen ersten programmatischen Ausdruck findet das eckhartische Integrationsmodell bereits in einer 1302 oder 1303 gehaltenen Universitätspredigt (Sermo die b. Augustini Parisius habitus, LW V, S. 89–99); seine grundlegende Bedeutung für Eckharts Denken zeigt sich dann in der Konzeption des Opus tripartitum. Siehe dazu im Einzelnen: Aertsen: Meister Eckhart: eine außerordentliche Metaphysik (zum Opus tripartitum); Speer: Philosophie als Lebensform? (zur Ausdifferenzierung von Theologie und Philosophie bes. S. 11–14; zu Eckharts Integrationsmodell bes. S. 17–19); ders.: Ethica sive theologia (zur frühen Universitätspredigt). Auch in der nacheckhartischen Predigt- und Traktatliteratur durchdringen sich philosophische und theologische Fragestellungen, ohne dass dieses Ineinander theoretisch reflektiert wird. Deutlich ist jedoch, dass die Auseinandersetzung mit spekulativen Inhalten stets auf die existentielle Dimension des Menschen zielt, insofern es darum geht, die Voraussetzungen einer unio von Mensch und Gott intellektuell zu durchleuchten.
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Metaphysik265 stehende Frage, wie Gott in der menschlichen Seele anwesend ist, die Debatte über das Leistungsvermögen und die Hierarchie der beiden obersten Seelenkräfte Verstand und Wille oder die entscheidende Frage nach dem Status der natura hominis in Hinblick auf Sündenfall und Erlösung und damit nach der (Un-)Möglichkeit einer naturhaften Ausrichtung des Menschen auf Gott hin. Die Zugehörigkeit des ‚mystischen Diskurses‘ zum philosophisch-theologischen Diskurs gilt auch dann, wenn die Texte – wofür die ‚Theologia deutsch‘ ein hervorragendes Beispiel darstellt – verstärkt auf scheinbar nur aus frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive interessante Inhalte wie die imitatio Christi zurückgreifen. Denn auch diese auf den ersten Blick rein erbaulichen Themen sind in die intellektuellen Diskussionen innerhalb der deutschen Regionalphilosophie des vierzehnten Jahrhunderts eingebunden. So ist die für viele Werke der nacheckhartischen Mystik kennzeichnende Vernunftkritik, deren stark antihäretisches Moment in der Wendung gegen die „naturlich, vngerecht, falsch, betrogen tufels freiheit auß eim naturlichen, falschen, betrogen lichte“266 auch in der ‚Theologia deutsch‘ deutlich zutage tritt, unlösbar mit dem Aufruf zur ‚richtigen‘, d. h. physisch-psychischen Christusnachfolge verbunden.267 Nur am Rande erwähnt sei eine Selbstverständlichkeit: Niemals wird es im Folgenden darum gehen, den ‚mystischen Diskurs‘ auf seinen ‚Wirklichkeitsgehalt‘ – also auf ‚tatsächliche‘ unio-Erfahrungen von Individuen – zu befragen. Vielmehr setzt die Studie voraus, dass sich der Gegenstand des Diskurses erst in der diskursiven Praxis bildet und auf keine außersprachliche Realität verweist.268 Ab und an fand in den bisherigen Darlegungen der Begriff ‚mystischer Normaldiskurs‘ Verwendung. Darunter sind jene Aussagen zu verstehen, über die ein Grundkonsens im hier herangezogenen Textkorpus besteht. Dazu gehören die Vorstellung einer naturgegebenen inneren Verbindung von Gott und Mensch, die ihre Grundlage in der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat und die Überzeugung, dass die unio zwar zu einer inneren Transformation des Menschen, nicht aber zu einer Veränderung Gottes führt. Mit beiden Anschauungen bricht die ‚Theologia deutsch‘ und wendet sich damit gegen den ‚mystischen Normaldiskurs‘.
265 Siehe dazu Theo Kobusch: Epoptie; ders.: Mystik als Metaphysik; ders.: Christliche Philosophie, bes. S. 138–151 (Kapitel ‚Epoptie. Metaphysik des inneren Menschen‘). 266 Kap. 51, S. 147, Z. 111–112. 267 Im Kontrast zu jener Verweigerung gegenüber dem Mensch gewordenen Christus, die den ‚freien Geistern‘ regelmäßig zum Vorwurf gemacht wird. 268 Vgl. Foucault (Archäologie, S. 74): Diskurse sind „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“. Siehe dazu auch Henke: Diskursanalyse, S. 248–249.
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Auch hier sind wieder Einschränkungen in Kauf zu nehmen: Wenn behauptet wird, dass die ‚Theologia deutsch‘ den ‚mystischen (Normal-)Diskurs‘ tendenziell durchbreche, so soll damit keinesfalls suggeriert werden, dass der ‚mystische Diskurs‘ in sich geschlossen ist. Vielmehr handelt es sich um einen lebendigen Diskussionszusammenhang mit einer Fülle unterschiedlicher Ausformungen in den einzelnen Texten. So kann beispielsweise die Gottebenbildlichkeit des Menschen ganz unterschiedlich konzipiert und begründet werden.269 Diese Differenzen werden in die folgenden Ausführungen aber nur insoweit einbezogen, als sie für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – d. h. für die Herausarbeitung des Eigenprofils der ‚Theologia deutsch‘ – von Bedeutung sind. Anders gesagt: Die ‚Werkperspektive‘ gilt im Folgenden nur für die ‚Theologia deutsch‘, da sie im Zentrum dieser Studie steht. Die anderen Texte werden herangezogen, um das diskursive ‚Netz‘, in dem sich die ‚Theologia deutsch‘ positioniert, im Rahmen der beiden weiter oben dargestellten Vergleichsperspektiven270 zu erschließen. Zu verorten sind diese Schriften auf der paradigmatischen Achse der ‚Theologia deutsch‘, die erst durch die ‚intertextuelle Perspektive‘ entsteht und die zeigt, welchen Aussagen des ‚mystischen Diskurses‘ auch dieser Traktat verpflichtet ist, welchen er sich verweigert und welche er zu eigenständigen Äußerungen umformt. Durch diese Selektion konstituiert sich die ‚Theologia deutsch‘ ja als eigenständiges Werk und damit als Syntagma, das – wie bereits die äußeren Merkmale der Überlieferung zeigen271 – einen Anfang und ein Ende sowie ein bestimmtes Set innerer Gliederungsmerkmale aufweist. Für die anderen hier in vergleichender Perspektive herangezogenen Werke wäre es selbstverständlich ebenfalls möglich, sie jeweils als Syntagma zu betrachten und aufzuzeigen, wie sie innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ ihre Eigenstimme erheben. Dass sie hier nur in paradigmatischer Hinsicht in den Blick treten, ist allein der Fokussierung auf die ‚Theologia deutsch‘ geschuldet.272
269 Siehe dazu auch Kap. 2.2.3.1. 270 Siehe S. 53–55. 271 Siehe oben, S. 41–49. 272 Die untrennbare Verbundenheit von Syntagma und Paradigma innerhalb eines kulturwissenschaftlichen Text-Kontext-Modells drückt Baßler (Die kulturpoetische Funktion, S. 223) mit folgendem Merksatz aus: „Nihil est in paradigmate quod non fuerit in syntagmate.“ Dieser unauflöslichen Verflechtung ist es geschuldet, dass sich der zur Herausarbeitung des philosophischtheologischen Eigenprofils der ‚Theologia deutsch‘ durchzuführende Vergleich nicht grundsätzlich auf Einzelaussagen der Korpus-Texte beschränken kann. Wenn es dem Erkenntnisinteresse der Arbeit dienlich ist, werden vielmehr auch deren diskursive Konfigurationen in die Analyse miteinbezogen, jedoch ohne einzelne ‚Werke‘ zu fokussieren. Konkret bedeutet dies: Wenn hinsichtlich eines bestimmten Gesichtspunktes die Übereinstimmungen oder Abweichungen der ‚Theologia deutsch‘ vom Œuvre Meister Eckharts oder von den Tauler-Predigten darzustellen
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Den diskursiven Transformationen, die in den kommenden Kapiteln beschrieben werden, entspricht eine grobe chronologische Ordnung des herangezogenen Textkorpus.273 Am Anfang steht das Œuvre Meister Eckharts († 1328), es folgen die Zeugnisse der nacheckhartischen Mystik (Tauler, Seuse, Merswin, anonyme Traktatliteratur), die im weiteren Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts entstehen; am Ende dieses Säkulums wird die vermutlich mehrstufige Abfassung der ‚Theologia deutsch‘ angesetzt.274 Sporadisch wird auch auf geistliche Literatur des dreizehnten Jahrhunderts – so etwa auf die Schriften Davids von Augsburg – verwiesen, da die nacheckhartische Mystik auf diskursive Strukturen zurückgreift, die sich dort bereits etabliert haben. Zudem erfolgt gelegentlich ein Ausblick auf die frömmigkeitstheologische Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts, insofern diese hinsichtlich der hier zu diskutierenden Aspekte teils in einem Äquivalenz-, teils in einem Oppositionsverhältnis zum ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts steht. Da es im Folgenden vorrangig um die Erschließung eines spätmittelalterlichen Diskurses geht, wird ab jetzt zur Bezeichnung unseres Traktats der in der Frankfurter Handschrift überlieferte Titel verwendet: der ‚Frankfurter‘.
1.2.4 Vorausschau auf die folgenden Kapitel Der erste Teil dieser Arbeit (Kap. 2) ist – wie bereits angekündigt – ganz durch die erste Vergleichsperspektive275 bestimmt und steht unter der Leitfrage „Augustinus im ‚Frankfurter‘?“ In einem Eingangskapitel (Kap. 2.1) wird Luthers Sicht auf den zunächst titellosen Traktat durch die Einbettung seiner ‚Entdeckung‘ in den Kontext der sich im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts formierenden Witten-
sind, so treten Letztere insoweit als Syntagmen in den Blick, als sie den behandelten Aspekt in übergreifende Aussagezusammenhänge einbinden. Es werden jedoch keine Eckhart- oder TaulerPredigten als ihrerseits höchst vielschichtige Texteinheiten analysiert. 273 Auf eine genaue chronologische Ordnung wird aufgrund der Unmöglichkeit, die Entstehung der meisten Texte genau zu datieren, verzichtet. Außerdem ist zu beachten, dass die erhaltene Überlieferung – wie auch im Fall der ‚Theologia deutsch‘ – oft erst aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt. Die hier nachgezeichneten Verschiebungen im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts gehen also nicht mit dem Rezeptionsverhalten konform. Wie bereits gezeigt, wird die ‚Theologia deutsch‘ ja gemeinsam mit Predigten Meister Eckharts und nacheckhartischen Texten überliefert und – wie die anderen Schriften auch – vor dem Hintergrund gängiger Frömmigkeitskategorien gelesen. Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 19–23. 274 Vgl. Kap. 1.2.1, S. 15. 275 Siehe Kap. 1.2.3, S. 54.
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berger Theologie rekonstruiert. Der Fokus liegt dabei auf der von Luther wahrgenommenen Nähe des ‚Frankfurter‘ sowohl zu Johannes Tauler als auch zu Augustinus, dem er den Traktat in seinem erkenntnisvermittelnden Wert explizit an die Seite stellt. Da der ‚Frankfurter‘ anders als zahlreiche andere mystische Prosatexte keinen namentlichen Hinweis auf den Kirchenvater enthält und sich zudem genau jenen Aspekten des ‚mystischen Diskurses‘ verweigert, für die Augustinus im vierzehnten Jahrhundert mit seiner Autorität einsteht, liegt die Vermutung nahe, dass Martin Luther mit seinem Votum einen anderen, nämlich ‚seinen‘ Augustinus im Blick hatte: jenen der antipelagianischen Schriften. Der ‚Frankfurter‘ verweist damit – so die zu entfaltende These – auf eine Transformation innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘, die der Vereinnahmung des Kirchenvaters für die neuplatonisch-christliche Metaphysiktradition der Epoptie276 eine zunehmende Konzentration auf die naturhafte Sündenverfallenheit und Gottesferne des Menschen entgegensetzt. Die anschließende Kapitelsequenz (Kap. 2.2 mit Unterkapiteln) widmet sich der Augustinus-Rezeption innerhalb der ‚deutschen Mystik‘. Die Darstellung verfolgt, wie hier der Name des Augustinus programmatisch mit bestimmten Grundtheoremen des ‚mystischen Diskurses‘ verknüpft wird, um eine augustinische Spiritualität zu begründen, die der existentiellen Dimension der Gott-MenschBeziehung Rechnung trägt277 – jedoch ohne sich damit vom theologisch-philosophischen Diskurs abzukoppeln. Zugleich wird gezeigt, wie diese augustinische Spiritualität in den nacheckhartischen Schriften brüchig wird und im ‚Frankfurter‘ schließlich ganz verschwindet. Das Ziel der unio als proprium des ‚mystischen Diskurses‘ wird jedoch auch in unserem Traktat aufrechterhalten, allerdings in Ausdrucksformen überführt, die das dem ‚Frankfurter‘ zu eigene Fremdheitsmotiv integrieren. Einführend (Kap. 2.2.1) wird zunächst ein kursorischer Überblick über die Augustinus-Rezeption des Mittelalters gewagt, der vor allem hinsichtlich der volkssprachlichen geistlichen Literatur des deutschen Sprachraums auf den Nachweis zielt, dass hier der Name des Kirchenvaters mit einer positiven Anthropologie und einem Heilsoptimismus verbunden wird, die für die Etablierung der radikalen Gnadenlehre des späten Augustinus (fast) keinen Raum bieten. Insbesondere gilt dies für die Augustinus-Rezeption der ‚deutschen Mystik‘, die den
276 Darunter ist die ‚Metaphysik des inneren Menschen‘ zu verstehen. Siehe dazu die Literaturangaben in Kap. 1.2.3, Anm. 262 und 265. 277 Auch für diese existentielle Dimension gilt, dass sie ausschließlich in den Texten zugänglich ist, deren mystagogische Unterweisungen auf einen temporären oder ewigkeitlichen Vollkommenheitszustand des Menschen zielen. Sie verweist nicht auf die außerliterarische Realität hinter den Texten.
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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Kirchenvater als Kronzeugen für den naturhaften – und nach Meister Eckhart unzerstörbaren – Gottesbezug des Menschen in Anspruch nimmt. Danach (Kap. 2.2.2 mit Unterkapiteln) wird die Opposition des ‚Frankfurter‘ gegen zentrale Theoreme des ‚mystischen Diskurses‘ dargestellt, insoweit diese zugleich Ausweis der spezifischen Augustinus-Rezeption der ‚deutschen Mystik‘ sind. Dass hier als literarhistorischer Referenzpunkt in erster Linie Meister Eckhart dient, liegt in dessen immensem Einfluss auf die volkssprachliche mystische Prosa des vierzehnten Jahrhunderts begründet.278 Die Abgrenzung des Traktats gegenüber der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts und seine damit verbundene Öffnung für ‚außermystische‘ Diskurse werden anschließend (Kap. 2.2.3 mit Unterkapiteln) anhand der zentralen theologischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen noch schärfer konturiert. Die Analyse zeigt, dass die Bildlehre des ‚Frankfurter‘ den unmittelbaren ontologischen Bezug von Gott und Mensch ausklammert und stattdessen die imago Dei als etwas ausschließlich von außen an den Menschen Herantretendes, diesem ursprünglich Fremdes konzipiert. Diesem Fremdheitsmotiv spürt die Arbeit im Folgenden mit dezidiertem Bezug zu Augustinus nach (Kap. 2.3 mit Unterkapiteln). Sie verfolgt, wie die augustinische Spiritualität des ‚mystischen Diskurses‘ in der nacheckhartischen Mystik durch augustinisch-antipelagianische Aspekte gebrochen wird und wie sich diese in unterschiedlicher Weise im ‚Frankfurter‘ niederschlagen. Als eines der werkkonstitutiven Kohärenzmerkmale des ‚Frankfurter‘ wird dabei die der Theologie Meister Eckharts entgegengesetzte, jedoch bereits in den Predigten Johannes Taulers zunehmend in den Vordergrund drängende Verunglimpfung der menschlichen Natur angesehen. Der diskursiven Bewegung, die vom Naturoptimismus Meister Eckharts über die Erbsündenlehre Johannes Taulers hin zur Diabolisierung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ führt, widmet sich das erste Kapitel dieser Sequenz (Kap. 2.3.1).
278 Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 3, S. 355. Den Meister Eckhart zugeschriebenen Werken kommt in dieser Arbeit insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie bestimmte Termini und Theologumena (gelâzenheit, ‚Gottesgeburt im Seelengrund‘) in den ‚mystischen Diskurs‘ einführen, die akademischen Ansprüchen gerecht werden, ohne die für die ‚deutsche Mystik‘ so bedeutsame existentielle Dimension auszuklammern. Zwar hat Meister Eckhart – bzw. das ihm zugeschriebene Œuvre – den ‚mystischen Diskurs‘ nicht begründet, aber doch einen ‚Diskurswandel‘ (Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 34) bewirkt, welchem die ‚deutsche Mystik des vierzehnten Jahrhunderts‘ ihre thematische Ausrichtung und ihr philosophisch-theologisches Profil verdankt. Auch der ‚Frankfurter‘ steht trotz aller Eigenständigkeit in einer Tradition der kreativen Eckhart-Rezeption. Vgl. auch Kap. 1.2.3, Anm. 263.
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1 Einleitung
Es folgt eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen meritorischer Leistungen, wie sie innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ verhandelt werden (Kap. 2.3.2 mit Unterkapiteln). Hier zeigt sich, dass der ‚Frankfurter‘ mit seiner rigiden Zurückweisung jeglichen Verdienststrebens Meister Eckhart nähersteht als der nacheckhartischen Mystik, die in der Christusnachfolge ein adäquates Mittel der bewussten Zuwendung des Menschen zu Gott sieht. Zwar betont auch der ‚Frankfurter‘ die Vorbildhaftigkeit des Christuslebens; zugleich schreibt er der menschlichen Natur jedoch dessen Ablehnung zu – eine Aporie, die den gesamten Traktat durchzieht. In der Behauptung der Widergöttlichkeit der menschlichen Natur offenbart sich zugleich die Distanz des ‚Frankfurter‘ zu Meister Eckhart, dessen Ablehnung jeglichen Verdienstdenkens nicht durch die Verworfenheit der natura hominis, sondern durch den Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund motiviert ist – welche der ‚Frankfurter‘ nicht kennt. Gleichwohl definiert unser Traktat wie die Texte des paradigmatischen Korpus die höchste Vollkommenheit des Menschen als Aufgabe jeglichen Eigenwirkens zugunsten des göttlichen Wirkens. Erst durch göttliches Eingreifen erlangt menschliches Denken, Wollen und Handeln jene moralische Wertigkeit, die es der Sphäre der Sündhaftigkeit endgültig entreißt – damit aber auch seiner Menschlichkeit im Sinne der Verwirklichung einer natürlichen sittlichen Kompetenz beraubt. Diesem Grundzug der ‚deutschen Mystik‘, der letztlich einem ‚göttlichen Autismus‘ entspricht, widmet sich das anschließende Kapitel (Kap. 2.3.3). Hier übernimmt der ‚Frankfurter‘ die Aussagen des ihn umgebenden Textfeldes. In der ‚Werkperspektive‘ erhalten diese jedoch aufgrund der spezifischen Dependenzlehre des Traktats eine eigentümliche Färbung. Denn im ‚Frankfurter‘ ist die Instrumentalisierung des Menschen durch Gott weniger ein Zeichen für dessen unbedingte Menschzuwendung als vielmehr für seine Unvollkommenheit, die allein durch die Inbesitznahme der physischen wie psychischen Kapazitäten des Menschen ausgeglichen werden kann. Das folgende Kapitel (Kap. 2.3.4) widmet sich einem scholastischen Prinzip, in dem das Schwanken der akademischen Theologie des Mittelalters zwischen pelagianischen und antipelagianischen Tendenzen einen exemplarischen Ausdruck findet. Es handelt sich um das facere quod in se est, das auch in der mystischen Prosaliteratur omnipräsent ist, und zwar sowohl in Hinblick auf die eckhartische Forderung einer Selbstaufgabe des Menschen als auch hinsichtlich des Appells zur Christusnachfolge, der die nacheckhartische Mystik durchzieht. Hier zeigt sich das charakteristische Lavieren des ‚Frankfurter‘ zwischen Anerkennung und Ablehnung des ‚mystischen Diskurses‘ – und damit die ihm inhärente ‚Vielstimmigkeit‘ – besonders deutlich. Denn während er einerseits die Möglichkeit einer Abkehr von der eigenen selbstischen Verfasstheit anerkennt und die Einübung in das Christusleben zur Voraussetzung für die Aneignung der Gott-
1.2 Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehensweise
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ebenbildlichkeit erklärt, spricht er dem Menschen andererseits sowohl die Fähigkeit zur bewussten Selbstaufgabe als auch die Möglichkeit eines aktiven Heilsstrebens ab. Damit verwirft er – in Einklang mit seiner negativen Anthropologie – die doppelte Auslegung des facere quod in se est innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘, ohne sie jedoch völlig zu eliminieren.279 Dem augustinisch-antipelagianischen Motiv der Gesetzesfreiheit widmet sich das nächste Kapitel (Kap. 2.3.5 mit Unterkapiteln). Hier erweist sich der ‚Frankfurter‘ als weitgehend konform mit seinem literarischen Bezugsfeld, insofern er dem von Gott erfüllten Menschen eine Gesetzesfreiheit zugesteht, die jedoch keine Gesetzlosigkeit bedeutet. Wie andere mystische Predigten und Traktate auch differenziert der ‚Frankfurter‘ in diesem Zusammenhang zwischen ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Freiheit und bindet diese Unterscheidung in den zeitgenössischen Häresiediskurs ein. Im abschließenden Kapitel (Kap. 2.3.6) dieses ersten Teiles der vorliegenden Studie geht es schließlich um die Übernahme der augustinischen Opposition von ‚freiem‘ und ‚befreitem‘ Willen in den mystischen Diskurs und ihre spezifische Ausformung im ‚Frankfurter‘. Hier beschreitet der Traktat Eigenwege, insofern er das Gegensatzpaar in seine eigentümliche Dependenzlehre einbindet. Im zweiten – weniger umfassenden Teil – der Arbeit (Kap. 3) wird die zweite Vergleichsperspektive280 ausgearbeitet. Hier steht die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘ im Mittelpunkt, die zwar die metaphysischen Prämissen des ‚mystischen Diskurses‘ aufgreift, diese aber zu einem eigenständigen Metaphysik-Entwurf umformt. Bereits die Vorbemerkungen (Kap. 3.1) weisen darauf hin, dass der ‚Frankfurter‘ in zweierlei Hinsicht den ‚mystischen Normaldiskurs‘ verlässt: Er negiert die trinitarische Dynamik ebenso wie die Erlösungskraft der Inkarnation. Damit werden gerade jene theologischen Grundsätze in ihrer Geltung außer Kraft gesetzt, die innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ für die Vergottung des Menschen von zentraler Bedeutung sind. Das folgende Kapitel (Kap. 3.2 mit Unterkapiteln) widmet sich dem Metaphysikentwurf im 31. Kapitel des ‚Frankfurter‘ und seinen Implikationen. Es wird gezeigt, wie der Traktat die eckhartische Unterscheidung von ‚Gott‘ und ‚Gottheit‘
279 In diesem Kapitel wird also der ‚Werkperspektive‘ und damit dem Syntagma der Vorrang vor dem Paradigma zuerkannt. Insofern aufgrund der beiden von Martin Luther inspirierten Vergleichsperspektiven das den ‚Frankfurter‘ durchziehende Motiv der Fremdheit von Gott und Mensch als werkkonstituierend gilt, wird in der Darstellung die Ablehnung des facere quod in se est gegenüber gegenläufigen Aussagen in den Vordergrund gestellt. Andere Lektüremöglichkeiten bleiben dadurch unbenommen. 280 Siehe Kap. 1.2.3, S. 54–55.
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1 Einleitung
zu einer Dreifachunterteilung (‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott, insofern er Mensch ist‘) ausweitet und damit eine Begründung für das dem Gott-MenschVerhältnis eingeschriebene Moment der Entfremdung sowie für seine spezifische Dependenzlehre anbietet. Zunächst (Kap. 3.2.1) wird dargelegt, wie der ‚Frankfurter‘ die von Meister Eckhart grundgelegte und von der nacheckhartischen Mystik übernommene paradoxe Doppelbestimmung der Gottheit als steril und gebärend auf die Perspektive ihrer Sterilität reduziert. Damit aber betont der Traktat im Unterschied zu den anderen Texten des konkreten Korpus ausschließlich die Abwendung der Gottheit vom Menschen, nicht ihre Zuneigung zur geschaffenen Welt. Anschließend (Kap. 3.2.2) wird aufgezeigt, wie der ‚Frankfurter‘ den im ‚mystischen Normaldiskurs‘ exklusiv für die Gottheit geltenden Lehrsatz ,wesen birt niht‘ auf ‚Gott als Gott‘ überträgt. Damit aber verweigert er ‚Gott als Gott‘ jenes dynamische Moment, das seine Distanz zum Menschen aufhebt und spricht ihm die Fähigkeit ab, sich wirkend der Schöpfung mitzuteilen. Wie die folgenden Ausführungen (Kap. 3.2.3) zu ‚Gott, insofern er Mensch ist‘ darlegen, ist diese Wirkungslosigkeit Gottes das metaphysische Begründungsmotiv für die dem ‚Frankfurter‘ zu eigene Dependenzlehre: Da der Traktat das Wirkvermögen an die Kreatürlichkeit bindet, muss Gott sich des Menschen bemächtigen, um Wirkfähigkeit zu erlangen. Diese jenseits des ‚mystischen Normaldiskurses‘ angesiedelte Lehre, die den ‚Frankfurter‘ trotz seines selbstauferlegten Spekulationsverbots281 leitmotivisch durchzieht, wird in zwei abschließenden Kapiteln thematisch entfaltet. Zunächst (Kap. 3.3.1) wird im Anschluss an Kap. 2.3.3 nochmals der Aspekt des ‚göttlichen Autismus‘ aufgegriffen, der erst im Rahmen der Dependenzlehre – und damit auf der Ebene des Syntagmas – seine eigentliche Brisanz entfaltet. Denn wenn Gott im Kontext des ‚Frankfurter‘ von den Seelenkräften des Menschen – vor allem vom kreatürlichen Willen – Besitz ergreift, so nicht, um diese souverän in die Sphäre des Göttlichen zu erheben, sondern um sich jene Wirkeigenschaften anzueignen, die es ihm ermöglichen, sich liebend auf sich selbst zu beziehen. Das Schlusskapitel (Kap. 3.3.2 mit Unterkapiteln) widmet sich dem Aspekt des Leidens. Es wird aufgezeigt, dass der ‚Frankfurter‘ in Abkopplung vom Kreuzestod Christi auf der Basis seiner Dependenzlehre einen ‚leidenden Gott‘ konstruiert, der das physische wie psychische Leiden des vergotteten Menschen übernimmt. In einem Ausblick (Kap. 4 mit Unterkapiteln) wird zum Abschluss der Arbeit nochmals der Bogen zu Kap. 2.1 und damit zur Rezeption des ‚Frankfurter‘/der ‚Theologia deutsch‘ im sechzehnten Jahrhundert geschlagen.
281 Siehe Kap. 1.2.2, S. 38.
2 Augustinus im ‚Frankfurter‘? 2.1 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung zu Luthers Perspektive auf den ‚Frankfurter‘ Die Attraktion der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts für Martin Luther gilt als unbestritten, auch wenn dabei die Einschränkung zu machen ist, dass der Wittenberger Reformator nur einen Bruchteil jener Texte aktiv rezipiert hat, die dieser durch regionale wie thematische Zusammengehörigkeit definierten Diskursformation angehören.1 Das Interesse des Theologieprofessors beschränkte sich auf Johannes Tauler2 und auf den ‚Frankfurter‘, den Luther wiederum in engster Verbindung mit dem Straßburger Prediger sah. Dass der Wittenberger mit weiteren Texten der ‚deutschen Mystik‘ vertraut war, lässt sich zwar nicht mit
1 Regional ist die ‚deutsche Mystik‘ durch die Anbindung an das 1248 in Köln gegründete dominikanische Studium generale bestimmt, das auch über den lateinisch-akademischen Kontext hinaus als intellektuelles Stimulans wirkte. Die volkssprachlichen Predigten und Traktate Meister Eckharts, die ihrerseits die Entstehung weiterer deutscher Schriften anregten, legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Siehe auch oben, Kap. 1.2.2, Anm. 148. Thematisch konzentriert sich die ‚deutsche Mystik‘ auf die – durch die dem Menschen innewohnende imago dei ermöglichte – unio von Gott und Mensch und die damit zusammenhängenden Aspekte. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 1.2.3, S. 59–61. 2 Inklusive der im Augsburger Tauler-Druck von 1508 mitüberlieferten Eckhart-Predigten S 101– 104, von denen Luther die Predigt 104 (der Druck enthält sie in der redigierten B-Fassung) kommentiert hat. Vgl. Mösch: ‚Daz disiu geburt geschehe‘, S. 204. Siehe auch WA 9, S. 96 und 100. Diese auch als ‚Gottesgeburtzyklus‘ bekannten Eckhart-Predigten (DW IV/1, S. 279–610 [Texte + Einführungen]) sind im Augsburger Tauler als Predigten 2, 6, 8 und 9 deklariert. Vgl. die ‚Zuordnung der Taulerpredigten zu den verschiedenen Ausgaben‘ bei Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 331–332. Otto verweist allerdings nicht auf die kritische EckhartEdition, sondern auf die Ausgabe Franz Pfeiffers; dort handelt es sich um die Predigten 1–4, siehe Pfeiffer II, S. 3–30. Offenbar keine Beachtung durch Luther fand ein weiterer nicht von Tauler selbst stammender Text im Augsburger Druck, nämlich das ‚Meisterbuch‘, welches die Wandlung eines ‚Lesemeisters‘ zum ‚Lebemeister‘ aufgrund der Unterweisungen eines theologischen Laien schildert (siehe auch Kap. 1.2.2, Anm. 115). Dieser Traktat, der seit dem Leipziger Druck von 1498 als Tauler-Biographie ausgegeben wird, erscheint im Augsburger Tauler als „die hystorien des erwirdigen doctors Johannis Thaulerij“ im Anschluss an die Predigten auf fol. 207v–221r. Erst 1879 erbrachte Heinrich Seuse Denifle in ‚Taulers Bekehrung‘ den Nachweis, dass der ‚Meister‘ des Meisterbuchs keineswegs mit dem Straßburger Prediger zu identifizieren ist. Zum Interesse Luthers an Johannes Tauler, dessen Bedeutung gerade in der jüngeren LutherForschung prononciert hervorgehoben wird (siehe z. B. den Aufsatz von Volker Leppin: ‚Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit‘ zu Taulers Einfluss auf Luthers Bußverständnis), vgl. bereits Moeller: Tauler und Luther. Insgesamt listet Moeller 26 Textstellen auf, in denen Luther Tauler erwähnt (ebd., S. 158, Anm. 3).
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Sicherheit nachweisen, darf jedoch als sehr wahrscheinlich gelten: Wie wir aus der noch erhaltenen Überlieferung ja wissen, wird der ‚Frankfurter‘ im Kontext mystisch-aszetischer Sammelhandschriften tradiert, die teilweise eine Fülle unterschiedlicher Prosatexte des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts beinhalten.3 Für die verloren gegangenen Vorlagen für die beiden Luther-Drucke dürfte, wie auch die Forschungen von Otto und Schneider nahelegen,4 Ähnliches gegolten haben. Außerdem gehörten mystische Texte nach der ‚Literaturexplosion‘ des fünfzehnten Jahrhunderts gerade in observanten Klöstern zum Grundbestand der Bibliotheken.5 Wie aber ist Luther auf den ‚Frankfurter‘ gestoßen? Wurde er auf den Traktat aufmerksam gemacht, weil einer seiner Ordensbrüder – möglicherweise aus dem Kölner Konvent der Augustinereremiten6 – dessen Affinität zu Johannes Tauler 3 Siehe oben, Kap. 1.2.2, S. 19–23. 4 Siehe oben, Kap. 1.1, Anm. 7. 5 Etwa 80 Prozent der Texte, die aus dem Umfeld der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts stammen, sind in Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts überliefert. Insbesondere im Zuge der klösterlichen Observanzbewegungen erfolgte eine flächendeckende Verbreitung mystisch-aszetischer und erbaulicher Literatur, die jedoch nicht beliebig war, sondern einer obrigkeitlichen Steuerung unterlag. So galten bestimmte Ausprägungen mystischer Lehre im fünfzehnten Jahrhundert als nicht mehr erwünscht oder zumindest stark erläuterungsbedürftig. Vgl. Williams-Krapp: Ordensreform; ders.: Observanzbewegungen; ders.: ‚Praxis pietatis‘. Martin Luther gehörte einem Orden an, der auf die Einrichtung gut ausgestatteter Bibliotheken allergrößten Wert legte, wie bereits aus den Kapitelsakten und ersten Konstitutionen der Augustinereremiten von 1290 deutlich hervorgeht. Dort wurde auch festgelegt, dass jeder Konvent mit angeschlossenem Generalstudium – für Erfurt galt dies seit dem Beginn des vierzehnten Jahrhunderts – innerhalb von sechs Monaten eine Bibliothek aufzubauen habe. In Luthers Erfurter Zeit, die mit Unterbrechungen von 1505 bis 1511 dauerte, fiel die Errichtung eines neuen zweigeschossigen Bibliotheksgebäudes (fertiggestellt 1516), um die Nutzungsbedingungen zu verbessern und mehr Raum für die vorhandenen Bücher zu schaffen. Denn schließlich gehörte die Erfurter Bibliothek bis zur Reformation zu den wichtigsten Bibliotheken des Ordens nördlich der Alpen. Leider ist kein Inventar oder Katalog überliefert, der über den Bücherbestand zu Luthers Zeit Auskunft geben könnte. Erhalten sind insgesamt 77 Bände der alten Klosterbibliothek, und zwar acht Handschriften, 62 Inkunabeln und sieben Drucke des sechzehnten Jahrhunderts. Da zahlreiche Handschriften verloren gegangen sind, ist es nicht möglich, über das geistige Milieu des Erfurter Konvents zur Zeit Luthers sichere Aussagen zu machen. Immerhin lässt sich feststellen, dass die Bibliothek nicht ausschließlich wissenschaftliche Literatur enthielt. So befindet sich unter den Drucken auch ein Exemplar der Coelifodina des Johannes von Paltz. Siehe zur Geschichte und Ausstattung der Erfurter Bibliothek der Augustinereremiten den Beitrag von Paasch (Die Bibliothek), dem die vorangegangenen Angaben zu dieser Einrichtung entnommen sind. Doch selbst wenn Luther in seinem eigenen Konvent keinen Zugang zu Werken aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ gehabt haben sollte, waren ihm diese durch den Austausch mit anderen Klöstern leicht zugänglich. Der ‚Frankfurter‘ ist dafür das beste Beispiel. 6 Siehe dazu oben, Kap. 1.1, Anm. 7.
2.1 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung
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wahrnahm und zudem Luthers Vorliebe für den Straßburger Dominikaner kannte? Oder hat Luther selbst auf der Suche nach Dokumenten für eine spezifisch deutsche Tradition einer ‚unverfälschten‘, d. h. nicht durch scholastische Spitzfindigkeiten depravierten Theologie alte Handschriften gesichtet? Wie im Folgenden darzulegen sein wird, ist Letzteres zu vermuten, auch wenn die stets knappen Äußerungen Luthers über seine Wertschätzung des zunächst titellosen Traktats auf eine eindeutige Auskunft verzichten. Wenn es aber zutrifft, dass der Reformator selbst als Entdecker des ‚Frankfurter‘ gelten darf und wenn er entweder schon vor seiner bewussten Sichtung alter Texte oder aber erst währenddessen auf weitere Werke der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts stieß, stellt sich die nahe liegende Frage: Wieso erkor er ausgerechnet den ‚Frankfurter‘ dazu, als Legitimationszeuge für eine unverderbte Theologie zu gelten, die mit seinen eigenen theologischen Vorstellungen harmonierte, wie sie sich im Wittenberger Kreis mit seiner Leitgestalt Johann von Staupitz7 entwickelten und zunehmend verfestigten? Denn eine Selbstverständlichkeit ist dies keineswegs – zumal dann nicht, wenn der Traktat als eine Art Kompendium der rheinischen Mystik, also als literarischer Repräsentant einer mystischen ‚Normaltheologie‘ verstanden wird.8 Denn wären unter dieser Voraussetzung nicht auch andere Texte infrage gekommen, um Luthers theologischen Entwurf zu stützen?9 Handelt es sich also um eine beliebige Entscheidung des Wittenberger Professors, gerade den ‚Frankfurter‘ in
7 Zwar hatte Staupitz Wittenberg bereits im Herbst 1512 verlassen, nachdem seine theologische Professur an Luther übergegangen war, um sich in den folgenden Jahren vorwiegend in Nürnberg, München und Salzburg aufzuhalten (vgl. Schwarz: Luther, S. 34). Er blieb für die Wittenberger jedoch ein wichtiger Bezugspunkt. Zur zentralen Rolle von Staupitz für die Anfänge der Wittenberger Theologie siehe Leppin: Martin Luther, S. 84–85; Wriedt: Die Anfänge, S. 14–29. Dass die theologische Neuorientierung an der Universität Wittenberg neben Martin Luther eine Reihe von Professoren einschloss, die eine intensive Diskussionsgemeinschaft bildeten, stellt ausführlich die profunde Monographie von Kruse (Universitätstheologie und Kirchenreform) dar. Sie konzentriert sich auf den Zeitraum von 1516–1522 (vgl. ebd., S. 23). 8 Siehe etwa Vannier: Luther et la ‚Theologia deutsch‘, S. 65. 9 Haas etwa nimmt an, dass Luther über den im Augsburger Tauler-Druck überlieferten ‚Gottesgeburtzyklus‘ hinaus (siehe oben, Anm. 2) weitere Eckhart-Texte gekannt habe, wobei er in erster Linie an die Rede der underscheidunge denkt. Vgl. ders.: ‚Theologia deutsch‘, Meister Eckhart und Martin Luther, S. 325, 328. Tatsächlich ist dieser eckhartische Traktat, der dem ‚Frankfurter‘ zumindest formal ähnelt, in dessen unmittelbarem Überlieferungsumfeld bezeugt (siehe oben, Kap. 1.2.2, Anm. 108). Vielleicht war er auch in der von Luther benutzten ‚Frankfurter‘-Handschrift vorhanden; der Reformator könnte die Rede aber auch in einem vom ‚Frankfurter‘ unabhängigen Manuskript kennengelernt haben. Die entscheidende Frage lautet in jedem Fall: Hätte Luther die Rede der underscheidunge – deren Titel und Verfasser keineswegs in allen Überlieferungszeugen genannt sind – anstatt des ‚Frankfurter‘ zum Zeugen seines eigenen theologischen Entwurfs machen können? Ich hoffe, zeigen zu können, dass dies nicht der Fall ist, weil
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
ein besonders modernes und publikumswirksames Medium – nämlich die Flugschrift – zu überführen und so einem Leserkreis außerhalb des begrenzten akademischen Raumes zugänglich zu machen? Auch auf diese Problematik werden sich die folgenden Ausführungen beziehen. Beginnen wir mit den schon mehrfach erwähnten Bemerkungen Luthers zur Verwandtschaft des ‚Frankfurter‘ mit den Predigten Johannes Taulers. Bereits im Vorwort zur ersten Ausgabe des Traktats aus dem Jahr 1516 – erst im Vorjahr hatte Luther mit dem Werk des Straßburger Predigers Bekanntschaft gemacht10 – wird dieser Zusammenhang hervorgehoben: Aber nach mglichem gedencken ʒu ſchetzen iſt die matery faßt nach der art des erleuchten doctors Tauleri, prediger ordens.11
Was hier noch im Ungefähren belassen wird – Luther spricht nur von einer Ähnlichkeit zu Taulers Schriften –, hat sich in einem kurz nach der Drucklegung verfassten berühmten Brief an Georg Spalatin bereits zur Gewissheit verfestigt: Addo tamen et meum consilium: si te delectat puram, solidam, antique simillimam theologiam legere in germanica lingua effusam, Sermones Taulerii Iohannis praedicatorie professionis tibi comparare potes. Cuius totius velut Epitomen Ecce hic tibi mitto. Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem.12
Luther nimmt den ‚Frankfurter‘ also nicht als Kompendium der ‚deutschen‘ bzw. ‚rheinischen Mystik‘ wahr, sondern als Zusammenfassung der Theologie (keineswegs der Mystik!) Johannes Taulers. Aber hat Luther Recht mit seiner Einschätzung, dass der Traktat wie in einem Brennspiegel die Grundgedanken taulerischer Lehre erfasst? Dazu zunächst eine ganz oberflächliche Beobachtung, die jedoch den Schluss zulässt, dass die Behauptung des zukünftigen Reformators zumindest nicht so selbstverständlich ist, wie er in seinem Brief suggeriert: Eine explizite Nennung Taulers als Autorität erfolgt im ‚Frankfurter‘ ursprünglich13 nämlich
die Rede wie auch alle anderen Werke Meister Eckharts trotz partieller Übereinstimmungen eine dem ‚Frankfurter‘ entgegengesetzte theologisch-anthropologische Grundsignatur aufweisen. 10 Haas setzt den Beginn der Taulerlektüre Luthers im Frühjahr 1515 an. Vgl. Luther und die Mystik, S. 187. 11 WA 1, S. 153. 12 WA.B 1, S. 79 (Nr. 30), Z. 58–63. Abfassungsdatum ist der 14. Dezember 1516. Die Drucklegung des ‚Frankfurter‘ war genau zehn Tage zuvor – am 4. Dezember – abgeschlossen worden (siehe WA 1, S. 152). 13 Zum ‚ursprünglichen Textbestand‘ des ‚Frankfurter‘ siehe Kap. 1.1, Anm. 11.
2.1 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung
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nur ein einziges Mal – und dies ausgerechnet innerhalb des nur wenige Zeilen umfassenden dreizehnten Kapitels, das innerhalb des Syntagmas völlig isoliert ist.14 Sein Thema – die vorschnelle und eigenmächtige Lösung von den bilden (d. h. Wahrnehmungs- und Erkenntnisbildern als Vermittlungsinstanzen zwischen materieller Welt und immaterieller Vernunft) – gehört zwar zu den inhaltlichen ‚Trends‘ nacheckhartischer Mystik, insofern es in die Polemik gegen die ‚freien Geister‘ eingebunden ist.15 Der ‚Frankfurter‘ kommt trotz seiner antifreigeistigen Ausrichtung jedoch nicht noch einmal darauf zurück. Davon abgesehen, wird die Problematik innerhalb des dreizehnten Kapitels so verkürzt dargestellt, dass die Passage aus sich heraus nicht verständlich ist, sondern zumindest auf der Werkebene als Versatzstück ohne Einbindung in kapitelübergreifende Aussagenzusammenhänge erscheint.16
14 Der Text des gesamten Kapitels mit der Überschrift Wie der mensch den bilden etwan czu frue vrlaub gibt lautet (Frankfurter, S. 87, Z. 1–S. 88, Z. 5): „Eß spricht der Tauler: ‚Eß synt menschen yn der czite, die den bilden czu frue orlaup geben‘, ee sie die warheit do von gelößen, vnnd dar vmmb das sie sich selber lößen, so mugen sie kume ader nicht czu der warheit gereichen. Vnnd dar vmmb solde man alle czeit mit fleiße war nemen der werck gotis vnnd seyner heischunge, tribunge vnnd vormanunge des menschen.“ 15 Der ursprüngliche Kontext des Tauler-Zitats macht die antifreigeistige Ausrichtung deutlich. Die entsprechende Passage lautet in der Vetter-Ausgabe (Pr. V 40, S. 167, Z. 6–23): „Nu koment die vernúnftigen mit irem natúrlichen liechte und kerent in ir inwendig natúrlich liecht, in iren blossen lidigen unverbildeten grunt […]. Si ensint nút durch den weg der tugende gegangen, und der bunge die z heiligem lebende und ze ttunge der untugende hrent, der enachtent si nút. Denne si minnent ir inwendige valsche lidikeit, die nút geschet enist mit wúrklicher minne von innan und ussen, und si hant den bilden urlob gegeben e zit. Denne kumet der túfel und bringet in in valsche sssekeit und valsche liecht, und do mit verleit er si, das si eweklichen verlorn werdent […]; hinnan ab vallent si in unrechte friheit ze volgende war sich ir nature z neigt“ [Hervorhebungen L. W.]. Die hier erhobenen Vorwürfe – die Überschätzung der natürlichen Vernunft, die Verweigerung gegenüber Tugendübungen, die daraus resultierende Anfälligkeit für den Betrug des Teufels – finden sich auch in der antifreigeistigen Polemik des ‚Frankfurter‘ wieder. Umso auffallender ist es, dass der Traktat im dreizehnten Kapitel seine Vorlage nicht nutzt. Zwei Gründe sind dafür denkbar: 1.) Der Autor bzw. Redaktor des ‚Frankfurter‘ hatte kein Korpus von Tauler-Predigten vorliegen, sondern entnahm das Zitat einer sekundären Quelle. 2.) Das dreizehnte Kapitel stellt eine nachträgliche Interpolation dar, die einen ‚fehlenden‘ Aspekt in den ‚Frankfurter‘ einfügt, ohne diesen in den Gesamtzusammenhang einbetten zu können (was dem Autor des Traktats oder einem gebildeten Redaktor eigentlich auch ohne taulerische Vorlage hätte gelingen müssen). Angesichts der Kürze und sehr ungeschickten inhaltlichen Präsentation des dreizehnten Kapitels wäre es denkbar, dass beide Gründe zutreffen, auch wenn sich dies überlieferungsgeschichtlich nicht nachweisen lässt. Siehe zur nachträglichen redaktionellen Bearbeitung des ‚Frankfurter‘ Kap. 1.2.1, S. 15 sowie Kap. 1.2.3, S. 51. Vgl. ferner die folgende Anmerkung. 16 Zum Text siehe oben, Anm. 14. In der redaktionell bearbeiteten Frankfurter Handschrift (C) ist das Kapitel zur näheren Erläuterung stark erweitert (siehe den kritischen Apparat in der Edition von Hintens, S. 87–88). Es wird ein Aufstiegsweg zum rein beschaulichen – also ‚bildlosen‘ –
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
In Martin Luthers handschriftlicher Druckvorlage fehlt der Name des Straßburger Predigers indessen vollständig. Zwar enthält das dreizehnte Kapitel – welches im Druck mit dem zwölften Kapitel zu einem zusammengehörigen Abschnitt verbunden wird17 – auch hier das Tauler-Zitat, das jedoch nur ganz allgemein einem ‚Lehrer‘ zugewiesen wird.18 Dass Luther einen derartig engen Zusammenhang zwischen den Tauler-Predigten und dem anonymen mystischen Traktat konstatiert, erscheint angesichts dieses Befundes nur noch bemerkenswerter. Eine vergleichende Analyse des ‚Frankfurter‘ im Kontext des paradigmatischen Korpus erweist zwar eindeutig, dass der Traktat auf taulerische Gedankengänge zurückgreift,19 dies jedoch in ebenso selektiver wie radikaler Weise und unter Hinzufügung von ganz neuen Elementen, die sich so weder im TaulerKorpus noch in anderen mystischen Prosatexten finden. Als Abriss der Lehre
Leben vorgestellt, der über Selbstverleugnung und Christusnachfolge zur Vollkommenheit führt: „Der mensche sol sich deß ersten seyn selber gancz vorleugen vnd alle dingk williglichen durch got vorlassen vnd sol seynen eygen willen vnd alle naturliche neigung auff geben vnd sich gancz leteren vnd reyngen von allen vntugendten vnd sunden Dar nach sol man demutiglichen auff sich neemen daß Creucz vnd sol Cristo nach volgen […] vnd wen der mensche also durch bricht vnd ber springt alle czeittliche dingk vnd creatur so mag er dar nach yn eynem beschelichen leben volkomen werden“ (hg. von Hinten, S. 88; Frankfurter Hs., fol. 97v–98r). Die Verbindung der ‚Bilderfrage‘ mit dem Thema der imitatio Christi verweist zurück auf das vierzehnte Jahrhundert, da der Mensch gewordene Christus für Tauler, Seuse und andere mystische Schriftsteller das ‚Bild‘ schlechthin ist, dem es nachzufolgen gilt, um einen höheren Vollkommenheitsgrad zu erreichen. Die prononciert betonte Notwendigkeit der Christusnachfolge wird dabei insofern gegen die ‚freien Geister‘ in Stellung gebracht, als sich diese der imitatio Christi verweigern – ein Gedanke, der auch im ‚Frankfurter‘ von zentraler Bedeutung ist. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.2.2.3, S. 141– 142; Kap. 2.3.2.4, S. 242–243; Kap. 3.3.2.4. Dass es der Verfasser des dreizehnten Kapitels (in der ursprünglichen Version) versäumt, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und den knappen Text stattdessen völlig isoliert stehen lässt, spricht einmal mehr für eine nachträgliche Interpolation. Siehe dazu auch die Ausführungen in der vorhergehenden Anmerkung. Den gleichen solitären Charakter hat im Übrigen auch das vierzehnte Kapitel mit der Überschrift Von dreyen graden, die den menschen furen czu volkommenheit (hg. von Hinten, S. 88). In nur vier Zeilen führt es die drei traditionellen dionysischen Grade der Reinigung, Erleuchtung und Vollendung vor, ohne diese auch nur ansatzweise zu erläutern (was dann wiederum der redaktionelle Bearbeiter der Frankfurter Handschrift übernimmt). Im Gesamtkontext des ‚Frankfurter‘ spielt dieser mystische Dreischritt keine Rolle. 17 Siehe Baring: Bibliographie, S. 15–16 (Faksimile). 18 Baring: Bibliographie, S. 16 (Faksimile): „Es ſpricht ein lerer.“ Siehe auch den Apparat in der Edition von Hintens, S. 87. Es handelt sich bei der Auslassung Taulers um ein Spezifikum der Überlieferungsstufe *Y6, welcher Luther-Druck A und Handschrift I angehören (siehe von Hinten, S. 17). Im Luther-Druck von 1518 findet sich die Namensbezeichnung. Nicht auszuschließen ist, dass Luther den anonymen ‚Lehrer‘ aufgrund seiner intensiven Tauler-Lektüre bereits 1516 identifizieren konnte. Dies muss jedoch Spekulation bleiben. 19 Siehe dazu v. a. Kap. 2.3.1, bes. S. 191–206.
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Taulers kann die Schrift daher nur bedingt gelten. Wenn Luther den ‚Frankfurter‘ dennoch als deren Epitome begreift, dann aus der Perspektive der sich entfaltenden Wittenberger Theologie. Sie bietet die Folie, auf der sich für den Augustiner ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Straßburger Prediger und dem namenlosen mystischen Traktat ergibt. Hätte Luther den ‚Frankfurter‘ aus einem anderen Blickwinkel zur Kenntnis genommen, wäre seine Einschätzung vermutlich völlig anders ausgefallen. Wer etwa die ‚Gottesgeburt im Seelengrund‘ als zentrales Theologumenon nicht nur eckhartischer, sondern auch taulerischer Lehre versteht und die damit einhergehende Überzeugung einer diesseitigen Vollendung der im Menschen naturhaft angelegten Gottebenbildlichkeit als ebenso wichtig erachtet, der muss zu der Einsicht gelangen, dass das Predigtkorpus des Straßburger Dominikaners kaum eine Nähe zu dem anonymen Traktat aufweist. Mit anderen Worten: Luther hat sowohl in den Predigten Taulers als auch im ‚Frankfurter‘ grundlegende Elemente seines eigenen theologischen Entwurfs wiedererkannt. Dabei erwies es sich als praktisch, dass der Traktat gerade jene ontologischen Aspekte ausblendet, die im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen und auch im Tauler-Korpus durchgängig präsent sind: An einer Gottunmittelbarkeit, die auf einem innersten, göttlichen oder gottähnlichen Seelenkern basiert und dem Menschen durch die geistige Transformation zum Sohn Gottes die Seinsgemeinschaft mit dem Göttlichen ermöglicht, war Luther – übrigens im Einklang mit anderen frühneuzeitlichen Tauler-Lesern20 – nicht im Geringsten interessiert, läuft sie doch seiner Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses zuwider.21 Wie Ottos Analyse der Randbemerkungen Luthers zum Tauler-Œuvre gezeigt hat, war die Aufmerksamkeit des Reformators auf andere Gesichtspunkte der Predigten ausgerichtet: die starke Tendenz zur Verinnerlichung, wie sie in der Abwertung des äußeren Gebets, der Skepsis gegenüber der institutionalisierten Beichte und der Kritik am ‚Pharisäertum‘ zum Ausdruck kommt;22 die Betonung der Notwendigkeit des ‚Leerwerdens‘, die mit der Aufgabe des Eigenwillens einhergeht;23 oder die ‚hohe Anfechtung‘ als Erfahrung (vermeintlicher) Gottverlassenheit.24
20 Siehe dazu Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, bes. das Kapitel „Desinteresse an ‚Unio‘ und ‚Grund‘“, S. 148–161. 21 Siehe dazu auch unten, Anm. 60. Vgl. ferner Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 275. 22 Vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 185–188. 23 Vgl. ebd., S. 190. 24 Vgl. ebd., S. 192–201.
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Reichen diese Kongruenzen zwischen dem Straßburger Dominikaner und dem Wittenberger Augustiner aber aus, um die Tauler-Begeisterung Luthers plausibel zu machen? Zumindest ein paar Vorbehalte scheinen angebracht. Denn weder sind die genannten Einzelaspekte so außergewöhnlich, dass sie nur im Werk Taulers aufzufinden wären, noch eröffnen sie eine Perspektive, die gängige Frömmigkeitskategorien des frühen sechzehnten Jahrhunderts durchbricht. Wie Otto bemerkt, lassen sich zwischen Luthers Interessenschwerpunkten und denjenigen anderer zeitgenössischer Tauler-Leser und -Leserinnen höchstens graduelle Unterschiede feststellen.25 Allerdings verläuft die Formation der ‚neuen‘, von ihren Vertretern freilich vehement als ‚alt‘ deklarierten26 Wittenberger Theologie parallel zu Luthers Lektüre der Tauler-Predigten und tritt schon in der zeitgleichen Römerbrief-Vorlesung des Professors deutlich zutage.27 Luthers Interessen dürften also nur scheinbar deckungsgleich mit denjenigen seiner Zeitgenossen sein; er bewertet die einzelnen Aspekte vor einem anderen Hintergrund, der die ‚Mainstream-Frömmigkeit‘ bereits verlassen hat. Dies ist auch bei der Beurteilung von Luthers Aussagen zum ‚Frankfurter‘ in Erinnerung zu behalten. Im Dezember 1516, als die Erstausgabe des Traktats erschien, hatte Luther bereits damit begonnen, seine Theologie – zunächst im akademischen Umfeld – publik zu machen: Die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata, deren Thesen Luthers Schüler Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch im Zuge seiner Promotion zum Sententiarius vortrug und verteidigte, datiert vom 25. September 1516.28 Wie bekannt, war das Echo innerhalb der theologischen Fakultät enorm.29 Dem Erscheinen der vollständigen Ausgabe des ‚Frankfurter‘ im Juni 1518 sind weitere wichtige Ereignisse und Publikationen vorangegangen, u. a. die Disputatio contra scholasticam theologiam (September 1517), das Bekanntwerden der aus 95 Thesen bestehenden Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (in schriftlicher Form erstmals
25 Vgl. ebd., S. 187, 188, 190, 201. 26 Siehe dazu etwa Luthers Vorrede zur zweiten Edition des ‚Frankfurter‘ (zitiert unten, S. 81). 27 Zur Parallelität von Luthers Römerbrief-Vorlesung und seiner Tauler-Lektüre siehe auch zur Mühlen: Nos extra nos, S. 97. Zur zeitlichen Einordnung der Marginalien siehe ferner Otto: Vorund frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 183. 28 Siehe WA 1, S. 142–151. Aland weist darauf hin, dass Luther die frühen Thesenreihen insbesondere der Jahre 1516 und 1517 dazu nutzte, seinen theologischen Entwurf im Universitätskontext – in erster Linie in Wittenberg, aber auch darüber hinaus – publik zu machen. Vgl. Die theologischen Anfänge, S. 236, 242–244. Siehe auch Kruse: Paulus, S. 120, Anm. 21. Siehe ferner Kruse: Universitätstheologie, S. 78–82. 29 Zu dieser Disputation als „Auftakt der Wittenberger Diskussionsgemeinschaft“ und der durch sie initiierten theologischen Neuorientierung weiterer Wittenberger Universitätsprofessoren siehe Kruse: Universitätstheologie, S. 78–96.
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versendet am 31. Oktober 1517, und zwar an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg) und die Heidelberger Disputation (April 1518). Der Druck einer weiteren möglicherweise von Luther besorgten Ausgabe im September 1520 erfolgte dann inmitten der reformatorischen Auseinandersetzungen, die inzwischen auch zunehmend ein volkssprachliches Publikum erreichten.30 Die Beachtung dieser historischen Fakten kann durchaus dabei helfen zu verstehen, wieso Luther den ‚Frankfurter‘ als Tauler-Kompendium betrachtet hat, obwohl der Traktat den Straßburger in der Vorlage des Druckes von 1516 kein einziges Mal namentlich erwähnt und im Vergleich zu den Tauler-Predigten sowohl inhaltlich als auch terminologisch eigene Wege beschreitet. Denn beiden gemeinsam ist ein tiefes, allen Einzelaspekten zugrunde liegendes Interesse an der menschlichen Natur, und zwar an der gefallenen menschlichen Natur.31 Damit befinden sie sich – im Rahmen des ‚mystischen Diskurses‘ – auf demselben Kampfplatz, auf den sich auch Luther und seine Wittenberger Mitstreiter im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts begeben: Es handelt sich um die Anthropologie,32 und zwar im Kontext der Fragestellung, wie der Mensch nach dem Sündenfall vor Gott bestehen kann. Der Nachweis der menschlichen Unfähigkeit, aus eigenen Kräften dieses Ziel zu erreichen oder sich auch nur ansatzweise darauf zuzubewegen, prägt dabei in aller Schärfe die Thesen der frühen Disputationen.33 Von grundlegender Bedeutung für diese Etablierung einer negativen Anthropologie war Luthers Augustinus-Lektüre, oder präziser ausgedrückt: Luthers intensive Rezeption des antipelagianischen Augustinus,34 die 1515 – als der 30 Siehe dazu auch Kap. 4.2.4. 31 Dass Luther sowohl im Tauler-Œuvre als auch im ‚Frankfurter‘ ein „für ihn neues Paradigma mystischer Theologie“ auffand, „das die traditionelle Inkarnations- und Kreuzesmystik weiterentwickelte zu einer Lebenslehre der Gottesferne“, betont auch Berndt Hamm. Siehe ders.: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 279. 32 Siehe auch Leppin: Martin Luther, S. 102–103 (mit Bezug auf die Disputatio contra scholasticam theologiam). 33 Siehe dazu auch unten, Kap. 4.2.2.4, bes. S. 401–405. 34 Anders als Luthers euphorische Äußerungen zu seiner ‚Entdeckung‘ der augustinisch-antipelagianischen Schriften zunächst glauben machen, belegen schon die Frühwerke des Wittenbergers eine beachtliche Augustinus-Kenntnis (vgl. Delius: Zu Luthers Augustinrezeption, S. 244– 245). Diese Auseinandersetzung des späteren Reformators mit dem Kirchenvater begann spätestens im Herbst 1509. Vgl. u. a. Delius: ebd., S. 245; Wriedt: Produktives Mißverständnis?, S. 215. Siehe ferner Kap. 2.2.1, Anm. 89. Dass Luther seit 1515 ausschließlich den antipelagianischen Augustinus als authentisch akzeptierte (vgl. z. B. Aland: Die theologischen Anfänge, S. 239; Delius: Zu Luthers Augustinrezeption, S. 248; Saak: The Reception, S. 368; Leppin: Martin Luther, S. 95), ist allgemein bekannt und hat in den letzten Jahrzehnten zu weitreichenden Diskussionen über eine mögliche Beeinflussung des Wittenbergers durch mittelalterliche Vertreter der schola
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Wittenberger erstmals den sechsten und achten Band der Amerbach-Edition des Kirchenvaters in die Hände bekam35 – ihren Anfang nahm. Sie verlief damit parallel zu Luthers Auseinandersetzung mit den Tauler-Predigten. Augustinus, nach Luthers Überzeugung der interpres fidelissimus des Apostels Paulus,36 war in den Jahren, in denen der Theologieprofessor mehrfach den ‚Frankfurter‘ publizierte, die historische Gestalt mit dem größten Einfluss auf die Wittenberger Theologie – weder Johannes Tauler noch irgendein anderer Kirchenlehrer erreichten seine Strahlkraft. Am 18. Mai 1517 konnte Luther seinem Ordensbruder und nach zeitgenössischer Auskunft engstem Ratgeber Johannes Lang, über den er mit Tauler bekannt geworden war und dessen Tauler-Exemplar er mit seinen zahlreichen Anmerkungen versah,37 die Erfolgsmeldung schicken: „Theologia
Augustiniana moderna – in erster Linie repräsentiert durch den Augustinereremiten Gregor von Rimini – geführt (vgl. zu dieser spezifischen Ausprägung spätmittelalterlicher Augustinus-Rezeption auch Kap. 2.2.1, S. 97–99 mit den Anm. 102–104). Diese von Oberman (Werden und Wertung, bes. S. 90–91) angeregte These erhielt nicht nur durch Luthers Ordenszugehörigkeit Nahrung, sondern auch durch die Erwähnung einer Via Gregorii in den Statuten der Wittenberger Artistenfakultät. Zwar harrt die Frage nach dem Beginn von Luthers Gregor-Kenntnis noch einer endgültigen Klärung: So setzt sie Grane erst mit der Leipziger Disputation 1519 an, Saak jedoch bereits früher (vgl. Grane: Gregor von Rimini: S. 39–41; Saak: High Way, S. 698 und S. 705–706 mit Anm. 114). Dass Luther aufgrund einer akademischen Lehrtradition seines Ordens mit Gregor – und über ihn mit dem antipelagianischen Augustinus – bekannt geworden sei, gilt inzwischen jedoch als äußerst unwahrscheinlich. Siehe z. B. Lohse: Die Bedeutung, S. 12–13; Köpf: Aspekte, S. 609–610; Leppin: Martin Luther, S. 65. Die Forschungsgeschichte zum Thema ‚Luther and Late Medieval Augustinianism‘ zeichnet Saak nach. Vgl. High Way to Heaven, Appendix A, Rubrik B, S. 691–698. Siehe ferner Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 1–13 und S. 100–126. 35 Siehe z. B. Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, S. 320–321. Bei der Edition handelt es sich um eine elfbändige Augustinus-Ausgabe, die der Basler Drucker Johannes Amerbach in Zusammenarbeit mit den Druckern Johannes Petri und Johannes Froben zwischen 1504 und 1506 in Basel herausgebracht hat. Die für Luther wichtigste antipelagianische Schrift De spiritu et littera findet sich ebenso wie De peccatorum meritis et remissione und De natura et gratia im sechsten Band der Ausgabe, sieben weitere enthält der achte Band. Insgesamt drei antipelagianische Werke stehen zudem im zehnten und elften Band (vgl. ebd., S. 321, Anm. 116). Nicht enthalten unter diesen gnadentheologischen Schriften ist allerdings das besonders radikale Opus imperfectum contra Iulianum, dessen Editio princeps erst im siebzehnten Jahrhundert erschien (vgl. Zelzer: Das augustinische Opus imperfectum, S. 798–799). Zur Bedeutung der Amerbach-Edition siehe u. a. Oberman: Werden und Wertung, S. 90; Saak: The Reception, S. 367–368; Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 122. 36 Vgl. WA 1, S. 353, Z. 14. 37 Lang hatte sein Tauler-Exemplar von der Wittenbergerin Ursula Schreiber geschenkt bekommen. Er benutzte es gemeinsam mit Luther und anscheinend auch anderen Mitgliedern seines Konvents. Vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 53. Zum Bekanntwerden Luthers mit Taulers Predigten durch Vermittlung Langs siehe auch ebd., S. 177, 180 sowie Haas: Luther und die Mystik, S. 187. Insgesamt hat Luther 73 Tauler-Marginalien verfasst.
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nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante.“38 Nun war sich Luther der Differenzen zwischen Tauler und dem ‚Frankfurter‘ als Repräsentanten einer ‚deutschen Theologie‘ auf der einen Seite und dem lateinischen Kirchenvater auf der anderen Seite sicherlich bewusst. Dennoch: Nachdem Luther mit dem antipelagianischen Augustinus bekannt geworden war und dessen rigide Gnaden- und Erbsündenlehre in sein eigenes theologischanthropologisches Konzept integriert hatte, wäre es ihm wohl unmöglich gewesen, sich über das Werk des Straßburger Predigers und den anonymen mystischen Traktat positiv, ja nahezu euphorisch zu äußern, wenn er sie nicht als kongruent mit seinem Augustinus-Verständnis wahrgenommen hätte. Als vorläufiges Fazit lässt sich daher festhalten: Martin Luther rezipierte Johannes Tauler und den ‚Frankfurter‘ nicht als Exponenten der ‚deutschen Mystik‘ – deren Existenz im Sinne einer spezifischen diskursiven Formation des späten Mittelalters war ihm unbekannt und hätte vermutlich auch kaum sein Interesse erregt –, sondern als volkssprachliche Zeugen für die Richtigkeit seiner Theologie, die wiederum durch die augustinisch-paulinische Anthropologie geprägt ist. Das Überraschende an Luthers Wahl ist gleichwohl die Zugehörigkeit des Tauler-Korpus und des ‚Frankfurter‘ zur mystischen Predigt- und Traktatliteratur des vierzehnten Jahrhunderts. Denn damit sind sie in ein Feld zeitgenössischer Texte eingebunden, deren anthropologische Stoßrichtung derjenigen der Wittenberger Theologie grundsätzlich zuwiderzulaufen scheint, zielt sie doch darauf, die in der Natur des Menschen verwurzelte Gottesnähe in der unio zur Vollendung zu bringen. Luthers Begeisterung für die Tauler-Predigten und den ‚Frankfurter‘ setzt daher voraus, dass innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ Transformationsprozesse stattfinden, die von der dezidiert positiven Anthropologie eines Meister Eckhart wegführen und damit zugleich Anschlussstellen für ganz anders ausgerichtete theologische Diskurse schaffen. Wenn Luther den ‚Frankfurter‘ ebenso wie Tauler in Übereinstimmung mit seiner Anthropologie gesehen hat und in dem Traktat genau jene Aspekte fehlen,
38 WA.B 1, S. 99 (Nr. 41), Z. 8–9. Als „des Luthers negeste rat“ wird Lang von dem Studenten Johann Oldecop bezeichnet. Siehe Kruse: Paulus, S. 122; ders.: Universitätstheologie, S. 51. Lang hielt im Jahr 1516 eine Römerbriefvorlesung, die Luthers theologischen Ansatz aufgriff, und gehörte damit zu den ersten Universitätsdozenten, die sich öffentlich zum Wittenberger Reformprogramm bekannten. Vgl. Kruse: Paulus, S. 121–125; ders.: Universitätstheologie, S. 51 sowie S. 71–78. Bereits im Mai 1517 befand sich Lang allerdings nicht mehr in Wittenberg, sondern hatte auf Geheiß des Distriktsvikars Martin Luther das Amt des Priors im Erfurter Augustinereremitenkloster übernommen. Kruse weist darauf hin, dass damit faktisch auch eine Ausbreitung der Wittenberger Reformsphäre gegeben war. Siehe ders.: Paulus, S. 125.
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die im Œuvre des Straßburger Predigers dem theologischen Entwurf des Augustiners entgegengesetzt sind,39 dann bietet dies eine Erklärung dafür, wieso Luther den ‚Frankfurter‘ als Tauler-Kompendium verstehen konnte: Aus seiner Sicht enthält der Traktat gerade jene Elemente in komprimierter Form, die das Wesentliche des Tauler-Korpus ausmachen und sich nahtlos in eine augustinisch-antipelagianisch ausgerichtete Anthropologie einfügen. Damit ist auch ein Anhaltspunkt dafür gegeben, wieso der spätere Reformator ausgerechnet mit dieser Schrift erstmals als Editor an die breitere Öffentlichkeit trat. Denn angesichts der Tatsache, dass Tauler-Drucke im späten fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhundert leicht erhältlich und durchaus verbreitet waren,40 ist dies keineswegs evident. Auch wenn Luther ein erschwingliches Tauler-Kompendium in Flugschriftenform publik machen wollte, dürfte dies durch die entsprechende Aufbereitung einer oder mehrerer Predigten leicht möglich gewesen sein.41 Offenbar bietet der ‚Frankfurter‘ bestimmte Aspekte jedoch in einer Intensität, die aus Luthers Perspektive einer ‚Summa Tauleri‘ nicht zugekommen wäre. Wenn es zutrifft, dass Luther den ‚Frankfurter‘ in seine antipelagianische Programmatik aufgenommen hat, dann gewinnen die Bemerkungen im oben zitierten Brief an Spalatin vom Dezember 151642 eine zusätzliche Aussagekraft. Die Auskunft des Wittenberger Augustiners, dass er „weder in lateinischer noch in unserer Sprache eine heilsamere und mit dem Evangelium mehr übereinstimmende Theologie gefunden“ habe, lässt darauf schließen, dass sich sein Augenmerk in jenen Jahren, als die Wittenberger Theologie zunehmend ihr charakteristisches Profil gewann, bewusst auf Texte richtete, die seine Anthropologie zu stützen vermochten – und dies unter ausdrücklichem Einschluss der Volkssprache. Nun ist kaum anzunehmen, dass Luthers theologischer Lehrstuhl auch die
39 Wie sich noch zeigen wird, handelt es sich um jene Komponenten einer mystikspezifischen augustinischen Spiritualität, die eine fest in der menschlichen Natur verankerte Gottesnähe des Menschen begründen. 40 Siehe dazu die Studie von Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. 41 Ein Beispiel dafür bietet eine Flugschrift aus dem Jahr 1523, die Tauler-Predigt V 27 (im Leipziger Tauler von 1498 und im Augsburger Tauler von 1508 handelt es sich um Predigt 31) so inszeniert, dass Tauler als reformatorischer Prediger erscheint. Die Flugschrift trägt den Titel Ain Faſt Edele: nutzliche: vnd ergrúndte Sermon /nyemandt nachtaylig /noch leſterlich /Sonder ainem yetlichē war Chriſten menſchen /offt zů leßen fruchtpar /Des erleychtē Doc. Joanns Tauleri /auff die wort Chriſti. Joā.x. Wer nit eingeet in den ſchaffſtall /durch die Thür etc. Der iſt ain dieb v morder. Siehe Flugschriften des frühen sechzehnten Jahrhunderts (hg. Köhler), Fiche 1849, Nr. 4726. Vgl. ferner Wegener: Ain Faſt Edele, nutzliche, vnd ergrúndte Sermon. 42 Siehe oben, S. 72.
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Beschäftigung mit deutschen Texten vorsah,43 so dass sich der Wittenberger Professor gleichsam von Berufs wegen mit ihnen auseinanderzusetzen hatte. Daher scheint die Vermutung plausibel, dass der spätere Reformator aus eigener Initiative eine Sichtung volkssprachlicher Schriften vornahm, um Traditionszeugen für seine antipelagianisch orientierte Theologie aufzuspüren. Dieser Faden lässt sich weiterspinnen bis zur zweiten Ausgabe des ‚Frankfurter‘ im Jahre 1518. Hier schreibt Luther in der Vorrede: Und befinde nu aller erſt, das war ſey, das etlich hochgelerten von uns Wittenbergiſchen Theologen ſchimpflich reden, alſo wolten wir new ding furnhemen, gleych alß weren nit vorhyn und anderwo auch leut geweßen. Ja freylich ſeynn ſie geweßen, Aber gottis tʒoren, durch unſer ſund vorwircket, hatt uns nit laßen wirdig ſeyn die ſelben ʒu ſehen ader hren, dann am tag iſts, das in den Univerſiteten eyn lang ʒeyt ſulchs nit gehandelt, dohynn bracht iſt, das das heylig wortt gottis nit allein under der bangk gelegen, ſundernn von ſtaub und mutten nahend vorweßet. Leß diß Buchlein wer do will, unnd ſag dann, ab die Theologey bey unß new adder alt ſey, dann dißes Buch iſt yhe nit new, Werden aber villeicht wie vormals ſagen, Wyr ſeyen deuſsch Theologen, das laßen wyr ßo ſeyn. Jch danck Gott, das ich yn deutſcher ʒungen meynen gott alßo hre und finde, als ich und ſie mit myr alher nit funden haben, Widder in lateyniſcher, krichſcher noch hebreiſcher ʒungen. Gott gebe, das dißer puchleyn mehr an tag kumen, ßo werden wyr finden, das die Deutſchen Theologen an ʒweyffell die beßten Theologen ſeyn, Amen.44
Diese Passage bestätigt und ergänzt die bisher angestellten Vermutungen zu den Gründen für Luthers Interesse an dem namenlosen Traktat. Zunächst einmal fällt auf, dass er den ‚Frankfurter‘ ausdrücklich in den Kontext der Wittenberger Theologie stellt und damit innerhalb jener theologischen Richtung verortet, für die er – ebenfalls 1518 – das Verb wittenbergescere geprägt hat.45 Der von Luther und seinen Mitstreitern stets zurückgewiesene Vorwurf, eine ‚neue‘ und somit jeglichen Rückhalts durch die Tradition entbehrende Lehre zu verbreiten, wird
43 Köpf weist darauf hin, dass sich Luthers Professur und Lehrtätigkeit ganz in den Rahmen einfügten, der durch das mittelalterliche Bildungssystem vorgegeben war. Vgl. Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, S. 73, 76; siehe auch Leppin: Martin Luther, S. 66. Zu den Pflichten der Professoren, die auch in den Statuten der Theologischen Fakultät festgeschrieben waren, gehörten die Schriftauslegung sowie die Mitwirkung an den verschiedenen Arten von Disputationen (den jährlichen Disputationes de quolibet, den wöchentlichen Zirkulardisputationen sowie den Promotionsdisputationen; siehe Köpf: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, S. 79–80). 44 WA 1, S. 378, Z. 23–S. 379, Z. 12. 45 Vgl. WA.B 12, S. 14 (Nr. 4214 [zu Nr. 96]), Z. 6–9. Siehe dazu auch Oberman: Werden und Wertung, S. 118. Zu den Programmpunkten dieser Wittenberger Reformtheologie gehörten die Bezugnahme auf die Heilige Schrift und die Kirchenväter sowie die Abgrenzung von der Scholastik. Siehe Kruse: Universitätstheologie, S. 2. Der Kontext, in dem Luther den ‚Frankfurter‘ verortet, ist durch genau diese Aspekte definiert. Siehe dazu die Ausführungen auf S. 83 mit Anm. 48.
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ebenso thematisiert wie die Frontstellung Luthers und seiner Kampfgefährten gegen die etablierte Universitätstheologie. Deren Entfremdung vom ursprünglichen Gotteswort sieht Luther hier in engem Zusammenhang mit dem Verschwinden der in Wittenberg zu neuem Leben erwachten ‚wahren‘ Theologie, für die der ‚Frankfurter‘ als literarischer Zeuge einstehen soll. Denn Gottes Zorn über die menschliche Sündhaftigkeit habe zur Blind- und Taubheit gegenüber dieser Überlieferung geführt. Damit bietet Luther eine metaphysische Begründung für ein Problem, das er in seinen weiteren Ausführungen zwar nicht explizit benennt, welches aber zwischen den Zeilen durchscheint. Denn dass der Wittenberger den dringenden Wunsch nach dem Auftauchen weiterer volkssprachlicher puchleyn äußert, wobei er die Vorzüge der deutschen Sprache als Bewahrerin des Gotteswortes gegenüber den drei traditionellen Bibelsprachen scharf hervorhebt, bringt nicht nur seine Hochachtung gegenüber dem anonymen Traktat zum Ausdruck. Vor allem lassen seine Worte darauf schließen, dass im Zeitraum zwischen 1516 und 1518 außer der vollständigen Fassung des ‚Frankfurter‘ kein weiterer deutscher Text zum Vorschein gekommen ist, der sich ohne Schwierigkeiten in das anthropologische Profil der ‚neuen‘ Wittenberger Theologie einfügen ließ. Abgesehen von den Tauler-Predigten konnte Luther keine andere Schrift dem ‚Frankfurter‘ als gleichwertig zur Seite stellen – allein dieser Traktat qualifizierte sich zur ‚Theologia deutsch‘.46 Der Grund dafür lässt sich ebenfalls aus der ‚Frankfurter‘-Vorrede von 1518 erschließen, heißt es doch unmittelbar vor der oben zitierten Passage:
46 Die Luther dann ja 1520 evtl. noch ein drittes Mal herausgab. Erst 1522 stellte er dem ‚Frankfurter‘ und Tauler zwei weitere Autoren zur Seite, die für eine lautere deutsche Theologietradition einstehen sollten. Allerdings haben sie ihre Werke in lateinischer Sprache verfasst und gehören aus sozial- und literaturgeschichtlicher Perspektive in einen völlig anderen Kontext. Es handelt sich um die der Devotio moderna nahestehenden Theologen Wessel Gansfort (um 1419 bis 1489; vgl. Reeves: Art. ‚Gansfort‘) und Johannes Pupper von Goch (um 1415 bis 1475; vgl. Benrath: Art. ‚Pupper‘). Luther schreibt (WA 10/2, S. 329, Z. 24–S. 330, Z. 7): „Vere uideo Theologiam sinceriorem fuisse et esse apud Germanos absconditam. Prodijt nuper uernacula lingua Iohannes Taulerus quondam Thomista, ut libere pronunciem, talis, qualem ego a saeculo Apostolorum uix natum esse scriptorum arbitror. Adiunctus est ei libellus similis farinae et linguae Theologia teutonica. Post hos Vuesselus Groningensis, suo conterraneo et ciui Rodolpho Agricolae impar, si literas humaniores spectes: caeterum superior etiam, si puritatem Theologiae obserues. Quartus nunc sequitur (ut uiuentes taceam) Iohannes Gocchius Mechliniensis, uere Germanus et gnesios Theologus. Si Germania unquam fuit, certe hodie Germania est, quae germen domini in magnificentia et fructum terrae sublimem tam numeroso partu profert.“
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Und das ich nach meynem alten narren rme, iſt myr nehſt der Biblien und S. Auguſtino nit vorkummen eyn buch, dar auß ich mehr erlernet hab und will, was got, Chriſtus, menſch und alle ding ſeyn.47
Indem Luther den Traktat unmittelbar neben die Heilige Schrift und den Bischof von Hippo stellt, erhebt er ihn nicht nur zu einer christlichen Autorität ersten Ranges, er macht ihm auch das wohl höchste Kompliment, zu dem er im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts in der Lage ist. In sehr ähnlicher Weise bringt der Wittenberger Theologieprofessor in der Auseinandersetzung mit Johannes Eck während der Leipziger Disputation seine Wertschätzung gegenüber Gregor von Rimini zum Ausdruck: […] est enim totus aliud nihil quam Augustinus et divina scriptura; resistens quidem omnibus doctoribus scholasticis, tum maxime Aristoteli, sed nondum ab ullo confutatus est.48
Bei Gregor aber handelt es sich um einen der profiliertesten Kenner und Nutzer der antipelagianischen Schriften des Augustinus vor Martin Luther.49 Damit zeigt sich einmal mehr, in welchem Kontext Luthers Lektüre des ‚Frankfurter‘ – und ebenso der Predigten Johannes Taulers – zu verorten ist. Die explizite Vereinnahmung des Traktats für die augustinisch-paulinisch geprägte Wittenberger Theologie50 spricht ebenso wie Luthers briefliche Äußerungen vom Dezember 1516 dafür, dass der Reformator selbst – oder zumindest ein ihm nahestehender Theologe aus dem Wittenberger Kreis – auf die Schrift aufmerksam geworden ist.51 Dies gilt umso mehr, als der ‚Frankfurter‘ seine 47 WA 1, S. 378, Z. 21–23. 48 WA 2, S. 303, Z. 12–15. Zum Kontext dieses Kompliments siehe Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 8, 104–105. Zu Luthers Gregor-Kenntnis siehe auch oben, Anm. 34. Typisch für Luther ist die Frontstellung Augustinus gegen Aristoteles als der scholastischen Autorität; siehe z. B. Leppin: Martin Luther, S. 96. Indem der Wittenberger den ‚Frankfurter‘ gegen die Universitätstheologie in Stellung bringt, etikettiert er ihn so zugleich als anti-aristotelisch. 49 Siehe dazu auch unten, Kap. 2.2.1, S. 97–99. 50 Den Paulus-Bezug stellt Luther direkt zu Beginn seiner ‚Frankfurter‘-Vorrede von 1518 her, als er den stilus humilis des Traktats mit dem Schreibstil des Apostels vergleicht. Siehe WA 1, S. 378, Z. 2–21. Auch am Schluss der Vorrede von 1516 verweist er auf Paulus. Siehe WA 1, S. 153. 51 Möglicherweise könnte dies sogar Johann von Staupitz gewesen sein, der jedenfalls bei der Drucklegung des ‚Frankfurter‘ in der vollständigen Fassung seine Hände mit im Spiel gehabt zu haben scheint. Darauf lässt zumindest ein Brief Luthers an seinen vormaligen Mentor vom 31. März 1518 schließen, in dem er seine Theologie damit rechtfertigt, dass er darin Tauler und jenem ‚Büchlein‘ gefolgt sei, welches Staupitz neulich Christian Aurifaber zum Druck übergeben habe (vgl. WA.B 1, S. 160 [Nr. 66], Z. 8–11). Da Luther den zunächst namenlosen Traktat gerne als ‚Büchlein‘ bezeichnet (vgl. das Vorwort zur Ausgabe von 1518 oben, S. 81), ihn zudem als Tauler-
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Verwandtschaft mit dem Œuvre Johannes Taulers nicht unmittelbar preisgibt. Auch ein Ordensbruder Luthers, der von dessen Begeisterung für den Straßburger Dominikaner wusste, hätte in dem Traktat nicht notwendigerweise ein TaulerKompendium sehen müssen, da diese Beurteilung aus der in Wittenberg entwickelten anthropologischen Perspektive resultiert.52 Vorausgesetzt, dass Luther Zugang zu weiteren Predigten und Traktaten aus dem Umfeld der ‚deutschen Mystik‘ hatte – die er als volkssprachliche Zeugen für die ‚neue‘ Wittenberger Theologie aber für ungeeignet hielt –, ergibt sich im Einklang mit den bisherigen Ausführungen dieses Kapitels eine vorläufige Bestätigung für die bereits in der Einleitung aufgestellte These, dass der ‚Frankfurter‘ innerhalb der mystischen Prosaliteratur des vierzehnten Jahrhunderts eine eigenständige philosophisch-theologische Signatur aufweist, die sich nicht mit den von Meister Eckhart grundgelegten Theoremen deckt. Vielmehr positioniert sich der Traktat innerhalb jener ‚areas of discussions‘,53 die nach der posthumen Zensurierung des thüringischen Dominikaners entstanden und in der Auseinandersetzung mit dessen theologischer Anthropologie Freiraum für diskursive Innovationen boten. Aus der Perspektive Luthers dürfte dabei – wie weiter oben bereits erwähnt – die verstärkte Fokussierung auf die sündige Verfasstheit des
Kompendium betrachtet und ihm keine andere deutsche Schrift als Traditionszeugen für seine Theologie an die Seite stellt, ist anzunehmen, dass sich auch diese Briefpassage auf den ‚Frankfurter‘ bezieht. Die zweite Ausgabe der Schrift lag am 04. Juni 1518 vor. Drucker war Johann RhauGrunenberg; Christian Aurifaber (= Christian Düring) firmierte demnach als Verleger. Siehe WA. B 1, S. 161, Anm. 5. Dass Staupitz das antipelagianische Potenzial des ‚Frankfurter‘ erkannt hatte, ist deshalb nicht unwahrscheinlich, da der Generalvikar der deutschen Observanten-Kongregation der Augustinereremiten für die Vermittlung des antipelagianischen Augustinus nach Wittenberg von wesentlicher Bedeutung gewesen ist. Siehe dazu Lohse: Zum Wittenberger Augustinismus, S. 213–214; Wriedt: Staupitz und Augustin, S. 247; ders.: Die Anfänge, S. 32–33; ders.: Produktives Mißverständnis?, S. 214–215. So dürfte Karlstadts Hinwendung zu den augustinisch-antipelagianischen Schriften durch Staupitz’ Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis entscheidend motiviert worden sein. Vgl. Lohse: Zum Wittenberger Augustinismus, S. 215; Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 116, 119; Kruse: Universitätstheologie, S. 88. Zur Prägung dieser Schrift durch die antipelagianische Gnaden- und Prädestinationslehre siehe Wriedt: Staupitz und Augustin, S. 242. 52 Zwar dokumentiert auch die mittelalterliche Überlieferung die inhaltliche Nähe des ‚Frankfurter‘ zu dem Straßburger Prediger; diese wird jedoch weder als exklusiv wahrgenommen – die Sammelhandschriften überliefern ja noch eine ganze Reihe weiterer mystisch-aszetischer Texte – noch führt sie zu einer festen Verbindung: Den acht noch erhaltenen spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen des ‚Frankfurter‘ stehen 178 Tauler-Codices (vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 19) gegenüber. Während der Traktat im Spätmittelalter also im Sog mystischer Sammelhandschriften mittransportiert wurde, ohne jemals besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – ein Schicksal, das er mit vielen anderen anonymen Prosatexten teilt –, hob ihn erst Luthers veränderte Blickrichtung aus dieser Masse heraus. 53 Siehe oben, Kap. 1.2.2, S. 31.
2.1 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung
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Menschen und dessen daraus resultierende Gottesferne entscheidend gewesen sein. Die gleiche Tendenz zu einer negativen Anthropologie – welche hier allerdings mit gegenläufigen Aspekten wie der imago-Lehre in ein unauflösliches Spannungsverhältnis tritt – ist dem taulerischen Predigtkorpus durchgängig eingeschrieben.54 Dies lässt einmal mehr darauf schließen, dass Martin Luthers Entscheidung für den ‚Frankfurter‘ und den Straßburger als Zeugen der Wittenberger Theologie nicht auf einem generellen Faible für Texte der ‚deutschen Mystik‘, sondern auf bewusster Selektion basierte. Dass die Bedeutung, die Luther dem anonymen Traktat und ebenso dem Tauler-Korpus zugewiesen hat, aus seiner parallel erfolgenden Augustinus-Lektüre erwuchs – und nicht etwa umgekehrt55 –, geht aus Luthers Korrespondenz ebenso hervor56 wie aus der erstmaligen Präsentation der ‚neuen‘ Wittenberger Theologie in den frühen Thesenreihen.57 Die Umstellung des universitären Programms der Theologischen Fakultät Wittenberg trug diesem augustinischen Impuls dementsprechend Rechnung. Schon 1517 veröffentlichte Andreas Bodenstein gen. Karlstadt eine eigene Reihe von 151 Thesen, welche den augustinisch-antipelagianischen Impuls der Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata aufnahmen und weiterführten.58 Zudem las er über De spiritu et littera und
54 Siehe dazu auch Kap. 2.3.1, bes. S. 191–206. 55 Dies schließt jedoch nicht aus, dass Luther durch die Tauler-Predigten und den ‚Frankfurter‘ neue Anregungen – z. B. hinsichtlich seines Bußverständnisses – erfuhr. Siehe dazu oben, Anm. 2. 56 Auch wenn Luther sowohl Tauler als auch den ‚Frankfurter‘ in seinen Briefen lobend erwähnt und zur Lektüre dringend empfiehlt (siehe z. B. den weiter oben in diesem Kapitel zitierten Auszug aus dem Brief an Georg Spalatin vom 14. Dezember 1516), macht er doch deutlich, dass die legitimierende Autorität für die Konzeption der Wittenberger Theologie der Paulus-Interpret Augustinus ist. Siehe z. B. Luthers Brief an Johannes Lang vom 18. Mai 1517 (oben, S. 78–79). Bereits im Oktober 1516 – knapp zwei Monate vor der ersten Drucklegung des ‚Frankfurter‘ – zählt Luther in einem Brief an Georg Spalatin (als Leseempfehlung für Erasmus) jene antipelagianischen Schriften auf, die er für besonders wichtig erachtet: De spiritu et littera, De peccatorum meritis et remissione, Contra duas epistulas Pelagianorum und Contra Iulianum. Vgl. WA.B 1, S. 70 (Nr. 27), Z. 8–11. Wie ein Brief des Nikolaus von Amsdorff belegt, forcierte Luther auch die Augustinus-Lektüre seiner Universitätskollegen. So ließ er Amsdorff auf eigene Kosten eine gebundene Augustinus-Ausgabe zukommen (siehe dazu Kruse: Universitätstheologie, S. 83). 57 Siehe oben, S. 76–77 mit Anm. 28. Bereits die von Bartholomäus Bernhardi verfasste Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata, die auf Luthers Römerbrief-Vorlesung zurückgreift, zeichnet sich durch eine stark augustinisch-antipelagianische Tendenz aus. Vgl. z. B. Aland: Die theologischen Anfänge, S. 238–239. Zur vollen Entfaltung gelangt Luthers Auseinandersetzung mit dem antipelagianischen Augustinus dann in der Disputatio contra scholasticam theologiam (so Leppin: Martin Luther, S. 102). 58 Es handelt sich um die Thesenreihe De natura, lege et gratia contra scolasticos et usum communes vom 26. April 1517. Siehe dazu Kruse: Universitätstheologie, S. 89–94.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
ließ unmittelbar darauf die Drucklegung seines ausführlichen Kommentars folgen.59 Die im Vergleich zur Dominanz des Augustinus sekundäre Rolle Taulers und des ‚Frankfurter‘ zeigt sich auch darin, dass Luther das thematische Zentrum der ‚deutschen Mystik‘ – die naturhafte Gottesgegenwart im Innersten der menschlichen Seele als Möglichkeitsgrund der unio – nicht übernimmt, da sie dem augustinisch-paulinischen Gedanken einer dem Menschen ausschließlich von außen zugeeigneten Gerechtigkeit zuwiderläuft.60 Die Begeisterung Luthers für
59 Siehe Aland: Die theologischen Anfänge, S. 237; Köpf: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, S. 79; Lohse: Zum Wittenberger Augustinismus, S. 223–228; Gummelt: Andreas Bodenstein von Karlstadts Augustinvorlesung, bes. S. 77–78, 81–83. Der Druck, der mitsamt einer umfassenden Einführung in der Edition von Ernst Kähler (Karlstadt und Augustin) vorliegt, beinhaltet die ersten zwölf Kapitel der Augustinus-Schrift sowie Karlstadts Auslegung. Auch Tauler spielte im akademischen Kontext der Wittenberger Fakultät eine Rolle, dies jedoch nur in Form von Verweisen (vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 180–182). Zum eigenen Gegenstand der Lehre wurden Tauler und der ‚Frankfurter‘ – anders als Augustinus – nicht. 60 Dies betonen u. a. auch Moeller: Tauler und Luther, S. 164–165; Oberman: Simul gemitus et raptus, S. 58–59; Leppin: Martin Luther, S. 103. Vgl. zudem Bayer: Vita passiva, S. 101. Auf den ersten Blick scheint die Negation eines naturhaft gegebenen Innersten der Seele als Ort der Begegnung mit dem Göttlichen nicht mit Luthers inhaltlicher Kommentierung der Tauler-Predigten übereinzustimmen. So merkt er zu Predigt 1 in Johannes Langs Ausgabe des Augsburger Tauler-Drucks von 1508 (Vetter-Ausgabe: Predigt 1) an: „Unde totus iste sermo procedit ex theologia mystica, quae est sapientia experimentalis et non doctrinalis“ (WA 9, S. 98, Z. 20–21). Und zu Predigt 5 (Vetter-Ausgabe: Predigt 4) kommentiert er: „tria {Sensus, ratio, Mens vel apex mentis sive Syntheresis {Vide Gerson in mystica theologia“ (WA 9, S. 99, Z. 37–40). Aus diesen Glossen geht zweierlei hervor: 1. Luther ist die affektive Erfahrungsmystik Jean Gersons bekannt. 2. Er kennt und akzeptiert in diesem Zusammenhang die synderesis als höchste affektive Kraft des Menschen, die diesem die Willenseinigung mit Gott ermöglicht – eine Ansiedlung der synderesis im Intellekt lehnt Gerson ebenso ab wie eine Transformation des menschlichen Seins in das göttliche Sein (siehe dazu Grosse: Heilsungewissheit, bes. S. 54–75; Burger: Aedificatio, bes. S. 110–143). Allerdings sind zwei Einschränkungen zu machen: 1.) Nur ein einziges Mal versieht Luther eine Tauler-Predigt mit dem Epitheton ‚mystisch‘. 2.) In der umfangreichen Glosse zu Predigt V 1 macht er sehr deutlich, dass die mit der Geburt des verbum increatum verbundene mystische Theologie nur wenigen zugänglich ist. Ihr sei daher die theologia propria vorzuziehen: „Theologia autem propria de spirituali nativitate verbi incarnati habet unum necessarium et optimam partem“ (WA 9, S. 98, Z. 23–25). Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Luther der synderesis als irrtumsunfähigem, von der Erbsünde unberührtem Vermögen des Menschen zunächst noch keine Ablehnung entgegenbringt. So kommentiert er Predigt 52 (Vetter-Ausgabe: Predigt 44) folgendermaßen: „Quia si verbum dei, quod fecit (i. e. dominus) omnia, intimior est rebus caeteris quam ipse sibi, quanto magis intimior est rerum nobilissimae scilicet animae quam ipsa sibi. Et hinc venit, quod Syntheresin suam quilibet sentit ad optima deprecari. Sed et nullus potest alteri eam verbis tradere,
2.1 „nehst der Biblien und S. Augustino“ – eine Hinführung
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Tauler und den ‚Frankfurter‘ reduziert sich so gesehen auf Elemente, die zwar zum ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts gehören, aber nicht das Proprium der ‚deutschen Mystik‘ ausmachen. Wie aus den bisherigen Darlegungen bereits deutlich geworden sein dürfte, kann und will die vorliegende Studie keinen neuen Beitrag zu dem viel diskutierten und offenkundig unerschöpflichen Thema ‚Luther und die Mystik‘ leisten,61
maxime affectivam syntheresin“ (WA 9, S. 103, Z. 22–27). In Predigt 54 (Vetter-Ausgabe: Predigt 64) allerdings ersetzt Luther die Dreiheit sensus – ratio – mens bzw. apex mentis bzw. synderesis (s. o. seine Anmerkung zu Predigt 5 im Tauler-Druck) durch sensus – ratio – fides (vgl. WA 9, S. 103, Z. 39–41). Vgl. dazu u. a. auch Oberman: Simul gemitus et raptus, S. 32. Aufgrund dessen nimmt Ozment, der sich intensiv mit Luthers Haltung zur synderesis auseinandergesetzt hat, an, dass sich in den Tauler-Annotationen eine ähnliche Entwicklung wie in der Römerbrief-Vorlesung (Oktober 1515 bis September 1516) widerspiegelt, die durch eine zunehmend negative Haltung gegenüber der synderesis gekennzeichnet ist, welcher letztlich jede soteriologische Qualität abgesprochen wird. Da Luther sich noch im Dezember 1514 in einer Predigt positiv über die synderesis äußert, vermutet Ozment, dass die Anmerkung zu TaulerPredigt 52 zu Beginn des Jahres 1515 verfasst worden ist. Siehe Ozment: Homo spiritualis, bes. S. 186–197. Vgl. ferner Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, bes. S. 201–211. Der Beginn von Luthers Tauler-Kommentierung könnte also noch vor seiner intensiven Lektüre des antipelagianischen Augustinus liegen. Damit würde sie sich von den Tauler-Annotationen Karlstadts unterscheiden, die Hasse zufolge vornehmlich in den Jahren 1517 bis 1519 entstanden (ders.: Karlstadt und Tauler, S. 24) und damit bereits in seine Augustinus-Rezeption eingebunden sind. Dementsprechend hebt Hasse die enge Verbindung von Karlstadts Tauler- und seiner Augustinus-Lektüre hervor (vgl. ebd., S. 18, 24, 46, 76, 83, 86 und 196). Dass Luther Tauler dennoch nicht als Vertreter einer theologia mystica Gersonscher Prägung schätzt, sondern als Traditionszeugen für die augustinisch-paulinisch ausgerichtete Wittenberger Theologie in Anspruch nimmt, geht aus seinen begeisterten Äußerungen über den Straßburger Prediger in den Jahren 1516 und 1517 hervor. Sie fallen also gerade in jene Phase, als der antipelagianische Augustinus programmatisch in der akademischen Theologie der Universität Wittenberg zur Geltung gebracht wird. Dasselbe gilt erst recht für den ‚Frankfurter‘, der überhaupt erst im Zuge dieser Neuformierung der Wittenberger Theologie in Luthers Blickfeld gerät. 61 Dass es sich bei diesem Themenkomplex um „eine schier unendliche Geschichte“ handelt, bestätigt auch Wriedt: Martin Luther und die Mystik, S. 249. Aus der Vielzahl der Forschungsbeiträge zu diesem Thema seien nur die folgenden in der Reihenfolge ihres Erscheinens genannt: Vogelsang: Luther und die Mystik (1937); Hägglund: Luther und die Mystik (1967); Iserloh: Luther und die Mystik (1967) [vgl. auch ders.: Kirche, Kap. 6: ‚Luther und die Mystik‘ (1985)]; Oberman: Simul gemitus et raptus: Luther und die Mystik (1967); Haas: Luther und die Mystik (1986); Maurer: Luther und die Mystik (1997); Reichert: Martin Luther und die Mystik (1998); Wriedt: Martin Luther und die Mystik (2001); Bayer: Vita passiva. Luther und die Mystik (2005); Grosse: Der junge Luther (2007); Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers? (2007). Vannier (Luther et la ‚Theologia deutsch‘ [2006]) gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, auch wenn sie das Thema enger fasst. Ihr geht es jedoch nicht um das Spezifische des ‚Frankfurter‘; vielmehr betrachtet sie den Traktat als Kompendium der ‚rheinischen Mystik‘ (siehe oben, S. 71 mit Anm. 8). Einen konzisen – wenn auch inzwischen ergänzungsbedürftigen – Forschungsbericht,
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
auch wenn insbesondere neuere Forschungsarbeiten zeigen, dass diese Problematik trotz oder gerade wegen ihrer inhaltlichen Weite zu fruchtbaren Erkenntnissen bar jeglicher konfessionellen Ressentiments führen kann.62 Dennoch macht eine derartig unspezifische Fragestellung, die zumindest potenziell auf ein Schriftenkorpus von nahezu unüberschaubarem Umfang Anwendung findet, eine Reihe von abstrahierenden Vorannahmen notwendig,63 welche die unterschiedli-
der allerdings nur fünfzehn Jahre umfasst (1966–1981; Ausgangspunkt ist der Dritte Internationale Kongress für Lutherforschung in Järvenpää mit den oben erwähnten Referaten von Oberman, Iserloh und Hägglund), bietet Benrath: Luther und die Mystik. Ältere Literatur zu dieser Thematik findet sich bei Haas: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 403–404, Anm. 81. Eine kurze Rekapitulation neuerer Forschungsmeinungen bietet auch Grosse: Der junge Luther, S. 187–188. 62 Siehe z. B. die Studien von Grosse: Der junge Luther und die Mystik sowie von Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers? Beide Studien müssen allerdings von bestimmten Vorannahmen ausgehen, die von der jeweils spezifischen historischen und kulturellen Verortung der hinzugezogenen Texte absehen. So geht Grosse von einer relativ homogenen mystischen Theologie aus, als deren Repräsentanten er vor allem Bernhard von Clairvaux, Johannes Tauler und den ‚Frankfurter‘ sowie Jean Gerson heranzieht. Auch Hamm sieht von einer Differenzierung des Mystikbegriffs ab, welche die diskursive Vernetzung bestimmter Texte – und damit die Ein- und Ausschlussverfahren unterschiedlicher diskursiver Konstellationen – mit in die Analyse einbezieht. Stattdessen plädiert er für eine weite Definition des Terminus ‚Mystik‘, welche die verschiedenen mittelalterlichen Traditionen umfasst: „Wo von einem mystischen Gottesverhältnis des Menschen gesprochen wird, geht es immer um die persönliche, unmittelbare und ganzheitliche Erfahrung einer beseligenden Nähe Gottes, die ihr Ziel in einer innigen Vereinigung mit Gott findet“ (ebd., S. 243; vgl. dazu auch die folgende Anmerkung). Als Vertreter dieser allgemeinen mystischen Theologie schlägt er Schriften von Pseudo-Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux, Angela von Foligno, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Jan van Ruusbroec vor (vgl. ebd.). 63 Um eine solche Vorannahme handelt es sich etwa bei der Überzeugung, dass die gesamte katholische Überlieferung Mystik stets als cognitio Dei experimentalis definiert habe (vgl. Haas: Luther und die Mystik, S. 204), wodurch sich eine direkte Verbindungslinie zum Erfahrungsmoment in Luthers Theologie zu ergeben scheint. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um eine spezifische Ausformung mystischer Theologie, die z. B. einen Autor wie Meister Eckhart nicht erfasst. Denn der thüringische Dominikaner trennt ausdrücklich das Bewusstsein des Menschen vom Sein der Seele, in dem sich die Gottesgeburt vollzieht. Die unio bleibt für den Menschen somit unerfahrbar, es sei denn, dass Gott sein Wirken in der Seele gnadenhaft offenbart. Siehe dazu vor allem Predigt S 103 (DW IV/1) sowie Guerizoli: Die Verinnerlichung, bes. S. 150–152. Die starke Betonung des Erfahrungsmoments durch Martin Luther – „sola autem experientia facit theologum“ (WA.TR 1, S. 16 [Nr. 46], Z. 13) – trennt ihn damit von der Eckhart-Tradition. Viel näherliegend ist es, den Wittenberger stattdessen in der Tradition der Frömmigkeitstheologie des fünfzehnten Jahrhunderts zu verorten, die in Ablehnung einer Transformationsmystik eckhartischer Prägung die affektive Gotteserfahrung in den Vordergrund stellt, zumal Luther Jean Gerson als dem ‚einflussreichsten Wegbereiter‘ (Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, S. 136) dieser theologischen Richtung große Sympathie entgegenbringt: „Durch den Gersonem hatt Gott angefangen zu leuchten“ (WA.TR 5, S. 327 [Nr. 5711], Z. 13; siehe auch WA.TR 1, S. 303
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chen diskursiven Konstellationen, in welche die ‚mystischen‘ Texte jeweils eingebunden sind, weitgehend ignorieren. Was nämlich ist unter der Mystik zu verstehen? Alle Texte, in denen die Möglichkeit einer Gottunmittelbarkeit des Menschen im Diesseits diskutiert wird, was dann jede zeitliche und räumliche Begrenzung durchbrechen würde?64 Oder sind nur solche Autoren aus Antike und Mittelalter gemeint, die Luther nachweislich gekannt hat?65 Aber wie lässt sich dann sicherstellen, dass er sie tatsächlich als ‚mystische‘ Autoren wahrgenommen hat und ihn nicht ganz andere Aspekte ihres Schaffens interessierten?66 Und
[Nr. 645], Z. 10–17; WA.TR 2, S. 114 [Nr. 1492], Z. 1–3). Zum Begriff der Frömmigkeitstheologie und ihrem Einfluss auf die Reformation siehe Hamm: Was ist Frömmigkeitstheologie?; ders.: Hieronymus-Begeisterung, bes. S. 139–142; ders.: Wie innovativ war die Reformation?, bes. S. 490–491; siehe ferner Williams-Krapp: Praxis pietatis; Leppin: Von der Polarität zur Vereindeutigung. Dass Luther Gersons Konzeption einer theologia mystica gekannt hat, lässt sich eindeutig belegen. Fraglich aber ist, ob diese in seinen eigenen theologischen Entwurf integrierbar war. Siehe dazu auch oben, Anm. 60. 64 So ist es nicht unproblematisch, wenn zum Einstieg in das Thema ‚Luther und die Mystik‘ eine Mystikdefinition gewählt wird, die auf einem sehr viel später und in einem ganz anderen Kontext entstandenen Werk wie der 1656 erschienenen Summa Theologiae Mysticae des Philippus a Ss. Trinitate beruht. Siehe Maurer: Luther und die Mystik, S. 253–254; Oberman: Simul gemitus et raptus, S. 22. 65 Außer Tauler hat Luther unter anderem auch Bernhard von Clairvaux, Bonaventura und die Viktoriner gelesen. Zur Bedeutung Bernhards für Luther siehe Lohse: Luther und Bernhard von Clairvaux. Auch auf Pseudo-Dionysius Areopagita nimmt Luther des Öfteren Bezug, allerdings zumeist in negativer Hinsicht. Siehe dazu die folgende Anmerkung. Zur Aufnahme von Eckpunkten mystischer Lehre in Luthers eigenen Theologieentwurf siehe auch Grosse: Der junge Luther, bes. S. 198–212. Vgl. auch oben, Anm. 62. 66 Wriedt (Martin Luther und die Mystik, S. 270) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich der Reformator „zu keiner Zeit als mystischer Theologe bezeichnet“ hat. Einer spekulativen Mystik, welche die Menschwerdung Christi aus dem Blick verliert, steht Luther ohnehin ablehnend gegenüber – dies übrigens im Anschluss an eine Diskussion, die bereits im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts intensiv geführt wird und die auch im ‚Frankfurter‘ eine bedeutende Rolle spielt. Siehe dazu oben, Anm. 16 sowie Kap. 3.3.2.4. Deutlich zeigt sich Luthers Aversion z. B. bei seiner Bewertung Bonaventuras, die je nach diskursivem Zusammenhang sehr unterschiedlich ausfallen kann. Als Repräsentant einer spekulativen Theologie, die er in unmittelbarer Verbindung mit der verfehlten mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius sieht, verachtet Luther den Franziskaner (WA.TR 1, S. 302 [Nr. 644], Z. 30–35): „Speculativa scientia theologorum est simpliciter vana. Bonauenturam ea de re legi, aber er hett mich schir toll gemacht, quod cupiebam sentire unionem Dei cum anima mea (de qua nugatur) unione intellectus et voluntatis. Sunt mere fanatici spiritus. Hoc autem est vera speculativa, quae plus est practica: Crede in Christum et fac, quod debes. Sic mystica theologia Dionisii sunt merissimae nugae […].“ Ganz anders fällt Luthers Urteil aus, wenn er Bonaventura als einen jener alten Autoren in den Blick nimmt, die gegenüber einer leeren spekulativen Theologie die Bedeutung des Mensch gewordenen Christus hervorgehoben haben (WA 43, S. 581, Z. 11–13): „Bernardus valde dilexit incarnatio-
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
in welcher Weise hat Luther mystische Schriften überhaupt rezipiert? Adaptiert er charakteristische sprachliche Wendungen und Metaphern, integriert er einzelne Strukturelemente in sein Werk oder ist seine gesamte Theologie von einem ‚mystischen Gewebe‘67 durchdrungen? Und selbst wenn in den Schriften des Reformators Aspekte auftreten, die – wie auch immer beschaffenen –‚mystischen‘ Kontexten entnommen sind:68 Lassen sie sich in ihrem neuen sprachlichen und inhaltlichen Umfeld immer noch zu Recht als ‚mystisch‘ bezeichnen? Anders gefragt: Sind die mystischen Elemente tatsächlich so dominant, dass sie Luthers Denken einen ‚mystischen Grundzug‘ verleihen69 oder verhält es sich nicht vielmehr umgekehrt so, dass sie in einen theologischen Entwurf eingearbeitet werden, der ihnen einen ganz neuen Aussagegehalt verleiht? Die Reihe der Fragen ließe sich noch fortsetzen. Sie sind hier nur aufgeführt, um anzudeuten, mit welchen Schwierigkeiten sich eine derartig weitgefasste Problemstellung wie ‚Luther und die Mystik‘ konfrontiert sieht.70 Die vorliegende Arbeit geht daher einen anderen Weg. Wie in der Einführung bereits ausführlich dargestellt, wird sie in einer ersten Vergleichsperspektive Luthers Anregung aufnehmen, den ‚Frankfurter‘ als Traditionszeugen für eine augustinisch-antipelagianisch ausgerichtete Theologie wahrzunehmen.71 Dabei
nem Christi, item Bonaventura, quos duos maxime laudo propter illum articulum, de quo tam libenter et praeclare cogitant, et magna laetitia et pietate in se ipsis exercent.“ Zu dieser Fokussierung Luthers auf die menschliche Natur Christi und seiner strikten Ablehnung einer die humanitas Christi transzendierenden Aufstiegsmystik siehe auch Grosse: Der junge Luther, S. 213–217; Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 255 sowie S. 276–277. 67 So Oberman: Simul gemitus et raptus, S. 21. 68 In der programmatischen Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ (1520) etwa bedient sich Luther einer Terminologie, die den Hoheliedpredigten des Bernhard von Clairvaux entlehnt ist. Deren Metaphorik spielt auch in der ‚deutschen Mystik‘ des 14. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Luther schreibt (WA 7, S. 25, Z. 26–28): „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die ſeel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und ſelig, ſondernn voreynigt auch die ſeele mit Chriſto, als eyne brawt mit yhrem breudgam.“ Und einige Zeilen später fragt er (ebd., S. 26, Z. 4–7): „Jſt nu das nit ein frliche wirtſchafft, da der reyche, edle, frummer bredgam Chriſtus das arm vorachte bßes hrlein zur ehe nympt, und ſie entledigt von allem bell, ʒieret mit allen gtern?“ Vgl. dazu auch Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 247. Die Integration der Passagen in den Aussagenzusammenhang der Freiheitsschrift zeigt jedoch, dass Luther die traditionelle Terminologie und die altbewährten Bildmotive dazu nutzt, einem breiteren Publikum seine Neukonzeption der Rechtfertigung allein durch den Glauben vorzustellen. Zu wichtigen mystischen Motiven in Luthers Theologie siehe auch Wriedt: Martin Luther und die Mystik, S. 264–269. 69 Iserloh: Kirche, S. 89; Haas: Luther und die Mystik, S. 204. 70 Zu den methodischen Problemen des Themenkomplexes ‚Luther und die Mystik‘ siehe auch Wriedt: Martin Luther und die Mystik, S. 251–252. 71 Siehe Kap. 1.1, S. 9; Kap. 1.2.3, bes. S. 54.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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löst sie sich allerdings von den historisch bedingten, aus dem Entstehen der Wittenberger Theologie resultierenden Interpretamenten, die Luther von außen an den Traktat heranträgt. Stattdessen analysiert sie den ‚Frankfurter‘ innerhalb jenes diskursiven Textfeldes, das sich aus den Predigten und Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts konstituiert und verfolgt die hier stattfindenden Transformationsprozesse, die durch die zunehmende Entfernung von der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts zu einer – vielfach gebrochenen – Annäherung an augustinisch-antipelagianische Theologieentwürfe führen. Insofern sich diese diskursgeschichtlichen Umstrukturierungen im ‚Frankfurter‘ in einer besonderen Intensität niederschlagen, können sie plausibel machen, warum Martin Luther gerade diese Schrift in einem Atemzug mit Augustinus nennt, obwohl sie anders als andere mystische Prosatexte jegliche Nennung und Zitation des Kirchenvaters vermeidet.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ 2.2.1 Vorbemerkungen zur Augustinus-Rezeption in Mittelalter und früher Neuzeit Angesichts der Tatsache, dass „die theologische Luft des Spätmittelalters […] insgesamt ‚Augustin-erfüllt‘“72 war und „Augustin die überragende Kirchenväterautorität der scholastischen Theologie des zwölften Jahrhunderts bis zum Tridentinum und darüber hinaus“73 darstellte, kann es nicht das Anliegen dieser einführenden Bemerkungen sein, die mittelalterliche und frühneuzeitliche Rezeption des Kirchenvaters auch nur in gröbsten Umrissen darzustellen.74 Es seien jedoch
72 Wriedt: Staupitz und Augustin, S. 246. 73 Hamm: Hieronymus-Begeisterung, S. 134. Zu Augustinus als verbindlichem Garanten für theologisches Wissen im Rahmen der christlichen Orthodoxie siehe auch Wriedt: Produktives Missverständnis?, S. 213. 74 Tatsächlich harren viele Aspekte der Augustinus-Rezeption, auch aufgrund fehlender Editionen, noch einer detaillierten Erforschung. Vgl. dazu Saak: The Reception, bes. S. 369–371. Die Feststellung Kristellers aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „The history of Augustine’s ‚fortune‘ and influence has not yet been made the subject of an adequate comprehensive study“ (ders.: Augustine, S. 365) trifft allerdings nicht mehr zu. Denn auch wenn es angesichts der immer noch unüberschaubaren Vielfalt der Augustinus-Rezeption vollkommen ausgeschlossen ist, dieser in einer einzigen umfassenden Studie gerecht zu werden, so bietet der kürzlich erschienene dreibändige ‚Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine‘ (hg. Pollmann/Otten) als interdisziplinär angelegtes, enzyklopädieartiges Nachschlagewerk mit einer immensen Fülle von überblicksartigen Synthesen und Einzeleinträgen (zu Augustinus’ Werken, von ihm geprägten
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einige wenige – notwendigerweise ebenso schemenhaft wie punktuell bleibende – Aussagen zur Aufnahme und Tradierung der antipelagianisch ausgerichteten Theologie des Bischofs von Hippo gewagt, um von hier ausgehend zur augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ und in Auseinandersetzung damit zu den diskursiven Innovationen des ‚Frankfurter‘ fortzuschreiten. Anders als die zurückhaltende Rezeption der antipelagianischen Schriften im Mittelalter75 zunächst vermuten lässt, waren diese in den Manuskripten durchaus verbreitet. Jedenfalls können Werke wie De spiritu et littera, De natura et gratia oder De peccatorum meritis et remissione zwar nicht mit dem durchschlagenden Erfolg von De civitate Dei, den Confessiones oder De trinitate mithalten,76 in ihrer
Themen und seinen Rezipienten) nicht nur einen überaus informativen Einblick in die jahrhundertelange Wirkmacht der augustinischen Schriften, sondern auch eine Vielfalt von Anregungen für weiterführende Einzelstudien. Von den in jüngerer Zeit erschienenen Forschungsbeiträgen zur Augustinus-Rezeption, welche die Bedeutung des Kirchenvaters aus unterschiedlichen Perspektiven erhellen, seien hier nur die beiden Monographien von Eric Leland Saak zum augustinischen Selbstverständnis im Augustinereremitenorden (High Way to Heaven, Creating Augustine) sowie der (zweibändige) Sammelband ‚Augustinus: Spuren und Spiegelungen seines Denkens‘ (hg. Fischer) genannt. 75 Siehe etwa Leppin: Martin Luther, S. 95. 76 Diese drei rechnet Saak zur augustinischen Standardliteratur des Mittelalters. Siehe The Reception, S. 378. In der Tat scheinen sie zu den gängigen Empfehlungen literarisch aktiver Augustinus-Rezipienten inner- und außerhalb des Augustinereremitenordens zu gehören. Eine solche Reverenz findet sich z. B. in der Schlussbemerkung des Augustinereremiten Bartholomäus von Urbino zu dem von ihm vollendeten Milleloquium Sancti Augustini (siehe Sieben: Das Milleloquium veritatis, S. 374). Auch die von Unterreitmeier edierte, ebenfalls von einem Augustinereremiten verfasste spätmittelalterliche Augustinuspredigt hebt – neben den Retractationes – diese drei Schriften aus dem umfassend gewürdigten Schaffen des Kirchenvaters hervor, da er in ihnen „omnes alios doctores“ übertroffen habe (vgl. Unterreitmeier: ‚Quasi vas auri solidum‘, S. 136). Sie gehören ferner zu den wenigen Augustiniana, die der Augustinereremit und Frömmigkeitstheologe Johannes von Paltz selbst gelesen haben dürfte, während die antipelagianischen Werke bei ihm kein Interesse fanden (siehe Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, S. 316–317). Gleiches gilt für den Humanisten Marsilio Ficino (vgl. Hamm: Hieronymus-Begeisterung, S. 138, Anm. 20 [mit Bezug auf Kristeller]). Auch Francesco Petrarca schätzte insbesondere De civitate Dei und die Confessiones (vgl. Gall: Augustinus, S. 302). Zudem galt ihm De trinitate als ein divinum opus (ebd., Anm. 3). Hinsichtlich der Rezeption von Augustinus’ Confessiones in Petrarcas Brief über den Aufstieg auf den Mont Ventoux (Fam. IV 1) weist Gall darauf hin, dass es dem Italiener nicht um den auf Gottes Gnade angewiesenen Sünder aus Confessiones I–IX gehe, sondern um den neuplatonisch geprägten Augustinus aus Confessiones X und den Soliloquia (vgl. ebd., S. 319, 320). Die selektive Lektüre Petrarcas zeigt exemplarisch, dass es nicht nur darauf ankommt, welche augustinischen Werke ein Autor liest, sondern auch darauf, wie er sie liest. Aus der Bevorzugung der genannten Schriften allein lässt sich daher nicht per se eine Zurückdrängung des antipelagianisch ausgerichteten Augustinus im Mittelalter ableiten. Denn auch dezidiert antipelagianisch ausgerichtete Augustinus-Rezipienten wie der Augustiner-
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Häufigkeit aber durchaus philosophischen Schriften wie De ordine oder De vita beata das Wasser reichen.77 Außerdem beinhaltet auch die kaum überschaubare Menge an Pseudo-Augustiniana vereinzelt solche mit antipelagianischer Ausrichtung, die sich einer weiten handschriftlichen Tradierung erfreuten. Zu ihnen gehört zum Beispiel De praedestinatione et gratia.78 Gerade mit Bezug auf diese Schrift ist allerdings eine – in Hinblick auf die mittelalterliche Rezeption des authentischen Augustinus signifikante – Einschränkung zu machen. Denn ungeachtet ihres antipelagianischen Gehalts bietet sie zugleich ein Beispiel für die Abschwächung der augustinischen Gnadenlehre, insofern sie den Anfang des guten Willens im Menschen verortet und diesem daher einen moralischen Freiraum zugesteht.79 Paradoxerweise gibt so gerade die Popularität von De praedes-
eremit Gregor von Rimini und der Weltpriester Thomas Bradwardine bringen ihnen hohe Wertschätzung entgegen und zitieren sie teilweise häufiger als die antipelagianischen Schriften (für genauere Informationen siehe Saak: Creating Augustine, S. 33–34 [zu Gregor] und S. 43–46 [zu Bradwardine]). 77 Hierbei handelt es sich allerdings um eine allgemeine Beobachtung, die aus der Sichtung der Verzeichnisse zur handschriftlichen Überlieferung des Augustinus (hg. Oberleitner u. a.) gewonnen wurde und regionale wie zeitliche Besonderheiten außer Acht lässt. Exemplarisch verwiesen sei auf die Überlieferung der genannten Schriften im italienischen Raum (Bd. I/1). Hier finden sich 21 Handschriften mit De spiritu et littera (ebd., S. 175), 22 mit De natura et gratia (ebd., S. 126–127) und 23 mit De peccatorum meritis et remissione (ebd., S. 139–140; hinzu treten vier Exzerpt-Handschriften). Im Vergleich dazu findet sich De ordine in 19 (ebd., S. 132–133) und De vita beata in 30 Handschriften (ebd., S. 191–192). Weitaus häufiger sind De civitate Dei mit 105 Handschriften (ebd., S. 32–36; hinzu treten 13 Exzerpt-Handschriften), die Confessiones mit 81 Handschriften (ebd., S. 38–41) und De trinitate mit 72 Handschriften (ebd., S. 177–180) vertreten. In Großbritannien und Irland (Bd. II/1) sind die genannten antipelagianischen Schriften in ähnlicher Dichte überliefert (De spiritu et littera: 19 Hss.; De natura et gratia: 24 Hss.; De peccatorum meritis et remissione: 17 Hss.), während ihre Verbreitung im Raum der Bundesrepublik Deutschland (in den Grenzen bis 1990) und Westberlins (Bd. V/1) geringer ist (De spiritu et littera: 12 Hss.; De natura et gratia: 4 Hss.; De peccatorum meritis et remissione: 8 Hss.). Welch beeindruckende Ausmaße eine Sammlung von Augustiniana in einer gut ausgestatteten Klosterbibliothek erreichen konnte, stellt Saak hinsichtlich des Augustinereremitenklosters in Siena dar, aus dem sich ein Bestandsverzeichnis von 1360 erhalten hat. Hier sind unter den authentischen Schriften des Augustinus dreizehn antipelagianische präsent. Vgl. Creating Augustine, S. 25–29. 78 Zumkeller führt insgesamt 94 Textzeugen auf. Vgl. Die pseudoaugustinische Schrift ‚De praedestinatione et gratia‘, S. 552–554 sowie die Ergänzungen und Korrekturen auf S. 563. Portalié nennt als Pseudo-Augustiniana „contre les pélagiens“ ferner das Hypomnesticon contra pelagianos et cælestianos sowie De prædestinatione libellus (Art. ‚Augustin [Saint]‘, Sp. 2307–2308). Siehe zu den Pseudo-Augustiniana außer Portalié auch de Kroon: Pseudo-Augustin sowie die Zusammenstellung van Bavels: Répertoire, S. 379–397, Nr. 2369–2479. 79 Siehe dazu Zumkeller: Die pseudoaugustinische Schrift, S. 546, 551, 558 und 559.
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tinatione et gratia einen Hinweis darauf, dass sich die radikale Doktrin des späten Augustinus im Mittelalter nicht durchsetzen konnte.80 So drückt die Integration der antipelagianischen Werke in den Kontext monastischer Schriftkultur zwar den Respekt vor dem Schaffen des Kirchenvaters und das Bemühen um die Bewahrung seines vollständigen Œuvres aus,81 weist aber weder zwangsläufig auf eine breite Tradierung der strikt gnadentheologischen Schriften außerhalb des begrenzten klösterlichen Raumes noch auf eine intensive Adaptation des Doctor gratiae in den unterschiedlichen Bereichen von Theologie und Frömmigkeit hin. Signifikanterweise finden sich im ‚Gesamtkatalog der Wiegendrucke‘ trotz der Fülle gedruckter (echter und unechter) Augustiniana nur vereinzelt antipelagianische Schriften.82 Erst in der Reformationszeit wird sich diese Anzahl erhöhen.83 Bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein handelt es sich bei der Mehrzahl der unter Augustinus’ Namen gedruckten Schriften um – bereits in der handschriftli-
80 Ebenfalls bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Schrift auch Interesse bei ganz und gar nicht antipelagianisch ausgerichteten Theologen fand. So beinhalten die Coelifodina und das Supplementum Coelifodinae des Johannes von Paltz Exzerpte aus De praedestinatione et gratia – und zwar unter dem Titel De libero arbitrio als Schrift des Augustinus. Siehe dazu Zumkeller: Die pseudoaugustinische Schrift, S. 561. 81 Dementsprechend erfolgt die Überlieferung der antipelagianischen Werke zumeist im Kontext von Sammelhandschriften, die noch zahlreiche weitere Werke des Augustinus enthalten. Deutlich erkennbar ist dieses Bestreben zur Anlage vollständiger Augustiniana-Zusammenstellungen z. B. bei der Aufnahme des kaum handschriftlich verbreiteten und in der frühen Drucktradition unbekannten Opus imperfectum contra Iulianum in zisterziensische oder von den Zisterziensern inspirierte Sammelcodices augustinischer Schriften. Vgl. Zelzer: Das augustinische Opus imperfectum, S. 799, 804. 82 Die Sammeldrucke augustinischer Werke enthalten punktuell auch antipelagianische Schriften. Siehe etwa GW, Nr. 2862 (Krakau um 1475; enthält De correptione et gratia und De praedestinatione sanctorum). Unter den Einzelausgaben augustinischer Schriften ist nur ein Eintrag zu finden. Es handelt sich um eine Ausgabe von De spiritu et littera, gedruckt um 1470 in Köln (GW, Nr. 2924; dem Druck hinzugefügt ist eine Schrift des Thomas von Aquin). Man vergleiche dagegen die Vielfalt an Einträgen für das Standardwerk De civitate Dei, das vor allem in Italien zahlreiche Auflagen erfuhr, aber auch in Straßburg (nach 1468, Nr. 2883), Mainz (1473, Nr. 2884), Basel (1479, Nr. 2885; 1489, Nr. 2887; 1490, Nr. 2888), Löwen (1488, Nr. 2886) und Freiburg (1494, Nr. 2890) gedruckt wurde. 83 So entstanden allein im deutschen Sprachraum zwischen 1527 und 1533 mindestens drei lateinische Ausgaben von De natura et gratia (VD 16: A 4223, A 4224, ZV 894). Die für Martin Luther und Andreas Bodenstein gen. Karlstadt so wichtige Schrift De spiritu et littera erschien im deutschen Sprachbereich zwischen 1527 und 1545 in mindestens fünf Einzeldrucken (VD 16: A 4239, ZV 882, A 4240, A 4241, A 4242). Hinzu trat die Kapitel 1–12 umfassende, mit Karlstadts Kommentar versehene Ausgabe Wittenberg 1519 (VD 16: A 4237). Zudem erschienen De natura et gratia und De spiritu et littera auch in Kombination, so in Nürnberg 1524 (VD 16: ZV 24786; A 4222/4238).
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chen Tradierung beliebte – Pseudo-Augustiniana, die weit von der antipelagianischen Theologie des späten Augustinus entfernt sind.84 Zu der bedeutenden Reihe vermeintlich augustinischer Werke, die ‚pelagianisches‘ Gedankengut enthalten,85 gehört z. B. De vita christiana, eine Schrift, deren tatsächliche Urheberschaft im historischen Dunkel liegt, die aber wohl bereits von Augustinus, Hieronymus und dem Konzil von Diospolis Pelagius zugeschrieben wurde.86 Wie in der handschriftlichen Überlieferung wird sie auch im Druck weiterhin als Werk des Augustinus deklariert87 – ein aussagekräftiges Beispiel dafür, welch dauerhafte Anziehungskraft ein ‚pelagianischer‘ Augustinus bis in die Reformationsperiode hinein besaß.88 Davon legen auch jene drei Texte Zeugnis ab, die bis in die frühe Neuzeit hinein eine Spitzenposition unter den Pseudo-Augustiniana einnahmen. Es handelt sich um die von Johannes von Fécamp beeinflussten Erbauungsschriften Manuale, Soliloquia und Meditationes,89 die sich noch im sechzehnten und 84 Vgl. Hamm: Hieronymus-Begeisterung, S. 138. 85 Der Begriff ‚pelagianisch‘ ist hier in zweifacher Hinsicht zu verstehen. In historischer Perspektive bezeichnet er Werke, die aus dem Umfeld des Pelagius stammen oder von dessen Zeitgenossen als ‚pelagianisch‘ diskreditiert werden. In theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive handelt es sich um eine bestimmte Deutung des Gott-Mensch-Verhältnisses, die ungeachtet der Sündenverhaftetheit des Menschen auf dessen natürlichen Gottesbezug vertraut und ihm die Möglichkeit einer freien Entscheidung für ein verdienstliches, dem Willen Gottes entsprechendes Dasein zugesteht. Siehe dazu auch die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. Die Anführungsstriche sollen darauf hinweisen, dass ‚pelagianisch‘ hier und im Folgenden nicht als Bezeichnung für eine eindeutige Häresie, sondern vielmehr als historischer Kampfbegriff verstanden wird, dessen Aktualisierung und konkrete inhaltliche Füllung von der jeweiligen Frontstellung in den theologischen Debatten abhängt. 86 Siehe dazu die Argumentation von Evans: Pelagius, bes. S. 75, 78–79, 95. 87 Evans zufolge wird De vita christiana in der handschriftlichen Überlieferung mit zwei Ausnahmen stets Augustinus zugewiesen. Vgl. ders.: Pelagius, S. 73. Die vom VD 16 aufgeführten Drucke der Schrift enthalten die Zuschreibung jeweils im Titel. Siehe dazu die Leipziger Drucke von 1505 (A 4315), 1518 (A 4316), 1520 (A 4317; ZV 25643) und 1539 (A 4318). 88 Dieser ‚pelagianische‘ Augustinus ist dabei nicht weniger durch das augustinische Schaffen legitimiert als der ‚antipelagianische‘. Die Pseudo-Augustiniana formulieren vielmehr Aspekte aus, die im spannungsreichen Œuvre des Kirchenvaters angelegt sind und vereindeutigen diese unter Ausklammerung der spätaugustinischen Gnadenlehre. 89 Vgl. Ruh: Art. ‚Augustinus‘, Sp. 533–535; de Kroon: Pseudo-Augustin, S. 514, 524; Weigand: Wissen, S. 194. Bei den Soliloquia handelt es sich um die Soliloquia animae ad deum (Incipit: Agnoscam te), nicht um die echt-augustinischen Soliloquia. Siehe zu dieser zusammengehörenden Gruppe von Schriften auch Brecht: Der mittelalterliche (Pseudo-)Augustinismus, S. 54–64. In folgenden im GW aufgeführten Sammeldrucken der Opuscula des Augustinus stehen die drei Werke zusammen: Venedig 1483 (Nr. 2863), Venedig 1484 (Nr. 2864), Straßburg 1489 (Nr. 2865), Venedig 1491 (Nr. 2866) und Straßburg 1491 (Nr. 2868). Bei dem Straßburger Druck von 1489 handelt es sich um die von Martin Flach besorgten Aurelii Augustini opuscula plurima, die Martin Luther 1509 mit Anmerkungen versehen hat (siehe dazu auch Kap. 2.1, Anm. 34), ohne jedoch von
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siebzehnten Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten.90 Gleiches gilt für eine weitere Erfolgsschrift, nämlich das pseudo-augustinische Speculum peccatoris, welches in den Handschriften zwar überwiegend Augustinus, daneben aber auch anderen kirchlichen Autoritäten wie Bernhard von Clairvaux oder Gregorius Magnus zugewiesen wird.91 Freilich war die Unterdrückung der augustinischen Gnadenlehre nie absolut, zumal man diese auf dem Konzil von Orange (529 n. Chr.) in einer gemäßigten Form als rechtgläubig anerkannt hatte.92 Vertreter radikaler augustinischer Positionen konnten sich in der Folgezeit jedoch nicht durchsetzen.93 Kirchendokumente wie das Dekret Cum inter cetera des Basler Konzils machen in diesem Zusammenhang deutlich, dass die ‚heiligen Lehrer‘ zwar überaus schätzenswert sind, ihre Rezeption und Interpretation jedoch der Tradition entsprechen müssen.94 Zudem gerieten die Beschlüsse des Konzils von Orange zunehmend in Vergessenheit,95 so dass es spätmittelalterlichen Theologen wie dem von Martin Luther zum Gegner erklärten
diesen drei Pseudo-Augustiniana erkennbare Notiz zu nehmen. Vgl. dazu Brecht: Der mittelalterliche (Pseudo-)Augustinismus, S. 56–57. In der von Luther so begeistert aufgenommenen Amerbach-Ausgabe (vgl. Kap. 2.1, Anm. 35) fehlen die drei Pseudo-Augustiniana zwar auch nicht. Hier finden sie sich aber erst in Band 10, der (ebenso wie Band 11) jene Schriften enthält, die Augustinus in seinen Retractationes nicht erwähnt und denen die damaligen Editoren daher mit Misstrauen begegneten. 90 Siehe dazu die Einträge im VD 16 und VD 17 sowie die Ausführungen in Brecht: Der mittelalterliche (Pseudo-)Augustinismus, S. 54–64. Brecht zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass das frühneuzeitliche Interesse an den Schriften sowohl den katholischen als auch den evangelischen Bereich umfasste. Im sechzehnten Jahrhundert wurden die Schriften im lateinischen Original mehrfach gemeinsam gedruckt, und zwar in Köln 1562 (VD 16: A 4280/4289/4305), 1575 (VD 16: A 4282/4291/4307), 1584 (VD 16: A 4283/4292/4308), 1594 (VD 16: A 4284/4293/4309) und 1598 (VD 16: A 4285/4294/4310) sowie in Dillingen 1570 (VD 16: ZV 878) und 1571 (VD 16: A 4281/4290/ 4306). Daneben gibt es lateinische Drucke (z. T. in Zusammenstellung mit Schriften anderer Autoren) der Soliloquia (Köln 1530, VD 16: ZV 888; Breslau 1541, VD 16: ZV 2866), des Manuale (Köln 1506, VD 16: A 4278; Köln 1507, VD 16: A 4279; Köln 1531, VD 16: ZV 890) und der Meditationes (Köln 1530, VD 16: ZV 887; Bremen 1585, VD 16: ZV 906). Zu den deutschen Drucken siehe unten, Anm. 125. 91 Siehe dazu Roth: Sündenspiegel, S. 46–47. Zur volkssprachlichen Überlieferung vgl. die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel. 92 Vgl. Sieben: Augustinus-Rezeption, S. 168–169. 93 Dies gilt beispielsweise für den Initiator des Prädestinationsstreits im 9. Jahrhundert, Gottschalk von Orbais, oder für die universitären Vertreter der schola Augustiniana moderna. Siehe dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel mit den Anmerkungen 101–104. 94 Vgl. Sieben: Augustinus-Rezeption, S. 183. 95 Vgl. Zumkeller: Die pseudoaugustinische Schrift, S. 562. Gabriel Biel etwa waren die entsprechenden Canones unbekannt. Siehe dazu Metz: Gabriel Biel, S. 396.
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Tübinger Professor Gabriel Biel möglich war, den Primat des freien Willens vor der Gnade zu lehren,96 ohne mit der geltenden Kirchenlehre in Konflikt zu geraten. So nimmt es kaum wunder, dass die Rezeption der antipelagianischen Werke im – insgesamt tiefgreifend von Augustinus geprägten97 – universitären Bereich nur verhalten erfolgte,98 auch wenn die gnadentheologischen Schriften hier ebenso wie in den klosterinternen Bibliotheken durchaus zugänglich waren.99 Dennoch gilt: Wenn Augustinus in den akademischen Diskussionen als rigider Gnadenlehrer, der keinerlei eigenständige Willensbewegung des Menschen zum Seelenheil zulässt und stattdessen seine vollständige Abhängigkeit von der unverdient geschenkten (oder aber verdientermaßen vorenthaltenen) göttlichen Gnade betont, überhaupt in den Blick tritt, dann stets in abschwächender, relativierender Form – etwa durch den Hinweis darauf, dass der Kampf gegen den Erzketzer Pelagius den Kirchenvater zu einer ,überschwänglichen‘ bzw. ‚exzessiven‘ Redeweise oder zumindest zu einem spezifischen modus loquendi veranlasst habe, der damals zwar angemessen gewesen, inzwischen jedoch obsolet sei.100 Eine spätmittelalterliche Ausnahme innerhalb dieses – freilich auch in den vorausgehenden Jahrhunderten punktuell durchbrochenen101 – Konsenses mit-
96 Biel erkennt dem Menschen die Möglichkeit zu, innerhalb der von Gott festgelegten Heilsordnung (potentia dei ordinata) die erste Gnade aus eigenen Kräften zu verdienen (im Sinne eines Billigkeitsverdienstes oder meritum de congruo) und nach deren Verleihung gemäß einem Würdigkeitsverdienst (meritum de condigno) zum ‚Erwerb‘ der ewigen Seligkeit voranzuschreiten. Diese Verdienstlehre setzt voraus, dass der Mensch sich in seinem Naturzustand auch nach dem Sündenfall Gott in freier Willensentscheidung zuwenden und diesen über alles lieben kann. Siehe dazu Metz: Gabriel Biel, S. 395–398. Vgl. ferner die Ausführungen in Kap. 2.3.4. 97 Zur Präsenz des Augustinus im universitären Bereich siehe die chronologisch geordneten Überblicke von Köpf: Augustin; Leppin: Augustinismus; Köpf: Aspekte (in letzterem Artikel S. 608–613). Wie die Beiträge zeigen, stand die akademische Augustinus-Rezeption in harter Konkurrenz zu anderen Wissenssystemen, insbesondere der Aristoteles-Rezeption. 98 Zur Abneigung spätmittelalterlicher Theologen gegenüber der antipelagianisch geprägten Gnadenlehre siehe z. B. Saak: Creating Augustine, S. 38–39. 99 Der Bibliothekskatalog der Sorbonne von ca. 1275 führt beispielsweise 149 Augustiniana (darunter auch Exzerpte und pseudo-augustinische Schriften) auf, zu denen auch antipelagianische Werke wie Contra Iulianum und De natura et gratia gehören. Siehe Saak: Creating Augustine, S. 31; Rouse/Rouse: Authentic Witnesses, S. 399, 401 (zur frühen Bibliothek der Sorbonne siehe ebd., S. 341–408 mit einem Auszug des Katalogs auf S. 399–408). 100 Vgl. Oberman: Werden und Wertung, S. 133–134. Siehe auch Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 63; Feld: Die theologischen Hauptthemen, bes. S. 239, 246–247; Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, S. 319; ders.: Hieronymus-Begeisterung, S. 137. Freilich bestanden zwischen den einzelnen theologischen Schulen Unterschiede hinsichtlich der Bewertung des antipelagianischen Augustinus, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. 101 So im karolingischen Prädestinationsstreit des neunten Jahrhunderts, welcher der Gründung der ersten Universitäten allerdings lange vorausliegt. Zu den Theologen, die für Gottschalk von
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telalterlicher Theologie stellte die schola Augustiniana moderna des vierzehnten Jahrhunderts dar,102 deren Vertreter – vorrangig ist hier Gregor von Rimini zu nennen – in erster Linie, aber nicht ausschließlich dem Orden der Augustinereremiten angehörten.103 In prononcierter Hinwendung zu den Quellen bemühten sie sich darum, den antipelagianischen Augustinus erneut zur Geltung zu bringen und so gegen die pelagiani moderni Stellung zu beziehen.104
Orbais – und damit für die Lehre von der ‚doppelten Prädestination‘ – Partei ergriffen, gehört zum Beispiel der Abt der Benediktinerabtei Ferrières Lupus Servatus. Vgl. Zelzer: Das augustinische Opus imperfectum, S. 801–802. Zu ihnen zählt auch Florus von Lyon, der für seinen literarischen Kampf gegen die Gottschalk-Gegner eine Exzerptsammlung aus diversen antipelagianischen Schriften des Kirchenvaters zusammenstellte. Vgl. Zechiel-Eckes: Augustinus-Rezeption, S. 32– 43. 102 Neben dem von Damasus Trapp geprägten Terminus schola Augustiniana moderna existieren zur Bezeichnung des mittelalterlichen Augustinismus die Konzepte einer ‚Augustinerschule‘ (Adolar Zumkeller) und einer ‚Augustinrenaissance‘ (Heiko Augustinus Oberman). Diese historiographischen Modelle sind allerdings nicht miteinander deckungsgleich. Vgl. dazu Saak: The Reception, S. 373–374; ders.: Creating Augustine, S. 23–24. Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede kann in diesem Zusammenhang ebenso wenig eingegangen werden wie auf die mit dem Begriff ‚Augustinismus‘ zusammenhängenden Probleme. Vgl. dazu aber die ausführlichen Diskussionsbeiträge in Saak: High Way, Appendix A, bes. S. 683–691 sowie in ders.: Creating Augustine, S. 1–21. Siehe ferner Saaks auf einem historischen Textverständnis basierende Definition der Termini ‚Augustinismus‘, ‚Spätmittelalterlicher Augustinismus‘ und ‚augustinisch‘ in ders.: Creating Augustine, S. 222–228, bes. S. 225–226. Der Begriff schola Augustiniana moderna findet in der vorliegenden Studie Verwendung als Bezeichnung für jene vorwiegend im Orden der Augustinereremiten beheimatete Gruppe von Theologen, die in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in zuvor unbekannter Weise versuchen, „Augustin nicht mehr nur als einen der vier Kirchenlehrer, sondern als qualifizierten Interpreten des Evangeliums zur Geltung kommen zu lassen“, Oberman: ‚Tuus sum‘, S. 349; ders.: Werden und Wertung, S. 82. 103 Aus dem Ordo Fratrum Eremitarum Sancti Augustini sind u. a. noch Hugolin von Orvieto (vgl. Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 26–34), Johannes Hiltalingen von Basel (vgl. ebd., S. 38–39) und Johannes Klenkok (vgl. ebd., S. 34–38) zu nennen. Für eine tabellarische Übersicht über die mittelalterlichen Augustinertheologen (jedoch im weiteren Sinne der Lehrtradition des Augustinereremitenordens, die über die antipelagianische Ausrichtung der schola Augustiniana moderna hinausweist) siehe Zumkeller: Die Augustinerschule, S. 174–176. Eine umfassende Darstellung des Einflusses Gregors von Rimini auf die schola Augustiniana moderna findet sich bei Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 25–63. Nicht dem Augustinerorden zugehörig war der englische Theologe Thomas Bradwardine, der in seinem Hauptwerk, der Causa Dei, ebenfalls einen strikten Augustinismus vortrug, der sich auf die antipelagianischen Schriften gründete. Siehe etwa Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 22–24; Oberman: Werden und Wertung, S. 83–88. 104 Um Gregor von Rimini in seinem Sentenzenkommentar zu Wort kommen zu lassen (lib. II, dist. 26–28, q. 1, a. 2 De errore Pelagiano modernorum; hg. Trapp/Marcolino, S. 59, Z. 32–35): „Certe ab hoc [der Bestimmung der Selbstmächtigkeit des Menschen durch Pelagius] non discordant qui dicunt quod per liberum arbitrium vel vires naturales, quas constat nos a deo habere, sufficimus absque alio auxilio recte velle et agere, nisi forte in hoc, quod non dicunt vires nostras
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Allerdings handelte es sich hierbei um ein zeitlich begrenztes Phänomen von nur geringer Ausstrahlungskraft, das sich auch innerhalb des Augustinereremitenordens nicht zu etablieren vermochte.105 So weisen weder die zeitgleich zu Gregors Sentenzenkommentar vollendeten Collectanea Sancti Augustini Jordans von Quedlinburg noch das überaus gelehrte Milleloquium Sancti Augustini des Bartholomäus von Urbino106 jene dezidiert antipelagianische Signatur auf, die Gregors Lehre kennzeichnet.107 Mit den zuletzt genannten Werken ist der Bereich der Universitätstheologie im engeren Sinne bereits verlassen. Vielmehr gehören beide Textzusammenstellungen – wie die neueste Studie von Saak zeigt108 – in das Umfeld jener verstärkten Hinwendung zu Augustinus, die sich im Orden der Augustinereremiten bereits seit den 1320er und 1330er Jahren, also noch vor der Entstehung der
iuvari auxilio gratiae, quod dixit Pelagius. Et in hoc peius errant ipsi quam ipse.“ Dabei sind allerdings auch innerhalb der schola Augustiniana moderna deutliche Unterschiede erkennbar: So schließt sich der Augustinertheologe Johannes Hiltalingen von Basel zwar grundsätzlich der Gnadenlehre des späten Augustinus – und damit auch den rigoristischen Positionen des Gregor von Rimini und Hugolin von Orvieto – an. Dies zeigt sich etwa bei seiner Ablehnung eines alle Menschen umfassenden göttlichen Heilswillens und der Hervorhebung der gratia praedestinationis als einer unabdingbaren Voraussetzung für das ewige Seelenheil (vgl. Zumkeller: Der Augustinertheologe, S. 81–98). Zugleich verzichtet er jedoch auf eine Frontstellung gegen die pelagiani moderni (vgl. ebd., S. 161) und beurteilt die Stellung des gefallenen Menschen vor Gott weniger pessimistisch als Gregor (vgl. ebd., S. 70–71). So erkennt er zum Beispiel in Grenzen eine Verdienstmöglichkeit des Menschen an (vgl. ebd., S. 133–134, 161). 105 Vgl. Saak: High Way, S. 687; ders.: Creating Augustine, S. 14. Martin Luther selbst macht implizit auf dieses Phänomen aufmerksam, wenn er in einem Brief an Spalatin vom 19. Oktober 1516 erklärt, dass er Augustinus – gemeint ist der antipelagianische Augustinus – erst in dessen eigenen Schriften, nicht aber durch seine Zugehörigkeit zum Orden der Augustinereremiten kennengelernt habe. Siehe WA.B 1, S. 70, Z. 19–21 (Nr. 27): „Non quod professionis meae studio ad b. Augustinum probandum trahar, qui apud me, antequam in libros eius incidissem, ne tantillum quidem favoris habuit.“ Siehe dazu auch Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, S. 313–316, 319–322. 106 Nach Saak hat dieses umfangreiche Augustinus-Kompendium vermutlich Augustinus von Ancona begonnen und Bartholomäus von Urbino vollendet. Siehe Creating Augustine, S. 50, 55, 57, 137, 219. 107 Zum Milleloquium vgl. Saak: The Reception, S. 381–383. Zur Qualität des Milleloquium siehe auch knapp Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 121–122 sowie ausführlich Sieben: Das Milleloquium veritatis. In den Collectanea verbindet Jordan u. a. seine Vita Augustini mit dem Kirchenvater zugeschriebenen Predigten und bietet damit ein frühes Beispiel für den literarischen Typus ‚Augustinusbuch‘, der im fünfzehnten Jahrhundert Wissen über Augustinus vermittelte. Siehe dazu die Darlegungen weiter unten in diesem Kapitel. 108 Eric Leland Saak: Creating Augustine. Interpreting Augustine and Augustinianism in the Later Middle Ages. Oxford 2012.
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dezidiert antipelagianischen Tendenzen, bemerkbar machte.109 Dieses Interesse erwuchs demzufolge nicht aus den quellenkritischen Ambitionen der schola Augustiniana moderna, sondern aus den Bemühungen der Augustinereremiten um die Entwicklung und Etablierung der religio Augustini als einer Lebensform, die zur Legitimierung des Ordens ebenso wie zur Festigung seines Selbstverständnisses als Nachfolger des Augustinus dienen sollte.110 Als programmatischer Ausdruck dieses Selbstverständnisses fungieren für Jordanus die von ihm in die Collectanea aufgenommenen, weitestgehend pseudoaugustinischen Sermones ad fratres in eremo,111 auf die Jordan – neben mehreren anderen Quellen – seine Vita Sancti Augustini stützt.112 Thematisch präsentieren die Predigten einen Augustinus, der als Gründer der Augustinereremiten das Schwergewicht seiner Unterweisungen auf das monastische Leben und die in ihm zu verwirklichenden Tugenden legt, ein Ideal, das er in der Darstellung der Predigten auch nach seiner Bischofsweihe weiterhin verwirklicht.113 Dieses im Augustinerorden grundgelegte – durch Übersetzungen der Sermones ad fratres in eremo und diverse Augustinus-Viten auch in die Volkssprache eindringende114 – Doppelbild des Kirchenvaters als eines bischöflichen Gelehrten und asketischen Zönobiten erinnert an die literarischen wie künstlerischen Porträts des Hieronymus als gelehrter Kardinal und tugendhafter Eremit.115 Damit ist im spätmittelalterlichen Selbstverständnis der Augustinereremiten ein identitätsstiftendes Augustinus-Bild präsent,116 das Martin Luther aufgrund seiner ‚pelagianischen‘ Züge verwerfen wird.117
109 Vgl. Saak: Creating Augustine, S. 46. 110 Siehe dazu ausführlich Saak: Creating Augustine, bes. S. 195–221. 111 Zur komplizierten Überlieferungsgeschichte dieser zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Autoren verfassten, im vierzehnten Jahrhundert zu einer in ihrem Bestand fluktuierenden Sammlung zusammengestellten Predigten siehe ausführlich Saak: Creating Augustine, S. 81–119. Die von Jordanus in die Collectanea aufgenommene Sammlung enthält auch zwei authentische Augustinus-Predigten (vgl. ebd., z. B. S. 117). 112 Vgl. Saak: Creating Augustine, S. 101, 113. 113 Vgl. dazu ausführlich Saak: Creating Augustine, S. 119–137. 114 Der Handschriftencensus führt unter dem entsprechenden Schlagwort ([Ps.-]Augustinus, Sermones ad Fratres in eremo, dt.) neun Handschriften auf, die Predigten aus dieser Sammlung enthalten. Zu den volkssprachlichen Augustinus-Viten siehe die Darlegungen weiter unten in diesem Kapitel. 115 Siehe dazu ausführlich Hamm: Hieronymus-Begeisterung, bes. S. 151–162 und 189–195. 116 Dieses wird ebenso literarisch wie bildkünstlerisch vermittelt. Zu Bilderzyklen der Augustinus-Vita siehe Saak: Creating Augustine, S. 139–194. 117 Vgl. WA.TR 3, S. 28, Z. 6–8 (Nr. 2856): „Vnd Auguſtinus iſt eben alßo ein monch geweſen als Jeronymus ein cardinal; ſie haben des bapſt lug muſſen dienen.“ Wenn Luther den von ihm verachteten ‚monastischen‘ Augustinus ausblendet und sich stattdessen auf den von ihm so überaus
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Aus spätmittelalterlicher Perspektive allerdings ist die Etablierung der religio Augustini keineswegs als eine pelagianischen Positionen entgegenkommende Zurückweisung der augustinischen Gnadenlehre zu verstehen.118 Diese ist – wie Saak anhand der lateinischen Predigten Jordans von Quedlinburg aufgezeigt hat – sogar innerhalb der Pastoraltheologie der Augustinereremiten präsent, wenn auch im Zusammenklang mit einer Rechtfertigungslehre, die auf einer Erfüllung des göttlichen Gesetzes insistiert und dem Menschen die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts durch gute Werke und den Erwerb der Tugenden zugesteht.119 Diese Konzession an die seelsorgerlichen Erfordernisse scheint bei der Augustinus-Rezeption innerhalb des deutschen religiösen Schrifttums noch weiter an Dominanz zu gewinnen. Lässt sich – wie skizziert – bereits in den verschiedenen Bereichen des lateinischen Kulturraumes eine Zurückdrängung des antipelagianischen Augustinus beobachten, so gilt dies um so mehr für die volkssprachliche Vermittlung augustinischen bzw. als augustinisch deklarierten Gedankengutes. Zwar existieren kaum Einzelstudien zur Rezeption des Kirchenvaters in der deutschen geistlichen Prosa des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts,120 so dass auch hier nur vorläufige und auf der Sichtung weniger Werke
geschätzten ‚antipelagianischen‘ Augustinus konzentriert, sieht er die beiden Kirchenväter nicht mehr auf derselben (falschen) Seite. Vielmehr konstruiert er einen Gegensatz zwischen ‚antipelagianischem‘ Augustinus und ‚pelagianischem‘ Hieronymus. Siehe dazu auch Kap. 1.1, Anm. 19. Für das spätmittelalterliche Selbstverständnis der Augustinereremiten dürfte eine solche Opposition eher befremdlich gewesen sein. 118 Überhaupt gibt es wohl keinen mittelalterlichen Theologen, der sich selbst als ‚pelagianisch‘ bezeichnen würde, war Pelagius doch als Ketzer verurteilt worden (siehe dazu auch Kap. 2.3.2.1, Anm. 548). Der Terminus existiert daher nur als Kampfbegriff zur Desavouierung des Gegners. 119 Allerdings haben nicht alle Menschen diese Möglichkeit eines gottgefälligen Daseins, da der geistliche Fortschritt die verdienstunabhängige Gnadenzuwendung Gottes voraussetzt. Ohne diese Unterstützung ist der durch den Sündenfall in seiner ursprünglichen Gottebenbildlichkeit deformierte Mensch unfähig zu erkennen, was er Gott schuldig ist. Da Gott ohne Zutun des Menschen über dessen Erwählung zum Heil entscheidet, vertritt Jordanus – im Unterschied zu Gabriel Biel – die Lehre einer praedestinatio ante praevisa merita. Siehe dazu Saak: Pelagian/AntiPelagian Preaching, bes. S. 319–329. Vgl. ferner die Ausführungen in Kap. 2.3.4, S. 260 und S. 264. 120 Zu nennen sind hier die Überblicksdarstellung von Weigand (Wissen von Augustinus deutsch?), Roths Studie zur deutschen Überlieferung des pseudo-augustinischen Speculum peccatoris (Sündenspiegel im fünfzehnten Jahrhundert), Obhofs Forschungen zum ‚Niederrheinischen Augustinusbuch‘ (Das Leben Augustins) sowie Schmidts motivgeschichtliche Studie zur ‚Suche bei Augustinus‘. Letztgenannter Beitrag bezieht sich in erster Linie auf Rudolfs von Biberach De septem itineribus aeternitatis bzw. auf die volkssprachliche Übertragung dieses Traktats. Auch in diesem Werk wird kein gnadentheologisch profilierter, sondern ein ganz in der Tradition christlicher Metaphysik (siehe dazu Kap. 1.2.3, Anm. 262, 265) stehender Augustinus vermittelt, der dafür einsteht, dass die Suche der Seele nach Gott aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit naturhaft in ihr
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beruhende Aussagen möglich sind. Es scheint jedoch, dass die Beobachtung Berndt Hamms zutreffend ist: Wann immer Augustinus den begrenzten Raum der akademischen Studien verlässt und in die Volkssprache eintritt, verschwimmt seine Theologie ins Unspezifische, unter moralischen und seelsorgerlichen Aspekten allgemein Konsensfähige.121 Dementsprechend selten sind Übertragungen echter augustinischer Werke,122 die zudem nicht die antipelagianischen Schriften betreffen. Weitaus häufiger finden sich volkssprachliche Übersetzungen unauthentischer Schriften,123 wiederum unter Ausklammerung der ohnehin seltenen Pseudo-Augustiniana mit antipelagianischer Ausrichtung. Eine Vorrangstellung bei diesen deutschen Fassungen kommt – wie auch in der lateinischen Überlieferung124 – dem Manuale, den
angelegt ist. Vgl. Schmidt: Die Suche, S. 218, 220. Dasselbe augustinische Motiv der Suche – ebenfalls mit Zitation des Kirchenvaters – nimmt Meister Eckhart auf. Siehe dazu Kap. 2.2.2.1, S. 112–113. Dass der ‚Frankfurter‘ dagegen eine solche positive Grundausrichtung des Menschen auf Gott hin ablehnt, werden die Ausführungen in Kap. 2.3 erweisen. Siehe vor allem Kap. 2.3.2.3, Anm. 642 sowie Kap. 2.3.4, S. 268–269. Statt der antipelagianischen Schriften ist in Rudolfs Werk vor allem die augustinische Standardliteratur wie De trinitate oder die Confessiones präsent. Vgl. Schmidt: Die Suche, S. 229; siehe auch oben, S. 92 mit Anm. 76. Vornehmlich von den Confessiones zeigt sich auch die Augustinus-Rezeption im ‚Renner‘ des Hugo von Trimberg beeinflusst (vgl. Weigand: Wissen, S. 185–186), der beispielhaft zeigt, dass augustinische Motive auch in die deutsche Versdichtung Eingang gefunden haben. Die gleiche Dominanz dieser Schrift prägt die 44 Kapitel des Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais, die Augustinus gewidmet sind und durch eine Übersetzung des vierzehnten Jahrhunderts auch in der Volkssprache zugänglich wurden (vgl. ebd., S. 180–182). Zur Augustinus-Rezeption bei Meister Eckhart siehe ferner Meister Eckhart und Augustinus. Hg. von Rudolf Kilian Weigand, Regina D. Schiewer. Stuttgart 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 3). Mit der Augustinus-Rezeption im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ werden sich ausführlich Kap. 2.2.2, 2.2.3 und 2.3 befassen. 121 Vgl. Hamm: Hieronymus-Begeisterung, S. 136–139. Diese allgemeine Konsensfähigkeit gilt allerdings nur innerhalb von bestimmten Diskursformationen. So hat die augustinische Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts im Ganzen eine andere Ausrichtung als die Augustinus-Zitation innerhalb von frömmigkeitstheologischen Schriften des fünfzehnten Jahrhunderts. 122 Erst im fünfzehnten Jahrhundert wird eine (Teil-)Übersetzung von De civitate Dei aufgezeichnet (Budapest, Nationalbibliothek, Cod. Germ. 13); eine weitere Übersetzung des Humanisten Johann Gottfried aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert ist verloren gegangen. Siehe dazu Weigand: Wissen von Augustinus deutsch?, S. 193. Zu Gottfrieds Übersetzung vgl. auch im Marburger Repertorium unter ‚Werke‘ den Eintrag zu Augustinus (www.mrfh.de/werke.php [16. August 2015]). De sancta virginitate liegt zwar in keiner deutschen, aber in einer mittelniederländischen Version vor. Vgl. Ruh: Art. ‚Augustinus‘, Sp. 533. 123 Vgl. Ruh: Art. ‚Augustinus‘, Sp. 533–540. 124 Siehe dazu weiter oben in diesem Kapitel.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Soliloquia und den Meditationes zu.125 Besonderer Beliebtheit erfreute sich zudem das pseudo-augustinische Speculum peccatoris,126 das in der lateinischen Überlieferung überwiegend diesem Kirchenvater zugeschrieben wird,127 während die Tradierung in den volkssprachlichen Handschriften vorwiegend anonym erfolgt. Immerhin nennen zwei Manuskripte Augustinus als Verfasser.128 Diese Fluktuation der Autorennennung signalisiert, dass der Bischof von Hippo zumindest im Rahmen der Speculum-Überlieferung keineswegs als Repräsentant einer Eigenlehre wahrgenommen wurde, sondern als Vertreter eines allgemein akzeptanzfähigen, auch von anderen Autoritäten des geistlichen Lebens gebilligten Frömmigkeitsprofils.129 Dementsprechend hebt der Traktat als ‚Spiegel des Sünders‘ zwar gattungskonform die Abwendung des Menschen von seinem Schöpfer hervor und stellt sich auf dieser Ebene in den Dienst einer negativen Anthropologie;130 als ,Spiegel des Sünders‘ kehrt er diese pessimistische Sichtweise jedoch 125 Zur handschriftlichen Überlieferung im Mittelalter siehe Ruh: Art. ‚Augustinus‘, Sp. 533–535. Wie die Drucküberlieferung zeigt, bleibt das Interesse an volkssprachlichen Versionen der drei Schriften bis in die Reformationszeit hinein bestehen. Der VD 16 führt mehrere deutsche Drucke auf, welche die Schriften gemeinsam enthalten: Köln 1571 (A 4287/4295/4311), Köln 1577 (ZV 902), Köln 1597 (A 4288/4297/4313) und Frankfurt/Oder 1600 (ZV 906). Auch im Separatdruck liegen die drei Traktate vor (Manuale: München 1555 [A 4286]; Soliloquia: Wittenberg 1589 [A 4312]; Meditationes: Wittenberg 1589 [ZV 1565]). Zur Beliebtheit der Schriften dürfte vor allem ihre positive Darstellung des Gott-MenschVerhältnisses beigetragen haben. Das Manuale zum Beispiel ruft in emphatischer Weise zur Abkehr von den irdischen Dingen zugunsten innerer Einkehr und der willentlichen Hinwendung zu Gott auf, wobei es die Innigkeit der Beziehung von Gott und menschlicher Seele beschwört. Zwar artikuliert das Sprecher-Ich nachdrücklich das Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit und Gnadenabhängigkeit; dies geht jedoch einher mit einem unbedingten Vertrauen auf Gottes Güte und die Erlösung durch das Leiden Christi. Vorausgesetzt ist dabei die naturhafte Ausrichtung der Seele auf Gott als ihr eigentliches Endziel. Der Mensch muss sich jedoch bewusst dazu entscheiden, mit allen seinen Kräften Gott zuzustreben. Vgl. Pseudo-Augustinus: Manuale, Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 79, fol. 272v–292r, fol. 273r: Hier wird Gott angerufen als derjenige, „den ich da ſuch vnd den ich lieb hann vnd den ich mit hercʒen vnd mit mund vnd mit allen mynen kreften lob vnd an bett […]“; fol. 286v: „nun mochteſtu frogen: wie mag nun dʒ beſchehen vnd mit wʒ verdienen vnd mit weller hilff wird dʒ [die ewige Seligkeit] erlangt? O das merck: die ſach iſt gancʒ geleitt in dinē gewalt vnd in dinē willen […]“ (zeichengenaue Transkription mit moderner Interpunktion). 126 Insgesamt ist das Speculum peccatoris in 43 deutschsprachigen Handschriften und fünf Drucken überliefert. Siehe Roth: Sündenspiegel, S. 9 sowie die Beschreibung der Handschriften und Drucke ebd., S. 55–108. 127 Siehe dazu weiter oben in diesem Kapitel. 128 Vgl. Roth: Sündenspiegel, S. 110. 129 Diese Beobachtung dürfte über das Speculum peccatoris hinaus Geltung beanspruchen. 130 Die Sündhaftigkeit ist integrales Moment der miseriae conditionae humanis, zu deren Bestätigung im Speculum peccatoris auch Augustinus herangezogen wird. Siehe in der Edition von Obhof
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zugleich in ihr Gegenteil, insofern er die Bekehrungswilligkeit und -fähigkeit des Menschen voraussetzt und an der Gnadenbereitschaft Gottes keinen Zweifel lässt.131 Überhaupt bleiben ungeachtet der Bedeutung des antipelagianischen Augustinus für die Wittenberger Theologie und die reformatorischen Auseinandersetzungen Bemühungen um die Vermittlung der entsprechenden Augustinus-Schriften an ein deutsches Publikum noch im sechzehnten Jahrhundert die Ausnahme. Als einzigartig darf der Versuch des Straßburger Münsterpredigers Caspar Hedio gewertet werden, eine gebildete, aber des Lateinischen nur bedingt mächtige Öffentlichkeit durch Übersetzungen wichtiger augustinischer Werke und deren Einbettung in zusätzliche programmatische Texte an den zeitgenössischen Diskussionen teilhaben zu lassen.132 In den Zusammenhang der Übersetzung pseudo-augustinischer Texte gehört auch das von Ute Obhof in seiner Überlieferungs- und Textgeschichte erschlossene ‚Niederrheinische Augustinusbuch‘ des fünfzehnten Jahrhunderts, das in seinem Hauptbestand zwar in erster Linie dazu dient, Wissen über Augustinus zu vermitteln,133 in seinem Nebenbestand aber auch Augustiniana und PseudoAugustiniana enthalten kann.134 Wichtigstes Element des Hauptbestands ist die einleitende Augustinusvita, die wiederum auf eine lateinische Fassung rekur-
(Sündenspiegel) S. 192, Z. 208–212: „Von dem wainnen spricht sant Augustin, daz ain iedlichs kind im selber ain weissag sei seins ellends, wann daz ez mit der stimm nit mag gesprechen, daz erczaigt ez mit seinem kläglichen wainen.“ 131 Als Ziel formuliert der ‚Spiegel‘ dementsprechend (hg. Obhof, S. 184, Z. 38–39, Sp. A) „ain raissung von vnserm sündigen leben vnd ain erwerbung götlicher gnaden“. Zum Vertrauen auf die moralische Eigenkompetenz des Menschen siehe auch ebd., S. 187, Z. 103–108, Sp. A: „Nim war, wie gar ain nüczer spiegel dicz ist, vnd beschawest du dich dick dar inn, so wirst du an zweiffel stercker dann Sampson, fürsichtiger dann Dauit, weisser dann Salomon […].“ 132 Siehe dazu Wegener: Augustinus-Rezeption. Im Jahr 1532 gab Hedio seine Übersetzung von De doctrina christiana, De spiritu et littera und De fide et operibus in den Druck (VD 16: A 4201/ 4215/4243). 1533 folgte ein weiterer Sammeldruck, der u. a. De natura et gratia enthält (VD 16: A 4205/4209/4225/4228/4247/4248). De spiritu et littera wurde zudem von dem Züricher Stadtpfarrer Leo Jud (Basel 1537; VD 16: A 4244) übersetzt. 133 Zum Hauptbestand gehören das Augustinusleben in der niederrheinischen Redaktion a sowie eine Reihe von Augustinus betreffenden Predigten aus Jordans von Quedlinburg Opus Dan (Sermones de sanctis). Zu genauen Informationen siehe Obhof: Das Leben Augustins, S. 58. 134 Im Nebenbestand können Teilübersetzungen der augustinischen Soliloquia und der pseudoaugustinischen Soliloquia den Hauptbestand ebenso ergänzen wie eine Sammlung der pseudoaugustinischen Sermones ad fratres in eremo. Siehe dazu Obhof: Das Leben Augustins, S. 60 sowie die Graphik auf S. 59 und die Übersicht auf S. 67–69. Zu den Sermones ad fratres in eremo siehe auch die Hinweise weiter oben in diesem Kapitel.
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riert.135 Diese Vita präsentiert Augustinus in eben jener Doppelfunktion, die in den Collectanea des Jordanus von Quedlinburg programmatische Bedeutung für das Selbstverständnis der Augustinereremiten gewonnen hat: als Kirchenlehrer, der schließlich die Bischofswürde erhält, und als von monastischen Tugenden geprägten Asketen.136 Antipelagianische Positionen vertritt dieser Augustinus nicht. Vielmehr hebt er die unbedingte Hinwendung Gottes zur menschlichen Seele ebenso hervor wie deren Fähigkeit, sich von der Welt abzuwenden und zu Gott zurückzukehren.137 Diese innere Verbundenheit von Gott und Mensch zeigt sich insbesondere auch bei der Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem Streben und göttlicher Gnadenzuwendung. Denn die gracie gotz wird dem Menschen nicht als unverdientes und unverfügbares Geschenk mitgeteilt, sondern erwächst aus der „ynnicheit ind stedicheit des gebeitz“. Damit aber erscheint sie als Lohn für eine menschliche Eigenleistung.138 135 Bei der Vorlage handelt es sich um die lateinische Vita BHL. 787, die ihrerseits aus Augustinus’ Confessiones und der von Possidius verfassten Lebensbeschreibung des Kirchenvaters schöpft. Siehe dazu Obhof: Das Leben, S. 36. 136 Die nicht von Obhof edierten Kapitel wurden in folgendem Codex gesichtet: Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. C 21 (vgl. dazu auch die Kurzbeschreibung bei Obhof, S. 80–81). Siehe hier etwa den Abschnitt Van ſinre groter ſoberheit e armoedē (fol. 93rb–95ra), der Augustinus’ asketischen Lebensstil auch als kirchlicher Würdenträger hervorhebt, und Van ſinre grot[er] behuetheit e onthalding der kuiſheit (fol. 96ra–98rb), in dem Augustinus Gott unter Weinen, Fasten und Wachen dazu bewegt, ihm die Gnade der Keuschheit zu verleihen (vgl. fol. 96rb). 137 Siehe dazu in Obhofs Edition (beruhend auf Ds 1 = Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 540) S. 156, Z. 30–S. 157, Z. 33: „Hoere, o myne sele, dat selue wort gotz royft tzo dir, dattu weder keren soeles tzo eme, want da is de stat der vnverstuyrlicher rasten“; S. 158, Z. 53–56: „Ist sache, dat dir de licham behaegen, so loeue da got van ind weder kere die mynne in eren schepper, vp dat du gode in deme behaegen neit in myshages.“ 138 Die vollständige Passage – ein Dialog zwischen Augustinus und seinem Sohn Adeodatus – zeigt den Stufenweg vom Gebet zum reinen Gewissen auf und lautet in der Edition von Obhof (S. 188, Z. 341–349): „Augustinus: ‚Wan kumpt de puyre consciencie?‘ Adeodatus: ‚Van nauwer hoiden der sunden.‘ Augustinus: ‚Wan kumpt de nauwe hoide der sunden?‘ Adeodatus: ‚Van eynre heilger woirtzelen.‘ Augustinus: ‚Wan kumpt de heilge woirtzel?‘ Adeodatus: ‚Vyss gotlicher mynnen.‘ Augustinus: ‚Wan kumpt de gotliche mynne?‘ Adeodatus: ‚Van der gracien.‘ Augustinus: ‚Wan kvmpt de gracie gotz?‘ Adeodatus: ‚Van ynnicheit ind stedicheit des gebeitz.‘“ Die Ausklammerung des antipelagianischen Augustinus zugunsten des von monastischen Tugenden geprägten Asketen bestimmt auch das volkssprachliche – auf der Augustinus-Vita des Jordanus von Quedlinburg basierende –‚Life of Saint Augustine‘ des englischen Augustinereremiten John Capgrave (1393–1464). Obwohl dieses Werk zahlreiche Schriften des Augustinus, darunter De libero arbitrio, die Confessiones und De trinitate, sowie eine Reihe von Predigten erwähnt, findet keines der antipelagianischen Werke Eingang in die Vita. Zwar zieht sich Augustinus’ Kampf gegen die Ketzer, insbesondere die Manichäer, wie ein roter Faden durch das Werk; die Pelagianer werden jedoch in wenigen Worten abgehandelt (hg. Smetana, Kap. 40, S. 68,
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Auch wenn es im deutschsprachigen Raum eine relativ hohe Anzahl von Übersetzungen pseudo-augustinischer Schriften gibt, nehmen sich diese doch spärlich aus neben der Fülle der Augustinus-Zitate in der geistlichen Prosa des Spätmittelalters. Hier kann der Kirchenvater im Einklang mit anderen Autoritäten für die verschiedensten Bereiche theologischer Lehre und religiöser Praxis als Gewährsmann einstehen.139 Ungeachtet der verschiedenen literarischen Gattungen und unterschiedlichen Diskursformationen, in denen echte oder unechte Augustinus-Zitate zur Geltung kommen140, lässt sich hinsichtlich jenes Themas, welches im Zentrum der Wittenberger Theologie steht – die Stellung des Menschen vor Gott –, auch in diesem Bereich wiederum jener Grundkonsens feststellen, der die Augustinus-Rezeption im Allgemeinen bestimmt: Die anstößige Gnaden- und Rechtfertigungslehre des späten Augustinus wird ausgeblendet.141 Ohne die Sündhaftigkeit des Menschen und seine Abhängigkeit von der ZuwenZ. 31–34): „There were also in his tyme oϸir heretikes cleped Pelagianes. And ϸei held ϸis opynyoun ϸat a child begoten of a Cristen man and a Cristen woman schuld not be baptiʒed ne nedith nowt. And alle ϸis secte oure Augustin distroyed.“ Noch gedrängter erscheint die Vergleichsstelle bei Jordan (ebd., S. 106, Z. 1042–1043): „Pelagianiste similiter nouas hereses publice et per domos disseminare callide conabantur.“ 139 Vgl. Ruh: Art. ‚Augustinus‘, Sp. 541. Siehe zu dieser indirekten Augustinus-Rezeption auch Weigand: Wissen von Augustinus deutsch?, S. 182–193. 140 Den gebildeten Autoren der populären Schriften stand ein – z. B. durch die Sentenzenliteratur, Lemmakommentare oder Florilegien vermitteltes – Arsenal augustinischer bzw. pseudoaugustinischer Dicta zur Verfügung, auf das sie bei der Konzeption ihrer Schriften zurückgreifen konnten. Die Herkunft dieser Augustinus-Sprüche kann auf die echten Schriften des Kirchenvaters, aber auch auf andere, nicht immer verifizierbare Quellen zurückgehen. Als volkssprachliches Beispiel für ein Florilegium seien die Vätersprüche und Sprüche der Meister und Heiligen in Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 278 (1040), S. 225a–251a erwähnt. Dasselbe Beispiel nennt Weigand: Wissen von Augustinus deutsch?, S. 192. In dieser Dicta-Sammlung wird Augustinus neben anderen ‚Meistern‘ wie Gregorius und Dionysius als Autorität angeführt. Jene AugustinusSprüche, welche die Verwandtschaft von Gott und menschlicher Seele betonen, weisen dabei eine deutlich mystische Signatur auf, indem sie etwa das Theologumenon der Gottesgeburt im Seelengrund aufgreifen (vgl. beispielsweise S. 236b). 141 Diese Beobachtung bezieht sich auf eine Reihe repräsentativer spätmittelalterlicher Werke und Anthologien, die auf die Nennung des Kirchenvaters hin gesichtet wurden. Ausgeklammert ist dabei zum großen Teil die Literatur des vierzehnten Jahrhunderts, da diese vielfach zum Kontext der ‚deutschen Mystik‘ gehört und insofern in den folgenden Kapiteln ausführlich zur Sprache kommen wird. Gesichtet wurden: Hermann von Fritslar: Der Heiligen Leben (hg. Pfeiffer); Nikolaus von Straßburg: Predigten (hg. Pfeiffer); Johann von Neumarkt: Brief des Augustinus an Cyrill (hg. Klapper); Albrecht von Eyb: Spiegel der Sitten (hg. Klecha); Johannes von Paltz: Die himlische funtgrub (hg. Burger u. a.); Stephan von Landskron: Die Hymelstrasz (hg. Jaspers); Thomas Peuntner: Büchlein von der Liebhabung Gottes (hg. Schnell); Johannes Geiler von Kaysersberg: Sämtliche Werke (hg. Bauer), Bd. I–III; Altdeutsche Predigten (hg. Schönbach), Bd. I–III; Ruh: Franziskanisches Schrifttum, Bd. I–II.
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dung Gottes zu negieren, geht die Tendenz zu einer positiven Anthropologie, insofern die Texte dem Menschen sowohl die Möglichkeit zuerkennen, das Gnadenangebot Gottes aus eigener Entscheidung anzunehmen als auch die Fähigkeit, sich mittels eines verdienstvollen Lebens aktiv auf sein ewiges Seelenheil zuzubewegen. Das Verhältnis von Gott und Mensch erscheint somit als ein wechselseitig aufeinander bezogenes: Der freiwilligen, ungeschuldeten Hinwendung Gottes zum Menschen entspricht auf der anderen Seite die ebenso freiwillige, jedoch geschuldete Bewegung des Menschen auf Gott zu.142 Für dieses im Bereich der Erbauung und Seelsorge allgemein akzeptanzfähige Modell einer Werkgerechtigkeit, die dem Menschen einen ethischen Freiraum in Hinblick auf den Heilserwerb zugesteht, bürgt Augustinus mit seiner Autorität.143 Damit fügt sich die auf den Kirchenvater rekurrierende volkssprachliche Literatur in das frömmigkeitstheologische Profil des Spätmittelalters ein.144 142 Siehe zu diesem populären Modell der Rechtfertigung des Menschen vor Gott Hamm: Hieronymus-Begeisterung, S. 144–146, 193. Geradezu idealtypisch vertritt diese Lehre der Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg. Zwar hält er an der Strenge des göttlichen Gerichts fest, hebt jedoch zugleich die Verdienstfähigkeit des Menschen hervor. Siehe dazu Hamm: Between Severity and Mercy, S. 344–356. Zwar konnten spätmittelalterliche Prediger auch einseitig entweder Gottes Strenge (Savonarola, vgl. ebd., S. 326–336) oder Gottes Barmherzigkeit (Staupitz, vgl. ebd., S. 336–343) hervorheben; doch dürfte nach Hamm das moderate – göttliche Strenge und Barmherzigkeit unter Anerkennung der moralischen Leistungsfähigkeit des Menschen miteinander vermittelnde – Konzept Geilers für die städtische Seelsorge um 1500 typisch gewesen sein (vgl. ebd., S. 356–357). 143 Eine Zitatsammlung soll an dieser Stelle vermieden werden. Stellvertretend seien nur vier typische Aussagen wiedergegeben: „Vnd spricht Augustinus das alle sünden geschehen in zwaierlay weiß /das verpoten z thn /oder nit z tn was gepotten ist /es ist nichts verpotten es mag vermitten werden vnd nichts gepoten es mag geschehen“ (Albrecht von Eyb: Spiegel der Sitten [hg. Klecha], S. 27, Z. 41–44); „darumb spricht Augustinus /der mensch sol sich z got wenden /als der herr gesprochen hat /lieben kinder wendet eüch z mir /vnd bekeret eüch von eüren sünden /so will ich eüch gesundt machen / […]“ (ebd., S. 163, Z. 66–68); „Da von spricht sant Augustyn: Got hat gesaczt yn vnser gewalt vnnd yn vnser willekor da von wyr selig ader vorthumet mogen werden“ (Bernhardin von Siena: Paternoster-Auslegung [hg. Ruh, Franziskanisches Schrifttum II], S. 278, Z. 514–516); „Gebend got eüwer rüwigs unnd gedemtigets hertz. Thnd als vil als in eüch ist. Wann (als sant Augustin spricht) Der dich geschaffen hatt /on dich. Macht dich nit slig onn dich. Thnd ir das /so werdent ir haben das wig leben“ (Johannes Geiler von Kaysersberg [hg. Bauer]: Sämtliche Werke II, S. 571, Z. 10–14). Geiler greift hier auf die scholastische Formel des facere quod in se est zurück, die im Widerspruch zum antipelagianischen Augustinus steht, aber spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie vollkommen angemessen ist. Zum facere quod in se est bei Geiler siehe auch Hamm: Between Severity and Mercy, S. 348, 352. Vgl. auch die Ausführungen unten in Kap. 2.3.4. 144 Der Begriff der ‚Frömmigkeitstheologie‘ wurde von dem Theologiehistoriker Berndt Hamm in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt, um jene spezifische Art spätmittelalterlicher Theologie zu beschreiben, die in deutlicher Abkehr von scholastischer Theoriebildung, aber auch von
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Angesichts dieses Befundes nimmt es nicht wunder, dass sich Martin Luthers Suche nach volkssprachlichen Traditionszeugen für seinen neuen theologischen Entwurf im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts schwierig gestaltete.145 Überraschend ist vielmehr, dass er ausgerechnet bei den zur ‚deutschen Mystik‘ gehörenden Texten fündig zu werden glaubte. Denn hier macht sich der Einfluss des Augustinus zwar vielleicht noch intensiver bemerkbar als im übrigen volkssprachlichen Schrifttum – sowohl in Eckharts als auch in Taulers Predigten ist der Kirchenvater omnipräsent146 –; dass der anthropologische Pessimismus des Doctor gratiae aber gerade diesen religiösen Diskurs durchdringen könnte, scheint mehr als unwahrscheinlich, da der Fokus der mystischen Prosaliteratur ja nicht auf der Sündenverfallenheit des Menschen, sondern auf seiner unveräußerlichen Würde und unzerstörbaren Gottbezogenheit liegt. Gerade in Hinblick auf den ‚Frankfurter‘ lohnt sich daher eine genauere Analyse der für mystische Autoren gern geltend gemachten, in ihrer spezifischen Ausgestaltung jedoch oft im Vagen bleibenden ‚augustinischen Spiritualität‘. Denn vor diesem Hintergrund treten jene Aspekte deutlich hervor, die unseren Traktat aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ heraustragen und ihn zugleich auf eine antipelagianisch ausgerichtete Theologie zubewegen, deren deutliche
abstrakter mystischer Spekulation allein darauf zielt, dem Seelenheil des Menschen durch konkrete Anweisung zu einem christlichen Dasein förderlich zu sein. Siehe dazu auch Kap. 2.1, Anm. 63 sowie Kap. 2.3.4, S. 260 mit Anm. 753. Zur Favoritenrolle des Augustinus bei frömmigkeitstheologischen Autoren des fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhunderts siehe Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, S. 315. Neben dem bereits erwähnten Johannes Geiler von Kaysersberg ist hier z. B. der Augustinereremit Johannes von Paltz zu nennen, dessen Augustinus-Rezeption im Einklang steht mit seinem frömmigkeitstheologischen Anliegen, die naturgegebene Verdienstfähigkeit des Menschen hervorzuheben. Vgl. ebd., bes. S. 324–325. 145 Zumindest was die im deutschen Sprachraum entstandene volkssprachliche Literatur des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts betrifft, kann ich die folgende Aussage Kurt Flaschs nicht nachvollziehen: „Bei volkstümlichen Autoren dominierte Augustin [gemeint ist dessen antipelagianische Theologie] weiterhin; mit wachsender Unruhe stieg gar der Einfluß des Augustinischen Pessimismus, auch bei Intellektuellen. Luther trumpfte gegen Erasmus damit auf, daß Augustin ganz auf seiner Seite stehe – bei der Verwerfung der Willensfreiheit.“ Logik des Schreckens, S. 136. Es stimmt zwar, dass Luther den antipelagianischen Augustinus gegen Erasmus in Stellung bringt. Flasch unterschlägt jedoch, dass der Wittenberger Theologieprofessor diesen Augustinus als seine Neuentdeckung reklamiert. Dies ist allerdings nicht in dem Sinne zu verstehen, dass Luther eine neue Theologie etablieren möchte; vielmehr erblickt er in den antipelagianischen Schriften Dokumente einer ursprünglichen christlichen Theologie, deren Tradition durch die scholastischen Lehrgebäude verdrängt wurde. 146 Zu Eckhart siehe Retucci/Speer: Meister Eckhart; zu Tauler siehe Weigand: Wissen von Augustinus deutsch?, S. 189.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Spuren ihn für Martin Luther besonders attraktiv gemacht haben dürften.147 In scheinbarem Widerspruch dazu bleibt der ‚Frankfurter‘ dennoch dem ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts verhaftet – auch und gerade hinsichtlich der antipelagianischen Tendenzen, insofern diese auch in anderen mystischen Prosatexten die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit Meister Eckharts positiver Anthropologie reflektieren und damit in ein spannungsreiches Verhältnis zur augustinischen Spiritualität treten.
2.2.2 Grundaspekte augustinischer Spiritualität in der ‚deutschen Mystik‘ und die Opposition des ‚Frankfurter‘ 2.2.2.1 Die Natur des Menschen: natura elevata und natura vitiata In der Expositio s. evangelii sec. Iohannem legt Meister Eckhart die Hochzeit zu Kana auf dreifache Weise aus. Im hier zu diskutierenden Zusammenhang ist jedoch nur die zweite Bedeutung von Relevanz, derzufolge mit Ioh 2, 1 – „Nuptiae factae sunt“– die Hochzeit zwischen Gott und unserer Natur148 ausgesprochen ist.149 Diese Verbindung, die ihren Ausdruck in der Annahme der Menschennatur
147 Insofern nimmt die Arbeit eine Anregung von Volker Leppin auf, der hinsichtlich der Vermittlung augustinischen Gedankenguts an die Reformatoren die Frage aufwirft, inwiefern daran auch mystische Frömmigkeitsliteratur beteiligt ist. Siehe ders.: Augustinismus, S. 607. 148 Unter der Natur des Menschen ist im Folgenden dasjenige zu verstehen, „was in allen Menschen vollkommen identisch ist und nicht in größerem oder kleinerem Maß in den verschiedenen Individuen repräsentiert wird“. Kapriev: Philosophie, S. 129. Dies trifft auf die Zusammensetzung des Menschen aus Leib und Seele zu, die aufgrund ihrer unauflöslichen Verbindung nicht als zwei getrennte Naturen betrachtet werden, sondern im jeweiligen Individuum zu einer (allerdings gemischten) Natur enhypostasiert sind. Dieser Naturbegriff scheint gerade in Hinblick auf den ‚Frankfurter‘ angemessen, insofern sich dessen anthropologisches Interesse auf die leibseelische Verfasstheit des Menschen richtet. Seine historische Verankerung hat er im Denken des Johannes Damascenus, der im scholastischen Kontext des lateinischen Mittelalters zu den hochrangigen Autoritäten zählt. Zum Naturbegriff des Johannes Damascenus siehe Kapriev, ebd., S. 129–130. Zur Hypostasenlehre vgl. ebd., S. 117–119. Auf die Doppelnatur des Menschen im Sinne der gerade gegebenen Definition weist explizit etwa der ‚Spiegel der Seele‘ (hg. Vogl) unter dem Lemma Homo quid eſt hin: „Ain menſch iſt ain perſon gemacht natürlich nach dem leib vnd geschpft nach der ſel vſʒ nicht von got. Die cʒw natur ſind ʒeſamen gefgt in ainen menſchen ewig vnd vernünftig, vntötlich nach dem gaiſt, ttlich nach dem leib.“ Ebd., S. 606, Z. 2536–2540. 149 Meister Eckhart, LW III, n. 286, S. 239, Z. 10–11: „Secundo sunt nuptiae inter deum et nostram naturam, et istae habent patrem in caelo, sed matrem in hoc mundo.“ Eckhart macht die Erhöhung der menschlichen Natur durch die Inkarnation zu einem zentralen Punkt seiner Lehre. Das Bild einer Vermählung zwischen Gott und natura hominis findet sich indessen bereits in der volkssprachlichen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts. Siehe David von Augsburg: Kristi Leben (hg. Pfeiffer), S. 343, Z. 36–37: „[…] daz dû dar umbe hâst menschlîch natûre mit dîner gotheit ze samene
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durch die zweite göttliche Person findet und damit zugleich Ermöglichungsgrund für die Erhebung des Menschen zum Gottessohn ist, wird mit Augustinus-Zitaten belegt. Insbesondere zieht Eckhart ein berühmtes Diktum aus De vera religione150 heran, um die intime Beziehung zwischen dem einzelnen Menschen und der allen Menschen gemeinsamen Natur, bzw. zwischen dem menschen und der menscheit,151 auf das innige Verhältnis von Mensch und Gott hin auszulegen: Secundo notandum quod natura humana est cuilibet homini intimior quam ille sibi. In quo docemur quod in intimis cuiuslibet, non foris, celebrantur istae nuptiae, Luc. 1: ‚spiritus sanctus superveniet in te‘. Augustinus De vera religione: ‚noli foras ire, in te ipsum redi, in interiori homine habitat‘. Supra primo capitulo: ‚verbum caro factum est et habitavit in nobis‘.152
Diese Intimität ist nur möglich, weil unsere menschliche Natur mit jener des Mensch gewordenen Christus identisch ist: „[…] natura est nobis omnibus aequaliter communis cum Christo univoce.“153
gemahelt […].“ Vgl. ferner St. Georgener Predigten (hg. Schiewer/Seidel), Pr. 2, S. 6, Z. 4–6: „Der brútegon daz ist únsir herre got. Dú brút daz ist dú menschait, die het er ze himilriche gefrit […].“ 150 uera rel., Kap. 39, n. 72 (LLT-A). Eckhart kürzt das augustinische Diktum in der oben zitierten Passage. Im Original lautet es: „noli foras ire, in teipsum redi. in interiore homine habitat ueritas.“ Es handelt sich um einen Satz, der oft im eckhartischen Œuvre auftaucht. Vgl. Kobusch: Mystik als Metaphysik, S. 30; Reiter: Der Seele Grund, S. 200. 151 So lautet die gängige Bezeichnung in den volkssprachlichen Werken der ‚deutschen Mystik‘. Für Eckhart siehe etwa Pr. Q 68, DW III, S. 150, Z. 3–6 und den Kommentar zur Stelle in Largier II, S. 665 (dort zu S. 38, Z. 26). Eine ebenso knappe wie prägnante Erläuterung der Begrifflichkeit findet sich in Pfeiffer II, Pr. LXXVII, S. 250, Z. 18–20: „Mensche unde menscheit hât underscheit. Swenne man sprichet mensche, sô verstêt man eine persône; swenne man sprichet menscheit, sô verstêt man aller menschen nâtûre.“ Der ‚Frankfurter‘ schließt sich in seiner Terminologie dem Grundkonsens an; vgl. Kap. 3, S. 74, Z. 13, wo als Synonym für menschlich natur ausdrücklich menschheit genannt wird. 152 In Ioh., LW III, n. 289, S. 241, Z. 14–S. 242, Z. 3. Die Ermöglichung der Sohnwerdung des Menschen durch die Inkarnation wird mit einer Stelle aus Augustinus’ De trinitate belegt. Siehe ebd., n. 288, S. 240, Z. 12–S. 241, Z. 4. Das im oben aufgeführten Zitat enthaltene Diktum, dass seine Natur dem Menschen innerlicher sei als dieser sich selbst, kann in der mystischen Traktatliteratur auch auf Gott hin ausgelegt werden, wobei wiederum Augustinus als Gewährsmann herangezogen wird. Siehe Pfeiffer II, Traktat XI, S. 504, Z. 32–36: „Har an manet uns Kristus, daz wir vollekomen sîn, als sîn himelscher vater vollekomen ist in sîner nâtûre. Er sprichet ‚got ist iu nâher denne ir iu selber sint.‘ Daz sprichet ouch sant Augustînus: diu sêle hât einen heimelîchen înganc in gotlîche nâtûre, in deme ir alliu dinc ze nihte werdent.“ In der Parallelität der Formulierung bestätigt sich einmal mehr, dass im innigen Verhältnis des Menschen zur natura humana zugleich sein Gottesbezug zum Ausdruck kommt. 153 In Ioh., LW III, n. 289, S. 241, Z. 7–8.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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In Eckharts spezifischer Auslegung des ersten Wunders Christi zeigt sich somit ein Grundkonstituens seiner Lehre, das der Thüringer Dominikaner – wie gezeigt – ganz selbstverständlich an die Autorität des Bischofs von Hippo bindet154 und das deshalb von der augustinischen Spiritualität des Meisters nicht zu trennen ist. Die natura hominis tritt bei ihm stets als erlöste und durch die Inkarnation erhöhte Natur in den Blick: „und also ist unser menschlich natur unmessiklichen erhöhet von dem, daz der oberst kommen ist und an sich hat genommen die menscheit.“155 Aufgrund dieser Elevation steht die menschliche Natur in unmittelbarer Beziehung zum Göttlichen, ja sie ist aufgrund ihres inhärenten Adels mit Gott verwandt: „Menscheit in ir selber ist als edel: daz oberste an der menscheit hât glîcheit mit den engeln und sippeschaft mit der gotheit.“156 Die substanzielle Gutheit der natura humana widerstreitet zutiefst menschlicher Sündhaftigkeit, so dass Eckhart zwischen beiden konsequent unterscheidet.157 Da die Natur als solche makellos ist, setzt die volle Verwirklichung der natürlichen Würde des Menschen die mit der Forderung der imitatio Christi verbundene Abkehr von aller Sünde voraus: Hie mite lêret er [Christus] uns, wie wir treten süln in unsern grunt rehter dêmüeticheit und rehter blôzheit, daz wir allez daz abelegen, daz wir niht von natûre enhân, daz ist sünde und gebreste […].158
154 Eckhart bewegt sich damit im Rahmen der dominikanischen Lehrtradition: Auch Thomas von Aquin bedient sich einer Fülle von Augustinus-Zitaten, um die in der Inkarnation fundierte Würde der menschlichen Natur gebührend hervorzuheben. Siehe S. th. III, q. 1, a. 2, c. 155 Pr. Q 5a, DW I, S. 77, Z. 5–6. Siehe auch Pr. S 87, DW IV/1, S. 27, Z. 1–2. Vgl. auch Pfeiffer II, Pr. LXXVI, S. 243, Z. 22–24: „[…] unde diu menscheit Kristî hât unser menscheit genomen über alle crêatûre unde hât unser nâtûre gefüeret über alle engelische nâtûre in der einikeit, daz got unde mensche ein ist.“ Der Traktat Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (hg. Löser = Pfeiffer II, Traktat III) verbindet die Hochzeitsmetaphorik mit der Elevation der menschlichen Natur: „wann der war prew | tigan vnser herr ihesus christus ist dar vmb her zw der sel chömen ds er ir sein götleiche lieb in seiner sichtigen menschait offenbaret awff das vn | ser natur von aller creatur geert wirt dy ber dy engel ist erhebt warn. vnd vmb das dürffen wir nicht gedenkchen das er chain ed | lere creatur peschaff dann wir seinn.“ Ebd., S. 406, Z. 3–17 (Pfeiffer II: S. 402, Z. 38–S. 403, Z. 3). Als Quelle druckt Löser eine Passage aus der Kölner Klosterpredigt 38 des Meister Gerhard. Ähnlich äußert sich Jan van Ruusbroec in der Brulocht (hg. Eichler), Buch I, S. 81, Z. 4–5: „Dirre brútegm iſt Criſtus, vnd menſchliche nature iſt die brut, die got gemachet hat z dem bilde vnd z dem gelichniſſe ſin ſelbes.“ Vgl. auch ebd., S. 82, Z. 23–26: „Alſus hat Criſtus vnſer getruwer brútegm mit im vereinet vnſere nature vnd hat vns geuiſitiert in frmedem lande vnd geleret mit himelſchen ſitten vnd mit vollekomenre truwen.“ 156 Pr. Q 25, DW II, S. 13, Z. 11–13. 157 Vgl. Largier I, S. 1079 (zu Pr. Q 57). 158 Pr. Q 54b, DW II, S. 565, Z. 11–12.
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Die Sünde ist also keineswegs in der menschlichen Natur verwurzelt, im Gegenteil: Sündhaftes Verhalten stellt einen Verstoß gegen die natura hominis dar, wie Eckhart im Rückgriff auf die Autorität des Johannes Damascenus bestätigt: „Unde Damascenus l. II dicit quod ‚omne peccatum est contra naturam‘.“159 In der Opposition von menschlicher Natur und Sünde – Letztere in klassischer Definition verstanden als Abkehr des Menschen von Gott und Hinwendung zum Geschöpflichen160 – tritt ein weiteres Moment der Lehre Eckharts zutage, das sich eng mit dem Namen des Augustinus verbindet: die naturhafte und daher unzerstörbare Ausrichtung des Menschen auf Gott, die selbst dann noch zum Tragen kommt, wenn der Mensch den Kreaturen verfallen ist. Deutlich ausgesprochen findet sich diese Grundüberzeugung etwa in Predigt S 93, die zudem für Eckharts Augustinus-Rezeption besonders aufschlussreich ist.161 Die entsprechende Passage lautet: Sant Augustînus sprichet: ‚diu sêle ist eigenlîcher dâ si minnet, dan dâ si daz leben gibet‘. Und sant Paulus sprichet: ‚ich lebe und enlebe doch niht, Kristus lebet in mir‘. Alle crêatûren ruofent den menschen ane: dû suochest wârheit und güete, des ensint wir niht. Suoche got, er ist beide wârheit und güete. Dar umbe sprichet sant Augustînus: ‚suochet, daz ir suochet,
159 In Gen. I, LW I/1, n. 238, S. 382, Z. 11–12. Ganz in diesem Sinne konstatiert der ‚Spiegel der Seele‘ (hg. Vogl): „Miſſetat vnd ſünd ſind wider natur vnd ſind nit der natur beſchaffen.“ Ebd., S. 622, Z. 2746. Energisch verteidigt auch das ‚Buch geistlicher Armut‘ die Trennung von Natur und Sünde; siehe ebd. (hg. Denifle), S. 30, Z. 40–S. 31, Z. 9: „Eſ ist wol menſchlich neigunge der ſúnde, wan daʒ hat der menſche von adams val; aber daʒ er ſúndet, daʒ tt er von mtwillen und iſt nit von natur, mer: es iſt me wider natur, wan die natur wurt ʒerſtrt und entſetʒet von irem adel […], wan die natur begert gtes und nit úbels […], Und dar umb haſſet ſie alles úbel; und wan dan ſúnde bſe iſt, und dar umb haſſet ſie von natur ſúnde.“ Die Angriffe des ‚Buchs geistlicher Armut‘ auf eine nicht näher bestimmte Gegenpartei weisen darauf hin, dass die Frage nach dem Status der menschlichen Natur im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ diskutiert wurde. Siehe dazu auch unten, Kap. 2.3.1. Seuse (hg. Bihlmeyer), Pr. 2, warnt ganz im Sinne des ‚Buchs geistlicher Armut‘ davor, die Abtötung der Sünden als Abtötung der Natur misszuverstehen: „Viel lude dodent die nature und laszent die gebreche leben; da enwirt nummer nicht usz.“ Ebd., S. 517, Z. 10–12. Im theologischen Konzept des ‚Frankfurter‘ dagegen ist eine Vernichtung der Sünde, welche die Natur unbehelligt lässt, ausgeschlossen. Zur Trennung von Natur und Sünde im strikt scholastischen Kontext vgl. Thomas von Aquin: S. th. I–II, q. 71, a. 2. Thomas führt als Autorität für seine Position Augustinus, lib. arb. III, 13, 38 an (siehe ebd., sed contra). Im corpus articuli erläutert Thomas, dass das Laster der Natur widerspreche, weil es sich gegen die Vernunft wende. Diesem Argument verschließt sich der ‚Frankfurter‘ insofern, als er von einer grundsätzlichen Fehlausrichtung der menschlichen Vernunft ausgeht. Siehe dazu Kap. 2.2.3.3, S. 154; Kap. 2.3.1, S. 200; Kap. 2.3.2.3, S. 225–226. 160 Siehe zum Beispiel Augustinus: lib. arb. I, 16, 35 (LLT-A); Thomas von Aquin: S. th. I–II, q. 77, a. 4, c. 161 Siehe dazu auch Löser: Augustinus sprichet, S. 89–96 (insbesondere zu der hier zitierten Passage, die Löser aus philologischer Perspektive analysiert).
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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und niht, dâ ir suochet‘. Er sprichet in einem andern buoche, daz der mensche liep hât und sich vröuwet in den sünden. Kêret er die wîse umbe, er vindet ez wærlîche an gote. An allen dingen suochet der mensche ein sælic leben und ein vröuden lieht. Genüegede und volkomenheit enist an keiner crêatûre und ein ieglich wîset von sich ûf die andern: genüegede der kleider enist niht genüegede der spîse noch des trankes. An allen disen dingen mügen wir suochen genüegede unsers herren volkomenheit. Dar umbe sprichet sant Augustînus: ‚suochet, daz ir suochet, und niht, dâ ir suochet‘.162
Mittels eines dichten Geflechtes von Autoritätenzitaten, das von Augustinus dominiert wird, bekräftigt Eckhart das dem Menschen angeborene Streben nach Gott, das jedoch durch die Attraktivität der Kreaturen irregeleitet werden kann. Das allerdings ändert nichts an der Qualität des Strebens an sich. Es muss nur wieder in die richtige Richtung gelenkt werden. Neben den beiden ersten Zitaten des Kirchenvaters,163 die sich widerstandslos in Eckharts Lehre einfügen, scheint nun für einen Moment – im dritten Zitat – ein ganz anderer Augustinus auf, jener, der statt einer naturgegebenen Ausrichtung des Menschen auf Gott hin die Sündenverfallenheit des Menschen hervorhebt: „Er sprichet in einem andern buoche, daz der mensche liep hât und sich vröuwet in den sünden.“ Den Herausgebern zufolge stammt das Zitat aus einer exegetischen Spätschrift des Augustinus, nämlich In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus.164 Im Hintergrund könnte jedoch auch eine der antipelagianischen Schriften stehen, die Eckhart ebenfalls verwendet hat und in denen die in dem Zitat anklingende negative Anthropologie unter den Prämissen der seit etwa 397 n. Chr. in Augustinus’ Œuvre präsenten Gnadenlehre165 breit entfaltet wird. Man vergleiche etwa folgende Passage aus Contra duas epistulas Pelagianorum:
162 DW IV/1, Pr. S 93, S. 130, Z. 50–S. 131, Z. 60. 163 Wobei das erste Augustinus-Zitat, das Eckhart oft verwendet, eigentlich von Bernhard von Clairvaux stammt. Siehe DW IV/1, S. 130, Anm. 24; Löser: Augustinus sprichet, S. 92. Auch in der nacheckhartischen Mystik wird die Stelle weiterhin Augustinus zugeschrieben. Vgl. Pfeiffer II, Traktat I, S. 383, Z. 30–31; Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (hg. Löser = Pfeiffer II, Traktat III), S. 452, Z. 22–25 (Pfeiffer II: S. 409, Z. 23–25); Pfeiffer II, Traktat XI, S. 496, Z. 28–29; Tauler: Pr. V 51, S. 232, Z. 4–5. 164 Diese Schrift wird auf das Jahr 407 datiert. Vgl. Geerlings: Augustinus, S. 158. Die von den Eckhart-Herausgebern (siehe DW IV/1, S. 131, Anm. 28) identifizierte Stelle lautet: „Illi amando delectationes peccatorum, non agnoscebant Deum: amando quod febris suadebat, injuriam medico faciebant.“ Vgl. PL 35, Sp. 2007–2008 (ep. Io. tr., tr. 4, n. 4). 165 Erstmals tritt die radikale augustinische Interpretation der Gnadenlehre des Paulus in Buch I, quaestio 2 der Quaestiones ad Simplicianum auf. Einen ausführlichen Kommentar zu dieser Schrift bietet Kurt Flasch: Logik des Schreckens. Siehe auch ders.: Freiheit, S. 23–24; Drecoll: Gnadenlehre, S. 488–489.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
sed haec uoluntas, quae libera est in malis, quia delectatur malis, ideo libera in bonis non est, quia liberata non est. nec potest homo boni aliquid uelle, nisi adiuuetur ab eo, qui malum non potest uelle, hoc est gratia dei per Iesum Christum dominum nostrum; ‚omne enim quod non est ex fide, peccatum est‘.166
Im Kontext der eckhartischen Lehre verliert das Augustinus-Zitat jedoch seine negative Färbung: Dass sich der Mensch an den Sünden erfreut, gilt dem dominikanischen Meister nicht etwa als Beweis für eine natura vitiata, sondern vielmehr als Zeichen für die Unzerstörbarkeit des natürlichen Glückseligkeitsstrebens, das die natura elevata auszeichnet. Dieses Streben muss nur ‚umgekehrt‘ werden, um zum ersehnten Ziel zu führen: „Kêret er die wîse umbe, er vindet ez wærlîche an gote.“ Eckhart signalisiert mit seiner Interpretation der Stelle deutlich, dass er sich nicht auf jenen Augustinus einlassen will, der statt der intimen Nähe von Gott und Mensch eine aus der Erbsünde erwachsene grundsätzliche Entfremdung zwischen Schöpfer und Geschöpf postuliert. Die Rezeption des Kirchenvaters erfolgt bei ihm stets unter der Vorgabe einer im Adel der Natur fundierten positiven Anthropologie, die zwar nicht die Verwendung der antipelagianischen Schriften, aber deren antipelagianischen Aussagegehalt ausschließt.167 Das skizzierte Fundament von Eckharts Lehre bleibt dem ‚Frankfurter‘ völlig fremd, insofern hier von einer intrinsischen Gutheit der menschlichen Natur nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil: Das anthropologische Interesse der Schrift konzentriert sich auf die frey, falsch natur,168 wobei den beiden Epitheta im zeitgenössischen Häresiediskurs gerade in dieser Zusammenstellung eine Signalfunktion zukommt. Zuhauf findet sich die negative Qualifizierung als ‚frei‘ und ‚falsch‘ in der antifreigeistigen Polemik;169 auch der ‚Frankfurter‘ selbst kündigt 166 CSEL 60, S. 428, Z. 24–S. 429, Z. 4 [Hervorhebung L. W.]. 167 Der Transfer der augustinischen Aussagen zur Sündhaftigkeit des Menschen in den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts (bzw. dessen spezifischer Ausformung in den eckhartischen Schriften) bewirkt also den Verlust ihrer ursprünglichen Identität, weil sie nun in ein neues Netz von Aussagen eingespannt werden. Zur unterschiedlichen Identität wortgleicher Propositionen in verschiedenen diskursiven Konstellationen siehe auch Foucault: Archäologie, S. 150–151. 168 Kap. 51, S. 148, Z. 137. 169 Scharf wendet sich etwa Merswins ‚Bannerbüchlein‘ (hg. Jundt) gegen die „frigen valschen menschen“. Ebd., S. 393, Z. 11 [eigene Zeilenzählung]. Tauler schließt die Vertreter freigeistiger Positionen explizit als Adressaten seiner Lehre aus: „Dis ist ungeret in der worheit den frijen geisten die in valscher friheit glorierent […]“ (Pr. V 48, S. 218, Z. 37–S. 219, Z. 1). Auch der Franziskaner Marquard von Lindau (hg. Blumrich) verweist auf „valsche frie menschen“, die er in einer interessanten historischen Perspektive als Anhänger des Amalrich von Bena identifiziert (Pr. 37, S. 271, Z. 264–265). Die Kombination von ‚Falschheit‘ und ‚Freiheit‘ findet sich ebenfalls im ‚Geistbuch‘ (hg. Gottschall), S. 36, Z. 168–170: „Hier vmb stond in in [den Menschen, die zu sehr auf das ‚natürliche Licht‘ ihrer Vernunft vertrauen] vff die falschen geiste vnd kúnste vnd die bedeken sich
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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bereits im Prolog programmatisch seine Ausrichtung gegen die „vngerechten, falschen, freyen geiste“ an170 und gibt so zugleich vor, in welches Interpretationsraster seine Aussagen zur natura humana einzuordnen sind. Damit aber zeigt sich in aller Schärfe die Distanz des Traktats zum anthropologischen Optimismus Meister Eckharts. Die genuine Gottbezogenheit des Menschen ist kompromisslos ersetzt durch eine Verketzerung der Natur, die innerhalb der nacheckhartischen Mystik trotz der zunehmend thematisierten Gefahr freigeistiger Irrlehren singulär ist, insofern sie eine Verwurzelung der freigeistigen Häresie in der Substanz des Menschen indiziert. Mit anderen Worten: Dem ‚Frankfurter‘ zufolge wird man nicht zum ‚freien Geist‘, sondern man ist es von Natur aus. Die Konsequenzen dieser Konzeption, die das zeitgenössische Ketzereiverständnis nicht nur an seine Grenzen treibt, sondern überschreitet,171 sind weitreichend. Wir werden im Folgenden immer wieder auf sie stoßen. Der Verketzerung der Natur entsprechend tritt der Mensch in seiner natürlichen Verfasstheit im ‚Frankfurter‘ stets als teuflisches Wesen, als homo diabolicus, in den Blick: Aber ich furchte, hundert thusent ader an czale synt mit dem tufel besessen, da eins mit gotis geiste besessen ist. Das ist do von, das die menschen haben mer gleicheit mit dem tufel dan mit gote. Icheit vnd selbheit, das gehoret alles dem teufel czu, vnd des halben ist er eyn teufel.172
Konsequent verfolgt der Traktat seine negative Anthropologie bis zu den Wurzeln der Menschheit zurück. Wiederum im Gegensatz zu Meister Eckhart, der in Adam eine Verkörperung des ‚inneren‘ – und damit des ‚eigentlichen‘, der guten menschlichen Natur entsprechenden – Menschen sieht,173 vermittelt der ‚Frank-
dik vnder dem glichniss der warhafften geist. Da von fallen ir vil in vngeordente friheit […].“ Zur Kopplung von Häresiediskurs und Vernunftkritik siehe die oben in Anm. 159 genannten Kapitelverweise. 170 S. 67, Z. 6–7. 171 Als Ketzer gilt dem zeitgenössischen Verständnis zufolge nur, wer willentlich und wissentlich an einem theologischen Irrtum festhält, also den Tatbestand der pertinacia erfüllt. Das aber setzt die Möglichkeit voraus, sich freiwillig und ohne naturgegebenen Zwang der Häresie zu- und wieder von ihr abwenden zu können. Die Ineinssetzung von menschlicher Natur und Verfallenheit an die freigeistige Irrlehre, wie sie der ‚Frankfurter‘ vornimmt, muss vor diesem Hintergrund als absurd erscheinen. Zum Häresiebegriff im Spätmittelalter siehe die Ausführungen bei Trusen: Der Prozeß, S. 164–183. 172 Kap. 22, S. 99, Z. 14–18. 173 VeM, DW V, S. 109, Z. 1–3: „Unser herre sprichet in dem êwangeliô: ‚ein edel mensche vuor ûz in ein verrez lant enpfâhen im ein rîche und kam wider‘. Unser herre lêret uns in disen worten, wie edel der mensche geschaffen ist in sîner natûre […].“ Ebd., Z. 18–22: „Der ander mensche, der in uns
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
furter‘ eine ausschließlich negative Sicht auf den Urvater: „Sich, nu kumpt aber eyn Adam ader eyn tufel vnd wil sich behelffen *vnd entschuldigen […].“174 Und noch deutlicher: „Nu kumpt der tufel vnd Adam, das ist die falsch natur […].“175 Mit der Degradierung der natura hominis zur natura vitiata, die der ‚Frankfurter‘ ungeachtet aller ihm eingeschriebenen Unstimmigkeiten und Divergenzen konsequent durchhält, bezieht der Traktat nicht nur Opposition zur Lehre Meister Eckharts, sondern verlässt einen Grundkonsens der ‚deutschen Mystik‘176. Eine augustinische Spiritualität, die den Namen des Kirchenvaters mit der naturgegebenen Ausrichtung des Menschen auf seinen göttlichen Ursprung verbindet, hat hier keinen Ort. Die feindselige Haltung des ‚Frankfurter‘ gegenüber dem ersten Menschen, seine Überzeugung von der genuinen Verdorbenheit der menschlichen Natur und die Diabolisierung des Menschen lassen jedoch inhaltliche Assoziationen mit jenem Augustinus zu, den Meister Eckhart – wie oben gezeigt – bewusst aus seiner Lehre ausklammert, der für Martin Luther und seine Wittenberger Kollegen jedoch seit 1515 zur Leitgestalt ihrer Theologie wird. Wie angesichts seines anthropologischen Pessimismus nicht anders zu erwarten, widerspricht der ‚Frankfurter‘ Meister Eckharts strikter Trennung von Natur und Sünde. Letztere – der Traktat definiert sie ebenfalls als unzulässige Hinwendung zu den Kreaturen, jedoch in besonders scharfer Akzentuierung der Selbstliebe177 – ist der Natur so tief eingepflanzt, dass sich eine Differenzierung verbietet. Die imposante Synonymreihe, die dieses vernichtende Urteil des ‚Frankfurter‘ zum Ausdruck bringt, kann zugleich als prägnante Zusammenfassung seines anthropologischen Entwurfs gelten:
ist, daz ist der inner mensche, den heizet diu geschrift einen niuwen menschen, einen himelschen menschen, einen jungen menschen, einen vriunt und einen edeln menschen. Und daz ist, daz unser herre sprichet, daz ‚ein edel mensche vuor ûz in ein verrez lant und enpfienc im ein rîche und kam wider‘.“ Ebd., S. 110, Z. 5: „Der inner mensche daz ist Âdam.“ 174 Kap. 26, S. 109, Z. 76–77. 175 Kap. 51, S. 145, Z. 63. 176 Dies gilt jedenfalls für die im konkreten Korpus enthaltenen Texte, die im Rahmen dieser Studie als Repräsentanten der ‚deutschen Mystik‘ herangezogen werden. Allerdings lässt sich auch in ihnen eine zunehmende Skepsis gegenüber der menschlichen Natur feststellen, so dass der ‚Frankfurter‘ trotz der singulären Rigidität seiner Position in eine Kontinuitätsstruktur eingebunden ist. Siehe dazu Kap. 2.3.1. 177 Vgl. Kap. 2, S. 73, Z. 1–4: „DIe schrifft vnnd gloube vnd warheit spricht, sunde sie nicht anders, danne das sich die creatur ab keret von dem vnwandelhafftigen gute vnd keret sich zu dem wandelberen, das ist, das sie sich keret von dem volkomen czu dem geteilten vnd vnuolkomen vnde aller meist czu yr selbir.“
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
117
[…] wan vnd wo man spricht von Adam vnd vngehorsam vnd von eynem alden menschen, icheit *vnnd eigen willen vnd eigenwillikeit, selbwillikeit, ich, meyn, natur, *falscheit, tufel, sunde, das ist alles glich vnd eyn. Diß ist alles wider got vnd an got.178
Die aus seiner substanziellen Sündhaftigkeit erwachsende existentielle Tragik des Menschen besteht weniger in der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Sünde als vielmehr darin, dass er unfähig ist, die Perversion seines Strebens zu erkennen. Anders gesagt: Der Mensch glaubt, in seinem natürlichen Streben auf Gott hin ausgerichtet zu sein, ja, die Vergegenwärtigung des Heiles in der Deifikation bereits erreicht zu haben, während er sich tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung bewegt. In den Worten des ‚Frankfurter‘: Das magk man mercken, wan recht als der tufel wenet, er sey got ader wer gerne got *ader vor got gehalden, vnd er yn dissem *allem betrogen ist, vnd ist also gar betrogen, das er wenet, er sie nicht betrogen. Sich, also ist eß auch vmmb das falsche licht vnd syne libe vnd seyn leben. Vnd also der tufel alle menschen gerne betruge vnd an sich vnd an das syne czuge vnd ym glich machte vnd kan dar czu mannich kunst vnd liste, also ist auch yn dissem lichte. Vnnd also den tufel nymant auß dem synen brengen mag, also ist eß auch hie. Vnd kumpt alles do von, das beide, tufel vnd natur, wenet, sie syn vnbetrogenn vnd uff dem aller besten. Vnd das ist die aller boßlichste vnd schedelichste betrigung.179 Auch wenet eß [das natürliche Licht], es sey, das eß nicht ist, wann eß wenet, eß sey got, vnd ist natur […].180
Den zeitgenössischen Kontext für die in der natura vitiata wurzelnde Verwechslung von Natur und Gott bildet die Debatte um die ‚Unterscheidung der Geister‘.181 Im hier zu diskutierenden Zusammenhang ist zunächst jedoch nur von Bedeutung, dass der ‚Frankfurter‘ den von Meister Eckhart behaupteten Heilscharakter der natura humana in sein Gegenteil verkehrt. Während der thüringische Dominikaner darauf besteht, dass die Besinnung auf die menscheit Ermöglichungsgrund für die Deifikation des Menschen ist – in Predigt Q 24 kann er dementsprechend fordern: „[…] nim dich nâch menschlîcher natûre blôz, sô bist dû daz selbe an dem êwigen worte, daz menschlich natûre an im ist“ –,182 so ist genau diese Hinwendung zur menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ Signum des Teuflischen. Ein Glückseligkeitsstreben, dessen grundsätzlich richtige Ausrichtung auch in der Sünde nicht verloren geht und dessen Existenz Eckhart wie gesehen mit Augusti-
178 179 180 181 182
Kap. 43, S. 137, Z. 94–97. Kap. 43, S. 137, Z. 78–87. Kap. 40, S. 126, Z. 23–24. Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 102. Pr. Q 24, DW I, S. 420, Z. 8–10.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
nus-Zitaten belegt,183 liegt deshalb in unserem Traktat jenseits seiner Aussagemöglichkeiten. Da das Streben des Menschen hier von Natur aus fehlgeleitet ist, kann es zumindest aus menschlicher Eigeninitiative nicht umgekehrt werden. Aus schöpfungstheologischer Perspektive ist der Mensch im ‚Frankfurter‘ eine Fehlkonstruktion, insofern er sich von seiner natürlichen Konstitution her nicht auf Gott zuzubewegen vermag. Dennoch gilt wiederum das bereits oben Gesagte: Die aus der verdorbenen Natur resultierende Fremdheit von Gott und Mensch lädt bei einer entsprechenden Lektürehaltung dazu ein, eine Verbindung zum antipelagianischen Augustinus zu ziehen. Die Parallelen sind allerdings, wie sich noch zeigen wird, trügerisch, da der ‚Frankfurter‘ mit seinen Invektiven gegen die natura hominis den augustinischen Horizont nicht nur ausreizt, sondern sprengt. Auf diese Weise entwickelt er eigenes häretisches Potenzial, das freilich nie so dominant wird, dass es den Traktat aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ hinauskatapultiert.184 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich notwendigerweise, dass die im ‚Frankfurter‘ ebenso wie in anderen Texten der ‚deutschen Mystik‘ propagierte Vergottung des Menschen nicht mit einer Vollendung der menschlichen Natur einhergehen kann, sondern mit ihrer Überwindung verbunden sein muss: Dar vmmb ist der tufel vnd natur eyns, vnd wo natur vbirwunden ist, do ist auch tufel vberwunden; vnd hir widervmmb, wo natur nicht vbirwunden ist, do ist auch der tufel nicht vberwunden.185
Damit bezieht der ‚Frankfurter‘ erneut Stellung gegen Meister Eckhart, in dessen Rede der underscheidunge zu lesen ist:
183 Überhaupt findet sich sowohl bei Eckhart als auch in der nachfolgenden Predigt- und Traktatliteratur eine Fülle von Zitaten, die das unauslöschliche Streben des Menschen nach seinem göttlichen Ursprung mit Augustinus untermauern. Stellvertretend seien nur drei genannt: „Sant Augustînus sprichet: got ist etwaz sô getân, swer des begrîfet, der enkan ûf niht anders niemermê geruowen. Sant Augustînus sprichet: herre, nimest dû dich uns, sô gip uns einen andern dich, oder wir engeruowen niemer; wir enwellen anders niht dan dich“ (Meister Eckhart: Pr. Q 20a, DW I, S. 327, Z. 4–7). „Nu het got den menſchen ʒ ime geſchaffen, als ſant Auguſtinus ſprichet: ‚herre du haſt uns gemachet ʒ dir, und unſer hertʒe iſt ungerwet, es rwe danne in dir‘“ (Buch geistlicher Armut, S. 47, Z. 27–30). „Dar vmb spricht sand Augen | stin dy sel ist von got peschaffen vnd wider zw got vnd vmb das mag sy nynndert rue haben dann in im. wann got ist ein geist vnd dy sel ist auch ein geist vnd ist zw got gefüegt als ain geist zwm andern“ (Von der sel wirdichait vnd aigenschafft [hg. Löser, S. 420, Z. 24–30 = Pfeiffer II, Traktat III, S. 405, Z. 12–16]; als Quelle druckt Löser eine Passage aus Pfeiffer II, Pr. LXXV). 184 Siehe dazu Kap. 2.3.1, S. 182–191. 185 Kap. 43, S. 137, Z. 87–90.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Dô sprach ich: got enist niht ein zerstœrer deheines guotes, sunder er ist ein volbringer! Got enist niht ein zerstœrer der natûre, sunder er ist ein volbringer. Ouch diu gnâde enzerstœret die natûre niht, si volbringet sie. Zerstôrte nû got die natûre alsô in dem beginnenne,186 sô geschæhe ir gewalt und unreht; des entuot er niht […]. Gnâde enzerstœret niht die natûre, si volbringet sie.187
Auch wenn Eckhart seine These von der gottgeschenkten Vollendung der menschlichen Natur hier nicht mit der Autorität des Augustinus untermauert, so steht sie doch völlig in Einklang mit seiner bereits dargelegten Überzeugung, dass der Kirchenvater nichts anderes gelehrt habe als den Adel der menschlichen Natur, insofern diese mit jener des Mensch gewordenen Christus identisch sei. So nimmt es nicht wunder, dass die Verbindung zwischen der Vollendung der Natur und dem Bischof von Hippo in der nacheckhartischen Mystik explizit hergestellt wird: „[…] wan ſanctus Auguſtinus ſprichet: ‚got eniſt nit ein ʒerſtrer der natur, mer: er ordent ſie und machet ſie volkomen‘.“188 Einmal mehr wird hier deutlich, wie weit sich der ‚Frankfurter‘ mit seiner Konzeption der natura humana von jenem Augustinus entfernt hat, der in der ‚deutschen Mystik‘ die Intimität von Gott und Mensch bestätigt.
2.2.2.2 Das Gott-Mensch-Verhältnis: Intimität und Fremdheit Wie aber lässt sich die Fremdheit von Gott und Mensch, die im ‚Frankfurter‘ in der Diabolisierung der menschlichen Natur zum Ausdruck kommt, mit der unio als thematischem Zentrum des ‚mystischen Diskurses‘ in Verbindung bringen? Größte Distanz und intimste Nähe scheinen hier in einen unauflöslichen Gegensatz zu geraten. Eliminieren lässt sich diese Unstimmigkeit nicht, gehört sie doch zu den charakteristischen Spannungen des Traktats, die ihn für verschiedene Lesarten öffnen. Und dennoch: Die Struktur der Entfremdung, die in der negativen Anthropologie des ‚Frankfurter‘ verwurzelt ist, durchdringt auch dessen unio-Konzept. Damit erstreckt sich seine Opposition gegenüber der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ auch auf deren eigentlichen Kern.
186 Eckhart reagiert auf die Frage, warum Gott – da er jede Sünde vorausweiß – zukünftige Sünder nicht schon als Kinder sterben lässt. 187 RdU, DW V, Kap. 22, S. 288, Z. 10–S. 289, Z. 6. Siehe auch Meister Eckhart: Pr. S 104, DW IV/ 1, S. 576, Z. 126–128, Sp. A: „Wan got enist niht ein zerstœrer der natûre, mêr: er volbringet sie.“ Vgl. auch Merswins Neun-Felsen-Buch (hg. Strauch), S. 59, Z. 5–8: „[…] du solt wiſsen das got nút ein zrſterer der natturen iſt, got iſt ein follefrer liebes und sellen * den menſchen die noch sinnen willen lebbent.“ 188 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 25, Z. 26–28.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Um die Abweichung des ‚Frankfurter‘ von seinem literarischen Bezugsfeld hinsichtlich der unio-Lehre genauer bestimmen zu können, ist zunächst Aufschluss darüber zu gewinnen, wie der Traktat die innerseelische Begegnung von Gott und Mensch terminologisch fasst. Erschwert wird dieses Vorhaben sowohl durch die divergenten Aussagen des ‚Frankfurter‘, die einem kohärenten unio-Konzept widerstreiten, als auch durch seinen weitgehenden Verzicht auf ein philosophischtheologisches Fachvokabular.189 Immerhin fällt auf, dass der Traktat ungeachtet seiner ‚Vielstimmigkeit‘ durchgängig gerade jene Begriffe und Theologumena meidet, die entweder unmittelbar auf augustinische Schriften zurückzuführen sind oder für deren Geltung der Kirchenvater regelmäßig mit seiner Autorität bürgt.190 Diese Beobachtung lässt sich vor dem Hintergrund jener Aussagen präzisieren, welche weder auf allgemein akzeptanzfähige, konventionalisierte Formulierungen der unio zurückgreifen191 noch das dem ‚Frankfurter‘ eigene Konzept der ‚Vermenschung‘ Gottes artikulieren, sondern die Art der Gottesbegegnung in der Seele beschreiben. Aus den neun Kapiteln, in denen der Begriff ‚Seele‘ überhaupt Verwendung findet,192 kristallisiert sich unter diesem Gesichtspunkt eine thematische Serie von drei Kapiteln heraus: Kapitel 1, 9 und 53. Die entsprechenden Passagen seien im Folgenden in der Reihenfolge ihres Auftretens zitiert: SAnctus Paulus spricht: ‚Wan das volkommende kumpt, so vornicht man daz vnvolkommende vnd das geteilte‘ […]. Nu dar wan das volkomende kommet, so vorsmehet man das geteilte. Wan kumpt eß aber? Ich sprech: Wanne eß, also verre als moglich ist, bekant vnnd entpfunden vnnd gesmeckt wirt yn der sele.193 Auch ist zu wissen, das ewige selikeit an eyme allein leit vnd an nicht anderß. Vnd sal der mensche ader die sele selig seyn ader werden, ßo wil vnnd muß das eyn alleyn yn der sele seyn. Nu mocht man fragen: Was ist aber *das eyn? Ich sprich: Eß ist gut ader gut geworden,
189 Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 122. 190 Siehe dazu die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 191 Darunter sind jene Aussagen zu verstehen, die sich in zahlreichen Texten des paradigmatischen Korpus finden und die daher als wenig Anstoß erregend gegolten haben dürften. Dazu gehört etwa die Definition der unio als Verschmelzung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen. Siehe im ‚Frankfurter‘ z. B. Kap. 27, S. 110, Z. 7–12: „Was ist nu die eynung? Nichts anders, den das man luterlichen vnd einfeldiclichen vnd gentzlichen yn der warheit eynfeldig sey *mit einfeldigen, ewigen willen gotis ader joch czumal an willen sey vnd der geschaffen wille geflossen sey yn den ewigen willen vnd dar jnne vorsmelczet sey vnd czu nichte worden, also das der ewige wille allein do selbist welle thun vnd laße.“ Durch die Kontiguität mit den diskursiven Innovationen des ‚Frankfurter‘ können allerdings auch solche konventionellen Aussagen auf der Werkebene eine sehr spezifische Bedeutung entfalten. Zur Willenslehre des Traktats siehe unten, Kap. 2.3.6, S. 302–312 und Kap. 3.3.1, S. 345–346. 192 Es handelt sich um die Kapitel 1, 7, 8, 9, 11, 23, 26, 34 und 53. 193 Kap. 1, S. 71, Z. 1–2 und S. 72, Z. 17–19 [Hervorhebungen L. W.].
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
121
vnd doch wider diß gut noch das, das man genennen, bekennen ader geczeigen kan, sunder alle vnd vbir alle. Auch darff das nicht yn die sele kommen, wann es bereite dar jnne ist. Eß ist aber vnbekant. Wann man spricht, man sal dar czu kommen ader eß sal yn die sele kommen, das ist also vil, man sal eß suchen, enpfinden vnd smecken, vnd synt eß nu eyn ist, so ist auch besßer eynikeit vnd einfeldikeit dan manigfeldikeit, wan selikeit leit nicht an vil ader vilikeit, sunder an eyn vnd eynikeit.194 […] da von sant Paul spricht: ‚Wan das volkummen kumpt, so wirt das geteilte alles auß gewustet‘. Das meynet also vil: yn welchem menschen das selbe volkummen bekant, befunden vnd gesmackt wirt, als vil es muglich ist yn der czeite, den menschen duncket alle geschaffen ding nichts seyn wider diß volkummen, als eß auch yn der warheit ist, wann außwendig dem volkummen vnd an eß ist kein ware gut noch ware weßen.195
Diese Textstellen kommen darin überein, dass es ein göttliches Element in der menschlichen Seele gebe, welches gesucht bzw. erkannt, empfunden und geschmeckt werden müsse.196 Damit stellt sich der ‚Frankfurter‘ in die Tradition christlicher Metaphysik,197 die von einer Einwohnung Gottes in der Seele ausgeht, welche unauslöschlich ist, durch die Fehlausrichtung des Menschen auf die Kreaturen jedoch ‚verschüttet‘ werden kann.198 In den Worten des ‚Frankfurter‘: „Auch darff das nicht yn die sele kommen, wann es bereite dar jnne ist. Eß ist aber vnbekant.“ Der Verweis auf die Innerlichkeit des Göttlichen erinnert durchaus an jene Form augustinischer Spiritualität, wie sie in der ‚deutschen Mystik‘ durchgängig präsent ist.199 Diese Nähe wird jedoch dadurch gebrochen, dass der ‚Frankfurter‘
194 Kap. 9, S. 81, Z. 12–S. 82, Z. 21 [Hervorhebungen L. W.]. 195 Kap. 53, S. 150, Z. 31–36 [Hervorhebungen L. W.]. 196 Das Ternar von ‚Erkennen, Empfinden und Schmecken‘ bzw. ‚Suchen, Empfinden und Schmecken‘ ist – soweit die modernen Editionen erkennen lassen – Meister Eckhart unbekannt. Der Thüringer greift jedoch häufiger auf den in der monastischen Theologie verankerten Begriff des ‚Schmeckens‘ zurück. Vgl. ders.: Pr. Q 4, DW I, S. 71, Z. 7–9; Pr. Q 73, DW III, S. 263, Z. 1–6. Die Kombination von ‚Erkennen‘ und ‚Empfinden‘ verwendet Eckhart in der Armutspredigt Q 52, allerdings in einem negativen Zusammenhang: Der von Gott erfüllte Mensch dürfe diesen nicht erkennen und empfinden, weil dies noch ein Moment der Andersheit implizieren würde. Siehe ebd., DW II, S. 494, Z. 8–S. 495, Z. 3. Tauler dagegen kennt das vollständige Ternar von ‚Erkennen, Empfinden und Schmecken‘: „Der geist enweis es selber nút, wanne er ist also versmoltzen in das gtteliche abgrunde das er nút enweis, enflet noch ensmacket dan einen einigen lutern blossen einvaltigen Got.“ Pr. V 21, S. 88, Z. 1–4. 197 Siehe dazu die oben in Kap. 1.2.3 unter Anm. 262 und 265 genannten Beiträge von Theo Kobusch. 198 Dazu Kobusch: Mystik als Metaphysik, bes. S. 28–30. 199 Siehe oben, Kap. 2.2.2.1, Anm. 152. Vgl. z. B. auch Meister Eckhart: Pr. Q 10, DW I, S. 161, Z. 8–S. 162, Z. 6: „Als sant Augustînus sprichet: got ist der sêle næher dan si ir selber sî. Diu nâheit gotes und der sêle diu enhât keinen underscheit in der wârheit […]. Diu sêle nimet ir wesen âne mitel
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
für das göttliche Element in der Seele eine spezifische Terminologie wählt, die als solche zwar nicht völlig singulär ist, unter Berücksichtigung ihrer kontextuellen Einbettung – also auf der Werkebene – jedoch distanzstiftend wirkt. Begrifflich wird die Begegnung mit dem Göttlichen als Begegnung mit dem ‚Vollkommenen‘ bzw. mit dem ‚Einen in der Seele‘ gefasst. Aufgrund der parallelen Formulierungen, die in den drei Passagen für die geforderte Hinwendung des Menschen zu diesem Göttlichen verwendet werden, ist anzunehmen, dass beide Bezeichnungen für den ‚Frankfurter‘ konvertibel sind. Bemerkenswert daran ist zunächst die Verquickung von biblischer und philosophischer Terminologie, insofern der Begriff des ‚Vollkommenen in der Seele‘ auf 1 Kor 13, 10 rekurriert,200 der Begriff des ‚Einen in der Seele‘ jedoch in proklischer Tradition steht.201 Dass der ‚Frankfurter‘ sich von den kaum zugänglichen und selbst im Universitätskontext nur sporadisch verwendeten202 proklischen Schriften inspirieren ließ, ist allerdings nicht anzunehmen. Wahrscheinlich geht die Anregung auf Tauler zurück, dessen Denken im ‚Frankfurter‘ ohnehin massiv präsent ist. Der Straßburger Prediger hatte – vermutlich durch Vermittlung des akademisch versierten Dominikaners Berthold von Moosburg203 – den Begriff des unum animae in seinen deutschen Predigten verwendet204 und spricht in Übereinstimmung mit dem neunten Kapitel des ‚Frankfurter‘ davon, dass dieses ‚Eine‘ in der Seele gesucht werden müsse: „Proculus, ein heidenscher meister, […] sprichet: ‚uns ist ein verborgen schen des einen, das ist verre úber die vernunft und verstentnisse‘.“205
von gote; dar umbe ist got der sêle næher, dan si ir selber sî; dar umbe ist got in dem grunde der sêle mit aller sîner gotheit.“ 200 Die Bibelstelle lautet: „cum autem venerit quod perfectum est evacuabitur quod ex parte est.“ Eine Exegese wie im ‚Frankfurter‘ findet sich weder bei Eckhart noch bei Tauler. Eckhart legt die Bibelstelle in Predigt S 104 stattdessen auf die Unvollkommenheit äußerer Werke (insbesondere von Gelübden, leiblichen Kasteiungen und Gebetsverpflichtungen) hin aus, die zu unterlassen seien, sobald der Mensch spüre, dass sie seine Erfüllung durch die Vollkommenheit Gottes behindern. Eckharts Übersetzung weicht so weit von jener des ‚Frankfurter‘ ab, dass sie als Vorlage nicht infrage kommt: „Und daz meinte sant Paulus, dô er sprach: ‚swenne daz kumet, daz dâ vol ist, sô vergât, daz dâ halbez ist‘.“ DW IV/1, S. 608, Z. 537–540, Sp. A. 201 Vgl. Proklos: De decem dubitationibus circa providentiam (hg. Boese), q. 10, S. 106; ders.: De providentia et fato (hg. Boese), Kap. 8, S. 140. Siehe ferner Beierwaltes: Der Begriff. 202 Vgl. Sturlese: Tauler im Kontext, S. 181, 187. 203 Siehe dazu ebd., bes. S. 188–194. Vgl. auch Gabriel: Rückkehr, S. 200–205. 204 Es handelt sich um die Predigten V 60d, 61, 64 und 65. Vgl. Sturlese: Tauler im Kontext, S. 182. 205 Pr. V 64, S. 350, Z. 20–22. In der Edition von Corin (Bd. 2, S. 156, Z. 1–4) lautet die entsprechende Stelle: „Proculus, eyn hedenise meister […] sprach: ‚Iz ist eyn virborgen suchen dez eynen, das is verre inboven der virnvnft vnd virstennise‘.“ Bei Proklos indessen ist gar nicht vom
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Was den Rückgriff des ‚Frankfurter‘ auf den Begriff des unum animae so interessant macht, ist indessen nicht diese terminologische Gemeinsamkeit mit Tauler, sondern eine entscheidende Differenz zu dem Straßburger Dominikaner, die sich allerdings erst durch die Verortung des neunten Kapitels im Gesamtkontext des Traktats ergibt. Wenden wir uns dazu einen Augenblick der Mystikforschung zu: Taulers Aktivierung des proklischen Philosophems hatte Schlüter zu dem Schluss veranlasst, „daß Tauler in der Grundhaltung seines Denkens im Sinne der treffenden Unterscheidung von J. Koch dem dionysischen Neuplatonismus beizuzählen ist, nicht dem augustinischen“.206 Der Verweis bezieht sich auf Kochs Vergleich der Stellungnahmen von Augustinus und Pseudo-Dionysius zum neuplatonischen Gottesbegriff.207 Dabei war der Gelehrte zu dem Ergebnis gelangt, dass Augustinus die Einheitsspekulation der Neuplatoniker nicht übernommen habe – seine Aufmerksamkeit richte sich vielmehr auf den einen Gott in drei Personen –,208 während das Hauptinteresse des Dionysius gerade Gott als dem schlechthin Einen gelte. Zwischen diesen beiden Optionen habe sich letztlich jeder mittelalterliche Denker, der mit der Dreieinheit Gottes befasst war, entscheiden müssen. Wenn Schlüter vor diesem Hintergrund Tauler zum Anhänger eines neuplatonischen Einheitsdenkens macht, irrt er sich allerdings: Zu Recht hat Loris Sturlese darauf hingewiesen, dass der Straßburger Dominikaner dem unum animae grundsätzlich eine trinitarische Verfassung zuschreibt.209 Für ihn ist – in Absetzung von Meister Eckhart210 – nicht das Eine, sondern die Dreieinheit letzte Realität.211
‚Suchen‘ des Einen die Rede, sondern von dessen verborgener ‚Fußspur‘ in uns: „In nobis iniacet aliquod secretum unius vestigium.“ Während Beierwaltes (Der Begriff, S. 265, Anm. 83) die Übersetzung Taulers auf eine fehlerhafte Vorlage zurückführt, nimmt Sturlese eine bewusste Umformung durch den Straßburger Prediger an. Vgl. Sturlese: Tauler im Kontext, S. 193. Auf jeden Fall erhärtet Taulers volkssprachliche Interpretation der proklischen Aussage die Vermutung, dass der ‚Frankfurter‘ sich von ihm zu seiner eigenen Darlegung des ‚Einen in der Seele‘ anregen ließ. 206 Schlüter: Philosophische Lehren, S. 308. 207 Koch: Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus. 208 Vgl. auch Brachtendorf: Meister Eckhart (1260–1328), S. 171–172. 209 Sturlese: Tauler im Kontext, S. 195. Vgl. auch Gabriel: Rückkehr, S. 341–403 (ausführlich zu ‚Gottes trinitarischer Dynamik als Bild in der Seele des Menschen‘). 210 Das bedeutet allerdings nicht, dass Eckhart die Trinität ignoriert oder gar eliminiert. Vielmehr kann der ‚Durchbruch‘ in die göttliche Einheit nur über die Aufnahme des Menschen in die trinitarische Dynamik gelingen. Zur Bedeutung der Trinität in Eckharts Denken vgl. auch Vannier: L’apport, S. 38. 211 Vgl. Büchner: Die Transformation, S. 83.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Auf den ‚Frankfurter‘ indessen trifft Schlüters These voll und ganz zu:212 Hier spielt das trinitarische Moment durchgängig keine Rolle, auch nicht bei der Begegnung von Gott und Mensch im Innersten der Seele. Obgleich das Aufspüren des unum animae in der Tradition christlicher Metaphysik steht, ist es als Fremdheitserfahrung konzipiert: Das göttliche Element bleibt etwas vom Menschen Verschiedenes. Damit siedelt der ‚Frankfurter‘ die größtmögliche Nähe zwischen Gott und Mensch auf einer Ebene an, die der zeitgenössische Traktat ‚Von den drei Fragen‘ zwar als Vorstufe zur unio akzeptiert, aufgrund der immer noch vorhandenen Distanz zwischen Gott und Mensch allerdings zugleich als unzulänglich kritisiert: Und dis ist noch nit die hhst selikeit des geistes, wan der da vindet dz ist eines: der geist der het funden; dz da funden wirt, dz ist dz ander: dz einig ein ist funden. Hie ist noch ein zweyung […].213
212 Wobei freilich die Einschränkung zu machen ist, dass der ‚Frankfurter‘ sich keineswegs explizit mit der dionysischen Einheitslehre auseinandersetzt. In dem ganzen Traktat wird der Areopagite überhaupt nur einmal namentlich genannt, und zwar im achten Kapitel, das eine häufig zitierte Stelle aus Kap. 1 der Mystica theologia wiedergibt. Sie lautet in der Version des ‚Frankfurter‘ (S. 79, Z. 11–S. 80, Z. 17): „Abir sanctus Dyonisius, der wil eß [d. h. einen Vorgeschmack des ewigen Lebens in der Zeit] muglichen. Das *meynt man vß seynen wortten, die er schreibet czu Thimotheo: ‚Czu der schaubunge gotlicher heymlikeit saltu laßen synne vnd synnelickeit vnd alles, das synne begriffen mugen, vnd vornunfft, vornunffticliche wirckunge vnnd alles, das vornunfft begriffen vnd bekennen magk, geschaffen vnd vngeschaffen, vnnd stant uff yn eyme vßgange dein selbs vnnd yn eyme vnwissen alles diß vorgesprochens, vnnd kume yn die eynunge des, das do ist vbir alle weßen vnd bekentniß‘.“ Dieselbe Stelle (Patrologia Graeca 3, Sp. 998B–999A [lateinischer Text]; nicht Sp. 1015AB, wie von Hinten angibt) findet sich, jeweils in eigenständiger Fassung, z. B. in Eckhart-Predigt S 101, DW IV/1, S. 359, Z. 146–S. 360, Z. 150, in der Heinrich Seuse zugeschriebenen Vita (hg. Bihlmeyer), Kap. 52, S. 190, Z. 4–11 und in der ‚Blume der Schauung‘ (hg. Ruh), S. 63, Z. 341–S. 64, Z. 346. Auf welche Vorlage der ‚Frankfurter‘ zurückgreift – und ob diese volkssprachlich oder lateinisch verfasst war –, lässt sich nicht entscheiden. Zur zeitgenössischen lateinischen Übersetzung des Johannes Sarracenus, die u. a. Albertus Magnus verwendet hat, siehe Albertus Magnus: Super Dionysii Mysticam theologiam (ed. Colon., Bd. 37/2), S. 457, Z. 66–68. Dass der ‚Frankfurter‘ Dionysius nur einmal erwähnt, ist deshalb bemerkenswert, weil dieser wie Augustinus zu den Leitfiguren der ‚deutschen Mystik‘ zählt (siehe etwa Pfeiffer II, Traktat XIV, in dem Dionysius mit zwölf namentlichen Nennungen die Hauptautorität darstellt). Dabei lässt sich die von Koch gezogene Grenze zwischen dem ,Einheitsdenker‘ Dionysius und dem ,Dreieinheitsdenker‘ Augustinus allerdings nicht aufrechterhalten. Vielmehr wird Dionysius für die gleichen Theoreme als Autorität herangezogen wie Augustinus, so dass sein Fehlen im ‚Frankfurter‘ nur konsequent ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Beitrag von Niklaus Largier, der zeigt, wie das Konzept der Gottesgeburt in der nacheckhartischen Predigtsammlung Paradisus anime intelligentis einerseits auf Augustinus rekurriert, zugleich aber programmatisch an eine dominikanisch geprägte Dionysius-Interpretation herangeführt wird. Vgl. Largier: Kontextualisierung als Interpretation. 213 Von den drei Fragen (hg. Denifle), S. 141, Z. 7–10 [eigene Zeilenzählung].
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
125
Diese zweyung kann nur in der jegliche Distanz überwindenden trinitarischen Selbstentfaltung des wesenhaft einen Gottes aufgehoben werden. Im ‚Frankfurter‘ jedoch entbehrt das Auffinden des ‚Vollkommenen‘ bzw. ‚Einen in der Seele‘ sowohl jeglicher Dynamik als auch jeglicher personalen Komponente. Gerade diese beiden Elemente aber sind nicht nur konstitutiv für die Intimität des GottMensch-Verhältnisses, sondern auch genuin mit der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ verbunden. Dies sei anhand von vier Aspekten – Metaphernvielfalt, Fließmetaphorik, Trinität, Gottesgeburt im Seelengrund – dargelegt. 1. Metaphernvielfalt. Dass der ‚Frankfurter‘ mit dem ‚Vollkommenen‘ und dem ‚Einen‘ auf Termini zurückgreift, die jeglichen Vorstellungsinhalts entbehren und das Göttliche somit jeglicher Kategorialisierung zu entziehen sucht, ist zunächst nicht weiter auffällig, zumal der Traktat seine Wahl mit der Unerkennbarkeit und Unaussprechlichkeit Gottes begründet214 und sich damit in die von Pseudo-Dionysius geprägte215 und in der ‚deutschen Mystik‘ etablierte216 Tradition negativer Theologie stellt. Indem er die innerseelische Gottesbegegnung auf diese beiden Begriffe reduziert, verzichtet er im Unterschied zu anderen mystischen Prosatexten jedoch darauf, die gegenseitige Zuwendung von Gott und Mensch in ihrer Vitalität zum Ausdruck zu bringen. Das ‚Eine‘ bzw. ‚Vollkommene in der Seele‘ erscheint als eine ebenso abstrakte wie statische Größe. Demgegenüber drückt sich die Dynamik des Gott-Mensch-Verhältnisses im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ in einer dem ‚Frankfurter‘ fremden Metaphernvielfalt aus,217
214 Kap. 1, S. 71, Z. 12–S. 72, Z. 16: „Die geteilten synnt begrifflich, bekentlich vnd sprechentlich. Das volkommende ist allen creaturen *vnbekentlich, vnbegrifflich vnd vnsprechlich yn dem als creatur. Dar vmmb nennet man das volkommende nicht, wann eß ist disßer keyns. Die creatur als creatur magk diß nicht bekennen noch begriffen, genennen noch gedencken.“ 215 Auch wenn Dionysius nicht als Begründer der negativen Theologie gelten kann, so war doch seine Verknüpfung der negativen Theologie mit dem aufsteigenden Erkenntnisweg (und komplementär der positiven Theologie mit dem absteigenden Erkenntnisweg) innovativ und innerhalb der christlichen Theologie von immensem Einfluss. Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 1, S. 45. Siehe zur negativen Theologie des Dionysius einführend ebd., S. 42–53, bes. S. 51–53. 216 Zur Dionysius-Rezeption Meister Eckharts siehe Guerizoli: Die Verinnerlichung, S. 18–25. Guerizoli weist darauf hin, dass es zu den Charakteristika der Lehre Eckharts gehört, das augustinische Motiv vom ‚Innersten‘ der Seele mit dem dionysischen Motiv der Namenlosigkeit Gottes zu verbinden. Insofern der ‚Frankfurter‘ ebenfalls auf die Unaussprechlichkeit des ‚Vollkommenen‘ bzw. ‚Einen in der Seele‘ hinweist, stellt er sich daher in die eckhartische Tradition. Im Unterschied zum ‚Frankfurter‘ kennt Eckhart allerdings für das namenlose intimum animae eine Fülle von Bezeichnungen, die gerade in ihrer Vielfalt die Undefinierbarkeit dieses ‚Etwas‘ unterstreichen und zugleich seine Dynamik hervorheben. Siehe dazu die folgenden Ausführungen. 217 Zu beachten ist, dass diese Metaphern nicht als Vehikel verstanden werden dürfen, um eine ansonsten nicht formulierbare ‚mystische‘ Lehre in Worte zu kleiden. Die von Eckhart verwendeten Termini haben immer auch eine präzise bestimmbare philosophische Bedeutung. Vgl. dazu
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
für die seit Meister Eckhart immer wieder Augustinus als Kronzeuge herangezogen wird. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Begriffe wie vünkelîn,218 synderesis219 und gemüete,220 aber auch metaphorische Umschreibungen wie jene vom in der Seele funkelnden ‚Etwas‘221 bzw. von Gott, der in der
etwa Loris Sturleses Auslegung der Predigt Q 16a vor dem Hintergrund der deutschen Regionalphilosophie des vierzehnten Jahrhunderts. Sturlese: Mystik und Philosophie, bes. S. 49–50. Auf den philosophischen Hintergrund der Metaphernvielfalt verweist explizit auch Johannes Tauler, wenn er die einzelnen Begriffe auf die aus seiner Sicht bedeutendsten Lehrer des Seelenadels zurückführt. Vgl. Pr. V 64, S. 347, Z. 9–14: „Von disem inwendigen adel der in dem grunde lit verborgen, hant vil meister gesprochen beide alte unde núwe: bischof Albrecht, meister Dietrich, meister Eghart. Der eine heisset es ein funke der selen, der ander einen boden oder ein tolden, einer ein erstekeit, und bischof Albrecht nemmet es ein bilde in dem die heilige drivaltikeit gebildet ist und do inne gelegen ist.“ Als antike Vertreter dieser Tradition nennt Tauler Platon, Aristoteles und Proklos (ebd., Z. 21). 218 Meister Eckhart: Pr. Q 20a, DW I, S. 336, Z. 1–3: „Sant Augustînus sprichet, daz daz vünkelîn ist mê an der wârheit dan allez, daz der mensche gelernen mac.“ 219 Eine bemerkenswerte Verbindung von Augustinus und der synderesis als oberster Seelenkraft findet sich im Buch von der heiligen lebine des Hermann von Fritzlar (hg. Pfeiffer I). In der Vita des Kirchenvaters, die zur Darstellung seiner Vorbildlichkeit auf mystische Terminologie zurückgreift, findet sich folgende Passage: [Man soll Augustinus loben] „umme di hôheit sînes vorstentnisses, wan her alle lêrêre und meistere ubervlogen hât, wanne her ûz gesprochin hât daz underscheit der heiligen drîvaldikeit unde von deme bilde in der sêle unde von der kraft in der sêle, di her heizit sinderisis. In dirre kraft mac inkein krêatûre wirken noch inkein krêatûrlîch bilde, sunder got der wirket dar in âne mittel und âne underlâz […]. Diz heizet ein engelischez bekentnisse, alsô sanctus Augustînus gehabit hât.“ Siehe zur Synderesis auch Meister Eckhart: Pr. Q 20a, DW I, S. 333, Z. 4–S. 334, Z. 1; Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 132, Z. 38; Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 31, S. 217, Z. 179–187; Lehrsystem (hg. Cadigan), S. 89, Z. 15–21. Eckhart betont, dass es sich bei der Synderesis um ein ‚natürliches Licht‘ handele, welches den Menschen auf Gott hin ausrichtet. Dasselbe betont Marquard. Im ‚Frankfurter‘ dagegen gilt jedes ‚natürliche Licht‘ als teuflisch. Siehe dazu unten, Kap. 2.3.2.3 mit Anm. 641. Zu Luthers zunehmend negativer Einstellung gegenüber der Synderesis, die zum Zeitpunkt seiner Lektüre des ‚Frankfurter‘ bereits voll ausgeprägt gewesen sein dürfte, siehe oben, Kap. 2.1, Anm. 60. 220 Pr. Q 83, DW III, S. 437, Z. 4–7: „N spricht augustinus das an dem obersten teile der selen, das do mens heiset oder gemte, da hat ‹got› geschepfet mit der sele wesen eine craft, die heisent die meistere ein sloz oder einen sch‹r›in geis‹t›licher formen oder formelicher bilde.“ Zur spezifischen Bedeutung von ‚Gemüt‘ bei Meister Eckhart siehe Hasebrink: sich erbilden, bes. S. 128–129. In Bezug auf Johannes Tauler macht Wyser darauf aufmerksam, dass es sich bei gemt um das wichtigste Äquivalent für den ‚Seelengrund‘ handelt. Siehe ders.: Taulers Terminologie, bes. S. 398–403. Insofern das ‚Gemüt‘ in Taulers Terminologie den Geist des Menschen in seinem kontinuierlichen Streben zu sich selbst – und damit zum Göttlichen als Innerstem des Geistes – bezeichnet, kommt ihm genau jenes dynamische Moment zu, das dem ‚Frankfurter‘ fehlt. 221 Meister Eckhart: Pr. S 101, DW IV/1, S. 363, Z. 180–S. 364, Z. 183: „Von disem sprach ouch sant Augustînus: ich wirde eines in mir gewâr, daz vorspilet und vorblicket mîner sêle. Würde daz volbrâht und bestætiget in mir, daz müeste êwic leben sîn. Ez birget sich und wîset sich doch.“
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Seele aufglänzt,222 ohne den Seelenkräften jemals vollkommen zugänglich zu sein. Am engsten mit dem Namen des Augustinus verknüpft ist jedoch der Terminus abditum mentis, der – wie Andreas Speer gezeigt hat – 223 bei Meister Eckhart sein systematisches Profil gewinnt und als dessen deutsche Übersetzung sich die Bezeichnung ‚Seelengrund‘ etabliert.224 Nun deutet auch der ‚Frankfurter‘ an einer einzigen Stelle an, dass ihm dieser Begriff nicht völlig fremd ist. Die betreffende Passage lautet: Vnnd wer got gehorsam gelaßen vnd vnderthan sal vnd wil seyn, der muß vnd sal *allen gelassen, gehorsam vnd vnderthan syn yn lidender wiße vnd nicht yn thunder wiße, vnd diß alczumal yn eyme swigende ynbliben yn syme grunde seyner sele […].225
Hier geht es allerdings nicht um die Begegnung von Gott und Mensch im Innersten der Seele, sondern um einen nicht näher definierten geistigen Rückzugsbereich, der das passive Ertragen äußerer Unbill ermöglicht und so ganz in den
222 Meister Eckhart: Pr. Q 71, DW III, S. 228, Z. 11–S. 229, Z. 3: „Dâ von sprichet sant Augustînus: sît dem mâle daz got ein wâr lieht ist und der sêle ein enthalt und ihr næher ist, dan diu sêle ir selber sî: swenne diu sêle gekêret ist von allen gewordenen dingen, von nôt muoz daz sîn, daz got in ir glenze und blicke.“ 223 Siehe Speer: Abditum mentis. 224 Eckhart bietet in seinen lateinischen Schriften eine Vielzahl von Belegstellen für die Verwendung des augustinischen Begriffs abditum mentis. Siehe etwa Speer: Abditum mentis, S. 460, Anm. 45. Die Verdeutschung ‚Seelengrund‘ ist der Kernbegriff von Eckharts Gottesgeburtzyklus (Predigten S 101–104 in DW IV/1). Daneben verwendet Eckhart freilich die ganze Bandbreite hier vorgestellter – häufig ebenfalls mit dem Namen des Augustinus verknüpfter, wenn auch nicht genuin augustinischer – Metaphern, die durch weitere zu ergänzen wären. Otto Langer weist darauf hin, dass sich in den deutschen Predigten mehr als zwanzig Termini zur Bezeichnung des göttlichen ‚Etwas‘ im Innersten der Seele finden. Vgl. Langer: Meister Eckharts Lehre, S. 177. Auch Johannes Tauler führt seinen Zentralbegriff grunt explizit auf Augustinus zurück, was die Wirkmächtigkeit von Eckharts Augustinus-Deutung erweist, auch wenn Eckharts Verständnis des Seelengrundes nicht mit demjenigen Taulers identisch ist. Vgl. etwa Tauler: Pr. V 65, S. 357, Z. 26–30: „Wie harte ein crútz das ist, das wissent ir wol: als swr ist und nút minre, sprichet er, den uswendigen menschen ze ziehende in den innewendigen menschen und von den bildelichen dingen und gesichtlichen in die ungesichtlichen: das ist in dem grunde das S. Augustinus nemt: ‚abditum mentis‘“; Tauler: Pr. V 24, S. 101, Z. 25–32: „Man sprichet und meinet dis eigenliche on underlos in dem himmel dis wore gebet, das ein worer ufgang ist in Gotte, das treit rechte das gemte zmole uf, also das Got in der worheit múge eigentliche ingon in daz luterste, in das innigeste, in daz edelste, in den innerlichesten grunt, do wore einikeit alleine ist, von dem sancte Augustinus sprichet das die sele habe in ir ein verborgen appetgrunde, daz enhabe mit der zit noch mit aller diser welte nút z tnde, und es ist verre úberhaben úber das teil das dem licham leben und bewegunge git.“ Zur Bedeutung des Augustinus für Taulers Konzeption des Seelengrundes vgl. Wyser: Taulers Terminologie, S. 392–398. 225 Frankfurter, Kap. 23, S. 101, Z. 6–9.
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Rahmen der den ‚Frankfurter‘ durchziehenden Demutstheologie eingepasst ist.226 Von einer Verwendung des Begriffs ‚Seelengrund‘ als terminus technicus, um die naturhafte Gottesgegenwart im Menschen systematisch zu bestimmen, findet sich im ‚Frankfurter‘ keine Spur. Insofern steht die oben zitierte Textstelle auch in keinerlei Zusammenhang mit den Passagen, die von der Hinwendung des Menschen zum ‚Vollkommenen‘ bzw. ‚Einen in der Seele‘ handeln. 2. Fließmetaphorik. Der statische Charakter der innerseelischen Gottesbegegnung wird im ‚Frankfurter‘ dadurch unterstrichen, dass das ‚Eine‘ bzw. ‚Vollkommene‘ nicht nur semantisch unbestimmt ist, sondern auch der unmittelbaren Einbettung in einen dynamischen Kontext entbehrt. Demgegenüber werden die oben genannten Bezeichnungen für das Innerste der Seele in den mystischen Predigten und Traktaten so ausgelegt, dass sie selbst dann das lebendige Wirken Gottes im Menschen zum Ausdruck bringen, wenn sie diese Vorstellung nicht von sich aus evozieren. Das beste Beispiel hierfür ist der eigentlich statische Begriff des abditum mentis, der von Eckhart – im Rückgriff auf Augustinus – dynamisch aufgeladen wird: „[…] item quod ipse Augustinus docet quod in abdito mentis semper lucet, quamvis lateat, lumen divinum“,227 oder: „Augustinus docet quod in abdito mentis potentiae animae semper sunt in actibus suis.“228 Auf eine solche semantische Dynamisierung des ‚Vollkommenen‘ bzw. des ‚Einen‘ verzichtet der ‚Frankfurter‘. Insbesondere aber entbehrt die innerseelische Begegnung von Gott und Mensch jener Fließmetaphorik,229 die zu den Grundkonstituenten der ‚deutschen Mystik‘ gehört, insofern sie im Rückgriff auf das
226 Im Kontrast zur geistlichen Hybris der ‚freien Geister‘ schreibt der ‚Frankfurter‘ dem vergotteten Menschen eine kontinuierliche Demutshaltung zu, wie sie von Christus beispielhaft verwirklicht wurde. Vgl. Kap. 35, S. 119, Z. 1–3: „Auch gehoret vort czu yn eym vorgottenn menschen war, gruntliche, wesenliche demutikeit, vnd wo die nicht ist, do ist nicht eyn vorgotter mensch. Vnd das hat Cristus geleret mit wortten vnd mit wercken vnd mit leben […].“ Auf der paradigmatischen Achse des ‚Frankfurter‘ sind solche Aussagen keineswegs ungewöhnlich, sondern finden sich in zahlreichen Texten der nacheckhartischen Mystik. Eine besondere Akzentuierung erhalten sie allerdings auf der syntagmatischen Ebene: Denn im ‚Frankfurter‘ ist der vergottete Mensch aufgrund der eigentümlichen Dependenzlehre des Traktats zugleich der ‚vermenschte Gott‘, so dass alle physischen wie psychischen Merkmale des homo divinus – vor allem aber seine demütige Leidensbereitschaft – im eigentlichen Sinne Eigenschaften Gottes sind. Siehe dazu vor allem die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3. 227 Meister Eckhart: In Sap., LW II, n. 95, S. 429, Z. 2–4. 228 Meister Eckhart: In Eccl., LW II, n. 27, S. 255, Z. 5–6. 229 In anderen Kontexten des ‚Frankfurter‘ spielt die Fließmetaphorik durchaus eine Rolle, am konsequentesten bei der Verschmelzung von menschlichem und göttlichem Willen. Siehe dazu das Zitat oben, Anm. 191. Das Fließen des geschaffenen Willens in den ewigen Willen gehört zu den konventionellen Motiven der ‚deutschen Mystik‘, nimmt im ‚Frankfurter‘ jedoch eine sehr spezifische Färbung an. Siehe dazu unten, Kap. 3.3.1, S. 345–346.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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neuplatonische Kreislaufmotiv von Verharren, Ausgang und Rückkehr230 die Aufhebung der Entfremdung von Gott und Mensch zu ihrem Hauptanliegen macht. Dem allerdings mag man entgegenhalten, dass bereits das Eingangskapitel des ‚Frankfurter‘, welches die Hinwendung des Menschen zu jenem undefinierbaren göttlichen Element in seiner Seele erstmals thematisiert, die emanatio der Kreaturen aus ihrem göttlichen Ursprung aussagt. In einem ersten Anlauf, die Gegenbegriffe ‚Vollkommenes‘ und ‚Geteiltes‘ zu erläutern – also bevor er auf das ‚Vollkommene in der Seele‘ eingeht –, bedient sich der Traktat dabei auch der gängigen Fließmetaphorik: Nu mercke: Was ist das volkommende vnd das geteilte? Das volkommende ist eyn weßen, das yn ym vnnd yn seynem weßen alles begriffen vnd beslossen hat, vnnd an das vnd vßwendig dem keine wares weßen ist, vnnd yn dem alle dingk yr weßen han, wanne eß ist aller dinck weßen vnnd ist yn ym selber vnwandelbare vnnd vnbeweglich vnd wandelt vnd beweget alle ander dingk. Abir das geteilte adder das vnvolkommende ist das, das vß disßem volkommende gevrsprungt ist ader wirt, recht als eyn glantz ader eyn scheyne vß flusset auß der sonne ader vß eynem lichte vnnd schynet etwas, diß ader das, vnnd heißet creatur.231
Die hier geschilderte Bewegung betrifft allerdings nur das Hervorgehen der Kreaturen aus dem Göttlichen232 und damit jenen Aspekt des göttlichen Wirkens, der in den ausführlichen Trinitätsspekulationen des ‚Vorsmak‘-Traktats als ‚ausgehende Wirkung‘ (bei Eckhart: ebullitio) bezeichnet wird.233 Mit keinem Wort thematisiert der ‚Frankfurter‘ die ‚innebleibende Wirkung‘ (bei Eckhart: bullitio),234 d. h. das formelle Hervorgehen der göttlichen Personen und des Seelengrundes aus dem göttlichen Grund.235 Gerade dieser letzte Aspekt ist innerhalb
230 Siehe dazu Goris: Der Mensch. 231 Kap. 1, S. 71, Z. 2–11 [Hervorhebung L. W.]. 232 Im Hintergrund steht hier die aus neuplatonischer Tradition stammende Emanationslehre, die im christlichen Kontext jedoch zum Schöpfungsakt umgedeutet wird. Vgl. Haug: Meister Eckhart und das ‚Granum sinapis‘, S. 76. 233 Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Hillenbrand), S. 135, Z. 11–12: „Und mit geschaffenem, das do ist ein susgetane usgande wúrkunge, so sin kreaturen usgeflossen von gotte“; S. 141, Z. 35–36: „Mit gottes usgander wúrkunge fliessent von gotte die creaturen.“ 234 Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Hillenbrand), S. 136, Z. 6–8: „Ein ander usflus ist und heisset ein inblibende uzflus, der da geschiht mit einer inblibender wúrkunge […].“ Der Traktat ‚Von zweierlei Wegen‘ (hg. Pfeiffer) fasst die Differenz von bullitio und ebullitio terminologisch als Unterschied von ‚ewigem‘ und ‚zeitlichem‘ Ausfluss. Vgl. ebd., S. 248, Z. 29–S. 249, Z. 5. 235 Der Seelengrund ist also keine statische Größe, wie die Bezeichnung zunächst suggeriert, sondern ein „dynamischer ontologischer Bezug“ (so Langer: Meister Eckarts Lehre, S. 184). Insofern er durch formelle Emanation – d. h. qua bullitio – aus dem göttlichen Grund hervorgeht,
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des ‚mystischen Diskurses‘ jedoch von entscheidender Wichtigkeit, da er die Gottebenbildlichkeit des Menschen konstituiert236 – ein eminent augustinisches Motiv, das im ‚Frankfurter‘ bezeichnenderweise mit Ausnahme einer einzigen Stelle ebenfalls fehlt. Darauf wird noch ausführlicher einzugehen sein.237 Dass der Traktat in seinem Eingangskapitel den Hervorgang alles Seienden aus dem göttlichen Sein erläutert,238 die innerseelische Berührung des ‚Vollkommenen in der Seele‘ dann aber gerade nicht analog dazu in einer Metaphorik des Fließens zum Ausdruck bringt, betont einmal mehr die Statik der Gottesbegegnung.239
ist er ein beständiges Werden. Siehe dazu Brachtendorf: Meister Eckhart (1260–1328), S. 170 sowie die folgende Anmerkung. 236 Sowohl in der Lehre Meister Eckharts als auch in jener Dietrichs von Freiberg hat ‚Bild‘ (im Sinne von imago, nicht von species) die Bedeutung einer substanziellen Konformität, da das Bild aus seinem Urbild als wesenhaft mit diesem identisch hervortritt. Insofern der Mensch in seinem Innersten imago Dei ist, ist er daher ungeschaffen und unerschaffbar. Diese Besonderheit, die den Menschen über die Schöpfung erhebt, drückt das ‚Lehrsystem‘ (hg. Cadigan) in einem Anruf Gottes folgendermaßen aus: „O got in diner magenkraft, sider alle dinge sint in dinem gewalt vnd wunderlich geflossen vsser diner gotheit, die materie enphangen hant, so ist der mensche noch wunderlicher geflossen vsser diner gotheit. Wan er fret dz bilde der gotheit getruket in der sele sin […].“ Ebd., S. 55, Z. 17–S. 56, Z. 3. Wichtig in unserem Zusammenhang ist die mit dem Bildbegriff verbundene Dynamik, insofern der Sohn Gottes und der Seelengrund als ein Bild aus dem Vater herausfließen. Vgl. Langer: Meister Eckharts Lehre, S. 183. Trinitätslehre und Bildlehre sind also aufs Engste miteinander verbunden. So nimmt es nicht wunder, dass der ‚Frankfurter‘ eine Bildlehre im Sinne Meister Eckharts und Dietrichs von Freiberg nicht kennt. Siehe auch die vorhergehende Anmerkung sowie unten, Kap. 2.2.3.3–2.2.3.6. 237 Siehe unten, Kap. 2.2.3. 238 Zweifellos erinnern die Ausführungen – wie die oben, S. 129, zitierte Passage zeigt – stark an die Analogielehre Meister Eckharts, derzufolge die transzendentalen Vollkommenheiten, bei denen sich der ‚Frankfurter‘ auf das Sein (wesen) beschränkt, dem Geschöpf kontinuierlich mitgeteilt werden, ohne jemals in ihm Wurzel zu schlagen. Als solche (formaliter) kommen die transcendentia nur Gott zu, so dass die gesamte Schöpfung in ontologischer Abhängigkeit verharrt. Um diese Dependenz zu veranschaulichen, verwendet auch Eckhart das Bild von der Sonne, deren Licht keinerlei Selbständigkeit erlangen kann. Siehe z. B. Meister Eckhart: BgT, DW V, S. 36, Z. 14–20. Das Analogiemodell des ‚Frankfurter‘ bleibt allerdings auf den kreatürlichen Bereich beschränkt. Bei der Begegnung des Menschen mit dem ‚Vollkommenen in der Seele‘ greift es nicht. Zu Eckharts Analogielehre siehe den älteren, aber nach wie vor instruktiven Beitrag von Koch: Zur Analogielehre. Vgl. ferner die neue Perspektiven bietende Studie von Schiffhauer: ,nos filii dei sumus analogice‘. Einen konzisen Überblick im Rahmen seiner umfassenderen Studie zu ‚gelâzenheit und abegescheidenheit‘ bietet Panzig, S. 213–219. 239 Dass der Mensch dazu aufgefordert ist, sich suchend dem ‚Einen‘ bzw. ‚Vollkommenen in der Seele‘ zuzuwenden, offenbart einmal mehr den Unterschied zur eckhartischen Lehre. Im ‚Frankfurter‘ trifft der Mensch in seinem Innersten auf Gott als sein Gegenüber, nicht – wie bei Eckhart – auf Gott als sich selbst, insofern er wie die zweite göttliche Person als imago Dei aus Gott hervorfließt. Auch von daher ist der Verzicht des Traktats auf jegliche Fließmetaphorik hinsicht-
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3. Trinität. Die Bedeutung, welche der trinitarischen Dynamik in den Predigten und Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ zugemessen wird, lässt sich adäquat nur aus dem existentiellen Anliegen heraus verstehen, die unfassbar große Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf zu überwinden. Die Selbstentfaltung des einen göttlichen Wesens in die drei göttlichen Personen – d. h. die innergöttliche Aufhebung der absoluten, jeglicher Relationalität entzogenen Einheit – bildet dabei den Ermöglichungsgrund für die Aufnahme des Menschen (oder besser: des Menschen, insofern er ‚Bild Gottes‘ ist) in die prozessualen Vorgänge: In der processio verbi und der processio amoris konstituiert sich der wesenhaft göttliche, freilich niemals ontologische Selbständigkeit erlangende Seelengrund, um sich wie die Personen des Sohnes und des Heiligen Geistes in einem zeitenthobenen Kreislauf stets wieder zum Vater und damit in den göttlichen Grund zurückzuwenden.240 Die oben genannte Fließmetaphorik ist genuin mit dieser Erhebung des Menschen in die Sphäre des Göttlichen verbunden. Entsprechend viel Aufmerksamkeit finden die trinitarische Dynamik als solche sowie die durch den göttlichen Kreislauf ermöglichte und in ihm begründete Verwandtschaft der menschlichen Seele mit ihrem Schöpfer. Angesichts des überwältigenden Ansehens, das Augustinus’ berühmter Schrift De trinitate im Mittelalter allgemein zuteil wurde und das sich auch in der ‚deutschen Mystik‘ widerspiegelt, nimmt es kaum wunder, dass der Kirchenvater auch für diesen Komplex gerne als Autorität herangezogen wird.241
lich der innerseelischen Begegnung von Gott und Mensch nur konsequent. Zum ‚Einen in der Seele‘ als das göttliche Andere siehe auch die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. 240 Siehe oben, Anm. 234 und 235. Die zeitenthobene Dynamik von Ausgang aus dem göttlichen Grund und Rückkehr in den göttlichen Grund – verstanden als ein einziger intellektueller Vorgang – ist Kennzeichen der imago Dei. Siehe dazu die einander ergänzenden Beiträge von Kurt Flasch: ‚Procedere ut imago‘ und ‚Converti ut imago‘. Siehe auch unten, Kap. 2.2.3.1. 241 Zur Trinität vgl. etwa Meister Eckhart: Pr. Q 61, DW III, S. 35, Z. 7–S. 36, Z. 1: „Sant Augustînus sprichet: daz wort des himelschen vaters ist der eingeborne sun, und der geist sînes mundes ist der heilige geist“; Pfeiffer II, Pr. LXXVIII, S. 253, Z. 2–3: „Sant Augustînus sprichet: der vater unde der sun einhellent sich in dem heiligen geiste, der ein zuosamenknüpfer ist ir beider“; Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 43, Z. 77–79: „Hir vf spricht Sant Augustinus, daz der gotheit ist also vil in einer personen alse in allen drin, vnd in allen drin also vil alse in einer“; Spiegel der Seele (hg. Vogl), S. 340, Z. 274–276: „Sant Augustin ſchreibt, das der hailig geiſt iſt ain perſon mitten in der gothait vnd iſt in ain ewig ewen gleich vnd das ſelb weſen vnd ſubſtancʒ mit dem vater vnd dem ſun […].“ Zur Verwandtschaft der Seele mit Gott siehe etwa Pfeiffer II, Traktat II, S. 386, Z. 19–22: „Allez daz man von gote gesprechen mac, des hât diu sêle etwaz gelîchnisse. Dar ûf sprichet sant Augustînus: als ez umbe got ist, alsô ist ez ouch umbe die sêle. Alsô hât got der sêle eine glîcheit sîn selbes gegeben […].“ Zur trinitarischen Struktur der Seele vgl. etwa Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 25, S. 168, Z. 30–33: „Die ander wiſ iſt, daz man got ſihet in der vernnftigen ſele, als ſi ain bild iſt der hhen
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Im ‚Frankfurter‘ indessen spielt die Dreipersonalität Gottes weder in spekulativer noch in existentieller Hinsicht eine Rolle. Zwar überschreitet der Traktat die Grenze zur Heterodoxie nicht, insofern er mehrmals vage auf „die personlich vnderscheid“ im Bereich des Göttlichen hinweist.242 Mit Ausnahme einer trinitarischen Schlussformel am Ende des 53. Kapitels,243 welches vermutlich eine nachträgliche redaktionelle Ergänzung darstellt,244 werden die göttlichen Personen jedoch nie explizit in ihrer Dreizahl benannt. Das Entscheidende daran in Hinblick auf das unio-Konzept des ‚Frankfurter‘ ist seine Verweigerung gegenüber der trinitarischen Selbstentfaltung als Ermöglichungsgrund der Vergottung des Menschen. Diese muss deshalb anders modelliert werden, als es dem Grundkonsens der ‚deutschen Mystik‘ entspricht. Hier greift die vor dem Hintergrund christlicher ‚Normaltheologie‘ ebenso prekäre wie originelle Lehre einer ‚Vermenschung‘ Gottes, welche zwar die Möglichkeit und Notwendigkeit der unio begründet, jedoch auf andere Weise als durch die Aufnahme des Menschen in die innergöttliche Dynamik, um ihn in den göttlichen Grund emporzutragen.245 4. Gottesgeburt im Seelengrund und Sohnwerdung des Menschen. Mit dem aus patristischer Zeit stammenden und von Meister Eckhart zum Zentrum seiner Lehre erhobenen Theologumenon von der Gottesgeburt im Seelengrund246 erreicht die Intimität von Gott und Mensch ihren Höhepunkt: Indem Gottvater sein Wort in die Seele hinein spricht – Eckhart betont, dass es sich dabei nicht um einen von der innertrinitarischen processio verbi getrennten Vorgang handelt –,247
driualtikait, wan ſant Auguſtinus ſprichet, wer in daz inre gemút der ſele geſehen mht, im wr als offen die hohen driualtikait, als daz die ſunn an dem himel lffet.“ 242 Kap. 31, S. 114, Z. 20–21: „[…] vnd yn dissem vorgehen vnd vffenbaren wirt die personlich vnderscheid“; Kap. 32, S. 117, Z. 47–49: „Also gar ist icheit vnd selbheit von got gescheiden vnd gehoret ym nicht czu, sunder als vil seyn nöt ist czu der personlichkeit“; Kap. 42, S. 132, Z. 16–18: „[…] wan eß kam nye kein ich ader meyn czu warem lichte vnd bekentniß vnbetrogenn an eyns allein, das ist *den gotlichen personen“; Kap. 43, S. 135, Z. 22–24: „Sich, hie muß alle icheit, myneheit vnd selbheit, vnd waz des ist, czumal vorlorenn vnd gelassen werde; das ist gotis eygen, an alßo vil czu der personlikeit gehoret.“ 243 Kap. 53, S. 154, Z. 105–109: „Das wir vns selber ab gehen vnd vnsers eygen willen sterben vnd gote vnd seynem willen leben alleyne, des helff vns der, der seynen willen seynem hymmelischen vater auff gegeben hat, der do lebt vnd hersschet mit got, dem vater, yn eynikeit des heiligen geistes yn volkommer dreyvaldikeit ewiglich. Amen.“ 244 Vgl. Kap. 1.2.1, S. 15. 245 Siehe dazu unten, Kap. 3.2.3. 246 Einen geschichtlichen Überblick über das Theologumenon der Gottesgeburt, das seinen Ursprung in der urchristlichen Tauftheologie hat, bietet Rahner: Die Gottesgeburt. Zur Gottesgeburt als spezifischer Ausprägung der Gottesschau siehe Mieth: Gottesschau. 247 Pr. S 102, DW IV/1, S. 407, Z. 3–6: „Ich spriche aber, als ich mê gesprochen hân, daz disiu êwige geburt geschihet in der sêle in aller der wîse, als si geschihet in der êwicheit, noch minner
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wird der Mensch zum Sohn Gottes geadelt und in die trinitarische Dynamik aufgenommen. Der Vollzug der Gottesgeburt ist daher nicht von der oben erwähnten Fließmetaphorik zu trennen, insofern diese die ‚innebleibende Wirkung‘ (bullitio) zum Ausdruck bringt. Indem sich Gott der Seele vollständig mitteilt – und ihr damit nicht nur den Status des Geboren-Seins, sondern auch die Fähigkeit des Gebärens verleiht –,248 wird die ‚Eingeburt‘ zugleich zur ‚Ausgeburt‘:249 Die in der Geburt mit dem gebärenden Gott eins gewordene Seele gebiert diesen wieder in sich selbst zurück. Oder anders ausgedrückt: Der sich im Vollzug der Gottesgeburt durch formelle Emanation konstituierende Seelengrund – d. h. der Mensch, insofern er ‚Bild Gottes‘ und damit zugleich ‚Sohn‘ ist – wendet sich wieder in seinen Ursprung zurück, er ‚bricht‘ hindurch in die Einheit Gottes. Hier ist nicht der Ort, die komplexen metaphysischen Hintergründe der Gottesgeburtlehre zu entwickeln.250 Konzentrieren wir uns deshalb auf jene Aspekte, die für die Abgrenzung des ‚Frankfurter‘ vom ‚mystischen Diskurs‘ relevant sind: Ohne Zweifel stellt das von Eckhart neu akzentuierte und in Auseinandersetzung mit den aktuellen philosophischen Debatten seiner Zeit251 eigenständig profilierte Theologumenon der Gottesgeburt im Seelengrund für die nacheckhartische Mystik ein Faszinosum dar, dessen Attraktivität auch durch die posthume Zensurierung des Meisters nicht gebrochen wird. Zum titelgebenden Thema wird es etwa in Pfeiffer-Traktat VIII Von der geburt des êwigen wortes in der sêle.252 Und auch hier
noch mê, wan ez ist éiniu geburt. Und disiu geburt geschihet in dem wesene und in dem grunde der sêle.“ 248 Vgl. etwa Meister Eckhart: Pr. Q 22, DW I, S. 383, Z. 6–8: „Alsô tuot got: er gebirt sînen einbornen sun in daz hœhste teil der sêle. In dem selben, daz er gebirt sînen eingebornen sun in mich, sô gebir ich in wider in den vater.“ Siehe zu dieser Problematik des Zeugens und Wiederzeugens, die großen Anstoß bei den Zensoren Eckharts erregte, Witte: Von Straßburg nach Köln, bes. S. 69–78. Siehe ferner Largier I, S. 756 (zu Pr. Q 1), S. 1021–1022 (zu Pr. Q 43); Largier II, S. 654 (zu Pr. Q 67). 249 Vgl. Largier I, S. 814. 250 Siehe dazu die Monographien von Guerizoli: Die Verinnerlichung und Mösch: ‚Daz disiu geburt geschehe‘. Vgl. ferner den von Vannier herausgegebenen Sammelband ‚La naissance de Dieu‘. Aus unterschiedlicher Perspektive wird die Gottesgeburtlehre zudem in einer Reihe weiterer Aufsätze behandelt. Genannt seien hier nur Vannier: Die Gottesgeburt; Witte: Von Straßburg nach Köln sowie Kreuzer: Gottesgeburt. 251 Zu nennen ist hier etwa die Diskussion um das philosophische wie theologische Problem des Bildes (vgl. Sturlese: Mystik und Philosophie, S. 58), insofern es zum Wesen des Bildes gehört, geboren zu werden. Siehe etwa Meister Eckhart: Pr. Q 16b, DW I, S. 265, Z. 5–8: „Zwei eier sint glîche wîz, und einez enist doch des andern bilde niht; wan daz des andern bilde sol sîn, daz muoz von sîner natûre komen sîn und muoz von im geborn sîn und muoz im glîch sîn.“ Siehe auch Kap. 2.2.3.1. 252 Pfeiffer II, S. 478–483.
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gilt wie bei den vorhergehenden Aspekten die enge Verquickung mit der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘,253 zumal die Gottesgeburtlehre ohne den aus De trinitate übernommenen Begriff des abditum mentis254 und ohne die damit engstens verbundene und ebenfalls von Augustinus inspirierte Vorstellung von der Seele als imago Dei nicht zu denken ist. Dementsprechend findet sich der Bischof von Hippo auch namentlich genannt, wenn in mystischer Prosa die sich im Aussprechen des göttlichen Wortes vollziehende Sohnwerdung des Menschen gefeiert wird.255 Untrennbar verbunden ist die Gottesgeburt im Seelengrund mit der Nobilität der menschlichen Natur, die erst in diesem geistigen Geburtsvorgang ihre Vollendung findet. Die Erhebung des Menschen zum Sohn Gottes hat damit eine stark inkarnatorische Komponente. In den Worten Meister Eckharts: Ich spriche ein anderz und spriche ein næherz: got ist niht aleine mensche worden, mêr: er hât menschlîche natûre an sich genomen […]. Dâ der vater sînen sun gebirt in dem innersten grunde, dâ hât ein însweben disiu natûre. Disiu natûre ist ein und einvaltic.256
Die Verweigerung des ‚Frankfurter‘ gegenüber der Gottesgeburtlehre ist deshalb mit seiner negativen Anthropologie zusammenzusehen: Eine Erhebung des Menschen zum Sohn Gottes würde der substanziellen Sündhaftigkeit der natura hominis widerstreiten.
253 Zu Meister Eckhart, der seine Gottesgeburtlehre auch noch während des gegen ihn gerichteten Prozesses mit Augustinus verteidigt, siehe Löser: Augustinus sprichet, S. 113–114. Vgl. auch Ruh: Meister Eckhart, S. 142. 254 Augustinus erwähnt den Begriff allerdings nur ein einziges Mal, und dies zudem eher beiläufig. Vgl. Speer: Abditum mentis, bes. S. 447–449. Die entsprechende Passage findet sich in trin. XIV, 7, 9 (LLT-A). 255 Siehe etwa Meister Eckhart: Pr. S 101, DW IV/1, S. 336, Z. 4–7: „Sant Augustînus sprichet: daz disiu geburt iemer geschehe und aber in mir niht engeschihet, waz hilfet mich daz? Aber daz si in mir geschehe, dâ liget ez allez ane. Nû gebürt uns ze redenne von dirre geburt, wie daz si in uns geschehe und volbrâht werde in der guoten sêle, wâ got der vater sîn êwic wort sprechende sî in der volkomenen sêle“; Tauler: Pr. V 1, S. 11, Z. 4–6: „Sant Augustinus sprach: ‚Maria waz vil seliger von dem daz Got geistlichen in ir sele geborn waz, denne daz er liplich von ir geborn wart‘“; Pfeiffer II, Pr. XLIV, S. 151, Z. 13–19: „Sant Augustînus sprichet, daz got alle zît geborn werde ân underlâz in der sêle, er enwirt aber niht uns geborn, want er enist uns niht offenbâr, er ist bedecket. Alle die wîle daz got bedecket ist in der sêle mit ihte, sô enwirt er uns nicht geborn, und des sint gewis, daz got in keiner sêle geborn werde danne in der sêle, diu alle crêatûre under ir füeze hât, dâ inkein ander enist, dâ gebirt sich got selben, niht sîn gelîch, sich selben got unde gote“; Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (hg. Löser = Pfeiffer II, Traktat III), S. 486, Z. 4–7: „Auch spricht sand Augenstin da als das in mir swaig das in mir was da sprach got ein stills wart in meiner sel das verstuend nyembt dann ich“ (Pfeiffer II: S. 414, Z. 3–6). Als Quelle druckt Löser eine Passage aus dem Traktat ‚Von den sechs Übungen‘. 256 Pr. Q 5b, DW I, S. 86, Z. 8–S. 87, Z. 7.
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An einer einzelnen Stelle allerdings – wiederum im nachträglich hinzugefügten 53. Kapitel – spielt der Traktat auf einen innergöttlichen Geburtsvorgang an: „Sich, wan diß volkommen vngenant flusset yn eyn geberende persone, da ynne eß gebirt seynen eyngeborn son vnd sich selber dar ynne, ßo nennet man eß vater.“257 Diese punktuelle Bemerkung birgt jedoch keinen Hinweis auf die Gottesgeburt im Seelengrund. Sie bezieht sich ausschließlich auf die erste innergöttliche Bewegung, d. h. das ewige Fließen der göttlichen Natur in die Person des Vaters, welches die Hervorbringung des Sohnes initiiert.258 Parallele Aussagen finden sich innerhalb der Trinitätsspekulationen anderer mystischer Traktate.259 Im Unterschied zu diesen bleibt die zitierte Passage innerhalb des ‚Frankfurter‘ jedoch isoliert, wird also nicht in jenes umfassende Kreislaufmotiv eingebunden, das die innergöttlichen processiones ebenso umfasst wie die Schöpfung im Allgemeinen und den Menschen im Besonderen.260 Ebenfalls isoliert bleibt sie vom weiter unten in demselben Kapitel erfolgenden Hinweis zur Begegnung des Menschen mit dem ‚Vollkommenen in der Seele‘, der mit Aussagen der Kap. 1 und 9 verbunden ist.261 Welches Fazit ist zu ziehen? Wie andere mystische Prosatexte auch behauptet der ‚Frankfurter‘ die Möglichkeit einer Annäherung an Gott durch die Hinwendung zu einem göttlichen Element im Inneren der Seele. Diese Kontinuität mit dem ‚mystischen Diskurs‘ wird jedoch dadurch gebrochen, dass der Traktat sich der dynamisch-trinitarischen Einbindung des Menschen in die Sphäre des Göttlichen versagt. Die ebenso statische wie impersonale Begegnung mit dem ‚Einen‘ bzw. ‚Vollkommenen in der Seele‘ bedeutet zugleich eine Absage an jene augustinische Spiritualität, die auf Überwindung der Distanz von Schöpfer und Geschöpf durch die Sohnwerdung des Menschen im Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund drängt.
257 Frankfurter, Kap. 53, S. 150, Z. 13–15. Hier findet sich auch die traditionelle Fließmetaphorik, allerdings ohne Bezug auf den Menschen. 258 Siehe dazu Wegener: Meister Eckharts unbekannte Erben. Der Ansicht Zecherles, dass die im ‚Haupttext‘ (nach Zecherle: Kap. 1–51) des ‚Frankfurter‘ fehlende Lehre von der Gottesgeburt in der Seele in Kapitel 53 zumindest kurz angedeutet werde, ist daher nicht zuzustimmen. Vgl. Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 62. 259 Siehe besonders den ersten Absatz in Pfeiffer-Traktat XIII (Pfeiffer II, S. 521, Z. 3–19). Hier wird die erste innergöttliche Bewegung mit dem terminus technicus ‚Anfluss‘ bezeichnet. Siehe ferner Pfeiffer-Traktat XI, ebd., S. 496, Z. 4–6: „Daz fünfte ist, daz man bekennen sol die gotheit, diu in den vater ist geflozzen unde hât in erfüllet mit vermügentheit […].“ 260 Siehe oben, S. 128–130. Vgl. ferner Kap. 3.2.2, S. 324–327. 261 Siehe oben, S. 120–121.
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2.2.2.3 Der Adel des Menschen: ontologischer Gottesbezug und imitatio Christi Die Begriffe ‚Adel‘, ‚adelig‘ und ‚edel‘ sind in mystischen Predigten und Traktaten allgegenwärtig. Da ihre Anwendung jedoch disparat bleibt und sich nicht auf das der ‚deutschen Mystik‘ angehörende Textfeld beschränkt, kann von termini technici im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein. Dennoch signalisieren gerade diese Begriffe aufgrund bestimmter semantischer Schwerpunktsetzungen eine deutliche Verschiebung im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts. So ist es möglich, mit ihrer Hilfe eine Entwicklungslinie nachzuzeichnen, die von Meister Eckhart weg- und zum ‚Frankfurter‘ hinführt. Ein Kennzeichen dieses Transformationsprozesses ist die zunehmende Entfernung von der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts in Richtung auf eine Anthropologie, die den Adel des Menschen nicht mehr in dessen Innerstem verortet, sondern in eine Außendimension verlagert. Damit aber erfolgt eine Annäherung an theologische Entwürfe, die durch eine antipelagianische Stoßrichtung gekennzeichnet sind.262 Eckhart verwendet die Begriffe ‚Adel‘, ‚adelig‘ und ‚edel‘ in erster Linie, wenn er eine ontologische Wertigkeit zum Ausdruck bringen möchte: ‚Edel‘ ist das Allgemeine,263 über die kategoriale Vereinzelung des Geschaffenen Erhabene,264 in der göttlichen Einheit Aufgehobene.265 Aus dieser Perspektive ist Eckharts spezifische Deutung des ‚edlen Menschen‘ zu verstehen, die im Zentrum der zum Liber benedictus gehörenden Lesepredigt Von dem edeln menschen steht.266 An-
262 Neben Augustinus selbst ist hier an die schola Augustiniana moderna des vierzehnten Jahrhunderts sowie an die Wittenberger Theologie im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts zu denken. 263 Meister Eckhart: Pr. Q 4, DW I, S. 66, Z. 8–9: „Sô daz dinc ie edeler ist, sô ez ie gemeiner ist“; ders.: Pr. Q 74, DW III, S. 287, Z. 4–5: „Ie das ding gemeiner ist, ye es edler vnd wirdiger ist“; ebd., S. 287, Z. 11: „Ie vnser leben gemeyner ist, ye besser vnd edler es ist.“ 264 Deshalb gelten die Transzendentalien als edel. Siehe z. B. Pr. Q 8, DW I, S. 134, Z. 3–4: „Alsô edel ist daz wesen“; Pr. Q 26, DW II, S. 24, Z. 10–S. 25, Z. 1: „Wârheit ist als edel, wære, daz sich got gekêren möhte von der wârheit, ich wölte mich an die wârheit heften und wölte got lâzen […].“ 265 In Gott sind deshalb alle Dinge gleich edel, auch wenn ihnen in ihrem kreatürlichen So-Sein ein unterschiedlicher Wert zukommt. Siehe z. B. Meister Eckhart: Pr. Q 3, DW I, S. 55, Z. 4–5: „In gote ist enkein crêatûre edeler dan diu ander“; ders.: Pr. Q 8, DW I, S. 132, Z. 7–9: „Daz snœdeste, daz man in gote bekennet, der joch einen bluomen bekante, als er ein wesen in gote hât, daz wære edeler dan alliu diu werlt.“ Siehe auch ders.: Pr. Q 10, DW I, S. 171, Z. 2–4; Pr. Q 12, DW I, S. 199, Z. 5–6; Pr. Q 84, DW III, S. 458, Z. 1–2. 266 Meister Eckhart: DW V, S. 109–119 (nur Text ohne einführende Bemerkungen). Zu Recht weist Marie-Anne Vannier auf die Bedeutung dieser Figur in Eckharts Denken hin. Vgl. dies.: Der edle Mensch und dies.: Die Gottesgeburt. Fraglich allerdings ist, ob sich die Auslegung des ‚edlen Menschen‘ durch den Thüringer Dominikaner gegen die historisch kaum fassbaren Anhänger der freigeistigen Häresie richtet, wie Vannier annimmt. Vielmehr scheint hier die Gefahr zu bestehen, dass ein inzwischen brüchig gewordenes historiographisches Konzept – Eckharts Aktivität in der
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ders als die semantisch unscharf bleibende Adelsterminologie als solche hat das Kompositum ‚edler Mensch‘ eine präzise bestimmbare philosophisch-theologische Bedeutung: Der ‚edle Mensch‘ ist in der Abgeschiedenheit von allem Kreatürlichen in die göttliche Einheit eingegangen.267 Da dies in hac vita nur dem ‚inneren Menschen‘ – dem ‚Adam‘ in Eckharts Terminologie – möglich ist, bezeichnet der ‚edle Mensch‘ den homo interior, insofern in diesem alle oben erläuterten Aspekte augustinischer Spiritualität zu ihrer Vollendung gelangt sind:268 Der ‚edle Mensch‘ hat seine Gottebenbildlichkeit im Höchstmaß verwirklicht, da er in der Gottesgeburt im Seelengrund zum Sohn Gottes geworden ist und im Vollzug dieser Geburt den Adel der menschlichen Natur realisiert hat.269 Dieser Adel ist aus ontologischer Perspektive darin begründet, dass die natura humana aufgrund ihrer Allgemeinheit über dem einzelnen Menschen, der Person, steht. Ihre besondere Dignität erwächst zudem daraus, dass Christus in der Inkarnation keinen individuellen menschen, sondern die menscheit angenommen hat.270 Zu den Grundworten von Eckharts Denken, in denen der Begriff ‚edel‘ nicht nur schmückendes Epitheton ist, sondern eine genau fixierbare, in den Kontext der zeitgenössischen philosophischen Debatten eingebettete Bedeutung hat, gehört neben der Wendung vom ‚edlen Menschen‘ auch jene von der ‚edlen Seele‘.271 cura monialium – durch ein anderes, ebenso wenig beweisbares ersetzt wird: Eckharts Aktivität als anti-freigeistiger Prediger. Es kann freilich kein Zweifel daran bestehen, dass die freigeistige Häresie in der ‚deutschen Mystik‘ des vierzehnten Jahrhunderts als großes Problem wahrgenommen wird. Auch der ‚Frankfurter‘ stellt sich ja programmatisch gegen die ‚falschen freien Menschen‘. Es sollte jedoch deutlich zwischen literarischer Polemik und historisch nachweisbarer (oder eben nicht nachweisbarer) Existenz einer solchen Häresie unterschieden werden. 267 Meister Eckhart: VeM, DW V, S. 116, Z. 17–19: „Diz ist ouch der edel mensche, von dem unser herre sprichet: ‚ein edel mensche gienc ûz‘, dar umbe edel, daz er ist ein und daz er bekennet got und crêatûre in einem“; ders.: Pr. Q 15, DW I, S. 251, Z. 13–15: „Nun sprich ich, das disem edlen mentschen genget nit an dem wesen, das die engel begriffent vnformlichen vnd dar an hangent sunder mittel; im begnget nit ‹dan› an dem ainigen ain.“ 268 Zu Recht macht Vannier darauf aufmerksam, dass Eckhart in der Predigt Q 16b (DW I, S. 263–276 [nur Text ohne einführende Bemerkungen]) Augustinus zum Prototyp des ‚edlen Menschen‘ stilisiert. Siehe dies.: Der edle Mensch, S. 331. Eine ähnlich exemplarische Rolle hat der Kirchenvater im Buch von der heiligen lebine des Hermann von Fritzlar (hg. Pfeiffer I). Siehe dazu oben, Kap. 2.2.2.2, Anm. 219. Zum ‚edlen Menschen‘ als ‚innerem Menschen‘ siehe auch Kobusch: Mystik als Metaphysik, S. 28. Vgl. ferner die Zitate oben, Kap. 2.2.2.1, Anm. 173. 269 Zur Begründung der Würde des Menschen mittels seiner Gottebenbildlichkeit – ein charakteristisches Merkmal der ‚deutschen Dominikanerschule‘ – siehe Sturlese: Von der Würde. 270 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.2.1, S. 111 sowie unten, Kap. 3.3.2.3, Anm. 255. 271 Die Rede vom Adel der Seele findet sich bereits in der volkssprachlichen geistlichen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts. Siehe z. B. St. Georgener Predigten (hg. Schiewer/Seidel), Pr. 6, S. 43, Z. 149–S. 44, Z. 151: „Da git got únsir herre sich selbin ganzin und ungetailten in die sele. Wan dú sele ist alse edile, daz sie enhain dinc erfúllin mac, wan daz edilre ist denne sie.“ Die Aufwertung
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Dementsprechend erhebt der thüringische Dominikaner den Adel der Seele zu einem der vier Kernpunkte seines Predigtprogramms.272 Wenn von der ‚edlen Seele‘ die Rede ist, bezieht sich dies im eigentlichen Sinne nicht auf die Seele als Ganze, also auf die Gesamtheit ihrer Kräfte und Funktionen, sondern auf den Seelengrund – das augustinische abditum mentis – als deren begründendes Prinzip.273 Damit ist der Adel der Seele ebenfalls integraler Bestandteil der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts. Auf die enge Konnotation mit dem Kirchenvater macht indessen nicht nur der thüringische Prediger aufmerksam;274 auch in der nacheckhartischen Mystik, die das Theorem des Seelenadels mit Begeisterung aufnimmt,275 wird in diesem Zusammenhang regelmäßig auf die Autorität des Bischofs von Hippo verwiesen.276
des Seelenadels zum philosophisch-theologischen Leitbegriff erfolgt jedoch erst durch Meister Eckhart. 272 Meister Eckhart: Pr. Q 53, DW II, S. 528, Z. 7–S. 529, Z. 1: „Ze dem dritten mâle, daz man gedenke der grôzen edelkeit, die got an die sêle hât geleget, daz der mensche dâ mite kome in ein wunder ze gote.“ Zum Adel der Seele siehe ferner ders.: Pr. Q 43, DW II, S. 328, Z. 4–5: „[…] diu sêle ist edeler dan der himel“; Pr. Q 47, DW II, S. 404, Z. 2–3: „Dâ von ist ein sêle edeler dan alliu lîplîchiu dinc, swie edel sie joch sîn“; Pr. Q 68, DW III, S. 147, Z. 2–4; Pr. Q 79, DW III, S. 368, Z. 4–5; BgT, DW V, S. 20, Z. 2–3; VeM, DW V, S. 119, Z. 4–7. Siehe zu diesem Predigtprogramm auch Löser: Augustinus sprichet, S. 110–114. 273 Siehe zum Adel des Seelengrundes bzw. der ihm entsprechenden Metaphern für das intimum animae etwa Pr. Q 2, DW I, S. 31, Z. 2: „[…] ûz dem aller edelsten grunde“; Pr. Q 3, DW I, S. 53, Z. 1– S. 54, Z. 1: „Diu sêle ist als edel an irme hœhsten und lûtersten, daz ir die meister keinen namen enkünnen vinden“; Pr. Q 42, DW II, S. 308, Z. 2–4: „Ez ist ein kraft in der sêle, und niht aleine ein kraft, mêr: wesen, und niht aleine wesen, mêr: ez lœset wesen – daz ist sô lûter und sô hôch und sô edel in im selben, daz dar în niht enmac kein crêatûre, sunder got aleine der wonet dar inne.“ Siehe ferner Pr. Q 10, DW I, S. 172, Z. 6–8; Pr. Q 11, DW I, S. 182, Z. 9–10; Pr. Q 20b, DW I, S. 345, Z. 1–5; Pr. Q 26, DW II, S. 34, Z. 2–3; Pr. Q 71, DW III, S. 225, Z. 8–10. 274 Meister Eckhart: Pr. Q 32, DW II, S. 137, Z. 1–4: „Sant Augustînus sprichet, daz diu sêle alsô edel ist und alsô hôhe ist geschaffen über alle crêatûre, daz kein vergenclich dinc, daz an dem jüngesten tage vergân sol, in die sêle gesprechen enmac noch würken âne underscheit und âne boten.“ 275 Wovon in der Eckhart-Ausgabe Franz Pfeiffers (Pfeiffer II) etwa die Komposittraktate Von der edelkeit der sêle (Traktat II), Von dem adel der sêle (Traktat IV) und Von der sêle werdikeit und eigenschaft (Traktat III; in der handschriftennahen Edition Lösers: Von der sel wirdichait vnd aigenschafft) Zeugnis ablegen. 276 Siehe zum Beispiel Pfeiffer II, Traktat II, S. 386, Z. 4–8: „Eyâ, herzenvriunde, nû merket für baz von der edelkeit der sêle. Ez sprichet sant Augustînus: reht als ez umbe got ist, alsô ist ez ouch umbe die sêle. Dar umbe, hête got die sêle niht gebildet nâch dem glîchnisse sîn selbes, daz si würde got von gnâden, si enwürde got niemer oben gnâden“; Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (hg. Löser = Pfeiffer II, Traktat III), S. 480, Z. 23–S. 482, Z. 1: „Au| ch spricht sand Augenstin dy sel ist chömen von dem himlischen lannt aws dem vterleichen götleichen hertzen vnd ist gemacht von götleicher lieb vnd ist parn von hahem geslcht der heiligen driualtichait. vnd ist ein erib des himels.
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Der ‚Frankfurter‘ greift ebenfalls auf das bewährte Wortfeld von ‚Adel‘, ‚edel‘ und ‚adelig‘ zurück, sobald eine bestimmte Wertigkeit – manchmal allerdings auch eine Fehlqualifizierung277 – zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Verwendungszusammenhänge sind disparat, verlassen aber keineswegs das innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ Aussagbare und allgemein Akzeptanzfähige. Häufiger scheint das Denken Meister Eckharts im Hintergrund zu stehen, so wenn der Traktat den Adel geistlicher Armut preist,278 Adel und ontologische Dignität gleichsetzt279 oder – was angesichts der negativen Anthropologie des ‚Frankfurter‘ wohl am überraschendsten sein dürfte – vom Adel der Seelenkräfte spricht.280
vnd ist ein gepieterinn aller creatur vnd ein pesitzerinn aller der frewden dy got geben mag in seiner ewichait. wann sy ist ein pild gots vnd ist dy edlist creatur dy got ye gedacht hat“ (Pfeiffer II: S. 413, Z. 16–22). Die Stelle stammt aus dem ursprünglich selbständigen Text ‚Fragen eines Jüngers an Augustinus über die Seele‘, den Lienhart Peuger in seinen Traktat eingefügt hat. Eine Zusammenstellung der Handschriften, in denen die ‚Fragen‘ überliefert sind, findet sich bei Jostes: Meister Eckhart und seine Jünger, S. 210 (unter Nr. 54). Ergänzungen bietet Löser: Meister Eckhart in Melk, S. 73. Meister Eckhart und seine Jünger (hg. Jostes), Nr. 73, S. 72, Z. 24–27: „Sanctus Augustinus spricht, daz di sele gemacht sei von dem aller edelsten und heimlichsten niht, daz ez vil lustlicher ist all unser lebtage dornoch zu forschen, dann daz wir ez immer bevinden mugen. Dor um ist di sele als edel, daz an si stozzet beid zeit und ewikeit“; Tauler: Pr. V 1, S. 10, Z. 3–8: „Danabe sprach sant Augustinus: ‚gús uz, daz du múgest erfúllet werden; gang uz, uf daz du múgest ingon‘; und sprach ouch anderswo: ‚o du edele sele, o edele creature, waz gest du uz dir suchen den der alzmole und aller werlichest und blslichest in dir ist, und sit das du bist teilhaftig gtlicher nature, waz hest du denne z tnde oder z schaffende mit allen creaturen?‘“ Vgl. ferner Spiegel der Seele (hg. Vogl), S. 334, Z. 229–232 (Quelle ist Eckhart: Pr. Q 32, DW II, S. 137, Z. 1–S. 138, Z. 1; siehe auch oben, Anm. 274); ebd., S. 452, Z. 1217–1224. 277 Dies gilt für die Kapitel 25 und 42. In Ersterem wird die Heuchelei freigeistiger Häretiker angeprangert: „[…] ob sie ioch diebe ader morder weren, so spricht man doch, eß seyn edel, getruwe hertzen […]“ (Kap. 25, S. 104, Z. 24–25); in Letzterem geht es um die verfehlte Wertschätzung menschlicher Erkenntnis, die zu einer Fehlausrichtung der Liebe auf diese Erkenntnis durch das ‚natürliche Licht‘ führt: „Vnd eß [das natürliche Licht] hat bekennen vor das beste vnd vor das edelste vnd dar vmmb leret eß die liebe, sie solle das bekennen vnd wissen lip han fr das beste vnd edelste“ (Kap. 42, S. 132, Z. 26–S. 133, Z. 28). Siehe dazu auch unten, Kap. 2.3.1, S. 200. 278 Es handelt sich um einen Zentralbegriff eckhartischer Lehre, der am kompromisslosesten in der sog. ‚Armutspredigt‘ (Pr. Q 52, DW II, S. 486–506 [nur Text ohne einführende Bemerkungen]) entfaltet wird. Zur Verbindung von Adel und ‚geistlicher Armut‘ im ‚Frankfurter‘ siehe Kap. 10, S. 83, Z. 20–22: „Eß ist jamer, das vns das ewige gut auff das aller edelst weißet vnd reitzet, vnd wir das nicht woln. Was ist edeler, wanne ware, geistlich armut?“ 279 Kap. 6, S. 76, Z. 4–6: „Sunder was yn der warheit das edelst vnd das beste ist, das solde das libste seyn vnde nicht anders dann vmmb das, das eß das beste vnd das edelste ist“; siehe auch Kap. 7, S. 78, Z. 7–10; Kap. 18, S. 95, Z. 16–17. 280 Kap. 51, S. 144, Z. 16–18: „Das aller edelste vnd lustigiste, das yn allen creaturen ist, das ist bekentniß ader vornunfft vnd wille.“ Siehe auch Kap. 5, S. 75, Z. 11–15 und S. 76, Z. 16–20. Al-
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Der Traktat verzichtet allerdings auf jene scharfe Profilierung der Adelsterminologie, die von der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ nicht zu trennen ist. Der ‚Adel der Seele‘ bleibt ihm ebenso fremd wie das augustinischeckhartische abditum mentis, und vom ‚edlen Menschen‘ im eckhartischen Sinne kann er nichts wissen, da er sich allen damit verbundenen Aspekten – Gottesgeburt, Sohnwerdung des Menschen, Würde der Natur – verschließt. Die Relevanz der Adelsterminologie im ‚Frankfurter‘ lässt sich allerdings nicht nur ex negativo – als Fehlen einer philosophisch-theologischen Präzisierung im Sinne Meister Eckharts – bestimmen. Denn ungeachtet der bereits genannten, eher breit gefächerten Bedeutungen neigt der Traktat durchaus dazu, das Begriffsfeld mit einem spezifischen semantischen Gehalt aufzuladen: Als ‚edel‘ erachtet er nicht ein naturgegebenes intimum animae – auf das ‚Vollkommene‘ bzw. ‚Eine in der Seele‘ findet die Adelsterminologie keine Anwendung –, sondern die vita Christi. Sie gilt als absoluter Maßstab für ein gelungenes, d. h. Gott gefälliges Dasein: „Auch sal man mercken vnd gleuben vnd wisßen, das kein also edel vnd gut vnnd got also lip leben ist als das leben Cristi […]“;281 „[…] wan Cristus leben was vnd ist das edelste vnd das beste vnd gote das wirdigste vnd das libste leben, das ye wart ader ymmer wirt.“282 Der ‚Frankfurter‘ geht sogar so weit, den Adel des Christuslebens zum Prüfstein des Glaubens zu erklären: „Vnnd wer an Cristum gleubet, der gleubt das seyn leben das aller edelst vnd beste leben sey.“283 Mit seiner extremen Fixierung auf die vita Christi steht der ‚Frankfurter‘ am Ende einer Entwicklung, die Eckharts Überzeugung vom natürlichen Gottesbezug des Menschen zwar nicht eliminiert, aber doch zurückdrängt. Dieser Ablösungsprozess von Eckharts Lehre geht einher mit einer verstärkten Betonung der exemplarischen Funktion Christi, der in den mystischen Texten ein Lebens- und vor allem Leidensmodell vorzuführen hat, das in erster Linie dazu dient, die widerspenstige Natur zu zähmen und sie auf den Weg zu Gott zu zwingen.284 Gerade die Anwendung der Adelsterminologie offenbart in diesem Zusammenhang die Distanz zwischen Eckhart und dem ‚Frankfurter‘. Denn auch der thüringische Prediger hebt den uneinholbaren Adel Christi nachdrücklich hervor. Allerdings bezieht er ihn nicht auf die vita Christi, sondern auf die ontologischen
lerdings ist die Kontextualisierung dieser Aussagen innerhalb des Syntagmas zu beachten. Anders als Eckhart sieht der ‚Frankfurter‘ den Adel der Seelenkräfte nämlich keineswegs darin begründet, dass diese den Menschen in seinem naturgemäßen Streben auf Gott hin ausrichten. Siehe dazu die Ausführungen unten in Kap. 3.3.1. 281 Kap. 18, S. 95, Z. 1–2. 282 Kap. 29, S. 112, Z. 22–24. 283 Kap. 45, S. 139, Z. 3–4. 284 Vgl. Kap. 2.3.2.4.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Aspekte der Inkarnation, d. h. auf die Annahme der menschlichen Natur durch Christus und auf seine Ausstattung mit einer geschaffenen Seele, deren Substanz jedoch nicht kreatürlich, sondern die Gott-Sein wie Mensch-Sein umfassende individua substantia der zweiten göttlichen Person ist:285 Eyâ, waz was diu vruht dises werden ackers der menscheit Jêsû Kristî? Daz was sîn edeliu sêle von dem puncte, daz daz geschach, daz von gotes willen und von kraft des heiligen geistes gemachet wart diu edel menscheit und der edel lîchame ze menschlîcher gedîhe in unser vrouwen lîbe und diu edel sêle geschaffen wart, daz lîp und sêle in éinem puncte der zît mit dem êwigen worte geeiniget wart.286
Eckharts christologisches Interesse richtet sich nicht auf den Mensch gewordenen Gottessohn als Vorbild für ein bestimmtes Lebensmodell, sondern auf den inkarnatorischen Aspekt der Adelung der menschlichen Natur. Denn erst dadurch ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zum ‚edlen Menschen‘ – zum homo divinus – zu werden. Christi edel sêle und seine edel menscheit sind somit Prototyp und zugleich notwendige Voraussetzung für den natürlichen Adel eines jeden Menschen. Als Kontrast zu Meister Eckhart sei eine Passage aus dem zwanzigsten Kapitel des ‚Frankfurter‘ zitiert, welche die Verweigerung der Natur gegenüber dem Christusleben mit zwei Aspekten verknüpft, die bereits weiter oben angesprochen worden sind:287 In der Ablehnung der vita Christi offenbaren sich die freigeistige Fehlausrichtung der natura hominis sowie die existentielle Tragik des Menschen, der sein widergöttliches Dasein nicht als solches erkennt, weil seine Natur das nicht zulässt: Syder nu das leben Cristi aller natur, selbheit vnd icheit das bittirst ist, wann czu dem warenn leben Cristi muß alle selbheit vnd icheit vnd natur gelaßen vnd vorloren werden vnd sterben. Dar vmmb graubt eyner itlichen natur vor dem leben vnd dunckt sie boße vnd vngerecht vnd eyn thorheit; vnd nympt an sich eyn leben, das yr beqwemlich vnd lustig ist, vnd spricht vnde wenet von yrer blintheit, eß sey das aller beste. Sich, nu ist keyn leben der natur also beqweme vnd als lustig also das frey, ruchloß leben.288
285 Zu Eckharts Lehre der Hypostatischen Union siehe seine Ausführungen in Pr. Q 67, DW III, S. 129–135 (nur Text ohne einführende Bemerkungen), bes. S. 135, Z. 4–15. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Largier II, S. 659–661. 286 Eckhart: Pr. Q 49, DW II, S. 439, Z. 3–8. Vgl. auch ebd., S. 440, Z. 2–11; S. 442, Z. 1–3; S. 443, Z. 5–6, 12–13; S. 444, Z. 4–8. 287 Siehe oben, Kap. 2.2.2.1, S. 117. 288 Kap. 20, S. 97, Z. 1–8.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Der dem Menschen in der Inkarnation Christi zugesicherte innere Adel, den Meister Eckhart zu preisen nicht müde wird, ist im ‚Frankfurter‘ ersetzt durch den Adel der vita Christi, die der natura humana zutiefst widerstrebt und deshalb dem Menschen zunächst einmal etwas Äußerliches ist. Dies allerdings darf sie nicht bleiben. Das gesamte ethische Konzept des ‚Frankfurter‘ zielt vielmehr auf Einübung in das Christusleben: Dar vmmb czu dem liben, *wonniclichen leben Jesu Cristi ist keyn ander besser weg ader bereytunge dan das selbe leben, vnd sich dar ynne gevbet, also vil als moglich ist.289
Die Einübung in das Christusleben,290 die notwendigerweise mit der Überwindung der menschlichen Natur einhergeht, hat mit der augustinischen Spiritualität Meister Eckharts nichts mehr zu tun. In ihrer Fokussierung auf Leiden und Kreuz öffnet sich die Ethik des ‚Frankfurter‘ jedoch für die antipelagianisch ausgerichtete Wittenberger Theologie.291 Die diskursive Transformation, an deren Ende der ‚Frankfurter‘ steht und deren Grundzüge hier mit Hilfe der Adelsterminologie aufgezeigt worden sind, hat uns von der naturgegebenen Würde des Menschen zum Kreuz geführt. Dies lässt sich auch in lutherischer Terminologie ausdrücken: Die theologia gloriae eines Meister Eckhart ist ersetzt worden durch die theologia crucis des ‚Frankfurter‘.292
289 Kap. 23, S. 101, Z. 18–S. 102, Z. 21. 290 Der Begriff der üebunge spielt im Rahmen der Hinführung des Menschen zu höheren Vollkommenheitsstufen durch den Vollzug asketischer Praktiken gerade in der nacheckhartischen Mystik eine zentrale Rolle. Der ‚Frankfurter‘ steht in dieser Traditionslinie. Meister Eckhart indessen kann diesem Verständnis von ,Übung‘ nichts abgewinnen. Dementsprechend verliert sich der Terminus in seinem Werk, auch wenn er in den frühen Rede der underscheidunge noch von Bedeutung ist, jedoch nicht als Selbstkasteiung, sondern als Habitualisierung der ‚Gelassenheit‘. Vgl. dazu Hasebrink: sich erbilden, bes. S. 128, 132. 291 Siehe dazu unten, Kap. 4.2.2.4, S. 409–411 sowie Kap. 4.2.3.2, S. 417 mit Anm. 152. 292 Zur Faszination, welche die Kreuzestheologie Johannes Taulers – die für den ‚Frankfurter‘ von prägender Bedeutung gewesen sein dürfte – auf den Mitgestalter der Wittenberger Theologie Andreas Bodenstein gen. Karlstadt ausgeübt hat, siehe die umfassende Studie von Hasse: Karlstadt und Tauler; dort etwa S. 50, 54.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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2.2.3 Der Mensch als Bild Gottes – ontologischer Bezug versus Zueignung von außen 2.2.3.1 Dominikanische imago-Lehren In den bisherigen Ausführungen zur augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ klang bereits deutlich an, dass hinter ihrer Entfaltung in verschiedene Aspekte eine unhintergehbare Grundüberzeugung steht, nämlich jene von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.293 Damit ist zudem einer der wichtigsten akademischen Diskussionspunkte innerhalb der deutschen Regionalphilosophie des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts benannt, der in der mystischen Predigt- und Traktatliteratur einen enormen Widerhall findet – freilich, ohne die Komplexität der universitären Diskussionen zu erreichen, zumal der volkssprachliche Diskurs vorwiegend durch die Rezeption der eckhartischen Lehre geprägt ist, während andere scholastisch gebildete Denker der ‚deutschen Dominikanerschule‘ nur am Rande Berücksichtigung finden. In mehreren Traktaten zur Glückseligkeitsfrage allerdings – allen voran ist hier die Eckhart von Gründig zugeschriebene Ler von der selykeit zu nennen – wird über die verschiedenen Möglichkeiten debattiert, die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu definieren.294 Das Interesse konzentriert sich dabei auf die drei dominikanischen Theologen, die aus zeitgenössischer Perspektive zu den Hauptautoritäten in jener Frage zählen: Thomas von Aquin, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart.295 Aufgrund ihrer Ordenszugehörigkeit ist ihnen gemeinsam,
293 Dementsprechend wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen häufig mit Hinweis auf Augustinus bestätigt. Siehe etwa Marquard von Lindau: Pr. 32 (hg. Blumrich), S. 227, Z. 219–224: „Ze dem ſechſten ſo lht die hailig driualtikait in dem bild der vernnftigen ſelen, wan da ſind dry kreft, in die gott ſin bild gedruket ht ſo gar adellich, daz ſant Auguſtinus ſprichet, wr diſſ bild ſehe, im wr als offenbr die hailig driualtikait, als daz die ſunn geſihteklich an dem himel lffet. Diſſ iſt daz edel bild, durch daz allain wir gottes enpfnglich ſind, als ſant Auguſtinus ſprichet“; Paradisus anime intelligentis (hg. Strauch), Pr. 3 (Hane der Karmelit), S. 12, Z. 36–37: „Augustinus: ‚da si mide schowit, da mide smeckit si‘, et e contrario. und daz ist daz bilde da mide Got di sele noch ime selber gebildit hait.“ 294 Neben der Ler von der selykeit (hg. Winkler) bezieht z. B. der ‚Tractat Eckhart’s von dem Schauen Gottes durch die wirkende Vernunft‘ (hg. Winkler) Position zur Glückseligkeitsfrage. Hier werden die Vertreter der unterschiedlichen Lehrmeinungen allerdings nicht namentlich genannt. Gleich zu Beginn stellt der Traktat jedoch fest, dass es zu dieser Frage „vill reden unter den meistern“ gebe (ebd., S. 331, Z. 2; in der Edition von Preger S. 484). 295 Folgendermaßen fasst die Ler von der selykeit (hg. Winkler) die verschiedenen Ansichten zur Gottebenbildlichkeit zusammen: „Nû koment ander meister und wellent baz sprechen von dem bilde der sêl und vrâgent wâ daz bilde lige? Meister Thomas sprichet, daz ez sî in den kreften. Nû komet meister Dietrîch [Theodericus] und widersprichet dise rede, daz daz niht ensî. Nû merket, wan er sprichet, daz daz bilde niht lige in den kreften – allez daz dise vor gesprochen hânt, meister
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dass sie die Gottebenbildlichkeit vorrangig im Verstand des Menschen fundiert sehen,296 wobei sich alle drei – wenn auch in sehr verschiedener Weise – auf Augustinus beziehen, um ihre Position autoritativ zu stützen.297 Widmen wir uns zunächst in gebotener Kürze den Darlegungen dieser Dominikaner zur Gottebenbildlichkeit, da sie den kulturellen Horizont formen, in dem bei aller Eigenständigkeit auch die volkssprachlichen Predigten und Traktate verankert sind und der damit zugleich vonnöten ist, um den Sonderweg des ‚Frankfurter‘ innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ angemessen bewerten zu können. Die theologische Fundamentalbestimmung des Menschen als imago Dei, die sich aufs Engste mit dem menschlichen Glückseligkeitsstreben verbindet,298 veranlasst Thomas in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder zur Auseinandersetzung.299 Den ausführlichsten Entwurf einer Bildlehre bietet er in der prima pars seiner Summa theologiae, und hier vorrangig in der 93. Quästio.300 In Übereinstimmung mit Augustinus301 sowie mit den stark augustinisch geprägten
Eckhart und die andern, die hânt bewîset, daz saelicheit lige an dem daz der geist got lîde übernâtûrlîche. Diz wil meister Dietrîch [Theodoricus de Friburg], daz daz niht ensî unde sprichet: ‚ich spriche, daz des niht sî und sage, daz etwaz sî in der sêl, daz sô edel sî, daz sîn wesen sîn vernunftec würken sî; ich spriche, daz diz saelec sî von nâtûre.‘“ Ebd., S. 41, Z. 3–11 [Hervorhebungen L. W.] (in der Edition von Preger S. 180). Zu den hier skizzierten Unterschieden in den Auslegungen der imago Dei siehe die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 296 Thomas von Aquin: S. th. I, q. 93, a. 2, c (mit Bezug auf Augustinus, der bereits im sed contra als Autorität angeführt worden ist): „Sic ergo patet quod solae intellectuales creaturae, proprie loquendo, sunt ad imaginem Dei“; Meister Eckhart: Sermo XLIX/1, LW IV, n. 506, S. 422, Z. 10–11: „Unde similitudo secundum Augustinum est in omni creatura, imago vero solum in intellectuali.“ Dietrich von Freiberg identifiziert die imago mit dem intellectus agens. Siehe dazu die Darlegungen weiter unten in diesem Kapitel. 297 Selbstverständlich ziehen auch die konkurrierenden Franziskaner den Bischof von Hippo heran, um ihre ordensspezifische Bildlehre zu stützen. Zu Marquard von Lindau siehe oben, Anm. 293 sowie unten, Kap. 2.2.3.2, Anm. 327. Dass sich dieses Kapitel auf drei dominikanische Positionen zur Bildlehre beschränkt, liegt am kulturellen Primat der Predigerbrüder innerhalb der deutschen Regionalphilosophie (vgl. Sturlese: Die Kölner Eckhartisten, S. 120–121), der zunächst das akademische Milieu bestimmt und dann vor allem durch die Eckhart-Rezeption auch in die volkssprachliche Mystik eindringt. Für die Analyse des ‚Frankfurter‘ sind diese Positionen von Interesse, insofern er über die Aufnahme eckhartischer und taulerischer Terminologien und Aussagekonstellationen ebenso in dieser dominikanisch geprägten Traditionslinie steht wie über sein literarisches Bezugsfeld: die mystische Predigt- und Traktatliteratur des vierzehnten Jahrhunderts. 298 Siehe dazu Speer: Das Glück. 299 Vgl. hierzu ausführlich Krämer: Imago Trinitatis. Siehe zu Thomas’ Bildlehre auch Wilde: Das neue Bild, S. 99–101. 300 Vgl. Krämer: Imago Trinitatis, S. 275–277. 301 Zwar gesteht Augustinus dem Menschen nicht nur die Bezeichnung ad imaginem, sondern auch imago zu; er unterscheidet jedoch zwischen Christus als gezeugtem (imago genita) und dem
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‚Sentenzen‘ des Petrus Lombardus302 und den Beschlüssen des IV. Laterankonzils von 1215303 betont Thomas, dass allein Christus vollkommenes Bild Gottes sei, nicht jedoch der Mensch, den Gott nach Gen 1, 26 nur ad imaginem geschaffen habe.304 Es handelt sich also um eine abgeschwächte Gottebenbildlichkeit, die jedoch – daran lässt Thomas keinerlei Zweifel – fest in der Natur des Menschen verwurzelt ist und somit seine Ausrichtung auf Gott begründet.305 Ohne diese Naturausstattung wäre der Mensch eine schöpfungstheologische Fehlkonstruktion, da er sich nicht auf Gott als sein Endziel zubewegen könnte.306 Schon hier wird deutlich, wie weit das anthropologische Konzept des ‚Frankfurter‘ von jenem des Thomas entfernt ist: nicht etwa, weil der Mensch im Entwurf des dominikanischen Theologen völlig autonom seine Vollendung erstreben könnte – einer derartig ‚pelagianischen‘ Überzeugung steht die thomasi-
Menschen als geschaffenem (imago facta) Bild. Vgl. Wilde: Das neue Bild, S. 95; McGinn: Sermo XLIX, S. 220. 302 Vgl. Sturlese: Von der Würde, S. 37; ders.: Mystik und Philosophie, S. 53; Krämer: Imago Trinitatis, S. 75. Zur Bedeutung des Augustinus für die ‚Sentenzen‘ insgesamt siehe Rieger: Sentenzenwerk. 303 Dort wurde die klassische Formel geprägt: „Inter Creatorem et creaturam non tanta similitudo notari, quin inter eos maior dissimilitudo notanda.“ Vgl. Haug: Wendepunkte, S. 447. Explizit weist schon Augustinus auf die dem Bild Gottes im Menschen innewohnende Ungleichheit hin. Siehe etwa trin. XV, 20, 39 (LLT-A): „uerum ne hanc imaginem ab eadem trinitate factam, et suo uitio in deterius commutatam ita eidem comparet trinitati ut omni modo existimet similem, sed potius in qualicumque ista similitudine magnam quoque dissimilitudinem cernat quantum satis esse uidebatur admonui.“ Siehe auch oben, Anm. 301. 304 Vgl. beispielsweise S. th. I, q. 93, a. 1, ad 2: „Ad secundum dicendum quod primogenitus omnis creaturae est imago Dei perfecta, perfecte implens illud cuius imago est, et ideo dicitur imago, et nunquam ad imaginem. Homo vero et propter similitudinem dicitur imago; et propter imperfectionem similitudinis, dicitur ad imaginem.“ Siehe auch Krämer: Imago Trinitatis, S. 93, 290, 293. 305 Da die Bildeigenschaft in der natürlichen Wesensausstattung des Menschen wurzelt (vgl. Krämer: Imago Trinitatis, S. 172), sind die beiden oberen Seelenkräfte Verstand und Wille – deren grundsätzliche Fehlausrichtung auf das selbstische ‚Ich‘ des Menschen der ‚Frankfurter‘ unermüdlich herausstreicht – Thomas zufolge von Natur aus auf das Wahre und das Gute, und somit auf Gott hin, ausgerichtet. Vgl. Krämer, S. 333, 346, 347. Dazu auch Goris: Anthropologie, S. 127: „Der Mensch, so könnte man Thomas’ Lehre zusammenfassen, ist dazu geschaffen worden, Gott zu erkennen und zu lieben – darin liegt seine Bestimmung.“ 306 Entsprechend seiner Überzeugung, dass ein der natürlichen Ausrichtung von Vernunft und Wille entsprechendes Handeln den Menschen zu Gott hinführt, sieht Thomas keinen Widerspruch zwischen menschlicher Natur und göttlichem Gesetz. So bemerkt er in ScG III, Kap. 129 im Anschluss an seine Ausführungen zur lex divina (Kap. 128) einleitend: „Ex praemissis autem apparet quod ea quae divina lege praecipiuntur, rectitudinem habent non solum quia sunt lege posita, sed etiam secundum naturam.“ Zur Gegenposition des ‚Frankfurter‘ siehe unten, Kap. 2.3.3, bes. S. 248–249.
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sche Gnadenlehre entgegen –,307 sondern weil der ‚Frankfurter‘ dem Menschen jegliche natürliche Orientierung auf Gott hin abspricht. Gerade die Vernunft, die bei Thomas den Gottesbezug des Menschen garantiert,308 ist im ‚Frankfurter‘ Ursache für dessen teuflische Falschausrichtung, insofern sie immer nur sich selbst als vermeintlich höchstem Ziel zugewandt ist und daher auch für die Liebe keine Leitungsfunktion auszuüben vermag, die über diesen fatalen Selbstbezug hinausweist.309 Für seine Verortung der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der mens als oberem Teil der Seele kann sich Thomas zu Recht auf Augustinus berufen,310 der – nachdem er in De trinitate IX zunächst die Triade mens – notitia sui – amor sui als der Dreifaltigkeit analog eingeführt hat – in De trinitate X auf eine ausschließlich innerhalb der mens liegende Dreiheit verweist, welche die trinitarische Dynamik in adäquater Weise widerspiegele: memoria sui – intelligentia sui – voluntas sui.311 Anders als später Johannes Tauler, der diese Triade als drei konstituierende Momente des Seelengrundes bzw. des gemüete versteht,312 sie also nicht auf die Seelenkräfte als dessen akzidentielle Produkte hin aus-
307 Vgl. Krämer: Imago Trinitatis, S. 340–345 (Kap. ‚Bezüge zur Gnadenlehre‘). Siehe auch Wippel: Natur und Gnade. 308 Thomas bindet das richtige Handeln grundsätzlich an die Vernunft, an deren naturhaft richtiger Ausrichtung er – im Gegensatz zum ‚Frankfurter‘ – niemals zweifelt. Siehe z. B. ScG III, Kap. 129: „Homines ex divina providentia sortiuntur naturale iudicatorium rationis ut principium propriarum operationum. Naturalia autem principia ad ea ordinantur quae sunt naturaliter. Sunt igitur aliquae operationes naturaliter homini convenientes, quae sunt secundum se rectae, et non solum quasi lege positae.“ 309 Siehe dazu unten, Kap. 2.3.1, S. 200. 310 S. th. I, q. 93, a. 2, sed contra: „Sed contra est quod dicit Augustinus, VI super Gen. ad Litt., ‚hoc excellit in homine, quia Deus ad imaginem suam hominem fecit, propter hoc quod dedit ei mentem intellectualem, qua praestat pecoribus.‘ Ea ergo quae non habent intellectum, non sunt ad imaginem Dei.“ Dieser Position schließt sich Thomas im corpus articuli an. Siehe Krämer: Imago Trinitatis, S. 320–324 (Kap. ‚Verhältnis zu Augustinus‘). Siehe auch ebd., S. 90, 294. 311 Diese Verschiebung liegt darin begründet, dass im ersten Ternar der mens ein zeitlicher Vorrang gegenüber der notitia sui zukommt, so dass die Strukturentsprechung zur göttlichen Trinität defizitär ist. Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 1, S. 101; Guerizoli: Die Verinnerlichung, S. 12. Nur die zweite Triade kann aufgrund der Zeitlosigkeit ihrer internen Relationen als imago Dei gelten. Insofern es sich bei memoria sui, intelligentia sui und voluntas sui um Aspekte jenes unveränderlichen Selbstverhältnisses handelt, durch das der menschliche Geist sich auszeichnet, sind sie bei Augustinus strikt von den äußeren Seelenkräften memoria, intelligentia und voluntas zu unterscheiden. Siehe zu diesen Zusammenhängen ausführlich Brachtendorf: Der menschliche Geist; ders.: Die Struktur (bes. Kap. 8: ‚Bild sein und Bild werden [Trin. 14]‘). Vgl. auch die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.2.3.6. Zu Thomas’ Auslegung der augustinischen Ternare siehe Krämer: Imago Trinitatis, S. 193–196 (memoria – intelligentia – voluntas) und S. 196–197 (mens – notitia – amor). 312 Siehe Kap. 2.2.2.2, S. 123.
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legt,313 sieht Thomas die Gottebenbildlichkeit des Menschen gerade in dessen nach außen gerichteter Tätigkeit verwirklicht, mithin in seinen Akten und in zweiter Linie in den Seelenkräften als diesen Akten Zugrundeliegendes.314 Augustinus lässt in De trinitate keinen Zweifel daran, dass die Grenze zwischen der göttlichen Dreifaltigkeit und der mens humana ungeachtet ihrer spiegelbildlichen Entsprechung letztlich unüberbrückbar ist.315 Dieser Position schließt sich Thomas insofern an, als von einer Göttlichkeit der Vernunft bzw. von ihrer Fähigkeit, durch einen intellektuellen Aufstieg der deificatio zuzustreben, bei ihm nicht die Rede ist.316 Im Gegenteil: Leistungsfähigkeit und Grenze der menschlichen Vernunft sind durch ihre nicht zu überwindende Abhängigkeit von der Sinneswahrnehmung – den bilden, die der ‚Frankfurter‘ im dreizehnten Kapitel in Zusammenhang mit seiner einzigen Tauler-Zitation erwähnt317 – eindeutig markiert.318 Eine im Intellekt fundierte und bereits in hac vita vollendete 313 Vgl. Sturlese: Tauler im Kontext, S. 178, 179, 194, 195. Tauler kann sich für seine These einer dreifachen Strukturierung des Seelengrundes bzw. des gemüete auf Augustinus berufen, insofern dieser die imago Dei in den substanziell vereinigten inneren Kräften memoria, intelligentia und voluntas verortet hat. Vgl. Krämer: Imago Trinitatis, S. 79. Siehe dazu auch oben, Anm. 311 sowie die nachfolgende Anmerkung. 314 Vgl. Thomas: S. th. I, q. 93, a. 7, c. Insofern Thomas die Gottebenbildlichkeit des Menschen vorrangig in der aktuellen Entfaltung seiner Seelenvermögen verwirklicht sieht (vgl. Krämer: Imago Trinitatis, S. 319, 320), kann er ebenfalls auf Augustinus als Autorität zurückgreifen. Dieser kennt neben der inneren, unwandelbaren imago Dei, die sich durch das Gefüge von interior memoria, interior intelligentia und interior voluntas konstituiert, auch die äußere Dreiheit memoria, intelligentia, voluntas. Diese wandelbare und verschiedenen Einflüssen unterliegende Triade kann nicht im eigentlichen Sinne Bild Gottes sein, aber doch insofern Bildcharakter haben, als es ihr möglich ist, sich auf Gott auszurichten. Siehe Brachtendorf: Die Struktur, bes. S. 239. Siehe ferner die Darlegungen weiter unten, Kap. 2.2.3.6. Thomas’ Augustinus-Interpretation ist somit eine völlig andere als jene Taulers; beide Dominikaner kommen jedoch darin überein, dass die imago Dei trinitarisch strukturiert ist. 315 Vgl. Brachtendorf: Der menschliche Geist, S. 155, 156, 170. Siehe auch Ruh: Geschichte, Bd. 1, S. 86. Die im abditum mentis fundierte unio von Gott und Mensch gehört daher zwar zur augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ (siehe Kap. 2.2.2.2, S. 127–128), jedoch nicht zum ursprünglichen Denken des Kirchenvaters. Vgl. auch Brachtendorf: Meister Eckhart, S. 164, 165, 167. 316 Thomas kommt in dieser Ablehnung eines Aufstiegs der Vernunft zum Göttlichen durchaus mit dem ‚Frankfurter‘ überein, der den von ihm bekämpften ‚falschen freien Menschen‘ unterstellt, ihre natürliche Vernunft mit Gott zu verwechseln. Siehe dazu u. a. Kap. 2.3.1, S. 200. Eine Verketzerung der natürlichen Vernunft, wie sie der ‚Frankfurter‘ betreibt, wäre für Thomas allerdings undenkbar. 317 Siehe oben, Kap. 2.1, Anm. 14 sowie unten, Kap. 2.2.3.3, Anm. 347. 318 Die thomasische Erkenntnislehre ist freilich nicht von Augustinus, sondern von Aristoteles geprägt. Während der Aquinate die Sinneswahrnehmung zum Ursprung aller Erkenntnis erklärt, vertritt Augustinus eine Illuminationslehre, derzufolge Erkenntnis aus der Teilhabe des menschlichen Geistes am ‚göttlichen Licht‘ erwächst. An dieser Lehre, die einen natürlichen Gottesbezug
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Einheit von Gott und Mensch, in der sich die Gottebenbildlichkeit verwirklicht, muss Thomas deshalb fremd bleiben.319 Anderes gilt für seine Ordensbrüder Dietrich und Eckhart, die ihre Auslegung der Gottebenbildlichkeit – ebenfalls im Rückgriff auf Augustinus – mit der unio als Proprium des ‚mystischen Diskurses‘ in Einklang bringen.320 Beide heben die von Thomas betonte Differenz zwischen Christus als einzigem wahren Bild Gottes und dem Menschen als nach dem Bilde Gottes geschaffen auf321 und verlagern die imago Dei auf ein allen Kräften und Funktionen der Seele zugrunde liegendes Prinzip: das bereits mehrfach erwähnte abditum mentis. Dabei kommen Eckhart und Dietrich darin überein, dass es sich um einen dynamischen ontologischen Bezug handelt, der in einem zeitenthobenen Kreislauf aus Gott hervorgeht und sich wieder zu ihm zurückwendet.322 Dieser Grundkonsens kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Theologen in der Ausarbeitung ihrer Seelengrund-Lehren völlig unterschiedliche Wege einschlagen: Während Dietrich das abditum mentis mit dem intellectus agens identifiziert323 – und damit der
des Menschen garantiert und die augustinische Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ stark beeinflusst, hält der Kirchenvater auch dann noch fest, als er bereits seine radikale Gnadenlehre entwickelt hat. Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 1, S. 107, 108. Dass der ‚Frankfurter‘ das ‚natürliche Licht‘ des Menschen ausschließlich als Widerpart des ‚göttlichen Lichtes‘ betrachtet, stellt daher eine Überschreitung des antipelagianischen Augustinus dar. Zur Diabolisierung des ‚natürlichen Lichtes‘ im ‚Frankfurter‘ siehe auch Kap. 2.3.2.3, Anm. 641. 319 Die heftige Polemik volkssprachlicher mystischer Texte – so auch des ‚Frankfurter‘ – gegen ‚freigeistige‘ Vergottungsbestrebungen dürfte im Kontext jener zunehmenden Verengung des geistigen Spielraumes im vierzehnten Jahrhundert zu sehen sein, die mit einer Verpflichtung auf die Lehre des Thomas von Aquin einhergeht. Siehe dazu Flasch: Meister Eckhart, S. 38–45. Von dieser Disziplinierungstendenz scheint also keineswegs nur die akademische Theologie betroffen zu sein. Siehe auch weiter unten, Kap. 2.2.3.2, S. 151–152 sowie Kap. 2.2.3.6, S. 180 mit Anm. 446. 320 Zu Dietrich siehe Wilde: Das neue Bild, S. 101–109. Ein Vergleich zwischen Eckhart und Augustinus hinsichtlich der Bildlehre findet sich ebd., S. 110–112. Wilde hebt vor allem die Differenzen zwischen Eckhart und Augustinus (und damit implizit zwischen augustinischer Spiritualität und Augustinus) hervor. Siehe auch oben, Anm. 315. 321 Vgl. Sturlese: Mystik und Philosophie, bes. S. 55–59 sowie im Kommentar zur Ler von der selykeit (hg. Winkler) S. 152. Zu Eckhart siehe auch Wilde: Das neue Bild, S. 232–239. Zu Dietrich siehe auch Beccarisi: Dietrich in den Niederlanden, S. 299–301. 322 Zu Dietrich siehe Sturlese: Mystik und Philosophie, S. 59. Vgl. ferner die oben in Kap. 2.2.2.2, Anm. 240 genannten Beiträge von Flasch sowie Führer: The Agent Intellect (zur imago-Lehre Dietrichs vor allem S. 83–86) und Ruh: Geschichte, Bd. 3, S. 208–212. Ein Überblick über Dietrichs Intellekt- und Bildlehre findet sich auch in Gabriel: Rückkehr, S. 171–188. Zu den Eigenschaften der imago nach Eckhart siehe Sturlese: Mystik und Philosophie, S. 56. Vgl. ferner Wilde: Das neue Bild, S. 79–81. 323 Zitiert sei nur eine Stelle aus dem Prooemium zu De visione beatifica (hg. Mojsisch), n. 5, S. 4, Z. 45–47: „[…] ut idem sit intellectus agens apud philosophos, quod abditum mentis apud Augusti-
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menschlichen Vernunft gerade jenen göttlichen Aspekt verleiht, der im ‚Frankfurter‘ als ‚freigeistige‘ Selbstüberschätzung so heftig negiert wird –, sieht Eckhart im Seelengrund ein Vernunft und Willen vorgelagertes Prinzip, ein ebenso unbestimmbares wie dynamisches ‚Etwas‘, das sich allein im Schweigen der Seelenkräfte verwirklicht324 und dem er mit jener Metaphernfülle Ausdruck verleiht, die wir weiter oben bereits kennengelernt haben.325 Auch wenn Eckhart und Dietrich in ihrer Auslegung der Gottebenbildlichkeit signifikant von Thomas abweichen, so teilen doch beide mit dem Aquinaten sowie mit Augustinus die Überzeugung, dass die imago Dei unauslöschlich mit dem Menschsein als solches verbunden ist. Sie ist – in den Worten Dietrichs – „illud supremum, quod Deus in natura nostra plantavit“.326
num, et intellectus possibilis apud philosophos idem, quod exterius cogitativum secundum Augustinum.“ Die Bezeichnung imago kommt allein dem intellectus agens bzw. abditum mentis zu, während der intellectus possibilis bzw. das ,äußerlich Denkfähige‘ nur eine similitudo mit Gott zu begründen vermag (anders als bei den Viktorinern des zwölften Jahrhunderts steht die imago innerhalb der ‚deutschen Dominikanerschule‘ stets ungleich höher als die similitudo). Vgl. dazu De visione beatifica (hg. Mojsisch), Kap. 1.1.1, n. 3, S. 6, Z. 22–S. 8, Z. 28: „Quod ergo dicitur ad similitudinem, hoc pertinet ad exterius cogitativum seu intellectum possibilem et ea, quae sui dispositioni subsunt. Quod autem dicit ad imaginem, quae consistit in aeternitate et unitate trinitatis, refertur ad abditum mentis seu intellectum agentem, quo substantia animae figitur in aeternitate, ut infra patebit, et in quo solo invenitur illa unitas trinitatis et trinitas in unitate, qua est homo ad imaginem Dei, ut infra ostendetur et interim supponatur hic.“ Siehe auch Wilde: Das neue Bild, S. 105; McGinn: Sermo XLIX, S. 222. 324 Vgl. dazu vor allem die Studie von Guerizoli: Die Verinnerlichung. Sowohl bei Dietrich als auch bei Eckhart vollzieht sich die Glückseligkeit in einer Überformung des intellectus possibilis. Während diese Überformung nach Dietrich jedoch durch den intellectus agens geschieht, der naturhaft schon immer glückselig ist, vollzieht sie sich nach Eckhart in der Gottesgeburt, die ein Schweigen aller Seelenkräfte voraussetzt. Der Mensch muss also jedes naturhafte Wirken des tätigen Intellekts zum Erliegen bringen. Nur dann kann Gott den intellectus possibilis überformen. Diesen Vorgang stellt Eckhart in Predigt S 104 (DW IV/1) aus erkenntnistheoretischer Perspektive so dar, dass Gott sich selbst an die Stelle des intellectus agens setzt und dessen natürliche Funktionen übernimmt. In diesem Modell offenbart sich nicht nur die trotz aller Differenzen bestehen bleibende Verwandtschaft Eckharts zu Dietrich, sondern auch der Einfluss des Thomas von Aquin. Man vergleiche nur etwa, wie Thomas in ScG III, Kap. 51–53 die jenseitige Gottesschau konzipiert: nämlich als Aufnahme Gottes im möglichen Intellekt, der dazu allerdings erst durch die Ausstattung mit dem übernatürlichen lumen gloriae befähigt werden muss. 325 Siehe Kap. 2.2.2.2, S. 125–128. Da das Innerste der Seele Bild Gottes – und als solches ‚Bild ohne Bild‘ – ist, dient die Metaphernfülle nicht nur dazu, die Dynamik des Gott-Mensch-Verhältnisses adäquat auszudrücken, sondern sie entzieht die imago Dei auch jeglicher Verbildlichung. Vgl. Wilde: Das neue Bild, S. 87. 326 Dietrich von Freiberg: De visione beatifica (hg. Mojsisch), Prooemium, n. 6, S. 4, Z. 54–55. Vgl. ebd., Prooemium, n. 4, S. 4, Z. 32–42. Bereits Augustinus spricht in De trinitate davon, dass Gott sein Bild in die vernünftige Seele ‚eingepflanzt‘ habe. Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 1, S. 102.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
2.2.3.2 Die Gottebenbildlichkeit in der deutschen mystischen Prosa Grundlegend für die volkssprachliche Mystik des fortschreitenden vierzehnten Jahrhunderts wird, wie bereits erwähnt, Eckharts Konzept der Gottebenbildlichkeit, was freilich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Meister – auch unter Hinzuziehung abweichender imago-Lehren der akademischen Theologie – nicht ausschließt.327 Erinnert sei hier nur an das Bestreben des ‚Buchs der Wahrheit‘, die eckhartische Lehre durch ihre Kombination mit thomasischen Anschauungen – auch zur imago Dei – zu entschärfen.328
Auch Eckhart betont in Pr. Q 16b: „Diz ist ein natiurlich bilde gotes, daz got in alle sêlen natiurlîche gedrücket hât“ (DW I, S. 268, Z. 11–12). Vgl. auch ders.: Pr. Q 40, DW II, S. 275, Z. 4–S. 276, Z. 1; Pr. Q 46, DW II, S. 380, Z. 2–5. 327 Marquard von Lindau z. B. lehnt die Seelengrundlehre Dietrichs von Freiberg und Meister Eckharts entschieden ab und verortet die Gottebenbildlichkeit stattdessen wie Thomas in den Kräften der Seele. Damit wendet er sich auch gegen Tauler, der zwar ebenfalls von einer trinitarischen Struktur der imago ausgeht, diese aber im Seelengrund verwirklicht sieht. Allerdings weist Marquard die Gottebenbildlichkeit nicht den ,äußeren‘, sondern den ‚inneren‘ Seelenkräften zu, so dass seine Position zwischen Thomas und Tauler laviert. Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass Marquard seine Position explizit als augustinisch deklariert, während eine Identifikation des Bildes mit dem wesen der sel dem Kirchenvater widerspreche. Dies zeigt einmal mehr, wie kontrovers Augustinus innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ rezipiert wird. Die Kritik Marquards findet sich in Pr. 32 (hg. Blumrich), S. 230, Z. 307–310: „Die frg: Weder iſt daz bild gottes in den kreften der ſel oder in dem weſen der ſel? Die antwúrt: Sant Auguſtinus ſprichet, daz es nit ſi in dem weſen, mer in den dryn inren kreften der ſel, vnd wer anders leret, der ſeit wider ſant Auguſtinus mainung.“ Siehe dazu auch die Ausführungen von Blumrich in der Einleitung zur Edition, S. 73*-77*. Ein verdeckter Hinweis auf Dietrich von Freiberg findet sich in Pfeiffer-Spruch 65 (hg. Pfeiffer II), der damit zugleich eine Gegenposition zu Marquard bezieht, die ebenfalls mit Augustinus legitimiert wird. Die Passage lautet (ebd., S. 622, Z. 32–S. 623, Z. 1): „Diu sêle hat drî krefte an ir. Hier an lît daz bilde niht. Mêr: si hât ein kraft, daz ist daz wirkende verstentnisse. Nû sprichet Augustînus und der niuwe meister, daz hie inne gelige einerhande gehügnisse und verstentnisse und wille, und disiu driu hânt niht underscheides. Daz ist daz verborgen bilde, daz entwirt dem gotlîchen wesen und daz gotlich wesen schînet in daz bilde âne mittel.“ Die Identifikation des Bildes mit dem intellectus agens entspricht der Lehre Dietrichs. Siehe dazu die Ausführungen weiter oben, Kap. 2.2.3.1, S. 148–149. 328 Zur Rezeption der thomasischen Lehre im ‚Buch der Wahrheit‘, das auf die Summa theologiae-Übersetzung des frühen vierzehnten Jahrhunderts zurückgreift (dazu auch unten, Anm. 329), vgl. Retucci: Heinrich Seuse. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass der ‚Jünger‘ in der Auseinandersetzung mit dem ‚Wilden‘, das eine ‚freigeistige‘ Fehlinterpretation des eckhartischen Denkens vorträgt, wie Thomas – und gegen Dietrich und Eckhart – auf der Unterscheidung von Christus als einzig wahrem Bild Gottes und dem Menschen als nach dem Bild Gottes geschaffen insistiert. Vgl. BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 7, S. 62, Z. 96–105: „Daz wilde sprach: Der selb meister hat vil schone geseit von eime kristmessigen menschen. Der Iunger sprach: Der meister sprichet an einer stat also: ‚Christus ist der eingeborne sun und wir nit‘. ‚Er ist der
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Die Dominanz der eckhartischen Lehre dürfte in erster Linie darin begründet sein, dass der Meister den Großteil seiner Predigten sowie mehrere Traktate in der Volkssprache verfasst hat. Auf diese Weise konnte er ebenso stimulierend wie prägend auf eine sich entwickelnde deutsche Fachsprache einwirken. Die imagoLehren des Thomas von Aquin und Dietrichs von Freiberg wurden dagegen nur verhalten rezipiert. Zwar beinhaltet die mittelhochdeutsche Auswahlübersetzung der ‚Summa theologiae‘329 auch Passagen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen – die, wie oben angesprochen, im ‚Buch der Wahrheit‘ zur Neutralisierung der eckhartischen Lehre dienen –, und auch in den volkssprachlichen Traktaten zur Glückseligkeit330 ist Thomas präsent. Von einer umfassenden Adaption durch die mystische Traktat- und Predigtliteratur kann jedoch nicht die Rede sein. Abgesehen von der Sprachproblematik dürften die strikt scholastische Darbietungsform, vielleicht aber auch eine geringere Ausstrahlungskraft im Vergleich zur eckhartischen imago-Lehre als Rezeptionshindernisse gewirkt haben.331 Denn die unio als zentraler Aspekt des ‚mystischen Diskurses‘ ist mit der thomasischen Bildlehre – jedenfalls in ihrer ursprünglichen Form – nicht vermittelbar.332 Für den geringen Widerhall der Bildlehre Dietrichs in Texten der ‚deutschen Mystik‘333 könnte neben der schwer verständlichen Begrifflichkeit die lebensweltliche Ferne verantwortlich sein.334 Daneben spielt möglicherweise auch die zunehmende Einschränkung des theologischen und philosophischen Spielraumes im vierzehnten Jahrhundert eine Rolle, die innerhalb der deutschen Literatur
natúrlich sun, wan sin geburt zilet in der natur‘, aber wir sien nit der naturlich sun, und únser geberunge | heisset ‚ein widergeburt, wan si zilet in einfrmikeit siner nature. Er ist ein bilde des vatters, wir sien gebildet nach dem bilde der heiligen drivaltikeit‘. Und sprichet, daz ime hierinne nieman kan gelich gemessen.“ 329 Diese wurde erstmals von Gabriele Schieb vollständig ediert (Eine mittelhochdeutsche Übersetzung). Größere Beachtung fand allerdings erst die Ausgabe von Morgan/Strothmann (Middle High German Translation). Siehe zur Editionsgeschichte von Ertzdorff/Meinhardt: Ein ‚Compendium humanae salvationis‘?, S. 209. 330 Siehe oben, Kap. 2.2.3.1, S. 143. 331 In anderen volkssprachlichen Kontexten – vor allem in Schriften zur Sitten- und Glaubenslehre – ist Thomas durchaus präsent. Neben der Summa-Übersetzung gebührt hier dem Bch der tugenden (hg. Berg/Kasper), einer abbreviatio von S. th. II-II, besondere Aufmerksamkeit. Siehe Berg: Der Tugenden Bch, bes. S. 75–192. 332 Wie das Beispiel des ‚Buchs der Wahrheit‘ zeigt, konnte Thomas jedoch als Korrektiv der eckhartischen Lehre genutzt werden. 333 Vgl. Beccarisi: Dietrich in den Niederlanden, S. 292–293. 334 Beccarisi, ebd., weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die wenigen Zeugnisse einer volkssprachlichen Dietrich-Rezeption immer auch von eckhartischem Gedankengut durchdrungen sind (ebd., S. 307). Nur auf diese Weise konnte „das anthropologische Potenzial der Intellektlehre Dietrichs“ zur Geltung gebracht werden (ebd., S. 306).
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
insbesondere in der scharfen Kritik an ‚freigeistigen‘ Positionen einen Widerhall findet.335 Dadurch könnte eine Rezeption der Lehre Dietrichs von vornherein behindert worden sein, gehörte die in der antifreigeistigen Polemik grundsätzlich abgelehnte göttliche Natur der Vernunft doch zu den Grundkonstituenten seiner imago-Lehre.336 Bereits die 1312 auf dem Konzil von Vienne erlassene, berühmtberüchtigte Konstitution Ad nostrum qui, die sich gegen angebliche begardische Häresien richtet und in diesem Zusammenhang auch den Freiheitsbegriff problematisiert,337 greift diesen Aspekt im Denken des Freibergers auf, um ihn zu verurteilen.338 Freilich fällt der Name Dietrichs weder hier noch in der späteren literarischen Polemik gegen die ‚falschen freien Menschen‘ und anders als Meister Eckhart bleibt er von der Inquisition unbehelligt. Im Gegenzug kann Eckharts Lehre ungeachtet ihrer strikten Trennung der natürlichen Vernunft von der Sphäre des Göttlichen als ‚freigeistig‘ missverstanden werden,339 zumal zu der Vielfalt der Bezeichnungen, die in seinen Schriften auf das göttliche ‚Etwas‘ in der Seele Anwendung finden, auch jene der ‚Vernunft‘ gehört.340
335 Vgl. oben, Kap. 2.2.3.1, Anm. 319. 336 Vgl. Sturlese: Von der Würde, S. 39–40. Der göttliche Aspekt der Vernunft betrifft nach Dietrich jedoch nur den intellectus agens bzw. das abditum mentis. Davon zu unterscheiden ist das rationale Denken, welches Dietrich mit dem intellectus possibilis bzw. dem exterius cogitativum identifiziert. Wie andere Nachfolger Alberts des Großen auch differenziert Dietrich also zwischen der ‚Vernunft als Vernunft‘ und der ‚Vernunft als Denkvermögen‘ (vgl. Sturlese: Die deutsche Pilosophie, S. 386). Siehe auch die Zitate oben, Kap. 2.2.3.1, Anm. 323. Dass die akademischen Diskussionen um den Status der Vernunft zumindest punktuell auch in die volkssprachliche Traktatliteratur Eingang gefunden haben, zeigt der ‚Traktat von der Minne‘, der den intellectus agens mit Gott identifiziert (hg. Witte, Z. 91–114) und damit eine Position einnimmt, die an den augustinisme avicennissant erinnert. Explizit verweist die Passage auf Augustinus, um ihre Lehre autoritativ zu stützen. Eine Vergottung der Vernunft bedeutet dies indessen nicht, sondern – wie in der augustinischen Illuminationslehre (siehe oben, Kap. 2.2.3.1, Anm. 318) – eine dauerhafte Angewiesenheit des menschlichen Erkennens auf Gott. 337 Siehe dazu unten, Kap. 2.3.5.3, Anm. 824. 338 Es handelt sich um den fünften Satz der Konstitution: „Quod quaelibet intellectualis natura in se ipsa naturaliter est beata, quodque anima non indiget lumine gloriae, ipsam elevante ad Deum videndum et eo beate fruendum“ (Enchiridion, n. 895, S. 388). Vgl. auch Sturlese: Tauler im Kontext, S. 174. Im Gegensatz zum ‚Frankfurter‘, der diese Position als diabolisch verwirft, stimmt die Ler von der selykeit (hg. Winkler) ihr ausdrücklich zu: „Daz ist wâr, daz ein iegelich vernunftec wesen muoz saelec sîn von nâtûre. Dar umbe heizet er [Dietrich] diz ein würkende vernunft.“ Ebd., S. 41, Z. 12–13 (in der Edition von Preger S. 180). 339 Zur Verunglimpfung Eckharts als Anhänger oder sogar Begründer der ‚freigeistigen‘ Häresie siehe Kap. 2.3.5.3, Anm. 840. 340 Vgl. Pr. Q 38, DW II, S. 229, Z. 4–S. 230, Z. 1: „Alsô wirt daz êwige wort gesprochen inwendic in dem herzen der sêle, in dem innersten, in dem lûtersten, in dem houbete der sêle, dâ ich nû von sprach, in vernünfticheit: dâ geschihet diu geburt inne.“ Eckhart unterscheidet jedoch zwischen der
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Während es einstweilen offen bleiben muss, inwieweit die zeitspezifischen theologischen Disziplinierungsmaßnahmen für das weitgehende Fehlen Dietrichs innerhalb des volkssprachlichen Diskurses mitverantwortlich sind, lässt sich die Frage, worin genau die immense Anziehungskraft der eckhartischen imago-Lehre bestand, anhand der erhaltenen mystischen Predigt- und Traktatliteratur beantworten. Ohne die verschieden akzentuierten Darlegungen im Einzelnen zu würdigen,341 kann zusammenfassend festgestellt werden, dass die Faszination von dem Grundgedanken einer jedem Menschen im Innersten der Seele zukommenden Verwandtschaft mit Gott ausgeht. Dass sich dieser ontologische Bezug sowohl bei Eckhart als auch in der nacheckhartischen Mystik mit genau jenen Aspekten augustinischer Spiritualität verbindet, die konstitutiv für den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts sind, fand eingangs dieses Kapitels bereits Erwähnung, so dass hier wenige kurze Hinweise genügen mögen: Die Seele ist Bild Gottes, insofern sie „âne mittel von got geflozzen ist“.342 Dieses Fließen wird in eckhartischer Tradition als Gottesgeburt gefasst343 und somit als Sohnwerdung des Menschen, die sich in der processio verbi vollzieht.
auf die sinnliche Wahrnehmung angewiesenen natürlichen Vernunft des Menschen und der Intelligibilität des Seelengrundes: „Über die vernünfticheit, diu dâ suochende ist, sô ist ein ander vernünfticheit, diu dâ niht ensuochet, diu dâ stât in irm lûtern einvaltigen wesene, daz dâ begriffen ist in dem liehte“ (Pr. Q 71, DW III, S. 215, Z. 9–11). Der natürlichen Vernunft bleibt der Aufstieg zu Gott versagt: „Dû ensolt des niht wænen, daz dîn vernunft dar zuo wahsen müge, daz dû got erkennen mügest“ (Pr. S 103, DW IV/1, S. 476, Z. 26–27). Zu Eckharts Lehre von der ‚doppelten Vernunft‘ siehe auch Wegener: nach dem aller lieblichsten exempel Christi, S. 203–204. 341 Auch in der volkssprachlichen Literatur finden Diskussionen um das richtige Verständnis der Bildlehre statt, die in manchen Texten eine bemerkenswerte Komplexität erreichen können. Hingewiesen sei hier nur auf die sechsfache Stufung von bilde in der ‚Blume der Schauung‘ (hg. Ruh), die den Aufstiegsweg des Geistes zur Gottesschau markiert. Siehe ebd., S. 54, Z. 209–S. 56, Z. 243. 342 Pfeiffer II, Spruch 53, S. 618, Z. 25. Siehe auch Von der sel wirdichait vnd aigenschafft (hg. Löser), S. 386, Z. 36–37 (= Pfeiffer II, Traktat III, S. 400, Z. 37): „vnd als got in dy sel flewst also flew|st sy hin wider in got.“ Vgl. ferner die Kriterien, die Spruch 65 (hg. Pfeiffer II) zur Definition von ‚Bild‘ aufstellt (ebd., S. 622, Z. 19–30). 343 Zur Verbindung von Bildlehre und Gottesgeburt siehe Eckhart: Pr. S 102, DW IV/1, S. 410, Z. 14–16: „[…] diu sêle ist natiurlîche nâch gote gebildet. Diz bilde muoz gezieret und volbrâht werden mit dirre geburt. Dises werkes noch dirre geburt enist kein crêatûre enpfenclich dan diu sêle aleine“; vgl. ebd., S. 411, Z. 23–27; siehe ferner Paradisus anime intelligentis (hg. Strauch), Pr. 7 (Johan Franco), S. 22, Z. 20–25: „also wirdit der mensche glich geformit noch dem bilde Godis sone. daz glichnisse daz wir habin mit Godis sone, da fone wir Godis sone heizin, daz ist an der geburt; wan alse her ewicliche Got uze Gode geborin ist, daz wort daz die warheit ist: also si wir geistliche uz Gode geborin in deme worte der worheit. an dirre wondirlichen geburt lit di hohe edilkeit cristiner sele“; Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 32, S. 229, Z. 268–271: „Vnd hett vnſ gott nie kain minn anders bewiſet, denn daz er ns nh im ht gebildet, ſo hett er doch vnmſſig minn erzget, wan er
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
2.2.3.3 Die Verschiebung der diskursiven Koordinaten in der Bildlehre des ‚Frankfurter‘ Wie aber positioniert sich der ‚Frankfurter‘ vor dem Hintergrund der gerade skizzierten Diskussionen um die imago Dei? Auf den ersten Blick scheint er sich völlig außerhalb ihres Horizontes zu bewegen, insofern er die gemeinsame Überzeugung der akademischen Theologie und der volkssprachlichen Texte, dass die natura hominis auf Gott ausgerichtet und die Gottebenbildlichkeit deshalb fest im Menschen verankert sei, negiert. Die Demarkationslinie wird dabei insbesondere durch seine harsche Kritik am menschlichen Erkenntnisstreben gezogen, da die der Natur des Menschen innewohnende ‚freigeistige‘ Verirrung vor allem durch den verfehlten Geltungsanspruch der Vernunft verursacht sei. In den Worten des ‚Frankfurter‘: Sich, nu ist keyn leben der natur also beqweme vnd als lustig also das frey, ruchloß leben. Dar vmmb held sie sich an das selbe vnd gebruchet sich yr selbes vnd yrer selbheit vnd yres eyniges frides vnd gemachs vnd alles des yren alda selbes vnnd diß geschiet aller meist, do hoch, naturlich vornunfft ist.344
Im ‚Frankfurter‘ ist der geschaffenen Vernunft des Menschen keinerlei Orientierung auf ihren göttlichen Ursprung hin möglich, wie Thomas voraussetzt, und schon gar nicht kommt dem menschlichen Intellekt von Natur aus eine dem Bereich des Kreatürlichen entzogene, göttliche Komponente zu, wie dies in den theologischen Entwürfen Dietrichs und Eckharts ungeachtet ihrer fundamentalen Differenzen der Fall ist. In latenter Spannung zur scharfen Vernunftkritik des ‚Frankfurter‘ befindet sich allerdings seine These vom ‚Einen‘ bzw. ‚Vollkommenen in der Seele‘, welches innerlich erkannt, empfunden und geschmeckt werden müsse und somit die Opposition von Gott und Mensch zwar nicht aufhebt, aber doch relativiert.345 Die Passagen, die sich mit diesem göttlichen Element in der menschlichen Seele auseinandersetzen, bilden deshalb eine eigene thematische Serie, die nicht in unmittelbarer Verbindung mit der antifreigeistig ausgerichteten Vernunftpolemik
ht doch ſin edel bild in die ſel gedruket, dr vmb daz er ſinen aingebornen ſun in ſi geber […].“ Siehe ferner Spiegel der Seele (hg. Vogl), S. 318, Z. 92–S. 320, Z. 111. 344 Kap. 20, S. 97, Z. 7–10. Allerdings steht der ‚Frankfurter‘ mit seiner Verbindung von antifreigeistiger Polemik und Kritik am natürlichen Erkenntnisstreben des Menschen keineswegs alleine da. Diesen Zusammenhang konstruieren vielmehr zahlreiche Texte der nacheckhartischen Mystik. Siehe dazu unten, Kap. 2.2.3.6, S. 179–180. Singulär ist allerdings die Rigorosität, mit der der ‚Frankfurter‘ jeden Versuch des ‚natürlichen Lichts‘, sich auf Gott zuzubewegen, als widergöttlich brandmarkt. 345 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.2.2, S. 120–125.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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des Traktats steht. Dieses Nebeneinander zumindest latent inkompatibler Aussagen ist charakteristisch für die ‚Vielstimmigkeit‘ des ‚Frankfurter‘. Dass der Traktat die innerseelische Begegnung von Gott und Mensch als Hinwendung des Menschen zum unbestimmt bleibenden unum animae fasst, offenbart dennoch seinen Abstand zu den akademisch geprägten imago-Lehren: Weder spiegelt sich in der menschlichen Seele die trinitarische Dynamik wider, wie dies bei Thomas von Aquin und in abgewandelter Form bei Johannes Tauler der Fall ist,346 noch erfüllt das ‚Eine in der Seele‘ die Grundbedingung, um nach der Lehre Dietrichs und Eckharts Bild Gottes zu sein: Es fließt nicht aus dem göttlichen Grund als mit diesem identisch hervor. Damit versagt sich der ‚Frankfurter‘ jede Reminiszenz an eine Augustinus-Rezeption, die mit der Lehre von der geistigen Gottebenbildlichkeit des Menschen zugleich das Fundament für eine positive Anthropologie legt. Noch deutlicher tritt die Sonderstellung des Traktats innerhalb des paradigmatischen Textkorpus zutage, insofern er sich der durch Meister Eckhart geprägten Faszination des Bildbegriffs ebenso konsequent entzieht wie den damit verbundenen Grundaspekten augustinischer Spiritualität. Völlig verzichtet der ‚Frankfurter‘ allerdings nicht auf den Terminus ‚Bild‘. Er bzw. seine Derivate finden in insgesamt vier Passagen Verwendung, jedoch in ganz unterschiedlichem Sinne: Zweimal dient der Bildbegriff zur Übersetzung des lateinischen species,347 einmal wird das Partizip gebildet in Richtung auf das lateinische exemplar hin ausgelegt,348 und ebenfalls nur ein einziges Mal – im sechzehnten Kapitel – verweist dasselbe Partizip auf die Bedeutung ima-
346 Siehe oben, Kap. 2.2.3.1, S. 146–147. Zu Thomas vgl. ferner Krämer: Imago Trinitatis, S. 308– 318. 347 In Kap. 8 wird die Möglichkeit, bereits im Diesseits einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit zu empfangen, davon abhängig gemacht, dass sich die Seele von allen bilden, d. h. von den durch die Kreaturen verursachten Wahrnehmungs- und Erkenntnisbildern (species sensibiles und species intelligibiles) befreit: „Wanne sal die sele da hin *kommen, ßo muß sie luter vnnd bloß seyn von allen bilden vnnd ab gescheiden von allen creaturen vnnd czu vorderst von yr selber. Vnd diß meynt man, eß sey nicht czu geschehen yn der czeit.“ Ebd., S. 79, Z. 7–10. Im Gegenzug warnt das dreizehnte Kapitel vor einer vorschnellen und eigenmächtigen Lösung von den bilden, d. h. vor dem Versuch des Menschen, aus eigenem Antrieb seine kreatürlichen Beschränkungen zu überwinden. Siehe dazu oben, Kap. 2.1, S. 73 mit Anm. 14 und 15. 348 Diese Bedeutung ist eingeschränkt auf die Vorbildrolle der vita Christi. Siehe Kap. 40, S. 130, Z. 118–121: „Kurtzlich, wo das ware licht ist, da ist war, gerecht leben, das got werd vnd lib ist. Vnnd ist eß nicht Cristus leben yn volkommenheit, so ist eß doch dar noch *gerichtet vnd gebildet, vnd Cristus leben wird lib gehabt vnd alles, das redelicheit, ordenung vnd allen tugenden czu gehoret.“ In einer redaktionellen Ergänzung der Frankfurter Handschrift C werden allerdings auch die Gottesdiener in ihrer exemplarischen Funktion anerkannt (hg. von Hinten, S. 88, Apparat): „Man sol auch ebenbilde vnd vnterscheid weyß radt vnd lere nemen vnd entphahen von den andechtigen vnd volkomen dyneren goteß vnd nit nachvolgen seynen eygen heubt.“
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go.349 Diese Passage ist zum einen deshalb signifikant, weil sie im Vergleich zu Eckharts Bildlehre – also in intertextueller Perspektive – eine Besonderheit offenbart, deren Konsequenzen im Syntagma sichtbar werden. Denn sie bietet hinsichtlich der imago-Problematik eine in einer Auslassung bestehende und daher zunächst verborgene Erklärung für die negative Anthropologie des ‚Frankfurter‘. Zum anderen lässt sich anhand dieser Textstelle und der mit ihr auf der Werkebene thematisch und terminologisch verbundenen Aussagen demonstrieren, dass der Traktat trotz aller Emanzipationstendenzen in sein literarisches Bezugsfeld eingebunden bleibt, insoweit es aus Texten der nacheckhartischen Mystik besteht. Zugleich aber öffnet er sich mit seiner spezifischen Auslegung der Gottebenbildlichkeit des Menschen für einen theologischen Entwurf, der im Gegensatz zur eckhartischen imago-Lehre steht. Dass dieser diskursive Transformationsprozess, aus dem der ‚Frankfurter‘ hervorgegangen ist, zwar von der augustinischen Spiritualität des ‚mystischen Diskurses‘ wegführt, im Gegenzug jedoch Anschlussstellen an den antipelagianischen Augustinus generiert, werden die folgenden Ausführungen erweisen. Wenden wir uns zunächst jener Passage zu, in der sich der ‚Frankfurter‘ mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen auseinandersetzt. Sie hat folgenden Wortlaut: Man spricht auch, der mensch *solde an ym selbir sterben, das ist, des menschen *icheit und selbheit soll sterben. Hie von spricht sanctus Paulus: ‚Leget abe den alden menschen mit seynen wercken vnd czihet an eyn nuwen menschen, der nach got geschaffen vnd gebildet ist‘. Wer yn seyner selbheit vnd nach dem alden menschen lebet, der heißet vnde ist Adams kint. Er mag also ferre vnd also weßenlich dar jnne leben, er ist auch des teufels kint vnd bruder. Wer aber yn dem gehorsam vnd yn dem nuwen menschen lebet, der ist Cristus bruder vnd gotis kint.350
Im Rückgriff auf Eph 4, 22 und 4, 24351 wird die Gottebenbildlichkeit hier mittels paulinischer Bekleidungsmetaphorik formuliert. Dies ist in Hinblick auf den
Wichtig ist, dass im ‚Frankfurter‘ die Vorbildlichkeit des Mensch gewordenen Christus mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen zusammenfällt: Der Mensch wird zur imago Dei, indem er sich die vita Christi aneignet. Eine ihm von Natur aus innewohnende Gottebenbildlichkeit im Sinne eines ontologischen Bezuges von Gott und Mensch sieht die Anthropologie des ‚Frankfurter‘ nicht vor. Siehe dazu die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 349 Zur imago-Lehre des ‚Frankfurter‘ siehe die folgenden Darlegungen. Das semantische Spektrum des mittelhochdeutschen Begriffs bilde referiert Wilde: Das neue Bild, S. 67–68. 350 Kap. 16, S. 90, Z. 8–S. 91, Z. 15 [Hervorhebung L. W.]. 351 Eph 4, 22: „Deponere vos secundum pristinam conversationem veterem hominem qui corrumpitur secundum desideria erroris“; Eph 4, 24: „Et induite novum hominem qui secundum Deum creatus est in iustitia et sanctitate veritatis.“
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‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts deshalb auffallend, weil gerade jenes Element ausgeklammert bleibt, das die Attraktivität der eckhartischen imago-Lehre ausmacht: der unmittelbare ontologische Bezug von Gott und Mensch. Stattdessen bringt die Paulus-Stelle ein eher äußerliches Verhältnis zum Ausdruck, insofern der Mensch nicht Bild Gottes ist, sondern der Forderung nachkommen soll, Bild Gottes zu werden. Dies geschieht durch das Anziehen des ‚neuen Menschen‘, der so gleichsam von außen an den ‚alten Menschen‘ herantritt. Die unmittelbare kontextuelle Einbettung der beiden Bibelverse – auf das Fehlen von Eph 4, 23 wird weiter unten noch einzugehen sein352 – wird durch drei Motive bestimmt, die in der zitierten Passage deutlich hervortreten: die Gegenüberstellung von Adam und Christus (bzw. in verschärfter Form von Teufel und Christus), die Forderung nach Aufgabe jeglichen Selbstbezuges und die Erfüllung des Gott geschuldeten Gehorsams. Die unauflösliche Verbindung dieser drei Aspekte mit der Opposition von homo vetus und homo novus, die hier in wenigen Zeilen verdichtet wird, prägt sowohl das fünfzehnte als auch das sechzehnte Kapitel des ‚Frankfurter‘. Diese bilden somit eine festgefügte Einheit innerhalb der lockeren Struktur des Traktats, jedoch keinen erratischen Block, der aus dem Gesamtkonzept der Schrift herausfiele.353 Im Gegenteil: Die beiden Kapitel führen in besonderer Intensität das Zusammenspiel jener Themen vor, die den ‚Frankfurter‘ leitmotivisch durchziehen und auf der Werkebene sein spezifisches theologisch-philosophisches Profil ausmachen. Sie sind grundlegend für die pessimistische Anthropologie des Traktats, insofern der Mensch in seiner natürlichen, ‚freigeistigen‘ Verfassung stets ‚alter Mensch‘, d. h. Adam, sich selbst verfallen und Gott ungehorsam ist. Obgleich die Bildlehre des ‚Frankfurter‘ nur an einer einzigen Stelle und nur innerhalb eines Bibelzitates explizit auftaucht, ist sie aufgrund ihrer Einbindung in diese übergreifenden Aussagezusammenhänge doch omnipräsent. Zugespitzt formuliert: Das mystagogische Programm des ‚Frankfurter‘ zielt auf nichts anderes als auf die Verwirklichung des paulinischen Anliegens – und zwar gegen den nahezu unüberwindlichen Widerstand der menschlichen Natur, wie ihn der Traktat postuliert. Wie nun stellt sich der thematische Zusammenhalt der Kapitel 15 und 16 im Einzelnen dar? Bereits in der Überschrift greift das fünfzehnte Kapitel die Adam-
352 Vgl. Kap. 2.2.3.4. 353 Solche singulären Kapitel, die zwar auf der paradigmatischen Achse in den ‚mystischen Diskurs‘ eingebunden sind, auf der Werkebene jedoch eigenständige Abhandlungen ohne Einbindung in übergreifende thematische Zusammenhänge darstellen, gibt es im ‚Frankfurter‘ auch. Zu ihnen gehören Kapitel 7 und Kapitel 11. Vgl. Kap. 3.3.2.2, S. 355–357.
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Christus-Antinomie354 in Verbindung mit der Gehorsamsthematik auf: Wie alle menschen yn Adam synt gestorben vnnd yn Cristo widder lebendigk worden, vnd von waren gehorsam vnd vngehorsam.355 Die hier zunächst nur anklingende Koppelung von Adam/Ungehorsam und Christus/Gehorsam wird in den ersten vier Zeilen des Kapitels explizit ausgeführt: Alles, das yn Adam vnder ging vnd starb, das stunt yn Cristo wider auff vnnd wart lebendig. Alles, das yn Adam auff stunt vnd lebendig wart, das ging yn Cristo vnder vnd starp. Was was vnd ist aber daß? Ich sprech: war gehorsam vnd vngehorsam.
Und noch deutlicher heißt es einige Zeilen später: Czu dem waren gehorsam was vnd ist der mensch geschaffen vnd ist *den got schuldig. Vnde *der gehorsam ist yn Adam vnder gegangen vnd gestorben vnnd ist yn Cristo auff gestanden vnd lebendig worden, vnnd vngehorsam ist yn Adam auff erstanden vnnd hat gelebet vnd yn Cristo gestorben.356
In Einklang mit dem anschließenden sechzehnten Kapitel wird der wahre Gehorsam als totale Selbstaufgabe des Menschen und seine vollständige Ausrichtung auf das Göttliche definiert: Was ist aber war gehorsam? Ich sprech: Der mensch solde also gar an sich selber steen vnd seyn, das ist, *an selbheit vnd icheit, das er sich vnd das seyne also wenig suchte vnd meynete yn allen dingen, also ab er nicht were, noch seyne selbs als wenig entpfinden vnd von ym selbir vnd dem seynen also cleyne halden, also er nicht were, vnd als wenig von ym selber alß wenig von allen creaturen. Was ist danne das, daz do ist vnd da von zu halden ist? Ich sprich: alleyne eynes, das man got nennet. Sich, das ist war gehorsam yn der warheit vnd also ist eß yn der seligen ewikeit. *Danne wirt nicht gesucht noch gemeynet ader gelibt danne das eyne, so wirt auch von nichte gehalden denne von dem eynen.357
Im Hintergrund dieser Definition steht unverkennbar das eckhartische Motiv der ‚Gelassenheit‘, auf das an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird.358 Denn auch dieser zentralen Forderung nach Aufgabe aller ‚Ich‘-Repräsentationen, die sich durch die gesamte mystische Predigt- und Traktatliteratur zieht, verleiht der ‚Frankfurter‘ durch ihre Einbindung in seine eigentümliche Depen-
354 Ich vermeide den Begriff ‚Adam-Christus-Typologie‘, da der ‚Frankfurter‘ in Adam eindeutig keine alttestamentliche Präfiguration Christi, sondern ausschließlich dessen Widersacher sieht. 355 Frankfurter, S. 89. 356 Kap. 15, S. 89, Z. 19–22. Die zuvor zitierte Passage findet sich ebd., Z. 1–4. 357 Ebd., Z. 5–14. 358 Siehe unten, Kap. 3.3.2.3, S. 364–367.
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denzlehre einen sehr unkonventionellen Charakter.359 Schon jetzt lässt sich mit Gewissheit sagen, dass die Aufgabe jeglichen Selbstbezuges hier nicht wie bei Meister Eckhart zu einer Aufdeckung des Adels der Seele und mithin zur Vollendung der menschlichen Natur führen kann. Die uneingeschränkte Hinwendung des Menschen zum Göttlichen als Kennzeichen des wahren Gehorsams kann auf der paradigmatischen Achse sicherlich als konventionell eingestuft werden. Dennoch kommt die Definition Gottes in der zitierten Textstelle aufgrund ihrer Formulierung dem spezifischen Profil des ‚Frankfurter‘ entgegen: In Ergänzung zum innerseelischen Einen wird nun dessen Transzendenzaspekt hervorgehoben. Dabei vermeidet der Traktat erneut jeden Hinweis auf die trinitarische Selbstentfaltung Gottes und verwehrt dem Menschen damit jeglichen intimen Bezug zu seinem Schöpfer. Dies tritt auch in der Rangfolge der Termini deutlich zutage: Nicht Gott, den man auch den ‚Einen‘ nennt, ist das letzte Ziel des Menschen, sondern umgekehrt jenes abstrakte ‚Eine‘, das auch die Bezeichnung ‚Gott‘ trägt. Wie nun fällt die Definition des Ungehorsams aus? Der ‚Frankfurter‘ äußert sich dazu folgendermaßen: Hie bie magk man mercken, was vngehorsam sey. Das ist, das der mensche von ym selber etwas heldet vnd wenet, er sey vnd wisße vnd vormuge etwas, vnd sich selbir vnnd das seyne suchte yn den dingen vnde sich selbir lip hat vnd disßen glich.360
Die Identifikation des Ungehorsams mit der vom ‚Frankfurter‘ vorausgesetzten menschlichen Selbstbezogenheit war zu erwarten. Dennoch ist es interessant zu sehen, worin genau sich diese fundamentale Fehlorientierung des Menschen ausdrückt: nämlich in seinem Wahn, aus eigenem Antrieb „etwas zu vermögen“, also eine anerkennenswerte Leistung – und im Kontext des ‚Frankfurter‘ heißt dies stets: eine vor Gott anerkennenswerte Leistung – vollbringen zu können. Wie noch zu zeigen sein wird, zieht sich die Ablehnung jeglicher Verdienstfähigkeit des Menschen als augustinisch-antipelagianische Spur durch den ‚Frankfurter‘.361 Damit steht er zwar in Kongruenz mit jenen Texten der ‚deutschen Mystik‘, welche die ‚Gelassenheit‘ als Aufgabe allen menschlichen Eigenwirkens zur Voraussetzung der unio erklären. Zugleich aber widersetzt er sich dem ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts, insofern dieser das menschliche Verdienststreben – wenn auch in engen Grenzen – durchaus anerkennt.362 359 Zur Dependenzlehre siehe insbesondere Kap. 3.2.3, 3.3.1 und 3.3.2 (zur Verbindung von Gelassenheitsforderung und Dependenzlehre: Kap. 3.3.2.3). 360 Kap. 15, S. 89, Z. 15–18. 361 Siehe dazu Kap. 2.3.2.2. 362 Vgl. Kap. 2.3.2.3, S. 228–230 sowie Kap. 2.3.2.4.
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Noch stärker tritt diese Absonderungstendenz des ‚Frankfurter‘ im Vergleich mit der frömmigkeitstheologischen Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts hervor. Auch wenn der Traktat vor dem Hintergrund gängiger Frömmigkeitskategorien gelesen worden sein dürfte – seine thematischen Übereinstimmungen mit der volkssprachlichen religiösen Literatur dieses Säkulums ließen eine solche Lektürehaltung ja ohne Weiteres zu363 –, so negiert er doch den hier dominierenden anthropologischen Optimismus, dass Gott auch dem postlapsarischen Menschen einen gewissen ethischen Handlungsfreiraum zugesteht, der es ihm ermöglicht, aus eigener Kraft Verdienste zu sammeln und sich so auf sein jenseitiges Endziel zuzubewegen.364 Während der Name des Augustinus im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts vorrangig für die in der naturhaften Gottebenbildlichkeit fundierte Innerlichkeit des Gott-Mensch-Verhältnisses in Anspruch genommen wird,365 steht der Kirchenvater in der frömmigkeitstheologischen Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts immer wieder als Autorität für die von Gott gewährte moralische Eigenkompetenz des Menschen ein.366 Die regelhafte Integration des Augustinus in diese Diskursformationen, die in unterschiedlicher Weise den grundsätzlich positiven Charakter der wechselseitigen Gott-Mensch-Beziehung aussagen, unterbindet die Nennung des Namens im ‚Frankfurter‘.367 Denn aufgrund seiner Abwertung der menschlichen Natur zur natura vitiata, die sowohl die Verlagerung der Gottebenbildlichkeit in eine Außendimension als auch die Ablehnung jeglichen Verdienststrebens begründet, bietet er dem ‚mystischen‘ Augustinus ebenso wenig Raum wie dem ‚frömmigkeitstheologischen‘ Augustinus. Erst die Wiederentdeckung des antipelagianischen Augustinus in der Wittenberger Theologie des frühen sechzehnten Jahrhunderts ermöglicht es, den ‚Frankfurter‘ prononciert mit dem Namen des Kirchenvaters in Verbindung zu bringen, wie es Martin Luther 1518 in der Vorrede zur ersten vollständigen Druckausgabe des Traktats tut.368
363 Siehe oben, Kap. 1.2.2, S. 19–28. 364 Siehe oben, Kap. 2.2.1, S. 101–107. 365 Siehe oben, Kap. 2.2.2. 366 Siehe oben, Kap. 2.2.1, S. 107 mit Anm. 143. 367 Zwar erwähnen auch nicht alle Texte des konkreten Korpus den Namen des Augustinus. Insofern sie aber in den ‚mystischen Normaldiskurs‘ eingebunden sind, wäre eine solche Hinzufügung ohne Weiteres möglich. Nicht verschwiegen sei, dass Augustinus auch innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ vereinzelt für eine negative Bestimmung des Menschen einstehen kann. Das ist etwa bei Johannes Tauler der Fall, der sich in seinen Predigten verstärkt von Meister Eckharts augustinischer Spiritualität abwendet – ohne diese aufzugeben – und stattdessen die sündige Seite des Menschseins fokussiert. Vgl. Kap. 2.3.1, S. 205. 368 Siehe oben, Kap. 2.1, S. 81.
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Das sechzehnte Kapitel des ‚Frankfurter‘ führt bereits in seinem Titel die Opposition von homo vetus und homo novus ein und signalisiert damit seinen direkten Anschluss an die vorhergehenden Ausführungen.369 Dementsprechend wird das Gegensatzpaar im einleitenden Paragraphen sofort auf die Adam-Christus-Antinomie hin ausgelegt und mit der Gehorsamsthematik verbunden: Auch sal man mercken, wan man spricht von eynem menschen, das do ist alt, vnde von eynem nuwen menschen. Sich, der alt ist Adam vnd vngehorsam vnd selbheit vnd icheit vnd des gleich. Aber der nuwe mensch ist Cristus vnd gehorsam. Wanne man auch spricht von sterben vnd von vorterbenn vnd des gleich, so meynet man, das der alde mensch *solde czu nicht werde, vnnd wan vnd wo das geschiet yn eynem waren, gotlichen lichte, ßo wirt der nuwe mensch wider geborn.370
Das eigentlich Interessante an diesem Textabschnitt, dem die oben zitierte Passage mit den Bibelversen zur Gottebenbildlichkeit unmittelbar folgt,371 ist die Einführung eines neuen Motivs, das uns bereits bei der Diskussion der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ begegnet ist: Es handelt sich um die Metapher der Geburt, die im weiteren Verlauf des sechzehnten Kapitels mehrfach wieder aufgegriffen wird. Besonders präsent ist sie zu Beginn jenes Textabschnitts, der an die Passage mit der imago-Thematik anschließt: Sich, wo der ald mensch stirbet vnd der nuwe geborn wirt, do geschiet die ander geburt. Da von Cristus sprach: ‚Ir werdet dann *anderwert geborn, so kumpt yr yn das reich gotis nicht‘. Auch spricht sanctus Paulus: ‚Als alle menschen yn Adam ersterben, also werden sie yn Cristo alle wider lebendigk‘. Das spricht also vil: alle, die Adam noch volgen yn dem vngehorsam, die seyn tod vnd werden nymmer lebendig den yn *Cristo. Das ist dar vmmb, wanne alle die wiel das der mensche Adam ist ader seyn kint, so ist er an got. Cristus spricht: ‚Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich‘. Wer nu wider got ist, der ist tod vor got. Hie nach volget, das alle Adams kint tod synt vor got. Aber wer mit Cristo yn dem gehorsam ist, der ist mit got vnd lebet.372
Der einzige Hinweis des ‚Frankfurter‘ auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist somit in einen Kontext eingebettet, der die Bekleidungsmetaphorik anscheinend durch ein gegenläufiges Motiv modifiziert und ergänzt, insofern gerade die Geburtsmetaphorik innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ die Intimität und Innerlichkeit des Gott-Mensch-Verhältnisses zum Ausdruck bringt. Mit anderen Worten: Die unauflösliche Verbindung der imago-Lehre mit der Vorstellung des 369 370 371 372
Frankfurter, S. 90: Was do sey der alde mensche vnnd auch was do sey der newe mensche. Kap. 16, S. 90, Z. 1–7 [Hervorhebung L. W.]. Siehe S. 156. Kap. 16, S. 91, Z. 16–25.
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Gebärens, wie sie für die mystische Prosa des vierzehnten Jahrhunderts selbstverständlich ist,373 bleibt auch im ‚Frankfurter‘ erhalten. Das diskursive Koordinatensystem hat sich hier jedoch deutlich verschoben, da gerade jene Aspekte augustinischer Spiritualität fehlen, die dieser Synthese ihr typisches, auf Meister Eckhart zurückgehendes Profil verleihen: die Lehre von der Gottesgeburt im Seelengrund und die damit einhergehende Vorstellung von der Sohnwerdung des Menschen durch Aufnahme in die trinitarische Dynamik. Stattdessen werden Gottebenbildlichkeit und Geburtsmetaphorik in das Netz der oben genannten, von paulinischer Terminologie geprägten Antonyme (homo vetus – homo novus, Adam – Christus, Ungehorsam – Gehorsam) eingespannt. Dass sich das Motiv des Gebärens auf den jeweils positiven Aspekt dieser Gegensatzpaare bezieht, wird in aller Deutlichkeit nochmals im 45. Kapitel formuliert, wiederum in Verbindung mit einem Paulus-Zitat, welches diesmal nicht die Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Inhalt hat, sondern die Notwendigkeit einer Verinnerlichung des Christuslebens unterstreichen soll: Vnd wo Cristus leben ist ader were, do wurde gesprochen, als sant Paul spricht: ‚Ich lebe, aber ich nicht, sunder Cristus lebet yn mir‘. Vnd das ist das edelste vnd beste leben, wan wo das leben ist, do ist vnd lebet got selber vnd alles gut. Wie mocht eyn besser leben geseyn? Wan man spricht von gehorsam, von eynem nuwen menschen vnd von dem waren lichte vnd von der waren libe vnd von Cristus leben, das ist alles eins. Vnd wo yr eyns ist, do synt sie alle. Vnd wo yr eyns gebricht ader nicht ist, da ist yr keynes, wan eß alles eyns ist vnd werlich vnd weßenlich. Vnd wo mit man das vbirkommen mchte, das eß geborn wurde vnd lebendigk wurde yn eynem menschen, dem *solde man an hafften vnd anderß nicht. Vnde was eß erret, das sal man lassen vnd flihen.374
Auch wenn die imago-Lehre hier nicht explizit angesprochen wird, ist sie durch ihre Verflechtung mit den genannten Motiven dennoch präsent. Daher vermag gerade diese Passage durch ihren Fokus auf das Christusleben zu verdeutlichen, in welcher Weise Bekleidungs- und Geburtsmetaphorik im ‚Frankfurter‘ aufeinander bezogen sind: Wie bereits erläutert,375 verlagert der Traktat die in der mystischen Literatur omnipräsente Adelsterminologie vom intimum animae auf die vita Christi, welche der natura vitiata zutiefst widerstrebt und ihr deshalb etwas rein Äußerliches ist. Die vom ‚Frankfurter‘ geforderte Einübung in das Christusleben bedeutet jedoch einen Prozess der Verinnerlichung, der notwendigerweise mit der Überwindung der menschlichen Natur, d. h. mit der Abtötung des homo diabolicus, einhergehen muss. 373 Zur Verbindung von Bildlehre und Geburtsmetaphorik bei Meister Eckhart siehe Wilde: Das neue Bild, S. 136–143. 374 Kap. 45, S. 139, Z. 8–18 [Hervorhebungen L. W.]. 375 Siehe Kap. 2.2.2.3.
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Dieser Prozess einer Aneignung der vita Christi wird im ‚Frankfurter‘ durch die Bekleidungs- und Geburtsmetaphorik ausgedrückt: Indem sich der Mensch entgegen seiner natürlichen Neigung in das ihm fremde Leben Christi einübt, legt er das Kleid der Gottebenbildlichkeit an und erfährt dadurch eine innere Umformung, die seine Wiedergeburt als homo novus, d. h. als vergotteter Mensch, bewirkt.376
2.2.3.4 Einbindung und Abgrenzung der Bildlehre des ‚Frankfurter‘ Auch wenn sich das diskursive Koordinatensystem, in das der ‚Frankfurter‘ die Aussagen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen einspannt, im Vergleich zu den eckhartisch inspirierten imago-Lehren der ‚deutschen Mystik‘ deutlich verschoben hat, kann von einer völligen thematischen Neuorientierung nicht die Rede sein. So ist die Gegenüberstellung von homo vetus und homo novus bzw. von Adam und Christus im ‚mystischen Diskurs‘ keineswegs außergewöhnlich.377 Auch die paulinischen Verse aus dem Epheserbrief und damit die Bekleidungsmetaphorik finden durchaus Beachtung.378 Dass der ‚Frankfurter‘ dennoch einen Sonderweg einschlägt, zeigt sich besonders deutlich im Vergleich zu Meister Eckhart, und zwar zunächst an einem scheinbar unbedeutenden Detail: Wie bereits gesehen, beschränkt sich unser Traktat bei seiner Wiedergabe der Paulus-Verse auf Eph 4, 22 und Eph 4, 24:
376 Die Aporie, dass der ‚Frankfurter‘ die Einübung in das Christusleben zur Grundvoraussetzung der Bildwerdung des Menschen erklärt, zugleich aber die menschliche Natur in einen unaufhebbaren Gegensatz zur vita Christi setzt, lässt sich nicht endgültig auflösen. Siehe aber die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3. 377 Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), Buch I, S. 103, Z. 527–531: „Vnd got wurt ſin gewaltig nach allem ſinem willen, vnd des menſchen wille wurt mit gottes willen ſo ein, daz er nút anders kan gewellen noch begern. Dis hat vs getan den alten menſchen vnd het an getan den núwen, der vernuwet iſt vnd gemaht nach dem willen gottes“; Seuse: Briefbüchlein (hg. Bihlmeyer), S. 365, Z. 30–31: „Und mit betrahtunge sines herzen so begrb er den alten menschen, als ob er nie wurdi […]“; Tauler: Pr. V 60c, S. 295, Z. 28–30: „Solt du denne von im getwet und gekochet werden, so mst du an dir selber verwerden und des alten menschen entwerden.“ Vgl. auch Merswin: Von einem eigenwilligen Weltweisen (hg. Strauch), S. 53, Z. 2–6. 378 Siehe etwa Merswin: Die sieben Werke des Erbarmens (hg. Strauch), S. 89, Z. 17–21. Siehe auch Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 2, S. 18, Z. 193–197: „Nu will ich ch von dem dritten ſtuk ſagen, wie wir ns ernwern ſllend in diſem nwen jar. Vnd dez manet ns ſanctus Paulus vnd ſprichet: ‚Renouamini ſpiritu etc. Ir ſllend ernwert werden in dem gaiſt wers gemtes vnd ſond ch klaiden mit ainem nwen menſchen, der nach got geſchaffen iſt in gerehtikait vnd hailkait der warhait.‘“
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„Leget abe den alden menschen mit seynen wercken379 vnd czihet an eyn nuwen menschen, der nach got geschaffen vnd gebildet ist.“380 Erst das Hinzuziehen eckhartischer Texte offenbart, dass das an und für sich unauffällige Fehlen von Eph 4, 23 – „Renovamini autem spiritu mentis vestrae“ – dem spezifischen Profil des ‚Frankfurter‘ geschuldet ist. Denn gerade dieser Vers dient dem thüringischen Dominikaner dazu, zwischen der biblisch-paulinischen und seiner eigenen Auslegung der Gottebenbildlichkeit eine innere Verbindung herzustellen, wie Predigt Q 83 zeigt.381 Eckhart schreibt dort: „‚Ir svnt ernúwet werden an vwerme geiste, der do mens heiset‘, das ist ein gemte. Also spricht sanctus paulus.“ Mit der mens bzw. dem ‚Gemüt‘ aber ist jenes Innerste des Menschen bezeichnet, das ihn von Natur aus zur imago Dei adelt. Wenn Eckhart die Verssequenz Eph 4, 22 bis 4, 24 komplett auslegt, so geschieht dies ebenfalls innerhalb dieses Kontextes. Das Ablegen des ‚alten‘ und Bekleiden mit dem ‚neuen Menschen‘ bedeutet bei dem Meister also nicht wie im ‚Frankfurter‘ die Aneignung des Christuslebens, sondern die Hinwendung zum Seelengrund als Ort der Einswerdung von Gott und Mensch.382 Eckharts Exegese
379 Es sei darauf hingewiesen, dass die Aufforderung, den alten Menschen „mit seinen Werken“ abzulegen, eine Interpretation des ‚Frankfurter‘ darstellt, die seiner Ablehnung jeglichen Verdienstdenkens als Ungehorsam gegenüber Gott entspricht. 380 Siehe oben, Kap. 2.2.3.3, S. 156–157. 381 Wie aus dem Verzeichnis der Bibelstellen zu DW I, DW II, DW III und DW V ersichtlich ist, meidet Eckhart in seinen deutschen Predigten die Verwendung von Eph 4, 22 und 4, 24. Auf Eph 4, 23 greift er nur in der genannten Predigt zurück, und zwar insgesamt dreimal (DW III, S. 437, Z. 2– 3 [Zitat]; S. 439, Z. 1; S. 444, Z. 1). 382 Dementsprechend wird das ‚Ankleiden des neuen Menschen‘ auch als Rückkehr des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung ausgelegt. Vgl. In Sap., LW II, n. 166, S. 500, Z. 10–S. 501, Z. 3: „Et Augustinus invenit se longe esse a deo. Quid enim tam longe quam esse et nihil, simile et dissimile? E converso vero: quo quis plus intensive, maxime affectione et dilectione, ad deum redit et recurrit, tanto plus renovatur et innovatur. Et hinc est quod apostolus nos hortatur, Eph. 4: ‚renovamini spiritu mentis vestrae et induite novum hominem, qui secundum deum creatus est‘. Praemittit autem: deponentes ‚veterem hominem, qui corrumpitur secundum desideria erroris‘.“ Siehe dazu auch die Erläuterung von ‚neu‘ und ‚alt‘ als Ursprungsnähe und Ursprungsferne im Sapientiakommentar (LW II, n. 161, S. 496, Z. 12–S. 497, Z. 9). Dass Eckhart die Bekleidungsmetaphorik auf die Innerlichkeit des Menschen hin auslegt, wird besonders deutlich in Sermo LII, LW IV, n. 523, S. 437, Z. 7–12. In dieselbe Richtung weist der eckhartisch geprägte Traktat Von abegescheidenheit, der das ‚Anlegen Christi‘ mit dem abnegare personale identifiziert, welches in jedem Einzelnen die mit der Natur Christi univoke menschliche Natur freilegt. Siehe DW V, S. 430, Z. 2–11: „Nû stât daz lûter abegescheiden herze ledic aller crêatûren. Dâ von ist ez alzemâle geworfen under got, und dâ von stât ez in der obersten einförmicheit mit gote und ist ouch aller enpfenclîchest des götlîchen învluzzes. Daz meinet sant Paulus, dô er sprach: ‚leget an iuch Jêsum Kristum’, und meinet: mit einförmicheit mit Kristô, und daz anelegen enmac niht beschehen dan mit einförmicheit mit Kristô. Und wizze: dô Kristus mensche wart, dô ennam er niht an sich einen menschen, er nam an
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der paulinischen Verse weist somit in dieselbe Richtung wie seine Verwendung der Adelsterminologie: Sie bringt den ontologischen Gottesbezug des Menschen und damit die ihm immer schon verliehene Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck, nicht die Notwendigkeit der imitatio Christi als einzig adäquates Mittel der Bildwerdung. Wie aus Eckharts Lesepredigt Von dem edeln menschen hervorgeht, legt der thüringische Dominikaner seiner Lehre gemäß auch die Opposition von homo vetus und homo novus anders aus als der ‚Frankfurter‘: Sie entspricht nicht dem unversöhnlichen Gegenüber von Adam und Christus, sondern bringt die Antinomie von homo exterior und homo interior zum Ausdruck.383 Ausgerechnet dem ‚inneren Menschen‘ aber, den er mit der imago Dei identifiziert, gibt Eckhart den Namen ‚Adam‘. Das paulinische Gegensatzpaar ist somit in die positive Anthropologie Eckharts hineingenommen: Während der homo vetus die widernatürliche und deshalb leicht ‚umzukehrende‘ Strebenstendenz des Menschen zu den Kreaturen bezeichnet,384 steht der homo novus für die in der Gottesgeburt im Seelengrund gegebene Vollendung der menschlichen Natur und damit für den ‚eigentlichen‘ Menschen. Dass Eckhart den ‚neuen Menschen‘ in der Vernunft verwirklicht sieht,385 entspricht dominikanischer Tradition, offenbart aber einmal mehr seine Distanz zum ‚Frankfurter‘.
sich menschlîche natûre. Dâ von sô ganc ûz aller dinge, sô blîbet aleine, daz Kristus an sich nam, und alsô hâst dû Kristum an dich geleget.“ Da der ‚Frankfurter‘ die menschliche Natur diabolisiert, ist eine solche Interpretation der Bekleidungsmetaphorik hier ausgeschlossen. Auch Eckharts Auslegung von Gal 2, 20 (in der Übersetzung des ‚Frankfurter‘:„‚Ich lebe, aber ich nicht, sunder Cristus lebet yn mir‘“ [siehe oben, Kap. 2.2.3.3, S. 162]) bezieht sich nicht auf die Verinnerlichung des Christuslebens als etwas dem Menschen zunächst Äußerliches, sondern auf die Verwirklichung der Christusförmigkeit des Menschen im Seelengrund. Siehe DW IV/1, Pr. S 93, S. 130, Z. 51–52 (zitiert oben, Kap. 2.2.2.1, S. 113); LW IV, Sermo XI/2, n. 117, S. 111, Z. 1–5; ebd., Sermo XXII, n. 213, S. 198, Z. 13–S. 199, Z. 2. 383 Zum inneren Menschen als homo novus siehe das Zitat in Kap. 2.2.2.1, Anm. 173. Zum äußeren Menschen als homo vetus siehe VeM (DW V), S. 109, Z. 12–17. Siehe auch In Gen. II, LW I/ 1, n. 168, S. 638, Z. 8–9: „Hi duo filii sunt homo interior et homo exterior, homo caelestis et homo terrenus, homo novus et homo vetus“; vgl. ferner Sermo VII, LW IV, n. 78, S. 75, Z. 10–13: „Ista ergo quattuor sibi respondent: homo interior, homo novus, homo caelestis, mundus intelligibilis. Rursus quattuor opposita sibi correspondent: homo exterior, ‹homo vetus, homo terrenus,› mundus sensibilis.“ 384 Siehe Kap. 2.2.2.1, S. 114. 385 Vgl. In Ex., LW II, n. 224, S. 186, Z. 14–S. 187, Z. 8: „Ista duo in nobis, scilicet sensitivum et rationale, sunt homo vetus, exterior et terrenus, qui corrumpitur, temporalis enim est […]. Rationale vero sive ratio est homo novus, interior, caelestis, qui non corrumpitur, sed ‚renovatur de die in diem‘, Cor. 4; et ideo necessario iste homo aeternus est et supra solem est, divinus est, thesaurus ‚in vasis fictilibus‘ est, Cor. 4.“ Thomas von Aquin legt die Verse Eph 4, 23 und Eph 4, 24 ebenfalls auf die im Geist (mens) des Menschen verankerte Gottebenbildlichkeit hin aus. Vgl. S. th. I, q. 93, a. 6, sed contra.
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Die Exegese von Eph 4, 22–24 in Eckharts Theologie steht vollkommen in Einklang mit jenen Aspekten augustinischer Spiritualität, die den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts über weite Strecken formen.386 So kann das Ablegen des ‚alten‘ und Bekleiden mit dem ‚neuen Menschen‘ in der nacheckhartischen Mystik explizit auf die Gottesgeburt im Seelengrund – den Höhepunkt der Intimität von Gott und Mensch – bezogen werden. Als Beispiel sei hier eine entsprechende Passage aus dem ‚Buch geistlicher Armut‘ angeführt: Und da von ſprichet ſanctus Paulus und heiſſet uns ‚uʒ ʒiehen den alten menſchen‘, und heiſſet uns ‚an tn den nuwen menſchen, der nach gotte geſchaffen iſt in heilikeit und in gerehtekeit und in warheit‘. Und danne ſo wurt der alte menſche uʒ geʒogen und der nuwe wurt an getan, ſo got der vatter ſinen ſun gebirt in der ſelen; wan mit der geburt ſo widerbringet er alles daʒ vervallen waʒ, und alſo kummet ein ieglich ding ʒ ſinem erſten adel. Und alſo wurt der menſche nach got geſchaffen in heilikeit und in gerehtekeit und in warheit, und ſo heiſſet er danne ein nuwer menſche.387
Auch wenn der ‚Frankfurter‘ die Gottesgeburt im Seelengrund und damit den dynamischen Identitätsbezug von Gott und Mensch aus seiner Bildlehre ausklammert, ist die terminologische Verwandtschaft der gerade zitierten Passage zur Auslegung von Eph 4, 22 und 4, 24 in unserem Traktat doch unverkennbar. Überhaupt lässt sich die Opposition von Meister Eckharts imago-Lehre und derjenigen des ‚Frankfurter‘ nur eingeschränkt auf die intertextuellen Bezüge zwischen Prosaschriften der nacheckhartischen Mystik und dem ‚Frankfurter‘ übertragen. Vielmehr gilt auch hier, was bereits in Hinblick auf die Verwendung der Adelsterminologie Erwähnung fand:388 Die mystische Predigt- und Traktatliteratur des vierzehnten Jahrhunderts übernimmt das Erbe Meister Eckharts ungeachtet seiner Ausstrahlungskraft nicht ohne Einschränkungen und Brüche. Dies gilt auch für die Konzeption der Bildlehre. Zwar wird das Faszinosum einer der menschlichen Natur ‚eingepflanzten‘ imago Dei, die Gott und Mensch in ein Unmittelbarkeitsverhältnis setzt, anders als im ‚Frankfurter‘ nicht preisgegeben, aber durch zunehmende Zweifel an der natürlichen Ausrichtung des Menschen auf sein Endziel hin doch deutlich modifiziert. Damit ist einem anthropologischen Pessimismus die Tür geöffnet, der sich zumindest implizit gegen die zu Beginn dieses Kapitels skizzierten akademischen Bildlehren wendet: Denn zunehmend gewinnt die Überzeugung Kraft, dass der Mensch keineswegs von Natur aus, sondern nur im ständigen Kampf gegen seine natürliche Orientierung seine Be-
386 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.2. 387 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 168, Z. 31–S. 169, Z. 1 [Hervorhebung L. W.]. 388 Siehe Kap. 2.2.2.3.
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stimmung als imago Dei verwirklichen könne. Wenn der ‚Frankfurter‘ die Auslegung der Gottebenbildlichkeit als einer naturhaften Gottesgegenwart im Sinne der augustinischen Spiritualität des ‚mystischen Diskurses‘ verweigert und stattdessen auf dem diabolischen Charakter der natura humana insistiert, stellt dies nur die letzte Konsequenz eines Transformationsprozesses dar, der in zahlreichen Texten der nacheckhartischen Mystik – u. a. den Tauler-Predigten, den SeuseSchriften und der ‚Gottesfreundliteratur‘ – zutage tritt.389 Dass sich bereits in anderen Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ jene Neuformierung des diskursiven Koordinatensystems ankündigt, die für die imago-Lehre des ‚Frankfurter‘ kennzeichnend ist, sei anhand von drei Beispielen dargelegt: 1. Im weiter oben bereits zitierten ‚Buch geistlicher Armut‘ – einer Schrift, die zwischen Eckhart-Rezeption und Eckhart-Kritik laviert und als eine Art Kompendium aller im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts akuten Diskussionen gelesen werden kann – wird die Adam-Christus-Antinomie in derselben Weise ausgelegt wie im ‚Frankfurter‘. Anders als in Eckharts Entwurf steht Adam hier nicht für den vollendeten, sondern für den gefallenen Menschen: Wan alles daʒ, daʒ an dem menſchen iſt, daʒ iſt verirret von adams valle: die ſinne ſint verirret, die krefte der ſelen ſint ouch verirret, und keins iſt dem andern gehorſam. Und ſol daʒ wider gerihtet werden, alſo daʒ eins dem andern gehorſam werde als ſie warent do adam ſtunt in ſiner erſten unſchulde, daʒ ms alles geſchehen in criſto, wan als adam ein ſache waʒ des valles und des todes, alſo iſt criſtus ein ſache des lebens und der urſtende. Und daʒ ſelbe ſprichet ſanctus Paulus: ‚als in adam alle ding ſturbent, alſo ſint in criſto alle ding wider lebendig worden‘.390 Und waʒ an dem menſchen iſt, ſol daʒ gelútert werden, daʒ ms geſchehen in criſto; und ein iegliches ms tn daʒ es vermag und ms sich dar ʒ keren, daʒ es enpfenglich werde.391
Trotz der Gemeinsamkeit mit dem ‚Frankfurter‘ beinhaltet die Passage doch einen entscheidenden Unterschied, den die markierte Textstelle offenbart: Die Notwendigkeit einer Überwindung des Adam wird hier explizit mit der Forderung des facere quod in se est verbunden, also mit der Anerkennung der menschlichen Leistungsfähigkeit vor Gott.392
389 Siehe dazu unten, Kap. 2.3.1. 390 Dasselbe Paulus-Zitat findet sich im ‚Frankfurter‘ zu Beginn von Kapitel 15. Siehe oben, Kap. 2.2.3.3, S. 158. Es handelt sich um 1 Kor 15, 22. Da der ‚Frankfurter‘ die Stelle anders als das ‚Buch geistlicher Armut‘ nicht namentlich kennzeichnet, ist sie in der kritischen Edition Wolfgang von Hintens nicht identifiziert. Hier beschränken sich die Quellennachweise generell auf Zitate, die explizit als solche gekennzeichnet und überdies einer bestimmten Autorität zugewiesen sind. 391 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 123, Z. 26–38 [Hervorhebung L. W.]. 392 Siehe dazu auch oben, Kap. 2.2.3.3, S. 159–160 sowie Kap. 2.3.4.
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2. Der Traktat ‚Von den drei Fragen‘ legt die paulinische Bekleidungsmetaphorik im Rückgriff auf Eph 4, 24 unmittelbar auf die imitatio Christi hin aus: Hie von sprach sanctus Paulus: Brder ist dz ir lebent nach dem fleisch so sterbent ir an dem geist; ttent ir aber mit dem geist dú werk des fleischs, so werdent ir lebent. Und ch dz der mentsch sich bilde nach dem lieplichen bilde Cristi. Hie von sprach sanctus Paulus: Ziehent ab den alten mentschen und klaident úch mit únserm herren Jhesu Christo.393
Der Anspruch, die Menschheit Christi als exemplaris imago des eigenen Lebensvollzugs zu begreifen und von diesem äußeren Impuls ausgehend eine Umformung des Inneren zu erreichen, ist charakteristisch für jene Linie der volkssprachlichen Eckhart-Rezeption des vierzehnten Jahrhunderts, die eine völlige Verinnerlichung des Göttlichen, wie sie der Meister propagiert, ablehnt. Insofern ist der ‚Frankfurter‘ mit seiner Forderung der Einübung in das Christusleben, um sich mit dem Bild Gottes zu bekleiden, in eine Kontinuitätsstruktur eingebunden, die er zugleich jedoch durchbricht: Denn während der Traktat ‚Von den drei Fragen‘ – aber etwa auch die Predigten Taulers oder die Heinrich Seuse zugeschriebene Vita – ein Aufstiegsmodell propagieren, das von der ‚bildhaften‘ Christus-Nachfolge des anfangenden Menschen zu dessen Vollendung im eckhartischen Sinne führt,394 konzipiert der ‚Frankfurter‘ die Bildwerdung des Menschen als Aneignung eines seiner widergöttlichen Strebenstendenz entgegengesetzten Vorbilds,395 dem keine bereits in der natura humana verankerte imago Dei entspricht. Insofern haftet der Gottebenbildlichkeit des Menschen im ‚Frankfurter‘ stets jenes Moment der Fremdheit an, das sich wie ein roter Faden durch den Traktat zieht.396 3. Eine intensive Auseinandersetzung mit der richtigen Form der ChristusNachfolge findet auch im ‚Buch der Wahrheit‘ statt, wobei eine rein äußerliche imitatio ebenso abgelehnt wird wie eine als ‚freigeistig‘ diskreditierte Versenkung in die kontemplative Vernunft.397 Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass dieser dialogische Traktat zwar die Möglichkeit einer unio von Gott und Mensch anerkennt, eine Vollendung der Gottebenbildlichkeit im eckhartischen Sinne jedoch ausdrücklich ablehnt.398 Deshalb meidet das ‚Buch der Wahrheit‘
393 Von den drei Fragen (hg. Denifle), S. 138, Z. 5–11 [eigene Zeilenzählung]. 394 Siehe dazu unten, Kap. 2.3.2.4, S. 235–236. 395 Dazu auch oben, Kap. 2.2.2.3, S. 142. 396 Dazu auch oben, Kap. 1.2.3, S. 51 und S. 59 sowie Kap. 2.2.2.2. 397 Siehe dazu die Auslegung der Kreuzesvision des Jüngers in Kap. 6 (BdW [hg. Sturlese/ Blumrich], S. 28, Z. 21–S. 30, Z. 72). Für nähere Erläuterungen vgl. Kap. 2.3.5.4, S. 291 mit Anm. 852–854. 398 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.3.2, S. 150 mit Anm. 328.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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die Rede von der Gottesgeburt im Seelengrund und verwendet stattdessen den Terminus der ‚Wiedergeburt‘,399 die als moralische Erneuerung des Menschen im Sinne einer Habitualisierung des Christuslebens zu verstehen ist,400 jedoch nicht als formales Hervorfließen des Seelengrundes aus dem göttlichen Grund.401 Die Geburtsmetaphorik des ‚Frankfurter‘ zielt – wie oben dargelegt – in eine ähnliche Richtung, zumal auch er von der ander geburt spricht, in welcher der Mensch in Christus lebendig werde.402 Allerdings gilt die Gemeinsamkeit wiederum nur eingeschränkt: Denn anders als der ‚Frankfurter‘ ist das ‚Buch der Wahrheit‘ von der Fähigkeit des Menschen überzeugt, sich mittels seiner natürlichen Seelenkräfte auf Gott hin zu orientieren.403 Jeder Gedanke an eine Diabolisierung der natura hominis bleibt ihm fremd.
2.2.3.5 Der ‚Frankfurter‘ und Augustinus: Abwehr einer ‚doppelten Anthropologie‘ Eine weitaus größere Bereitschaft, gegenüber der menschlichen Natur eine genuin feindselige Haltung einzunehmen, offenbart sich indessen in manchen Werken jenes spätantiken Gelehrten, dessen theologischer Entwurf mit dem anthropologischen Pessimismus des ‚Frankfurter‘ ungeachtet der historischen, sprachlichen und kulturellen Distanz erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweist: Es handelt sich
399 Explizit unterscheidet das ‚Buch der Wahrheit‘ zwischen der ‚Ewigen Geburt‘ und der ‚Wiedergeburt‘. Während Erstere die alles Seiende in sich vereinende Kraft Gottes bezeichnet, ist Letztere das Spezifikum des Menschen, der in der bewussten Hinwendung zu seinem Ursprung alle Kreaturen wieder in Gott zurückführt. Siehe dazu BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 48, Z. 335–343. Diese Ausrichtung des Menschen auf Gott ist nur in der Christusnachfolge möglich. Siehe auch die folgende Anmerkung. 400 Der Mensch ist dazu aufgefordert, krisstmessig zu werden (BdW, Kap. 7, S. 62, Z. 97), indem er sich konsequent in die Kreuzesnachfolge begibt. Das geduldige Ertragen von äußerem wie innerem Leid ist dasjenige, was das ‚Buch der Wahrheit‘ unter wahrer ‚Gelassenheit‘ versteht: „Daz krúze betútet, daz ein warer gelazsener mensche nach dem ussern und inren menschen alle zit sol stan in sin selbs ufergebenlichi in alles daz, daz got wil von im gelitten han.“ Siehe BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 28, Z. 35–38. Diese Angleichung an die vita Christi wird mit dem Terminus ‚Wiedergeburt‘ belegt (vgl. ebd., Kap. 7, S. 62, Z. 101–103). Diese kann die Differenz von Gott und Mensch jedoch nicht aufheben. Siehe ebd., Kap. 7, S. 62, Z. 103–105; S. 64, Z. 134–138. 401 Vielmehr besteht das ‚Buch der Wahrheit‘ darauf, dass die Seele des Menschen durch und durch geschaffen ist: „Dú sele blibet iemer kreature […].“ Ebd., Kap. 6, S. 42, Z. 237. 402 Siehe oben, Kap. 2.2.3.3, S. 161. 403 Die Würde der menschlichen Natur resultiert im ‚Buch der Wahrheit‘ – in Anlehnung an Thomas von Aquin – daraus, dass Christus in der Inkarnation diese Natur angenommen hat. Anders als in der Lehre Eckharts (und wiederum in Einklang mit Thomas) ist die Menschennatur Christi jedoch nicht mit der allgemeinen Menschennatur identisch.
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um Augustinus, freilich nicht um den Augustinus, der in der mystischen Prosa des vierzehnten Jahrhunderts für die intime Nähe von Gott und Mensch einsteht. Gemeint ist vielmehr jener Augustinus, der die durch die Erbsünde verursachte, allein durch die unverdient geschenkte göttliche Gnade zu überwindende Entfremdung von Gott und Mensch seinen Gegnern gegenüber in größtmöglicher Schroffheit formuliert, also der Augustinus der antipelagianischen Schriften.404 Im Kontext dieser mit zunehmender Erbitterung und Unversöhnlichkeit geführten literarischen Kontroverse405 findet auch die vom ‚Frankfurter‘ verwendete Bibelsequenz Eph 4, 22–24 Verwendung, so etwa in De peccatorum meritis et remissione: item alibi: ‚sicut est ueritas in Iesu, deponere uos secundum priorem conuersationem ueterem hominem, eum qui corrumpitur secundum concupiscentias deceptionis; renouamini autem spiritu mentis uestrae et induite nouum hominem, eum qui secundum deum creatus est in iustitia et sanctitate ueritatis‘.406
Dass Augustinus anders als der ‚Frankfurter‘ auch Eph 4, 23 – „Renovamini autem spiritu mentis vestrae“ – zitiert, scheint zunächst allerdings gegen eine diskursive Nähe zu unserem Traktat zu sprechen. Denn wie oben gezeigt,407 legt Meister Eckhart ja gerade diesen Bibelvers auf das abditum mentis hin aus, nimmt ihn also als biblisches Zeugnis für die naturhaft gegebene Gottebenbildlichkeit des Menschen im Sinne seiner eigenen Lehre in Anspruch.
404 Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass sich der ‚echte‘ Augustinus – also der historische Bischof von Hippo – weder in den antipelagianischen Schriften noch in anderen als authentisch geltenden Schriften noch in den verschiedenen Dokumenten der Augustinus-Rezeption greifen lässt. Der Name ist jeweils nur Chiffre für bestimmte diskursive Konstellationen, die sich mit ihm verbinden. 405 Zunächst äußert sich Augustinus noch respektvoll über Pelagius, so etwa zu Beginn von De natura et gratia. Nach der Entscheidung der palästinischen Synode zu Diospolis (415 n. Chr.) zugunsten des Pelagius beginnt er jedoch die Auffassung zu verbreiten, dass Pelagius seine Richter durch gezielt zweideutige Worte arglistig getäuscht habe. Vgl. Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 12–13; Löhr: Der Streit, S. 185. Zum Verhältnis zwischen Augustinus und Pelagius siehe ferner Löhr: Der Streit, S. 190–192. Zudem erwächst Augustinus in Julian von Aeclanum ein ebenso hartnäckiger wie ihm intellektuell ebenbürtiger Gegner, der den Bischof zu einer äußersten Pointierung seiner Positionen treibt. Zum Verlauf des Pelagianischen Streits siehe auch Kap. 2.3.2.1, Anm. 548. 406 pecc. mer. I, 27, 46 (CSEL 60, S. 45, Z. 19–24). Siehe ferner ebd., II, 7, 9 (CSEL 60, S. 80, Z. 24– S. 81, Z. 4): „intrinsecus enim exuimus ueterem hominem et induimus nouum, quoniam ibi deponimus mendacium et loquimur ueritatem, et cetera, quibus apostolus explicat quid sit exui ueterem hominem et indui nouo, ‚qui secundum deum creatus est in iustitia et sanctitate ueritatis‘.“ Hier verzichtet Augustinus gleich dem ‚Frankfurter‘ auf eine Paraphrase oder Zitation von Eph 4, 23. 407 Siehe oben, Kap. 2.2.3.4, S. 164.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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Und tatsächlich hat diese Exegese des dominikanischen Gelehrten eine Grundlage im Œuvre des Kirchenvaters, auch wenn Eckhart den augustinischen Horizont ohne Zweifel überschreitet.408 In seiner wirkmächtigen Schrift De trinitate legt Augustinus gemäß seiner Überzeugung, dass die imago Dei im Geist des Menschen verankert sei,409 die Bibelsequenz Eph 4, 22–24 wie der thüringische Prediger in genau dieser Richtung aus.410 Von einer Übereinstimmung mit dem ‚Frankfurter‘ kann also zumindest in der Trinitätsschrift nicht die Rede sein. Doch wie sieht es mit der Auslegung der Bibelstelle in einer antipelagianisch ausgerichteten Schrift wie De peccatorum meritis et remissione aus, die sich anders als De trinitate nicht der Nobilität der menschlichen Seele widmet, sondern gegen die inimici gratiae zu Felde zieht, um deren anthropologischen Optimismus zu durchbrechen? Hier ist das diskursive Umfeld der Verse in der Tat ein völlig anderes, insofern der Kirchenvater auf jegliche Erläuterung zur geistigen Gottebenbildlichkeit des Menschen verzichtet und die Schriftworte stattdessen in eine Serie von Paulus-Zitaten integriert, welche die Gewalt des Teufels über den Menschen, dessen Unvermögen, seinem Verderben zu entrinnen und seine absolute Abhängigkeit von der im Glauben an Christi Kreuzestod vermittelten göttlichen Gnade belegen sollen.411 Zur Ausarbeitung und Vertiefung dieser negativen Anthropologie nutzt Augustinus in De peccatorum meritis et remissione ebenso wie in anderen antipelagianischen Schriften dieselben paulinischen Motive, in die der ‚Frankfurter‘ seine Zitation von Eph 4, 22 und Eph 4, 24 einbettet: die mit der Gegenüberstellung von homo vetus und homo novus verbundene Adam-Christus-Antinomie,412 die Opposition von Ungehor-
408 Ein Seelengrund im eckhartischen Sinne ist Augustinus unbekannt. Ihn interessiert allein die trinitarische Struktur der Seele. Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.2.3.6. 409 Vgl. oben, Kap. 2.2.3.1, S. 146. 410 trin. XIV, 16, 22 (LLT-A): „dicit etiam alibi: renouamini spiritu mentis uestrae et induite nouum hominem qui secundum deum creatus est in iustitia et sanctitate ueritatis. quod ait, secundum deum creatum, hoc alio loco dicitur, ad imaginem dei“; ebd. (LLT-A): „sed ideo dicitur secundum deum ne secundum aliam creaturam fieri putetur; ideo autem secundum imaginem dei ut in ea re intellegatur fieri haec renouatio ubi est imago dei, id est in mente […].“ 411 Vgl. pecc. mer. I, 27, 46–47 (CSEL 60, S. 44, Z. 18–S. 46, Z. 15). In pecc. mer. II, 7, 9 (s. o., Anm. 406) sind die Verse Eph 4, 22 und 4, 24 in eine Erläuterung zum moralischen Stand des Menschen nach der Taufe integriert: Augustinus negiert, dass diese die Sünde so zu vernichten vermag, dass der Mensch fortan zu einem vollkommenen Leben in der Lage ist, wenn er dies will. Vielmehr bleibt die Bekleidung mit dem neuen Menschen eine lebenslange Aufgabe – die allerdings nur mit dem kontinuierlichen Beistand Gottes zu bewältigen ist. 412 Siehe z. B. pecc. mer. I, 8, 8 (CSEL 60, S. 9, Z. 23–S. 10, Z. 1): „quid est ergo quod hic ait ad Corinthios: ‚per hominem mors et per hominem resurrectio mortuorum; sicut enim in Adam omnes moriuntur, sic et in Christo omnes uiuificabuntur‘, nisi quod ait etiam ad Romanos: ‚per unum hominem peccatum intrauit in mundum et per peccatum mors‘?“; c. ep. Pel. IV, 4, 8 (CSEL 60,
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
sam und Gehorsam413 und die Geburtsmetaphorik mit ihrem zentralen Begriff der Wiedergeburt.414 Das spezifische philosophisch-theologische Profil des ‚Frankfurter‘, das ihn dem ‚mystischen Diskurs‘ entfremdet, trägt somit augustinisch-antipelagianische Züge. Diese Öffnung des Traktats auf die Anthropologie des Kirchenvaters hin impliziert jedoch zugleich deren Überschreitung: Denn ungeachtet dessen, dass Augustinus in den antipelagianischen Schriften grundsätzlich die Gottferne des gefallenen Menschen in den Vordergrund stellt, hält er dennoch an dessen geistiger Gottebenbildlichkeit als einem unverlierbaren Besitz fest. Gnadendoktrin und imago Dei-Lehre schließen einander also keineswegs aus. Dementsprechend hat Augustinus Elemente seiner Gnadenlehre auch in De trinitate aufgenommen.415
S. 529, Z. 15–18): „sicut enim fuit unus ad mortem propter peccatum, sic est unus ad uitam propter iustitiam, quia, ‚sicut in Adam omnes moriuntur, sic in Christo omes uiuificabuntur‘ […]“; c. Iul. I, 5, 15 (PL 44, Sp. 649): „Itemque idem ipse: ‚Sicut in Adam omnes‘, inquit, ‚mortui sumus, ita et in Christo omnes uiuificemur […]‘.“ 413 c. Iul. IV, 1, 1 (PL 44, Sp. 737): „quod malum [i. e. concupiscentia carnis] non ex alia substantia quam deus non condidit, sicut Manichæus insanit, nobis esse permixtum; sed per inobedientiam unius hominis exortum atque traductum, et per obedientiam unius hominis expiandum atque sanandum; cujus obligatione implicat debita pœna nascentem, solvit indebita gratia renascentem.“ 414 Augustinus spricht sowohl von regenerari als auch von renasci. Siehe etwa pecc. mer. I, 16, 21 (CSEL 60, S. 21, Z. 12–18): „ex hac igitur inoboedientia carnis, ex hac lege peccati et mortis quisquis carnaliter generatur regenerari spiritaliter opus habet, ut non solum ad regnum dei perducatur, uerum etiam a peccati damnatione liberetur. simul itaque peccato et morti primi hominis obnoxii nascuntur in carne et simul iustitiae uitaeque aeternae secundi hominis sociati renascuntur in baptismo […]“; c. Iul. II, 10, 33 (PL 44, Sp. 696–697): „Qui ergo generatur in Adam, regenerandus in Christo, mortuus in Adam, vivificandus in Christo, ideo peccato est obstrictus originis, quia de malo nascitur, quo caro concupiscit adversus spiritum; non de bono, quo spiritus concupiscit adversus carnem (Gal 5, 17).“ Die im ‚Frankfurter‘ verwendete Formulierung von der ‚anderen Geburt‘ kennt Augustinus ebenfalls; siehe pecc. mer. II, 9, 11 (CSEL 60, S. 83, Z. 1–6): „unde quisquis filius de hac parte nascitur uetusta et infirma, necesse est ut etiam ipse uetustus sit et infirmus; idcirco oportet ut etiam ipse in aliam generationem per remissionem peccati spiritu renouetur. quod si in eo non fit, nihil ei proderit pater iustus; spiritu enim iustus est, quo eum non genuit.“ Ähnlich auch ebd., I, 20, 26 (CSEL 60, S. 25, Z. 14–15): „Terrentur autem isti sententia domini dicentis: ‚nisi quis natus fuerit denuo, non uidebit regnum dei‘.“ 415 Vgl. etwa trin. XIV, 15, 21 (LLT-A). Aus biographischer Perspektive ist dies allerdings nicht verwunderlich, da De trinitate in einem Zeitraum (399–419 n. Chr.) entsteht, in dem der Pelagianische Streit bereits mit voller Kraft entbrannt ist und Augustinus wichtige antipelagianische Schriften (z. B. De peccatorum meritis et remissione, De spiritu et littera, De natura et gratia) verfasst. Zudem hatte der Kirchenvater bereits mehrere Jahre, bevor er die Trinitätsschrift in Angriff nahm, seine Anthropologie aufgrund einer Relektüre der Paulus-Schriften – insbesondere des Römerbriefes – vollkommen neu ausgerichtet. Ein erstes Zeugnis der Gnadenlehre, die dem Menschen keinerlei Heilskompetenz aus eigenen Kräften mehr zugesteht, legt die Schrift Ad Simplicianum (um 397 n. Chr.) ab. Siehe auch oben, Kap. 2.2.2.1, Anm. 165.
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Das bedeutet: Der Kirchenvater verficht eine Art doppelter Anthropologie, die er je nach diskursivem Zusammenhang jeweils unterschiedlich gewichten kann. Einerseits kommt dem Menschen – wie in De trinitate hervorgehoben – die geistige Gottebenbildlichkeit als unveräußerliche Naturausstattung zu, andererseits hat er sich – wie die antipelagianischen Schriften mit unterschiedlicher Intensität betonen – durch die Erbsünde so weit von Gott entfernt, dass ihm jegliche eigenständige Annäherung an seinen Schöpfer versagt bleibt. Diese Zweifachbestimmung des Menschen ist bei der Analyse der augustinischen Schriften stets in Erinnerung zu behalten, auch wenn sie sich hinter einer einseitig polemischen Ausrichtung verbirgt. Dies gilt auch für die Auslegung von Eph 4, 22–24 in De peccatorum meritis et remissione, die als Kontrast zu Augustinus’ positiver Exegese in De trinitate angelegt ist. Der ‚Frankfurter‘ dagegen kappt alle Ansatzpunkte für die Etablierung eines positiven Gott-Mensch-Verhältnisses, das auf der dem Menschen innewohnenden imago Dei basiert. Symptomatisch dafür ist die Streichung von Eph 4, 23.416 Indem der ‚Frankfurter‘ auf die doppelte Anthropologie des Augustinus verzichtet, entgeht er dem Dilemma, die naturhaft gegebene Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dessen ererbter Auflehnung gegen seinen Schöpfer vermitteln zu müssen.417 Zugleich überschreitet er jedoch die Grenze zur Heterodoxie, da ihm keine Möglichkeit mehr bleibt, die Natur des Menschen in irgendeiner Weise positiv zu bestimmen.
2.2.3.6 Der ‚Frankfurter‘ und Augustinus: Abwehr einer ‚doppelten Bildlehre‘ Dass die Grundüberzeugung des Augustinus von der geistigen Gottebenbildlichkeit des Menschen auch in den antipelagianischen Schriften wirksam bleibt, tritt besonders deutlich in De spiritu et littera hervor. Nachdem der Kirchenvater die Unfähigkeit des Menschen, von sich aus das göttliche Gesetz zu erfüllen, auf der Basis von 2 Kor 3, 6 – „littera occidit, spiritus autem vivificat“ – in aller Ausführlichkeit dargestellt hat, sieht er sich zu einer Auseinandersetzung mit Röm 2, 14– 15 gezwungen, wo Paulus von der natürlichen Gesetzeserfüllung durch die Heiden spricht. Augustinus laviert zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, die jedoch darin übereinkommen, dass der Mensch von Natur aus imago Dei ist: Entweder spreche Paulus von bereits zum christlichen Glauben bekehrten Heiden, in denen das natürliche Gottesbild durch die Gnade vollkommen wieder416 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben, Kap. 2.2.3.4. 417 Auch in dieser Hinsicht offenbart sich im Übrigen die Distanz des ‚Frankfurter‘ zu Meister Eckhart, vereinseitigt dieser die augustinische Anthropologie doch in genau entgegengesetzter Richtung, indem er alles Gewicht auf die geistige Gottebenbildlichkeit legt.
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hergestellt ist,418 oder es handele sich um wirkliche Heiden, die jedoch partiell das Gesetz zu erfüllen vermögen, da die imago Dei auch nach dem Sündenfall in jedem Menschen in Umrissen erhalten geblieben ist.419 Augustinus besteht also darauf, dass selbst dem Verworfenen die Gottebenbildlichkeit – und sei es auch nur rudimentär – als unveräußerlicher Besitz zukommt. In ihr drückt sich die nicht zerstörbare, jeglichem Laster entgegengesetzte Gutheit der menschlichen Natur aus, so dass der Sünder stets widernatürlich handelt420 – wir haben dieselbe Auffassung bereits bei Meister Eckhart kennengelernt.421 Allerdings lässt Augustinus in De spiritu et littera keinen Zweifel daran, dass die fragmentarische Gottebenbildlichkeit zur Seligkeit nichts beiträgt.422 So klingt hier jene Besonderheit der augustinischen imago-Lehre an, die in De trinitate spekulativ ausgearbeitet wird: die der ‚doppelten Anthropologie‘ entsprechende Doktrin von der zweifachen Gottebenbildlichkeit des Menschen. In einem grundlegenden Sinn – so führt Augustinus in seiner Trinitätsschrift aus – ist der Mensch in der Dreiheit von interior memoria, interior intelligentia und interior voluntas Bild Gottes.423 Diese inneren Vermögen, die den stetigen kognitiv-voluntativen Selbstbezug des Geistes zum Ausdruck bringen, sind unverlierbar.424 Jeder Mensch – mag es sich auch um einen Narren, einen Heiden oder einen Sünder handeln – ist Bild Gottes, weil er sich seiner selbst erinnert, sich selbst einsieht und sich selbst liebt.425 Anders verhält es sich mit den äußeren Vermögen des Menschen, also mit memoria, intelligentia und voluntas im herkömmlichen Verständnis. Auch in ihnen drückt sich die Gottebenbildlichkeit aus, allerdings nicht in dem Sinne,
418 Vgl. spir. et litt. XXVI, 46 (CSEL 60, S. 200, Z. 5–S. 201, Z. 9) und XXVII, 47 (ebd., S. 201, Z. 10–S. 202, Z. 3). 419 Vgl. spir. et litt. XXVII, 48 (CSEL 60, S. 202, Z. 4–11) und XXVIII, 48 (ebd., S. 202, Z. 12– S. 203, Z. 24). Diese ‚Umrisshaftigkeit‘ ist indessen nicht so zu verstehen, als ob die Gottebenbildlichkeit der inneren Seelenkräfte – um diese handelt es sich hier – als solche defizitär wäre. Der entscheidende Mangel besteht vielmehr darin, dass sich der gefallene Mensch nicht intentional auf diese ihm von Natur aus zu eigene imago Dei ausrichten kann. Siehe dazu auch die folgenden Ausführungen. 420 spir. et litt. XXVII, 47 (CSEL 60, S. 201, Z. 13–17): „uitium quippe contra naturam est, quod utique sanat gratia […]. proinde naturaliter homines quae legis sunt faciunt; qui enim hoc non faciunt, uitio suo non faciunt.“ 421 Siehe oben, Kap. 2.2.2.1, S. 111–112. 422 Das einzige Zugeständnis, das Augustinus den nach dem Gesetz handelnden Heiden macht, ist eine Erleichterung der Höllenstrafen. Vgl. spir. et litt. XXVIII, 48 (CSEL 60, S. 203, Z. 12–16). 423 Vgl. Brachtendorf: Der menschliche Geist, S. 163. Siehe auch oben, Kap. 2.2.3.1, S. 146 mit Anm. 311. 424 trin. XIV, 14, 18 (LLT-A): „sic itaque condita est mens humana ut numquam sui non meminerit, numquam se non intellegat, numquam se non diligat.“ 425 Vgl. Brachtendorf: Die Struktur, S. 215, 236.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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dass der Mensch in ihnen Bild Gottes ist, sondern dass er durch sie Bild Gottes wird. Die imago Dei als jedem Menschen zu eigenes ontologisches Faktum erhält hier also eine zusätzliche praktisch-ethische Dimension, die für Augustinus von entscheidender Bedeutung ist: Denn erst wenn sich der Mensch bewusst seinem Innersten zuwendet, also die äußere Dreiheit auf die innere Dreiheit ausrichtet, kann er sich als Bild Gottes erkennen und lieben, was zugleich bedeutet, dass er im Rahmen des in diesem Leben Möglichen Gott erkennt und liebt.426 Diese Abwendung vom Äußeren zugunsten der Selbst- und Gotteserkenntnis bezeichnet Augustinus als Wiedergeburt und Erneuerung des Bildes.427 Ihm entsprechend formuliert Meister Eckhart Jahrhunderte später: „Daz merket! Swenne der mensche entblœzet und entdecket daz götlîche bilde, daz got in im natiurlich geschaffen hât, sô wirt gotes bilde in im offenbære.“428 Anders als der thüringische Dominikaner betont Augustinus in De trinitate jedoch – und hier findet sich die leicht zu übersehende Schnittstelle mit den antipelagianischen Schriften –, dass die Erneuerung des Menschen nur gelingt, wenn ihm göttliche Hilfe zuteil wird.429 Die Entscheidung, sich von der Sünde abund Gott zuzuwenden, um Bild Gottes zu werden, obliegt also nicht dem Menschen.430 Zur Stützung dieser Position zieht Augustinus dieselben einschlägigen Bibelstellen heran, die aus seinem Kampf gegen die ‚Feinde der Gnade‘ hinlänglich bekannt sind.431
426 Vgl. ebd., S. 225, 230, 239, 242, 243. Selbst- und Gotteserkenntnis fallen bei Augustinus also zusammen. Siehe dazu auch Horn: Selbstbezüglichkeit, bes. S. 87–88. 427 Vgl. Brachtendorf: Die Struktur, S. 238–239. 428 Pr. Q 40, DW II, S. 275, Z. 4–S. 276, Z. 1. 429 trin. XIV, 15, 21 (LLT-A): „et quid eam fecisset miseram sub omnipotente et bono domino nisi peccatum suum et iustitia domini sui? et quid eam faciet beatam nisi meritum suum et praemium domini sui? sed et meritum eius gratia est illius cuius praemium erit beatitudo eius. iustitiam quippe sibi dare non potest quam perditam non habet. hanc enim cum homo conderetur accepit et peccando utique perdidit. accipit ergo iustitiam propter quam beatitudinem accipere mereatur. unde ueraciter ei dicitur ab apostolo quasi de suo bono superbire incipienti: quid enim habes quod non accepisti? si autem accepisti, quid gloriaris quasi non acceperis?“; ebd., XIV, 17, 23 (LLT-A): „in agnitione igitur dei iustitia que et sanctitate ueritatis qui de die in diem proficiendo renouatur transfert amorem a temporalibus ad aeterna, a uisibilibus ad intellegibilia, a carnalibus ad spiritalia, atque ab istis cupiditatem frenare atque minuere illis que se caritate alligare diligenter insistit. tantum autem facit quantum diuinitus adiuuatur. dei quippe sententia est: sine me nihil potestis facere.“ 430 In unmittelbarem Zusammenhang mit Eph 4, 22–24 spricht Augustinus dem menschlichen Geist jede Fähigkeit zur Selbsterneuerung ab: „non enim reformare se ipsam potest sicut potuit deformare.“ Siehe trin. XIV, 16, 22 (LLT-A). 431 Zu nennen sind vor allem 1 Kor 4, 7: „[…] quis autem habes quod non accepisti si autem accepisti quid gloriaris quasi non acceperis“ sowie Ioh 15, 5: „[…] sine me nihil potestis facere.“
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Vor diesem Hintergrund lässt sich die vom ‚Frankfurter‘ vorgenommene Reduktion der ‚doppelten Anthropologie‘ des Augustinus auf deren negative Perspektive in Hinblick auf die Bildlehre noch genauer fassen: Während der Traktat die ontologische Bestimmung der Gottebenbildlichkeit eliminiert, bleibt der praktisch-ethische Anspruch – die Aufforderung an den Menschen, sich mit dem Bild Gottes zu bekleiden – bestehen. Diese Fokussierung auf die Bekleidungsmetaphorik tritt durch den Verzicht auf den Bibelvers Eph 4, 23 – den sowohl Augustinus als auch Meister Eckhart auf die geistige Gottebenbildlichkeit hin auslegen – umso deutlicher hervor. Durch diese Elimination signalisiert der ‚Frankfurter‘, dass er die Gottebenbildlichkeit als etwas ausschließlich von außen an den Menschen Herantretendes ohne ontologische Verankerung in der natura hominis begreift. Dass der Traktat keine dem Menschen naturhaft zu eigene imago Dei anerkennt, ist aufgrund seiner Diabolisierung der menschlichen Natur allerdings nur konsequent. Augustinus dagegen sucht den konstanten Manichäismus-Vorwurf des Julian von Aeclanum432 dadurch abzuwehren, dass er auf der intrinsischen Gutheit der menschlichen Natur beharrt.433 Das freilich hindert ihn nicht daran, deren Verdorbenheit durch die Erbsünde und die damit verbundene Teufelsverfallenheit des Menschen in einer Weise zu betonen, dass die Grenze zwischen einer substanziellen Schlechtigkeit der Natur – wie sie der ‚Frankfurter‘ postuliert – und einer akzidentiellen Minderung ihrer ursprünglichen Gutheit des Öfteren verschwimmt.434 Das Lavieren des späten Augustinus zwischen Ver-
Beide Bibelstellen finden auch im ‚Frankfurter‘ Verwendung, wenn auch nur in der erweiternden Redaktion der Frankfurter Handschrift C. Siehe dazu Kap. 2.3.2.2, Anm. 573. 432 Sowohl in Contra Iulianum als auch in Contra duas epistulas Pelagianorum setzt sich Augustinus massiv gegen die Diffamierung als Manichäer zur Wehr. Dass sich für Iulianus gerade dieser Vorwurf anbot, um die christliche Gesinnung und die Glaubwürdigkeit seines Gegners infrage zu stellen, erklärt sich aus Augustinus’ Biographie, hatte er doch seit 373 n. Chr. jahrelang selbst den Manichäern als auditor angehört, um sie nach seiner Abkehr – vor allem im Zeitraum zwischen seiner Taufe (387 n. Chr.) und der Jahrhundertwende – energisch zu bekämpfen (vgl. Wurst: Augustin als ‚Manichäer‘ und ders.: Augustins Auseinandersetzung). Als reine Polemik Julians lässt sich der Manichäismus-Vorwurf allerdings nicht abtun. Tatsächlich nähert sich Augustinus der von ihm selbst verworfenen Lehre wieder an, sobald er seinen anthropologischen Pessimismus in größtmöglicher Einseitigkeit und Schärfe formuliert. 433 nat. et gr. LIV, 63 (CSEL 60, S. 280, Z. 18–20): „sed quod contraria est caro spiritui, ut non ea quae uolumus faciamus, uitium est, non natura“; ebd., LXVI, 79 (CSEL 60, S. 293, Z. 11–13): „quod autem ex uitiis naturae, non ex conditione naturae sit quaedam peccandi necessitas, audiat homo […]“; c. ep. Pel. II, 4, 8 (CSEL 60, S. 468, Z. 18–19): „malam quippe hominum esse naturam non dicit catholica fides […].“ 434 Durch die in Adam vollzogene freiwillige Abkehr von Gott ist die Natur des Menschen nach Augustinus derartig vergiftet, dass die Menschheit insgesamt nur noch als massa perditionis
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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unglimpfung und Wertschätzung der natura humana spiegelt sich in seiner ‚doppelten Anthropologie‘ und der diese reflektierenden ‚doppelten Bildlehre‘ wider. Der ‚Frankfurter‘ legt sich demgegenüber auf eine eindeutige Position fest, überschreitet damit aber die Grenze zum ‚Manichäismus‘.435 Die orthodoxiesprengende Vereinseitigung der augustinischen Bildlehre durch den ‚Frankfurter‘ hat entscheidende Konsequenzen für das Selbstverhältnis des Menschen. Denn die Lehre des Kirchenvaters von der ‚doppelten imago‘ ist durch Selbstbezüglichkeit als ihren Grundcharakter gekennzeichnet: Zum einen ist der Geist des Menschen unmittelbar auf sich selbst bezogen, da er sich stets seiner selbst erinnert, sich selbst einsieht und sich selbst liebt – gerade darin besteht ja die ontologische Dimension der imago Dei436 –; zum anderen ist der Mensch dazu aufgefordert, sich intentional seinem Innersten zuzuwenden, um sich selbst als Bild und darin Gott zu erkennen – dies entspricht der ethischpraktischen Dimension der Bildwerdung.437 Eine derartig positive Bestimmung des menschlichen Selbstverhältnisses bleibt dem ‚Frankfurter‘ verschlossen: Da er die imago Dei als Naturausstattung des Menschen durch eine konsequente Verketzerung der natura hominis ersetzt, bedeutet jede bewusste Hinwendung des Menschen zu sich selbst notwendiger-
(siehe c. Iul. III, 4, 10 [PL 44, Sp. 707]) bzw. als massa damnata (ebd., VI, 1, 2 [PL 44, Sp. 821]) angesprochen werden kann, aus der es für niemanden ein Entrinnen gibt, es sei denn durch einen göttlichen Gnadenakt. Insbesondere in seinen Attacken gegen Julian betont Augustinus in aller Schärfe die Teufelsverfallenheit eines jeden Menschen. Vgl. ebd., III, 5, 12 (PL 44, Sp. 708): „Nos certe causam cur sub diabolo sit qui nascitur, donec renascatur in Christo, peccati ex origine dicimus esse contagium“; ebd., VI, 2, 3 (PL 44, Sp. 822–823): „sed mundi princeps est diabolus, et mundus in maligno positus est, omnes utique homines qui rei sunt damnationis æternæ, si non inde liberentur, ut non jam pertineant ad principem peccatorum, redempti eo sanguine qui in remissionem fusus est peccatorum.“ Vgl. auch nupt. et conc. I, 23, 26 (CSEL 42, S. 238, Z. 18–21): „non enim propter se ipsam, quae laudabilis est, quia opus dei est, sed propter damnabile uitium, quo uitiata est, natura humana damnatur. et propter quod damnatur, propter hoc et damnabile diabolo subiugatur […].“ 435 Hier und im Folgenden wird der Begriff ‚Manichäismus‘ zur Bezeichnung des Dualismus von Menschennatur und Gott verwendet. Dies schließt auch die unüberbrückbare Zweiteilung von ‚natürlichen‘ und ‚vergotteten‘ Menschen ein. Der Terminus bringt zudem die diskursive Nähe zum antipelagianischen Augustinus zum Ausdruck, dessen Dualismus von Verworfenen und Erwählten seine Gegner zu Manichäismus-Vorwürfen veranlasste. Siehe dazu oben, Anm. 432 sowie Kap. 2.3.1, S. 183–184. 436 Siehe Brachtendorf: Der menschliche Geist, bes. S. 163–166. Dieser Selbstbezug des Geistes hat also nichts mit einer sündhaften Fixierung auf das eigene Ich zu tun, sondern geht jeder moralischen Wertung des menschlichen Denkens und Handelns voraus. Siehe ebd., S. 166 sowie ders.: Die Struktur, S. 238. 437 Vgl. Brachtendorf: Die Struktur, S. 238–245.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
weise die Abkehr von Gott.438 Selbstbezüglichkeit ist deshalb zwar auch eine Grundkategorie im anthropologischen Entwurf des ‚Frankfurter‘, jedoch ausschließlich in negativer Hinsicht als teuflische und adamitische Ursünde:439 Was thet der teufel anders, ader was waß *seyn fal ader seyn abekeren anders, wan das er sich an name, er were auch etwas *vnd etwas were seyn vnd ym gehoret auch etwas czu. Diß annemen vnd seyne ich vnd sein mich vnd seyn mir vnd seyne myne, das was seyne abkeren vnd seyn fal. Also ist *er noch.440 Was thet Adam anderß dan das selb. Man spricht: Dar vmmb das Adam den appfel aß, were er vorlorn ader gefallen. Ich sprech: Eß was vmmb seyn annemen vnd vmmbe seyn ich, myne, mir, mich vnd vmmb des gleich. Hette er siben eppfel gesßen vnd were das annemen nicht geweßen, er were nicht gefallen. Aber do das annemen geschach, do was er gefallen, vnd hette er nye keyns appfels entpissen.441
Da die ontologische Dimension der Gottebenbildlichkeit als Legitimation für eine intentionale Selbstzuwendung des Menschen im ‚Frankfurter‘ fehlt, kann er den moralisch-ethischen Anspruch der Bildwerdung ausschließlich als Aneignung von etwas dem Menschen Äußerlichem – nämlich der vita Christi – konzipieren.442 Die Geburtsmetaphorik, bei Augustinus bildlicher Ausdruck für die Erneuerung der imago Dei durch Selbsterkenntnis, erhält so im ‚Frankfurter‘ einen völlig anderen Sinn: In ihr drückt sich nicht die Vollendung, sondern die Neuerstehung des Menschen als Bild Gottes aus. Wie lautet das Resümee der vorangegangenen Überlegungen? Mit seiner Ablehnung einer naturhaften Gottebenbildlichkeit des Menschen, welche dessen Distanz zu Gott reduzieren oder – wie in der Theologie Meister Eckharts – (fast) aufheben würde, entfernt sich der ‚Frankfurter‘ sowohl von den zeitgenössischen akademischen imago-Lehren als auch von deren vorrangig eckhartisch geprägter Rezeption in der volkssprachlichen Predigt- und Traktatliteratur der ‚deutschen Mystik‘. Ein völliges Verlassen des ‚mystischen Diskurses‘ ist damit aufgrund der im vierzehnten Jahrhundert zu beobachtenden Verschiebung vom anthropologi-
438 Wenn Brachtendorf in Bezug auf Augustinus die Frage stellt: „Muß die mens gar aufhören, sich selbst zu lieben und statt dessen Gott lieben, um Bild Gottes werden zu können?“ (Der menschliche Geist, S. 156), so ist dies zu verneinen (siehe ebd., S. 166). Hinsichtlich des ‚Frankfurter‘ aber wäre dieselbe Frage zu bejahen. 439 Eine Differenzierung zwischen der superbia Lucifers und dem verbotenen Erkenntnisstreben Adams nimmt der ‚Frankfurter‘ entsprechend seiner Tendenz zur Identifikation von Adam und Teufel nicht vor. 440 Kap. 2, S. 73, Z. 8–12. 441 Kap. 3, S. 73, Z. 1–6. Zum Schlüsselbegriff des ‚Annehmens‘ siehe auch unten, Kap. 2.3.1, S. 193–195. 442 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.3.3, S. 162–163 sowie Kap. 2.2.2.3.
2.2 Augustinus im Kontext der ‚deutschen Mystik‘
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schen Optimismus eines Meister Eckhart zu einer zunehmend pessimistischen Beurteilung der Naturausstattung des Menschen jedoch nicht gegeben, wohl aber eine Radikalisierung bestimmter Aussagen. Durch diese Verschärfung entstehen korrelative Bezüge zwischen dem ‚Frankfurter‘ und der antipelagianischen Theologie des Augustinus, was hier anhand der Bildlehre des Traktats nachgewiesen wurde. Diese basiert auf jenen paulinischen Motiven, die auch in den gegen Pelagius und seine Anhänger gerichteten Werken des Kirchenvaters für eine negative Anthropologie in Dienst genommen werden.443 Wie gezeigt, scheut sich der ‚Frankfurter‘ allerdings nicht davor, den augustinischen Horizont – und damit zugleich den Rahmen christlicher Orthodoxie – zu überschreiten: Insbesondere gilt dies für seine Diabolisierung der menschlichen Natur, die eine Gottebenbildlichkeit nicht zulässt. Überhaupt ist stets zu beachten, dass es im ‚Frankfurter‘ keinerlei Belege für eine intentionale Bezugnahme auf den antipelagianischen Augustinus gibt. Die Anschlussstellen an dessen theologische Anthropologie entstehen allein durch die Partizipation des Traktats am ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts. Dementsprechend liefert der ‚Frankfurter‘ einen Diskussionsbeitrag zu den dort verhandelten Themen und Problemen, nicht zur Etablierung einer antipelagianischen Theologie, wie sie im akademischen Bereich zunächst von der schola Augustiniana moderna444 und dann im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts von Martin Luther und seinen Mitstreitern angestrebt wurde. In programmatischer Hinsicht wendet sich der ‚Frankfurter‘ daher auch nicht gegen die pelagiani moderni, sondern gegen jene ‚ungerechten, falschen, freien Geister‘, denen bereits im Prolog die ‚wahren Gottesfreunde‘ entgegengestellt werden. Doch auch hier zeigt sich ungeachtet aller Diskrepanzen ein korrelativer Bezug zum Feindbild der antipelagianischen Theologieentwürfe. Denn die vom ‚Frankfurter‘ ebenso wie von anderen mystischen Prosatexten bekämpften Häretiker entsprechen den inimici gratiae in einem wichtigen Punkt: Sie vertrauen auf die natürliche Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, die allerdings – an-
443 Dass die Paulusbriefe keineswegs zu einer solchen Auslegung anregen mussten, lässt sich u. a. anhand der ersten Pauluskommentare des Augustinus aufzeigen. Erst mit der Schrift Ad Simplicianum durchbricht der Kirchenvater die traditionell optimistische Lesart der Briefe – als Zeugnisse göttlicher Güte und menschlicher Entscheidungsfreiheit –, um sie fortan als Dokumente menschlicher Sündenverfallenheit und (aus menschlicher Perspektive) willkürlicher Gnadenzuteilung Gottes zu interpretieren. Siehe hierzu Greer: Sinned We All in Adam’s Fall? Vgl. auch Flasch: Logik des Schreckens, S. 9–15, 50–51, 52–61, 100–105 sowie ders.: Freiheit, S. 23. Nicht zuletzt bietet Pelagius selbst eine Paulusexegese, die jener des späten Augustinus diametral entgegengesetzt ist. Vgl. Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 15–19. 444 Siehe oben, Kap. 2.2.1, S. 97–99.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
ders als bei den Anhängern des Pelagius – keine asketische Leistungsbereitschaft einschließt, sondern sich im Aufstieg der Vernunft vollzieht.445 Für diesen verfehlten Geltungsanspruch des ‚natürlichen Lichts‘ wählt der ‚Frankfurter‘ das Signalwort des ‚Glorierens‘, das ebenso wie das in anderen Predigten und Traktaten als Synonym verwendete ‚Flogieren‘ fest im zeitgenössischen Häresiediskurs verankert ist: Vnd dem naturlichen *licht gehoret besundern czu, das eß gerne vil wisset vnd gerne wissen wolte, mocht eß seyn, vnd hat großen luste, frevde vnd glorieren yn syme wissen vnd bekennen. Vnd dar vmmb begeret eß alles mer vnnd meher czu wissen vnd kumpt dar ynne nymmer czu ruwe ader genuge. Vnde ßo eß mer vnd hoer bekennet, ßo eß mer lustes vnd glorierens hat. Vnd wen eß alßo hoch kumpt, das eß wenet, eß bekenne alle vnd vbir alle, ßo steet eß yn seynen hochsten lusten vnd glorieren.446
445 Siehe dazu auch Kap. 2.3.1, S. 200; Kap. 2.3.2.3, S. 225–226. Allerdings kritisiert der ‚Frankfurter‘ auch eine solche übersteigerte Askese. Diese schreibt er jedoch nicht den stets auf ihre äußere Bequemlichkeit bedachten ‚freien Geistern‘, sondern den ‚Lohnern‘ als Repräsentanten einer konventionellen Verdienstfrömmigkeit zu. Siehe Kap. 2.3.5.4. 446 Kap. 42, S. 132, Z. 20–26. Vgl. auch das Tauler-Zitat in Kap. 2.3.2.4, Anm. 660, das den Begriff des ‚Glorierens‘ unmittelbar mit den frijen geisten in Verbindung bringt. Zum Terminus ‚Flogieren‘ siehe z. B. das ‚Bannerbüchlein‘, das den „frigen valschen menschen“ vorwirft, dass sie „uf gont in iren richen sinnelichen flogierten vernunft […].“ Siehe ebd. (hg. Jundt), S. 393, Z. 11 und Z. 8–9 [eigene Zeilenzählung]. Die in den mystischen Prosaschriften oft geltend gemachte Notwendigkeit, zwischen ‚richtigem‘ und ‚falschem‘ Vernunftgebrauch zu unterscheiden (vgl. zum Beispiel in der Seuse-Vita [hg. Bihlmeyer] Kap. 47: Underscheid enzwischen ordenlicher und floierender vernúnftikeit [S. 158, Z. 19–20]), gehört zum populären Thema der ‚Unterscheidung der Geister‘ (discretio spirituum). Siehe dazu oben, Kap. 1.2.2, S. 20 mit Anm. 102. Siehe ferner den Kommentar zu Z. 167– 171 (S. 36) im ‚Geistbuch‘ (hg. Gottschall). Zum Zusammenhang von Häresiediskurs und falschem Vertrauen in die natürliche Vernunft bei Johannes Tauler vgl. auch Gabriel: Rückkehr, S. 496–502. Auffallenderweise geht die Kritik der volkssprachlichen Predigten und Traktate an den Selbstvergöttlichungsbestrebungen der natürlichen Vernunft konform mit jener Begrenzung des philosophischen und theologischen Spielraumes im vierzehnten Jahrhundert, der eine zunehmende Verpflichtung auf die Lehre des Thomas von Aquin bedeutet (siehe oben, Kap. 2.2.3.1, Anm. 319 und Kap. 2.2.3.2, S. 151–152). Thomas aber besteht auf einer strikten Trennung der natürlichen Vernunft von der wesenhaften Gotteserkenntnis und begründet dies mit der Angewiesenheit der Vernunft auf die Sinneswahrnehmung. Seiner Position widersprechen jene Intellektlehren der akademischen Wissenschaft, welche die Grenze zwischen Natur und Gnade für durchlässig erklären. Größte Bedeutung kommt hier Thomas’ Lehrer Albertus Magnus zu, der die VierIntellekt-Lehre des arabischen Gelehrten Avicenna zu einem Aufstiegsmodell umformt, demzufolge die menschliche Seele aus eigener Kraft einen Status der Gottähnlichkeit erlangen kann. Vgl. hierzu Hasse: Avicenna’s De Anima, bes. S. 196–200; ders.: Das Lehrstück, bes. S. 71–76; Müller: Der Einfluß, bes. S. 554–564; Sturlese: Die deutsche Philosophie, S. 378–388; ders.: Vernunft und Glück; Wieland: Zwischen Natur und Vernunft, bes. S. 15–18. Zum Kontrast von Thomas und Albert bzw. zwischen Thomisten und Albertisten siehe ferner Steel: Der Adler sowie Hoenen: Metaphysik.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Die korrelativen Übereinstimmungen des ‚Frankfurter‘ mit der augustinischen Theologie erweisen sich aufgrund seiner Einbindung in einen ganz anders formierten Diskurs allerdings als begrenzt. Da er nicht unmittelbar auf Augustinus oder den akademischen Augustinismus reagiert, sind in ihm entscheidende Aspekte der antipelagianischen Schriften kaum oder gar nicht präsent: Er entwickelt weder eine Gnaden- noch eine Prädestinationslehre; der zentrale Begriff der Erbsünde – in volkssprachlichen Schriften sonst durchaus gebräuchlich447 – ist ihm unbekannt; die Taufe als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das Seelenheil findet keinerlei Erwähnung; der Glaube bleibt ein Randaspekt … die Liste ließe sich fortsetzen. Dennoch ist – wie hier anhand der imago-Problematik aufgezeigt – festzuhalten, dass sowohl die Äußerungen des ‚Frankfurter‘ zum Status des Menschen vor Gott als auch seine Auslassungen zu diesem Thema zu einer Positionierung innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ führen, die bei vorhergehender Kenntnis der antipelagianischen Schriften und unter Ausblendung der Diskrepanzen als inhaltliche Übereinstimmung ausgelegt werden kann. Das aber bedeutet: Wenn um 1516 ein reformfreudiger Theologieprofessor in einer sächsischen Kleinstadt auf die Idee kommt, nach volkssprachlichen Dokumenten einer noch im Mittelalter lebendigen augustinisch-antipelagianischen Texttradition zu suchen,448 dann wird er schwerlich etwas Besseres finden als den ‚Frankfurter‘.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses: von Meister Eckhart zum ‚Frankfurter‘ Die folgenden Ausführungen werden anhand einer Reihe von Gesichtspunkten, die für die Bestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses sowohl in den augustinisch-antipelagianischen Schriften als auch in der mystischen Prosaliteratur relevant sind, aufzeigen, wie sich der ‚mystische Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts zunehmend von Meister Eckharts Anthropologie entfernt und auf den ‚Frankfurter‘ zubewegt. Die in diesem Traktat erreichte Nähe zu antipelagianisch ausgerichteten Theologieentwürfen impliziert jedoch – wie bereits das vorherige Kapitel gezeigt hat – zugleich deren Überschreitung, so dass sich im ‚Frankfurter‘ eine doppelte Transgression beobachten lässt: einmal in Richtung auf einen Antipelagianismus, der den ‚mystischen Normaldiskurs‘ hinter sich zurücklässt, und einmal in Richtung auf häretische Positionen, welche noch jenseits des
447 Siehe das Tauler-Zitat in Kap. 2.3.1, Anm. 452. 448 Siehe oben, Kap. 2.1.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Antipelagianismus zu verorten sind. Da diese zweifache Grenzübertretung in ein Geflecht konventioneller, im Rahmen der ‚deutschen Mystik‘ allgemein konsensfähiger Aussagen eingebunden bleibt, verlässt der ‚Frankfurter‘ dennoch nicht sein diskursives Umfeld. Vielmehr wird das innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ eigentlich Unsagbare – die bis zur Feindschaft gesteigerte Fremdheit von Gott und Mensch – gerade dadurch sagbar, dass es immer wieder eine Aufhebung durch gegenläufige Motive erfährt.
2.3.1 Von der natura elevata zur natura vitiata In seiner Einleitung zur neuhochdeutschen Übersetzung des ‚Frankfurter‘ äußert Alois Maria Haas sein Unbehagen über dessen Verwerfung des menschlichen Willens und die damit einhergehende Desavouierung der menschlichen Natur: „Bei solchen Voraussetzungen ist es klar, daß ein voller Naturbegriff keinen Platz hat. ‚Natur‘ heißt in diesem Kontext leider immer in Adam gefallene Natur, erbsündig verfaßte ‚falsche Natur‘.“449 Dem ist insoweit zuzustimmen, als der anthropologische Pessimismus des Traktats einen affirmativen Naturbegriff, wie er in besonders prononcierter Form der Lehre Meister Eckharts zugrunde liegt,450 nicht zulässt. Die Radikalität, mit der sich der ‚Frankfurter‘ jeglicher Positivbestimmung der natura hominis verweigert, legitimiert jedoch die Frage, ob hier zu Recht von einem reduzierten Naturbegriff gesprochen werden kann. Aus der Warte eines Christentums, welches die menschliche Natur stets in der Doppelperspektive als gefallene und erlöste betrachtet,451 ist eine solche Sichtweise zwar nahe liegend. Doch inwieweit werden damit die Dogmen christlicher Orthodoxie von außen an den ‚Frankfurter‘ herangetragen? Zweifellos handelt es sich hier um eine Vorgabe des philosophisch-theologischen Diskurses, die von den Texten des paradigmatischen Korpus mitgetragen wird. Angesichts der konsequenten Verwerfung der menschlichen Natur in unserem Traktat ist jedoch zu überprüfen, ob er sich diesem diskursiven Zwang tatsächlich unterwirft, also auf der syntagmatischen Ebene der orthodoxiekonformen Zwei-
449 ‚Der Franckforter‘. Theologia deutsch, S. 22. Auf den einseitig negativen Naturbegriff des ‚Frankfurter‘ weisen auch McGinn und Zecherle hin. Siehe McGinn: The Harvest, S. 398; Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 36–37. 450 Siehe oben, Kap. 2.2.2.1, S. 109–114. 451 Wobei auch die erlöste Natur aus zweifacher Perspektive zu sehen ist: einmal als erlöste Natur des homo viator, die ihrer Vollendung erst noch entgegenstrebt, was wiederum in der Verantwortung des Einzelnen liegt, und einmal als erlöste Natur des auferstandenen Menschen, der nach der Wiedervereinigung von Körper und Seele die ultima perfectio erlangt.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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fachbestimmung der natura humana Rechnung trägt. Nur wenn das der Fall ist, befindet sich der ‚Frankfurter‘ hinsichtlich seines Naturbegriffs im Normbereich des ‚mystischen Diskurses‘, der im vierzehnten Jahrhundert mit zunehmender Skepsis gegenüber der natürlichen Gottesbezogenheit des Menschen verstärkt die bleibende Macht des peccatum originale in den Blick nimmt.452 Angesichts der Thematik erscheint es angemessen, einen Zugang zu der Problemstellung über die Figur Adams zu suchen, die ohne Zweifel eine wichtige Rolle im ‚Frankfurter‘ spielt. Wie bereits gesehen, wird Adam hier grundsätzlich – und im Gegensatz zu Meister Eckhart – als Widerpart Christi ausgelegt.453 Dementsprechend widmet sich der Traktat gleich zu Beginn des dritten Kapitels dem Sturz Adams und erhebt die Adam-Christus-Antinomie zu einem seiner Leitmotive. Diese nachdrückliche Betonung der zerstörerischen Wirkung des Sündenfalls setzt den ‚Frankfurter‘ in ein Korrelationsverhältnis zur antipelagianischen Theologie des Augustinus.454 Jedoch verleiht der Traktat seiner Interpretation der Ursünde eine ganz eigene Akzentuierung. Denn indem er Adam als Repräsentant der menschlichen Natur mit Sünde und Teufel identifiziert,455 überschreitet er einmal mehr jene kritische Grenze, um deren Aufrechterhaltung Augustinus bei aller Härte seiner Position immer bemüht ist: Es handelt sich um die Grenze zum ‚Manichäismus‘.456 Auch wenn der Kirchenvater die zersetzende Macht des peccatum originale und die daraus resultierende Verderbnis der menschlichen Natur in aller Schärfe hervorhebt457 – so sehr, dass er Julian von Aeclanum eine breite Angriffsfläche
452 Johannes Tauler (Pr. V 23, S. 94, Z. 9–11) etwa erklärt die Neigung der natura humana, sich der Zuwendung Gottes zu entziehen, explizit mit dem Sündenfall Adams: „[…] wanne von der vergiftekeite wegen die in die nature gevallen ist von der erbesúnde, so ist die nature alles uf sich selber nidergekeret in allen dingen […].“ Zu Taulers Anthropologie siehe auch die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. Vgl. zur taulerischen Lehre von der ‚Vergiftung‘ des Menschen durch das peccatum originale ferner Gabriel: Rückkehr, S. 513–521. Die Korrumpierung der menschlichen Natur durch die Erbsünde heben auch Jan van Ruusbroec und sein Schüler Godeverd van Wefele hervor. Vgl. Khorkov: Unbekannter Eckhart, S. 594, 596. 453 Vgl. Kap. 2.2.2.1, S. 115–116 und Kap. 2.2.3.3. 454 Vgl. Kap. 2.2.3.5. 455 Vgl. Kap. 2.2.2.1, S. 116–117. 456 Vgl. Kap. 2.2.3.6, S. 176. Zum Manichäismus-Begriff siehe ebd., Anm. 435. Zu Augustinus’ Unterscheidung zwischen einer durch das Laster beschädigten guten Natur und einer von vornherein schlechten Natur vgl. beispielsweise c. Iul. III, 12, 24 (PL 44, Sp. 714): „[…] solemus et nos adversus Manichæos ista dicere, qui non vitiatam bonam dicunt esse naturam, sed sine initio et immutabiliter malam, quam secundum suas fabulas opinantur malam.“ Siehe auch die weiteren Darlegungen in diesem Kapitel. 457 So schon in De natura et gratia, einer Schrift, die sich programmatisch gegen Pelagius’ Lehre von der Unverdorbenheit der Natur wendet. Zu Pelagius’ Position, die sich an den Wertvorstel-
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
für dessen Manichäismus-Vorwürfe bietet458 –, so hält er doch stets daran fest, dass die Erbsünde die substanzielle Gutheit der Natur nicht zerstören kann, da sie selbst von akzidentieller Beschaffenheit ist.459 Die natura humana ist und bleibt ein bonum, insofern sie von Gott als dem Guten schlechthin geschaffen ist. Aus diesem Grund kann auch der antipelagianisch ausgerichtete Augustinus an der – vom ‚Frankfurter‘ abgewiesenen – ontologischen Gottebenbildlichkeit des Menschen als dessen unverlierbarem Besitz festhalten.460 Und aus diesem Grund kann er auch weiterhin die Überzeugung vertreten, dass das Laster wider die Natur sei, welche durch die göttliche Gnade keineswegs zerstört, sondern viel-
lungen einer für asketische Lebensmodelle aufgeschlossenen römischen Elite orientiert, siehe Löhr: Augustin. Exemplarisch für die Lehre des Pelagius ist neben der Schrift De natura, die sich nur aus Augustinus’ Reaktion rekonstruieren lässt, die berühmte Epistola ad virginem Demetriadem (PL 30, Sp. 16–46), in der Pelagius „die Geschichte vom Wunderwerk der Menschennatur“ erzählt (Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 22). Im Mittelalter genießt die Schrift als angebliches Werk des Hieronymus im Allgemeinen höchste Reputation; Gregor von Rimini als dezidiert antipelagianisch ausgerichteter Vertreter der schola Augustiniana moderna erkennt allerdings ihren wahren Verfasser und verwirft sie dementsprechend in seinem Sentenzenkommentar (In II Sent., dist. 26–28, q. 1, add. 46, a. 1 [hg. Trapp/Marcolino, S. 23, Z. 1–S. 24, Z. 3]). Dasselbe gilt für andere antipelagianisch ausgerichtete Theologen des vierzehnten Jahrhunderts. Dessen ungeachtet bleibt die falsche Autorenzuschreibung bis in die frühe Neuzeit hinein gültig. Noch 1519 bezieht sich Johannes Eck in der Leipziger Disputation auf den Demetriasbrief des Hieronymus und muss sich von seinem Kontrahenten Andreas Bodenstein gen. Karlstadt eines Besseren belehren lassen. Diesem allerdings ist die Kritik Gregors und seiner Zeitgenossen unbekannt; vielmehr verweist er auf die Angaben in Erasmus’ Hieronymus-Ausgabe aus dem Jahr 1516. Siehe hierzu Grane: Gregor von Rimini, bes. S. 42–44. Vgl. auch Oberman: Werden und Wertung, S. 87, 91; Schulze: ‚Via Gregorii‘, S. 35–36, 102–103. Besonders scharf tritt Augustinus’ Naturfeindschaft in den gegen Julian gerichteten Schriften hervor. Hier erklärt er die natura hominis zur Widersacherin des Seelenheils und zur Ursache allen Übels. Vgl. etwa c. Iul. III, 24, 56 (PL 44, Sp. 731): „Clamas, ‚Si natura per Deum est, non potest in ea esse originale malum.‘ quasi non alius religiosius sibi clamare videatur, Si natura per Deum est, non potest ex ea nasci ullum malum, aut non potest in ea esse ullum malum. Et tamen falsum est: quia nec oriri malum potest, nisi ex natura; nec ubi sit habet, si non fuerit in natura.“ 458 Siehe etwa Augustinus’ Rekapitulation von Julians Vorwürfen in seinem Opus imperfectum contra Iulianum III, 154 (LLT-A): „Inter te et manicheum itaque nulla de qualitate naturae, sed de solo est auctore dissensio; hoc enim malum tu deo reputas, quem paruulorum creatorem fateris, quod manicheus principi tenebrarum, quem naturae humanae conditorem putat. Ad instaurandum igitur foedus non grande uobis remansit obstaculum.“ Dass Augustinus’ Wiedergabe der gegnerischen Argumente stets mit Vorsicht zu genießen ist, sei hier nur bemerkt. Siehe zu diesem Problem etwa den Forschungsüberblick von Wermelinger: Neuere Forschungskontroversen. 459 Vgl. Strohm: Der Begriff, S. 191–192. 460 Siehe oben, Kap. 2.2.3.6, bes. S. 173–174.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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mehr wiederhergestellt werde.461 Terminologisch fasst Augustinus diese Differenz zur manichäischen Position so, dass die Natur zwar böse – mala –, jedoch kein Übel – malum – sei.462 Auch wenn ihr das Verderben innewohne und sie so zur natura vitiata degradiere, sei sie in sich selbst dennoch keine Verderbnis: „sicut non, quia uitium est, sed quia uitium habet, uitiosa est.“463 Der Grund für die corruptio der menschlichen Natur ist Augustinus zufolge der Sündenfall Adams als Akt willentlichen Ungehorsams gegen Gott. Anders als seine Nachkommen war der Urvater also mit einer Dispositionsnatur ausgestattet, die es ihm ermöglicht hätte, jene fatale Abkehr von seinem Schöpfer zu vermeiden.464 Diese Konstruktion der Erbsünde als Willensentscheid des ersten Menschen bedingt eine doppelte Perspektive auf Adam im Sinne eines ‚Davor‘ und ‚Danach‘ – und eröffnet damit zugleich die Möglichkeit einer positiven Sicht auf den Urzustand der menschlichen Natur, der auch im postlapsarischen Menschen noch umrisshaft erkennbar ist. Von einer solchen Zweifachbestimmung des Urvaters weiß der ‚Frankfurter‘ indessen nichts. Wenn hier Adam in den Blick tritt, dann stets als gefallener Mensch.465 Die Erörterung des Sündenfalls zu Beginn des dritten Kapitels466 verweigert deshalb dessen biblisch fundierter Interpretation als Verspeisen der verbotenen Frucht, d. h. als einmaligem Fehlentscheid Adams, die Zustimmung. Vielmehr bestehe das Vergehen des ersten Menschen in seiner Selbstbezogenheit, die im Kontext des ‚Frankfurter‘ als die Sünde schlechthin gilt. Deren teuflischen Charakter hat der Traktat bereits am Schluss des zweiten Kapitels hervorgehoben,467 um damit den Rahmen für eine adäquate Beurteilung des menschlichen Sündenfalls vorzugeben. An späterer Stelle präzisiert der ‚Frankfurter‘ seine
461 Vgl. etwa nat. et gr. LIII, 62 (CSEL 60, S. 279, Z. 10–15); spir. et litt. XXVII, 47 (CSEL 60, S. 201, Z. 11–15). Siehe auch Strohm: Der Begriff, S. 187. 462 Vgl. c. Iul. imp. III, 188 (LLT-A). Siehe dazu auch Strohm: Der Begriff, S. 192. 463 c. Iul. imp. III, 194 (LLT-A). Siehe dazu auch Strohm: Der Begriff, S. 189. 464 Vgl. nat. et gr. XLIII, 50 (CSEL 60, S. 270, Z. 13–19): „Verum est autem quod [Pelagius] ait, ‚quod deus tam bonus quam iustus talem hominem fecerit, qui peccati malo carere sufficeret, sed si uoluisset‘. quis enim eum nescit sanum et inculpabilem factum et libero arbitrio atque ad iuste uiuendum potestate libera constitutum? sed nunc de illo agitur, quem semiuiuum latrones in uia reliquerunt, qui grauibus saucius confossusque uulneribus non ita potest ad iustitiae culmen ascendere, sicut potuit inde descendere […].“ Vgl. auch ebd., III, 3 (CSEL 60, S. 235, Z. 8–15). Siehe zudem Flasch: Logik des Schreckens, S. 45. 465 Zur Diabolisierung Adams siehe Kap. 2.2.2.1, S. 115–117. Vgl. auch Frankfurter, Kap. 26, S. 109, Z. 76–77: „Sich, nu kumpt aber eyn Adam ader eyn tufel vnd wil sich behelffen *vnd entschuldigen vnd spricht: […].“ 466 Zitiert oben in Kap. 2.2.3.6, S. 178. 467 Zitiert ebd.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Deutung des lapsus Adae in Richtung auf seine Willenslehre. Kennzeichen des Teufels und Adams, d. h. der falschen Natur, sei es, den Willen an sich zu reißen, anstatt ihn Gott zu überlassen: „Vnd diß ist der schade vnd das vnrecht vnd ist der biß, do mit Adam den appfel beiß, vnd das ist vorboten, vnd das ist wider got.“468 Diese sündhafte Fixierung auf das eigene Ich erscheint im Kontext des ‚Frankfurter‘ anders als bei Augustinus keineswegs als Akzidens einer in sich guten Natur, sondern als deren Substanz: Dies drückt sich nicht nur in der Identifikation von Natur, Teufel und Sünde aus, sondern auch in der spezifischen Terminologie des Traktats für die Selbstbezogenheit des Menschen. Mit Vorliebe substantiviert und abstrahiert er die nur auf den Einzelmenschen bezogenen Pronomina ‚ich‘ und ‚selbst‘ zu icheit und selbheit469 und deutet sie damit zu einer Grundbestimmung des Menschseins um. Der Unterschied zu Meister Eckhart könnte größer nicht sein: Stehen dort ‚Ich‘ und ‚Selbst‘ – icheit und selbheit fehlen bezeichnenderweise im Wortschatz des Dominikaners470 – für den Menschen als „zuoval der natûre“, den es abzulegen gilt, um die durch die Inkarnation geadelte menschliche Natur freizulegen,471 so fallen im ‚Frankfurter‘ icheit und selbheit mit
468 Frankfurter, Kap. 51, S. 145, Z. 65–66. Der zitierten Stelle geht folgende Passage voraus: „Sich, also hat got willen geschaffen, aber nicht, das er eigen sal seyn. Nu kumpt der tufel vnd Adam, das ist die falsch natur, vnd nympt dissen willen an sich vnd macht yn yr eigen vnnd nutzet yn czu yr selber, czu dem yren“ (Z. 61–65). Siehe dazu Kap. 2.3.6, S. 310. Der Apfelbiss steht hier für den in der menschlichen Natur verwurzelten Autonomieanspruch, der sich in eigenmächtigen Willensentscheidungen äußert. Diese aber sind nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ grundsätzlich zu verwerfen. Siehe dazu Kap. 2.3.2.3, S. 230–232. 469 Meistens treten icheit und selbheit als Wortpaar auf; siehe Kap. 1, S. 72, Z. 23–24, 25, 28; Kap. 15, S. 89, Z. 6; Kap. 16, S. 90, Z. 3, S. 91, Z. 9, S. 92, Z. 47, 48–49; Kap. 18, S. 95, Z. 3–4; Kap. 20, S. 97, Z. 1, 2; Kap. 22, S. 99, Z. 17; Kap. 24, S. 103, Z. 23; Kap. 32, S. 116, Z. 40, S. 117, Z. 48; Kap. 36, S. 121, Z. 28; Kap. 40, S. 126, Z. 16; Kap. 43, S. 135, Z. 22–23. Icheit tritt ferner alleine auf in Kap. 44, S. 139, Z. 38; selbheit steht für sich in Kap. 16, S. 91, Z. 11; Kap. 18, S. 95, Z. 3; Kap. 20, S. 97, Z. 9; Kap. 24, S. 103, Z. 26; Kap. 26, S. 108, Z. 73; Kap. 40, S. 130, Z. 122; Kap. 51, S. 144, Z. 30. Vereinzelt tritt außerdem meinheit auf: Kap. 1, S. 72, Z. 28; Kap. 43, S. 135, Z. 22. Als Variante von selbheit findet auch selbwillikeit Verwendung (Kap. 43, S. 137, Z. 96). Es handelt sich dabei um ein Synonym, welches die unrechtmäßige Inbesitznahme des Willens hervorhebt. Dasselbe gilt für eigenwillikeit (ebd., Z. 95; Kap. 36, S. 121, Z. 28). Eine positive Wertung von selbheit findet sich einmalig in Kap. 24, S. 103, Z. 27. Dort ist der Begriff allerdings nicht auf den Menschen, sondern auf Gott bezogen, der in der unio mit seiner selbheit in den Menschen eingehe. 470 Darauf lassen jedenfalls die ausführlichen Wörterverzeichnisse der Stuttgarter Werkausgabe schließen. 471 Meister Eckhart: Pr. Q 46, DW II, S. 381, Z. 2–S. 382, Z. 3: „Und alsô, sult ir éin sun sîn, sô müezet ir abescheiden und abegân alles des, daz underscheit an iu machende ist. Wan der mensche ist ein zuoval der natûre, und dar umbe gât abe alles des, daz zuoval an iu ist, und nemet iuch nâch der vrîen, ungeteilten menschlîchen natûre. Und wan denne diu selbe natûre, nâch der ir iuch nemende sît, sun des êwigen vaters worden ist von der annemunge des êwigen wortes, alsô werdet ir
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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der menscheit zusammen. Dem Einzelnen ist damit die Möglichkeit genommen, seiner fatalen Selbstbezogenheit durch das eckhartische abnegare personale zu entkommen, da ihn jeder Versuch einer Selbstaufgabe immer wieder auf sein Selbst zurückwerfen muss.472 Icheit und selbheit verweisen zudem auf die den ‚Frankfurter‘ durchziehende Verketzerung der menschlichen Natur, welche sich der vita Christi widersetzt, um dem widergöttlichen Dasein der falschen, freyen geiste zu frönen.473 Christi Leben nämlich „ist aller natur vnd aller selbheit das bittirst leben. Aber das ruchloß, frey leben ist aller natur, selbheit vnd icheit das sußte vnd das lustigiste leben.“474 Die Deutung der Selbstbezogenheit und damit der Sünde schlechthin als Grundbestimmung des Menschseins lässt es fraglich erscheinen, ob Adam im Kontext des ‚Frankfurter‘ als mit einer Dispositionsnatur ausgestattet gedacht werden kann. Ist er – und damit jeder Mensch – nicht der immer schon Gefallene, dem das Laster des ‚Annehmens‘475 von Natur aus zukommt und dessen Sünde deshalb nicht einem einzelnen Akt des Ungehorsams entsprungen ist? Die ausschließlich negative Sicht des ‚Frankfurter‘ auf den Urvater und seine durchgängige Hervorhebung der substanziellen Verfestigung menschlicher Lasterhaftigkeit legen eine solche Interpretation jedenfalls nahe. Dann aber erwächst das spezifische anthropologische Profil des Traktats nicht daraus, dass hier „ein voller Naturbegriff keinen Platz hat“, wie Haas schreibt, sondern daraus, dass er einen aus christlich-orthodoxer Perspektive reduzierten Naturbegriff zu einem vollen Naturbegriff umdeutet. Anders gesagt: Die Möglichkeit einer positiven Evaluierung der natura hominis – als bereits der Gewalt des Teufels entrissene und in jedem einzelnen Menschen auf ihre Vollendung zustrebende476 – wird im ‚Frankfurter‘ nicht nur verschwiegen, sie ist überhaupt nicht existent.
sun des êwigen vaters mit Kristô von dem, daz ir iuch nâch der selben natûre nemende sît, diu dâ got worden ist.“ 472 Deshalb sind ich und icheit im ‚Frankfurter‘ miteinander identisch. Vgl. die Synonymreihe in Kap. 43, S. 137, Z. 94–97 (zitiert in Kap. 2.2.2.1, S. 117). 473 Siehe dazu auch oben, Kap. 2.2.2.3, S. 141–142. 474 Kap. 18, S. 95, Z. 2–4. Vgl. auch die Überschrift zu Kap. 20 (S. 97): *Synt dem das das leben Cristi aller naturn vnde selbischeit das aller bittirst ist, dar vmmb wil *es die natur nicht an sich nemen vnnd nympt an sich das ruchlos, falsch leben, wie eß yr das aller beqwemlichst vnd lustigist ist. 475 Siehe dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel. 476 Dass der Mensch durch Christi Kreuzestod aus der Gewalt des Teufels befreit ist und sich nur aus freiem Willensentscheid wieder in dessen Fänge zurückbegeben kann, dürfte – mit Ausnahme des ‚Frankfurter‘ – im ‚mystischen Diskurs‘ generell außer Frage stehen, auch dann, wenn die aus der Erbsünde resultierende natürliche Neigung des Menschen zum Laster hervorgehoben wird. Als exemplarisch kann die Aussage des Marquard von Lindau (hg. Blumrich) aus dessen Predigt 26 (S. 176, Z. 22–24) gelten: „Ze dem dritten er [Christus] ht den menſchen fry gemachet vnd erlſet
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Die Behauptung einer vollständigen Verderbnis der menscheit überschreitet die von Augustinus gezogene Grenze zwischen einer durch ein innewohnendes Vitium korrumpierten und einer genuin schlechten Natur. In diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass der ‚Frankfurter‘ die Vergottung des Menschen nicht als Vollendung der natura humana, sondern nur als ihre Überwindung konzipieren kann.477 Denn als solche ist die Natur des Menschen unrettbar verloren.478 Es ist genau diese Position, die Augustinus als ‚manichäisch‘ verurteilt und von der er sich in seiner Konfrontation mit Julian vehement distanziert, da sie ihm als unvereinbar mit dem christlichen Erlösungsdogma erscheint:479 Denn wenn die natura hominis nicht nur durch die Erbsünde verdorben, sondern in sich ein malum ist, dann hat „die Beseitigung dieser Verderbnis auch die Beseitigung der menschlichen Natur zur Folge“.480 Diese Kritik an einer Substantialisierung des Lasters trifft auf den ‚Frankfurter‘ voll und ganz zu: Hier steht der vita Christi als Ermöglichungsgrund der Bildwerdung des Menschen eine unerlöste und deshalb widergöttliche Natur gegenüber,481 die erst in ihrer Vernichtung die
von dem gewalt des bſen gaiſtes, daz der kainen menſchen wider ſinen willen mcht ierren ſiner ewigen ſlikait […].“ Vgl. auch ebd., S. 177, Z. 46–58. 477 Siehe oben, Kap. 2.2.2.1, S. 118. 478 Zu der in diesem Zusammenhang unausweichlichen Frage nach der Rolle Christi im ‚Frankfurter‘ siehe die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3, S. 368–377. 479 Erzürnt weist Augustinus Julians Unterstellung zurück, dass er den Teufel als Urheber der menschlichen Natur ansehe. Vgl. c. Iul. II, 8, 28 (PL 44, Sp. 692–693). 480 Strohm: Der Begriff, S. 193. 481 Dieser Aspekt ist von größter Bedeutung, da die Erlösung der menschlichen Natur durch Christus im ‚mystischen Diskurs‘ oft besonders hervorgehoben wird. Bei aller Betonung der Sündenverhaftetheit des Menschen in der nacheckhartischen Mystik bleibt Christi Erlösungstat stets der Garant für die Gutheit der Natur. In diesem Sinne äußert sich zum Beispiel das ‚Buch geistlicher Armut‘, dessen Ausführungen unmittelbar auf die Naturkritik des ‚Frankfurter‘ zu reagieren scheinen, auch wenn ein direkter Zusammenhang nicht nachweisbar ist. Vgl. ebd. (hg. Denifle), S. 31, Z. 14–24: „Etliche ſcheltent natur gar vaste; und die wiſſent nit waʒ natur iſt, wan ſie iſt gar edel, der ir rehte tt. Man ſol boßheit ſchelten und nit die nature, wan got het menſchliche natur alſo liep, daʒ er ir alle ding ʒ dienſte het geſchaffen und den dot in menſchlicher nature het durch ſie gelitten; und in ſinem tode iſt menſchliche nature erhhet úber alle engele. Man ſprichet von natúrlichen menſchen, daʒ ſie ſchedeliche menſchen ſint. Jch ſpriche daʒ, daʒ ein reht natúrlich menſche iſt ein luter menſche, wan ein ieglich ding daʒ iſt ʒ nemende nach ſinem beſten; wan danne natur gt iſt, waʒ danne gt iſt, daʒ iſt luter und iſt ane allen gebreſtlichen ʒval.“ Im Vergleich zu Meister Eckhart und den direkt an Eckhart anschließenden spekulativen Traktaten, wie sie in der Edition Franz Pfeiffers (Pfeiffer II) enthalten sind, hat sich hier die Bewertung der natura hominis dennoch eklatant verschoben. Der Jubel über die natura elevata ist der Ernüchterung über die bleibende Sündhaftigkeit des Menschen gewichen, gegenüber deren Dominanz die Gutheit der Natur verteidigt werden muss. Der in manchen pseudo-eckhartischen Traktaten ausgedrückte Optimismus, dass die in der Inkarnation geadelte Natur des Menschen selbst Erlösungskom-
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Einswerdung von Gott und Mensch gestattet. Die eigenwillige unio-Lehre des ‚Frankfurter‘, seine Auslegung der Gelassenheitsforderung und sein soteriologisches Konzept sind mit dieser Vereinseitigung des Naturbegriffs aufs Engste verbunden.482 Den Normbereich des ‚mystischen Diskurses‘ hat der ‚Frankfurter‘ mit seiner Diabolisierung der menschlichen Natur zwar verlassen. Dennoch bleibt er seinem literarischen Bezugsfeld insofern verbunden, als er die dort zu beobachtende Distanzierung von Meister Eckharts uneingeschränkt positivem Naturbegriff483 – der seinem eigenen diametral entgegengesetzt ist – bis zur letzten Konsequenz treibt. Diese diskursive Zwänge ignorierende, die Grenze zur Häresie überschreitende Überpointierung tritt aufgrund der ‚Vielstimmigkeit‘ des ‚Frankfurter‘ in einen spannungsvollen Dialog mit gegenläufigen Aussagen, die konventionellere Auslegungen des Traktats erlauben und seine provokanten diskursiven Innovationen verdecken. So steht dem anthropologischen Pessimismus des Traktats, der den Menschen in seiner natürlichen Beschaffenheit jenseits der Sphäre des Göttlichen ansiedelt, sein metaphysischer Optimismus entgegen, demzufolge Gott als der wesenhaft Eine und Gute alles Seiende – inklusive Teufel und Mensch – ursächlich in sich trage.484 Deshalb müsse alles Geschaffene, insofern es ist, auch
petenz besitze, da sie die gesamte Schöpfung in ihren Ursprung zurückführe (vgl. Pfeiffer II, Traktat II, S. 390, Z. 37–S. 391, Z. 11; ebd., Traktat VI, S. 459, Z. 14–17), findet sich in Werken wie dem ‚Buch geistlicher Armut‘ nicht. 482 Zur unio-Lehre siehe vor allem Kap. 3.2.3, zu den beiden anderen Aspekten besonders Kap. 3.3.2.3. 483 Zu Taulers Skepsis gegenüber der menschlichen Natur siehe die weiteren Darlegungen in diesem Kapitel. Die Überzeugung, dass die Annäherung an Gott eher mit einer Distanzierung von der eigenen Natur als mit deren Verwirklichung im eckhartischen Sinne einhergehen müsse, wird auch in der ‚Gottesfreundliteratur‘ ausgesprochen. Vgl. etwa die Belehrung des Altvaters in Rulman Merswins Schrift ‚Das Fünklein in der Seele‘ (hg. Strauch), S. 22, Z. 16–24: „du solt wissen, lieber sun, das es nút wol z geloubende ist, daz dehein mensche z der hohen grossen erwúrdigen úbernatúrlichen sssen gttelichen minnen kummen mge, er habe sich danne e durch alle sine nature gewoget und durchbrochen, do sich die lúte, alse es n stot, gar nte lont durch wisen, wanne sú mstent irre naturen in allen unnotdúrftigen sachen abe gon und z grunde sterben.“ In die gleiche Richtung zielt die Rüge des Waldpriesters gegenüber dem Weltweisen (Merswin: Von einem eigenwilligen Weltweisen [hg. Strauch], S. 47, Z. 10–18): „und du solt wissen, das du noch gar alzmole ein sinnelicher wolredender vernúnftiger eiginwilliger mensche bist, und du wilt es nút wissen. und ist das sache, das du din selbes schalghafte nature nút bekennen wilt, und har umb so stost du und wonest uf din selbes nature, und sint alle dine werg und bungen louffende und vermúschet mit diner nature, und in diser wise so wenest du got haben und wilt in ouch haben […].“ 484 Kap. 36, S. 120, Z. 4–S. 121, Z. 10: „Das der tufel ader mensch ist, lebet vnd des glich, das ist alles gut vnd gotis, wan got ist diße alczumal wesenlich vnd orsprunglich, wan got ist aller wesenden weßen vnd aller lebendigenn leben vnd aller wißen wißheit, wan alle ding haben yr weßen werlicher yn got den yn en selber vnnd auch yr vormugen, leben vnd was des ist. Got were anders nicht alles
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
gut sein.485 Eine Reflexion über die (Un-)Vereinbarkeit dieser gegenläufigen Positionen findet im ‚Frankfurter‘ nicht statt. Unentscheidbar ist, ob sie sich dem unbekannten Autor bzw. den anonymen Redaktoren jemals als Problem gestellt hat.486 Dass es ohne Weiteres möglich ist, die ‚manichäischen‘ Aussagen des ‚Frankfurter‘ zu ignorieren, lässt sich nicht nur aus den spätmittelalterlichen Rezeptionshinweisen erschließen.487 Auch Martin Luther – selbst mit Manichäismusvorwürfen konfrontiert488 – deutet die Schrift in einer anderen, wenngleich nicht allzu weit davon entfernten Richtung. Denn zweifellos kann die Verunglimpfung
gut, vnd dar vmmb ist eß alczumal gut“; Kap. 47, S. 141, Z. 2–4: „Vnd alles, das do ist, das ist gut yn dem, als eß ist. Der tufel ist gut, yn dem als er ist; yn dem synne ist nichts boße ader vngut.“ 485 Mit dieser Aussage (vgl. die vorhergehende Anmerkung) bewegt sich der ‚Frankfurter‘ im Rahmen zeitgenössischer dominikanischer Theologie. Vgl. etwa Goris: Dietrich von Freiberg, S. 182. Auch der späte Augustinus hält ungeachtet seiner Gnadenlehre an der Gutheit alles Geschaffenen fest. Siehe Flasch: Logik des Schreckens, S. 58–59, 63–65. 486 Dagegen wird die unio-Lehre des Traktats – insbesondere die These der Angewiesenheit Gottes auf die Kreatur – in ihren häretischen Konsequenzen zumindest ansatzweise reflektiert. Siehe dazu oben, Kap. 1.2.2, S. 38 sowie unten, Kap. 3.2.3, S. 340. 487 Siehe oben, Kap. 1.2.2, S. 19–28. Auch die moderne ‚Frankfurter‘-Forschung bevorzugt es, die unorthodoxen Äußerungen des Traktats auszublenden und eher seine Zugehörigkeit zum ‚mystischen Diskurs‘ hervorzuheben. Siehe oben, Kap. 1.1, S. 7 und Kap. 1.2.2, S. 35–38. 488 Bereits in der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517) wehrt Luther den Verdacht ab, die manichäische Irrlehre zu vertreten. Auf die These, dass der Wille ohne Unterstützung durch die göttliche Gnade notwendigerweise ein böses Handeln hervorbringe (These 7), lässt der Wittenberger unmittelbar eine Einschränkung folgen (These 8): „Nec ideo sequitur, quod sit naturaliter mala, id est, natura mali secundum Manicheos“ (WA 1, S. 224, Z. 20–21). Als Beispiel für die Instrumentalisierung der manichäischen Häresie im Zuge der reformatorischen Auseinandersetzungen sei eine Passage aus der deutschen Übersetzung von Johannes Ecks Enchiridion (1533; hg. Iserloh [Faksimile]) wiedergegeben (S. 84 nach moderner Zählung; ursprünglich S. 163): „Die neüwchriſten haben hie erweckt ainn ʒwlff hundert jrige ketʒerey der Manicheer / ʒ dem erſten hat Lutter allain vernaint der freywill vermge nichts in dē gtten werck /dann das ſey gantʒ vnd allain von Gott /als aber er vnſinnig warde /vnd tobet wider die Chriſtenlich kirchē /hat er den freyen willē gar verlaugnet /da alle ding geſchehen auſʒ ainer ledigen not /das nit kÿnd anders geſchehen /wie etlich alt Philoſophi vor Chriſtus geburt genarret haben /die Stoici Empedocles /Critolaus xc. Diſʒ iſt aber falſch vnd jrrig.“ Im Gegensatz zu Martin Luther wird Huldrych Zwingli als Pelagianer tituliert, während die traditionelle kirchliche Lehre beide Irrtümer vermeide, indem sie sowohl die Erbsünde als auch die Notwendigkeit der Gnade anerkenne, ohne den Menschen seiner Verdienstmöglichkeiten zu berauben (S. 88–89 nach moderner Zählung; ursprünglich S. 171–172): „Die leerer der kirchen ſeindt nit Pelagianer /dann ſie verleügnen nit die erbſünd wie der new Pelagianer Zwingli tht /Sie ſagē nit das ain menſch auſʒ pur natürlicher würckung on die genad Gottes mg ſlig werden /dann ſie ſagen vſtiglich /die gnad mſʒ dar bey ſein /Ja ſie mſʒ vor dem freyen willen kōmen /vnd das ain ſünder mitt gtten wercken ſich vmb Gott verdienen künd ʒr berayttung /iſt kuntlich auſʒ dem haydē Cornelio /des almſen vnd gebt. Gott hatt angeſehen vnnd genad verlihen
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
191
der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ zur Einnahme einer Lektürehaltung ermutigen, die seine antipelagianischen Tendenzen zur Geltung bringt, zumal sich das Insistieren des Traktats auf der sündhaften Selbstbezogenheit der Natur als Kritik an der Konkupiszenz – dem neuentdeckten Kardinallaster des Paulusinterpreten Augustinus489 – auslegen lässt. Ebenso wie icheit und selbheit im Kontext des ‚Frankfurter‘ steht die concupiscentia im Denken des Kirchenvaters für die „Gier des Menschen gegen Gott nach sich selbst“ und damit für jenes Vergehen, das „die Menschlichkeit so vergiftet [hat], daß sie totgeweiht ist“.490 Der diskursive Transformationsprozess, den die ‚deutsche Mystik‘ zwischen Meister Eckhart und dem ‚Frankfurter‘ durchläuft und der von der Behauptung einer Verwandtschaft der menschlichen Natur mit Gott zu einer Identifikation von Natur und Teufel führt, soll im Folgenden anhand verschiedener Aspekte beleuchtet werden. Im Vordergrund wird dabei das Œuvre Johannes Taulers stehen, und zwar aus drei Gründen: Erstens gewinnt sein aus der Auseinandersetzung mit Meister Eckhart resultierender theologisch-anthropologischer Entwurf in der nacheckhartischen Mystik normativen Charakter und bleibt bis in die Frühe Neuzeit hinein präsent.491 Zweitens zitiert der ‚Frankfurter‘ Tauler explizit, wenn auch
/darumb ſeind wir nicht new Pelagianer /aber der widerſacher iſt ain alter Manicheiſcher ketʒer /ain vnbeſinter Stoicus.“ 489 Vgl. Flasch: Logik des Schreckens, S. 41. 490 Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 32. Vgl. auch Flasch: Logik des Schreckens, S. 82; Leppin: Martin Luther, S. 75. Auch nach Gregor von Rimini, einem der profiliertesten Vertreter der schola Augustiniana moderna (siehe dazu Kap. 2.2.1, S. 97–99 mit Anm. 102–104), besteht das Wesen der Erbsünde in der schuldhaften Konkupiszenz. Vgl. Zumkeller: Erbsünde, S. 5. 491 Während die volkssprachlichen Schriften Meister Eckharts in starker Zersplitterung überliefert sind und häufig ohne Namensnennung tradiert werden (siehe dazu Steer: Die Schriften Meister Eckharts, bes. S. 233–239; zur Frage nach der ursprünglichen Existenz eines deutschen Predigtkorpus Eckharts vgl. ferner Sturlese: Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben?), gilt dies für Taulers Predigten nicht. Vielmehr überliefern 43 hochdeutsche Tauler-Handschriften Sammlungen mit mehr als zwanzig Predigten (vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 19). Insbesondere im Zuge der monastischen Observanzbewegungen des fünfzehnten Jahrhunderts gewinnt Tauler stark an Popularität (vgl. ebd., S. 61–63). Allerdings macht sich der Einfluss Taulers auch schon im vierzehnten Jahrhundert deutlich bemerkbar, vor allem in der ‚Gottesfreundliteratur‘. In der Schrift ‚Von den vier Jahren‘ (hg. Strauch) etwa reklamiert der als der Straßburger Patrizier Rulman Merswin auftretende Erzähler für sich, Tauler als Beichtvater gewonnen zu haben (ebd., S. 5, Z. 33–S. 6, Z. 5): „N in den selben ziten do nam ich den Thăweler z eime bihther, vnd der befant etthewas miner vebungen, wan er nam es war, das ich gar krang in der nattren geriet werden, vnd er forthe mins hbetes vnd er gebot mir bi gehorsam, das ich mich in keiner vebunge me slte veben, vnd der an mahte er mir ein zil vnd ich mste gehorsam sin […].“ Dass in dieser kurzen Passage zwei Motive der Tauler-Predigten – die Warnung vor einer Übersteigerung asketischer Praktiken und der Rat, sich einem erfahrenen ‚Gottesfreund‘ in Gehorsam zu unterwerfen – aufgegriffen werden, um sie als eigenes Erleben zu
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nur innerhalb des auf der Werkebene isoliert stehenden, inhaltlich zur Unverständlichkeit verknappten dreizehnten Kapitels.492 Die Aussagen der Tauler-Predigten zur naturhaften Beschaffenheit des Menschen lassen jedoch darauf schließen, dass sich der Traktat durchgängig an der Anthropologie des Straßburger Predigers orientiert, ohne jedoch deren positive, der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ verpflichtete Elemente zu übernehmen. Der dritte Grund ist, dass Martin Luther den ‚Frankfurter‘ als Tauler-Kompendium betrachtet.493 Auch wenn es sich dabei um eine eingeschränkte, durch die Ausrichtung der Wittenberger Theologie bedingte Perspektive handelt, kommt ihr doch insofern Berechtigung zu, als das Predigtwerk des Straßburgers – bei Ausblendung der optimistischen Aspekte seiner Anthropologie – ebenso wie der ‚Frankfurter‘ Analogien zur augustinisch-antipelagianischen Theologie aufweist.
präsentieren, darf als typisch für die ‚Gottesfreund‘-Schriften gelten. Sie nehmen vorrangig von Tauler geprägte Grundmotive des nacheckhartischen ‚mystischen Diskurses‘ auf, um sie in Form von Viten lebensweltlich auszugestalten. Am dominantesten dürfte der Aspekt der bekorungen – also der teuflischen Anfechtungen – sein, die Tauler seiner seelsorgerlich-moralischen Ausrichtung entsprechend fest in den Vervollkommnungsweg des Menschen integriert. Damit hält in Ergänzung zu einem steigenden anthropologischen Pessimismus die Allgegenwart des Teufels Einzug in die ‚deutsche Mystik‘, die im ‚Frankfurter‘ schließlich in der Identität von Mensch und Teufel kulminiert. Zur Rezeption Taulers im frühen sechzehnten Jahrhundert allgemein und speziell in der Wittenberger Theologie vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Zu Karlstadts Tauler-Rezeption siehe Hasse: Karlstadt und Tauler. Vgl. ferner die Ausführungen oben in Kap. 2.1, bes. S. 69–80. Das anhaltende Interesse an den Predigten Taulers in der Frühen Neuzeit dokumentieren über die zahlreichen Drucke und Übersetzungen hinaus (zu den Tauler-Ausgaben seit Einführung des Buchdrucks vgl. Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen, S. 474–479) eine Reihe von Werken, die sich mit Taulers Œuvre teils affirmativ, teils ablehnend auseinandersetzen. Genannt seien hier nur Johannes Ecks Negativurteil in seiner 1523 publizierten Schrift De purgatorio contra Ludderum (vgl. Hoenen: Johannes Tauler, S. 409; Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen, S. 472; Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 254–260), die Jahrzehnte später (1551) darauf reagierende Taulerverteidigung des Benediktiners Ludwig Blosius mit dem Titel Apologia pro domine Ioanne Thaulero adversus dominum Ioannem Eckium (vgl. Hoenen: Johannes Tauler, S. 409; Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 260), die affirmative Theologia Bernhardi et Tauleri des Ilfelder Schulrektors Michael Neander aus dem Jahr 1581 (vgl. Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen, S. 473; Koch: Taulerrezeption, S. 1239–1242) sowie Tavleri Christliche Lehre von den frnemsten heuptstcken der heiligen Schrifft des Dresdener Predigers Peter Glaser aus dem Jahr 1583 (vgl. Hofmann: Literaturgeschichtliche Grundlagen, S. 473; Koch: Taulerrezeption, S. 1242–1243). Zur Tauler-Rezeption im Medium der Reformationsflugschrift siehe Wegener: Ain Faſt Edele, nutzliche, vnd ergrúndte Sermon. Weitere Beiträge zur Tauler-Rezeption finden sich in der Gedenkschrift zum 600. Todestag (hg. Filthaut). 492 Siehe dazu oben, Kap. 2.1, S. 73 mit Anm. 14 und 15. 493 Siehe dazu oben, Kap. 2.1, bes. S. 72.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Die Distanz Taulers zu Meister Eckhart wird offensichtlich, wenn es um die Frage der natürlichen Gottzugewandtheit des Menschen geht. Während der Thüringer die im Seelengrund fundierte Einheit von Gott und Mensch in das Zentrum seiner Lehre stellt, nimmt sein Straßburger Ordensbruder verstärkt die sündige, von seinem Schöpfer abgewandte Seite des Menschen in den Blick. Dabei scheut er auch nicht vor Aussagen zurück, die in ihrer schroffen Einseitigkeit nichts mehr von einem inneren Gottesbezug des Menschen erahnen lassen: „Nu nemen wir die welt al ze mole her fúr, so sicht man das der aller meiste hbetteil von alr der welt die sint alle leider vijent Gotz.“494 Dieses Motiv der Gottesfeindschaft, das in den Tauler-Predigten nur sporadisch auftritt, bestimmt im ‚Frankfurter‘ dessen Gesamtsicht auf den Menschen und verbindet sich gleichermaßen mit seiner Absage an eine ontologische Gottebenbildlichkeit wie mit seiner Behauptung einer substanziellen Verfestigung des natürlichen Selbstbezuges. Die damit einhergehende leitmotivische Präsenz von icheit und selbheit ist Taulers Denken zwar fremd. Dennoch zeichnet sich bereits in seinen Predigten eine Tendenz zur Substantialisierung der Selbstverhaftetheit des Menschen ab. In Predigt V 46 etwa heißt es: „[…] wan unser ichtikeit und annemlicheit die hindert Got sines edelen werkes in uns.“495 Zugegebenermaßen handelt es sich hier um die einzige Stelle, die den Begriff der ichtikeit verwendet – während selbheit und mînheit im edierten Œuvre des Straßburgers überhaupt nicht auftreten.496 Signifikant ist jedoch etwas anderes, nämlich die Koppelung an den Begriff des ‚Annehmens‘, den Tauler hier zudem zu annemlicheit substantiviert.497 So verleiht er jenem im ‚mystischen Diskurs‘ allgegenwärtigen Reiz494 Pr. V 43, S. 182, Z. 12–13. 495 Pr. V 46, S. 205, Z. 11–12. Außerdem kennt Tauler die damit semantisch unmittelbar verwandten Termini eigenheit und sînsheit. Siehe Pr. V 60f, S. 314, Z. 2–3: „Das erste ist in eime lutern entsetzen und entwerdende aller eigenheit unde sinsheit.“ Sînsheit findet sich auch in der SeuseVita (hg. Bihlmeyer), Kap. 32, S. 95, Z. 12. 496 Selbheit findet sich jedoch sowohl bei Seuse als auch in Pfeiffer-Traktat II. Vgl. Seuse: Briefbüchlein (hg. Bihlmeyer), S. 385, Z. 12–13: „Hier inne halte dich also, daz du sines willen lgest ane lust schen dins selbsheit“; siehe auch ders.: Vita (hg. Bihlmeyer), Kap. 6, S. 23, Z. 10. Pfeiffer II, Traktat II, S. 393, Z. 23–24: „Er sol aller vrîest sîn, alsô daz er vergezze sîn selbesheit […].“ Es handelt sich hier allerdings um vereinzelte Äußerungen, die von einer programmatischen Verwendung wie im ‚Frankfurter‘ weit entfernt sind. Immerhin machen die Passagen deutlich, dass der Terminus als solcher bereits vor der Abfassung des ‚Frankfurter‘ bekannt, wenn auch wohl nicht sonderlich beliebt war. 497 So auch in Pr. V 22, S. 89, Z. 32–S. 90, Z. 1: „Diser Judas der ist in uns, das ist die leide annemlicheit, die stilt und verratet alles das gt daz Got von frier luterre gte wúrcket in dem menschen. Des nimmet sich Judas in uns an z unrehte, als es dez sinen si und er út darz geton habe; dis bedrússet das bekentnisse und wil einen andern an des diebes stat setzen.“ Annemlicheit ist für Tauler ebenso ein Grundkonstituens des Menschseins wie selbheit und icheit für den
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wort,498 das die ungerechtfertigte Selbstzuschreibung göttlicher Gaben499 und damit das fatale Autonomiestreben des Menschen bezeichnet, den Status eines Grundkonstituens der menschlichen Natur.500 Damit aber kommt dem Terminus in doppelter Hinsicht eine Signalfunktion zu: Zum einen verweist er auf die zunehmende Distanz gegenüber Meister Eckharts positiver Anthropologie. Zwar verwendet auch der Thüringer das Verb ‚Annehmen‘, wenn er das lateinische assumere in die Volkssprache übertragen will, dies jedoch vorwiegend im Kontext der Hypostatischen Union,501 nicht um einer naturgegebenen Fehlorientierung des Menschen das Wort zu reden. Zum anderen verleiht die semantische Umwertung des ‚Annehmens‘ vom akademischtheologischen terminus technicus zum negativ konnotierten anthropologischen Basisbegriff dem ‚mystischen Diskurs‘ einen antipelagianischen Grundzug, zielen Augustinus’ Invektiven gegen die inimici gratiae doch im Kern auf genau das, was auch Taulers Predigten und andere mystische Prosatexte im vierzehnten Jahr-
‚Frankfurter‘. Allerdings relativiert der Straßburger Prediger seine Position dadurch, dass er an der intrinsischen Gutheit der menschlichen Natur festhält. 498 Vgl. in Taulers Œuvre etwa Pr. V 27, S. 112, Z. 11, S. 113, Z. 19; Pr. V 43, S. 181, Z. 13; Pr. V 55, S. 254, Z. 28, 36, S. 255, Z. 2–3; Pr. V 60e, S. 307, Z. 18; Pr. V 66, S. 364, Z. 6; Pr. V 67, S. 366, Z. 2, S. 370, Z. 11. Auch in der ‚Gottesfreundliteratur‘ zählt das ‚Annehmen‘ zu den Grundlastern. 499 Vgl. Tauler: Pr. V 13, S. 64, Z. 9–11: „Also wo du dich des gttelichen annimmest, do machest du daz gtteliche creaturlichen und verfinsterst es.“ 500 Zum augustinischen Motiv des Sich-selbst-etwas-Zuschreibens siehe auch Kap. 2.3.2.2, S. 214–215. ‚Annehmlichkeit‘ spielt als menschliches Grundlaster eine prominente Rolle bei Andreas Bodenstein von Karlstadt, insbesondere in seiner Gelassenheitsschrift aus dem Jahr 1523: Was geſagt iſt /Sich gelaſſen /vnd was das wort gelaſſenhait bedeüt /vnd wa es in hailiger geschrifft begriffen (Flugschriften des frühen sechzehnten Jahrhunderts, Fiche 1500, Nr. 3949). Siehe dort etwa fol. B v: „Aber die teüflisch vntugent /annemligkait oder vngelaſſenhait /greyffet nach frembder eer vnd gt (als der Lucifer nach gotes glori griff) […]. Diſe gifftig boßhait /ſchetzt ſich alles gtten wirdig“; fol. E4 r: „Darbey lerne /das annemligkait vnd vngelaſſenhait /todſünd vnd teüfliſche laſter ſeind /wólche Lucifer gehabt hat. Eſaie.viij.“ Vgl. auch Hasse: Karlstadt und Tauler, S. 50, 106, 111, 185. 501 Siehe z. B. Pr. Q 5b, DW I, S. 86, Z. 8–9: „Ich spriche ein anderz und spriche ein næherz: got ist niht aleine mensche worden, mêr: er hât menschlîche natûre an sich genomen.“ Nur vereinzelt verwendet Eckhart den Begriff des Annehmens im Zusammenhang seiner Anthropologie. Dann liegt sein Fokus jedoch nicht auf dem in seinem Selbstbezug gefangenen, sondern auf dem bereits zur Gottessohnschaft befreiten Menschen. Vgl. Pr. Q 15, DW I, S. 246, Z. 5–8: „Dirre mentsch lebt nu in ainer ledigen frihait vnd in ainer lutern bloshait, wan er enhát sich enkainer ding ze vnderwinden noch an ze nemende lútzel noch vil; wán alles das gottes aigen ist, das ist sin aigen“; Pr. Q 49, DW II, S. 450, Z. 9–S. 451, Z. 1: „Dêmüeticheit des geistes ist daz, daz er alles des guotes, daz got im iemermê getuot, sich als wênic aneneme oder zuoeigene, als er tete, dô er nicht enwas“; Pr. S 104, DW IV/1, S. 600, Z. 410–413, Sp. A: „Dir ist nôt vor allen dingen, daz dû dich nihtes anenemest, sunder lâz dich alzemâle und lâz got mit dir würken und in dir, swaz er wil.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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hundert kritisieren: die Verwechslung göttlicher Gnadengaben mit aus eigener Kraft erbrachten und deshalb vor Gott verdienstvollen Leistungen. So nimmt es nicht wunder, dass sich der penetrante Verweis des Kirchenvaters auf 1 Kor 4, 7: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ auch bei Tauler nachweisen lässt: „Was han wir das uns Got nút gegeben enhat? Und darumbe alles das er uns hat gegeben, das sol man im in rechter gelossenheit alles lossen als ob mans nie gewunnen enhette.“502 Diese Absage an alles eigene Vermögen des Menschen bestimmt auch die Anthropologie des ‚Frankfurter‘,503 jedoch in noch rigiderer Weise als bei dem Straßburger: Denn er verwirft die für Tauler unverzichtbare und in obigem Zitat anklingende Prämisse, dass die Entscheidung zur ‚Gelassenheit‘, also die Abkehr vom ‚Annehmen‘, dem Menschen obliegt.504 Ungeachtet dieser Differenz stellt die Omnipräsenz des ‚Annehmens‘ den ‚Frankfurter‘ in eine Traditionslinie mit Tauler,505 zumal auch die Erhebung zum teuflischen Urlaster bereits in dessen Œuvre vorgezeichnet ist.506 Annemlicheit ist somit das taulerische Äquivalent zu selbheit, mînheit und concupiscentia, mit dem Unterschied, dass die Regentschaft dieser Basissünde über den Menschen in den Predigten des Dominikaners durch die im Seelengrund verankerte Gottebenbildlichkeit und deren Entfaltung in die bereits erläuterten Aspekte augustinischer Spiritualität relativiert wird. In diesen Zusammenhang gehört auch der bereits in den deutschen Werken Meister Eckharts verunglimpfte Begriff der eigenschaft, der im weitesten Sinne alles umfasst, wodurch sich der Mensch „in der Welt vermittelnd konstituiert und sich in dieser Vermittlung – ontologisch, moralisch, noetisch – von der absoluten Spontaneität seines Ursprungs in Gott entfremdet“.507 Während aber der thüringi-
502 Pr. V 55, S. 255, Z. 30–32. Auch Meister Eckhart verwendet die Bibelstelle, jedoch im Sinne seiner eigenen Lehre. Die paulinische Frage wandelt sich bei ihm vom Hinweis auf das menschliche Unvermögen vor Gott zur Aufforderung, die von Gott empfangenen Gaben in die Welt ‚hinausfließen‘ zu lassen (Pr. Q 81, DW III, S. 402, Z. 5–8): „Alsô sol der mensche ûzvlüzzic sîn und gemeine mit allen gâben, die er von gote enpfangen hât. Ez sprichet sant Paulus: ‚waz ist, daz wir von im niht enpfangen enhân?‘ Hât ein mensche iht, des er einem andern niht engan, sô enist er niht guot.“ 503 Siehe dazu auch die Ausführungen unten, Kap. 2.3.2.2. 504 Siehe dazu auch die Ausführungen unten, Kap. 2.3.4, bes. S. 261–262. 505 Durchgängig präsent ist das als ebenso teuflisch wie adamitisch qualifizierte Grundlaster des ‚Annehmens‘ in den ‚Frankfurter‘-Kapiteln 2–5. Im weiteren Verlauf des Traktats gewinnen dann icheit und selbheit terminologisch die Oberhand. Sie drücken allerdings nichts anderes aus als die in der Natur des Menschen verwurzelte annemlicheit. 506 Pr. V 39, S. 162, Z. 18–20: „Und wer och das der mensche ze beiden siten slge in eigener wise uf sich oder uf das sin usser diser hocheit in eiginer annemlicheit, das were recht Lucifers valle.“ 507 Largier I, S. 762 (dort zu S. 24, Z. 21–26).
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sche Dominikaner das Ablegen der ‚Eigenschaft‘ – das abnegare proprium – in die Verfügungsgewalt des Menschen legt, insofern sich dieser von seiner akzidentiellen Vereinzelung ab- und der allgemeinen Menschennatur zuwenden kann,508 wird der Begriff bei Tauler in dessen Tendenz zur ‚Substantialisierung‘ miteinbezogen. Eigenschaft ist bei ihm Signum der gefallenen menschlichen Natur und bedeutet daher eine kontinuierliche Gefährdung des Menschen während seines Aufstiegs zur unio. Denn die eigenschaft verleitet den Gottsucher dazu, jeden geistlichen Fortschritt zu Unrecht sich selbst zuzuschreiben: […] do der mensche sich mit annemlicheit und mit eigenschaft der naturen in etlicher beheglicheit und wol gevallens dar uf kert, do ist es ze mole bs und in einem vernútende, und hin ab wirt das vinsternisse ermert und verlengt sich.509
Selbst den Menschen, der sein spirituelles Ziel – die unmittelbare Präsenz des Göttlichen – erreicht hat, bedrohen ‚Eigenschaft‘ und ‚Annehmlichkeit‘: „Aber enphelt dirs, das ms iemer von annemlicheit und eigenschaft sin komen.“510 Dennoch hat der Mensch die Möglichkeit, die eigenschaft abzulegen, wenn er sich zur ‚Gelassenheit‘ entscheidet und darauf vertraut, dass Christi Barmherzigkeit diesen Entschluss zur Erfüllung bringt.511 Der ‚Frankfurter‘ vollendet Taulers tendenzielle Umwertung der eigenschaft vom Akzidens zur Substanz, indem er sie zum unauslöschlichen Makel des Menschseins erklärt. Sie ist derartig tief in der natura humana verankert, dass sie unter keinen Umständen gelassen werden kann, nicht einmal dann – wie der Traktat ebenso hyperbolisch wie hypothetisch formuliert –, wenn es dem ‚natürlichen Licht‘ möglich wäre, Gott wesenhaft zu erkennen: „Vnd wer eß muglich, das diß naturlich licht got vnd einfeldige warheit, als eß yn got vnd yn der warheit ist, bekennete, eß liß nicht von seyner eygenschaft, das ist von ym selber vnd dem seynen.“512 Zu den Gemeinsamkeiten Taulers mit dem ‚Frankfurter‘ zählt ein weiterer brisanter Aspekt, der im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts zunehmend Aktualität gewinnt und sich eng mit den Themen der Gottesfeindschaft, des ‚Annehmens‘ und der ‚Eigenschaft‘ als Grundmerkmalen des menschlichen
508 In Ioh., LW III, n. 290, S. 242, Z. 4–7: „Tertio docemur quod volens filius dei fieri, verbum caro factum in se habitare debet diligere proximum tamquam se ipsum, hoc est tantum quantum se ipsum, abnegare personale, abnegare proprium. Diligit enim habens caritatem in nullo minus proximum quam se ipsum […].“ 509 Pr. V 47, S. 213, Z. 17–20. 510 Pr. V 67, S. 369, Z. 21–22. 511 Vgl. dazu Taulers Ausführungen in Pr. V 14, S. 65, Z. 27–S. 66, Z. 12. 512 Kap. 42, S. 133, Z. 31–33.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Daseins verbindet: Es handelt sich um das Versagen der ‚Unterscheidung der Geister‘,513 insofern der Mensch die Liebe zu sich selbst mit der Liebe zu Gott verwechselt. Dies ist – so Tauler – nur möglich, weil sich das Gift der Erbsünde derartig tief in die menschliche Natur hineingefressen hat, dass jeglicher Versuch einer Ausrottung zum Scheitern verurteilt ist: Nu ist dise vergiftekeit die ist so tief in den grunt gewurtzelt das alle kúnsteriche meister disem mit sinne nút enmogent nochgegon, und mit allem flisse múgent sú ime kume iemer getn oder uzgerúten. Diser valsche grunt in geiste und in nature wonet dicke do man wenet das es Got si zmole, do ist do dicke dise vergiftige widerbigunge, und meinet der mensche alles daz sine in allem tnde.514
Ungeachtet ihrer schonungslosen Kritik an der Eigenliebe des Menschen markiert diese Passage eine subtile, aber entscheidende Differenz Taulers zum ‚Frankfurter‘: Denn der Begriff der widerbigunge bezeichnet einen Akt der Selbstzuwendung, der nicht schlechthin mit der natura humana identisch ist. Vielmehr kommt Taulers Position jener des Augustinus in den antipelagianischen Schriften sehr nahe: Die Konkupiszenz – oder annemlicheit in Taulers Diktion – haftet der menschlichen Natur als Folge des peccatum originale zwar unlösbar an, kann jedoch deren Gutheit letztlich nicht zerstören.515 Insofern erscheint es durchaus angemessen, wenn der Straßburger anders als Meister Eckhart und der ‚Frankfurter‘ explizit auf das Konzept der Erbsünde zurückgreift, füllt seine Lehre doch genau jenen Raum aus, der sich im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts zwischen Eckharts ‚Pelagianismus‘ und dem ‚Manichäismus‘ des ‚Frankfurter‘ auftut:516 Denn während der thüringische Meister seine Anthropolo-
513 Siehe dazu Kap. 1.2.2, Anm. 102 und Kap. 2.2.3.6, Anm. 446. 514 Pr. V 23, S. 94, Z. 15–20. Vgl. auch Pr. V 60e, S. 307, Z. 20–23: „Daz der mensche sin selbes nút geitelt ist, so wenet der besessene mensche dicke das es alles Got si das in ime wúrket: so ist er es alles selber und ist sin eigen werg und sin angenummenheit und gtduncklicheit.“ 515 Wie das ‚Buch geistlicher Armut‘ und die Heinrich Seuse zugeschriebenen Predigten (vgl. Kap. 2.2.2.1, Anm. 159) warnt Tauler daher davor, den Kampf gegen die Sünde mit einer Vernichtung der Natur zu verwechseln. Solche Verächter der natura hominis würden Weinbauern gleichen, die statt des faulen Holzes die fruchtbaren Triebe abschneiden (Pr. V 7, S. 31, Z. 28–34): „Halt stille daz messer untz daz du besihest waz du sniden sllest; und kunde der wingarter nút die kunst, er snitte also balde abe daz edel holtz daz die trúbel schiere bringen sol, also daz bse und verderbete den wingarten; also tnt alle soliche lúte, sú enkunnent nút die kunst, sú lossent die untugende und die unrechte neigunge in dem grunde der nature und hwent und snident abe die arme nature; die nature ist in ir selber gt und edel; was wiltu darabe z hwende?“ 516 Wenn nach Schulze, (‚Via Gregorii‘, S. 37) „theologiegeschichtlich […] das Hauptproblem darin [besteht], sich zwischen den Ketzereien des Mani und Pelagius hindurchzuwinden“, so gelingt dies im Vergleich von Eckhart, Tauler und dem ‚Frankfurter‘ also am ehesten Tauler. Auf
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gie ganz auf die durch die Inkarnation geadelte natura elevata abstellt – und sich so weitestmöglich von der augustinischen Erbsündenlehre entfernt517 –, lässt der ‚Frankfurter‘ das Denken des Kirchenvaters aufgrund des Zusammenfalls von Natur und Sünde ebenso weit hinter sich zurück: „Adam, icheit vnd selbheit, eigen willikeit, sunde ader der ald mensch vnd abkeren vnd adscheiden von got, das ist alles eyns.“518 Tauler aber kennt sowohl die durch den Sündenfall geschwächte Natur als auch ihren prälapsarischen Vollkommenheitszustand: […] und der uns einen menschen her satte der in sime natúrlichen adel stunde, in der luterkeit also Adam stunt in dem paradise, in der naturen sunder alle genade danne in blosser naturen, der selbe mensche were also klare und also luter und also wunnesam und vol genaden das enkein menschliche verstentnisse enmhte die luterkeit nút begriffen noch verston mit vernunften.519
Taulers Unterscheidung zwischen dem verwerflichen Akt der widerbigunge und der Gutheit der Natur ermöglicht es ihm, dem Menschen eine eingeschränkte Kontrolle über die Intensität seiner Eigenliebe zuzugestehen. Deutlich wird dies etwa in folgender Passage: […] so het die nature ein etwas widerbigen uf sich selber; des enkan der mensche nút abegescheiden, er welle oder enwelle; daz ist daz der mensche gerne Got hette und von naturen begert selig z sinde; alleine daz solte gar kleine und an dem allerminsten teile angesehen und gemeint werden.520
Das aus der Erbsünde resultierende ‚vergiftete‘ Zurückbeugen des Menschen auf sich selbst ist so paradoxerweise zugleich Indikator für seine naturhaft gegebene Orientierung auf Gott hin. Es bezeichnet das ‚Gott-Haben-Wollen‘ des Menschen und damit einen kreatürlichen Besitzanspruch, der auf letztgültige Befriedigung der Eigenliebe zielt und deshalb so weit wie möglich zu reduzieren ist.521 Die
die Nähe Taulers zu augustinischen Formulierungen weist auch Leppin hin. Vgl. ders.: Augustinismus, S. 607. 517 Vgl. dazu auch Winkler: Meister Eckhart, S. 144. 518 Kap. 36, S. 121, Z. 28–29. 519 Pr. V 32, S. 120, Z. 12–17. 520 Pr. V 7, S. 30, Z. 22–25. 521 Dagegen wertet zumindest der frühe Eckhart das ‚Gott-Haben-Wollen‘ positiv. So trägt das sechste Kapitel der Rede der underscheidunge den Titel: Von der abegescheidenheit und von habenne gotes. Unter dem ‚Haben Gottes‘ versteht Eckhart die göttliche Durchformung des Menschen (vgl. Largier II, S. 352), ohne zwischen falschem kreatürlichem Besitzanspruch und richtiger Gottesausrichtung der Natur zu unterscheiden. Dies entspricht Eckharts anthropologischem Optimismus, dem die concupiscentia als Grundlaster fremd ist. Ganz im Sinne Eckharts qualifiziert auch Pfeiffer-Traktat VIII (Pfeiffer II, S. 479, Z. 7–9) das Begehren des Menschen nach
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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widerbigunge bleibt deshalb zwar ein Vitium, jedoch eines, das die richtige Strebenstendenz der Natur nicht aufhebt, sondern sie bestätigt.522 Die Verwechslung von Gottes- und Selbstliebe betrifft bei Tauler daher nicht die Natur als solche, sondern allein jenen verborgenen Egoismus, mit dem der Mensch auf schnellstmögliche Erfüllung seines natürlichen Glückseligkeitsverlangens drängt und den der Straßburger als ‚freigeistig‘ diskreditiert.523 Gibt der Mensch dieser verkehrten Strebenstendenz nach, so zerstört er dadurch mutwillig seinen natürlichen Adel, der im Innersten der Seele, im Seelengrund, sein Fundament hat: Lieben kinder, was went ir das dise lúte tn súllen an irem ende, als si das sehent das si iren natúrlichen adel alsus verkert hant und mit so italen affenheiten als unmessig gt versumet hant und iren grunt verderbet und verqwetschet hant?524
Anders dagegen im ‚Frankfurter‘: Hier sind icheit und selbheit nicht Ausdruck für einen eigensüchtigen Besitzanspruch des Menschen, der sich trotz seiner Unangemessenheit auf das richtige Endziel bezieht, sondern für die diabolische Fehlorientierung der Natur. Die Verwechslung von Gottes- und Eigenliebe bezieht sich daher nicht auf die widerbigunge im Sinne Taulers, sondern auf die Natur als solche, die unbelehrbar auf sich selbst als vermeintlich göttliches finis ultimus ausgerichtet und somit in sich selbst gefangen ist: Vnnd syder diß falsch licht natur ist, ßo gehoret ym der natur eygen czu, das ist sich selber vnd das seyne meynen vnd suchen yn allen dingen vnd der natur vnd im selber in allen dingen das beqwemest, gemachsampste vnd das lustigste. Vnd dar vmmb das iß betrogen ist, ßo wenet eß vnd spricht, was ym das lustigste, beste vnd bequemste sey, das sey das aller beste, vnd spricht, eß sey das aller beste, das eyn iglicher ym selber das beste suche vnnd thu vnd wil von anders keyme guten wissen den von syme, das ym gut ist, als eß wenet. Vnnd wer ym saget von dem waren, einfeldigen gut, das wider diß nach das ist, da
der Gottesgegenwart in seinem Innersten als Tugend: „Daz fünfte ist, daz man dirre geburt grœzlîchen begern sol, wan begerunge ist ein wurzel aller tugende unde guotheit.“ Dasselbe gilt für Seuse (hg. Bihlmeyer): Pr. 3, S. 528, Z. 9–11: „Hier nach [nach der Einheit mit Gott] sol der mensche mit allen seynen begerungen, sinnen und kreften stellen, das im disz werde. Wirt es im dann nit in seynem leben, so gibt es im got an seym ende.“ 522 Vgl. dazu auch Zekorn: Gelassenheit, S. 62: „Im Menschen vollzieht sich also ein Konflikt zwischen dem in der Gottesverwandtschaft begründeten ‚Grundneigen‘ und der konträren Ausrichtung der erbsündlichen Verfaßtheit des Menschen.“ 523 Pr. V 24, S. 99, Z. 2–6: „Etteliche verblibent ouch also daz sú in der sssekeit vallent in unrechte friheit; und in disem lust und bevindende so widerbiget die nature uf sich selber mit behendekeit und besitzet sich selber do, darz daz der mensche geneiget ist vor allen dingen, und verlot sich uf daz gewar werden.“ Anders als der ‚Frankfurter‘ identifiziert Tauler die freigeistige Häresie also nicht mit der menschlichen Natur, sondern mit deren ‚Rückbeugung‘ auf sich selbst. 524 Pr. V 36, S. 137, Z. 10–13.
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von weiß eß nichts vnd ist ym eyn spott, vnd das ist wol billich. Wan natur als natur magk hie czu nicht kommen, vnnd dann dis licht bloß natur ist, ßo magk eß auch hie czu nicht kommen.525
Die Unfähigkeit des Menschen, den Beschränkungen seiner Kreatürlichkeit zu entrinnen, resultiert aus dem Wahn des ‚falschen Lichts‘ – im ‚Frankfurter‘ Synonym für die natürliche Vernunft526 –, zur Erkenntnis Gottes aufsteigen und damit selbst einen göttlichen Status erlangen zu können: „Vnd eß ist ware, das got von nicht bekant wirt den von gote. Vnd ßo eß wenet, eß bekenne got, ßo wenet eß auch, eß sey got […].“527 Aufgrund dieser Falscheinschätzung übt das ‚natürliche Licht‘ eine ebenso verfehlte Leitungsfunktion für die menschliche Liebe aus, die es anstatt zu Gott zu sich selbst – als vermeintlichem Gott – hinführt: „Vnd eß hat bekennen vor das beste vnd vor das edelste vnd dar vmmb leret eß die liebe, sie solle das bekennen vnd wissen liep han fr das beste vnd edelste.“ Als Resultat kreist die menschliche Liebe in sich selbst, anstatt dem wahrhaften summum bonum zuzustreben: „Vnd natur als natur vormag ader weiß anders keyne libe den dieße, wan wer eß kan gemercken, ßo hat natur als natur nichts lieb den sich selber.“528 Und daher erliegt die menschliche Natur nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ jenem kontinuierlichen Selbstbetrug, aus dem es für sie kein Entkommen gibt: Kurtzlich alles, das betrogen werden mag, das muß betrogen werde von dissem falschen lichte. Syder nu alles, das betrogen wirt von dissem, das betrogen werden mag, vnd alle creaturen vnd naturen vnd alles, das nicht got ader gotlich ist, mag betrogenn werde, vnd diß licht dann selber natur ist, so ist eß mugelich, das eß betrogen werde. Dar vmmb wirt eß vnd ist betrogen von ym selber.529
Indem der ‚Frankfurter‘ nicht zwischen dem ‚Annehmen‘ als corruptio der Natur und der Natur selbst unterscheidet, überschreitet er einmal mehr die Grenze zum
525 Kap. 40, S. 127, Z. 62–S. 128, Z. 72. 526 Kap. 42, S. 132, Z. 7–8: „Eyn itzlich libe muß von eyme lichte ader bekentniß geleret vnd geleitet werden“; ebd., Z. 12: „Nu ist vor gesagt, das daß falsch licht naturlich vnd natur ist“; ebd., S. 133, Z. 29–30: „[…] wan das falsch, naturlich licht libet seyn bekennen vnnd wissen, das eß selber ist […].“ 527 Kap. 42, S. 133, Z. 37–38. 528 Kap. 42, S. 134, Z. 61–63. Vgl. auch Kap. 42, S. 133, Z. 34–36: „Vnd also steiget *eß [das natürliche Licht] vnnd clymmet eß also hoch, das eß wenet, eß bekenne got vnd luter, einfeldige warheit, vnd ßo libet eß yn ym selber.“ 529 Kap. 40, S. 127, Z. 36–41. Vgl. auch Kap. 42, S. 132, Z. 12–16: „Nu ist vor gesagt, das daß falsch licht naturlich vnd natur ist. Dar vmmb ist syne eigen vnd ym gehoret czu alles das, daß naturen eigen ist vnd ir czu gehoret, das ist: jch, myne, mir, diß, das, des vnd des gleich, vnd ist doch das beste vnd alles ich, myn, mir vnde des glich. Vnd dar vmmb muß eß betrogen seyn an ym selber vnd falsch […].“ Zum Selbstbetrug der menschlichen Natur siehe auch Kap. 2.2.2.1, S. 117.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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‚Manichäismus‘. Taulers Anthropologie dagegen bleibt im Rahmen der Orthodoxie, laviert aber – ähnlich dem späten Augustinus530 – zwischen Anerkennung und Verwerfung der natura hominis. Denn ungeachtet seines Insistierens auf der durch die Inkarnation zusätzlich geadelten Gutheit der Natur531 zieht sich durch die Predigten des Dominikaners doch eine Reihe von Motiven, die ihn in unmittelbare Nähe zum ‚Frankfurter‘ bringen. Neben der bereits besprochenen Tendenz zur Substantialisierung des ‚Annehmens‘, die sich auch durch die Kopplung an den Begriff der ichtikeit bestätigt, gehört dazu Taulers beständiger Aufruf zur Überwindung, ja Abtötung der Natur: „Do mstu natur mit natur tten und úberwinden.“532 Ferner spielt die Allgegenwart des Teufels eine zentrale Rolle in den Predigten des Straßburgers. Zwar sieht er – wiederum in Entsprechung zur augustinischen Erbsündenlehre533 – davon ab, Natur und Teufel miteinander zu identifizieren; er betont jedoch die natürliche Affinität des Menschen gegenüber den Einflüsterungen des Feindes: Wels ist dis schedelich gerúne des vijendes? Das ist alle die unordenunge die dir in lúchtet und in sprichet, es si mit minnen oder mit meinungen der creaturen oder es si die welt und
530 Siehe dazu die Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels, S. 183–185. 531 Ganz im Sinne Eckharts spricht Taulerpredigt V 1 von „der gegtteter menschlicher naturen“. Ebd., S. 8, Z. 3–4. 532 Pr. V 3, S. 17, Z. 14–15. Vgl. auch Pr. V 16, S. 75, Z. 9–12; Pr. V 32, S. 121, Z. 8–10; Pr. V 33, S. 130, Z. 20–28; Pr. V 47, S. 213, Z. 32–33. Siehe z. B. auch Seuse (hg. Bihlmeyer): Pr. 4, S. 533, Z. 5–8: „Alse lange ein drope bludes in dir iz ungedodet und unuberwunden, so gebrichet dir. Dis sprichet der minnekliche sente Paulus: ‚vivo ego, iam non ego, ich leben, niet ich, sunder Christus lebet in mir‘“; Pfeiffer II, Traktat X, S. 494, Z. 28–32: „Diu dritte armuot des geistes ist, der des geistes ist, dâ inne getœtet ist alliu ir nâtiurlicheit, daz alliu diu lobelicheit der nâtûre alzemâle gestorben ist unde lebet niht mêr an ir wan der geist gotes. Dar über sprichet sant Paulus ‚ich bin tôt unde lebe doch; aber des ich lebe, daz lebet Kristus in mir.‘“ Dasselbe Paulus-Zitat (Gal 2, 20) verwendet der ‚Frankfurter‘ im 45. Kapitel, um die Notwendigkeit einer Verinnerlichung der vita Christi herauszustellen, die mit der Zerstörung der menschlichen Natur einhergehen muss. Siehe dazu die Ausführungen oben in Kap. 2.2.3.3, S. 162. Indessen sollte man nicht vergessen, dass der Tod der Natur je nach anthropologischem Kontext verschieden ausgelegt werden kann. Das ‚Buch geistlicher Armut‘, das ja die Gutheit der Natur gegen alle ihre Verunglimpfer vehement verteidigt, betont, dass das geistliche Sterben nicht gegen die Natur als solche, sondern gegen die Laster gerichtet ist. Siehe ebd. (hg. Denifle), S. 107, Z. 16–19: „[…] wanne unſer nature von adams val vol iſt gebreſtlicher neigunge, und die neigunge ms verdilget werden mit ſterben; und wan die niemer kan ʒ grunde verdilget werden, und da von ms man allewegent ſterben.“ Diese Differenzierung dürfte – mit Ausnahme des ‚Frankfurter‘ – auch auf die anderen genannten Schriften zutreffen, insofern auch in diesen die intrinsische Gutheit der Natur nicht infrage gestellt wird. 533 Vgl. z. B. c. ep. Pel. I, VI, 11: „[…] et propter hoc esse [gemeint sind die ungetauften Kinder] sub diabolo, nisi renascantur in Christo, quoniam diabolus culpae auctor est, non naturae […].“
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was der anhaft: gt oder ere, frúnt oder moge und din eigen nature und was dir in bildet minne oder gunst der creaturen: mit allem disem hat er sin gerúne, wan er ist alle zit bi dem menschen.534
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die folgende Passage, die im Vergleich mit Meister Eckhart und dem ‚Frankfurter‘ auf eine weitere Verschiebung im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts verweist, und zwar hinsichtlich des bereits erläuterten Zentralthemas der Bildlehre.535 Tauler stellt hier die teuflische Mutation einer bewusst dem Kreatürlichen zugeneigten Seele dar: Und her wider umbe, der eine sele sehe in irem grunde die willeklichen ir minne und iren grunt nach creaturen hant geverwet, ane allen zwivel si enwere nút anders geschaffen denne der túfel, der doch als grúwelich und als unlidelich geschaffen ist: wer das in ein ieklich mensche solte sehen in sinem rechten bilde, si zerstúben alle von der grúwelicheit, und in der grúwelicheit sol die sele selber eweklichen in an sehen ane ende und ane underlos, ist das si in dem grunde der creaturen fúnden wirt also unnútzlich und engstlich als der túfel ist.536
534 Pr. V 44, S. 191, Z. 23–28. Vgl. etwa auch Pr. V 48, S. 214, Z. 23–28: „[…] wan der vigent der tt alle sine liste und behentkeit dar z ane underlos, das er uns verleite und eweklich verderbe, und nimet sterklichen war wo er eine stunde oder einen genblick vint das wir nút flis der andacht enhan und einer vensteren offen vergessen unserre usserer sinne und uf unserre hte nút enston; alzehant so slichet er in und stilt uns alles unser gt.“ Die Allgegenwart des Teufels ist auch in der ‚Gottesfreundliteratur‘ von zentraler Bedeutung. Insbesondere wird die Verführbarkeit der menschlichen Natur hervorgehoben, ohne dass der Schritt zu ihrer endgültigen Diabolisierung getan würde. Vgl. etwa Merswin: Neun-Felsen-Buch (hg. Strauch), S. 87, Z. 29–36: „Der menſche ſprach: sage mir, herceliep mins, was iſt der sachen das diese menſchen nút fúrbas ufgont geggen irme urſprunge? Die entwrte ſprach: das wil ich dir sagen, diese menſchen hant in den besen geiſt einen angel gelosen in ire nattre werfen, domitte er si hebbet und gefangen het das si nút fúrbas ufgont uffe die nehhere ſtrose die get z irme urſprunge.“ Während die Natur hier noch passiv dem teuflischen Wirken ausgesetzt ist, das den Menschen an der Fortsetzung seines Vervollkommnungswegs hindert, erscheint sie bereits wenige Seiten später als dem Teufel gleichwertige aktive Macht, die auf Zerstörung des Seelenheils ausgerichtet ist. So heißt es über jene Menschen, die vom vierten Felsen herabgestürzt sind: „[…] und do si fúrbas uf solthent sin gangen, do liesent si sich den besen geiſt und ir selbes eigin nattre ueberwinden“ (ebd., S. 100, Z. 23–25). Eine ähnliche Parallelisierung von Teufel und Natur findet sich in Merswins Schrift ‚Von einem eigenwilligen Weltweisen‘ (hg. Strauch), S. 56, Z. 16–18: „[…] das du der naturen heimelichen gesch und des túfels listige behendikeit merckende und bekennende wurst.“ Siehe ferner ‚Buch geistlicher Armut‘ (hg. Denifle), S. 13, Z. 37–38: „[…] und daʒ iſt von dem bſen geiſte und von liplicher natur […]“; ebd., S. 14, Z. 14– 15: „[…] und daʒ iſt ouch von den bſen geiſten und von liplicher natur […].“ Von hier aus ist es nur noch ein Schritt bis zur Position des ‚Frankfurter‘. 535 Vgl. Kap. 2.2.3. 536 Pr. V 37, S. 146, Z. 27–35.
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Die von Tauler gewählte expressive Bildlichkeit verdeckt nahezu den philosophisch-theologischen Gehalt des Gesagten. Dabei ist dieser im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ an Dramatik kaum zu überbieten, thematisiert die Predigt doch nichts anderes als den Verlust der imago Dei. Dass die Möglichkeit einer solchen Einbuße hier überhaupt ausgesprochen werden kann, verweist auf einen eklatanten Unterschied zu Eckharts Bildlehre, der weit über eine bloße Umakzentuierung hinausgeht: Während Eckhart den Seelengrund vor jeglichem kreatürlichen Zugriff schützt, indem er ihn als mit Gott wesensidentisch aus dem göttlichen Grund hervorfließen lässt,537 obliegt die Pflege des Seeleninnersten in Taulers eher moralisch als ontologisch ausgerichteter Lehre dem Menschen. Aus Eckharts unum in anima538 – das nicht als Seelenkraft, sondern als unverfügbare, damit aber auch unverlierbare Gottesgegenwart im Innersten der Seele zu verstehen ist – wird in Taulers Interpretation das unum animae als intimster und wertvollster, aber kreatürlicher und durch den Menschen korrumpierbarer Bestandteil der Seele.539 Nur unter der Voraussetzung, dass sich der Mensch von den Kreaturen abwendet, spiegelt der Seelengrund die Trinität wider, ansonsten wird er zum Ebenbild des Teufels.540 Indem Tauler die Eckharts Lehre tragende Absolutheit des Gottesbezuges aufgibt und zusätzlich die Verdorbenheit der natura hominis bis hin zur Gottesfeindschaft des Menschen betont, bewegt er sich einen entscheidenden Schritt auf den ‚Frankfurter‘ zu, der mit der Eliminierung der ontologischen Gotteben-
537 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in Kap. 2.2.2.2, S. 129–130 mit Anm. 235 und 236. 538 Vgl. Pr. Q 12, DW I, S. 197, Z. 8–9: „[…] als ich mêr gesprochen hân, daz etwaz in der sêle ist, daz gote alsô sippe ist, daz ez ein ist und niht vereinet.“ 539 Zur Geschaffenheit des gemüete bzw. des ‚Seelengrundes‘ in Taulers Lehre siehe auch Büchner: Die Transformation, S. 104, Anm. 352; Gandlau: Trinität, S. 50–51; Gnädinger: Johannes Tauler, S. 245; Zekorn: Gelassenheit, S. 46. Zum unum animae siehe ferner die Ausführungen oben in Kap. 2.2.2.2, S. 122–124. 540 Von größtem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das ‚Buch geistlicher Armut‘ (hg. Denifle), das sich ungeachtet seiner Ablehnung gegenüber allen Verächtern der natura hominis in einem entscheidenden Punkt in unmittelbare Nähe des ‚Frankfurter‘ begibt: Es treibt die Substantialisierung der sündhaften Selbstbezogenheit – hier als eigenschaft und wolgevellicheit bezeichnet – so weit, dass der Mensch seine ursprünglich gute in eine teuflische Natur zu verkehren vermag (ebd., S. 31, Z. 40–S. 32, Z. 4): „Aber daʒ an natúrlichen menſchen ʒ ſchelten iſt, daʒ iſt daʒ ſie uf in ſelber blibent und ſich mit eigenſchaft und wolgevellicheit ir ſelbes beſitʒent. Und daʒ ſint ſchedeliche menſchen, wan ſie wandelent ir menſchliche nature in ein túfelſche natur.“ Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt, wobei nochmals die Identität des sündhaften Menschen mit dem Teufel bekräftigt wird (ebd., S. 32, Z. 12–14): „Und dar umb iſt ſúnde alſe bſe, wan ſie uʒ einem engel machet einen túfel, und uʒ einem menſchen machet einen túfel.“ Der Unterschied zum ‚Frankfurter‘ besteht in der Wahlfreiheit des Menschen, der die Natur nur willentlich ihrer genuinen Gutheit berauben kann.
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bildlichkeit und der Identifikation von Teufel und Natur den diskursiven Transformationsprozess zu seinem Abschluss bringt.541 Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf die vita Christi: Während Eckhart aufgrund des in der Inkarnation verliehenen unzerstörbaren Adels der menschlichen Natur auf eine exemplarische Rolle Christi als sinnlich wahrnehmbares Lebens- und Leidensvorbild verzichtet, verbindet sich Taulers Lehre von der konstanten Gefährdung der in sich guten Natur542 mit der Überzeugung, dass allein die Orientierung am
541 Zwischen Taulers Lehre von der Korrumpierbarkeit des Seelengrundes und der Diabolisierung des Menschen durch den ‚Frankfurter‘ ist das Buoch von dem grunde aller bôsheit (hg. Pfeiffer) anzusiedeln, das in seiner schroffen Einseitigkeit unserem Traktat sehr nahe kommt. Statt des göttlichen oder gottähnlichen Seelengrundes wird in dieser kleinen Schrift ein bösartiger, trügerischer ‚Grund‘ in der Seele vorgestellt, der wie das ‚natürliche Licht‘ im ‚Frankfurter‘ nichts von seiner eigenen Bosheit weiß, da er mit ihr identisch ist: „wan diser grunt weiss niht von sîner bôsheit, diu er selber ist“ (ebd., S. 461, Z. 1–2). Kennzeichen dieses ‚Grundes‘ ist seine Selbstbezogenheit, die er aufgrund seiner Unfähigkeit zur Selbstreflexion für Gottesbezogenheit hält, so dass er sowohl sich selbst als auch andere unaufhörlich betrügt (vgl. ebd., S. 454, Z. 23–30). Einer solch unentrinnbaren Selbst- wie Fremdtäuschung unterliegt auch der ‚natürliche‘ Mensch im ‚Frankfurter‘. Zum Ausdruck gebracht wird die Selbstbezogenheit des grundes mittels der Termini ‚Annehmen‘ (vgl. ebd., S. 454, Z. 33) und ‚Eigenschaft‘ (vgl. ebd., S. 461, Z. 37) – hier ist die diskursive Nähe zu Tauler und dem ‚Frankfurter‘ unverkennbar. Anders als der ‚Frankfurter‘, der die menschliche Natur als solche für teuflisch erklärt, scheint der grunt aller bôsheit jedoch nur eine Komponente des Menschseins auszumachen, die zwar nicht ausgemerzt, aber kontrolliert werden kann (vgl. ebd., S. 461, Z. 22–32; jeweils eigene Zeilenzählung). In dieser Hinsicht besteht eine Analogie zu Taulers „widerbigen uf sich selber“ (siehe das Zitat oben, S. 198). 542 Exemplarisch für Taulers ständiges Lavieren zwischen Herabsetzung und Würdigung der Natur ist die folgende Passage aus Predigt V 60h (S. 322, Z. 11–S. 323, Z. 9): „Nu het der minnencliche erbarmherzige Got die tugent alzmole gesenket in unser nature, wie er das bekante das uns diser dinge also notdurftig ist, und so hat er uns dis also heimlichen und in diseme dinge ein grosse sipschaft geben und das edele gotvar fúnckelin, das uns vil innewendiger und noher ist denne wir uns selber, und uns gar frmde und unbekant ist umb unsere hochfart. Obe die nature nu in einer ordenunge stunde, so fundent wir die materie diser tugende in uns one underlos […]. O, der wol bi ime selber blibe und ime selber heimelich were, wie grundelosecliche fúnde er sich in dem súntlichen gebresten, und vindet wol wie one mosse sine nature in disem gebresten stot; und behte sú Got nút, wie krang, wie vellig, wie geneiglich dis ist one alles ende, unbegriffenlich, und wol endet diser gebreste in dem ewigen tode und in der helle z wonende mit den túfeln. Nu mercke, ist dis nút grosse materie z demtekeit? Uf dise tugent wiset uns unser nature, wo wir uns anesehent indewendig oder ussewendig, das wir bevindent daz wir nút gtes hant noch vermúgent […]. Das ist ein jemerlich ding das der mensche sin edel art also verkert und daz neigeliche werg siner nature kert z den creaturen und lot den schöppfer der naturen.“ Durch das in sie eingesenkte edele gotvar fúnckelin ist die Natur zwar positiv bestimmt, zugleich unterliegt sie aufgrund der Neigung zu den Kreaturen jedoch dem súntlichen gebresten, dem nur durch eine kontinuierliche Demutshaltung begegnet werden kann. Zur Demutstheologie des ‚Frankfurter‘, die auf der paradigmatischen Achse derjenigen Taulers äquivalent ist, auf der syntagmatischen Ebene jedoch in diskurssprengende Aussagekonstellationen eingebunden wird, siehe Kap. 2.2.2.2, S. 127–128 mit Anm. 226 sowie Kap. 3.3.2.3.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Mensch gewordenen Gottessohn – oder an den ‚Gottesfreunden‘ als seinen legitimen Nachfolgern – die Aufrechterhaltung der innerseelischen imago Dei gewährleisten kann, indem sie den Menschen im Rahmen des Möglichen von der annemlicheit befreit. Im ‚Frankfurter‘ schließlich wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen exklusiv an das Christusleben gebunden, insofern dessen Aneignung die imago Dei überhaupt erst erstehen lässt. Abschließend sei noch auf ein Detail der taulerischen Lehre hingewiesen, das für die Verschiebungen innerhalb der Anthropologie der ‚deutschen Mystik‘ dennoch signifikant ist. Wie gezeigt, ist die ausgesprochen häufige AugustinusZitation in mystischen Predigten und Traktaten des vierzehnten Jahrhunderts an jene Form augustinischer Spiritualität gebunden, die auf die Intimität und Innerlichkeit des Gott-Mensch-Verhältnisses zielt und daher die in der Gottesgeburt im Seelengrund verwirklichte ontologische Verbindung von Schöpfer und Geschöpf in den Vordergrund stellt. Die zunehmende Einführung antipelagianischer Elemente wird dagegen in der Regel nicht mit dem Namen des Augustinus in Verbindung gebracht. Auch der ‚Frankfurter‘ meidet ja jegliche Nennung des Kirchenvaters und fügt sich damit trotz seiner diskursiven Innovationen in einen Grundkonsens ein.543 Tauler allerdings lässt zumindest vereinzelt durchblicken, dass ihm auch ein anderer Augustinus bekannt ist als jener, der die Gottebenbildlichkeit des Menschen feiert. Anders als Meister Eckhart, der zwar auch Aussagen aus augustinisch-antipelagianischen Schriften übernimmt, diese aber durch die Integration in seine eigene Lehre zu Zeugnissen einer naturhaft-menschlichen Gottzugewandtheit umfunktioniert,544 akzeptiert er den Kirchenvater als Verächter des Menschen: […] wanne wir von naturen sint kinder des zornes und des ewigen todes und wúrdig des ewigen verdmpnisses von unsern wegen. – Sant Augustinus sprach: ‚der mensche ist von einer fulen materien stinckende und verderbende, ein klotz und ein ful ertrich, des ende ist der ewige tod; daz úberkummet man mit dem lebende der penitencien, und daz úch der minnencliche Got geladen und gerffet hat von siner frigen lutern minnen sunder alles verdienen‘.545
Welches Fazit ist zu ziehen? Hinsichtlich der Bewertung der menschlichen Natur zeichnet sich im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts ein Prozess ab, der von der ungebrochenen Wertschätzung bei Meister Eckhart über Johannes Taulers Lavieren zwischen Hochachtung und Verwerfung bis zur kompromiss-
543 Vgl. Kap. 2.2.3.3, S. 160. 544 Siehe dazu oben, Kap. 2.2.2.1, S. 112–114. 545 Pr. V 12, S. 59, Z. 24–30.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
losen Ablehnung im ‚Frankfurter‘ führt. Insofern der Straßburger Prediger aufgrund seiner Umformung der Seelengrund-Lehre sogar den Verlust der natürlichen Gottebenbildlichkeit für möglich erklärt, bewegt er sich auf den ‚Frankfurter‘ zu, ohne dessen Rigorismus jemals einzuholen. Vielmehr integriert Taulers Konzeption einer durch das peccatum originale zwar schwerstgeschädigten, aber trotzdem genuin guten Natur die augustinische Erbsündenlehre in die ‚deutsche Mystik‘,546 wobei eine Tendenz zur ‚Substantialisierung‘ menschlicher Sündhaftigkeit allerdings unverkennbar ist. Dennoch offenbart gerade Taulers Schwanken zwischen Anerkennung und Herabwürdigung der natura hominis sein Bemühen um Aufrechterhaltung der Grenze zum ‚Manichäismus‘, die der ‚Frankfurter‘ durch seine Identifikation von Natur, Teufel und Sünde überschreitet. Der durch die Adaption der augustinischen Erbsündenlehre gegebene korrelative Bezug der Taulerpredigten zu den antipelagianischen Schriften wird entscheidend dadurch relativiert, dass das Œuvre des Straßburgers zugleich an der Intimität von Gott und Mensch festhält, wie sie in der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ grundgelegt ist. Die Lehre von der Gottesgeburt im Seelengrund, von der darin vollzogenen Sohnwerdung des Menschen und seiner Aufnahme in die trinitarische Dynamik lassen sich nicht aus dem Predigtkorpus eliminieren – wie die frühneuzeitliche Tauler-Rezeption erweist, jedoch sehr wohl ignorieren.547 Bei der Einnahme einer Lektürehaltung, die dezidiert auf das Aufspüren antipelagianischer Motive ausgerichtet ist, kann der ‚Frankfurter‘ insofern als Kompendium der Tauler-Predigten erscheinen, als er deren negative Anthropologie in einer verschärften Form übernimmt. Dass er damit jene rote Linie überschreitet, die sowohl Augustinus als auch Johannes Tauler vom ‚Manichäismus‘ trennt, lässt sich dabei leicht übersehen, da der Traktat seine Transgression nicht reflektiert, sondern durch die Einbettung in orthodoxiekonforme Aussagen kaschiert.
546 Taulers Werk ist so durchzogen von der „Spannung zwischen der immer-schon den grunt prägenden Anwesenheit der Dreifaltigkeit und einer erst in den Menschen gelangenden Gegenwart Gottes, die als qualitativ höher angesehen wird“ (Zekorn: Gelassenheit, S. 62). Erstere garantiert die Gutheit der Natur; Letztere ist nur durch bewusste Abwendung des Menschen von seiner natürlichen Selbstbezogenheit zu erreichen. Man beachte die Analogie zur doppelten Bildlehre des Augustinus (vgl. dazu Kap. 2.2.3.6). 547 Vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Siehe auch die Ausführungen oben in Kap. 1.2.2, S. 33–34.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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2.3.2 Die Befähigung des Menschen zum Guten als subjektiver Wahn oder heilsökonomisches Faktum? 2.3.2.1 gelâzenheit versus Verdienststreben innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ Mit der offiziellen Anerkennung der augustinischen Erbsündenlehre und der Verwerfung des Pelagianismus548 gewann die Frage, ob und wie ein vollkommen der Sünde anheimgegebener Mensch als moralisches Subjekt auftreten, also einen ethischen Freiraum des selbst verantworteten Handelns für sich beanspruchen kann, eine zuvor nicht gekannte Dringlichkeit. Eine derartig kompromisslose Verwerfung der Entscheidungsfähigkeit zum Guten, wie sie Augustinus in den antipelagianischen Schriften propagiert hatte, vermochte sich in der christlichabendländischen Theologie und Seelsorge in den folgenden Jahrhunderten nicht durchzusetzen,549 hätte sie den Menschen doch jeglicher Möglichkeit beraubt, willentlich und wissentlich auf sein Endziel hinzustreben und ihn stattdessen einem rational wie emotional unnahbaren Willkürgott ausgeliefert.550 Zudem musste eine deutliche Abgrenzung zum Manichäismus gewährleistet sein, was bei der Annahme einer vollständigen Sündenverfallenheit der menschlichen
548 Der Pelagianische Streit, der sich in mehrere Phasen untergliedern lässt (vgl. dazu die einander ergänzenden Beiträge von Drecoll [Die Auseinandersetzung], Löhr [Der Streit] und Lössl [Die Auseinandersetzung]), nahm seinen Anfang im Jahr 411 in Karthago und endete mit der Verurteilung Julians von Aeclanum sowie einiger weiterer Anhänger von Pelagius und dessen Schüler Caelestius auf dem Konzil von Ephesus (431). Augustinus war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Seine Initiative hatte jedoch dazu geführt, dass der allgemein geachtete Asket und Lehrer christlicher Sittlichkeit Pelagius bereits im Jahre 418 dreifach verurteilt worden war: durch den Kaiser, das Konzil von Karthago und den römischen Bischof Zosimus. Zu den Ursprüngen des Pelagianischen Streits siehe Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 11–12. Den Verlauf der Auseinandersetzung unter besonderer Berücksichtigung der antipelagianischen Schriften des Augustinus skizziert Quero-Sánchez: Über die Dankbarkeit, S. 42–45, Anm. 17. Zu den Konzilien, die sich mit der pelagianischen Lehre befasst haben, siehe Sieben: Augustinus-Rezeption, bes. S. 164–166, 168–169. Vgl. zum Pelagianischen Streit ferner Schindler: Art. ‚Augustin/Augustinismus‘ I, S. 654; Flasch: Augustin, S. 176–179. 549 Siehe dazu Kap. 2.2.1. Bereits zu Augustinus’ Lebzeiten löste seine Gnadenlehre gerade auch unter seinen Anhängern heftige Diskussionen aus. Vgl. Drecoll: ‚Ungerechte Gnadenlehre‘, bes. S. 30–37. Siehe auch ders.: Mens, S. 148–149. Nach Augustinus’ Tod wurde die Gnadenlehre dann vielfach so relativiert, dass sie auch ‚pelagianischen‘ Positionen Raum bot. An der offiziellen kirchlichen Verurteilung der Pelagianer änderte dies allerdings nichts. Vgl. dazu Lössl: Die Auseinandersetzung, S. 202. 550 Der Eindruck der Willkür entsteht jedoch nur auf menschlicher Seite. Jedenfalls beharrt Augustinus darauf, dass Gott gerecht handelt, auch wenn dies von unserer Natur her nicht einsichtig ist. Vgl. dazu auch Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 28.
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Natur schwierig wurde – Augustinus hatte diese Erfahrung in den erbitterten Auseinandersetzungen mit Julian ja selbst machen müssen.551 Andererseits erwies es sich als ebenso dringlich und unumgänglich, eine klare Distanz zum Pelagianismus zu schaffen, die Verdienstfähigkeit des Menschen und seine natürliche Ausrichtung auf Gott hin also keinesfalls zu optimistisch zu beurteilen. Die Lösungen für das Problem, die Macht des peccatum originale anzuerkennen, ohne den Erlösungsanspruch des auf Gott zustrebenden Menschen preiszugeben, fallen je nach historischem, literarischem und soziokulturellem Kontext zwar unterschiedlich aus. Im Kern geht es jedoch stets darum, die heilsökonomischen Voraussetzungen für ein Zusammenwirken von Gott und Mensch zu begründen, das dem Menschen zwar einen ethischen Freiraum gestattet, diesen jedoch dadurch einschränkt, dass er von Gott gewährt werden muss.552 Die Frage nach der natürlichen Fähigkeit des Menschen zum Guten ist auch fester Bestandteil des ‚mystischen Diskurses‘. Einerseits scheint dies angesichts seiner Zugehörigkeit zum philosophisch-theologischen Diskurs kaum verwunderlich, wird die Problematik doch gerade im vierzehnten Jahrhundert heftig – und ausgesprochen kontrovers – diskutiert:553 Der insbesondere von nominalistisch geprägten Theologen vertretenen Überzeugung, dass Gott sich vor aller Zeit unverbrüchlich zur Treue gegenüber dem Menschen und damit zur Anerkennung von dessen moralischen Anstrengungen verpflichtet habe,554 stehen in äußerster Ablehnung die Vertreter der schola Augustiniana moderna gegenüber, die gegen
551 Vgl. oben, Kap. 2.3.1, S. 183–184 mit Anm. 458. 552 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. 2.3.4. Augustinus selbst lehnt einen solchen Freiraum ab, da er eine Abhängigkeit Gottes von menschlichen Werken bedeuten würde. Vgl. Drecoll: ‚Ungerechte Gnadenlehre‘, S. 37. Die damit verbundene Aufgabe des Lohngedankens erschien bereits Augustinus’ Zeitgenossen – etwa den Mönchen aus dem Kloster Hadrumetum – problematisch (vgl. ebd., S. 35) und ließ sich nach Augustinus’ Tod nicht in ihrer ursprünglichen Konsequenz durchsetzen (siehe auch oben, Anm. 549). Zur Verwerfung eines gemeinsamen Wirkens von Gott und Mensch durch den Kirchenvater vgl. auch Flasch: Logik des Schreckens, S. 28, 47–48. 553 Vgl. zur Bedeutung der Diskussion um Gnade und Willensfreiheit an der theologischen Fakultät der Universität Paris z. B. Burger: Freiheit zur Liebe, bes. S. 23. 554 Oberman weist in diesem Zusammenhang auf die Präszienzlehre der Nominalisten hin, wonach Gott das zukünftige Verhalten der Erwählten und der Verworfenen nicht determiniere, sondern nur voraussehe. Vgl. Iustitia Christi, S. 417. Aufgrund dieser Ablehnung einer praedestinatio ante praevisa merita, also einer verdienstunabhängigen Prädestination, komme dem sittlichen Verhalten des Menschen in nominalistischen Kreisen überaus große Bedeutung zu. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass die Zugehörigkeit zur via moderna nicht automatisch mit einer Anerkennung der menschlichen Fähigkeit zum Guten einhergehen muss. Das beste Beispiel dafür bietet Gregor von Rimini (vgl. ebd., S. 417). Zur Akzeptanz des menschlichen Handelns aufgrund göttlichen Entgegenkommens siehe auch Kap. 2.3.4, bes. S. 257–261.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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solches ‚Pelagianisieren‘ die Gnaden- und Prädestinationslehre des späten Augustinus in ihrer ganzen Härte zur Geltung zu bringen suchen.555 Andererseits gibt das Eindringen dieser Fragestellung in die mystische Traktat- und Predigtliteratur durchaus Anlass zum Erstaunen, scheint das Proprium der ‚deutschen Mystik‘ – die unio von Gott und Mensch – doch jegliche Debatte über das moralische Leistungsvermögen des Menschen auszuschließen. Denn dass der Mensch nur dann in die göttliche Einheit eingehen kann, wenn er auf jegliches eigene Streben verzichtet und in vollkommener ‚Gelassenheit‘ das Wirken Gottes erleidet, gehört zu den Standardaussagen des ‚mystischen Diskurses‘. Dies gilt auch für den ‚Frankfurter‘, der seiner Lehre von der Selbstzentriertheit des Menschen entsprechend dessen Unwillen zum passiven Gottleiden herausstreicht und diese Renitenz mit der Kardinalsünde des annemens begründet.556 Der an sein ‚Ich‘ gebundene Mensch müsse daher in einem Zustand der Unerlöstheit verharren: Vnnd yn disser widerbrengunge vnd besserunge enkan ich ader enmagk ader ensal nichts nicht zu dem thun, sundern eyn bloß, luter leiden, also das got alleyne thu vnd wircke vnd ich leide yn vnd seyne werck vnd seynen willen. Vnd dar vmmb das ich das nicht leiden wil, sundern meyn vnd ich vnd mir vnd mich, das hindert got, das er nicht alleyne vnnd an hinderniß gewirkken magk. Dar vmmb bleibet auch meyn fal vnd meyn abkeren vngebessert. Sich, diß thut alles meyn annemen.557
Dass ungeachtet der Gelassenheitsforderung die Frage nach der Verdienstfähigkeit und damit nach den ‚guten Werken‘ des Menschen innerhalb der mystischen Prosaliteratur dennoch virulent ist, ergibt sich zum einen aus einer latenten Spannung innerhalb der Lehre Meister Eckharts, zum anderen aus den Transformationen des ‚mystischen Diskurses‘ im weiteren Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts. Wie bereits gezeigt, basiert Eckharts Lehre auf einer durchaus ‚pelagianisch‘ anmutenden Wertschätzung der menschlichen Natur. Diese positive Evaluation der natura hominis steht im Hintergrund von Eckharts augustinischer Spiritualität, die in ihren verschiedenen Aspekten stets darauf zielt, die unverbrüchliche Nähe von Gott und Mensch aufzuzeigen. Daraus ergibt sich jedoch zumindest unterschwellig ein Widerspruch zu Eckharts Zurückweisung jeglichen Versuchs, mittels der natürlichen Seelenkräfte auf Gott zuzustreben. Um diese Diskrepanz aufzufangen, muss der Thüringer seine Lehre so konzipieren, dass sie dem Menschen einen Raum der ethischen Selbstverantwortung gewährt, ohne ihm 555 An erster Stelle ist hier Gregor von Rimini zu nennen. Zu weiteren Theologen mit dezidiert antipelagianischer Ausrichtung siehe oben, Kap. 2.2.1, Anm. 103. 556 Siehe zu dieser Kardinalsünde Kap. 2.3.1, S. 193–195. 557 Kap. 3, S. 74, Z. 23–29.
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jedoch eine aktive Rolle beim Vollzug der unio zuzugestehen. Zudem verbietet es sich für Eckhart – anders als für die Theologen der schola Augustiniana moderna –, jene anthropologischen Entwürfe zu verdammen, die dem homo viator einen Eigenanteil beim Erstreben der ewigen Seligkeit zuerkennen.558 In der nacheckhartischen Mystik wird Eckharts Ablehnung jeglichen Verdienstdenkens zugunsten einer vollkommenen Interiorisierung des Göttlichen vielfach modifiziert. Ein Grund dafür dürfte die Verurteilung der eckhartischen Lehre durch die Amtskirche gewesen sein. Deren Abwehrreaktion gegenüber Eckharts Postulat einer Christuswerdung des Menschen, die mit der Aufgabe jeglichen natürlichen Wirkens einhergeht und damit keine rationale und voluntative Bewegung des Menschen auf Gott hin zulässt, schlägt sich deutlich in der Zensurierungsbulle In agro dominico nieder.559 Die verstärkte Ausrichtung der nacheckhartischen Predigten und Traktate auf die Möglichkeiten und Grenzen meritorischen Handelns wird zudem durch mindestens drei weitere Verschiebungen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ begünstigt und teilweise mitbedingt: Erstens ergibt sich aus der intensivierten Fokussierung der erbsündigen Verfasstheit des Menschen die Notwendigkeit, diesem eine Art geistlichen Lebensleitfaden zur Verfügung zu stellen, dessen freiwillige Befolgung zur Überwindung der naturhaften Defizite führt und mit der Glückseligkeit belohnt wird. Zweitens führt die Bekämpfung der freigeistigen Häresie,560 deren Anhängern topisch geistliche Hoffart und Antinomismus vorgeworfen werden, zur Propagierung einer Lebenshaltung kontinuierlicher Demut und Buße, die von Gott als Verdienst anerkannt wird. Drittens bringt die verstärkte Berücksichtigung pastoraler Bedürfnisse, denen zum Beispiel das seelsorgerliche Programm der Tauler-Predigten Rechnung trägt, eine Pragmatisierung des mystagogischen Anspruchs mit sich. Dazu
558 Siehe dazu die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.3.2.3, S. 228–230. 559 Man vergleiche die folgenden für übelklingend und häresieverdächtig erklärten Sätze. Enchiridion (hg. Denzinger), n. 970, S. 402: „Quod bonus homo est unigenitus Filius Dei“; ebd., n. 969, S. 402: „Deus animas amat, non opus extra“; ebd., n. 968, S. 402: „Afferamus fructum actuum non exteriorum, qui nos bonos non faciunt, sed actuum interiorum, quos Pater in nobis manens facit et operatur.“ Eckharts Ablehnung des Strebens nach himmlischem Lohn gilt sogar als eindeutig ketzerisch (es handelt sich um den achten Satz in der Bulle, in der die ersten fünfzehn Sätze sowie die beiden letzten Artikel [27 und 28] für häretisch erklärt werden). Der Artikel lautet (ebd., n. 958, S. 401): „Qui non intendunt res, nec honores, nec utilitatem, nec devotionem internam, nec sanctitatem, nec praemium, nec regnum caelorum, sed omnibus his renuntiaverunt, etiam quod suum est, in illis hominibus honoratur Deus.“ So lässt sich auch die Zensurierungsbulle als Hinweis darauf lesen, wie wenig Akzeptanz die augustinische Ablehnung jeglichen selbst verantworteten Verdienststrebens in der offiziellen Kirchenlehre gefunden hatte. 560 Diese wird in der vorliegenden Studie ausschließlich als Bestandteil des ‚mystischen Diskurses‘, nicht als außerliterarische Realität behandelt.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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gehört die Bereitstellung von Lebensmodellen, die das selbst verantwortete Streben des Menschen nach seinem Seelenheil zwar der Gnade Gottes unterstellen, zugleich jedoch seine Legitimität anerkennen. Diese drei Transformationsprozesse konvergieren in der omnipräsenten Aufforderung zur Christusnachfolge, die gemäß dem Herrenwort Ioh 14, 6561 als spiritueller Aufstiegsweg konzipiert wird. Dessen Beschreiten aber ist ohne die Akkumulation von Verdiensten, welche den geistlichen Vervollkommnungsprozess zugleich vorantreiben und dokumentieren, nicht denkbar.562 Ungeachtet der skizzierten Verschiebungen bleibt der ‚mystische Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts stets auf sein eigentliches Zentrum – die unio mystica als Vollendung des irdischen Daseins – ausgerichtet. Die nach der amtskirchlichen Verurteilung der eckhartischen Lehre drängende Frage nach dem Beitrag des Menschen zur Erreichung dieses Letztzieles konnte aufgrund der spannungsvollen Diskussionen um Sündenverfallenheit, Gnadenabhängigkeit und Verdienstfähigkeit keine eindimensionale Antwort finden. Vielmehr mussten die Lösungsversuche die zunehmende Fokussierung auf die naturgegebene Gottesferne des Menschen mit der Anerkennung seines meritorischen Strebens und der eckhartischen Lehre einer im Innersten der Seele gegebenen Gottesverwandtschaft in Einklang zu bringen suchen. Dies bedeutete zugleich, dass die augustinische Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ mit ihr widerstrebenden antipelagianischen Tendenzen, aber auch mit der ‚pelagianischen‘ Überzeugung von der Verdienstfähigkeit des Menschen vor Gott vermittelt werden musste. Dieses und die folgenden Kapitel563 werden die Diskussionen um den ethischen Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Menschen innerhalb der mystischen Prosa des vierzehnten Jahrhunderts sowie die damit einhergehenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten zumindest insoweit nachzuvollziehen suchen, als es für die Einordnung des ‚Frankfurter‘ in den ‚mystischen Diskurs‘ relevant ist.
2.3.2.2 Die Abweisung des Verdienststrebens bei Meister Eckhart und im ‚Frankfurter‘ Obgleich die konsequente Diabolisierung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ Meister Eckharts anthropologischem Optimismus diametral entgegensteht,
561 „Ego sum via et veritas et vita nemo venit ad Patrem nisi per me.“ 562 Zum Umgang der nacheckhartischen Mystik mit der Frage der moralischen Leistungsfähigkeit des Menschen siehe die Darlegungen weiter unten, Kap. 2.3.2.4. Dort werden auch die drei hier skizzierten Transformationsprozesse nochmals aufgegriffen. 563 Kap. 2.3.3–2.3.6.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
kommen der Traktat und die eckhartische Lehre dennoch in einer Hinsicht überein: Beide erkennen eine Verdienstfähigkeit des Menschen vor Gott im Sinne einer selbst verantworteten, auf der Verfügungsgewalt über die natürlichen Seelenkräfte Vernunft und Wille basierenden Moralität nicht an. Eckhart macht im Anschluss an den antipelagianischen Augustinus – und damit gegen die amtskirchlich legitimierte christliche ‚Normaltheologie‘564 – sehr deutlich, dass Gott sich nicht durch menschliche Werke beeinflussen lässt. Vielmehr sei jedes moralisch wertvolle Tun bereits Ausdruck der göttlichen Gnadenzuwendung.565 Jenes im Spätmittelalter weit verbreitete merkantile Denken, welches gute Werke gegen himmlische Barmherzigkeit einzutauschen sucht,566 ist nach Eckhart deshalb abzulehnen: An disem koufe sint sie [die ‚Kaufleute‘, welche durch gute Werke Gottes Gunst erwerben wollen] betrogen. Wan allez, daz sie hânt und allez, daz sie vermügen ze würkenne, gæben sie daz allez durch got, daz sie hânt, und würhten sich zemâle ûz durch got, dar umbe enwære in got nihtes niht schuldic ze gebenne noch ze tuonne, er enwolte ez denne gerne vergebene tuon. Wan daz sie sint, daz sint sie von gote, und daz sie hânt, daz hânt sie von gote und niht von in selber. Dar umbe enist in got umbe iriu werk und umbe ir geben nihtes niht schuldic, er enwellez denne genre tuon von sîner gnâde und niht umbe iriu werk noch umbe ir gâbe, wan sie engebent von dem irn niht, sie enwürkent ouch von in selber niht, als Kristus selber sprichet: ,âne mich müget ir niht getuon.‘567
Auf das Johanneszitat, welches Eckhart am Schluss der zitierten Passage zur autoritativen Stützung seiner Position heranzieht, verweist auch Augustinus immer wieder, um die Verdienstunfähigkeit des Menschen biblisch zu begründen.568 Die Zurückweisung meritorischer Überzeugungen zieht sich daher als augustinisch-antipelagianische Spur durch das Œuvre des thüringischen Dominikaners. Das Vertrauen auf die eigenen Kräfte bleibt für Eckhart stets Ausdruck einer Werkgerechtigkeit, die den Menschen gegen dessen Intention von Gott entfremdet, da sie mit eigenschaft behaftet ist und aus dem falschen Anspruch heraus erwächst, das Himmelreich durch eine selbst erbrachte Leistung zu erwerben.569
564 Vgl. oben, Anm. 559. 565 Eckhart versteht unter dieser Gnadenzuwendung allerdings keinen göttlichen Willkürakt, sondern die unverbrüchliche Menschzuwendung Gottes. Vgl. Kap. 2.3.4, S. 262 mit Anm. 762. 566 Vgl. Hamm: Den Himmel kaufen. 567 Meister Eckhart: Pr. Q 1, DW I, S. 7, Z. 7–S. 8, Z. 5. 568 Es handelt sich um Ioh 15, 5: „[…] sine me nihil potestis facere.“ Vgl. auch Kap. 2.2.3.6, Anm. 431. 569 Zur eigenschaft von Bußübungen, welche den Menschen von seinem göttlichen Ursprung entfernen, anstatt ihn zu ihm zurückzuführen, siehe Meister Eckhart: Pr. Q 52, DW II, S. 489,
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Damit aber degradiert sich der Mensch zum kneht oder mietling, dem die Vollendung seiner Natur in der Einheit mit Gott verwehrt bleibt.570 In der berühmten Forderung eines Handelns ‚ohne Warum‘ (sunder warumbe),571 die auch der ‚Frankfurter‘ aufgreift,572 findet Eckharts Ablehnung jeglichen Verdienststrebens ihren wohl prägnantesten Ausdruck. Dasselbe antipelagianische Motiv573 integriert der ‚Frankfurter‘, wenn er jedes auf einen (göttlichen) Lohn ausgerichtete Handeln für verfehlt erklärt: Noch ist eyn liebe, die ist czumal falsch, das ist, so man etwas libet vmmb lone, alßo man hette gerechtykeit lieb nicht vmmb gerechtikeit, sunder das man etwas da mit vberkumme vnd des glich.574
Z. 2–4: „Ze dem êrsten sprechen wir, daz der sî ein arm mensche, der niht enwil. Disen sin enverstânt etlîche liute niht wol; daz sint die liute, die sich behaltent mit eigenschaft in penitencie und ûzwendiger üebunge, daz die liute vür grôz ahtent.“ 570 Meister Eckhart: Pr. Q 39, DW II, S. 253, Z. 4–S. 254, Z. 3: „Der gerehte ensuochet niht in sînen werken; wan die iht suochent in irn werken, die sint knehte und mietlinge, oder die umbe einic warumbe würkent. Dar umbe, wilt dû în- und übergebildet werden in die gerehticheit, sô enmeine niht in dînen werken und enbilde kein warumbe in dich, noch in zît noch in êwicheit, noch lôn noch sælicheit, noch diz noch daz; wan disiu werk sint alliu wærlîche tôt.“ 571 Meister Eckhart: Pr. Q 41, DW II, S. 289, Z. 4–6: „In der wîse, als got würket, alsô würket ouch der gerehte sunder warumbe; und alsô als daz leben lebet umbe sich selben und ensuochet kein warumbe, dar umbe ez lebe, alsô enhât ouch der gerehte kein warumbe, dar umbe er iht tuo.“ Vgl. auch das Zitat in der vorhergehenden Anmerkung. Zur Formel sunder warumbe siehe auch Largier I, S. 746–748. 572 Vgl. das ‚Frankfurter‘-Zitat auf S. 221. 573 Vgl. z. B. Augustinus: nat. et gr. IV, 4 (CSEL 60, S. 235, Z. 23–25): „Haec igitur Christi gratia, sine qua nec infantes nec aetate grandes salui fieri possunt, non meritis redditur, sed gratis datur, propter quod gratia nominatur“; ders.: spir. et. litt. X, 16 (CSEL 60, S. 168, Z. 19–23): „per ipsam quippe iustificatur gratis, id est nullis suorum operum praecedentibus meritis –‚alioquin gratia iam non est gratia‘ –, quando quidem ideo datur, non quia bona opera fecimus, sed ut ea facere ualeamus, id est non quia legem impleuimus, sed ut legem implere possimus.“ Bei Augustinus – und ebenso im ‚Frankfurter‘ – ist die Ablehnung gegenüber jeglichem Verdienststreben durch die Schlechtigkeit des Menschen motiviert (zu Augustinus siehe Drecoll: ‚Ungerechte Gnadenlehre‘, S. 29). Bei Meister Eckhart indessen – dem Verehrer der menschlichen Natur – findet sich ein völlig anderes Begründungsmuster. Siehe dazu die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.3.2.3, bes. S. 221–224. Die erweiternde Redaktion der Frankfurter Handschrift C begründet die Unfähigkeit des Menschen zum Guten wie Augustinus – aber auch wie manche mystischen Prosatexte – mit den Bibelstellen Ioh 15, 5 und 1 Kor 4, 7 und intensiviert dadurch zumindest in dieser Passage die antipelagianische Signatur des Traktats. Siehe in der Edition von Hintens (‚Der Franckforterʻ [‚Theologia deutschʻ]) den Apparateintrag zu Kap. 5, Z. 7–12 auf S. 75. Vgl. auch oben, Anm. 568. 574 Kap. 42, S. 133, Z. 57–59.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Wer sich durch ein gottgefälliges Dasein Verdienste erhofft, ist keiner der „vßerwelten frunde gotis“,575 sondern ein irregeleiteter loner, das Synonym des ‚Frankfurter‘ für Meister Eckharts kneht oder mietling: Vnd wer Cristus leben dar vmmb hat, das er do mit etwas *vberkomen ader vordynenn wil, der hat eß also eyn loner vnd nicht von libe vnd hat seyn joch czumale nicht. *Wann wer eß nicht von libe hat, der hat syn nicht. Er mag wol wenen, er habe eß, er ist aber betrogen.576
Die verfehlte – da auf einen himmlischen Lohn für moralische Anstrengungen zielende – Instrumentalisierung der natürlichen Seelenkräfte bedeutet als Aktualisierung der Kardinalsünde des ‚Annehmens‘ immer auch zugleich die Abkehr von Gott: Nu mercke: Wan die creatur sich an nympt etwas guts als weßens, lebens, wissens, bekennens, vormugens vnd kurtzlich alles des, das man gut nennen sal, das sie das sey ader das eß yr sey ader yr czu gehore ader von yr sey, ßo keret sie sich abe.577
Dementsprechend stuft der Traktat das Vertrauen auf die eigene moralische Leistungsfähigkeit zum subjektiven Wahn herab, dem keine objektive Realität im Sinne eines von Gott gewährten ethischen Freiraumes entspricht.578 Die Freiheit zum Guten, die der Mensch für sich in Anspruch nimmt und zu einem verdienstvollen Handeln zu nutzen sucht, wird damit im augustinischen Sinne als Scheinfreiheit entlarvt: Das ich mich icht gutis an neme, das kumpt von wane, eß sey meyn ader ich sey eß. Were die warheit yn mir bekant, so wurde auch bekant, das ich eß nicht enbyn ader meyn nicht ist noch von mir vnnd des gleich, vnd ßo file das annemen selber abe.579
In ähnlicher Weise warnt der Kirchenvater vor einer Selbstzuschreibung der merita bona:
575 Kap. 12, S. 87, Z. 12. 576 Kap. 38, S. 123, Z. 18–21. 577 Kap. 2, S. 73, Z. 5–8. Nur den wahrhaft Erleuchteten ist die Abkehr vom ‚Annehmen‘ möglich, indem sie ihr gutes Begehren (nämlich nach der Seligkeit aller Menschen) nicht sich selbst, sondern Gott zuschreiben. Vgl. Kap. 10, S. 82, Z. 11–S. 83, Z. 15: „Vnd disßer begerung stent sie ledig vnd nemen sich *der nicht an, wanne disße menschen bekennen wol, das diße begerung des menschen nicht ist, sundern der ewigen gute, wanne alles, das gut ist, des sal sich nymant an nemen, sundern der ewigen gute gehort eß alleyne czu.“ 578 Damit verlässt der ‚Frankfurter‘ bereits den Horizont der eckhartischen Lehre, in deren Tradition er sich dennoch bewegt. Vgl. dazu auch die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.3.2.3. 579 Kap. 5, S. 76, Z. 20–24.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Quapropter [da nur die Gnade gute Verdienste ermöglicht] nec quando cœperit homo habere merita bona, debet sibi tribuere illa, sed Deo, cui dicitur in Psalmo, ‚Adjutor meus esto, ne derelinquas me‘ (Psal. XXVI, 9). Dicendo, ‚ne derelinquas me‘, ostendit quia si derelictus fuerit, nihil boni valet ipse per se.580
Den Pelagianern wirft Augustinus vor, den ‚elenden Menschen‘ (miser homo) zu einer von Gottes Gnadenhilfe unabhängigen moralischen Instanz zu erheben und ihn so dazu zu verführen, „quando bene vivit et bene operatur, vel potius bene vivere et bene operari sibi videtur, in se ipso, non in Domino gloriari, et spem recte vivendi in se ipso ponere […]“.581 Das einzig richtige Verhalten des Gläubigen jedoch, zu dem dieser allerdings erst durch die Gnade befähigt werden muss, bestehe darin, sich selbst die Schande, Gott aber die Ehre zuzuschreiben.582 In dieser durch Augustinus vorgezeichneten Bahn bewegt sich auch der ‚Frankfurter‘, wenn er das Vertrauen auf die eigene moralische Leistungsfähigkeit explizit als Angriff auf die göttliche Ehre bezeichnet: Wanne ich mich nu etwas gutes an neme, also das ich eß sey ader vormagk ader wisße ader thu ader das eß meyn sey ader von mir ader das eß mir czu gehore ader mir solle ader des gleich, ßo neme ich mich auch etwas rumes *ader eren an vnd thu czwei vbil. Czum ersten eynen fal vnnd eyn abkeren, also vor gesprochen ist. Czum andern mal griffe ich gote yn seyne ere vnd nym mich des an, das gote alleyne czu gehoret. Wanne alles das, das man gut nennen sal, das gehoret nymande czu danne allein der ewigen, waren gute, vnd wer sich des an nympt, der thut vnrecht vnnd wider gote.583
580 grat. et lib. arb. VI, 13 (PL 44, Sp. 889). 581 grat. et lib. arb. IV, 6 (PL 44, Sp. 885). Zur verfehlten Selbstzuschreibung des Guten siehe z. B. auch spir. et litt. VII, 11 (CSEL 60, S. 163, Z. 18–20): „hac quippe impietate, qua tribuit sibi quisque quod dei est, pellitur in tenebras suas, quae sunt opera iniquitatis. haec enim plane ipse facit et ad haec implenda sibi est idoneus“; ebd., XI, 18 (CSEL 60, S. 170, Z. 14–15): „erit autem ingrata, si quod illi ex deo est, sibi tribuerit praecipueque iustitiam […].“ Vgl. auch c. ep. Pel. II, 9, 21 (CSEL 60, S. 482, Z. 22–24): „Quapropter multa deus facit in homine bona, quae non facit homo, nulla uero facit homo, quae non deus facit ut faciat homo.“ 582 Vgl. c. ep. Pel. III, 5, 14 (CSEL 60, S. 502, Z. 26–S. 503, Z. 6). 583 Kap. 4, S. 74, Z. 2–S. 75, Z. 10. Vorgezeichnet ist dieses augustinisch-antipelagianische Motiv bereits in der geistlichen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts. Vgl. etwa St. Georgener Predigten (hg. Schiewer/Seidel), Pr. 12, S. 60, Z. 78–83: „In aim ielichin gůten werke sint zwai dinc: núzce vnd ere. Der nuzce ist únsir, dú ere ist únsirs herrin. Nemen wir nu nsirm herrin die ere, so nimit er úns den nuzce, wan dú ere ist sin und das lop. Wen wir denne gelobt werdin uon únseren werkin, so nemen wir, daz sin ist, und nimit er úns den nuzce, der úns dauon werdin solti. Und darumbe suln wir únsirme herrin sin ere und sin reht lazin und suln wir den nuzce han.“ Überhaupt lässt sich beobachten, dass die nacheckhartische Mystik Elemente aus älteren religiösen Texten – vor allem zisterziensischer und franziskanischer Prägung – aufgreift, um diese mit eckhartischen Lehren zu verbinden. Für die verstärkte Hinwendung zur erbsündigen Verfasstheit des Menschen gilt dies ebenso wie für die Fokussierung auf den Christus passus und die Inanspruchnahme
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Jeder Versuch des Menschen, sich als moralisches Subjekt mit einem Anrecht auf Anerkennung seiner Verdienste von Seiten Gottes zu konstituieren, ist also als Schmähung des Höchsten – und keineswegs als pflichtbewusste Erfüllung des göttlichen Gesetzes584 – zu verstehen: Eß ist eyn groß torheit, das eyn mensch ader eyn creatur wenet, sie wisse ader vormuge von yr selber, vnd besunder das sie wenet, sie wisse ader vormuge etwas gutes, da mit sie groß vordynen ader vberkomen moge vmmb got. Man butet got smacheit do mit, *wer eß recht vorstunde.585
Wie Pfeiffer-Spruch 42 belegt, galt dieses augustinisch-antipelagianische Motiv auch als integraler Bestandteil der eckhartischen Lehre. Die Textsequenz lautet: Meister Eckehart sprichet: swer ein guot werc wirket unt daz niht wirket lûterlîche durch got unde dehein ander meinunge dar inne hât anders danne got, der verdruket die êrbêrkeit gotes. Wan alliu guoten werc sint gotes. Swaz danne der mensche anders meinet in dem guoten werke danne got, dem gibet er die êre des werkes unde beroubet got sîner êren unde diu werc sint alle sament unfruhtbêr und unnütze.586
Zwar handelt es sich hier nicht um einen authentischen Text Eckharts, jedoch um eine freie Übersetzung aus seiner Expositio libri Sapientiae, die das bereits in der lateinischen Vorlage enthaltene, dort aber unterdrückte antipelagianische Potenzial zur Geltung bringt.587 Die sowohl von Meister Eckhart als auch vom ‚Frankfurter‘ postulierte Unfähigkeit des Menschen, aus eigenen Kräften die unio zu befördern, hat Auswirkungen
geistlicher Aufstiegskonzepte. Siehe dazu auch unten, Kap. 2.3.2.3, Anm. 650 sowie Kap. 2.3.2.4, Anm. 654 und 655. Die konsequente Diabolisierung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘, die den antipelagianischen Aussagen des Traktats ihren Nachdruck verleiht und sie zugleich in Richtung auf eine ‚manichäische‘ Tendenz überschreitet, dürfte jedoch auch im Vergleich zur voreckhartischen geistlichen Literatur ein Alleinstellungsmerkmal sein. 584 Siehe dazu auch Kap. 2.3.5. 585 Kap. 44, S. 138, Z. 31–34. 586 Pfeiffer II, Spruch 42, S. 611, Z. 8–14. 587 Bei den Pfeiffer-Sprüchen 31–48 handelt es sich um freie Adaptationen von Passagen aus dem Sapientia-Kommentar. Vgl. Steer: Die Schriften, S. 274; Spamer: Zur Überlieferung, S. 400. Dem hier zitierten Spruch 42 liegt folgende Stelle zugrunde: In Sap., LW II, n. 124, S. 461, Z. 7– S. 462, Z. 13. Zwar handelt diese Passage wie auch ihre volkssprachliche Aneignung von der Störung des Gott-Mensch-Verhältnisses durch ‚gute Werke‘. Durch die Einbindung dieses augustinisch-antipelagianischen Motivs in die eckhartische Transzendentalienlehre ist die Aussage in der Expositio dennoch eine andere als im Pfeiffer-Spruch: Statt vor der Entehrung Gottes zu warnen, fordert der Text dazu auf, alle zwischen dem Menschen und der Weisheit stehenden Mittel – auch solche, die zu guten Werken motivieren – aufzugeben und sich ganz der Alleinwirksamkeit der Weisheit zu überlassen.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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auf die Erfüllung des desiderium naturale, also auf die Vollendung des jedem Menschen angeborenen Strebens nach der Glückseligkeit. Dieses Letztziel liegt so weit außerhalb der Wirkmöglichkeiten der natürlichen Seelenkräfte, dass dem Menschen nicht einmal eine Annäherung vergönnt ist. Gott allein kann die Glückseligkeit als unverdientes und unverdienbares Geschenk zueignen. In den Worten des ‚Frankfurter‘: „Auch leit selikeit, kurtzlich czu sprechen, an keyner creatur ader creatur werck, sunder allein an got vnnd an seynen wercken.“588 Die erste Predigt des eckhartischen Gottesgeburtzyklus enthält eine äquivalente Aussage, die hier die Notwendigkeit begründet, sich vom Wirken der Seelenkräfte zu lösen und so Raum für den Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund zu schaffen.589 In all seinem rationalen und voluntativen Streben ist der Mensch sowohl im ‚Frankfurter‘ als auch bei Meister Eckhart ein in der Gottesferne Verharrender, dessen vermeintliche Verdienste in Wahrheit nur Ausdruck seiner ‚Ich‘-Verhaftung sind. Die Unfähigkeit der kreatürlichen Vernunft zur Gotteserkenntnis590 wird daher sowohl in Eckharts theologischem Entwurf als auch im ‚Frankfurter‘ flankiert von der Beschränktheit des natürlichen Willens, der auch in seinem vermeintlich guten Wollen immer geschöpflichen Kategorien verhaftet bleibt und deshalb die Distanz zu Gott als bonum absolutum nicht verringern kann. Zum ‚richtigen‘ Willen, der zum wahrhaft Guten befreit ist, wird der menschliche Wille nach Eckhart daher erst dann, wenn er sich völlig dem göttlichen Willen überlassen hat. Schon in den frühen Rede der underscheidunge erhält ein imaginierter Gesprächspartner auf seine Frage, „wanne der wille ein reht wille sî“, die Antwort: „Dâ ist der wille ganz und reht, dâ er âne alle eigenschaft ist und dâ er sîn selbes ûzgegangen ist und in den willen gotes gebildet und geformieret ist.“591 Auch in seinen Predigten betont Eckhart die Notwendigkeit der Übereignung des eigenen Willens an den göttlichen Willen.592 Dieser Forderung schließt sich der ‚Frankfurter‘ an:
588 Kap. 9, S. 82, Z. 22–23. 589 Meister Eckhart: Pr. S 101, DW IV/1, S. 353, Z. 96–100: „Ez enmac keiniu crêatûre dîniu sælicheit sîn, sô enmac si ouch hie niht dîniu volkomenheit gesîn, wan diu volkomenheit dises lebens, daz ist aller tugende, der volget nâch volkomenheit jenes lebens. Und dâ von muost dû von nôt sîn und wonen in dem wesene und in dem grunde. Dâ muoz dich got rüeren mit sînem einvaltigen wesene âne mittel keines bildes.“ 590 Siehe unten, Kap. 2.3.2.3, S. 225–226 sowie Kap. 2.2.3.2, Anm. 340. 591 Meister Eckhart: RdU, DW V, Kap. 10, S. 218, Z. 8 [Frage] und Z. 9–11 [Antwort]. Zur Aufgabe des Eigenwillens zugunsten der Alleinwirksamkeit des göttlichen Willens als zentrales Thema der Rede der underscheidunge siehe Enders: Die Reden der Unterweisung. Zu der Schwierigkeit, das Verhältnis von Eckharts bona voluntas zur Willensübergabe an Gott in den ‚Reden‘ angemessen zu bestimmen, siehe Störmer-Caysa: Der Wille, S. 91–92. 592 Vgl. z. B. Pr. Q 25, DW II, S. 8, Z. 9–S. 9, Z. 3: „Daz ist ein gewissiu wârheit und ein nôtwârheit: swer sînen willen genzlîche gibet gote, der væhet got und bindet got, daz got niht enmac, dan daz der
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Vnd wo das [die Einheit von Gott und Mensch] luterlich vnd gentzlich were ader yn welchem menschen da wurde gewold nicht von dem menschen, sunder von got, vnd da were der wille nicht eygen wille vnd da wurde auch nicht anders gewold, den als got wil. Wan got wolde selber do vnd nicht der mensch, vnd da were der wille eyn mit dem ewigen willen vnd were dar yn geflossen.593
Sowohl der thüringische Dominikaner als auch unser Traktat kommen also darin überein, dass der menschliche Wille aufgrund seiner natürlichen Unzulänglichkeit zu einem ‚göttlichen‘ Willen transformiert werden muss.594 Damit aber gehört er nicht mehr der kreatürlichen, sondern einer übernatürlichen Ordnung an. Auf die Korrelation dieses Motivs mit der augustinisch-antipelagianischen Willenslehre wird noch ausführlich einzugehen sein.595 An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, dass sowohl in Eckharts Œuvre als auch im ‚Frankfurter‘ erst in der Auflösung des geschaffenen Willens der von Gott trennende Selbstbezug des Menschen aufgehoben wird, von dem auch das meritorische Leistungsstreben Zeugnis ablegt. Für Meister Eckhart ergibt sich aus der durch die Geschöpflichkeit gesetzten Barriere zwischen Gott und Mensch die Notwendigkeit, zugunsten der unio auf alles Wirken der Seelenkräfte zu verzichten. Die innere Umgestaltung vom ‚natürlichen‘ Menschen zum homo divinus setzt von menschlicher Seite also eine absolute Passivität – den weiter oben bereits erwähnten Zustand der ‚Gelassenheit‘ – voraus, um das kreatürliche Wirken vollständig durch das Wirken Gottes zu ersetzen: Daz wir uns selber benomen werden und in got gesetzet werden, diz enist niht swære, wan got der muoz ez selber würken in uns, wan ez ist ein götlich werk, der mensche volge aleine und enwiderstâ niht, er lîde und lâze got würken.596
mensche wil. Swer gote sînen willen genzlîche gibet, dem gibet got sînen willen wider als genzlîche und als eigenlîche, daz gotes wille des menschen eigen wirt, und hât sîn gesworn bî im selben, daz er niht envermac, dan daz der mensche wil; wan got enwirt niemans eigen, er ensî ze dem êrsten sîn eigen worden. Sant Augustînus sprichet: ‚herre, dû wirdest niemans eigen, er ensî vor dîn eigen worden‘.“ 593 Kap. 51, S. 145, Z. 44–48. Vgl. auch das Zitat in Kap. 2.2.2.2, Anm. 191. 594 Diese Gemeinsamkeit, die in der ‚intertextuellen Perspektive‘ zutage tritt, verliert sich jedoch auf der Werkebene, da hier ein jeweils anderes Aussagennetz wirksam wird. Wie noch zu zeigen ist, weicht die Willenslehre des ‚Frankfurter‘ entscheidend von derjenigen Eckharts ab, weil der Traktat die Verschmelzung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen zu einem göttlichen Gewaltakt umwertet, welcher vor allem der Vervollkommnung Gottes dient. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 3.2.3 sowie in Kap. 3.3.1, S. 345–346. 595 Siehe dazu Kap. 2.3.6. 596 Meister Eckhart: Pr. Q 73, DW III, S. 269, Z. 7–S. 270, Z. 3. Vgl. auch ders.: Pr. S 101, DW IV/1, S. 355, Z. 115–117: „Die suln daz wizzen, daz daz aller beste und daz aller edelste, dar man zuo
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Dass der ‚Frankfurter‘ sich in diese eckhartische Tradition stellt und dem Zustand des passiven ‚Gottleidens‘ eine soteriologische Qualität zuschreibt, wurde zu Beginn dieses Kapitels bereits aufgezeigt.597 Damit übernimmt er das eckhartische Lebensmodell, das die Glückseligkeit des Menschen und seine sittliche Vollendung an die Selbstaufgabe bindet. Denn erst – so Meister Eckhart –, wenn der Mensch sich unwiderruflich in jene ‚Finsternis‘ oder ‚Unwissenheit‘ hineinbegeben habe, die mit dem Schweigen der Seelenkräfte verbunden sei,598 erlange er jenen Vollkommenheitsstatus, aus dem heraus die uneingeschränkte moralische Wertigkeit seiner Handlungen erwachse. Dies liege darin begründet, dass der Mensch nun nicht mehr aus eigenem Vermögen wirke. Vielmehr strahle das Wirken Gottes im Innersten der Seele auf den ,äußeren Menschen‘ aus599 und befähige ihn zu einer Weltaneignung im göttlichen Horizont.600 Im Vergleich zu diesen inneren, vom ‚Gott in uns‘ bewirkten Handlungsanstößen würden alle nur ‚von außen‘ – d. h. durch Wahrnehmungs- und Erkenntnisbilder – motivierten Werke als ‚tot‘ erscheinen. Eckhart schreibt:
komen mac, in disem lebene ist: dû solt swîgen und lâz got würken und sprechen“; Pr. S 103, DW IV/ 1, S. 476, Z. 22–23: „Sol diz werk volkomen sîn, sô muoz ez got aleine würken und dû solt ez aleine lîden.“ 597 Siehe Kap. 2.3.2.1, S. 209. 598 Siehe z. B. Pr. S 102, DW IV/1, S. 419, Z. 121–122: „Hie muoz er [der Mensch] komen in ein vergezzen und in ein nihtwizzen“; Pr. S 103, DW IV/1, S. 478, Z. 43–44: „Dû enkanst niemer baz gestân, dan daz dû dich zemâle setzest in ein dünsternisse und in ein unwizzen.“ Letzteres Zitat ist der zweiten Frage der Quästionenpredigt S 103 entnommen, in der die Unmöglichkeit einer Wiederkehr aus der Finsternis des Nichtwissens diskutiert wird (DW IV/1, S. 478, Z. 39–S. 483, Z. 75). 599 Meister Eckhart: Pr. S 102, DW IV/1, S. 412, Z. 34–36: „In dirre geburt ergiuzet sich got in die sêle mit liehte alsô, daz daz lieht alsô grôz wirt in dem wesene und in dem grunde der sêle, daz ez sich ûzwirfet und übervliuzet in die krefte und ouch in den ûzern menschen.“ Der traditionelle Vervollkommnungsweg, wonach durch Übung des homo exterior die Formung des ‚inneren Menschen‘ erfolgt, wird damit umgekehrt. Vgl. dazu Wegener: Wie der mensche, bes. S. 117–118. 600 Meister Eckhart: Pr. S. 103, DW IV/1, S. 488, Z. 131–137: „Sich, alsô geschihet allen den, die von dirre geburt werdent berüeret und getroffen: die werdent snelliclîche gekêret ze dirre geburt in einem ieglîchen, daz gegenwertic ist. Jâ, swie grop ez joch ist, jâ, daz dir vor ein hindernisse was, daz vürdert dich nû zemâle. Daz antlütze wirt dir alsô gar gekêret ze dirre geburt; jâ, allez daz dû sihest oder hœrest, swaz daz sî, sô enmaht dû in allen dingen niht anders genemen dan dise geburt; jâ, alliu dinc werdent dir lûter got, wan in allen dingen sô enmeinest noch enminnest dû niht dan lûter got.“ Vgl. zur Weltaneignung des ‚gelassenen‘ Menschen auch Wegener: Dâ daz ouge, S. 804–809. Eckharts Konzept eines Wirkens aus der unio heraus hebt die traditionelle Opposition von vita activa und vita contemplativa auf. Siehe dazu Mieth: Die Einheit; ders.: Predigt 86; Haas: Die Beurteilung.
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In dem gerehten ensol kein dinc würken dan aleine got. Wan ist, daz dich dehein dinc ûzwendic anerüeret ze würkenne, wærlîche diu werk sint alliu tôt; und ist, daz dich got ûzwendic anerüere ze würkenne, wærlîche, diu werk sint alliu tôt. Und suln dîniu werk leben, sô muoz dich got inwendic anerüeren in dem innigesten der sêle, suln sie leben; wan dâ ist dîn leben, und dâ lebest dû aleine.601
Diese unbedingte Bindung der geistlichen Vitalität menschlicher Werke an ein inneres Wirken Gottes aktualisiert augustinische Aussagen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘. Denn auch der Kirchenvater bezeichnet alle ‚natürlichen‘ Werke des Menschen als ‚tot‘. Zum Leben erweckt werden sie erst durch die Gnade Christi, welche die Seele aus ihrer Sündenverfallenheit befreit: […] sed ad peccatum ualet mors animae, quam deseruit uita sua, hoc est deus eius, quae necesse est mortua opera faciat, donec Christi gratia reuiuescat.602
Wie bereits gesagt, übernimmt der ‚Frankfurter‘ – kongruent zu anderen nacheckhartischen Predigten und Traktaten603 – dieses mit Aussagen der antipelagianischen Schriften korrelierende, jedoch den Vorgaben des ‚mystischen Diskurses‘ angepasste Lebensmodell, welches die Wertigkeit äußerer Handlungen von der inneren göttlichen Motivation herleitet:
601 Meister Eckhart: Pr. Q 39, DW II, S. 259, Z. 4–S. 260, Z. 1. Dasselbe Motiv findet sich – mit Bezug auf Meister Eckhart – auch in Pfeiffer-Spruch 32 (siehe Pfeiffer II, S. 606, Z. 36–S. 607, Z. 21). 602 Augustinus: nat. et gr. XXIII, 25 (CSEL 60, S. 252, Z. 2–4). 603 Vgl. Johannes Tauler: Pr. V 47, S. 214, Z. 15–18: „So der under val ie tieffer und grundeloslicher ist, so sich Got des menschen und aller siner werke innerlicher und richlicher under wint und alle sine werk wúrket in úber natúrlicher wise.“ Auch Seuse betont die absolute Passivität des wahrhaft Gelassenen, in dem allein Gott wirkt. Siehe BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 8, S. 70, Z. 56–59: „Und da wirt ein lieht erzget in der obresten kraft mit eime erzgenne, daz got ist daz wesen und leben und daz wúrken in im und er dez selben alleine ist ein gezwe.“ Siehe ferner Buch geistlicher Armut, S. 101, Z. 29–32: „Und da von iſt es des menſchen aller beſtes daʒ er aller wercke ledig ſy, wan were er aller wercke ledig, ſo were er ein blos geʒwe gottes, daʒ got ane alles hinderniſſe mit ime mhte wúrcken.“ Besonders deutlich verbindet Ruusbroec das augustinisch-antipelagianische Motiv des von Gott geschenkten spiritus gratiae mit Eckharts Forderung einer Lösung von aller Äußerlichkeit. Vgl. Jan van Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), Buch II, S. 124, Z. 120–128: „Nv iſt die gnade gottes, die vs gotte flúßet, ein innewendig triben oder iagen des heiligen geiſtes, der vnſern geiſt tribet von innen vnd in enzndet in allen túgenden. Diſe gnade flúßet von innen, nút von vſſen. Wan got iſt vns innewendiger, denne wir vns ſelber ſint, vnd ſin innewendig triben oder wurken in vns naturlichen oder ber naturlich iſt vns naher vnd inniger danne vnſer eigin wirken; vnd dar vmb wirket got von innen in vns vſwert, vnd alle creaturen von vſſen inwert. Vnd her vmb kummet gnade vnd alle gtteliche gaben vnd gottes in ſprechen von innen in einikeit des geiſtes, nút von vſſen in der fantaſyen mit ſinnelichen bilden.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Auch sal man mercken jn der warheit; Wo die eynunge geschiet vnd wesenlich wirt, do steet vorbaß meher der jnnere mensche yn der eynunge vnbeweglich vnd gott let den ausser menschen her vnnd dar beweget werden jn dem vnd czu dem, da muß ader sal seyn ader gescheen, als das der vßer mensche spricht vnd eß yn der warheit also ist: Ich wil wider seyn noch nicht seyn, leben ader sterben, wissen ader nicht wissen, thun ader laßen vnnd alles, das dissem gleich ist. Sunder alles, das do muß vnd sal seyn vnd gescheen, do bin ich gehorsam zcu, eß sie yn lidender wiße ader yn thunder wiße. Vnnd hat der außer mensch kein war vmmb ader gesuch, sunder allein dem ewigen willen genug czu seyn. Wan das wirt bekant yn der warheit, das der ynner mensch steen sal vnbeweglich vnd der vßer mensch muß vnd sal beweget werden. Vnnd hat der jnner mensch yn seyner beweglikeit eyn war vmmb, das ist anders nicht den eyn muß vnde sal seyn, geordent von dem ewigen willen.604
Das alltägliche Leben kommt also – wiederum in Übereinstimmung mit Meister Eckhart – für den in der eynung stehenden Menschen keineswegs zum Erliegen. Vielmehr gilt für ihn wie für alle Menschen: Doch mussen die ding seyn vnd muß man thun vnd laßen, vnd besundern der mensch muß slaffen vnd wachen, ghen, stehen, reden vnd swigen vnd anders vil, das joch sey muß, die wile der mensche lebet.605
2.3.2.3 Die Distanz Meister Eckharts zum ‚Frankfurter‘ hinsichtlich der Anerkennung menschlicher Verdienstfähigkeit Wenn Meister Eckhart und der ‚Frankfurter‘ darin übereinkommen, dass jeder Versuch einer Selbstheiligung aus natürlichen Kräften zum Scheitern verurteilt ist und damit einen antipelagianischen Grundzug in ihre Aussagennetze integrieren, so bedeutet dies an und für sich noch kein Verlassen der christlichen ‚Normaltheologie‘. Wie zu Anfang dieses Kapitels bereits dargelegt,606 bestand seit Augustinus ein Grundkonsens darüber, dass die Notwendigkeit einer Abwehr der pelagianischen Häresie es nicht zuließ, das gute Wollen und Handeln des Menschen komplett in dessen Eigenverantwortung zu legen. Es musste sich – auf welche Weise auch immer607 – der Zuwendung Gottes verdanken. Noch Erasmus
604 Kap. 28, S. 110, Z. 1–S. 111, Z. 13 [Hervorhebung L. W.]. Zur eckhartischen Formel sunder warumbe siehe oben, Anm. 570 und 571. 605 Kap. 27, S. 110, Z. 19–22. Der für den ‚Frankfurter‘ charakteristischen ‚Vielstimmigkeit‘ (siehe dazu Kap. 1.2.3, S. 56) ist es geschuldet, dass das isoliert stehende Kap. 7 abweichend von Kap. 27 und Kap. 28 eine Gleichzeitigkeit von vita activa und vita contemplativa ausschließt. Siehe ebd., S. 78, Z. 24–S. 79, Z. 2. Vgl. dazu auch Kap. 3.3.2.2, S. 356–357. 606 Siehe oben, Kap. 2.3.2.1, S. 207–208. 607 Das Spektrum reicht von einer allgemeinen Gnadenzuwendung Gottes, die jeden Menschen zum Guten befähigt, bis hin zu einem auxilium Dei speciale, das Gott für jeden einzelnen mora-
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von Rotterdam erkennt ungeachtet seines Kampfes für die Willensfreiheit diesen Grundsatz als fraglos gültig an.608 Anstoß erregend erschien den Zensoren Eckharts jedoch die Kompromisslosigkeit, mit der dieser – wie Jahrzehnte später auch der ‚Frankfurter‘ – jeden Versuch einer Annäherung an Gott aus eigenen Kräften und das damit verbundene Verdienststreben ablehnte.609 Die posthume Verurteilung der eckhartischen Lehre durch Papst Johannes XXII. beruht allerdings auf anrüchig klingenden Einzelsätzen, nicht auf einer Gesamtsichtung von Eckharts vielschichtigem Œuvre. Daher lässt sie den philosophisch-theologischen Rahmen, in den dieser seine Invektiven gegen die Werkgerechtigkeit einspannt, völlig außer Acht. Dieser Begründungszusammenhang ist jedoch nicht nur entscheidend, um Eckharts Lehre in ihrer Komplexität angemessen analysieren zu können. Er weist auch über die Grenzen des eckhartischen Schrifttums hinaus, indem er es ermöglicht, äquivalente Aussagen anderer Predigten und Traktate jeweils auf der Werkebene als tatsächliche oder nur scheinbare Kongruenzen zu bestimmen. Dies gilt auch für den ‚Frankfurter‘, insofern hier die Ablehnung aller meritorischen Bemühungen innerhalb des Syntagmas ganz anders motiviert wird als in den Schriften des thüringischen Dominikaners. Die übereinstimmenden Aussagen unseres Traktats und Meister Eckharts zur Verdienstunfähigkeit des Menschen verweisen zwar auf die gemeinsame Aufnahme einer augustinisch-antipelagianischen Spur; aufgrund der Einbettung dieser Aussagen in völlig unterschiedliche diskursive Konstellationen sind sie jedoch keineswegs miteinander identisch. Im Gegenteil – die unterschiedliche Begründung der Sinnlosigkeit jeglicher meritorischer Annäherungsversuche an Gott platziert Meister Eckhart und den ‚Frankfurter‘ erneut an jenen einander entgegengesetzten Polen des ‚mystischen Diskurses‘, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits herausgearbeitet worden sind. Wenn Meister Eckhart die Unzulänglichkeit guter Werke kritisiert, so will er keinesfalls die unentrinnbare Macht der Sünde über die menschliche Natur hervorheben, würde ein derartiger anthropologischer Pessimismus der Grundaus-
lischen Akt neu gewähren muss. Den Nachweis einer derartig absoluten Abhängigkeit des Menschen von der göttlichen Gnade kündigt Gregor von Rimini im zweiten Buch seines Sentenzenkommentars gegen die pelagiani moderni an: „Prima [conclusio] erit quod in statu isto nullum actum moraliter bonum homo potest agere ex se sive per sola naturalia cum communi tantum influentia dei, sed ad quodlibet huiusmodi peragendum indiget speciali auxilio dei.“ Ebd., dist. 26– 28, q. 1, add. 46, a. 1 (hg. Trapp/Marcolino, S. 19, Z. 5–7). 608 De libero arbitrio ΔIATPIBH sive collatio, Ia 8: „[…] et si quid mali est, nobis imputemus, si quid boni, totum ascribamus divinae benignitati, cui debemus et hoc ipsum, quod sumus […]“; ebd., IIIc 8: „Non enim vult deus, ut homo sibi quicquam tribuat, etiamsi quid esset, quod merito posset sibi tribuere.“ 609 Siehe oben, Kap. 2.3.2.1, Anm. 559.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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richtung seiner Lehre doch vollkommen zuwiderlaufen. Vielmehr geht es ihm darum, die durch die kategoriale Vereinzelung des geschöpflichen Seins – das ens hoc aut hoc – gegebene Distanz zwischen Mensch und Gott aufzuheben. Dies gilt sowohl aus philosophisch-theologischer610 als auch aus mystischer611 und religionssoziologischer612 Perspektive. Die mit dem ‚Frankfurter‘ übereinstim-
610 Aus philosophisch-theologischer Perspektive versucht Eckhart die der Lehre des Thomas von Aquin inhärente Schwierigkeit aufzulösen, dass die natürliche Vernunft aufgrund ihrer Angewiesenheit auf die Sinneswahrnehmung Gott nicht erkennen und daher die Glückseligkeit der Gottesschau nicht erreichen kann. Thomas löst dieses Problem durch die Annahme eines jenseitigen lumen gloriae, welches die Vernunft von der Beschränkung auf die quiditas rei materialis als ihren eigentümlichen Gegenstand befreit und sie so dazu befähigt, Gott wesenhaft zu erkennen. Gegen diese Lösung hatte Johannes Duns Scotus den Einwand erhoben, dass damit ein philosophisch wie theologisch unzulässiger Bruch innerhalb der menschlichen Natur eingeführt werde, denn schließlich könne das göttlich überformte Vermögen kaum mit der natürlichen Vernunft identisch sein. Eckhart sieht dieses Problem ebenfalls und verschiebt den Vollzug der Glückseligkeit daher auf den Seelengrund als eine allen Seelenkräften und -funktionen vorgelagerte Instanz, die Gott bereits im Diesseits unmittelbar zu empfangen vermag. Eine ausführliche Darstellung dieser Diskussion findet sich bei Guerizoli: Die Verinnerlichung, bes. S. 74–85. Guerizoli weist darauf hin, dass Eckharts Lösung mit einer neuen Schwierigkeit verbunden ist, nämlich der Trennung zwischen „dem Sein und dem Bewußtsein der Seele“ (ebd., S. 84). Denn der Seelengrund ist für die natürlichen Seelenkräfte – und damit auch für die Vernunft – unzugänglich. Insofern der Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund die Vollendung der menschlichen Natur bedeutet (siehe Kap. 2.2.2.2, S. 134), lässt sich diese Problematik auch noch anders ausdrücken: Eckhart nimmt in Kauf, dass er in seine Lehre eine Spaltung zwischen der allgemeinen menschlichen Natur und den Seelenkräften als deren individuellen Ausdrucksformen einführt. Eckhart selbst dürfte sich dieser Unstimmigkeit bewusst gewesen sein, konzipiert er seine Lehre doch so, dass sie trotz der Ablehnung des Verdienstdenkens in Grenzen eine positive Wertung der naturhaft auf Gott zustrebenden Seelenkräfte ermöglicht. Siehe dazu in diesem Kapitel, S. 228–230. 611 Aus mystischer Perspektive zielt Eckharts Lehre auf die Einheit von Gott und Mensch, zu der die Seelenkräfte aufgrund ihrer Angewiesenheit auf vermittelnde Instanzen jedoch nichts beitragen können. Die unio – von Eckhart als Selbstmitteilung Gottes und damit als äußerster Ausdruck der Menschzuwendung des Schöpfers verstanden – setzt daher die Selbstaufgabe des Menschen voraus. Zwar erstrebt die Seele von Natur aus das Gute schlechthin; dieses Ziel kann jedoch nur durch die Abwendung vom ‚Dies oder das‘ (hoc aut hoc) und damit im Schweigen der Seelenkräfte erreicht werden – ein von Augustinus inspiriertes Motiv. Vgl. Aertsen: Der ‚Systematiker‘ Eckhart, S. 222. Auch die mystische Perspektive ist also auf die Vollendung der menschlichen Natur in der Erreichung ihres Letztzieles ausgerichtet. 612 Aus religionssoziologischer Perspektive sucht Eckhart – wie Burkhard Hasebrink aufgezeigt hat – dem Problem einer ‚Paradoxie der Weltflucht‘ zu entkommen, das für die „Werkgerechtigkeitsgläubigkeit der auch damals noch weit verbreiteten mönchischen Askesepraxis“ (Enders: Die Reden der Unterweisung, S. 83) charakteristisch ist. Vgl. Hasebrink: sich erbilden. Konsequent entlarvt der Thüringer alle Versuche, die ‚Welt‘ zu verlassen und sich Gott anzunähern, als immer neue Weisen einer selbstsüchtigen ‚Ich‘-Repräsentation, die dem Menschen zwar suggeriert, sich
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mende antipelagianische Spur in Eckharts Lehre ist also paradoxerweise durch eine zutiefst ‚pelagianische‘ Überzeugung motiviert: Der thüringische Dominikaner ruft seine Mitmenschen – seien diese nun seine eigenen Ordensbrüder, Angehörige anderer christlicher Religionsgemeinschaften oder ‚einfache‘ Gläubige613 – dazu auf, durch das abnegare personale ihre allgemeine, in der Inkarnation geadelte Menschennatur zu verwirklichen, anstatt durch die an die Person gebundenen partikularen Seelenkräfte eine Barriere zwischen sich selbst und Gott aufzubauen und so die Gottesgeburt im Seelengrund zu vereiteln. Eckharts Ablehnung guter Werke ist somit genuiner Bestandteil seiner augustinischen Spiritualität, welche im intimum animae – und damit in der Gottebenbildlichkeit des Menschen – ihr metaphysisches wie anthropologisches Zentrum hat. Mag Eckharts Lehre damit auch weit von jenem ‚pelagianisierenden‘ Vertrauen auf die Seelenkräfte entfernt sein, welches frömmigkeitstheologische Schriften des fünfzehnten Jahrhunderts – ebenfalls gerne im Rückgriff auf Augustinus – zum Ausdruck bringen:614 Noch weitaus größer ist seine Distanz zur Verketzerung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘. Eckharts mystagogischen Anspruch, dem Menschen durch Verzicht auf jegliches Eigenstreben die Vollendung seiner Natur zu ermöglichen, teilt unser Traktat nicht. Vielmehr muss er aufgrund seiner Identifikation von Natur, Teufel und Sünde die rigoristische Ansicht vertreten, „das der mensch von ym selber vnd von dem seynen nicht ist noch vormag ader hat noch taug den allein gebrechen vnd vntogent vnd boßheit“.615 Da die Sünde als anthropologische Konstante im Sein des Menschen verankert ist, steht der ‚Frankfurter‘ dem antipelagianischen Augustinus ungleich näher als Meister Eckhart, überschreitet ihn jedoch zugleich durch seine ‚manichäische‘ Tendenz.616 Die durch ihr unterschiedliches anthropologisches Fundament gegebene Distanz zwischen den Eckhart-Schriften und unserem Traktat wird im Folgenden anhand von zwei Aspekten dargestellt, die Eckharts ‚Pelagianismus‘ hinsichtlich der Befähigung des Menschen zum Guten spezifizieren und von der Lehre des
auf Gott zuzubewegen, ihn aber tatsächlich von der allgemeinen Menschennatur und damit von Christus als dem Träger dieser Natur, der ihren Adel garantiert, entfremdet. 613 Zu den Adressaten der Rede der underscheidunge siehe Wegener: Wie der mensche, S. 103–109. 614 Siehe oben, Kap. 2.2.1, S. 107 mit Anm. 143 sowie Kap. 2.2.3.3, S. 160. Vorgeprägt ist diese Zuversicht, dass Gott das Verdienststreben von Vernunft und Wille ungeachtet ihrer Unzulänglichkeiten anerkennt, im nacheckhartischen mystischen Schrifttum des vierzehnten Jahrhunderts. Siehe dazu die Darlegungen weiter unten, Kap. 2.3.2.4. 615 Kap. 26, S. 105, Z. 2–4. 616 Siehe dazu Kap. 2.2.3.6, S. 177 mit Anm. 435 sowie Kap. 2.3.1, S. 183–189.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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‚Frankfurter‘ abheben. Es handelt sich um die Möglichkeit einer Vorbereitung der unio durch die natürlichen Seelenkräfte und um die Option einer Anerkennung des menschlichen Verdienststrebens. 1. Vorbereitung der unio durch die Seelenkräfte. Auch wenn die natürlichen Seelenkräfte nach Eckharts Lehre keinen unmittelbaren Zugang zum Göttlichen haben, sind sie dennoch dazu berufen, die Einheit von Gott und Mensch vorzubereiten. Auf der intellektuellen Ebene gilt dies insofern, als der Glückseligkeitsvollzug im intimum animae eine philosophische Reflexion über die Grenzen der Vernunft voraussetzt.617 Dementsprechend konzipiert der Thüringer die Lösung von der an ‚Bilder‘ gebundenen Erkenntnisweise des Menschen nicht – wie in den traditionellen Aufstiegskonzepten – als raptus und damit als göttlichen Gnadenakt, sondern als Abschluss und Vollendung eines autonomen Prozesses der Selbstvergewisserung, der in die Eigenverantwortung des Menschen gegeben ist und in die Negation des ‚Ich‘ mündet.618 Die ‚Unwissenheit‘ oder ‚Finsternis‘, welche den Status der ‚Gelassenheit‘ kennzeichnet, erwächst daher aus dem natürlichen Wissen des Menschen: Noch diz unwizzen ensol niht komen von unwizzenne, mêr: von wizzenne sol man komen in ein unwizzen. Danne suln wir werden wizzende mit dem götlîchen wizzenne und danne wirt geadelt und gezieret unser unwizzen mit dem übernatiurlîchen wizzenne.619
Möglich ist dies nur, weil die Strebenstendenz der geschaffenen Vernunft in Eckharts theologischer Anthropologie grundsätzlich richtig ist. Ihre Unfähigkeit, Gott wesenhaft zu erkennen, resultiert anders als im ‚Frankfurter‘ nicht aus ihrer sündhaften Fehlorientierung, sondern ausschließlich aus ihrer Angewiesenheit auf die sinnliche Wahrnehmung. Dem von Natur aus irregeleiteten Menschen in unserem Traktat dagegen steht die Möglichkeit einer vernünftigen Einsicht in die Unzulänglichkeiten seiner Vernunft – und damit zugleich die Perspektive auf ein
617 Der Locus classicus schlechthin für diese philosophische Programmatik Eckharts ist der Prolog zum Johanneskommentar. Vgl. In Ioh., LW III, n. 2, S. 4, Z. 4–13. Siehe aber auch Pr. S 101, DW IV/1, S. 342, Z. 33–34: „Nû merket ze dem êrsten! Ich wil iu dise rede bewæren mit natiurlîchen reden, daz ir ez selber möhtet grîfen, daz ez alsô ist, wie ich doch der schrift mê gloube dan mir selber.“ Zur Vernunft als jener Instanz, die in der Erkenntnis der eigenen Begrenztheit sich selbst dem Unendlichen preisgibt, siehe Largier: Intellekttheorie, bes. S. 475–476. 618 So schon in den frühen Rede der underscheidunge (DW V, Kap. 3, S. 196, Z. 3–4): „Nim dîn selbes war, und swâ dû dich vindest, dâ lâz dich; daz ist daz aller beste.“ 619 Pr. S 102, DW IV/1, S. 420, Z. 130–133. Vgl. auch Pr. S 103, DW IV/1, S. 477, Z. 35–38: „Alsô, in der wârheit: aller crêatûren kunst noch dîn eigen wîsheit noch dîn wizzen enmac dich dar zuo niht bringen, daz dû got götlîche mügest wizzen. Solt dû got götlîche wizzen, sô muoz dîn wizzen komen in ein lûter unwizzen und in ein vergezzen dîn selbes und aller crêatûren.“
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Jenseits der Vernunft – nicht offen: „Vnnd wer ym [dem ‚natürlichen Licht‘] saget von dem waren, einfeldigen gut, das wider diß nach das ist, da von weiß eß nichts vnd ist ym eyn spott.“620 Vielmehr kreist die Vernunft dermaßen in sich, dass sie in ihren Bemühungen um Erreichung des göttlichen finis ultimus immer wieder auf sich selbst zurückfällt und daher ihre Distanz zu Gott nicht erkennen kann. In der Konsequenz führt dies dazu, dass sie sich selbst für göttlich hält: Wanne die clymmet also hoch yn yrem eygen lichte vnd yn yr selber, das sie selber wenet, das sie das ewige, ware licht sey, vnd gibt sich do vor das selbe vnd ist betrogen an yr selbir vnd betruget ander mit yr, die nicht bessers wissen vnd auch dar czu geneiget seyn.621
Damit aber ist die Vernunft im anthropologischen Konzept des ‚Frankfurter‘ per se als widergöttlich diskreditiert und verleiht dem Menschen das Stigma eines freigeistigen Häretikers, der dem Wahn seiner Selbstbehauptungsfähigkeit vor Gott erliegt. Jubelrufe über die Kapazitäten des ‚natürlichen Lichts‘, wie sie sich in Eckharts Œuvre finden lassen,622 liegen im ‚Frankfurter‘ daher außerhalb der Möglichkeiten des Sagbaren. Besonders betroffen von der subjektiven Fehleinschätzung ihres geistlichen Status, die aus der Selbstbezüglichkeit der Vernunft resultiert, sind im ‚Frankfurter‘ ausgerechnet jene Menschen, die sich auf dem Weg spiritueller Vervollkommnung weit fortgeschritten wähnen. Denn auf sie lauert ständig die Gefahr ‚geistlicher Hoffart‘, die im zeitgenössischen Häresiediskurs eng mit der ‚falschen Freiheit‘ verschwistert ist.623 Der Traktat warnt dementsprechend: Auch sal man mercken, ßo der mensch alle die wege gegangen hat, die yn czu der warheit weißen, vnd sich dar jnne gevbet hat vnd ist ym sure worden, also lange vnd also vil, das er meynet, eß sey czuml gescheen vnnd er sey gestorben vnd seyn selbs auß gegangen vnnd got gelaßen, ßo sehet den der tufel seynen samen dar yn.624 Auß dem samen wachsen den
620 Siehe zu diesem Zitat auch die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 200. 621 Kap. 20, S. 97, Z. 11–14. 622 Pr. Q 43, DW II, S. 328, Z. 7: „Si [diu sêle] vermac wunder in irm natiurlîchen liehte […]“; Pr. Q 73, DW III, S. 260, Z. 7–9: „Daz natiurlich lieht der vernünfticheit, daz got gegozzen hât in die sêle, daz ist sô edel und sô kreftic, daz im enge und kleine ist allez, daz got ie geschuof an lîplîchen dingen.“ Zur Gegenposition des ‚Frankfurter‘ siehe auch das Zitat in Anm. 641. 623 Vgl. z. B. Johannes Tauler: Pr. V 11, S. 55, Z. 19–22: „[…] die nidersten krefte sol man halten noch ir wise, oder der heilge geist ginge zmole enweg, und do wurde geborn geistliche hochfart und ungeordente friheit und vellet in die vernúnftige bevellikeit und enwurde nút drus und verblibe alzmole […].“ 624 Die Stelle „ßo sehet den der tufel seynen samen dar yn“ lautet in der Frankfurter Handschrift C abweichend „So komet dan ettwan der boſe geyſt vnd ſehet ſeȳ ſamē dar eyn“ (fol. 107v). Völker und auf ihm basierend Haas verlesen diese Passage, indem sie den boſe[n] geyſt als bloſe[n] geyſt wiedergeben. Siehe Völker: ‚Gelassenheit‘, S. 291; Haas: Gelassenheit, S. 267. Damit aber verkehrt
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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czwu frucht. Die eyne ist geistliche reichtum ader geistliche hoffart, die ander ist vngeordente, falsche freiheit. Das synt czwei geswister, die dicke vnd gerne bey eynnander seyn.625
In aktualisierender Aneignung eines auch in den augustinisch-antipelagianischen Schriften präsenten Motivs626 wird hier eine Fehlform der ‚Gelassenheit‘ vorgeführt, welche die Beharrungskraft des Selbst illustriert.627 Denn dessen vermeintliche Abtötung führt tatsächlich zur Neukonstitution eines scheinbar perfektionierten ‚Ich‘,628 welches die Grundcharakteristika der menschlichen Natur – ihren Hang zur Selbstvergottung und zur Bequemlichkeit – nicht überwunden hat, sondern in intensivierter Form auslebt. Aus der Überzeugung, durch vorübergehende Entsagung einen göttlichen Wissensstatus erreicht zu haben, leitet der zur ‚falschen Freiheit‘ verführte Mensch nämlich den Anspruch auf eine ganz seinem persönlichen Komfort dienende Herrscherrolle ab: Sich, diß erhebet sich also. Der teufel bleßet dem menschen yn, das den menschen duncket vnd wenet, er sey uff das hochste vnde uff das nehste kommen vnd durffe wider schrifft noch diß noch daß furbas mer vnd sey joch czumal durfftloß wurden. Vnd do von stehet yn ym eyn fride uff vnd großer lußt vnd volget den dar nach, das man spricht: Ja, nu bin ich vber alle menschen vnd weiß vnd vorstee mer denn alle die werlt, vnd dar vmmb ist *eß billich vnd recht, das ich aller creaturen got sey vnd mir alle creaturen vnd besunder alle menschen dynen vnd warten vnd mir vnderthenig seyn, vnd sucht vnnd begeret das selbe vnd nympt eß gerne von allen creaturenn vnd besundern von dem menschen vnd dunckit
sich die Bedeutung der Stelle in ihr Gegenteil: Aus dem Einfluss des teuflischen wird das Wirken des göttlichen Geistes. Uhl, aus dessen auf der Frankfurter Handschrift basierenden Ausgabe Völker zitiert, bietet den korrekten Text. Siehe Der Franckforter (‚Eyn deutsch Theologia‘), S. 28, Z. 15–16. 625 Kap. 25, S. 103, Z. 1–S. 104, Z. 8. 626 Auch der Kirchenvater warnt in seinen antipelagianischen Schriften vor der Gefährdung durch den Stolz, der selbst auf dem rechten Weg stets lauert. Siehe etwa nat. et gr. XXXII, 36 (CSEL 60, S. 260, Z. 7–11): „[…] sed iam illic ambulantes sic terrere potuit, ut diceret: ‚ne pereatis de uia iusta‘. unde, nisi quia superbia, quod totiens dixi et saepe dicendum est, etiam in ipsis recte factis cauenda est, id est in ipsa uia iusta, ne homo, dum quod dei est deputat suum, amittat quod dei est et redeat ad suum?“ 627 Man vergleiche die analogen Aussagen im Buoch von dem grunde aller bôsheit, das der negativen Anthropologie des ‚Frankfurter‘ sehr nahe kommt (siehe Kap. 2.3.1, Anm. 541): „dâ merke, wie diser grunt das sîne in allen dingen suochet und meinet, daz alsô vil menschen sint, die dâ wænent, das si in selber sîen ûsgegangen, die noch einen trit ûsser in selben nie kâmen und noch sich selber in allem irem tuon und lân [sich selber] minnent und meinent.“ Hg. Pfeiffer, S. 462, Z. 33–38 [eigene Zeilenzählung]. 628 Es handelt sich hier um eine extreme, da als ketzerisch abqualifizierte Form der ‚Paradoxie der Weltflucht‘. Siehe dazu oben, Anm. 612.
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sich diß alles wol wirdig seyn vnd man sey eß ym schuldig vnd heldet alle menschen als esel ader als vihe, vnd auch alles, das seyme leibe, seym fleische vnd syner nature czu gute vnd czu lußte, kurtzwile vnnd ergetzlikeit gescheen mag, *des duncket er sich alles wirdigk vnd sucht vnd nympt, wo eß ym werden mag, vnd duncket yn alles czu cleyne, was man ym gethu mag, vnd er meynet, er sey seyn alles wol wirdig.629
Mit einer solch ‚freigeistigen‘ Fehlauslegung der ‚Gelassenheit‘ lässt sich eine moralische Wertigkeit äußerer Handlungen nicht in Einklang bringen. ‚Wahre Gelassenheit‘ im eckhartischen Sinne aber würde eine kritische Selbstreflexion voraussetzen, d. h. die Einsicht des ‚natürlichen Lichts‘ in die Notwendigkeit seiner Selbstaufgabe. Das Scheitern an dieser Grundprämisse aufgrund der im ‚Frankfurter‘ behaupteten Unfähigkeit der natürlichen Vernunft, ein telos außerhalb ihrer selbst zu erkennen, hat ebenso Konsequenzen auf der voluntativen Ebene. Denn da die Leitungsfunktion des ‚natürlichen Lichts‘ versagt, kann auch der Wille die unio nicht vorbereiten, bleibt er doch selbst im ‚Sich-Lassen-Wollen‘ an die irreführenden Weisungen der Vernunft gebunden.630 2. Eingeschränkte Anerkennung des menschlichen Verdienststrebens. Anders als im ‚Frankfurter‘ ist Eckharts Verwerfung des menschlichen Verdienststrebens nicht absolut, würde dies doch seiner Lehre von der genuinen Gutheit der natura humana widerstreiten. Aufschlussreich ist hier ein Vergleich mit der Anthropologie des Thomas von Aquin. Wie weiter oben bereits dargestellt,631 sieht Thomas die Gottebenbildlichkeit des Menschen in erster Linie in dessen Akten und in zweiter Linie in den Seelenkräften als diesen Akten Zugrundeliegendes verwirklicht. Damit aber ist dem Menschen – wenn auch in sehr eingeschränkter Weise – eine Verdienstmöglichkeit zugestanden. Indem Eckhart die Gottebenbildlichkeit auf den Seelengrund als den Kräften logisch vorgängiges Prinzip verlagert, entzieht er dem Menschen zwar diese Form der Selbstmächtigkeit. Jene Gläubigen, die seine Theologie ablehnen, verwirft er jedoch nicht. Vielmehr lässt er auch die
629 Kap. 25, S. 104, Z. 9–24. Die Gefahr eines Scheiterns auf dem Vervollkommnungsweg sieht indessen nicht nur der ‚Frankfurter‘. Das ‚Buch geistlicher Armut‘ etwa warnt davor, die Leistungsfähigkeit der Vernunft und den Adel der menschlichen Natur gerade in ihrer höchsten Vollendung zur Selbstbestätigung zu missbrauchen. Siehe ebd. (hg. Denifle), S. 37, Z. 1–7: „Und ſo des menſchen geiſt verſtat alle geſchaffen ding und er ledig iſt alles gebreſtliches ʒ valles, ſo iſt er uf dem hhſten adel der bloſſen natur. Jſt nu daʒ er uf ime ſelber blibet und ſinen adel an ſchwet nach wolgevellicheit ſin ſelbs, ſo mag er nit bliben uf dem hhſten adel ſiner natur und vellet in einen unadel, und bekleidet ſich mit dtlicheit und mit maniger hande gebreſten […].“ Der Unterschied zum ‚Frankfurter‘ besteht darin, dass dieser einen Adel der Natur und eine der Vernunft eingepflanzte Orientierung auf Gott hin erst gar nicht anerkennt. 630 Denn aufgrund ihrer ‚Schein-Göttlichkeit‘ richtet die Vernunft den Willen auf sich selbst als vermeintlich höchstes Ziel aus. Siehe oben, Kap. 2.3.1, S. 200. Vgl. ferner Kap. 3.3.1, Anm. 128. 631 Siehe Kap. 2.2.3.1, S. 146–147.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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herkömmliche und damit außerhalb der diskursiven Innovationen seiner eigenen Lehre liegende Auffassung von der geschaffenen Seele als imago trinitatis gelten.632 Damit macht er zugleich – wenn auch in durchaus abschätziger Weise – die Konzession, dass meritorische Leistungen nicht vollkommen verachtenswert sind: „Ich spriche wærlîche: al die wîle dû dîniu werk würkest umbe himelrîche oder umbe got oder umbe dîn êwige sælicheit von ûzen zuo, sô ist dir wærlîche unreht. Man mac dich aber wol lîden, doch ist ez daz beste niht.“633 Eckhart unterscheidet demnach zwischen ‚gewöhnlichen‘ Gläubigen, die einer konventionellen Verdienstfrömmigkeit anhängen,634 und solchen, die sich von seinen eigenen nova et rara635 leiten lassen. Nur diesen Letzteren, die nach seiner Auskunft für daz beste votiert haben, schenkt er seine Aufmerksamkeit. Nichtsdestotrotz gilt, dass alle Menschen – auch die für Eckharts Lehre unempfänglichen – in ihrem natürlichen Streben auf Gott hin ausgerichtet sind. Das betrifft nicht nur die Vernunft, deren hohe Wertschätzung in den eckhartischen Schriften bereits aufgezeigt worden ist, sondern auch den Willen. Diesen kann der Mensch – wie es thomasischer Lehre entspricht, aber auch in der nach-
632 Meister Eckhart: Pr. Q 14, DW I, S. 230, Z. 6–S. 231, Z. 4: „De myster inde de heylgen sprechent gemeynlichen, dat de sele haue dri creften, dar an sy gelich sy der dryueildicheit. De eirsten craft is gehochnysse, de ment eyne heymeliche, verborgen konst; de nennet den vader. De ander craft heyscht inteligencia, dat is eyne intgegenwordicheit, eyn bekennen, eyne wysheit. Dey dirde crafte de heysset wylle, eyn vloit des heylgen geistes. hey by in wylen wir neit bleuen, want it in is neyt nuwe materie.“ 633 Meister Eckhart: Pr. Q 5b, DW I, S. 90, Z. 12–S. 91, Z. 3. Auf die gleichzeitige Akzeptanz und Abwertung äußerer Werke stößt man in Eckharts Œuvre des Öfteren. Eine gewisse Anerkennung von Bußübungen als Mittel der Unterwerfung des Fleisches unter den Geist findet sich etwa in Pr. S 103, DW IV/1, S. 490, Z. 143–153. Sie werden jedoch gegenüber dem ‚Zaum und Band der Liebe‘ herabgestuft; vgl. ebd., S. 491, Z. 154–S. 492, Z. 177. Ebenso äußert sich Eckhart in Pr. S 104 (DW IV/1, S. 603, Z. 439, Sp. A–S. 604, Z. 477, Sp. A) positiv über äußere Werke, insofern diese den homo exterior disziplinieren. Sie werden allerdings gegenüber dem inneren Werk entschieden abgewertet, ja für bedeutungslos erklärt: „Swenne sich aber der mensche vindet wol geordent ze wârer innerkeit, sô lâz küenlîche abe alle ûzwendicheit, und wæren ez joch solche üebunge, ze den dû dich mit gelübede verbunden hætest, diu dir weder bâbest noch bischof abenemen enmöhten.“ Siehe ebd., S. 604, Z. 478, Sp. A–S. 605, Z. 485, Sp. A. 634 Ein Beispiel dafür, dass auch in Eckharts unmittelbarem Umfeld eine traditionelle Verdienstfrömmigkeit gelehrt werden konnte, bietet Nikolaus von Straßburg. Siehe z. B. ders. (hg. Pfeiffer I): Pr. IV, S. 271, Z. 12–15: „Und sô vil dû eins paternosters ald eins Âvê Marîas ald eins guoten gedankes ald ablâz holest, und waz dû solicher dinge mê tuost denne ein anders, sô vil hestû mê fröden und lônes êweklîch.“ 635 Vgl. Prologus generalis in opus tripartitum, LW I/1, n. 2, S. 149, Z. 1. Insbesondere diese Stelle lässt darauf schließen, dass sich Meister Eckhart der Innovationen, die er in den philosophisch-theologischen Diskurs seiner Zeit einführte, sehr bewusst war.
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eckhartischen Mystik propagiert wird636 – dem göttlichen Willen angleichen und auf diese Weise ein verdienstliches Leben führen. In Eckharts Worten: Dise [gewöhnlichen] menschen sprechent, daz sî ein arm mensche, der niht enwil. Daz bewîsent sie alsô: daz der mensche alsô sül leben, daz er sînen willen niemermê ervülle an deheinen dingen, mêr: daz er dar nâch stân sol, daz er ervülle den allerliebesten willen gotes. Dise menschen sint wol dar ane, wan ir meinunge ist guot; her umbe wellen wir sie loben. Got der sol in geben daz himelrîche von sîner barmherzicheit.637
Dass diese Assimilation des menschlichen Willens an den göttlichen Willen die Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einmal ansatzweise überbrücken kann und mit Eckharts Ideal einer Befreiung des kreatürlichen Willens durch dessen Selbstaufgabe nichts zu tun hat, macht die unmittelbar anschließende Ironie des Meisters zur Genüge deutlich.638 Trotzdem offenbart sich hier die entscheidende Differenz zum ‚Frankfurter‘: Dieser nämlich verwirft in Kongruenz mit seiner Ablehnung einer natürlichen Gottebenbildlichkeit, welche eine Konformität der kreatürlichen Seelenkräfte mit ihrem Schöpfer garantieren würde, die Möglichkeit einer Angleichung des natür-
636 So gehört nach Tauler zur wahren Reue des Menschen der Vorsatz, „[…] mit einer versaster getrúwunge [zů] versinken in das minnenkliche luter gt das Got ist, und an ime und in ime iemer me z blibende und anzhangende mit minnen und mit luterre meinunge in eime vollen bereiten willen, den liebsten willen Gottes z tnde also verre also er mag“. Siehe Pr. V 8 , S. 36, Z. 15–18. Vgl. auch Pr. V 60a, S. 280, Z. 20–22: „Und das ist dis schen das man sche den liebsten willen Gotz und des menschen bestes […].“ 637 Meister Eckhart: Pr. Q 52, DW II, S. 490, Z. 1–6. 638 Pr. Q 52, DW II, S. 490, Z. 6–S. 491, Z. 2: „Aber ich spriche bî der götlîchen wârheit, daz dise menschen niht ensint arme menschen noch armen menschen glîch. Sie sint grôz geahtet in der liute ougen, die niht bezzers enwizzen. Aber ich spriche, daz sie sint esel, die niht enverstânt götlîcher wârheit. Von ir guoter meinunge mügen sie haben daz himelrîche; aber von dirre armuot, von der wir nû wellen sprechen, dâ enwizzen sie nihtes von.“ Den Unterschied zwischen einem Gottes Willen konformen geschöpflichen Willen und einem vollkommen göttlichen Willen erläutert Eckhart in Pr. Q 25, DW II, S. 9, Z. 5–S. 11, Z. 2: „Sô unser wille gotes wille wirt, daz ist guot; aber sô gotes wille unser wille wirt, daz ist verre bezzer. Sô dîn wille gotes wille wirt, bist dû danne siech, sô wöltest dû niht wider gotes willen gesunt sîn, aber dû wöltest, daz gotes wille wære, daz dû gesunt wærest. Und swenne ez dir übel gât, sô wöltest dû, daz ez gotes wille wære, daz ez dir wol gienge. Aber sô gotes wille dîn wille wirt, bist dû siech – in gotes namen! Stirbet dîn vriunt – in gotes namen! […] Swenne der wille alsô vereinet wirt, daz ez wirt ein einic ein, sô gebirt der vater von himelrîche sînen eingebornen sun in sich in mich.“ Der Wunsch nach Selbstbehauptung bleibt also auch in einem guten menschlichen Willen bestehen, der daher die Distanz zum Göttlichen nicht überwinden kann. Die Aufgabe des Eigenwillens ist deshalb Voraussetzung für den Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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lichen Willens an den göttlichen Willen. Was immer der Mensch aus eigenem Willen tut, ist allein deshalb verkehrt, weil er es aus eigenem Willen tut: Das ist czu mercken. Wan got spricht czu Adam, das ist czu eym itlichen menschen: Was du bist ader was du thust ader lessest ader waz geschiet, das ist alles vnvorboten vnd ist erlaubt, also das eß nicht auß dynem ader noch deynem willen geschee, sunder auß vnd nach meynem willen. Was aber geschiet auß deynem willen, das ist alles wider den ewigen willen. Nicht das alle werck, die also geschen, wider den ewigen willen seyn, sunder das sie gescheen vß eynem andern willen ader anders den vß dem ewigen willen.639
Lobenswert sind daher ausschließlich die aus der ‚wahren‘, d. h. göttlichen Liebe heraus verübten Werke: Got hat auch die werck lieb, aber nicht alle werck. Welche dan? Die da gescheen auß der lere vnd anweisunge des waren lichtes vnd vß der waren libe. Wan was uß dissem vnd yn dissem geschiet, das geschiet yn dem geiste vnd yn der warheyt. Vnd was des ist, das ist gotis vnd gefellet ym wol. Aber was geschiet uß falschem lichte vnd vß falscher libe, das ist, als eß mag, vnd besunder was geschiet vnd gethan ader gelassen, gewirckt ader geliden wirt auß eyme andern willen ader begirde ader ander libe den vß gotis willen vnd seyner libe, das ist vnd geschiet an got vnde wider got, vnd ist *doch nicht wider gotis werck, vnd ist alczumal sunde.640
Der ethische Rigorismus des ‚Frankfurter‘ in dieser Passage ist kaum zu überbieten, lässt er dem Menschen doch keine Chance, in seinem geschöpflichen Streben von Gott akzeptiert zu werden. Denn offensichtlich kennt der Traktat nur zwei Arten von Werken: solche, die aus dem ‚wahren‘ – und im Kontext des ‚Frankfurter‘ heißt dies stets: ‚göttlichen‘ – Licht heraus erfolgen und solche, die aus dem ‚falschen‘ – und im Kontext des ‚Frankfurter‘ heißt dies stets: ‚natürlichen‘ – Licht heraus verübt werden.641 Damit ist der Mensch in ein mora-
639 Kap. 50, S. 143, Z. 14–20. Auf diese negative Auslegung des menschlichen Eigenwillens im ‚Frankfurter‘ verweisen auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 35 und Mossman: Die Konzeptualisierung, S. 336. 640 Kap. 47, S. 141, Z. 14–22. 641 Kap. 31, S. 114, Z. 10–13: „Sich, das sal man wol mercken. Eß ist czweierley licht: eyn ware licht vnd das ander falsch. Das ware licht ist das ewige licht, das ist got, ader eß ist eyn geschaffen licht vnnd ist doch gotlich, vnd das heißet man gnade vnd diß ist alles ware licht. So ist falsch licht natur ader naturlich.“ In Opposition zu Meister Eckhart (s. o., Anm. 622) identifiziert der ‚Frankfurter‘ das ‚natürliche Licht‘ mit dem Teufel: „Vnd yn dissem leben vnd lichte vnd yn syner libe ist alles, das dem tufel czu gehort vnd syne eigen ist, also gar, das do nicht vnderscheides ist, den falsch licht, das ist tufel, vnd tufel ist das licht“ (Kap. 43, S. 136, Z. 75–S. 137, Z. 77). Implizit verweist der ‚Frankfurter‘ in dieser Passage darauf, dass er für die ‚Unterscheidung der Geister‘ keinen Raum bietet, denn durch die Identität von ‚natürlichem Licht‘ und Teufel erübrigt sich jede discretio.
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lisches Korsett eingeschnürt, das in doppelter Hinsicht jeden Handlungsfreiraum unterbindet. Weder lässt es ethisch neutrale Werke zu noch bietet es Platz für Handlungen, die aus einer natürlichen Moralität heraus erwachsen. Als Grund für diesen Zwang zum Bösen – der sich also nicht notwendigerweise in verwerflichen Taten offenbaren muss, sondern allein in der ‚eigenwilligen‘ Motivation des Handelns bestehen kann – macht der ‚Frankfurter‘ die Selbstbezogenheit des Menschen geltend und bietet damit einmal mehr eine diskursive Anschlussstelle an die augustinisch-antipelagianischen Schriften mit ihrem Kardinallaster der concupiscentia: „Das kumpt do von, wan alle menschen, yn den das ware licht nicht ist, die synt uff sich selber gekeret vnnd halden sich selber, vnd was yn gute vnd beqweme ist, das halden sie vor das beste.“642 In der Tat korreliert die in unserem Traktat verfochtene Position, dass ein menschliches Werk selbst dann sündhaft ist, wenn es äußerlich dem göttlichen Willen entspricht, mit der Willenslehre in den gnadentheologischen Schriften des Bischofs von Hippo, aber auch mit dem spätmittelalterlichen Antipelagianismus der schola Augustiniana moderna. Denn auch der Kirchenvater bindet den intrinsischen Wert tugendhaften Verhaltens strikt an das diesem vorausgehende gnadenhafte Eingreifen Gottes: Allein die von jeder geschöpflichen Eigeninitiative unabhängige Mitteilung des spiritus gratiae, der den Glauben und die Liebe in den Menschen einsenkt und so dessen von Natur aus falsche Motivation ersetzt, befreit ihn von der Verfallenheit an die Sünde.643 Solange der Mensch nicht auf
Damit vereinseitigt der Traktat die Position all jener mystischen Prosatexte, die zwar vor möglichen Verirrungen des ‚natürlichen Lichts‘ warnen, es aber keineswegs in Opposition zum ‚göttlichen Licht‘ (Gott/Gnade) setzen. Eine komplexe Lehre wie im ‚Geistbuch‘, das zwischen ‚natürlichem Licht‘ und ‚Gnadenlicht‘ verschiedene Stufen eines ‚gemischten Lichts‘ ansetzt (vgl. ebd., hg. Gottschall, S. 34, Z. 146–S. 50, Z. 5), entzieht sich daher den Aussagemöglichkeiten des ‚Frankfurter‘. 642 Kap. 40, S. 128, Z. 92–94. Anders als Johannes Tauler voraussetzt (siehe das Tauler-Zitat aus Pr. V 60a oben in Anm. 636), ist der Mensch im ‚Frankfurter‘ daher gar nicht dazu befähigt, sein Bestes (nämlich den Willen Gottes) zu suchen. Denn er wird immer wieder auf sich selbst als das vermeintlich Beste zurückgeworfen. Vgl. Kap. 44, S. 138, Z. 19–24: „Alle die wiele der mensch syn eygen gut suchet vnd syn bestes als das seyne vnd ym selber vnd als von ym selber, ßo findet er eß nymmer. Wan alle die wile das ist, ßo suchet der mensch nicht syne beste. Wie sold er eß den finden? Wan die wile ym also ist, ßo sucht der mensch sich selber vnd wenet, er sey selber das beste. Vnd sider der mensch das best nicht ist, so sucht der mensch nicht das beste, die wiele er sich selber sucht.“ 643 Siehe beispielsweise c. ep. Pel. III, 4, 11 (CSEL 60, S. 497, Z. 4–12): „Verum haec plane magna distantia est, quod faciunt ista sub lege positi, quos littera occidit, terrenam felicitatem uel cupiditate adipiscendi uel timore amittendi […]. sub gratia uero positi, quos uiuificat spiritus, ex fide ista faciunt, quae per dilectionem operatur […].“ Vgl. etwa auch spir. et litt. XIV, 26 (CSEL 60, S. 180, Z. 18–S. 181, Z. 4). Drecoll weist darauf hin, dass Augustinus’ rigorose Entkopplung von mensch-
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diese übernatürliche Weise zum Tun des Guten befähigt worden ist, bleibt sein Werk – und sei es von außen betrachtet noch so lobenswert – verworfen.644 In bewusster Aufnahme des antipelagianischen Augustinus lehnt auch Gregor von Rimini als prominenter Vertreter der schola Augustiniana moderna die Möglichkeit einer natürlichen Moralität des Menschen entschieden ab.645 Da der Wille in seinem postlapsarischen Zustand nicht auf Gott hin ausgerichtet ist, kann er ohne besondere Gnadenhilfe keinen moralisch guten Akt vollbringen,646 sondern bleibt stets in die Sünde verstrickt.647 Und so wie der ‚Frankfurter‘ nur die Opposition von natürlich-sündhaften und göttlich-sündlosen Werken kennt, schließt auch Gregor ethisch neutrale Werke aus seiner theologischen Anthropologie aus. Entweder werden sie aus natürlichen Kräften vollbracht – dann sind
lichem Handeln und göttlicher Erwählung „theologiegeschichtlich eine substanzielle Neuerung“ darstellt. Siehe Gnadenlehre, S. 491. 644 Dass Julian von Aeclanum eine andere Ansicht vertritt, veranlasst Augustinus zu scharfen Angriffen. Siehe etwa c. Iul. IV, 3, 30 (PL 44, Sp. 733–734): „‚Si gentilis‘, inquis, ‚nudum operuerit, numquid quia non est ex fide, peccatum est?‘ Prorsus in quantum non est ex fide, peccatum est; non quia per se ipsum factum, quod est nudum operire, peccatum est: sed de tali opere non in Domino gloriari, solus impius negat esse peccatum.“ Der Kirchenvater lässt keinen Zweifel daran, dass der natürliche Wille des Menschen nur zum Sündigen befähigt ist, auch wenn sich die Sünde als gutes Werk tarnt. Vgl. ebd., IV, 3, 32 (PL 44, Sp. 734–735): „Ex quo colligitur, etiam ipsa bona opera quæ faciunt infideles, non ipsorum esse, sed illius qui bene utitur malis. Ipsorum autem esse peccata, quibus et bona male faciunt; quia ea non fideli, sed infideli, hoc est, stulta et noxia faciunt voluntate: qualis voluntas, nullo christiano dubitante, arbor est mala, quæ facere non potest nisi fructus malos, id est, sola peccata. ‚Omne enim‘, velis nolis, ‚quod non est ex fide peccatum est‘ (Rom. XIV, 23).“ 1524 attackiert Erasmus in Reaktion auf Martin Luthers Negation der Willensfreiheit genau diese Ablehnung einer natürlichen Moral. Vgl. De libero arbitrio ΔIATPIBH sive collatio, IIa 10: „Ab his [gemeint sind die Scotisten] alii ex diametro, quod aiunt, dissentientes contendunt omnia illa opera quantumvis moraliter bona fuisse deo detestabilia non minus quam scelerate facta, quod genus sunt adulterium et homicidium, quod non profiscerentur ex fide et caritate in deum“; ebd., IV 3: „Cum enim audio adeo nullum esse hominis meritum, ut omnia quamvis piorum hominum opera peccata sint, cum audio nostram voluntatem nihilo plus agere, quam agat argilla in manu figuli, cum audio cuncta, quae facimus aut volumus, ad absolutam referri necessitatem, multis scrupis offenditur animus.“ Zu Augustinus’ Ablehnung eines freien Willens, der von sich aus das Gute anzustreben vermag, siehe auch Flasch: Freiheit, S. 24. 645 Vgl. Schulze: Contra rectam rationem, S. 60. Siehe z. B. Gregor: In 2 Sent., dist. 26–28, q. 1, a. 1 (hg. Trapp/Marcolino), S. 26, Z. 8–12: „Quarta suppositio est quod quilibet homo in statu praesenti infirmus et impotens est ad quemlibet bonum actum cadentem sub divino praecepto, ita quod non solum ad melius vel facilius agendum, sed simpliciter ad agendum indiget propter suam infirmitatem speciali auxilio gratiae dei, in tantum quod nullum actum eiusmodi potest agere non adiutus.“ 646 Vgl. Zumkeller: Die Augustinerschule, S. 222–223; ders.: Erbsünde, S. 6. 647 Vgl. Schulze: Contra rectam rationem, S. 60. Siehe z. B. Gregor: In 2 Sent., dist. 26–28, q. 1, a. 1, additio 47 (hg. Trapp/Marcolino), S. 28, Z. 13–14: „Sexta suppositio est quod homo in statu praesenti non est ex se sufficientior ad habendum bonum velle quam diabolus.“
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sie hinsichtlich des Seelenheils wertlos – oder sie erwachsen aus der Gottesliebe – dann kommt ihnen Heilsrelevanz zu, jedoch ohne menschliches Zutun.648 Wie der ‚Frankfurter‘ innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ lehnt daher auch Gregor in seinem akademisch-scholastischen Sentenzenkommentar jegliches Verdienstdenken ab.649 Indem der ‚Frankfurter‘ Eckharts Abneigung gegenüber einem meritorischen Streben, das den Menschen in der ‚Paradoxie der Weltflucht‘ gefangen hält, zu einer grundsätzlichen Unfähigkeit zum Guten verabsolutiert, bewegt er sich einmal mehr an den Grenzen des ‚mystischen Diskurses‘. Dass er diesen dennoch nicht verlässt, ist zum einen der nichtsdestotrotz vorhandenen Äquivalenz mit den Aussagen Eckharts zur Distanz von Mensch und Gott zu verdanken. Zum anderen bewirkt die verstärkte Fokussierung auf die erbsündliche Verfasstheit des Menschen in der nacheckhartischen Mystik, dass der im eckhartischen Œuvre zugestandene Freiraum ethischer Selbstverantwortung zunehmend in Frage gestellt wird. Daher nimmt es kaum wunder, dass manche Predigten und Traktate das menschliche Verdienststreben mit Aussagen abqualifizieren, die in ihrer Härte weder Augustinus noch dem ‚Frankfurter‘ nachstehen. So betont etwa das ‚Buch geistlicher Armut‘ die innere Wertlosigkeit von Handlungen, die nicht aus dem Wirken Gottes heraus erfolgen: „Und dar umb ſprach unſer herre: ‚one mich enmúgent ir nihtes nit getn‘. Ja bettet ein menſche und wúrcket es got nit, es iſt nit gt.“650 Ähnlich abschätzig über die ethische Leistungsfähigkeit des Menschen
648 Vgl. Schulze: Contra rectam rationem, S. 62–63; Zumkeller: Die Augustinerschule, S. 222; ders.: Erbsünde, S. 7. 649 Vgl. Zumkeller: Die Augustinerschule, S. 223; ders.: Erbsünde, S. 8. Die hier konstatierte Nähe des ‚Frankfurter‘ zu Aussagen Gregors von Rimini ist zwar bemerkenswert, innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ jedoch nicht singulär. Im ‚Traktat von der Minne‘, den Witte Johannes Hiltalingen von Basel zuschreibt (vgl. Der ‚Traktat von der Minne‘, S. 458–459), wird Gregors Lehre von der Notwendigkeit einer besonderen Gnadenhilfe für jeden moralisch guten Akt ausdrücklich mit Meister Eckharts ‚Ungeschaffenem in der Seele‘ identifiziert (vgl. Z. 156–168). Dieser bewusst hergestellte intertextuelle Bezug verweist darauf, dass die Anschlussmöglichkeiten des ‚mystischen Diskurses‘ an augustinisch-antipelagianische Theologieentwürfe nicht ausschließlich aus der historischen Distanz sichtbar werden, sondern bereits im vierzehnten Jahrhundert wahrgenommen wurden. 650 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 101, Z. 36–38. Bei Ioh 15, 5 handelt es sich um eines der geradezu inflationär verwendeten Lieblingszitate des antipelagianischen Augustinus. Vgl. Kap. 2.2.3.6, Anm. 431. Siehe auch oben, Kap. 2.3.2.2, Anm. 568 und 573. Ungeachtet seiner Verteidigung der menschlichen Natur (vgl. Kap. 2.2.2.1, Anm. 159) ist die Verdienstlehre des Buchs geistlicher Armut stark von antipelagianischen Motiven durchsetzt. Die wiederholte Ermahnung des Menschen, „daʒ er nihtes nit gtes vermag ane got“ (S. 36, Z. 12; vgl. auch S. 169, Z. 22–23), wird ganz im augustinischen Sinne damit begründet, dass allein aus der göttlichen Liebe heraus verübte Werke verdienstvoll seien. Siehe ebd., S. 143, Z. 1–7: „Aber es wenet manig menſche uſſer
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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äußern sich zum Beispiel Johannes Tauler,651 Pseudo-Engelhart von Ebrach652 oder Jan van Ruusbroec.653
2.3.2.4 Die Anerkennung des Verdienststrebens in der nacheckhartischen Mystik und die Gegenposition des ‚Frankfurter‘ Das aus der Erbsünde erwachsene Unvermögen des Menschen, sich aus eigener Kraft auf Gott zuzubewegen, wird allerdings durch einen anderen Grundzug der nacheckhartischen Mystik relativiert: Es handelt sich um die omnipräsente Forderung der imitatio Christi, die im Rückgriff auf ältere geistliche Konzepte654 als
minnen wúrcken, da doch nit minne iſt, und da von ſint ſin minnewerck dicke bſe, wan gtliche minne iſt geordent uf ein notdurftig ʒil, und wer unordenlich und ane notdurft minnewerk wúrcket, ſo verlúret minne iren nammen, und geſchicht ein werck ane minne. Und ſoliche werck ſint nit lonber, wan ſanctus Paulus ſprichet: ‚habe ich nit gtliche minne, ſo hilfet mich nit alles daʒ ich getn‘.“ Die verstärkte Beachtung menschlicher Sündhaftigkeit in der nacheckhartischen Mystik ist in der geistlichen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts vorgezeichnet. In den David von Augsburg zugeschriebenen Prosatexten zum Beispiel verbinden sich mystische Aufstiegskonzepte mit der Überzeugung einer tiefgreifenden Korrumpierung des Menschen durch die Sünde. Siehe etwa Die sieben Vorregeln der Tugend (hg. Pfeiffer I), S. 320, Z. 39–40: „Wan wil er [got] unser guotæte nâch rehte ansehen, sô ist si wirdiger pîne denne lobes oder lônes“; ebd., S. 322, Z. 27–29: „[…] wan diu wârheit ist, daz wir bœse sîn und niht guotes von uns selben haben niwan sünde, und unser übeltæte ist gar übel und unser guotæte ist niht lûter guot.“ 651 Pr. V 60h, S. 323, Z. 24–26: „Kinder, sin hant ist also gewaltig, sú ist wise und gt und minnesam; so sint wir krang und blint und bse und mgent nút one in getn.“ Vgl. auch Pr. V 43, S. 187, Z. 17–24: „Das dritte, das der mensche habe ein vertiefte demtkeit und sol ston uf sime eigenen, das ist: nicht. Ist út anders do, das enist sin ze mole nút, und alles sin tn und sin werk, als verre als si von im sint, sol er haben fúr bs und sich selber fúr bs. Als stnt ein heiliger brder, durch den Got manig zeichen und grosse wunderliche ding hatte geton, von sime gtlichem lebenne in unserm kore und sprach us dem grunde sines herzen z mir: ‚wissist, das ich bin der aller bste und meiste súnder der in aller der welte lebet‘.“ 652 Das Buch der Vollkommenheit (hg. Schneider), Nr. 104, S. 49, Z. 2–3: „Wenne dú zů rehter bekentnisse kumest, so verstestu, daz ellú dinú gůten werg gotes sin und niht din.“ 653 Anders als Meister Eckhart hält Ruusbroec die menschliche Natur für so zerrüttet durch die Sünde, dass sie ohne göttlichen Gnadenbeistand verloren ist. Siehe dazu Khorkov: Unbekannter Eckhart, bes. S. 592–594. Vgl. auch ders.: Der Traktat, S. 214–215. Khorkov weist darauf hin, dass die Verknüpfung eckhartischer und augustinisch-antipelagianischer Lehre es erlaubte, „Eckharts Erbe im Rahmen eines neuen theologischen Diskurses von freigeistigen oder pantheistischen Fehlinterpretationen zu befreien“ (ebd., S. 218). Zur Verbindung von eckhartischen und augustinischen Elementen siehe auch oben, Anm. 649. 654 Insbesondere das zisterziensische und das franziskanische Schrifttum des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts stellen Leben und Leiden Christi in den Mittelpunkt. Zur Inspiration der Passionsfrömmigkeit durch Bernhard von Clairvaux und ihrer literarischen Entfaltung – etwa in
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adäquates Mittel zum spirituellen Aufstieg propagiert wird.655 Damit reagiert die mystische Prosaliteratur auf Eckharts konsequente Interiorisierung des Göttlichen, d. h. auf ein theologisches Konzept, welches das Christussein des Menschen stets von der unio her denkt. Wahre Christusnachfolge besteht nach Eckhart gerade nicht in der Nachahmung des Christus exemplum, sondern offenbart sich als tätige Verwirklichung der Gottesgegenwart im Innersten der Seele, also im Ausströmen des göttlichen Wirkens auf den ,äußeren Menschen‘.656 Insbesondere jene Texte der nacheckhartischen Mystik, in denen der mystagogische Anspruch gegenüber den philosophisch-theologischen Spekulationen dominiert, drehen dieses Verhältnis um, indem sie auf die unio hin denken.657 Unter Anwendung des traditionellen Dreischritts vom anfangenden, fortschreitenden und vollendeten Menschen behalten sie die ‚bildhafte‘ – also am Lebens- und Leidensvorbild Christi orientierte ‒ Christusnachfolge den beiden unteren Stufen vor, auf denen durch die Disziplinierung des ,äußeren‘ die Transformation des ‚inneren Menschen‘ erfolgt. Erst auf der höchsten Stufe wird dem Menschen gestattet, die ‚Bilder‘ hinter sich zu lassen und in die Christusnachfolge im eckhartischen Sinne einzutreten.658 Die unio als Vollendung des menschlichen Daseins ist in diesem
den ungemein erfolgreichen Meditationes vitae Christi aus franziskanischem Kontext – siehe Köpf: Die Passion sowie Steer: Die Passion. 655 Eine systematische Verortung der Passionsmeditation innerhalb des monastischen Wegemodells hatte bereits Bonaventura vorgenommen. Siehe den Auszug aus De triplici via (in volkssprachlicher Übersetzung) in Ruh (Hg.): Bonaventura deutsch, S. 338, Z. 6–S. 341, Z. 13. Vgl. auch Ruh: Geschichte, Bd. 2, S. 434, 436, 438. Siehe zudem Wegener: Wie der mensche, S. 109–123. 656 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben, Kap. 2.3.2.2, S. 219 mit Anm. 599. 657 Zu Tauler siehe Haug: Johannes Taulers Via negationis, bes. S. 83. Zu diesen mystagogisch ausgerichteten Schriften gehören unter anderem auch die Seuse-Vita oder das ‚Buch geistlicher Armut‘. Die folgenden Darlegungen beziehen sich in erster Linie auf diese Texte. Die eher spekulative Eckhart-Rezeption der ‚deutschen Mystik‘ wird vor allem durch die erstmals von Franz Pfeiffer (Pfeiffer II) edierten Pseudo-Eckhartiana repräsentiert. Eine klare Grenze zwischen ‚spekulativen‘ und ‚mystagogischen‘ Schriften lässt sich jedoch nicht ziehen. 658 In der Seuse-Vita wird dieser Dreischritt konsequent narrativ umgesetzt: Während der Diener als ‚anfangender Mensch‘ in eine selbst gewählte, durch exzessive Selbstkasteiungen gekennzeichnete Christusnachfolge eintritt (Kap. 1–19), muss er als ‚fortschreitender Mensch‘ jene Leiden ertragen, die Gott ihm auferlegt (Kap. 20–31). Als Lohn für diese Selbstüberantwortung an den göttlichen Willen wird dem Diener der ‚Durchbruch‘ in die Gottheit als Vollendung seines irdischen Daseins in Aussicht gestellt (Kap. 32, bes. S. 94, Z. 5–S. 95, Z. 12 [hg. Bihlmeyer]). Der geistliche Aufstieg des Dieners findet im zweiten Teil der Vita eine (geschlechtsspezifisch modifizierte) Spiegelung im Leidensweg seiner geistlichen Tochter. Erst nachdem diese „dur daz spiegelich leben Cristi, der der sicherst weg ist, waz ordenlich lang zit gezogen“ (Kap. 46, S. 155, Z. 18–19), darf sie sich zum Adel „eins seligen volkomen lebens“ (ebd., S. 156, Z. 5–6) emporschwingen. Dieses ist sowohl durch die Überwindung der ‚Bilder‘ (vgl. dazu vor allem die Anweisungen zum ‚innerlichen Leben‘ in Kap. 49) als auch durch die Integration der eckhartischen Lehre in den
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Modell anders als bei dem thüringischen Dominikaner nicht mehr Resultat eines autonomen Reflexionsprozesses, sondern gnadenhafte Belohnung für die in der Angleichung an die vita Christi erworbenen Verdienste. Insofern findet parallel zur Desavouierung der menschlichen Natur ein Prozess der ‚Pelagianisierung‘ statt, der paradoxerweise durch die Distanzierung von Eckharts augustinischer Spiritualität zusätzlich forciert wird. Denn gerade die Überzeugung von der erbsündigen Verfasstheit der natura hominis ließ es notwendig erscheinen, dem Menschen eine Grundorientierung in Gestalt des „aller minneklichesten bilde, unser[s] lieben herren Jhesu Christo“659 vorzugeben, um ihn vor moralischen Verfehlungen zu bewahren. Die Fokussierung auf den irdischen Christus in seiner Menschlichkeit ist in der nacheckhartischen Mystik außerdem gegen häretische, oft als ‚freigeistig‘ stigmatisierte Fehlauslegungen geistlicher Vervollkommnung gerichtet, denen als gemeinsames Merkmal die Verweigerung gegenüber einer physischen wie psychischen Christusnachfolge zugeschrieben wird, welche durch ihren Demutsund Leidenscharakter der naturhaften Tendenz des Menschen zur Selbstüberschätzung und Bequemlichkeit zuwiderläuft.660 Außerdem dürften seelsorgerliche Erwägungen bei der literarischen Konzeption Christi als Tugend- und Leidensvorbild eine Rolle gespielt haben, vermochte die Verpflichtung des Gläubigen auf eine bildhaft greifbare, zunächst auf die Disziplinierung des ,äußeren Menschen‘ ausgerichtete Christusnachfolge doch ein pastorales Defizit der eckhartischen Lehre auszugleichen: Denn deren rigorose Forderung einer inneren Christuswerdung des Menschen, die eine Aufgabe
eigenen Lebensvollzug gekennzeichnet (vgl. dazu v. a. die ‚spekulativen Lehrkapitel‘ 46–52; siehe auch unten, Kap. 3.1, Anm. 3). Programmatisch äußert sich bereits der Prolog in Seuses ‚Exemplar‘ zum geistlichen Dreischritt von Anfang, Fortschritt und Vollendung (hg. Bihlmeyer, S. 3, Z. 2–18). Der ‚Frankfurter‘ indessen begnügt sich damit, in den jeweils wenige Zeilen umfassenden Kapiteln 13 und 14 sowohl die Lösung von den ‚Bildern‘ als auch den dreifach gestuften geistlichen Aufstiegsweg als Themen des ‚mystischen Diskurses‘ zu erwähnen und damit implizit auf andere Texte des paradigmatischen Korpus zu verweisen. Innerhalb des Syntagmas stehen beide Kapitel jedoch isoliert. Siehe auch Kap. 2.1, Anm. 15 und 16. 659 Johannes Tauler: Pr. V 37, S. 142, Z. 12–13. 660 Tauler etwa grenzt gegenüber den wahren Nachfolgern Christi die ‚freien Geister‘ und die ‚falschen Ledigen‘ ab sowie jene, die sich statt auf Gott auf ihre eigenen Werke verlassen. Siehe Pr. V 48, S. 218, Z. 35–S. 219, Z. 5: „Nu lot in [jenen, der Christi Fußspuren folgte] denne der herre sehen die sweren vinsteren wege und die engen phede die er úbergangen hat; denne enmag im nieman me geschaden, denne werdent si alles irs ellendes ergetzet. Dis ist ungeret in der worheit den frijen geisten die in valscher friheit glorierent, und och dennen mit der valscher lidikeit, die sich eines valschen friden vermessent, und och den die in iren eigenen wisen und ufsetzen stont, und do an gengt licht XL jor oder me, und hant grosse werk getan. Dise alle enwolten disen engen weg [der Christusnachfolge; siehe S. 218, Z. 27–29] nút gon.“
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jeglichen Eigenwirkens voraussetzt, kann schwerlich als Leitfaden zur Lebenspraxis dienen.661 Zwar integriert auch Eckharts Lehre eine existentielle Komponente, jedoch nicht in der Weise, dass die Predigten und Traktate des Thüringers einen Weg zum Ziel vorgeben. Vielmehr erwächst das tugendhafte Leben Eckhart zufolge aus der unio, ist also nicht Wegweiser zur geistlichen Vollkommenheit, sondern bereits deren Ausdruck. Mit der Reintegration der imitatio Christi in den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts wird jedoch nicht nur insofern ein ‚pelagianisches‘ Moment importiert, als das Verdienstdenken eine Rehabilitation erfährt.662 Ungeachtet ihrer Hervorhebung menschlicher Sündenverfallenheit setzen die mystischen Prosatexte voraus, dass der Gläubige trotz der Schwächung seiner Natur durch das peccatum originale die Forderung der Christusnachfolge erfüllen kann. Damit bleibt der Mensch bei aller Betonung seiner Gnadenabhängigkeit aktiver Gestalter seines Daseins – eine vom späten Augustinus zurückgewiesene, in der zeitgenössischen scholastischen Theologie jedoch weithin akzeptierte Position.663
661 Haug (Johannes Taulers Via negationis, S. 77) bemerkt daher zu Recht: „Zum monolithischen mystischen Konzept Eckharts gehört eine Rücksichtslosigkeit den Rezipienten gegenüber, die schwerlich radikaler sein könnte.“ 662 Insofern der Mensch als Lohn für sein Streben die Vereinigung mit Gott erhoffen darf. Vgl. etwa Tauler: Pr. V 28, S. 117, Z. 14–18: „Welich mensche sich denne wol vor gebet hat und sich gelútert hat in naturen und in geiste noch sime vermúgende, do wurt ein minneclicher sunk, und also denne die nature das ire gett und sú nút fúrbas enmag und sú uf ir hhestes kummet, so kummet das gtteliche abgrunde und lat do sine funken stieben in den geist […].“ Die Unterstreichung [L. W.] hebt Taulers Formulierung des facere quod in se est hervor, welches in der scholastischen Theologie das Zusammenwirken von menschlichem Streben und göttlicher Gnadenzuwendung begründet. Vgl. Kap. 2.3.4. Zum ‚Durchbruch‘ in die Gottheit als Lohn für ein der imitatio Christi gewidmetes Leben siehe auch oben, Anm. 658. 663 Im Gegensatz zu Pelagius vertraut Augustinus nicht darauf, dass der Mensch aus eigenen Kräften dazu in der Lage ist, dem Vorbild Christi zu folgen. Vielmehr muss der Entscheidung zur imitatio Christi die unverdient geschenkte Gnade Gottes vorausgehen – die dieser dem Menschen aufgrund seiner Souveränität auch vorenthalten kann. Eine aktive, auf seiner Naturausstattung basierende Wahl des richtigen exemplum ist für den Menschen also ausgeschlossen. Vgl. Drecoll: Gnadenlehre, S. 495 sowie Geerlings: Christus als exemplum, S. 437. Siehe ferner oben, Kap. 2.3.2.1, Anm. 552. Bereits Petrus Lombardus korrigiert in seinen ‚Sentenzen‘ die Härte der augustinischen Position, indem er „den Willen des Menschen als durch Gottes Gnade zum Tun des Guten befähigt“ herausstellt: Zwar bedarf der Wille der Befreiung durch die wirkende Gnade Gottes (gratia operans). Dann aber kann er – wenn auch im Zusammenspiel mit der mitwirkenden Gnade (gratia cooperans) – selbstbestimmt handeln. Vgl. Burger: Freiheit zur Liebe, S. 31–32 (Zitat: S. 32); Rieger: Sentenzenwerk, S. 591. Der Synergismus von menschlicher Entscheidungsfreiheit und göttlicher Gnadenmitteilung wird in der scholastischen Theologie aufrechterhalten, auch wenn die verschiedenen Schulrichtungen (etwa Thomismus, Scotismus, Ockhamismus) bei
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Innerhalb einer augustinisch-antipelagianischen Diskurstradition wäre es zwar unumgänglich, die Fähigkeit zur Christusnachfolge als Gnadengeschenk Gottes zu deuten, also auf das augustinische „Da quod iubes et iube quod vis“ hin auszulegen.664 Der ‚mystische Normaldiskurs‘ schließt dies jedoch aus, da Gnade hier nicht als willkürlicher Akt der Erwählung, sondern als unverbrüchliche Zuwendung Gottes zu allen Menschen verstanden wird.665 Denn die in der augustinischen Spiritualität der mystischen Predigt- und Traktatliteratur implizierte Intimität von Gott und Mensch, die auch nach der Zensurierung Meister Eckharts
der Begründung und Definition dieses Zusammenwirkens weit voneinander abweichen. Vgl. dazu den Überblick bei Hauschild: Art. ‚Gnade IV‘. Gegen diese Aufweichungen der augustinischen Gnadenlehre versucht die schola Augustiniana moderna, deren ursprüngliche Schärfe wieder zur Geltung zu bringen. Siehe dazu Kap. 2.2.1, S. 97–99 sowie oben, Kap. 2.3.2.3, S. 233–234. 664 Eine Formel, die bei Pelagius auf heftige Ablehnung stieß. Vgl. Löhr: Der Streit, S. 191 sowie ders.: Augustin, S. 230–234. 665 Grundgelegt ist dies bereits bei Meister Eckhart. Vgl. Winkler: Meister Eckhart, S. 147. Zu Recht bemerkt Flasch (Meister Eckhart. Die Geburt, S. 115), dass Eckhart unter Gnade die „substantiale Menschzuwendung“ Gottes versteht. In den Rahmen dieser Lehre kann der Thüringer sogar das augustinische „Da quod iubes et iube quod vis“ (siehe die vorhergehende Anm.) einspannen, welches ursprünglich die Ohnmacht des Menschen hinsichtlich der von ihm geforderten Erfüllung des göttlichen Gesetzes zum Ausdruck bringt. Vgl. Meister Eckhart: Pr. Q 38, DW II, S. 245, Z. 1–8: „‚Got mit dir‘ – dâ geschihet diu geburt. Ez endarf nieman unmügelich dünken, hie zuo ze komenne. Waz schadet mir daz, swie swære ez ist, sît er ez würket? Alliu sîniu gebot sint mir lîhte ze haltenne. Er heize mich joch allez, daz er welle, des enahte ich nihtes niht, daz ist mir allez kleine, ob er mir sîne gnâde dar zuo gibet. Ez sprechent etlîche, sie enhaben ez niht; sô spriche ich: ‚daz ist mir leit. Begerst dû es aber?‘ –‚Nein!‘ –‚Daz ist mir noch leider‘. Enmac man ez niht gehaben, sô habe man doch eine begerunge dar zuo. Enmac man der begerunge niht gehaben, sô beger man doch einer begerunge“ [Hervorhebung L. W.]. Eckhart lässt keinen Zweifel daran, dass der Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund durch das initiale Begehren des Menschen motiviert wird. Siehe zu diesem ‚pelagianischen‘ Moment auch die Ausführungen weiter oben in Kap. 2.3.2.3 sowie in Kap. 2.3.4, S. 261–262. In der nacheckhartischen Mystik findet sich im Unterschied zu Eckhart durchaus auch ein Verständnis von Gnade als akzidentieller Zusatzausstattung der Seele, welche den Menschen zur Erreichung seines Letztzieles befähigt. Die Zuwendung der Gnade wird jedoch auch in diesem Fall eher als metaphysische Gesetzmäßigkeit denn als göttlicher Willkürakt gedeutet, da sie der natürlichen Strebenstendenz der Seele entspricht. Vgl. Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 61, Z. 315–S. 62, Z. 321: „Dy dritte vrage ist, ab der geist kvmen mvge zv sime hosten gute von nature ader ab her bedurfe einer vber naturlichen craft. Sant Augustinus sprichet: Dy sele ist von nature geschaffen zu ewiger selikeit, sv inmac vr aber nicht vrvolgen svnder genade, wan dy heiligen sprechen, daz der mensche kein werc gewirken inmvge daz ewiges lones wirdic si svnder genade.“ Die Texte der ‚deutschen Mystik‘ gehen sogar so weit, eine gewisse Angewiesenheit Gottes auf den Menschen zu konstatieren, da Letzterer durch die Aufgabe jeglichen Eigenwirkens ‚Raum‘ für das göttliche Wirken im Seelengrund schaffen müsse. Der ‚Frankfurter‘ übersteigert dieses Konzept zu einer Abhängigkeit Gottes vom Menschen. Siehe dazu Kap. 3.2.3, bes. S. 338–340.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
nicht preisgegeben wird, setzt die Bereitschaft – ja, das Verlangen – Gottes voraus, jedem Menschen die Gottessohnschaft zu gewähren.666 Der Menschzuwendung Gottes entspricht daher auf Seiten des Menschen die Befähigung, seine Natur an die vita Christi anzugleichen.667 Das Zusammenwirken von Gott und Mensch wird also in der nacheckhartischen Mystik als reziprokes Verhältnis interpretiert: Aufgrund der allgemeinen Menschzuwendung Gottes und der Inkarnation Christi kann sich der Gläubige zur imitatio Christi entscheiden. Dieser Angleichungsprozess bewirkt die allmähliche Formung des homo exterior wie des homo interior und wird dem Menschen als Verdienst angerechnet. Da die Vollendung seines Daseins in der unio aus natürlichen Kräften nicht zu erreichen ist, bleibt er auf die Selbstmitteilung Gottes als Lohn für sein geistliches Streben angewiesen.668 Auch jenseits des engen Kontextes der Christusnachfolge – also bei einer allgemeineren Behandlung der Tugendkompetenz des Menschen – betonen die
666 Meister Eckhart: Pr. Q 26, DW II, S. 34, Z. 7–S. 35, Z. 7: „Sehet, alsus liepkôset uns got, alsus vlêhet uns got, und got enmac niht erbeiten, biz sich diu sêle gesmucket und geschelet von der crêatûre, und ist ein sicher wârheit und ein nôtwârheit, daz gote alsô nôt ist, daz er uns suochet, rehte als ob alliu sîn gotheit dar ane hange, als si ouch tuot. Und got enmac unser als wênic enbern, als wir sîn, wan wære joch, daz wir uns von gote gekêren möhten, sô enmöhte sich doch got niemer von uns gekêren. Ich spriche, daz ich got niht biten enwil, daz er mir gebe; ich enwil in ouch niht loben, umbe daz er mir gegeben hât, sunder ich wil in biten, daz er mich wirdic mache ze enpfâhenne, und wil in loben, daz er der natûre ist und des wesens, daz er geben muoz. Der daz got benemen wölte, der benæme im sîn eigen wesen und sîn eigen leben.“ 667 Marquard von Lindau zufolge kann der Mensch seine Natur sogar dahingehend formen, dass sie geradezu nach der Leidensnachfolge verlangt. Siehe ders. (hg. Blumrich): Pr. 10, S. 99, Z. 445– 453: „[…] mer wa der menſch da z kumet mit rehter grundlſer gelſſenhait, daz er mit rehter wrhait geſprechen mag: Ich vind in minem ganczen willen, daz mir daz liden nſers herren Jeſu Criſti als reht lieb worden iſt, daz ich grſſen luſt vind in miner natur, daz ſi gern litti dem liden Chriſti ze eren […] wer diſſ gancz in im vindet, der danket Criſtus ſinem liden ze reht, als vil es nſ muglich iſt.“ Auch Seuses ‚Buch der Wahrheit‘ legt die Christusnachfolge in das Vermögen des Menschen. Siehe ebd. (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 30, Z. 44–48: „Wa sich daz hpt hin kerte, da kerte sich och der lip hin. Daz betútet die einmtikeit der getrúwen nachvolge sines [Christi] reinen spiegellichen lebennes und gter lere, z der sú sich vermúgentlich kerent und sich dem glich haltent.“ 668 Ein Anspruch auf diese Präsenz des Göttlichen besteht freilich nicht. Das ‚Buch der Wahrheit‘ etwa erkennt zwar allen Menschen die Möglichkeit zu einem lobenswerten Leben zu, behält den Aufstieg zur Gottesschau aber den wenigen Erwählten vor. Es unterscheidet daher von den zur Erkenntnis des ewigen Nichts Berufenen jene ‚guten, einfachen‘ Menschen, „[…] die in loblicher heilikeit lendent, dien doch hierz nút ist gerffet“. Ebd. (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 54, Z. 437–438. Ein latenter Widerspruch ergibt sich zwischen der Aussage, dass die Gottesschau ein göttliches Geschenk ist, und dem in der ‚deutschen Mystik‘ ebenfalls gültigen Axiom bonum est diffusivum sui (siehe dazu Kap. 3.2.3, S. 339), demzufolge sich Gott als der Gute schlechthin dem ‚gelassenen‘ Menschen mitteilen muss.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
241
mystischen Predigten und Traktate regelmäßig die Notwendigkeit einer Hinbewegung auf Gott durch ein verdienstliches Dasein669 und sichern ihren Rezipienten so einen Freiraum moralischer Eigenverantwortung zu. Mit dieser Einschreibung einer Kooperation von Gott und Mensch in den ‚mystischen Diskurs‘, für deren autoritative Absicherung gerne Augustinus in Anspruch genommen wird,670 bereiten die mystischen Texte des vierzehnten Jahrhunderts jene frömmigkeitstheologischen Schriften des fünfzehnten Jahrhunderts vor, die – ohne seine Gnaden-
669 Der Franziskaner Marquard von Lindau warnt geradezu vor der Aufgabe jeglichen Eigenwirkens, da der Mensch dadurch seinen Anspruch auf die ewige Seligkeit verliere, die er sich durch seine meritorischen Leistungen verdienen müsse. Siehe ders. (hg. Blumrich): Pr. 37, S. 278, Z. 477–484: „Die frg: Sol denn der menſch nit gancz ſtill ſin n alle bung der tugend vnd luterlich liden daz werk gottes in im? Die antwúrt: Man vindet ettlich menſchen, die da ſprechend, ſi lident gottes wúrken ledeklich vnd wellend ſin fri alles wúrkends der tugend. Vnd daz iſt valſch an im ſelber, wan gottes wúrken n die creatur iſt ewig in im ſelb vnd vnwandelbr, vnd was gott wúrket n die creatur, d mit wirt nihtes nit verdienet, wan n nſer aigen wúrken, minnen vnd bekennen ſo mugend wir nit ſlig ſin noch ſlikait gewinnen.“ Der Traktat Von abegescheidenheit warnt zwar vor dem Irrglauben, dass Gott durch Gebete oder gute Werke von Seiten des Menschen beeinflusst werden könne, würde dies doch seiner Unwandelbarkeit entgegenstehen (vgl. Meister Eckhart [?]: DW V, S. 414, Z. 1–6). Diese auf den ersten Blick augustinisch-antipelagianische Position wird im Anschluss jedoch mit Verweis auf die göttliche præscientia relativiert: Aufgrund seines Vorauswissens habe Gott das Gebet des Menschen im Falle seiner Ernsthaftigkeit vor aller Zeit angenommen und im Falle seiner Nachlässigkeit zurückgewiesen (vgl. ebd., S. 414, Z. 9–S. 416, Z. 4). Auf diese Weise kann der Traktat Von abegescheidenheit im Sinne einer praedestinatio post praevisa merita am Verdienstdenken festhalten (ebd., S. 416, Z. 4–7): „Und alsô stât got alle zît in sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und enist doch dar umbe der liute gebet und guotiu werk niht verlorn; wan der wol tuot, dem wirt ouch wol gelônet, der übel tuot, dem wirt ouch dar nâch gelônet.“ 670 Pfeiffer II, Pr. LXVIII, S. 216, Z. 24–26: „Als er [der Vater] aber sol bekêren den sünder, sô bedarf er, daz ime der sünder helfe, wan er bekêret dich niht âne dîne helfe, als sant Augustînus sprichet“; Seuse (hg. Bihlmeyer): Pr. 2, S. 515, Z. 24–25: „Sant Augustinus sprichet: got hat dich gemacht sunder dich, er machet dich nummer gerecht sunder dich“; Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 40, S. 308, Z. 272–276: „Dr vmb n nſer aigen wúrken, minnen vnd bekennen ſo mugent wir nichtes nit verdienen noch ſlikait beſiczen. Dr vmb ch ſanctus Auguſtinus ſprichet: ‚Qui creauit te ſine te etc. Der dich geſchaffen ht n dich, der rechtvertiget dich nit n dich.‘“ Wriedt (Staupitz und Augustin, S. 238–239) weist darauf hin, dass auch Johann von Staupitz das augustinische „Non enim sine te deus te salvum faciet qui te sine te creavit“ mehrfach zitiert. Aufgrund der antipelagianisch ausgerichteten Gnaden- und Verdienstlehre des Augustinereremiten, der die Neuausrichtung der Wittenberger Theologie entscheidend inspirierte, mag dies zunächst erstaunen. Tatsächlich verwendet aber auch Augustinus diesen Satz in einem antipelagianischen Kontext: Gott sei der eigentlich Handelnde, während dem Menschen nur die Funktion eines Werkzeugs zukomme. Vgl. Wriedt, ebd. Damit ist das Augustinus-Zitat ein weiteres Beispiel dafür, dass ursprünglich antipelagianisch ausgerichtete Aussagen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ eine gegenteilige semantische Färbung annehmen können, wird in den oben genannten Beispielen doch die moralische Selbstverantwortung des Menschen betont.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
abhängigkeit zu leugnen – von der naturgegebenen Befähigung des Menschen zum Guten überzeugt sind.671 Dass weder Meister Eckhart noch der ‚Frankfurter‘ eine solche in der Christusnachfolge fundierte Werkgerechtigkeit zulassen und dadurch einen augustinischantipelagianischen Grundzug in ihre theologische Anthropologie integrieren, wurde weiter oben in diesem Kapitel bereits ausführlich dargestellt. Abweichend von der Lehre des Thüringers – dafür aber im Einklang mit der nacheckhartischen Mystik – spielt die Aneignung der vita Christi im ‚Frankfurter‘ allerdings eine immens wichtige Rolle, kann doch nur über sie die Bildwerdung des Menschen erfolgen.672 Der ‚Frankfurter‘ laviert also zwischen verschiedenen Ausprägungen des ‚mystischen Diskurses‘, indem er sich hinsichtlich seiner Bestimmung des GottMensch-Verhältnisses einerseits in die eckhartische Tradition stellt, andererseits aber auch einen Grundzug der nacheckhartischen Mystik übernimmt. Damit aber importiert er genau jene Aporie, die auch in seiner Bildlehre zum Tragen kommt: Denn die praktisch-ethische Forderung, durch Einübung in das Christusleben zum Bild Gottes zu werden, wird auf der Werkebene dadurch ad absurdum geführt, dass der Traktat die eckhartische Ablehnung jeglichen Verdienststrebens zu einer naturhaften Unfähigkeit des Menschen zum Guten verabsolutiert. Vita Christi und natura humana stehen im ‚Frankfurter‘ in einem unaufhebbaren Gegensatz zueinander, so dass die in anderen mystischen Prosatexten des paradigmatischen Korpus selbstverständliche Möglichkeit einer geistlichen Orientierung des Menschen am Christus exemplum hier nicht gegeben ist. Vielmehr resultiert aus der Herrschaft des ‚falschen Lichts‘ – d. h. der widergöttlichen natürlichen Vernunft – jene Verweigerung gegenüber der imitatio Christi, die für die ‚freigeistige‘ Verirrung des Menschen und seine diabolische Ausrichtung charakteristisch ist: Aber da das falsch licht ist, do wirt man vnachtsam Cristus leben vnd aller togent, sunder was der natur beqwem vnd lustig ist, das wirt da gesucht vnnd gemeynet. Da von kumpt den falsch, vngeordent freyheit, das man vnachtsam vnd ruchlos wirt dis vnd des. Wanne das ware licht ist eyn samen gotis, dar vmmb brenget eß gotis frucht. Vnd das falsch licht ist des tufels samen. Wo der gesehet wirt, do wechst des tufels frucht vnde der tufel selber.673
Dass die Affinität des Menschen zum Teufel ihn kontinuierlich zu einem seiner Natur gemäßen, d. h. äußerlich bequemen und innerlich selbstzufriedenen Leben
671 Vgl. Kap. 2.2.1, bes. S. 101–107; Kap. 2.2.3.3, S. 160. 672 Siehe Kap. 2.2.3.3, bes. S. 162–163 und Kap. 2.2.3.6, bes. S. 178. 673 Kap. 40, S. 130, Z. 123–129.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
243
verführt, haben wir weiter oben bereits gesehen. Die dort artikulierte Überzeugung des ‚geistlich Hoffärtigen‘, die Vollendung seines Daseins in der Erkenntnis der höchsten Wahrheit bereits erreicht zu haben, steht im ‚Frankfurter‘ in einem unauflöslichen Widerspruch zum Postulat einer auf Demut und Leiden fokussierten Christusnachfolge. An der Unmöglichkeit, sich mittels der natürlichen Vernunft Gott anzunähern, kann der Traktat daher keinerlei Zweifel lassen:674 Nymant gedenckt, das er czu dissen warem lichte vnd warem bekentniß kumme ader czu Cristus leben mit vil fragen ader von hore sagen ader mit leßen ader studiren noch mit großen, hohen kunsten vnd meisterschafft ader mit hoer, naturlicher vornunfft. Ich sprich: mer, alle die wile der mensch von icht etwas beheldet ader icht yn seyner libe ader meynunge ader yn begirde ader gesuch handelt ader vorhanden hat, das diß ader das ist, eß sey der mensch selber ader sey, was das sey, so kumpt er hie czu nicht.675
Dass der ‚Frankfurter‘ trotz der genuinen Fremdheit von Gott und Mensch die deificatio zum Ziel- und Höhepunkt des menschlichen Daseins erhebt, lässt eigentlich eine deutliche Betonung der unverdient geschenkten Gnade Gottes – und damit die Aufnahme eines augustinisch-antipelagianischen Motivs – erwarten. Jedoch findet der Begriff gnâde innerhalb des Traktats nur dreimal Verwendung.676 Dies verweist einmal mehr auf das eigenständige Profil der Schrift, die
674 Dies durchaus in Einklang mit Meister Eckhart und anderen mystischen Prosatexten, die dem ‚natürlichen Licht‘ jedoch auch Positives abgewinnen können. Zur Ablehnung eines Aufstiegs der geschaffenen Vernunft zum Göttlichen siehe z. B. den Vorsmak-Traktat (hg. Pfeiffer), der diese Unzulänglichkeit jedoch nicht mit deren sündhafter Verirrung, sondern mit ihrer Angewiesenheit auf das jenseitige lumen gloriae begründet (S. 444, Z. 4–12, eigene Zeilenzählung): „und als ob ich hie ûf erden êweklîche lebete (ob das müglich wêre), sô möhte ich êweclich zuo nemen an bekenntnisse gottes, doch mit dem êwigen zuonemende sô enmöhte ich niemer gewahsen in ein alse vollekomen bekentnisse gottes, als der minste heilige hât, der in himel ist, wand ich enkême niemer dar zuo, das ich got bekante sunder mittel. wand zuo dem bekentnisse hœret solich erhabunge mit einem solichen liehte der êren, unde das tuot alleine mê dan das êwige zuonemen tête.“ Zu Eckharts Zurückweisung aller Aufstiegsambitionen des ‚natürlichen Lichts‘ siehe Kap. 2.2.3.2, Anm. 340 sowie die Ausführungen in Kap. 2.3.2.2, S. 217. Zu Eckharts gleichwohl vorhandener Wertschätzung des ‚natürlichen Lichts‘ siehe die Darlegungen in Kap. 2.3.2.3, bes. S. 225–226 mit Anm. 622. Zum Umgang der nacheckhartischen mystischen Prosa mit dem ‚natürlichen Licht‘ siehe Kap. 2.2.3.6, S. 180 mit Anm. 446 sowie Kap. 2.3.2.3, S. 231–232 mit Anm. 641. 675 Kap. 19, S. 96, Z. 1–7. 676 Die erste dieser Passagen lautet: „Were eß moglich, das eyn mensch also gar vnd luterlich an sich selbir vnd an alle yn dem waren gehorsam were, als Cristus menscheit was, der mensche were an sunde vnd ioch eyns mit Cristo, vnd das selbe von gnaden, das Cristus was von natur. Aber man spricht, eß muge nicht seyn.“ Siehe Kap. 16, S. 92, Z. 38–41. Die zweite Stelle, die den Begriff ‚Gnade‘ verwendet, ist in die Demutslehre des ‚Frankfurter‘ eingebunden: „Hie nach volget, das der mensche nichts beten ader begeren thar ader wil wider von got ader von creaturen den bloß
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
mit ihrer Konzeption der unio die amtskirchlich festgesetzten Grenzen der Rechtgläubigkeit sprengt: Denn der Gott des ‚Frankfurter‘ wendet sich dem Menschen keineswegs aus Gnade zu – sondern aus Bedürftigkeit.677
2.3.3 Gottes Wirken im Menschen als Zuwendung zum Geschöpf oder autistischer Selbstbezug? Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, verurteilt der ‚Frankfurter‘ jedes Bemühen um Annäherung an Gott von Seiten des Menschen als Aktualisierung der teuflisch-adamitischen Ursünde des annemens und verweist damit zugleich auf das Kardinallaster der concupiscentia in den augustinisch-antipelagianischen Schriften. Diese Ablehnung einer natürlichen Moral – die eine genuine Fremdheit von Gott und Mensch voraussetzt – scheint jedoch jenen Aussagen des Traktats entgegenzustehen, die im Einklang mit anderen mystischen Prosatexten des paradigmatischen Korpus den vergotteten, d. h. vollkommen von der Liebe zu Gott durchfluteten und in die Christusnachfolge eingetretenen Menschen als Vorbild feiern: Sich, wo eyn solcher vorgotter mensch were ader ist, da wirt ader ist das aller beßte vnd edelste leben vnd got das wirdigste, das ye gewart ader ymmer gewirt. Vnnd von der ewigenn libe, die do libet gut als gut vnd vmmb gut vnd das beßte vnd *das edelste yn yn allen dingen libet vmmb gut, da von wirt das ware, edele leben [d. h. die vita Christi] also ßere gelibet, das eß nymmer mere gelassen wirt ader uß geschutt, wo eß yn eym menschen ist. Sold der mensch leben biß an den jungsten tag, vnd eß ist vnmuglich czu lassen, vnd solde der selbige mensch thusent tode sterben vnd alles das leiden uff yn fallen, das uff alle creaturen gefallen mag, das wolde man alles liber liden, den man das edel leben lassen sold, vnnd ab man eyns engels leben da vor haben mocht.678
notdorfft, vnnd das selbige alles mit forchten vnde von gnaden vnd nicht von rechte […].“ Siehe Kap. 26, S. 106, Z. 12–14. Die dritte Passage, in der Gnade als geschaffenes ‚göttliches Licht‘ sowohl vom ungeschaffenen ‚göttlichen Licht‘ als auch vom falschen ‚natürlichen Licht‘ unterschieden wird, ist oben, Kap. 2.3.2.3, Anm. 641, zitiert. 677 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen in Kap. 3.2.3 sowie in den Kapiteln 3.3.1 und 3.3.2. 678 Kap. 38, S. 123, Z. 1–10. Vgl. Tauler: Pr. V 5, S. 23, Z. 36–S. 24, Z. 3: „Den lúten smacket alleine Got und nieman anders, und dise werdent in der worheit erlúhtet, wanne Got lúhtet in sú in allen dingen krefteclichen und luterlichen, also werlichen in dem meisten vinsternisse und noch vil werlicher denne dem schinenden liehte. Ach dis sint minnencliche lúte, es sint úbernatúrliche gtliche lúte, und dise enwúrckent noch entnt nútzit sunder Got in allen iren werken, und obe man es getrste gesprechen, sú ensint nút etlicher mossen, sunder Got ist in in.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
245
Die Formulierungen, die der ‚Frankfurter‘ für seine Darstellung des homo divinus wählt,679 lassen jedoch darauf schließen, dass dessen ausschließliche Fokussierung auf Gott als summum bonum nicht in seiner eigenen Macht liegt, sondern als Resultat seiner Besitzergreifung durch Gott und damit als Ausdruck des passiven ‚Gottleidens‘ zu verstehen ist. Dieser Mangel an Eigenaktivität bedeutet also keineswegs ein viehisches Dasein ohne jede intellektuelle oder affektive Regung. Das innere Leben des vergöttlichten Menschen steht allerdings ganz in der Verfügungsgewalt Gottes. Dieses reziproke Verhältnis von menschlicher Passivität und göttlichem Wirken erläutert der ‚Frankfurter‘ im fünften Kapitel in deutlicher Stellungnahme gegen eine weitere Fehlauslegung der Gelassenheitslehre:680 Etliche menschen sprechen, man solle wißselos, willelos vnd libelos vnd begerelos vnd bekennelos vnd des gleichen werden. Das ist nicht also, das yn dem menschen keyne bekentniß sey ader got yn ym nicht bekant werde ader gelibet ader gewollet werde ader begeret ader gelobet ader geeret *werde, wanne das were eyn groß gebroch vnd der mensche were als eyn vihe ader als eyn rint. Sunder eß sal do von kummen, das das bekentniß also luter *vnd volkommen sey, das do bekant werde, das daz selbe bekentniße des menschen ader *ioch der creaturen nicht enist, sunder eß ist des ewigen bekentniß, das daz ewige wort ist.681
Erst der vollkommen von Gott erfüllte – also einer übernatürlichen Ordnung angehörende – Mensch kann sich anders als der Mensch in seiner natürlichen Beschaffenheit682 Gott als dem schlechthin Guten zuwenden und die in seiner Natur wurzelnde Fehlausrichtung auf das bonum hoc aut hoc aufgeben:
679 Siehe dazu auch unten, S. 252 mit Anm. 716. 680 Zur Zurückweisung einer ‚freigeistigen‘ Gelassenheitslehre im ‚Frankfurter‘ siehe Kap. 2.3.2.3, S. 226–228. 681 Kap. 5, S. 75, Z. 1–9. Die Argumentation des ‚Frankfurter‘ erinnert hier an Meister Eckhart. Dieser wehrt in der zweiten Predigt seines Gottesgeburtzyklus den Einwand eines fiktiven Gesprächspartners ab, dass die von ihm geforderte Aufgabe jeglichen natürlichen Wissens dem Menschen nicht zur Vollkommenheit verhelfe, sondern ihn zum Tier oder Narren degradiere. Siehe DW IV/1, Pr. S 102, S. 420, Z. 128–129: „Wan swâ ein unwizzen ist, dâ ist gebreste und ist îtelkeit […] ein vihelîcher mensche, ein affe und ein tôre.“ Eckhart hält dagegen, dass nur der Verlust des eigenen Wissens den Empfang des übernatürlichen göttlichen Wissens ermögliche. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. 2.3.2.3, S. 225. 682 In seiner natürlichen Verfasstheit wendet sich der Mensch niemals dem höchsten Guten zu, sondern bleibt auf das ‚Dies-oder-das-Gute‘ fixiert. Vgl. Kap. 40, S. 126, Z. 13–15: „So gehoret der creatur vnd der natur czu, das sie etwas ist, diß ader daß, vnd auch yn yrer meynunge vnd gesuch etwas hat, diß ader das, vnd nicht luterlichen gut als gut vnd vmmb gut, sunder vmmb etwas, diß ader das.“
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Sich, da [im vergotteten Menschen] wirt den furbas me nicht anders gewolt ader gelibet dan gut *vmmb gut vnd vmmb nicht anders dan dar vmmb, das eß gut ist, vnnd nicht dar vmmb, das eß diß ader das ist, ader das eß diß ader daß sey, dißem ader dem lieb ader leid, wol ader we, suße ader suere sey vnd des glich. Des wirt nicht gefraget ader gerucht vnd auch nicht vmmb sich selber ader als sich selber, wan da ist all selbheit vnd icheit vnd ich vnd mir vnd des glich gelassen vnd abgefallen.683
Diese grundsätzliche ethische Neuorientierung des vergotteten Menschen resultiert daraus, dass seine Erleuchtung durch das wahre ‚göttliche Licht‘ die verheerende Macht des ‚natürlichen Lichts‘ außer Kraft setzt, welches trügerisch in sich selbst kreist, anstatt den Menschen auf Gott auszurichten:684 Vnd also diß [natürliche] licht betrogen ist von syner kündekeit,685 also wirt von ym alles das betrogen, das nicht got ader gotlich ist. Das meynet alle menschen, die das ware licht nicht erluchtet hat vnd syne libe. Wann, wo vnd wilche die synt, die das ware licht erluchtet hat, die werden *nymmer betrogen.686
Mit der Aufgabe der naturgegebenen Fixierung auf das eigene ‚Ich‘ verschwindet auch die Aversion gegen die Aneignung des Christuslebens, die der natura humana zu eigen ist. Das 38. Kapitel des ‚Frankfurter‘ mit dem Titel Wie man das leben Cristi ane sich nemen sal von liebe vnd nicht vmmb lon, vnd sal yß nymmer hyn legen adder auß schutten erläutert den Sonderstatus des vergotteten Menschen in genau diesem Sinne.687 Nur ein solcher ‚Gottesfreund‘, der aus der Erfüllung mit der göttlichen Liebe heraus agiert, ist aufgrund seiner Befreiung von jeglichem Verdienstdenken zur
683 Kap. 32, S. 116, Z. 35–41. Vgl. Kap. 46, S. 141, Z. 29–30: „Vnd wo das ware licht yn *eym menschen ist vnd die ware liebe, da wirt anders nicht lieb gehabt den allein got.“ 684 Siehe dazu auch Kap. 2.3.1, S. 200 sowie Kap. 2.3.2.3, S. 225–226. 685 Ähnlich wie bei dem Terminus ‚Glorieren‘ (siehe Kap. 2.2.3.6, S. 180 mit Anm. 446) handelt es sich bei dem Begriff der kündekeit um ein Signalwort, das die in der Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft verborgene Gefahr der Selbstüberschätzung im Sinne einer Verkennung des Abstands von Gott und Geschöpf zum Ausdruck bringt. Seiner kündekeit ist daher der kontinuierliche Selbstbetrug des ‚falschen Lichts‘ zu verdanken, das sich eine den mühsamen Weg der Christusnachfolge vermeidende Selbstvergottung anmaßt: „Nu mcht man sprechen: Wa von ist oder kumpt das, das von ym alles, daz betrogen wirt, das betrogen werden mag? Sich, es ist von seiner vbrigen kundickeit. Wan es also gar clg vnd subtil vnd behent in ym selber ist, das eß also hoch stiget vnd klymmet, das eß wenet, eß sey vber natur vnd *eß sey natur ader creatur vnmuglich, also hoch czu kommen. Dar vmmb wenet eß, eß sey got, vnd do von so nympt eß sich alles des an, das got czu gehoret, vnd besunder als got ist yn ewikeit vnd nicht als er mensch ist“ (Kap. 40, S. 127, Z. 42–48). 686 Kap. 40, S. 128, Z. 86–90. 687 Vgl. auch das erste Zitat in diesem Kapitel, S. 244.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Ausübung wahrhaft guter Werke befähigt.688 Innerhalb einer Hierarchie von vier verschiedenen Arten von Menschen, deren ethischer Wert sich nach ihrem äußeren und inneren Verhältnis zu kirchlichen und gesellschaftlichen Normen bemisst,689 nimmt er deshalb den höchsten Rang ein: Die virden, das synt irluchte menschen mit dem warenn lichte. Die handeln disse dinge nicht vmmb lone, wan sie wollen nichts vbirkummen da mit, ader das yn nichts dar vmmb werde, sundern sie thun von libe, was sie dißes thun […]. So halden sie das mittel vnd das beste, wan eyn liphaber gotis ist besser vnd got liber den hundert thusent loner. Also ist eß auch vmmb yre werck.690
Die uneingeschränkt positive Wertung des homo divinus durch den ‚Frankfurter‘ sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier keinesfalls um eine Anerkennung des Menschen als Mensch handelt. Das Lob des vergotteten Menschen ist ja nicht im eigentlichen Sinne auf diesen bezogen, sondern vielmehr auf Gott, insofern er sich dieses Menschen bemächtigt hat und in ihm wirksam ist. Nimmt man die Aussagen des Traktats ernst, so offenbart sich im Gott-MenschVerhältnis daher nicht die gegenseitige Zuwendung von Gott und Mensch, sondern vielmehr der ‚autistische Selbstbezug Gottes‘.691 Der ‚Frankfurter‘ weist selbst ganz unverblümt darauf hin: „Auch sal man mercken, wo das ware licht vnd die ware liebe ist vnd joch yn eyme menschen, da wirt das *volkommende gut bekant vnd gelibet von ym selber […].“692 Genau genommen ist es also nicht der vergottete Mensch, der sein Dasein auf Gott als höchstes Gut ausrichtet, sondern es ist der in ihm wirkende Gott, der sich auf sich selbst als summum bonum bezieht: „Nu gehoret got czu, das er wider diß *noch das ist ader diß noch das wil, begeret ader suchet yn eynem vorgotten menschen, sundern gut als gut vnnd vmmb nicht den vmmb gut.“693 Menschliche Passivität und Selbstzentriertheit des höchsten Gutes sind im ethischen Entwurf des ‚Frankfurter‘ demnach ineinander verschränkt: Aber yn welchem menschen gesucht, gelibet vnd gemeynet wirt gut als gut vnd vmmb gut vnde nicht anders den luterlich dem gute czu libe, nicht als von mir ader als ich, meyn, mir ader vmmb mich *ader des glich, da wirt eß funden; wan eß wirt do recht gesucht, vnd wo
688 Siehe dazu auch Kap. 2.3.2.2, bes. S. 211–216 sowie Kap. 2.3.5.2, bes. S. 273–274. 689 Genauere Ausführungen dazu finden sich in Kap. 2.3.5.4. 690 Kap. 39, S. 125, Z. 19–35. 691 Ausdruck nach Flasch: Logik des Schreckens, S. 95. Dort wird er allerdings auf die gnadentheologischen Schriften des Augustinus bezogen. 692 Kap. 43, S. 134, Z. 1–3. 693 Kap. 40, S. 126, Z. 10–12.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
eß anders ist, do ist eß falsch. Vnd yn der warheit yn disser wiße suchet, meynet vnd libet sich das ware, volkommenn gut, vnnd dar vmmb findet eß sich.694
Dieser göttliche ‚Autismus‘ steht in korrelativem Bezug zu den gnadentheologischen Schriften des späten Augustinus, kann in diesen doch nur der von der Gnade zum Guten befreite Mensch ein gottzugewandtes Dasein führen.695 Gott belohnt daher nie die moralischen Bemühungen seines gefallenen Geschöpfes, sondern stets sein eigenes Wirken im Menschen, ohne das derselbe unrettbar verloren wäre.696 Dieses Eingreifen Gottes betrifft – wie im ‚Frankfurter‘, aber auch in der antipelagianischen Theologie der schola Augustiniana moderna697 – sowohl das Wollen als auch das Vollbringen der bona opera.698 Jeder Versuch, den göttlichen Geboten aus eigener Anstrengung gerecht zu werden, bewirkt nach Augustinus die Vermehrung der Sünde und damit das Gegenteil dessen, was der Mensch eigentlich bezweckt.699 In ähnlicher Weise häuft auch der ‚eigenwil-
694 Kap. 44, S. 138, Z. 24–30. 695 Vgl. Kap. 2.3.2.3, S. 232–233 sowie Kap. 2.3.6, S. 298. 696 Das ewige Leben ist daher nach Augustinus „‚gratia pro gratia‘, gnadenhafte Belohnung für das durch die Gnade geschenkte gute Handeln im Leben“ (Drecoll: ‚Ungerechte Gnadenlehre‘, S. 36). 697 Im ‚Frankfurter‘ gilt der Eigenwille (d. h. hier der natürliche Wille des Menschen) als Ursprung und Ausdruck alles Bösen. Vgl. etwa Kap. 49, S. 142, Z. 1–3: „Man spricht: Eß ist nicht als vil yn der helle als eygener wille, vnd das ist ware, vnd da ist nicht anders den eygener wille. Vnd wer nicht eygen wille, ßo were keyne helle ader kein tufel.“ Deshalb sind auch alle Werke, die dem Eigenwillen entspringen, als von Gott verworfen zu erachten – selbst dann, wenn sie von außen betrachtet mit den göttlichen Geboten übereinstimmen. Siehe dazu die Zitate und Erläuterungen in Kap. 2.3.2.3, S. 230–232. Zu Gregor von Rimini als Vertreter der schola Augustiniana moderna siehe die Ausführungen ebd., S. 23–24. Vgl. ferner ders.: In 2 Sent., dist. 26–28, a. 1 (hg. Trapp/Marcolino), S. 24, Z. 14–17: „Secunda, quod nullus homo etc potest absque speciali auxilio dei in his quae ad moralem vitam pertinent sufficienter cognoscere quid volendum vel nolendum, agendum vel vitandum sit.“ 698 Vgl. spir. et litt. XXV, 42 (CSEL 60, S. 196, Z. 15–19): „[…] non ideo dicendum est, quod deus adiuuet nos ad operandam iustitiam atque operetur in nobis et uelle et operari pro bona uoluntate, quia praeceptis iustitiae forinsecus insonat sensibus nostris, sed quia intrinsecus incrementum dat diffundendo caritatem in cordibus nostris per spiritum sanctum, qui datus est nobis“; pecc. mer. I, 33, 62 (CSEL 60, S. 63, Z. 17–19): „‚deus est enim‘, inquit apostolus, ‚qui operatur in nobis et uelle et operari pro bona uoluntate‘.“ Die hier zitierte Bibelstelle Phil 2, 13 gehört zu Augustinus’ am häufigsten verwendeten Schriftworten. 699 Vgl. spir. et litt. IV, 6 (CSEL 60, S. 158, Z. 22–S. 159, Z. 1): „proinde quae hoc praecipit bona et laudabilis lex est. sed ubi sanctus non adiuuat spiritus inspirans pro concupiscentia mala concupiscentiam bonam, hoc est caritatem diffundens in cordibus nostris, profecto illa lex quamuis bona auget prohibendo desiderium malum, sicut aquae impetus, si in eam partem non cesset influere, uehementior fit obice obposito, cuius molem cum evicerit maiore cumulo praecipitatus uiolentius per prona prouoluitur.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
249
lige‘ Mensch im ‚Frankfurter‘ Sünde auf Sünde – selbst dann, wenn er ein moralisch einwandfreies Leben zu führen meint.700 Es ist also weder in den augustinisch-antipelagianischen Schriften noch im ‚Frankfurter‘ ausgeschlossen, dass der ‚natürliche‘ Mensch trotz seiner Verfallenheit an die Sünde das göttliche Gesetz und damit den göttlichen Willen erkennt.701 Seine Bemühungen, diesem Gesetz Genüge zu tun, sind jedoch zum Scheitern verurteilt, da sie – in augustinischer Diktion – der tödlichen lex operum entsprechen, nicht der heilbringenden lex fidei.702 Daher betont der ‚Frankfurter‘ stets die Unzulänglichkeit der natürlichen Vernunft, welche in ihrer praktischen Ausprägung703 sehr wohl zwischen Tugend und Laster unterscheiden, die verkehrte Strebenstendenz des Menschen jedoch nicht umkehren kann. Denn erst im vom ‚göttlichen Licht‘ durchglänzten homo divinus ist die Neigung zur Sünde – die sich entweder in frevelhaftem Verhalten oder aber in einer falschen Motivation zum Guten äußert – ersetzt durch die Liebe zur Tugend.704
700 Siehe oben, Anm. 697. 701 Zu Augustinus vgl. Drecoll: Gnadenlehre, S. 490–491, 496. 702 Beide Gesetze sind inhaltlich nicht voneinander unterschieden. Das ‚Gesetz der Werke‘ bezeichnet den Befehl Gottes, seinen Geboten zu gehorchen, ohne dass diesem eine innere Motivation des Menschen entspricht. Daher wird die lex operum als Drohung wahrgenommen. Das ‚Gesetz des Glaubens‘ dagegen bezieht sich auf die (von Gott selbst geschenkte) Zuversicht und das Verlangen des Menschen, von Gott gnadenhaft zur Erfüllung seines Gesetzes befähigt zu werden. Vgl. spir. et litt. XIII, 21–22 (CSEL 60, S. 173, Z. 15–S. 176, Z. 17). In aller Kürze beschreibt Augustinus den Unterschied zwischen lex operum und lex fidei zu Beginn von XIII, 22 (S. 175, Z. 13–14): „Quid igitur interest? breuiter dicam. quod operum lex minando imperat, hoc fidei lex credendo impetrat.“ 703 Ohne dies explizit zu reflektieren, unterscheidet der ‚Frankfurter‘ zwischen einer praktischen Vernunft, welche dazu in der Lage ist, das göttliche Gesetz zu erkennen, aber an seiner Erfüllung scheitert, und einer theoretischen Vernunft, welche sich in ‚freigeistiger‘ Weise zur Gotteserkenntnis emporschwingen will und damit einem Selbstbetrug erliegt. Die praktische Dimension der Vernunft wird u. a. in Kap. 41 beleuchtet, ihre theoretische Ausformung in Kap. 42. Aufgrund seiner antifreigeistigen Ausrichtung gilt das Hauptinteresse des ‚Frankfurter‘ der theoretischen bzw. kontemplativen Vernunft. Die praktische Vernunft ist allerdings insofern wichtig, als sie den ,äußerlichen Pelagianismus‘ der loner ermöglicht, die aufgrund ihrer Befolgung des göttlichen Gesetzes Verdienste anzusammeln meinen, tatsächlich aber in der Gottesferne verharren. Siehe dazu Kap. 2.3.2.2, S. 214 und Kap. 2.3.5.4. Vgl. auch die folgende Anmerkung. 704 Das gesamte Kapitel 41 ist dieser Thematik gewidmet. Zunächst wird der vergottete Mensch als jener vorgestellt, „der durchluchtet vnd durchglantzet ist mit dem ewigen ader gotlichen lichte vnd enbrant mit ewiger *vnd gotlicher libe […]“ (S. 130, Z. 2–3). Dieser übernatürliche Status befähigt ihn zu einem ganz der Erfüllung der Tugend gewidmeten Leben, das seinen Lohn in sich selbst trägt (vgl. S. 130, Z. 8–14). Ihm gegenüber steht der ‚natürliche‘ Mensch, der unabhängig von seiner Einsicht in das Tugendgebot der Sünde verhaftet bleibt, weil ihm die Liebe zur Tugend fehlt. Vgl. S. 130, Z. 5–8: „Aber man sal wissen, das licht ader bekentniß nicht ist ader taug an libe.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Die augustinische Überzeugung „non enim habet homo unde deum diligat nisi ex deo“705 gilt also auch im ‚Frankfurter‘, der weder eine natürliche Gottesliebe noch eine natürliche Gotteserkenntnis706 akzeptiert. Diese bleiben dem ‚göttlichen Licht‘ vorbehalten: Aber ware libe wirt geleret vnd geleitet von dem waren licht vnd bekentniß, vnd das ware, ewige *vnd gotlich licht leret die liebe nicht lieb han den das ware, einfeldige, volkumen gut, vnd vmmb nicht denn vmmb gut vnd nicht, das man das czu lone haben wolle ader icht von ym, sundern dem guten czu libe vnd dar vmmb, das eß gut ist vnd das eß von recht geliebet werden sal. Vnd was also von dem waren licht bekant wirt, das muß auch gelibet werden von der waren libe. Nu magk das volkummen gut, das man got nennet, nicht bekant werden dan von dem waren licht.707
Ebenso wenig, wie es dem unter der Macht des ‚falschen Lichts‘ stehenden Menschen im ‚Frankfurter‘ vergönnt ist, auf Gott zuzugehen, kann sich der vom ‚göttlichen Licht‘ Erfüllte gegen das Wirken Gottes in ihm auflehnen. Er – oder besser: der Gott in ihm – muss das wahre Gut lieben und die Sünde hassen. Die Unwiderstehlichkeit der Gnade in den augustinisch-antipelagianischen Schriften708 wird damit in einen mystischen Kontext transferiert: Syder nu yn dissem licht vnd yn disser liebe alle gut yn eyme vnd alles eyn vnd das eyn yn allem vnd yn allen als eyn vnd als alle gelibet wirt, ßo muß alles das da gelibet werden, das gutenn namen yn der warheit hat, als togent, ordenunge, redelikeit, gerechtikeit, warheit vnd des glich; vnd alles, das got *yn dem waren gut czu gehoret vnd syne eygen ist, das wirt da gelibet vnd gelobet, vnd alles, das dem wider ist vnd an diß ist, das ist liden vnd pyne vnd wirt geclaget als sunde, wan eß yn der warheit sunde ist.709
Das mag man mercken, das eyn mensch gar wol weiß, was togent ader vntogent ist. Hat er tugent nicht lib, er wirt ader ist nicht tugentsam, er volget der vntogent nach vnd leßit die togent.“ 705 trin. XV, 17, 31 (LLT-A). Das vollständige Zitat lautet: „deus igitur spiritus sanctus qui procedit ex deo cum datus fuerit homini accendit eum in dilectionem dei et proximi, et ipse dilectio est. non enim habet homo unde deum diligat nisi ex deo. propter quod paulo post dicit: nos diligamus quia ipse prior dilexit nos. apostolus quoque Paulus: dilectio, inquit, dei diffusa est in cordibus nostris per spiritum sanctum qui datus est nobis.“ Vgl. auch spir. et litt. XXI, 36 (CSEL 60, S. 189, Z. 9–12): „Quid sunt ergo leges dei ab ipso deo scriptae in cordibus nisi ipsa praesentia spiritus sancti, qui est digitus dei, quo praesente diffunditur caritas in cordibus nostris, quae plenitudo legis est et finis praecepti?“; c. Iul. IV, 3, 33 (PL 44, Sp. 756): „amor autem Dei quo pervenitur ad Deum, non est nisi a Deo Patre per Jesum Christum cum Spiritu sancto.“ Siehe auch pecc. mer. II, 17, 27 (CSEL 60, S. 100, Z. 12–17). 706 Gemeint ist die Wesenserkenntnis Gottes, die dem ‚natürlichen Licht‘ verschlossen bleibt. 707 Kap. 42, S. 134, Z. 65–72. 708 Vgl. Flasch: Freiheit, S. 24. 709 Kap. 43, S. 136, Z. 45–51 [Hervorhebung L. W.].
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
251
Analog zur augustinischen Gnadenlehre, welche die Hinwendung Gottes zum Menschen zur unabdingbaren Voraussetzung für die Hinwendung des Menschen zu Gott erklärt, konzipiert auch der ‚Frankfurter‘ die Gott-Mensch-Beziehung als Wechselverhältnis, bei dem die Initiative notwendigerweise von Gott ausgehen muss: Denn erst durch die Erfüllung des Menschen mit dem ‚göttlichen Licht‘ wird dieser auf übernatürliche Weise dazu in die Lage versetzt, sich seinerseits wieder Gott zuzuwenden. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um einen echten wechselseitigen Bezug: Der vergottete Mensch dient vielmehr nur als Austragungsort für ein durch Selbstbezüglichkeit gekennzeichnetes göttliches Geschehen. In den Worten des ‚Frankfurter‘: „Vnd was yn eynem waren, vorgotten menschen geschiet, eß sey yn thuender ader yn lidender wiße, das geschiet yn dissem licht vnnd yn disser liebe vnd auß dem selben, durch das selbe wider yn das selbe.“710 Mit dieser – auch weiter oben bereits dargestellten – Ausschaltung jeglicher Autonomie des Menschen wird der ‚autistische Selbstbezug Gottes‘ in unserem Traktat im Vergleich zu den augustinischen Schriften entscheidend verschärft. Zwar liebt der Gott des Augustinus sein Geschöpf nicht in dessen sündhaftmenschlichem So-Sein, sondern als Träger der Gnade,711 der ausschließlich aufgrund von deren Wirksamkeit zu einem Gott wohlgefälligen Leben fähig ist. Doch auch wenn der Mensch kein eigenes Wollen und Tun zum Empfang und Erhalt712 der Gnade beitragen kann, handelt es sich dennoch um ihn selbst, der als durch die Gnade Wiedergeborener das göttliche Gesetz erfüllt. Auch wenn Augustinus den Synergismus von göttlichem Wirken und freier menschlicher Entscheidung ablehnt,713 schaltet er den Menschen als bewusst Wollenden und Agierenden also nicht aus.714 Vielmehr trägt der Gott des Kirchenvaters bei seinen Erwählten dafür Sorge, ihre durch die Erbsünde beschädigte – wenn auch in sich gute – Natur zu heilen und dadurch ihre korrumpierte, jedoch nicht zerstörte Gottebenbildlichkeit wiederherzustellen.715
710 Kap. 43, S. 135, Z. 25–27. 711 Vgl. Flasch: Logik des Schreckens, S. 94–95. 712 Siehe dazu die augustinische Schrift De dono perseverantiae (PL 45, Sp. 993–1034). 713 Siehe dazu Kap. 2.3.2.1, Anm. 552 und Kap. 2.3.2.4, Anm. 663. 714 So resultiert aus dem Gnadenwirken Gottes „ein durchaus agiles Wollen und Glauben, das auch entsprechendes Handeln ermöglicht“ (Drecoll: Gnadenlehre, S. 495; vgl. auch Hamm: Promissio, S. 47). Schindler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Augustinus trotz der Ablehnung des Synergismus-Gedankens als pelagianische Irrlehre Gott nicht als eine Macht darstellt, „die das Wollen des Menschen ausschaltet, wie ein Dämon, der einen Besessenen einfach ‚packt‘ und willenlos macht, sofern das bewußte Wollen des Menschen im Blick ist“. Siehe ‚Rechtfertigung‘, S. 54. Der ‚Frankfurter‘ allerdings formuliert genau diese Besessenheit des Menschen durch Gott bzw. den Geist Gottes. Siehe dazu Kap. 2.3.5.2. 715 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 183–185 sowie in Kap. 2.2.3.6, S. 173–174.
252
2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Wie bereits gezeigt, gilt dies im ‚Frankfurter‘ nicht. Hier dient der vergottete Mensch als eine Art körperlicher Hülle für das Wirken Gottes, der sich im und durch den Menschen liebend auf sich selbst bezieht. Deshalb nutzt der Traktat vorrangig Passivkonstruktionen, wenn er das Innenleben des homo divinus beschreibt.716 Denn nie ist es der Mensch selbst, der Gott als Tätiger liebt und erkennt, sondern er stellt lediglich das lebende Gefäß dar, in dem Gott geliebt und erkannt wird. Zwar erscheint das Handeln des Menschen von außen betrachtet als menschliches und er selbst als aktiv Wirkender; tatsächlich aber wird er in seinen inneren und äußeren Lebensvollzügen vom ‚göttlichen Licht‘ regiert. In der ‚intertextuellen Perspektive‘ zeigt sich allerdings, dass diese Instrumentalisierung des Menschen im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ keineswegs ungewöhnlich ist. Schon in Bezug auf Meister Eckhart haben wir gesehen, dass für ihn die Vollendung des menschlichen Daseins im Zustand der ‚Gelassenheit‘ liegt, der das uneingeschränkte Wirken Gottes im Seelengrund ermöglicht, welches dann wiederum vom homo interior auf den homo exterior ausstrahlt.717 Dementsprechend heben auch andere mystische Prosatexte den Werkzeugcharakter des Menschen hervor. Das nacheckhartische ‚Buch geistlicher Armut‘ etwa konstatiert: „Und da von iſt es des menſchen aller beſtes daʒ er aller wercke ledig ſy, wan were er aller wercke ledig, ſo were er ein blos geʒwe gottes, daʒ got ane alles hinderniſſe mit ime mhte wúrcken.“718 Und im Traktat ‚Der Traum eines Gottes-
716 Siehe etwa folgende Äußerungen zum vergotteten Menschen: „Da von wirt das ware, edele leben also ßere gelibet, das eß nymmer mere gelassen wirt ader uß geschutt, wo eß yn eym menschen ist“ (Kap. 38, S. 123, Z. 4–6; vgl. oben, S. 244). „Das ist nicht also, das yn dem menschen keyne bekentniß sey ader got yn ym nicht bekant werde ader gelibet ader gewollet werde ader begeret ader gelobet ader geeret *werde“ (Kap. 5, S. 75, Z. 2–4; vgl. oben, S. 245). „Sich, da wirt den furbas me nicht anders gewolt ader gelibet dan gut *vmmb gut vnd vmmb nicht anders dan dar vmmb, das eß gut ist“ (Kap. 32, S. 116, Z. 35–36; vgl. oben, S. 246). „Da wirt das *volkommende gut bekant vnd gelibet von ym selber“ (Kap. 43, S. 134, Z. 2–3; vgl. oben, S. 247). „Aber yn welchem menschen gesucht, gelibet vnd gemeynet wirt gut als gut vnd vmmb gut vnde nicht anders den luterlich dem gute czu libe, nicht als von mir ader als ich, meyn, mir ader vmmb mich *ader des glich, da wirt eß funden“ (Kap. 44, S. 138, Z. 24–27; vgl. oben, S. 247). „ßo muß alles das da gelibet werden, das gutenn namen yn der warheit hat“ (Kap. 43, S. 136, Z. 46–47; vgl. oben, S. 250). Haas merkt zur Instrumentalisierung des Menschen im ‚Frankfurter‘ zu Recht an, dass damit eine „Geschichte Gottes mit dem Menschen als eines Geschehens zwischen zwei Subjekt-Partnern“ kaum noch möglich erscheine. Vgl. Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 391–392, Anm. 50. Die Aufrechterhaltung einer derartigen Autonomie des Menschen würde dem theologisch-anthropologischen Entwurf des ‚Frankfurter‘ jedoch widerstreiten. 717 Siehe Kap. 2.3.2.2, S. 218–219. 718 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 101, Z. 29–32.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
253
freundes‘ gibt das literarische ‚Ich‘ seinem seelisch siechen Gegenüber den Ratschlag: „du solt sein ain werck gezüg gotz vnd ain stat, in der got wurcke […]. Wann gottes wille ist, daz der mensch seÿ ain werck gezüg gotes vnd ain stat, die ledig seÿ.“719 Wie im ‚Frankfurter‘ schließt das göttliche Wirken jeden Bezug auf den Menschen als eigenständiges Gegenüber aus: „Got minnet niht wan sich selben und als vil er sîn glîch vindet in mir und mich in im.“720 Um diese Selbstreferentialität Gottes zu unterstreichen, integrieren manche der mystischen Predigten und Traktate Aussagen der augustinisch-antipelagianischen Schriften.721 So stößt man des Öfteren auf die metaphorische Wendung, dass Gott nur seine eigenen Werke im Menschen kröne – ein unter anderem in der Schrift De gratia et libero arbitrio auftauchendes722 und dann im ‚mystischen Diskurs‘ revitalisiertes Motiv. Meister Eckhart schreibt:
719 Spamer: Texte, S. 121, Z. 11–16. 720 Meister Eckhart: Pr. Q 41, DW II, S. 285, Z. 10. Vgl. ders.: Pr. Q 73, DW III, S. 267, Z. 8–9: „Dar umbe sprach ein meister: got enminnet niht wan sich selber; er verzert alle sîne minne in im selber“; Lehrsystem (hg. Cadigan), S. 61, Z. 19–S. 62, Z. 1: „vnd also minnet got sich selber in der sele mit der brinender minne, die ain vsflusse ist der grundlosen blsi vnd der richlichen gotheit.“ 721 Dabei kann es sich um einen bewusst hergestellten intertextuellen Bezug handeln, wenn die Autoren unmittelbaren Zugriff auf die augustinisch-antipelagianischen Schriften hatten, wie es etwa bei Meister Eckhart der Fall ist. Vielfach dürften die Augustinus-Zitate jedoch den Charakter ‚fliegender Wörter‘ angenommen haben, die unabhängig von ihrem ursprünglichen Kontext weiterverbreitet wurden. 722 gr. et lib. arb. VI, 15 (PL 44, Sp. 890): „Prorsus talia cogitanti verissime dicitur: Dona sua coronat Deus, non merita tua; si tibi a te ipso, non ab illo sunt merita tua. Haec enim si talia sunt, mala sunt; quae non coronat Deus: si autem bona sunt, Dei dona sunt […]“; ebd. (PL 44, Sp. 891): „Si ergo Dei dona sunt bona merita tua, non Deus coronat merita tua tanquam merita tua, sed tanquam dona sua“; ebd., IX, 21 (PL 44, Sp. 893): „Numquid non corona bonis operibus redditur? Sed quia ipsa bona opera ille in bonis operatur, de quo dictum est, ‚Deus est enim qui operatur in vobis et velle et operari, pro bona voluntate‘ […].“ De gratia et libero arbitrio gehört zu jenen augustinischen Schriften, die gegen den sog. ‚Semi-Pelagianismus‘ gerichtet sind. Zu den mit diesem anachronistischen Begriff verbundenen Schwierigkeiten siehe Lambert: Art. ‚Semi-Pelagianism‘. Bei den ‚Semipelagianern‘ handelt es sich weder um Sympathisanten des Pelagius noch um Anhänger einer kohärenten Bewegung. Vielmehr flackerte im fünften und frühen sechsten Jahrhundert immer wieder lokaler Widerstand gegen die rigide Sünden- und Gnadenlehre des Augustinus auf. Erst das Konzil von Orange (Arausicanum II) von 529 beendete die Streitigkeiten. In seinen an die ‚Semi-Pelagianer‘ adressierten Schriften wählt Augustinus zwar einen milderen Ton als in den antipelagianischen Werken, an seiner Doktrin hält er jedoch fest.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Ein heilige sprichet: ez enwirt niht gekrœnet von gote wan sîn eigen werk, daz er in uns würket. Nieman ensol erschrecken dâ von, daz ich spriche, daz got niht enminnet wan sich selber; ez ist unser allerbestez, wan er meinet unser allergrœsten sælicheit dar inne.723
Johannes Tauler verwendet dieselbe Formulierung, um einen Zusammenhang zwischen dem Wirken Gottes im Menschen und dem Letztziel der ewigen Seligkeit herzustellen: Got het sich des beraten daz er nút enlone wanne sinen eigenen werken, in dem himmelriche enkrnet er nút wan sine werg, nút die dinen; was er nút in dir enwurcket do enhaltet er nút von.724
Göttliches Gnadenhandeln im augustinischen Sinne und die Selbstmitteilung Gottes als mystisches Geschehen können auch in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang treten. Pfeiffer-Traktat VIII Von der geburt des êwigen wortes in der sêle bietet ein solches kausales Erklärungsmuster an, demzufolge Gott sein Wirken in der menschlichen Seele „mit ime selber“725 belohnen muss. Der Traktat schließt dabei die Möglichkeit eines Zusammenwirkens von Gott und Mensch keineswegs aus, betont aber, dass ein solches menschliches Bemühen Gott zu nichts verpflichte.726 Nur die Alleinwirksamkeit Gottes in der menschlichen Seele könne Gott dazu zwingen, sein ewiges Wort – und damit sich selbst – in sie zu gebären.727 Allerdings legt sich der Text nicht auf diese Ansicht fest, sondern
723 Meister Eckhart: Pr. Q 73, DW III, S. 268, Z. 3–6. Vgl. auch Sermo XXXVI/2, LW IV, n. 374, S. 319, Z. 12: „Coronat enim sua dona in nobis.“ Als Vergleichsstelle geben die Herausgeber hier (S. 319, Anm. 4) Augustinus, Ep. 194, n. 19, c. 5 an (CSEL LVII, S. 190, Z. 12–15). 724 Pr. V 3, S. 19, Z. 2–4. Siehe auch Pfeiffer II, Spruch 3, S. 598, Z. 6–8: „Ez ist ein frâge, waz got tuo in dem himele? Des antwurte ein heilige unde sprach: er krœnet sîn selbes werc; wan alliu diu werc, dar über got die heiligen krœnet, diu hât er alliu an in gewürket.“ 725 Pfeiffer II, S. 480, Z. 9. 726 Pfeiffer II, S. 479, Z. 40–S. 480, Z. 4: „Die meister sprechent, daz alliu diu werc, diu diu sêle wirket mit gote und in der gnâde, daz der werke got lônen mac ob er wil oder niht, wan daz werc ist crêatûre und ist gemezzen unde vellet in zît. Dar umbe sô sint sie ze kleine unde ze snœde, daz ir got ihtesiht von rehte lônen müeze.“ 727 Pfeiffer II, S. 480, Z. 4–11: „Aber diu werc, diu got in uns wirket âne unser zuotuon und dâ diu sêle ûz gêt mit irem werke unde got mit sînem werke überhant nimet, dâ gêt diu sêle in ein lûter lîden und got ist ein lûter wirker aller der werke. Der werke, die got sus wirket in der sêle, den ist got schuldic von rehter pfliht zuo lônen mit ime selber, wan diu werc sint sô götlich unde sô êwig unde sô unmêzic unde tretent sô nâhe in götlîcher êre, daz in got niht anders gelônen mac denne mit im selber.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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deklariert sie als kontrovers diskutierte Lehrmeinung (nôtrede), die mit anderen theologischen Standpunkten konkurriert.728 Bei aller Verschiedenheit der im konkreten Korpus enthaltenen Predigten und Traktate lässt sich festhalten, dass sie den Vollkommenheitsstatus des homo divinus vielfach als einen Zustand definieren, in dem die Eigenwirksamkeit des Menschen durch das göttliche Wirken ersetzt ist.729 Dieses zeichnet sich jedoch nicht durch eine Bezugnahme auf den Menschen aus, sondern ist durch Selbstreferentialität gekennzeichnet. Die Frage, wie Gott seinen Sohn im Seelengrund gebäre, beantwortet Meister Eckhart daher folgendermaßen: Sehet, got der vater hât ein volkomen însehen in sich selber und ein abgründic durchkennen sîn selbes mit im selber, niht mit keinem bilde. Und alsô gebirt der vater sînen sun in wârer einunge götlîcher natûre. Sehet, in der selben wîse und in keiner andern gebirt got der vater sînen sun in der sêle grunde und in irm wesene und einiget sich alsô mit ir.730
Der ‚autistische Selbstbezug Gottes‘, der das Gott-Mensch-Verhältnis im ‚Frankfurter‘ bestimmt, trägt den Traktat also keineswegs aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ heraus, sondern verankert ihn ganz im Gegenteil innerhalb seines literarischen Bezugsfeldes. Dass er im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts dennoch eine Sonderstellung einnimmt, liegt in seiner negativen Anthropologie begründet, durch die er sich als eigenständiges Werk von den anderen Prosaschriften dieser Diskursformation abgrenzt. Denn sowohl im Œuvre Meister Eckharts als auch in den Prosatexten der nacheckhartischen Mystik wird der göttliche ‚Autismus‘ auf der Basis ihrer augustinischen Spiritualität731 zum Signum der Menschzuwendung Gottes umdeklariert. Indem Gott vom ‚gelasse-
728 Eine erste konkurrierende Lehrmeinung ist jene, dass „sich got mit minne unde mit pfliht verstricket unde gelobet hât zuo der sêle“ (Pfeiffer II, S. 479, Z. 31–33). Aufgrund der „nôt dirre pfliht“ (Z. 34) müsse sich Gott der Seele mitteilen. Diese Ansicht greift den besonders in nominalistischen Kreisen vertretenen Grundsatz auf, dass Gott sich de potentia ordinata auf den Menschen zubewegen müsse und formt ihn im Sinne der ‚deutschen Mystik‘ um. Vgl. dazu auch Kap. 2.3.4, bes. S. 257–261. Die zweite theologische Alternative greift auf den neuplatonischen Grundsatz bonum est diffusivum sui zurück: Da sich alles Gute aufgrund seiner Güte verströmen müsse, könne Gott gar nicht anders, als sich der menschlichen Seele mitzuteilen (vgl. S. 479, Z. 35–38). Siehe dazu auch Kap. 3.2.3, S. 339. 729 In der nacheckhartischen Mystik erfährt das Eigenwirken des Menschen im Sinne eines in der Christusnachfolge stehenden meritorischen Strebens, das auf die höchste Vollkommenheitsstufe vorbereitet, gleichwohl hohe Wertschätzung. Siehe dazu Kap. 2.3.2.4. Manche Schriften warnen auch vor einer Aufgabe alles Eigenwirkens. Siehe ebd., Anm. 669. 730 Meister Eckhart: Pr. S 101, DW IV/1, S. 350, Z. 87–S. 352, Z. 91. 731 Siehe dazu ausführlich Kap. 2.2.2.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
nen‘ Menschen Besitz ergreift, bringt er dessen Natur zur Vollendung und trägt ihn im Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund in die trinitarische Dynamik und schließlich über diese hinaus in den göttlichen ‚Grund‘, die Gottheit, empor.732 Dabei steht es stets außer Frage, dass Gott selbst von dieser geistigen Erhebung des Menschen in die Sphäre des Göttlichen unberührt bleibt.733 Im Unterschied zu augustinisch-antipelagianischen Theologie-Entwürfen besteht die Hinwendung Gottes zum Menschen nicht in einem Gnadenakt, der sich dem unergründlichen Ratschluss Gottes verdankt und einzelnen Menschen ungeachtet ihrer erbsündigen Verfasstheit geschenkt wird. Indem Gott sich der Seele mitteilt, bringt er vielmehr die fundamentale Affirmation seines Geschöpfes zum Ausdruck, das auch nach dem Sündenfall in seinem natürlichen Streben auf ihn ausgerichtet ist.734 Aufgrund dieser Naturausstattung ist der Mensch dazu befähigt, das Eingehen Gottes in den Seelengrund durch sein Verhalten regelrecht herbeizuzwingen735 oder zumindest entscheidend zu begünstigen.736 Dies geschieht entweder im Anschluss an die eckhartische Lehre durch die Selbstaufgabe jeglichen Eigenwirkens oder in nacheckhartischer Tradition durch die Entscheidung zur Christusnachfolge. Der ‚Frankfurter‘ dagegen lehnt aufgrund seiner Identifikation von Natur und Sünde nicht nur einen natürlichen Gottesbezug des Menschen ab. Er bringt auch den ‚autistischen Selbstbezug Gottes‘ durch seine Gotteslehre und sein daraus resultierendes unio-Konzept verstärkt zur Geltung. Denn durch den Verzicht auf die augustinische Spiritualität der ‚deutschen Mystik‘ ist ihm nicht nur die Möglichkeit einer positiven Umdeutung der göttlichen Selbstbezogenheit verwehrt. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Prosatexten lehrt der Traktat zudem eine Abhängigkeit Gottes vom Menschen, die aus dessen (Gottes) Unvollkommenheit resultiert. Der Gott des ‚Frankfurter‘ ist nämlich auf die Inbesitznahme des
732 Zur eckhartischen Unterscheidung von ‚Gott‘ (trinitas) und ‚Gottheit‘ (unitas) siehe Kap. 3.2.1, S. 318. 733 Siehe dazu auch Kap. 3.2.3, Anm. 95. 734 Das gilt auch für die nacheckhartische Mystik, obwohl sie der Macht von Sünde und Teufel über den Menschen große Aufmerksamkeit schenkt. Vgl. dazu Kap. 2.3.1. 735 Nämlich durch die bewusste Abkehr von allem ‚Eigenen‘, wodurch Gott aufgrund des neuplatonischen Grundsatzes bonum est diffusivum sui (siehe dazu auch oben, Anm. 728 sowie Kap. 3.2.3, S. 339) dazu gezwungen wird, sich dem Menschen mitzuteilen. Vgl. etwa Meister Eckhart: RdU, DW V, Kap. 1, S. 187, Z. 1–2: „Swâ der mensche in gehôrsame des sînen ûzgât und sich des sînen erwiget, dâ an dem selben muoz got von nôt wider îngân […].“ 736 So in den Aufstiegslehren der nacheckhartischen Mystik, in denen sich der Mensch durch ein verdienstvolles Dasein in der imitatio Christi auf Gott zubewegen kann. Die unio als Ziel- und Höhepunkt dieses Stufenweges setzt jedoch einen göttlichen Gnadenakt voraus. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.3.2.4, S. 236–237.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Menschen angewiesen, um sich wirkend auf sich selbst beziehen zu können und dadurch seine Existenz zu legitimieren.737
2.3.4 Die Geltung des facere quod in se est in der ‚deutschen Mystik‘ und seine Zurückweisung im ‚Frankfurter‘ Am Schluss von Pfeiffer-Spruch 45 äußert sich der anonyme Verfasser ausgesprochen zuversichtlich über die Fähigkeit des Menschen, Gott zu einem Entgegenkommen zu bewegen: „Wan swenne der mensche tuot, daz an im ist, sô mac sich got nihtes erwern.“738 Diese Formulierung lässt den akademisch-lateinischen Hintergrund deutlich durchscheinen und führt geradezu exemplarisch vor, dass die volkssprachliche Mystik bei aller Eigenständigkeit nicht von den zeitgenössischen scholastischen Diskussionen isoliert werden darf, sondern in den philosophisch-theologischen Diskurs eingebunden bleibt. Offensichtlich greift der Spruch das Prinzip des facere quod in se est auf, welches sich auf das natürlichsittliche Streben des Menschen und damit auf seine Verdienstfähigkeit vor Gott bezieht. Im universitären Kontext des vierzehnten Jahrhunderts verbindet sich dieser Lehrsatz mit der besonders bei nominalistischen Theologen739 prominenten Unterscheidung zwischen potentia dei absoluta und potentia dei ordinata,740 welche die absolute Souveränität und Entscheidungsfreiheit Gottes mit seiner Bindung an die von ihm selbst gesetzte Heilsordnung vermittelt: Denn während Gott kraft seiner Erhabenheit über alles Geschöpfliche in keinster Weise dazu verpflichtet ist, die moralischen Anstrengungen des Menschen – dessen Natur zudem durch die Erbsünde geschwächt ist – zu honorieren, hat er sich in einem freien Willensakt gleichwohl dazu entschieden, genau dies zu tun. Die in der potentia dei ordinata zum Ausdruck kommende Selbstverpflichtung Gottes gegenüber den sittlichen Bemühungen des Menschen integriert eine qualitative Abstufung der Verdienste zwischen ‚uneigentlichem‘ oder Billigkeitsverdienst (meritum de congruo) und ‚eigentlichem‘ oder Würdigkeitsverdienst
737 Siehe dazu Kap. 3.2.3 und Kap. 3.3.1. 738 Pfeiffer II, Spruch 45, S. 613, Z. 38–39. 739 Dazu zählen etwa Robert Holcot, Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel (vgl. Oberman: Facientibus, S. 327; Hamm: Promissio, S. 355–356). Letzterer ist einer der Lieblingsgegner Martin Luthers insbesondere in der frühen Wittenberger Theologie. Zu Luthers Frontstellung gegen Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517) siehe Grane: Contra Gabrielem. 740 Vgl. Leppin: Augustinismus, S. 606. Eine ausführliche Studie zu der mit dieser Unterscheidung verbundenen Selbstbindungstradition bietet Hamm: Promissio.
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(meritum de condigno).741 Während sich der Mensch durch das meritum de congruo auf den Empfang der Gnade vorbereitet – hier also noch ganz auf seine unzulänglichen natürlichen Kräfte angewiesen ist –, wird er beim meritum de condigno von der rechtfertigenden Gnade unterstützt. Letzteres ist daher auf jene Wegstrecke bezogen, die der homo viator zwischen Gnadenempfang und Eintritt in die vita aeterna zurücklegt.742 Das scholastische Prinzip des facere quod in se est wird in der Regel auf das meritum de congruo bezogen,743 also auf die Verdienstmöglichkeit des Menschen vor der göttlichen Gnadenzuwendung. Charakteristisch für das facere quod in se est ist sein Oszillieren zwischen der antipelagianischen Ausrichtung der mittelalterlichen Theologie und ihren nichtsdestotrotz vorhandenen pelagianischen Tendenzen.744 Denn wusste sie sich einerseits dem augustinischen Erbe und der von dem Kirchenvater inaugurierten Verurteilung der pelagianischen Lehre verpflichtet, so war sie andererseits doch nicht dazu bereit, Augustinus’ rigorose Ablehnung einer natürlichen Moral – zumindest einer heilsrelevanten natürlichen Moral – mitzutragen. Die antipelagianische Stoßrichtung des facere quod in se est745 offenbart sich in dreifacher Hinsicht: Zum einen ist es der potentia dei ordinata zugeordnet und
741 Zur Geschichte dieser Begriffe siehe Hamm: Promissio, S. 445–453 (meritum de congruo) und S. 453–462 (meritum de condigno). Vgl. auch Oberman: Facientibus, S. 328 (zu Robert Holcot). 742 Vgl. Hamm: Promissio, S. 40. Dies gilt nach Hamm allerdings nicht für die Porretanerschule, aus der die Unterscheidung zwischen meritum de congruo und meritum de condigno hervorgeht. Hier wird das uneigentliche Verdienst für die Wegstrecke zwischen Gnadenempfang und vita aeterna angesetzt, während ein eigentliches Verdienst außerhalb der Möglichkeiten des Menschen liegt (vgl. ebd.). 743 Vgl. Hamm: Promissio, S. 453. Dies gilt nicht nur innerhalb der nominalistischen Tradition. Vgl. etwa den Sentenzenkommentar des jungen Thomas von Aquin (In II Sent., dist. 28, a. 4, c). Siehe dazu auch Steer: Scholastische Gnadenlehre, S. 4–5; Oberman: ‚Iustitia Christi‘, S. 418. Allerdings kann Thomas das meritum de congruo auch als Aspekt des meritum de condigno behandeln, wie er es in seiner Summa theologiae tut. Vgl. Hamm: Promissio, S. 452; Steer: Scholastische Gnadenlehre, S. 5. In diesem Fall kommt das facere quod in se est dem bereits Gerechtfertigten zu. Zur Verdienstlehre des Thomas – die außerhalb der Selbstbindungstradition angesiedelt ist – vgl. ferner Hamm: Promissio, S. 312–338. 744 Siehe dazu auch Kap. 2.2.1 sowie Kap. 2.3.2.1, S. 207–208. Die Fluktuation zwischen Pelagianismus und Antipelagianismus gilt auch für die Unterscheidung von potentia dei absoluta und potentia dei ordinata, in die das facere quod in se est ja eingebunden ist. So wurde gegen Wilhelm von Ockham der Vorwurf des Pelagianismus erhoben, weil er dem Menschen einen sittlichen Entscheidungsfreiraum zugesteht, der kraft der ‚geordneten Macht Gottes‘ besteht. Dabei blieb unberücksichtigt, dass die potentia absoluta die vollkommene Souveränität Gottes im Gnadenhandeln sichert. Vgl. Leppin: Augustinismus, S. 606. 745 Auf diese weist z. B. der Biel-Schüler Wendelin Steinbach hin, der ausdrücklich erklärt, dass die Unterscheidung von meritum de congruo und meritum de condigno die Gefahr des Pelagianismus banne. Deshalb könnten moderne Theologen – anders als Augustinus, dem dieses Be-
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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verdankt seine Geltung damit einzig und allein der acceptatio divina, nicht aber einer ihm innewohnenden rechtfertigenden Qualität, die Gott zu seiner Belohnung verpflichten würde.746 Zum anderen nimmt es als meritum de congruo eine niedrigere Stellung ein als das von der Gnade begleitete und unterstützte Würdigkeitsverdienst, welches aufgrund dieses göttlichen Beistandes vorrangig die Belohnung mit der vita aeterna verdient.747 Und zum dritten bleibt der Mensch in hac vita im Ungewissen darüber, ob seine Anstrengungen tatsächlich ausreichen, um sich die Zuwendung Gottes zu verdienen.748 Dennoch birgt das facere quod in se est auch pelagianische Momente in sich, die zu seiner Verwerfung durch streng augustinische Theologen wie die Vertreter der schola Augustiniana moderna oder der frühen Wittenberger Theologie führen.749 Denn zum einen gesteht es dem Menschen die Möglichkeit eines selbst verantworteten ethischen Freiraumes und damit eine Hinbewegung auf Gott aus griffsinventar noch nicht zur Verfügung stand – auf den übertreibenden modus loquendi des Kirchenvaters verzichten. Vgl. Feld: Die theologischen Hauptthemen, S. 240. Zur Auslegung des facere quod in se est bei Steinbach siehe ebd., bes. S. 237–241. Vgl. ferner Oberman: Werden und Wertung, bes. S. 126–128, 135. Der gleichen Auffassung wie Steinbach ist auch Erasmus (vgl. Oberman: Werden und Wertung, S. 138). 746 Vgl. Hamm: Promissio, S. 351. 747 Allerdings gilt dies nur qua potentia ordinata. Qua potentia absoluta könnte Gott auch einen mit der Gnade beschenkten Menschen verdammen und einen ausschließlich aus natürlicher Kraft zu ihm strebenden Menschen in die ewige Seligkeit aufnehmen. Vgl. Leppin: Augustinismus, S. 606. 748 Darauf weist noch Erasmus in seiner De libero arbitrio ΔIATPIBH sive collatio hin (IIa 11): „Quoniam autem immensa dei caritas erga genus humanum non patitur hominem frustrari etiam illa gratia, quam gratum facientem vocant, si totis viribus eam ambierit, fit, ut nemo peccator debeat esse securus, nemo rursus debeat desperare, fit idem illud, ut nemo pereat, nisi suo vitio.“ Vgl. Oberman: Werden und Wertung, S. 103, 137. Bereits im dreizehnten Jahrhundert hat die Lehre von der Unkenntnis des Menschen über seinen Gnadenstand auch Eingang in die volkssprachliche geistliche Literatur gefunden. Vgl. etwa David von Augsburg [?]: Die vier Fittige geistlicher Betrachtung (hg. Pfeiffer I), S. 353, Z. 22–27: „Diu dritte [leite] gêt ûf vorhte, diu reht unde mæzec ist, und gegen allen den dingen, diu wir ze rehte süllen vürhten, ob wir nâch rehte riuwe haben oder wol gebîhtet und ouch gebüezet haben, ob got deheine sünde an uns wizze, der wir niht reht erkennen, dar umbe wir sîne hulde mangeln, ob im unser dienest genæme sî, ob wir noch in sünde gevallen, ob wir der behaltenen werden“; ebd., S. 356, Z. 14–19: „Billîchen sol uns dêmüetigen diu manecvaltige vreise dâ wir inne sîn, daz wir niht wizzen, ob uns got unser sünde habe vergeben, wie genæme im unser dienest sî, wie swære er unser sünde wege, ob er uns in tœtlîchen schulden weiz der wir niht erkennen, oder lîhte noch uns dar în lâze vallen, oder ob wir behalten oder verlorn werden.“ 749 Von der strikten Ablehnung des facere quod in se est in der Wittenberger Theologie legt u. a. die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (1516) Zeugnis ab. Hier lautet das ‚Corollarium II‘ zur zweiten These: „Homo, quando facit quod in se est, peccat, cum nec velle aut cogitare ex seipso possit“ (WA 1, S. 148, Z. 14–15). Auch in der dreizehn Mal Gabriel Biel als Gegner nennenden Disputatio contra scholasticam theologiam (siehe oben, Anm. 739) wird der scholasti-
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natürlicher Anstrengung zu. Und zum anderen bindet es Gott an seine Zusage, diese Anstrengung mit der Erwählung des Menschen zum Heil zu honorieren. Die augustinische praedestinatio ante praevisa merita, wie sie der Kirchenvater erstmals in den Quaestiones ad Simplicianum mit aller Entschiedenheit vertritt750 und an die mittelalterliche Theologie weitervermittelt,751 wird damit zur praedestinatio post praevisa merita umgeformt.752 In den frömmigkeitstheologischen Schriften des fünfzehnten Jahrhunderts, die zugunsten ‚normativer Zentrierung‘753 auf die Komplexität und Subtilität scholastischer Diskussion verzichten, tritt diese pelagianisierende Tendenz des facere quod in se est vielfach deutlich hervor.754 Denn hier dominiert die Überzeugung, dass Gott allen Menschen, die sich ungeachtet ihrer Sündhaftigkeit um die Zuwendung ihres Schöpfers bemühen, seine Gnade nicht versagen kann.755
sche Lehrsatz zurückgewiesen: „Falsum et illud est, quod facere quod est in se sit removere obstacula gratiae. Contra quosdam“ (ebd., S. 225, Z. 35–36). 750 Augustinus besteht auf der Reihenfolge Rechtfertigung (iustificatio) – Erwählung (electio) – gute Werke (opera bona). Vgl. Simpl. I, 2, 6 (Flasch: Logik des Schreckens, S. 166–170). Ausdrücklich erklärt er, dass die vorgeburtliche Verwerfung Esaus und die Erwählung Jakobs nicht auf Gottes Vorherwissen ihrer zukünftigen Werke beruht. Siehe ebd., I, 2, 5 und I, 2, 11 (Flasch: Logik des Schreckens, S. 164–166 und 182–184). 751 So verbindet der schottische Philosoph und Theologe Johannes Duns Scotus seine Anwendung der Unterscheidung von potentia dei absoluta und potentia dei ordinata auf die Verdienstlehre mit einer Doktrin von der determinatio ante praevisa merita. Siehe Hamm: Promissio, S. 357. 752 Vgl. Hamm: Promissio, S. 357, 361. Siehe auch Kap. 2.3.2, Anm. 554. 753 Dieser von dem Theologiehistoriker Berndt Hamm stammende Begriff bezeichnet allgemein „die Ausrichtung von Religion und Gesellschaft auf eine orientierende und maßgebende, regulierende und legitimierende Mitte hin“. Siehe Normative Zentrierung, S. 4. Wie die Forschungen Hamms zeigen (siehe dazu seine Studien im Sammelband ‚Religiosität im späten Mittelalter‘), erweist er sich als besonders geeignet, das Spezifische spätmittelalterlicher Theologie und Frömmigkeit zu erfassen. 754 Vgl. Hamm: Was ist Frömmigkeitstheologie?, S. 143. Siehe auch Kap. 2.2.1, S. 107 mit Anm. 143. Hamm macht allerdings darauf aufmerksam, dass in „der vorreformatorischen Frömmigkeitstheologie auch die strikte Gegenposition“ existiert, „die sich an der radikalen Unfreiheitsund Prädestinationslehre des späten Augustin orientiert“ (ebd.). Er denkt dabei vor allem an Johann von Staupitz, mit dem sich die anthropologische Neuorientierung der Wittenberger Theologie ankündigt. Siehe auch oben, Kap. 2.1, S. 71 mit Anm. 7 und S. 83 mit Anm. 51. 755 Das gilt selbst für die größten Sünder. So macht Johannes von Paltz das facere quod in se est für den reuigen Schächer am Kreuz geltend. Siehe Die himlische funtgrub (hg. Burger u. a.), S. 247, Z. 17–18: „Der schacher zu der rechten hand tet als vil als in im was, darumb halffe im got.“ Dass Paltz, einer der meistgelesenen Frömmigkeitstheologen des ausgehenden fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts (zu ihm ausführlich Hamm: Frömmigkeitstheologie), für seinen antipelagianisch ausgerichteten Ordensbruder Gregor von Rimini nur wenig übrig hatte (vgl. Zumkeller: Die Augustinerschule, S. 253), ist angesichts seiner Propagierung einer ‚pelagianischen‘ Verdienstfrömmigkeit kaum verwunderlich.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Doch auch in den mystischen Prosatexten des vierzehnten Jahrhunderts, die der natürlichen Fähigkeit des Menschen zum Guten in mehrfacher Hinsicht skeptisch gegenüberstehen,756 findet diese heilsoptimistische Auslegung des facere quod in se est ihren Platz.757 Im Wesentlichen lassen sich innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ zwei Auslegungsmöglichkeiten des facere quod in se est beobachten: In eckhartischer Tradition bezeichnet es die aus der Selbsterkenntnis erwachsene wissentliche und willentliche Aufgabe jeglichen Eigenwirkens, um so Raum für das göttliche Wirken zu schaffen; in der nacheckhartischen Mystik steht es vor allem für die imitatio Christi als Ausweis eines gottzugewandten, verdienstlichen Daseins bzw. in allgemeinerer Perspektive für den Synergismus von menschlichem Tugendstreben und göttlicher Gnadenzuwendung. Die in der scholastischen Theologie dominierende Zuweisung des facere quod in se est zum meritum de congruo und damit zu eher geringen Verdienstqualitäten758 verschwimmt dabei zumeist: Denn innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ soll der Lehrsatz weniger die Abhängigkeit des Menschen von der acceptatio divina untermauern, als vielmehr das grundsätzlich richtige Streben der menschlichen Natur bestätigen. Die eckhartische Auslegung des facere quod in se est findet sich etwa in Predigt Q 58. Der thüringische Meister bezieht es hier auf die Lösung vom Eigenwillen, der als Barriere zwischen dem Menschen und Gott steht: Sant Dionysius sprichet, daz got sîn himelrîche biutet veile; und kein dinc enist sô snœde als daz himelrîche, sô ez veile ist, und niht enist sô edel und sô sælic ze habenne, sô ez vergolten ist. Dar umbe heizet ez snœde, wan ez einem ieglîchen veile ist umbe als vil, als er geleisten mac. Dar umbe sol der mensche geben allez, daz er hât, umbe daz himelrîche: sînen eigenen willen.759
Mit dieser Transformation des facere quod in se est vom Ausweis menschlicher Verdienstfähigkeit zur Formel für die bewusste Verdienstnegation bestätigt Eckhart einmal mehr ein Grundkonstituens seiner Lehre: Ungeachtet seiner kreatürli-
756 Sei es, weil sie – wie Meister Eckhart – jegliche natürlich-sittliche Anstrengung als Ausdruck menschlicher eigenschaft und damit als Barriere zwischen Gott und Mensch ausweisen (vgl. Kap. 2.3.2.2); sei es, weil sie – wie viele Texte der nacheckhartischen Mystik – die intrinsische Gutheit der menschlichen Natur und ihre Fähigkeit, sich auf Gott auszurichten, in Zweifel ziehen (vgl. Kap. 2.3.1). 757 Selbstverständlich taucht der Lehrsatz des facere quod in se est auch in den volkssprachlichen Adaptionen scholastischer Literatur auf. Darauf kann in diesem Zusammenhang jedoch nicht näher eingegangen werden. Siehe aber die Textauszüge in Steer: Scholastische Gnadenlehre, S. 5–7. 758 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel, S. 258. 759 DW II, S. 611, Z. 7–S. 612, Z. 1 [Hervorhebung L. W.].
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chen Nichtigkeit, die jeden Versuch einer eigenmächtigen Annäherung an Gott und damit alle meritorischen Bemühungen ad absurdum führt, bleibt dem Menschen doch die Eigenverantwortung für ein einziges Werk: nämlich die Selbstvernichtung.760 Deren Vollendung bedarf zwar des göttlichen Beistandes,761 ihr Initiationsmoment liegt jedoch in der Verfügungsgewalt des Menschen. Dabei setzt Eckhart – wie andere Texte der ‚deutschen Mystik‘ auch – allerdings voraus, dass jegliches menschliche Denken und Handeln bereits von der Gnade Gottes im Sinne von dessen unverbrüchlicher Menschzuwendung umfangen ist.762 Die Anwendung des facere quod in se est auf die Vorbereitung der ‚Gelassenheit‘ als Zustand absoluter Empfänglichkeit für Gott findet sich auch in der nacheckhartischen Mystik, so etwa im ‚Buch geistlicher Armut‘: Und waʒ an dem menſchen iſt, ſol daʒ gelútert werden, daʒ ms geſchehen in criſto; und ein iegliches ms tn daʒ es vermag und ms sich dar ʒ keren, daʒ es enpfenglich werde.763
760 In diesem Sinne beantworten die Rede der underscheidunge die Frage, wie der Mensch mit Gott zusammenwirken solle, wenn er doch alles eigene Wirken aufgegeben habe (DW V, Kap. 23, S. 292, Z. 6–11): „Ein antwurt: éin werk blîbet im billîchen und eigenlîchen doch, daz ist: ein vernihten sîn selbes. Doch ist daz vernihten und verkleinen niemer sô grôz sîn selbes, got envolbringe ouch daz selbe in im selber, sô gebrichet im. Danne ist diu dêmüeticheit allerêrst genuoc volkomen, als got den menschen dêmüetiget mit dem menschen selber, und dâ aleine genüeget den menschen und ouch der tugent und niht ê.“ Vgl. auch Pr. S 102, DW IV/1, S. 425, Z. 162–163: „Und alsus in dirre wîse muost dû abeslahen alliu dîniu werk und muost tuon swîgen alle dîne krefte, solt dû in der wârheit bevinden dirre geburt.“ 761 Vgl. dazu das Eckhart-Zitat aus den Rede der underscheidunge in der vorhergehenden Anmerkung. 762 Eckhart verficht also zumindest implizit das Konzept einer gratia praeveniens, die Gott jeglichem Menschen zuteil werden lässt, ohne dadurch die Entscheidungsfreiheit seines Geschöpfes einzuschränken. Ausdrücklich verwenden Texte der nacheckhartischen Mystik die Bezeichnung ‚zuvorkommende Gnade‘, um die uneingeschränkte Menschzuwendung Gottes zu bezeichnen. Siehe etwa Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), S. 84, Z. 73–74: „Die fúrgande gnade, die hant alle menſchen gemeine, heiden vnd iuden, die gten vnd die bſen“; Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 7, S. 63, Z. 172–176: „Vnd als wir leſind, ſo iſt allen menſchen not ſin fr komend gnd, wan kain menſch ſich z im gekeren mht, wr ſin frkomend gnd, vnd was dem menſchen z vallet, es ſi liden oder gelk des zites, oder inwendig vermanen vnd inwendig gter will oder gegenwurf, daz iſt alles die frkomend gnd gottes, die got zget allen menſchen.“ 763 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 123, Z. 35–38. Zum weiteren Kontext des Zitats siehe auch Kap. 2.2.3.4, S. 167. Vgl. auch Johannes Tauler, der die Vorbereitung auf die abegescheidenheit durch Reinigung des Seelengrundes von allem Kreatürlichen als facere quod in se est bezeichnet, welches in der Eingießung des Heiligen Geistes seine Belohnung findet (Pr. V 23, S. 93, Z. 10–13): „Also der heilige geist danne vindet daz der mensche das sine gett, so kummet er mit sime liehte danne und úberlúhtet daz natúrliche lieht und gússet darin úbernatúrliche tugende, also gelbe, hoffenunge, gtteliche minne und sine genade“ [Hervorhebung L. W.]. Siehe ferner Pr. V 32, S. 123, Z. 21–25: „Also enist kein mensche so verkert noch so herte noch so nas von súnden und
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Daneben kennt das ‚Buch geistlicher Armut‘ auch die Auslegung des facere quod in se est auf die Christusnachfolge hin, also auf die Bemühungen des Menschen, sich dem Leben und Leiden des Mensch gewordenen Gottessohnes so weit anzunähern, dass Gott als gnadenhafte Belohnung schließlich die unio gewährt: […] und daz [die Befreiung des Geistes von allen ‚Mitteln‘] geſchiht in der wiſe, ſo alle die krefte des menſchen, ſie ſient uſſerlich oder innerlich, durchlffent die werck und die lere und daʒ liden cristi, und ein iegliches tt waʒ es vermag. Und die bunge in criſto machet die krefte ʒ male luter, und die luterkeit wurt an geſtoſſen mit minnen […], und danne ſo offenbaret ſich got in dem weſen der ſelen […].764
Nicht zu trennen von der Aufforderung zur Christusnachfolge, welche insbesondere die vorrangig seelsorgerisch ausgerichteten Texte der nacheckhartischen Mystik wie ein roter Faden durchzieht,765 sind jene Textpassagen, die das facere quod in se est in allgemeinerer Weise auf die natürlich-sittlichen Bemühungen des Menschen anwenden. Jan van Ruusbroec etwa siedelt das scholastische Prinzip auf verschiedenen Ebenen des geistlichen Aufstiegsweges an: Es bezeichnet ebenso die Anstrengungen des anfangenden Menschen, sich das ber naturlich lieht – das heißt die rechtfertigende Gnade – zu verdienen,766 als auch das Streben des in den Tugenden, und damit in der Christusnachfolge, fortschreitenden Menschen nach einer kontinuierlichen Gegenwart Christi in seiner Seele.767
zgeneiget z gebresten, es si danne die welt oder die creature, wil er sich disem gttelichen fúre dicke mit gter andaht und luterre meinunge nehen, und so er tt das er mag und denne ein inbliben hat bi disem fúre, sin dúrre, steinin, stehelin hertze ms warm, weich, fúrig und gttelich werden“ [Hervorhebung L. W.]. Seiner Fixierung auf die menschliche Sündhaftigkeit entsprechend, kennt Tauler auch eine eher pessimistische Auslegung des facere quod in se est: „Hie lúhtet in daz wort daz Cristus sprach: ‚so ir alles daz getnt daz ir vermúgent, so súllent ir úch noch danne halten fúr unnútze knehte‘.“ Siehe Pr. V 14, S. 66, Z. 10–12. 764 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 133, Z. 2–9 [Hervorhebung L. W.]. 765 Siehe dazu Kap. 2.3.2.4. 766 Jan van Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), S. 87, Z. 131–139: „Alſe der menſche daz ſine gett, daz er vermag, vnd er nút fúrbas mag von eigner krancheit, denne gehrt der grundeloſer gte gottes z, daz ſú daz werg folle fre. So kumet ein hoher lieht der gnaden gotz, recht als ein blig der ſunnen, vnd wurt geſtúrtzet in die ſele vnuerdienet vnd vnbegert noch wirdikeit. Wan in diſem liehte git ſich got von frier gte vnd miltikeit, die dekeine creature verdienen mag, e ſ in habe […]. Hie mitte endet die frkumment gnade, vnd hie beginnet die andere, das iſt daz ber naturlich lieht“ [Hervorhebung L. W.]. Die von Ruusbroec am Ende dieses Zitates erwähnte ‚zuvorkommende Gnade‘ wird allen Menschen zuteil und befähigt sie dazu, sich Gott zuzuwenden. Siehe auch oben, Anm. 762. 767 Vgl. Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), S. 89, Z. 198–200: „Nv ſullen wir merken an Criſtum vnſern brútegm, vf daz wir im volgen wellent in túgenden nach vnſerre maht, die wiſe, die er vorte von innen, vnd die werg, die er wúrkte von vſſen, das ſint: túgende vnd werg der túgende“; ebd., S. 94, Z. 313–320: „Ein andere zkunft Criſti vnſers brútegmes, die geſchiht tegeliches in dem gůten
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Vorgeprägt ist die Anwendung des facere quod in se est auf das Tugendleben des Menschen bereits in der geistlichen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts.768 Die mit der Anerkennung oder Verwerfung meritorischer Leistungen eng verbundene Prädestinationsfrage wird in den Texten vielfach nicht ausdrücklich thematisiert. Das häufig artikulierte Vertrauen darauf, dass Gott die guten Werke seines Geschöpfes aufgrund seiner unbedingten Menschzuwendung als Verdienst akzeptieren wird, lässt jedoch darauf schließen, dass sie eine praedestinatio post praevisa merita voraussetzen. Explizit bestätigt wird dies im ‚Geistbuch‘: Die sich aber zu gott gekert haben, das sind die, die got ewigkleichen gesechen hat ze behalten vnd jn zu gemeinen sein selikeit. Aber die sich von gott gekert haben, das sind die, die got ewigklich vorgesechen hat ze verdampnen. Aber die vorsichtikeit ist nit ein vrsach [= causa prima] irs verdampnen, mer sie ist doch sache [= causa secunda]. Got verdampet [!] den menschen nit dar vmb, daz er es fúrgesehen hat, wan er vertmpt in zu recht vmb sin vnreht leben vnd vmb sein pse werck. Hier vmb sol der mensch nit leben nach gottes fúrsihtikeit, mer er sol leben nach siner gewissne vnd vernuft. Wann got hat niemant geschaffen noch geordent z der helle. Aber er hat alle menschen geschaffen vnd gemeint zu dem hymelreich.769
Das Zugeständnis einer als facere quod in se est zu fassenden moralischen Eigenkompetenz des Menschen kann der anthropologische Pessimismus des ‚Frankfurter‘ eigentlich nicht zulassen. Dementsprechend wertet der Traktat die verfehlte Überzeugung des Menschen, aus sich selbst heraus „etwas zu vermögen“,770 als Kennzeichen seines adamitischen Ungehorsams. Dennoch durchzieht den Text auf der syntagmatischen Ebene die Spannung zwischen der Aufrechterhaltung des Anspruchs, sich durch Abkehr von der eigenen selbstischen Verfasstheit die Präsenz des Göttlichen zu sichern, und der Negation dieser Möglichkeit aufgrund der Verstrickung des Menschen in die Kardinalsünde des
menſchen, dike vnd manigerwerbe, mit gnaden vnd mit nuwen gaben in allen den, die ſich dar z fgent noch irme vermúgende. Hie wellen wir nút ſprechen von dem erſten bekeren des menſchen, noch von der erſten gnaden, die im gegeben wart, do er ſich bekerte von den ſnden z den túgenden. Mer wir wellent ſprechen von einem z nemende in nuwen gaben vnd in núwen túgenden von tage z tage vnd von einre gegenwertiger zkunft Criſti vnſers brútegmes degeliz in vnſer ſele“ [Hervorhebungen L. W.]. 768 Vgl. etwa St. Georgener Predigten (hg. Schiewer/Seidel), Pr. 2, S. 7, Z. 42–47: „Vnde der ewarte daz ist dez menschin beschaidinhait, dú sol daz fúr der gnaden schalten mit gůten werckin unde sol die tuginde bin vlizicliche, die ime got hat gegebin mit singinne vnde mit lesinne vnde mit dienenne vnde mit ainre iegelichun arbait, alse vil ez getůn mach, vnde alse uil ime únsir herre gnade hæt gegebin. Die sol ez ime widir gebin. Wan wil ez die gnade niht bin mit gůten werckin, so minrot ime si got“ [Hervorhebung L. W.]. 769 Geistbuch (hg. Gottschall), S. 11, Z. 126–136. 770 Vgl. das ‚Frankfurter‘-Zitat in Kap. 2.2.3.3, S. 159.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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‚Annehmens‘771. Diese Kollision zwischen mystagogischer Forderung und ihrer Unerfüllbarkeit – und damit zwischen der Andeutung eines facere quod in se est und dessen Zurückweisung – betrifft gleichermaßen den Impuls zur Aufgabe jeglichen Eigenwirkens wie die Entscheidung zu einem tugendhaften Dasein in der Christusnachfolge.772 Wenden wir uns zunächst ersterem Aspekt – und damit der Rezeption der eckhartischen Gelassenheitslehre im ‚Frankfurter‘ – zu. Wie der thüringische Meister bindet der Traktat das Eingehen Gottes in den Menschen an dessen Selbstaufgabe: Wo nu die creatur ader der mensch seyn eygen vnnd seyne selbheit vnd sich vorlußet vnd auß gehet, da gehet got yn mit seyme eygen, das ist mit seyner selbheit.773
Obgleich die Notwendigkeit einer Lösung von der selbheit – und damit von einer Grundbestimmung des Menschseins774 – hier unmissverständlich formuliert wird, verweigert der ‚Frankfurter‘ jede Aussage, die das Zulassen des göttlichen Wirkens eindeutig als menschliche Eigenleistung im Sinne des facere quod in se est qualifizieren würde. Zwar lässt der Traktat in einer Passage des siebzehnten Kapitels keinen Zweifel daran, dass die Bereitschaft des Menschen, sich als ‚Wohnstatt‘ Gottes zur Verfügung zu stellen, preiswürdig ist. Zugleich aber warnt er davor, sich dieses Guten ‚anzunehmen‘ und damit dem augustinischen Fundamentallaster der concupiscentia anheimzufallen: Ich sprich: Deß guthen sal sich nymant an nemen, wan eß ist gotis vnd der güte gotis. Aber danck habe der mensch vnd ewigen lone vnd selikeit, der do czu taug vnnd bereit ist vnde gestatet, das er eyn huß vnd eyn wonunge ist der ewigen gute vnd gotheit, das sie yren gewalt, willen vnd wercke yn ym gehaben magk an hindersal.775
Während die Zulassung des göttlichen Wirkens also bereits Resultat einer göttlichen Intervention zu sein scheint – was jeden menschlichen Selbstruhm 771 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 193–195. Auf das Schwanken des ‚Frankfurter‘ zwischen Anerkennung und Ablehnung einer Eigenaktivität des Menschen auf dem Weg zur Vergottung macht auch Zecherle (Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 54–56) aufmerksam. 772 Dabei handelt es sich um die beiden in der ‚deutschen Mystik‘ geltend gemachten Möglichkeiten, die unio regelrecht herbeizuzwingen oder ihren Vollzug zumindest entscheidend zu begünstigen. Vgl. dazu Kap. 2.3.3, S. 256 mit Anm. 735 und 736. 773 Kap. 24, S. 103, Z. 25–27. 774 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 186–187. Insofern die selbheit fest in der menschlichen Natur verankert ist, stellt die Forderung, sich von ihr zu lösen, bereits eine Aporie dar. 775 Kap. 17, S. 94, Z. 10–14.
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verbietet –, so gilt diese moralische Ohnmacht keineswegs auch analog für die Billigung des teuflischen Wütens im Menschen. Hier trägt Letzterer die volle Eigenverantwortung, auch wenn der ‚Frankfurter‘ an dieser Stelle durchaus dazu bereit ist, Teufel und Sünde als autonome Macht anzuerkennen:776 Wil man sich dann entschuldigen vnd des boßen auch nicht an nemen vnd wil eß deme teufel vnd der boßheit uff tragen, so sprich ich: Vndang, *schande vnd schade vnd ewig vnglucke vnd vordampniß habe der mensche, das er dar czu taug vnd bereit ist vnde gestatet, das der teufel vnd falscheit *vnd lugen oder vnwarheit vnd ander boßheit yren willen vnd gewalt, werck vnd wort yn ym haben mogen, vnnd das er yer huß vnd yr wonunge ist.777
Der Nachdruck, mit dem der ‚Frankfurter‘ in den zitierten Passagen die dem göttlichen Wirken zu verdankende Lobwürdigkeit der Guten ebenso herausstreicht wie die durch diese selbst zu verantwortende Verwerflichkeit der Bösen, erinnert an paulinisch-augustinisches Pathos. Denn Augustinus zitiert in De spiritu et littera den Apostel mit den Worten: „‚ira et indignatio, tribulatio et angustia in omnem animam hominis operantis malum, Iudaei primum et Graeci; gloria autem et honor et pax omni operanti bonum, Iudaeo primum et Graeco‘.“778 Und trotz des zugestandenen Ruhmes derjenigen, die das Gute tun, lässt der Kirchenvater bei seiner Exegese des Paulus-Zitates keinen Zweifel daran, dass sie erst durch die göttliche Gnadenmitteilung dazu befähigt worden sind.779 Der ‚Frankfurter‘ bewegt sich hier also einmal mehr in einer augustinisch-antipelagianischen Spur, auch wenn auf der Werkebene der Anspruch an den Menschen, sich selbst aufzugeben – und damit die eckhartische Auslegung des facere quod in se est –, verschiedentlich aufscheint.780
776 Während er ansonsten die menschliche Natur mit dem Teufel identifiziert. 777 Ebd., Z. 14–20. 778 spir. et litt. XXVI, 44 (CSEL 60, S. 197, Z. 21–26). Zur Paulus-Stelle siehe Röm 2, 8–10. 779 Vgl. spir. et litt. XXVI, 44 (CSEL 60, S. 198, Z. 18–31). Nachdem Augustinus zunächst festgestellt hat, dass es sich bei den das Gute verübenden Graeci wohl um jene Heiden handele, denen das Gesetz in ihr Herz eingeschrieben sei, fährt er fort (S. 198, Z. 20–24): „[…] profecto ad euangelium pertinent gentes, quibus lex in cordibus scripta est; eis quippe credentibus uirtus dei est in salutem. quibus autem gentibus bene operantibus gloriam, honorem pacemque promitteret extra euangelii gratiam constitutis?“ 780 Frankfurter, Kap. 9, S. 82, Z. 23–25: „Dar vmmb solde ich alleine gotis vnd seynes werckes warten vnd laßen alle creatur mit allen yren wercken vnd czu vorderst mich selber“; Kap. 16, S. 92, Z. 48–49: „Auch ist geschriben: So meyn ich, das ist icheit vnd selbheit, mer ab nympt, ßo gotis ich, das ist got selber, mer zu nympt yn mir“; Kap. 22, S. 99, Z. 19–20: „Biß luterlich vnd gentzlich an dich selbir.“
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Eine Anschlussstelle an die antipelagianische Theologie des Kirchenvaters ergibt sich auch durch die entschiedene Zurückweisung des Ansinnens, das Wirken von Teufel und Sünde im Menschen ebenso wie das göttliche Wirken der individuellen Verantwortung zu entziehen. Denn auf das Argument, dass das verwerfliche Handeln nicht der eigenen Motivation, sondern der Sünde als einer fremden Macht entspringe, hatte bereits der Kirchenvater ähnlich ungehalten reagiert wie der ‚Frankfurter‘: „et ipse esse sine peccato uerissime dicitur, in quo nullum habitat peccatum, non qui per abstinentiam mali operis dicit: ‚iam non ego operor illud, sed id quod in me habitat peccatum‘.“781 Die Distanz des ‚Frankfurter‘ gegenüber der eckhartischen Deutung des facere quod in se est bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Postulats seiner Einlösung lässt sich auch hinsichtlich der nacheckhartischen Auslegung des scholastischen Lehrsatzes auf die Christusnachfolge hin beobachten. Denn während der Traktat einerseits die Einübung in das Christusleben zur Voraussetzung für die Aneignung der Gottebenbildlichkeit erklärt, setzt er andererseits die menschliche Natur in strikte Opposition zur vita Christi.782 Zwar dürfte es in Hinblick auf die antipelagianische Grundsignatur des ‚Frankfurter‘ signifikant sein, dass er durchgängig auf eine terminologisch eindeutige Formulierung des facere quod in se est verzichtet. Dennoch treffen seine Darlegungen zur Exempelrolle Christi durchaus jenen Sachverhalt, auf den andere mystische Predigten und Traktate die akademische Formel anwenden. So heißt es in Kapitel 23: Sich, diß were eyn gut weg czu dem besten vnd bereitunge czu dem letzten ende, das der mensche yn der czeit vbirkummen mag; das ist das lipliche leben Cristi, wanne yn dem leben Cristi synt vnd worden die vor genanten wege behalden volliclich, gentzlich biß yn das ende des lieplichen lebens.783
781 nat. et. gr. LXII, 72 (CSEL 60, S. 288, Z. 15–18). Allerdings akzeptiert Augustinus an anderer Stelle auch die Ausführungen des Paulus, wonach das (von dem Kirchenvater sonst vielfach negierte) gute Wollen des Menschen im Widerstreit mit der Sünde als eigenständig wirksamer Macht liege. Siehe das Zitat von Röm 7, 18–20 in spir. et litt. XIV, 25 (CSEL 60, S. 180, Z. 1–7): „‚scio enim, quia non habitat in me, hoc est in carne mea, bonum. velle enim adiacet mihi, perficere autem bonum non. non enim quod volo facio bonum, sed quod nolo malum, hoc ago. si autem quod nolo ego hoc facio, iam non ego operor illud, sed quod habitat in me peccatum‘.“ 782 Siehe dazu auch Kap. 2.2.3.3, Anm. 376 sowie Kap. 2.3.2.4, S. 242–243. 783 Kap. 23, S. 101, Z. 15–18. Der Hinweis auf die vor genanten wege dürfte sich auf den Anfang des Kapitels beziehen. Dort heißt es (ebd., Z. 1–2): „Auch saget man von etlichen wegen vnd bereitung *dar czu. Man spricht, man sol got liden, ym gehorsam vnd gelassen vnd vnderthan seyn.“ Möglich ist auch ein Bezug zu Kap. 22, S. 100, Z. 30–37. Dort werden vier Voraussetzungen aufgeführt, um sich auf die Selbstmitteilung Gottes vorzubereiten: 1.) eine ernsthafte Begierde; 2.) eine Vorbildfigur; 3.) die Bereitschaft, dem Lehrer zu gehorchen und ihm nachzufolgen; 4.) die
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Gleichzeitig steht die freigeistige Fehlausrichtung der menschlichen Natur einer solchen Orientierung an der Vorbildrolle des inkarnierten Gottessohnes entgegen. In den Worten des ‚Frankfurter‘: „Vnd dar vmmb gehet alle natur vnnd selbheit von dissem leben [Christi] vnd heldet sich czu dem falschen, ledigen leben, als vor gesprochen ist.“784 In ihrem Wahn, alle irdischen Verpflichtungen – auch jene zur Christusnachfolge – bereits hinter sich gelassen zu haben, verweigert sich die natura hominis konsequent dem Kreuz: „Aber die frey, falsch natur wenet, sie habe alles gelassen. Sie wil aber des creuczes nicht vnd spricht, sie habe syn genugk gehabt vnnd durff seyn nymmer, vnd ist betrogen.“785 Der theologisch-anthropologische Gesamtentwurf des ‚Frankfurter‘ widersetzt sich daher der Behauptung einer naturhaften Ausstattung des Menschen, welche diesem die imitatio Christi im Rahmen des facere quod in se est ermöglichen würde. Vielmehr scheint die Erfüllung dieses Anspruchs nur durch ein Eingreifen Gottes vorstellbar zu sein, und tatsächlich lässt sich die spezifische unio-Lehre des ‚Frankfurter‘ als Versuch deuten, die aus der Gegenläufigkeit von Nachfolgeforderung und naturhafter Fehlausrichtung des Menschen resultierende Aporie aufzulösen.786 Als Fazit lässt sich festhalten, dass der ‚Frankfurter‘ ungeachtet seiner expliziten Zurückweisung des Verdienststrebens die Möglichkeit des facere quod in se est mehrfach anklingen lässt und sich damit in den ‚mystischen Normaldiskurs‘ einschreibt. Diese Aussagenkongruenz auf der paradigmatischen Achse wird auf der Werkebene jedoch kontinuierlich durch seine negative Anthropologie unterlaufen. Diese lässt eine ausdrückliche Formulierung des facere quod in se est nicht zu, ermöglicht dafür aber eine Äußerung wie die folgende, mit der sich der ‚Frankfurter‘ außerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ stellt: Eß ist wol ware, wer seyn bestes vbirkommen mag ader kan, das ist das beste. Aber das geschiet nicht, die weile der mensch seyn bestes sucht ader meynet. Wan sal er seyn bestes finden vnde vberkommen, ßo muß er seyn bestes vorlißen, als vor gesagt ist. Vnd wil der mensche seyn bestes lassen vnd vorlißen, uff das er sein bestes finde, ßo ist es aber falsch vnd hie von mag wenig ymant uff dißen weg komenn vnd eß spricht joch Cristus, *auch als vor gesprochen ist.787
Einübung in die Nachfolge. Der Lehrer wird hier zwar nicht explizit genannt, aber die Assoziation mit der imitatio Christi liegt nahe. 784 Kap. 26, S. 108, Z. 73–75. Siehe zur Verketzerung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ und der Opposition von Natur und Christusleben auch Kap. 2.2.2.1, S. 114–115 und Kap. 2.2.2.3, S. 141–142. Vgl. ferner Kap. 2.3.1, S. 187–188. 785 Kap. 51, S. 148, Z. 137–139. Zu dieser Fehlauslegung der Gelassenheitslehre siehe auch Kap. 2.3.2.3, S. 226–228. 786 Siehe dazu Kap. 3.3.2.3. 787 Kap. 40, S. 129, Z. 102–108.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Der Heilspessimismus dieser Textpassage, der mit der Diabolisierung der menschlichen Natur im ‚Frankfurter‘ konform geht, artikuliert sich in der harschen Ablehnung beider Auslegungen des facere quod in se est. Zum einen wird hier die aktive Suche nach dem ‚Besten‘ – im Kontext des 40. Kapitels, aus dem das Zitat stammt, ist damit das ‚göttliche Licht‘ gemeint – aufgrund der ‚Ich‘-Fixierung des Menschen für sinnlos erklärt.788 Damit ist jeder Versuch einer selbst verantworteten Hinbewegung zu Gott durch ein tugendhaftes Dasein in der Christusnachfolge zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.789 Zum anderen gilt jedoch auch die willentliche Aufgabe dieses eigenmächtigen Heilsstrebens als verfehlt.790 Damit aber ist dem Menschen jegliche Möglichkeit genommen, ein in seiner Natur liegendes Potenzial zur Annäherung an Gott zu nutzen. Und so wundert es nicht, dass der ‚Frankfurter‘ zumindest an dieser Stelle nur resigniert konstatieren kann: „vnd hie von mag wenig ymant uff dißen weg komenn.“
788 Zur Opposition von ‚göttlichem‘ und ‚natürlichem Licht‘ siehe Kap. 2.3.2.3, S. 225–226 und S. 231 mit Anm. 641. Zur vergeblichen Suche nach dem ‚Besten‘ im ‚Frankfurter‘ – und der Gegenposition von Johannes Tauler – siehe ferner ebd., Anm. 636 und Anm. 642. Zur Verwechslung des wahrhaft ‚Besten‘ mit dem, was die Natur für ihr ‚Bestes‘ hält, siehe auch das ‚Frankfurter‘-Zitat in Kap. 2.3.1, S. 199–200. 789 Dies heißt freilich nicht, dass der Mensch in seinem Naturzustand nicht zu äußerlich guten Werken in der Lage ist. Da diese jedoch aus dem Eigenwillen anstatt aus Gottes Willen erwachsen, sind sie zu verwerfen. Siehe dazu Kap. 2.3.2.3, S. 230–231 sowie Kap. 2.3.3, bes. S. 248–249. 790 Diese Verwerfung des ‚Sich-Lassen-Wollens‘ liegt in der Selbstbezogenheit des natürlichen Lichts begründet, das den Willen an sich bindet, anstatt ihn Gott zu übereignen. Andere mystische Prosatexte dagegen artikulieren im Anschluss an Meister Eckhart die Überzeugung, dass der Mensch seinen Eigenwillen willentlich aufgeben kann. Vgl. Pfeiffer II, Liber positionum, n. 89, S. 654, Z. 5–6: „Wir legen diu ding abe hiute unde morne in vrîem willen alse vil als wir wellen“; Seuse: BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 5, S. 20, Z. 82–84: „Der dritte inblik geschiht mit einem entwerdenne und friem ufgebenne sin selbs in allem dem, da er sich ie gefrte […]“; Neun-FelsenBuch (hg. Strauch), S. 93, Z. 15–16 (über die Menschen auf dem zweiten Felsen): „[…] und hant ch in irme willen und in irre meinungen das si iren eigin willen wellent ufgebben […]“; ebd., S. 108, Z. 9– 13 (über die Menschen auf dem fünften Felsen): „[…] das sint menſchen die irren eigin willen hant ufgebben und hant in gotte widdergebben und hant einen gancen feſten willen das si nme uſser irre eigin gtdnkenden wolgefallenden wisen wellent lebben […].“
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2.3.5 Die Freiheit vom Gesetz und die Gefahr der Separation von ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Menschen 2.3.5.1 „ubi spiritus, ibi libertas“ – zur Reformulierung eines augustinischen Motivs Die augustinische Grundprämisse, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht dazu in der Lage ist, den Forderungen des Gesetzes gerecht zu werden,791 muss dessen Sinn ungeachtet seines göttlichen Ursprunges792 zwangsläufig infrage stellen. Denn zum einen scheint es für den ‚natürlichen‘ Menschen jeglicher Relevanz zu entbehren, da sich seine Befolgung oder Nicht-Befolgung in keinerlei Weise auf Gottes Verhalten ihm gegenüber auswirkt. Ohne dessen verdienstunabhängige Gnadenzuwendung bleibt er der massa damnata verhaftet und ist damit der ewigen Verdammnis gewiss. Zum anderen erweist sich das Gesetz aber auch für den vom spiritus gratiae erfüllten Menschen als überflüssig. Denn mit Verweis auf die einschlägigen Bibelstellen Gal 5, 18 und 2 Kor 3, 17 betont Augustinus, dass der Begnadete von jeglicher Gesetzesbindung frei sei: „‚quodsi spiritu ducimini, non adhuc estis sub lege‘.“793
791 In De spiritu et littera erkennt Augustinus zwar die Ausstattung des Menschen mit einem freien Willen und die Belehrung über eine richtige Lebensgestaltung als notwendige Voraussetzungen zur Erfüllung des göttlichen Gesetzes an. Entscheidend ist jedoch die Ausgießung des Heiligen Geistes, da nur dieser die Liebe zum Guten bewirken kann. Vgl. spir. et litt. III, 5 (CSEL 60, S. 157, Z. 10–16): „Nos autem dicimus humanam uoluntatem sic diuinitus adiuuari ad faciendam iustitiam, ut praeter quod creatus est homo cum libero arbitrio praeterque doctrinam qua ei praecipitur quemadmodum uiuere debeat accipiat spiritum sanctum, quo fiat in animo eius delectatio dilectioque summi illius atque incommutabilis boni, quod deus est, etiam nunc cum per fidem ambulatur, nondum per speciem […]“; ebd. (CSEL 60, S. 157, Z. 22–24): „ut autem diligatur, caritas dei diffunditur in cordibus nostris non per arbitrium liberum, quod surgit ex nobis, sed per spiritum sanctum, qui datus est nobis.“ 792 Unter dem Gesetz begreift Augustinus in erster Linie die Forderungen des Dekalogs, die vom Finger Gottes auf steinerne Tafeln geschrieben worden seien. Vgl. spir. et litt. XIV, 23 (CSEL 60, S. 176, Z. 18–S. 177, Z. 14). In den folgenden Ausführungen wird der Begriff der göttlichen ê jedoch weiter gefasst, insofern der ‚Frankfurter‘ – wie andere mystische Prosatexte auch – darunter die Gesamtheit eines christlichen Tugendlebens („alle gebote vnd gesetze, wiße vnd ordenung vnd der glich“; vgl. unten, Kap. 2.3.5.3, S. 277–278) versteht. 793 nat. et gr. LVII, 67 (CSEL 60, S. 283, Z. 20–21). Bei der Stelle handelt es sich um Gal 5, 18. Zu 2 Kor 3, 17 siehe z. B. spir. et litt. XVI, 28 (CSEL 60, S. 181, Z. 23–27): „‚Dominus autem spiritus est; ubi autem spiritus domini, ibi libertas‘. hic autem spiritus dei, cuius dono iustificamur, quo fit in nobis ut non peccare delectet, ubi libertas est, sicut praeter hunc spiritum peccare delectat, ubi seruitus […].“ Vgl. auch spir. et litt. XVIII, 31 (CSEL 60, S. 184, Z. 15–16); ebd., XXX, 52 (CSEL 60, S. 209, Z. 13).
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Diese Problematik einer anscheinenden Irrelevanz des Gesetzes, dessen Geltung aufgrund seiner göttlichen Herkunft jedoch zwingend aufrechterhalten werden muss, wird ein Millennium später innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ erneut verhandelt. Das gilt auch für den ‚Frankfurter‘, der sich im Unterschied zu den zuvor diskutierten augustinisch-antipelagianischen Aspekten hier als weitgehend konform mit seinem literarischen Bezugsfeld erweist, auch wenn er in seinen Äußerungen immer wieder eigene Akzente setzt. Besondere Aufmerksamkeit widmen die mystischen Predigten und Traktate der augustinischen Lehre von der Gesetzesfreiheit des Erwählten, die sie auf die unio mystica als ihr Proprium hin auslegen. Die augustinische Prämisse, dass der von der Gnade zum Guten befreite Mensch des Gesetzes nicht bedürfe, erfährt dadurch eine Transformation hin zu der Aussage, dass der von Gott Erfüllte vom Gesetz frei sei. Die mystischen Prosatexte übernehmen in ihrer diskursspezifischen Rezeption der ursprünglich augustinisch-antipelagianischen Position allerdings nicht nur diese positive Perspektive, sondern setzen sich auch mit deren inhärenter Problematik auseinander. Denn abgesehen davon, dass die Relevanz des göttlichen Gesetzes ungeachtet der Verheißung der Gesetzesfreiheit aufrechterhalten werden muss, sehen sich die Predigten und Traktate mit der Bedrohung einer antinomistischen Fehlauslegung der libertas spiritus im Rahmen der freigeistigen Häresie konfrontiert. Dieser Gefahr, die als Irrlehre einer Separation von ‚innerem‘ und ,äußerem‘ Menschen in Erscheinung tritt,794 begegnen die Texte, indem sie die Geltung des Gesetzes auch für den ‚Freien‘ gegen alle ketzerischen Freiheitsbestrebungen behaupten. Die damit einhergehende Konstruktion einer Unterscheidung zwischen ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Freiheit – welche zugleich der Legitimation des Gesetzes dient – verweist wiederum auf Augustinus zurück. Denn auch dieser hatte die mit seiner Freiheitslehre verbundene Möglichkeit eines Missverständnisses mit gravierenden Folgen für die kirchliche Autorität und das soziale Miteinander erkannt. Deshalb besteht er in seinen gnadentheologischen Schriften darauf, dass sich auch der vom spiritus gratiae erfüllte Mensch der Verpflichtung auf das Gesetz mitnichten entziehen könne.795 Nur unterstehe er nicht mehr der lex operum, sondern der lex fidei.796 Dabei handelt es sich nach Augustinus keineswegs um zwei inhaltlich voneinander verschiedene Gesetze –
794 Siehe dazu die Erläuterungen weiter unten in Kap. 2.3.5.3. Haas erwähnt dieselbe Problematik – er spricht vom ‚Divergieren‘ zwischen ,äußerem‘ und ‚innerem‘ Menschen – in einer Fußnote. Vgl. Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 439, Anm. 58. 795 So stellt Augustinus in Contra duas epistolas Pelagianorum III, 4, 10 (CSEL 60, S. 497, Z. 1–3) die rhetorische Frage: „quis est tam impius, qui dicat ideo se ista legis non custodire praecepta, quia est ipse Christianus nec sub lege, sed sub gratia constitutus?“ 796 Siehe Kap. 2.3.3, Anm. 702.
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als ob die lex fidei die lex operum ersetzt oder zumindest modifiziert hätte797 –, sondern um zwei verschiedene Haltungen des Menschen gegenüber dem einen göttlichen Gesetz.798 Denn nur der Erwählte werde durch den Empfang der Gnade innerlich zum amor iustitiae bewegt und habe so dank göttlichen Eingreifens den für die lex operum kennzeichnenden timor poenae überwunden.799 Daher erfülle sein durch die Gnade geheilter Wille das Gesetz, ohne im Sinne eines von außen auferlegten Zwanges unter das Gesetz gestellt oder des Gesetzes bedürftig zu sein.800 In der praktisch-ethischen Konsequenz bedeutet dies, dass sich Begnadete und Unbegnadete in ihren guten Werken von außen betrachtet nicht voneinander unterscheiden. Beide erfüllen das Gesetz, die einen jedoch aus der göttlichen Liebe heraus, so dass ihren Werken ein innerer Wert zukommt, die anderen aufgrund einer durch die Erbsünde bedingten falschen Motivation, so dass ihre Werke von keinerlei Nutzen für das Seelenheil sind.801
797 Augustinus verwahrt sich in De spiritu et littera gegen die Anschauung, dass das ‚Gesetz der Werke‘ dem Judentum, das ‚Gesetz des Glaubens‘ aber dem Christentum zugehörig sei. Zwar seien die Beschneidung, Tieropfer und ähnliche Riten inzwischen obsolet; in der Hauptsache bestehe das göttliche Gesetz jedoch im Dekalog, der im Christentum dieselbe Gültigkeit besitze wie im Judentum. Vgl. spir. et litt. XIII, 21 bis XIV, 24 (CSEL 60, S. 173, Z. 15–S. 178, Z. 25). Auch die These, dass innerhalb des Dekalogs allein das Sabbatgebot die lex operum repräsentiere, während die anderen neun Gebote der lex fidei angehören, wird von Augustinus zurückgewiesen. Vgl. ebd., XIV, 24 (CSEL 60, S. 178, Z. 11–25). 798 Meyer weist darauf hin, dass Augustinus damit gegenüber Paulus eine entscheidende Uminterpretation der beiden Gesetze vornimmt. Aus einem im Gesetz liegenden Defekt, der zu einer inhaltlichen Neuerung führt, wird bei dem Kirchenvater ein Defekt im Menschen, der nur durch eine von Gott bewirkte innerliche Transformation geheilt werden kann. Siehe Meyer: Augustine’s The Spirit and the Letter, S. 379. 799 spir. et litt. XIV, 26 (CSEL 60, S. 180, Z. 22–S. 181, Z. 1): „quod mandatum si fit timore poenae, non amore iustitiae, seruiliter fit, non liberaliter et ideo nec fit. non enim fructus est bonus, qui de caritatis radice non surgit. porro autem si adsit fides, quae per dilectionem operatur, incipit condelectari legi dei secundum interiorem hominem, quae delectatio non litterae, sed spiritus donum est […].“ 800 Vgl. spir. et litt. IX, 15 (CSEL 60, S. 168, Z. 6–9). 801 Zur falschen Motivation des nicht unter der Gnade stehenden, aber gleichwohl dem Anspruch des Gesetzes äußerlich genügenden Menschen siehe c. ep. Pel. I, 9, 15 (CSEL 60, S. 436, Z. 16–24): „Nec moueat [Iulianus] quod [apostolus] ad Philippenses scripsit, secundum iustitiam, quae in lege est, quod fuerit sine querella. potuit enim esse intus in affectionibus prauis praeuaricator legis et tamen conspicua opera legis inplere uel timore hominum uel ipsius dei, sed poenae formidine, non dilectione et delectatione iustitiae. aliud est enim uoluntate benefaciendi benefacere, aliud autem ad malefaciendum sic uoluntate inclinari, ut etiam faceret, si hoc posset inpune permitti. nam sic profecto in ipsa intus uoluntate peccat, qui non uoluntate, sed timore non peccat.“ Vgl. auch Kap. 2.3.2.3 mit Anm. 643 und 644.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
273
2.3.5.2 Die Konzeption der libertas Christi im ‚Frankfurter‘ Wie andere Predigten und Traktate aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ auch802 erkennt der ‚Frankfurter‘ – unter Bezugnahme auf Gal 5, 18 – eine Gesetzesfreiheit des von Gott erfüllten Menschen an. Die mit dieser Überzeugung verbundene Gefahr einer Fehlauslegung sucht er durch eine grundsätzliche Unterscheidung zu bannen, nämlich jene zwischen der Gesetzesfreiheit des Teufels und der Gesetzesfreiheit Christi: „Sich, Cristus was vbir Cristus leben vnde vber alle togende, wiße vnd ordenunge vnd was des ist. Vnd der tufel ist auch dar vber, aber mit vnderscheid.“803 Nur auf die Gesetzesfreiheit Christi lasse sich das paulinische Wort zu Recht anwenden: In dissem synne ist eß auch ware vnd yn dissem synne *seynt sant Pauls wort war vnd czu vorstehen, do er sprycht: ‚Die von gotis geiste geweisset vnd gewircket vnd geleitet werden, die synt gotis kint vnd synt nicht vnder der ee‘. In eyme synne, das ist, man darff sie nicht leren, waz sie thun ader lassen sollen, wanne yr meister, der geist gotis, sal sie wol leren. Auch bedarff man yn nicht gebiten ader heissen wol thun ader vbel lassen vnd des glich. Wann der selbe, der sie leret, was gut ader vngut ist ader sey ader das beste ader nicht, der selbe gebutet yn auch vnde heisset sie bliben bey dem besten vnd das ander lassen, vnd dem synt sie gehorsam. Sich, yn dissem synne durffen sie keyner ee warten wider czu leren noch czu gebiten. Auch yn eyme andern synne durffen sie keyner ee, das sie yn selber do mit icht vbirkummen ader gewynnen ader yn selber *irgent czu nutze sey, wan was man mit disßen ader ioch mit aller creaturen hilff ader rede, wortten vnd wercken vbir kummen ader geschicken mag uff den ewigen wegk vnd czu ewigem leben, das han sie alles gereite. Sich, yn dissem synne ist eß war, das man vber alle ee vnd tugent kommen mag vnd joch vber allen creaturen werck vnd wissen vnnd vormugen.804
802 Vgl. Meister Eckhart: In Ioh., LW III, n. 379, S. 323, Z. 1–5: „Rursus: veri adoratores adorabunt patrem in spiritu et veritate. Nota quod intentio legis et legislatoris est inducere homines ad veritates et ut id quod agunt, agant ex veritate, veritatis amore, ut filii, non ut servi aut mercennarii, secundum illud Tim.: ‚finis praecepti est caritas‘. Et Augustinus: ›non sicut servi sub lege, sed sicut liberi sub gratia constituti‹. ‚Ubi autem spiritus domini, ibi libertas‘“; Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 11, Z. 23–28: „Und der arme menſche iſt vereinvaltiget in weſen und do von vermag er ſich nit mit manigvaltikeit, als ſanctus Paulus ſprichet: ‚dem gerehten ſint nit alle geſetʒde gebotten‘, wan die geſetʒde iſt, daʒ man ſúnde laſſe und die tugent gewinne; der gerehte arm menſche het alle ſúnde gelan und alle tugent gewunnen“; Tauler: Pr. V 55, S. 258, Z. 16–18: „Mer die die disen weg [der Christusnachfolge] gont, úber die lúte enhat der babest enkeinen gewalt, wan Got hat si selber gefriget. S. Paulus spricht: ‚die von dem geiste Gotz getriben oder gefrt werdent, die ensint under enkeinem gesetzde‘.“ 803 Kap. 30, S. 113, Z. 4–6. 804 Kap. 30, S. 113, Z. 13–S. 114, Z. 29.
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Die wahrhafte, biblisch legitimierte Gesetzesfreiheit wird in dieser Passage in zweifacher Hinsicht ausgelegt: Zum einen ist unter ihr die Freiheit von jeglicher äußeren Anweisung zu verstehen. Die vom Geist Gottes erfüllten Menschen bedürfen ihrer nicht, da sie innerlich auf das Tun des Guten und das Unterlassen des Bösen ausgerichtet werden. Der augustinische Transformationsgedanke – die Ersetzung der lex operum durch die lex fidei – findet sich hier im mystischen Kontext wieder. Zum anderen bedeutet die Freiheit vom Gesetz die Freiheit von jeglichem meritorischen Denken, insofern den vom Geist Gottes Ergriffenen die Heilsgegenwart bereits zuteil geworden ist: „das han sie alles gereite.“ Die augustinische Ablehnung einer auf die natürliche Sittlichkeit des Menschen vertrauenden Verdienstgerechtigkeit steht hier ebenso im Hintergrund wie Meister Eckharts Lehre des Handelns ‚ohne Warum‘.805 Anders als Augustinus konzipiert der ‚Frankfurter‘ das göttliche Wirken im homo divinus jedoch nicht als Heilungsprozess, der die durch die Erbsünde verursachte Fehlausrichtung des menschlichen Willens korrigiert und dadurch die der Natur eingepflanzte, jedoch schwer beschädigte imago Dei wiederherstellt.806 Vielmehr versteht der Traktat unter der Geisterfülltheit des vergotteten Menschen eine Geistbesessenheit: Der nu besessen vnd begriffen were mit dem geist gotis, das er nicht wessete, was er thete ader lisse, vnd seyn selbs vngewaldig were vnd der wille vnd der geist gotis were seyn gewaldig vnd wirckte vnd thete vnd lisse mit ym vnd auß ym, was vnd wie er wolde. *Das were der menschen eyner, da von sant Paul spricht: ‚Die von gotis geiste gerichtet vnd gefuret werden, die synt gotis kint vnnd synt nicht vnder der ee‘. Vnnd czu den Cristus sprach: ‚Ir seyt nicht, die do reden, sunder der geist euwers vaters redet yn euch‘.807
Die Tendenz des ‚Frankfurter‘, den Menschen als selbstbestimmt Wollenden und Handelnden aus seinem ethischen Entwurf zu eliminieren und ihm nur als Wohnstätte des alleinwirksamen Gottes ein Daseinsrecht zuzugestehen,808 tritt hier einmal mehr deutlich zutage. Während der Traktat meistens von der Erleuchtung durch das ‚göttliche Licht‘ oder der Durchflutung von der wahren Liebe spricht, um den übernatürlichen Status des homo divinus zum Ausdruck zu bringen, sind die oben zitierten Passagen durch eine ‚pneumatologische Zuspitzung‘809 gekennzeichnet. Diese ist zweifellos durch die zugrunde liegende Paulusstelle Gal 5, 18 inspiriert und verlässt so
805 806 807 808 809
Siehe dazu auch die Darlegungen in Kap. 2.3.2.2, S. 213. Vgl. dazu auch Kap. 2.2.3.6. Kap. 22, S. 99, Z. 7–14. Siehe dazu ausführlich Kap. 2.3.3, bes. S. 252. Ausdruck nach Drecoll: ‚De spiritu et littera‘, S. 333.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
275
keineswegs den Rahmen christlicher ‚Normaltheologie‘. Im Vergleich mit den augustinisch-antipelagianischen Werken – insbesondere der pneumatologisch akzentuierten Schrift De spiritu et littera – sowie mit den mystischen Prosatexten des vierzehnten Jahrhunderts fällt jedoch auf, dass der ‚Frankfurter‘ in seiner Auslegung des Schriftwortes auf eine eindeutige Bezeichnung des göttlichen Geistes als ‚Heiliger Geist‘ und damit als dritte göttliche Person verzichtet.810 Dies entspricht der Ausklammerung der trinitarischen Dynamik – und damit der Selbstentfaltung des absolut einfachen göttlichen Wesens in die drei göttlichen Personen – aus seinem Metaphysikentwurf.811 So bleibt in den zitierten Textstellen offen, ob der ‚Frankfurter‘ unter dem ‚Geist Gottes‘ eine eigenständige – wenn auch mit Vater und Sohn wesensidentische – göttliche Person versteht oder ob er hier die Besitzergreifung des Menschen durch die Gottheit meint.812 In
810 Die biblisch legitimierte Bezeichnung ‚Heiliger Geist‘ (spiritus sanctus; vgl. etwa die Taufformel Mt 28, 19 oder die paulinische Segensformel 2 Kor 13, 13) tritt bereits in den frühesten Glaubensbekenntnissen des lateinischen Christentums als feststehender Begriff auf (vgl. die im Enchiridion [hg. Denzinger] aufgeführten westlichen Formeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses; ebd., nn. 10–36, S. 24–34). Das gilt auch für das Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis (ebd., n. 150, S. 83–85), welches gegen die Macedonianer (Pneumatomachen) die Göttlichkeit des ‚Heiligen Geistes‘ feststellt, und für jene antimodalistischen Lehrentscheidungen (vgl. beispielsweise ebd., n. 284, S. 133), die das Personsein des ‚Heiligen Geistes‘ bestätigen. Die Bezeichnung ‚Heiliger Geist‘ für die dritte göttliche Person ist für Augustinus ebenso selbstverständlich (vgl. die Zitate oben, Kap. 2.3.5.1, Anm. 791) wie für die mystische Predigt- und Traktatliteratur. Als ein besonders bemerkenswertes aus einer Fülle von Beispielen sei hier der Anfang von Pfeiffer-Spruch 6 (Pfeiffer II, S. 599, Z. 2–3) zitiert: „Meister Eckehart sprach: gnâde enkumet niht wan mit dem heiligen geiste. Si treit den heiligen geist ûf irem rügge.“ Fast scheint es, als sei hier Augustinus’ Rede vom spiritus gratiae in De spiritu et littera (siehe dazu auch Drecoll: Gnadenlehre, S. 494–495) in eine extravagante Metaphorik aufgelöst worden, um zugleich an der eindeutigen Personenbezeichnung ‚Heiliger Geist‘ festhalten zu können. Über die Angemessenheit dieses Namens reflektiert ausdrücklich Thomas von Aquin in S. th. I, q. 36, a. 1. Außer spiritus sanctus lässt er für die dritte göttliche Person auch noch die Namen amor (vgl. q. 37) und donum Dei (vgl. q. 38) zu. 811 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.2, S. 124–125 und S. 131–132 sowie Kap. 3.2.2. 812 In seiner unspezifischen Rede vom ‚Geist Gottes‘, der von einem Menschen Besitz ergreift, erinnert der ‚Frankfurter‘ durchaus an frühchristliche Texte wie den ‚Hirt‘ des römischen Hermas, die den ‚Heiligen Geist‘ noch nicht als eigenständige göttliche Person verstehen. Vgl. Hübner: Die eine Person, S. 154–155. Außer in den oben zitierten Passagen spricht der ‚Frankfurter‘ auch in Kap. 11 unter Bezugnahme auf Ioh 3, 8 nur sehr allgemein von einer Geistergriffenheit des Menschen (S. 86, Z. 45–48): „Vnnd der mensche kann ym selber disser keynes gegeben oder genemen, gemachen ader entmachen, sundern als geschriben ist: ‚Der geist geistet, wo er wil, vnd du horest seyne stymme‘ […].“ Allerdings kennt der Traktat auch den Personennamen ‚Heiliger Geist‘, der jedoch nur zweimal auftaucht, und dies an Stellen, die vermutlich nicht zum ursprünglichen Textbestand gehören (vgl. dazu Kap. 1.2.1, S. 15 und Kap. 1.2.3, S. 51). Es handelt sich einmal um den Registereintrag zum 24. Kapitel „Vier dingk gehorn dar czu, das der mensch entpfenglich werde
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letzterem Fall würde es sich um eine alternative Darstellung seines Konzeptes der ‚Vermenschung Gottes‘ handeln.813 Dieses zielt auf eine vollkommene Übereignung des Menschen an Gott, die das eigenständige Denken, Wollen, Empfinden und Handeln des Ersteren gänzlich ausschaltet. Das für den ‚Frankfurter‘ typische Lavieren zwischen Anerkennung der christlichen Dogmen und ihrer tendenziellen Überschreitung durchdringt also auch seine pneumatologischen Aussagen. Die in der Auslegung der Paulusstelle Gal 5, 18 formulierte Überzeugung einer inneren Freiheit des geisterfüllten Menschen findet sich im ‚Frankfurter‘ in unterschiedlicher Akzentuierung an verschiedenen Stellen wieder. Dabei geht es stets um die Entbundenheit des homo divinus von allen selbstsüchtigen ‚Ich‘-Repräsentationen, durch die sich der ‚natürliche‘ Mensch vergeblich Gott anzunähern sucht. Hinter den variierenden Aussagen verbirgt sich dabei immer die Grundprämisse einer Gesetzesfreiheit des vergotteten Menschen.814 Dies gilt auch für andere Predigten und Traktate der ‚deutschen Mystik‘.815
gotlicher warheit vnd besesßen werde mit dem heiligen geiste“ (hg. von Hinten, S. 102), der jedoch viel eher zum zweiten Teil des 22. Kapitels passen würde und vielleicht im Zuge der Textrezeption ‚verrutscht‘ ist (vgl. Kap. 1.2.3, Anm. 236). Zum anderen endet das 53. Kapitel mit einer trinitarischen Formel (zitiert in Kap. 2.2.2.2, Anm. 243), die auch den ‚Heiligen Geist‘ einschließt. So dienen die beiden Stellen zwar einer terminologischen Präzisierung des ‚Frankfurter‘ im Sinne der christlichen Orthodoxie; es ist jedoch nicht zu entscheiden, ob diese bewusst vorgenommen wurde. 813 Siehe dazu Kap. 3.2.3, 3.3.1 und 3.3.2. 814 So sind die mit dem ‚wahren Licht‘ Erleuchteten sowohl von der Furcht vor der höllischen Pein als auch von der Hoffnung auf das Himmelreich befreit. Dies bedeutet, dass sie weder aus Angst vor Strafe noch aus Hoffnung auf Lohn auf die Befolgung des Gesetzes (der lex operum in augustinischer Diktion) angewiesen sind. Vgl. Frankfurter, Kap. 10, S. 83, Z. 16–19: „Auch stehen disse menschen yn eyner freiheit, also das sie vorlorn haben forchte der peyne ader helle vnde auch hoffenunge lones ader hymmelrichs, sundern sie leben yn luter vnderthenikeit vnd gehorsam der ewigen gute auß eyner freyen libe.“ Auch die Freiheit des vergotteten Menschen von allem Eigenwillen und aller ‚Eigenschaft‘ (siehe zu diesem Negativterminus die Darlegungen in Kap. 2.3.1, S. 195–196) bedeutet die Freiheit von allen äußeren Geboten, durch deren Befolgung der Mensch sich selbst dazu zu ermächtigen glaubt, ein Gott wohlgefälliges Dasein zu führen. Vgl. Frankfurter, Kap. 51, S. 147, Z. 123–128: „Vnde mochte der mensche yn der czeite lutterlichen an eygen willen vnd an alle eygenschafft geseyn vnd ledigk vnd frey auß eyme waren, gotlichen lichte vnd blibe wesenlich also, der were des hymelrichs sicher. Wer etwas eygens hat ader haben wil ader gerne hette, der ist selber eygen. Vnnd wer nicht eygens hat ader haben wil ader nichts begert czu haben, der ist ledigk vnd frey vnnd nymandes eygen.“ 815 Die Aussagen der mystischen Prosatexte des vierzehnten Jahrhunderts zur inneren Freiheit des vergotteten Menschen sind Legion, so dass hier nur einige repräsentative Beispiele wiedergegeben werden können. Meister Eckhart: DW I, Pr. Q 15, S. 246, Z. 1–8: „Der alsus usgegangen wre sin selbes, der slti im selber aigenlicher wider geben werden. vnd llú ding, als er sú gar gelassen hát in der manigualtikait, das wirt im alzemal wider in der ainualtikait, wán er sich selber vnd llú
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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2.3.5.3 Gesetzesfreiheit versus Gesetzlosigkeit: die Abwehr häretischer Irrlehren Die Gefahr einer antinomistischen Fehlauslegung der libertas spiritus, welche die Geltung des göttlichen Gesetzes außer Kraft zu setzen droht, bleibt im ‚Frankfurter‘ ebenso wie in weiteren Texten des paradigmatischen Korpus durchgängig präsent. Sie unterscheiden daher zwischen ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Freiheit und binden diese Opposition in den zeitgenössischen Häresiediskurs ein, der sich innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ vor allem auf die freigeistige Ketzerei fokussiert. Dem Konstrukt einer ‚falschen‘ Freiheit haftet vor allem der Vorwurf einer Separation von ,äußerem‘ und ‚innerem‘ Menschen an, insofern die sich als rechtgläubig gerierenden Predigten und Traktate den Anhängern der freigeistigen Häresie stereotyp den Vorwurf machen, aufgrund der verfehlten Überzeugung von ihrer inneren Vollkommenheit die Freiheit von allen äußeren Zwängen – auch vom göttlichen Gesetz – für sich in Anspruch zu nehmen. Deshalb drohe das Agieren ihres homo exterior jegliche kirchliche und weltliche Ordnung zu zersetzen. In den Worten des ‚Frankfurter‘: Aber das ander, das man spricht: Man solle beide, Cristus leben vnd alle gebote vnd gesetze, wiße vnd ordenung vnd der glich hin legen vnnd uff schiben vnd man solle seyn vnachtsam sein vnd vorsmehen vnd haben eß czu *eynem spotte, das ist falsch vnd gelogen. Sich, nu mochte man sprechen: Seint dem mal beide, Cristus vnd auch ander menschen, mit Cristus leben ader mit allen wißen, ordenung vnd des glich nicht vberkommen ader *nutz geschicken mugen, wan das do mit czu vberkummen ist, das haben sie gereite. Was sal eß yn dan
ding in dem gegenwúrtigen nu der ainikait vindet. vnd der alsus usgegangen wre, der km vil adelicher hain, denn er us gegangen was. Dirre mentsch lebt nu in ainer ledigen frihait vnd in ainer lutern bloshait, wan er enhát sich enkainer ding ze vnderwinden noch an ze nemende lútzel noch vil; wán alles das gottes aigen ist, das ist sin aigen“ [Hervorhebung L. W.]; Johannes Tauler: Pr. V 52, S. 239, Z. 18–21: „[…] do wirt dem menschen gegeben friheit des geistes und úberweseliche gnade in einem erhebende des gemtes úber alle die bilde und formen in einem erswingende úber alle geschaffene ding“ [Hervorhebung L. W.]; Pfeiffer II, Traktat I, S. 379, Z. 1–6: „Got der machet ze dem andern mâle die sêle vrî von aller eigenschaft mit der êwigen vrîheit, diu got selber ist. Diu sêle enruowet niht, si breche sich ûz allem deme, daz got niht enist, unde kome in eine götlîche vrîheit, dâ si der götlîcher vrîheit gebrûche âne hindernisse. Daz mac sîn alsô verre als si êwic ist in der unbewegelîcher êwikeit, diu got selber ist“; Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 8, Z. 16–30: „Nu mhte man fragen: ‚waʒ iſt friheit?‘ Friheit iſt gewar luterkeit und abgeſcheidenheit, die da ſachet ewikeit. Friheit iſt ein abgeſcheiden weſen, daʒ da got iſt oder ʒ male got anhangende iſt. Armt iſt ein abgeſcheiden weſen von allen creaturen, und da von iſt armt fri. Ein frie ſele git urlop allen gebreſten, allen geſchaffenen dingen, und tringet in daʒ ungeſchaffen gt, daʒ got iſt, und gewinnet daʒ mit gewalt, als unſer herre ſprichet: ‚daʒ himelrich lidet gewalt, und die gewaltigen ʒuckent es‘ […]. Einer frien ſelen ſint alle ding glich: lieb alſo leid, ſchelten als loben, armt als richtm, we als wol, frúnt als vient.“
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vorbas, das sie eß nicht vnderwegenn laßen sollenn? Sollen sie danne noch do mit vmmb gehen vnd sollen eß handeln vnd an treiben?816
Nachdem der ‚Frankfurter‘ die – an anderer Stelle eindeutig als ‚freigeistig‘ diskreditierte – Anschauung, dass der von Gottes Geist erfüllte Mensch weder an die Christusnachfolge noch an äußere Gesetze gebunden sei,817 zunächst harsch zurückgewiesen hat („das ist falsch vnd gelogen“), formuliert er selbst einen möglichen Gegeneinwand. Dieser bezieht sich auf die zweite Auslegung der Paulusstelle Gal 5, 18 im vorhergehenden 30. Kapitel, d. h. auf die Freiheit des homo divinus von der Verdienstgerechtigkeit.818 Weshalb nämlich sollten Christus selbst, aber auch andere – in der göttlichen Freiheit stehende – Menschen an diesen Geboten festhalten, wenn sie dafür keinen Lohn zu erwarten haben, weil dieser ihnen bereits gegenwärtig ist? Eine Antwort auf diese Frage bleibt der ‚Frankfurter‘ hier schuldig. In anderen Passagen verweist er jedoch ausdrücklich auf die Notwendigkeit regulierender Normen, da diese zum einen die Harmonie des Göttlichen innerhalb des weltlichen Bereichs zur Geltung bringen819 und zum anderen für die nicht vom ‚gött-
816 Kap. 31, S. 114, Z. 1–9. 817 Zur Opposition von freigeistiger Häresie und Christusnachfolge vgl. Kap. 2.2.2.3, S. 141–142 sowie Kap. 2.3.2.4, S. 242–243. Zur Gesetzlosigkeit der ‚freien Geister‘ siehe außer den Ausführungen in diesem Kapitel auch unten, Kap. 2.3.5.4. Dass die Verweigerung gegenüber der Christusnachfolge mit einer Ablehnung des Gesetzes einhergeht, macht der ‚Frankfurter‘ auch an anderer Stelle geltend. Siehe Kap. 40, S. 127, Z. 48–50: „Dar vmmb spricht eß [das falsche Licht] vnde wenet, eß sey vbir alle werck, wort, wiße, ordenung vnd vber das lieplich leben Cristi, das er yn der menscheit hatte.“ Diese doppelte Abwehrhaltung ist kongruent mit dem ‚freigeistigen‘ Bestreben, nicht dem Leidenschristus in seiner Menschlichkeit, sondern dem Auferstehungschristus in seiner Göttlichkeit nachzufolgen. Siehe dazu Kap. 3.3.2.4. 818 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben, Kap. 2.3.5.2. 819 Vgl. Kap. 43, S. 136, Z. 45–48: „Syder nu yn dissem licht vnd yn disser liebe alle gut yn eyme vnd alles eyn vnd das eyn yn allem vnd yn allen als eyn vnd als alle gelibet wirt, ßo muß alles das da gelibet werden, das gutenn namen yn der warheit hat, als togent, ordenunge, redelikeit, gerechtikeit, warheit vnd des glich […].“ Die Bedeutung äußerer Ordnungsstrukturen für die Repräsentanz Gottes in der Welt wird besonders deutlich zu Beginn von Kap. 39 formuliert. Dort heißt es (S. 124, Z. 1–8): „Man spricht vnd ist war: Got ist vber vnd an alle wiße vnd maße vnd ordenung vnd gibt allen dingen wiße, ordenung, maß vnd redelikeit. Das sal man also vorsteen: Got wil das alles han vnd mag eß an ym selber an creatur nicht gehan, wan yn got an creatur ist wider ordenung ader vnordenung, wiße *vnd vnwiße vnd des glich. Dar vmmb wil er eß haben, das eß *gescheen vnd seyn sal vnd mag. Wan wo wort, werck vnd *handelunge ist, da muß es etweder seyn yn ordenung, wiße, masse vnd redelikeit ader yn vnredelichkeit ader yn vnordenung. Nu ist ordenlikeit vnd redelikeit besßer vnd edeler dan das ander.“ Die Passage ist allerdings nur im Rahmen der für den ‚Frankfurter‘ charakteristischen, den Horizont christlicher ‚Normaltheologie‘ jedoch überschreitenden Dependenzlehre angemessen zu verstehen (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.2.3, Kap. 3.3.1 und 3.3.2). Demzufolge ist ‚Gott‘ wie die ‚Gottheit‘
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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lichen Licht‘ erfüllten Menschen von pädagogischem Nutzen sind.820 Außerdem sei das göttliche Gesetz durch Christus in seiner Geltung bestätigt worden: Er [Christus] hat auch die ee vnd die gesetze nicht vorsumet noch vorsmehet noch die menschen yn der ee. Er spricht wol: Eß were dar an nicht genug. Man solle vorbas kommen, als eß yn der warheit ist. Eß ist auch geschriben von sant Paul: ‚Cristus nam die ee an sich, auff das das er die, dy vnder der ee waren, erloßet‘. Das meynet er, das er sie czu eynem nehern vnd bessern brengen mochte.821
Die in diesem Zitat bei aller Anerkennung seiner Relevanz mitschwingende Abwertung des Gesetzes als unzureichend verweist wiederum auf die Unterscheidung von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Freiheit. Denn im Unterschied zu den Anhängern der freigeistigen Häresie haben die wahrhaftig Freien das ,neher vnd besser‘ tatsächlich erreicht – nämlich jenen Status innerer Vollkommenheit, der auch den ,äußeren Menschen‘ in seinem innerweltlichen Handeln determiniert und so homo interior und homo exterior aneinanderbindet. Die in der unio stehenden Menschen halten sich nämlich an das göttliche Gesetz, weil sie es so verinnerlicht haben, dass sie keiner äußeren Anweisung mehr bedürfen. In augustinische Terminologie umgesetzt bedeutet dies, dass sie statt der lex operum der lex fidei folgen: Auch sal man mercken, das gotis gebote vnd seyne rede vnde alle seyne lere gehoret czu dem ynnern menschen, wie er mit gote voreynet werde; vnd wo das geschicht, da wirt der vßer mensch von dem ynnern wol *geordent vnd geleret, das man *da keyner vßer gebote ader lere darff.822
Demgegenüber wird die Gesetzlosigkeit der ‚falschen freien Geister‘, die sich aufgrund ihrer geistlichen Hoffart über jedes ethische Gebot erhaben wähnen,823
ebenso statisch wie wirkungslos und entbehrt daher auch einer innergöttlichen Ordnungsstruktur, die in anderen Predigten und Traktaten durch die Dynamik der trinitarischen Relationen (Vaterschaft, Sohnschaft, der Heilige Geist als gegenseitige Liebesbindung von Vater und Sohn) zum Ausdruck gebracht wird. Siehe dazu etwa Meister Eckhart: DW II, Pr. Q 31, S. 119, Z. 6–S. 120, Z. 1: „Waz ist götlich ordenunge? Von götlîcher mügentheit brichet ûz diu wîsheit, und ûz in beiden brichet diu minne, daz ist der brant; wan wîsheit und wârheit und mügentheit und diu minne, der brant, ist in dem umbekreize des wesens, daz ist ein überswebende wesen, lûter âne natûre.“ Vgl. auch Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Mone), Sp. 86, Z. 12–14 und Sp. 90, Z. 6–14. Aufgrund der aus seiner Statik resultierenden Inkompetenz Gottes, sich wirkend der Schöpfung mitzuteilen, bedarf er im Kontext des ‚Frankfurter‘ des Menschen zur Etablierung der göttlichen Ordnung in der Welt. 820 Siehe dazu weiter unten, Kap. 2.3.5.5. 821 Kap. 26, S. 107, Z. 50–S. 108, Z. 55. 822 Kap. 39, S. 125, Z. 36–39. 823 Kap. 25, S. 105, Z. 31–36: „Syder nu diße reiche, geistliche hoffart dunckt, sie bedorff nicht schrifft noch lere vnd des gleich, ßo werden do alle wiße, ordenunge vnd gesetze vnnd gebote der
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in grellen Farben ausgemalt. Nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ schrecken sie nicht einmal vor Mord zurück, weil ihr vermeintlicher Vollkommenheitsstatus jede moralische Reflexion über ihr Handeln unterbindet: Auch spricht diß falsch licht, eß sey vber gewissen vnd conscientz kommen, vnd was eß thut, das sey alles wol gethan. Ja, eß wart gesprochen von eyme falschen, freyen geiste, der yn disser irrunge was, ertotet er czehen menschen, eß were ym als klein gewissen, also ab er eynen hunt ertotet. Kurtzlich diß falsch, betrogen licht fluget alles, das natur wider vnnd swer ist, vnnd das gehoret ym czu, wan eß natur ist. Vnd syder eß denn also gar betrogen ist, das eß wenet, eß sey got, dar vmmb swure eß vbir alle heiligen, eß bekennete das beste vnnd seyne meynunge vnd gesuche stehe uff dem aller beßten. Vnd dar vmmb mag eß nymmer bekeret ader gewißet werden recht als der tufel.824
Der ‚freigeistige‘ Anspruch, über alle christlichen Normen zur Regulierung des Gott-Mensch-Verhältnisses und des sozialen Miteinanders hinausgelangt zu sein,
heiligen kirchen vnd die sacrament czu nichte geachtet vnd joch czu eynem spot vnnd auch alle menschen, die mit disser ordenunge vmmb gehen vnd do von halden. Hie bey merckt man wol, das disße czwo swestern [geistliche Hoffart und falsche Freiheit] bey eynnander wonen.“ Vgl. auch die Ausführungen zum geistlich Hoffärtigen in Kap. 2.3.2.3, S. 226–228. 824 Kap. 40, S. 128, Z. 73–82. Haas (Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 420–421, Anm. 16) weist darauf hin, dass ähnliche Aussagen in Inquisitionsprotokollen des späten vierzehnten Jahrhunderts stehen. In dem von ihm als Beispiel herangezogenen Verhör des Begarden Johannes Hartmann – das wie auch andere Dokumente dieser Art die 1312 auf dem Konzil von Vienne verurteilten Artikel der Konstitution Ad nostrum qui als interrogatorium nutzt – wird die (falsche) Gesetzesfreiheit des sich vollkommen dünkenden ‚Freigeistes‘ explizit formuliert: „[…] et subjunxit quod perfectus liber a se licentiat virtutes sub tali distinctione, quod homo liber non est sub lege quacunque, nec tenetur ad statuta ecclesiae nec praecepta qualiacunque, quod talis est liber spiritu id est ein fry Geist, quod idem est quam homo liber, et statuta et praecepta ecclesiae debent saltem tenere grossi homines, id est homines sub lege existentes quos ipse grossos homines appellat“ [Hervorhebung in der Edition in Sperrschrift]. Vgl. Döllinger: Beiträge, S. 386, Z. 25–32 [eigene Zeilenzählung]. Dieser Auszug aus dem (angeblichen) Geständnis des Johannes Hartmann bezieht sich auf den sechsten Artikel der Konstitution Ad nostrum qui. Dieser lautet in der Vorlage: „Quod se in actibus exercere virtutum est hominis imperfecti, et perfecta anima licentiat a se virtutes.“ Siehe Enchiridion (hg. Denzinger), n. 896, S. 389. Die Gesetzesfreiheit des perfectus ist hier also nur implizit präsent. Ausdrücklich benannt wird sie jedoch im dritten verurteilten Artikel der Konstitution, und zwar mit Bezug auf die einschlägige Bibelstelle 2 Kor 3, 17 (siehe dazu auch oben, Kap. 2.3.5.1, Anm. 793): „Quod illi, qui sunt in praedicto gradu perfectionis et spiritu libertatis, non sunt humanae subiecti oboedientiae, nec ad aliqua praecepta Ecclesiae obligantur; quia, ut asserunt, ‚ubi spiritus Domini, ibi libertas‘.“ Vgl. ebd., n. 893, S. 388. Die Aufnahme der augustinisch-antipelagianischen Freiheitslehre in den Häresiediskurs des vierzehnten Jahrhunderts, welche die mystischen Texte vornehmen, ist also im größeren Kontext des Kampfes der Amtskirche gegen ketzerische Auslegungen des Freiheitsbegriffs zu sehen. Zu den Parallelen zwischen der antifreigeistigen Polemik des ‚Frankfurter‘ und dem Bild, das spätmittelalterliche Verhörprotokolle von dieser Häresie entwerfen, siehe auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 72–73.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
281
ist auch in anderen Predigten und Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ präsent. So erhebt das – wie der ‚Frankfurter‘ programmatisch gegen die freigeistige Häresie ausgerichtete –‚Bannerbüchlein‘ ebenfalls den Vorwurf, dass die Anhänger dieser Irrlehre sowohl die imitatio Christi als auch die Heilige Schrift verschmähen: Die frigen valschen menschen sprechent abe das liden unsers lieben herren, und sprechent also zuo andern moenschen: Ach gost du noch mit dem lidende umbe! […] Dise valschen menschen sprechent ouch abe die heilige geschrift und sprechent also: Ach kerest du dich noch an tinte und an birmente!825
Auch das ‚Buch geistlicher Armut‘, welches hinsichtlich der Freiheitsproblematik zwischen ‚göttlicher‘ und ‚ungeordneter‘ Freiheit unterscheidet,826 warnt davor, dass die Selbstüberschätzung der natürlichen Vernunft dem ‚verinnerlichten‘ Menschen das Erreichen einer Stufe der Wahrheitserkenntnis suggeriere, welche ihn vermeintlich über alle christlichen Gebote erhebe:827 […] und alſo vellet ein hochfart in in, und er het ein begngen uf dem underſcheide, daʒ ime alſo wol iſt mit dem underſcheide, daʒ er aller tugent und gter wercke nit enahtet. Und dar uʒ entſpringet ein ungeordente friheit, daʒ er verſmahet die geſetʒde der heilgen criſtenheit.828
825 Rulman Merswin: Bannerbüchlein (hg. Jundt), S. 394, Z. 16–22 [eigene Zeilenzählung]. 826 Siehe das Kapitel Underſcheit under gtlicher friheit und ungeordenter friheit (hg. Denifle, S. 16–20). 827 Das ‚Buch geistlicher Armut‘ beschreibt einen Menschen, der sich zunächst in äußerlichen Werken geübt hat, um anschließend die uſſerliche manigvaltikeit (S. 19, Z. 3) hinter sich zu lassen und in seine Innerlichkeit einzutreten. Dieser Rückzug in das eigene ‚Selbst‘ führt in diesem Fall jedoch nicht zum der Seele innewohnenden Gott (in der Tradition christlicher Metaphysik), sondern zur Entfaltung der Leistungskraft des ‚natürlichen Lichts‘, welches den Menschen in die Irre führt: „[…] und in dem innebliben ſo entſpringet ein natúrlich lieht in ime, und daʒ ʒuget ime underſcheit natúrlicher warheit, und der underſcheit gebirt ime groſſen luſt, und der luſt iaget in in me warheit z bekennende, daʒ er danne gar vernúnftig wurt. Aber die vernúnftekeit iſt von naturen, und ſo er alſo ſtat in ſinem natúrlichen liehte, und er mit underſcheit begriffet waʒ er wil, und in duncket, er habe allen underſcheit und alle warheit in ime, ſo vellet er mit einem wolgevallen uf ſich ſelber, und in duncket, daʒ nieman ime gelich enſy, und iſt alſo fri, daʒ er ſich nieman mag gelaſſen, und in duncket, wie nieman der warheit lebe, die er verſtat (und alſo vellet er mit urteile uf die lúte), und wie nieman die warheit alſo vollekomenliche verſtande als er ſie verſtat […].“ Vgl. Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 19, Z. 4–16. Die gesamte Passage (S. 19, Z. 1–38) findet sich übersetzt bei Abramowski: Bemerkungen, S. 102–103. Beide Aspekte – das Abirren von Gott auf dem geistlichen Aufstiegsweg (der zugleich ein Weg in die Innerlichkeit ist) und die Selbstüberschätzung der natürlichen Vernunft – sind auch im ‚Frankfurter‘ von zentraler Bedeutung. 828 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 19, Z. 16–20.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Bei Meister Eckhart ist die antifreigeistige Terminologie der nacheckhartischen Mystik noch nicht vorhanden.829 Invektiven gegen die ‚falschen freien Menschen‘, wie sie sich im ‚Frankfurter‘ und anderen Predigten und Traktaten des vierzehnten Jahrhunderts in unterschiedlicher Intensität finden, sucht man in seinen deutschen Werken daher vergeblich. Der Problemhorizont – nämlich die aus seiner rigorosen Verinnerlichung des Göttlichen erwachsende Gefahr eines antinomistischen Missverständnisses – ist dem thüringischen Dominikaner allerdings sehr bewusst. So warnt er in Predigt Q 29 eindringlich vor der Separation von ‚innerem‘ und ,äußerem‘ Menschen: Nû sprechent etlîche menschen: ‚hân ich got und gotes minne, sô mac ich wol tuon allez, daz ich wil‘. Diz wort verstânt sie unrehte. Die wîle dû dehein dinc vermaht, daz wider got ist und wider sîniu gebot, sô enhâst dû gotes minne niht; dû maht die werlt wol betriegen, als habest dû sie. Der mensche, der dâ stât in gotes willen und in gotes minne, dem ist lustlich alliu dinc ze tuonne, diu gote liep sint, und alliu dinc ze lâzenne, diu wider got sint; und im ist als unmügelich dehein dinc zu lâzenne, daz got geworht wil haben, als dehein dinc zu tuonne, daz wider got ist […].830
Auch in den Predigten seines Gottesgeburtzyklus insistiert Eckhart darauf, dass sich die Gottespräsenz im Innersten der Seele im äußeren Wirken widerspiegeln müsse.831 Keinesfalls sei die Ansicht jener Menschen zu tolerieren, die glauben, aufgrund ihres schouwenden lebens über alle Tugendwerke erhaben zu sein:
829 Zur Etablierung dieser Terminologie vgl. Wegener: Freiheitsdiskurs, S. 231–236. 830 DW II, Pr. Q 29, S. 79, Z. 1–7. 831 So etwa in der zweiten Frage der Quästionenpredigt S 102 (DW IV/1, S. 412, Z. 28–S. 415, Z. 68). Hier diskutiert Eckhart das Problem, ob die Gottesgeburt im Seelengrund ebenso im Sünder wie im guten Menschen stattfinde und inwiefern sich Letzterer dann von Ersterem unterscheide. In seiner Antwort erläutert der Meister, dass der Sünder das ‚göttliche Licht‘ überhaupt nicht empfangen könne, da in ihm der Zugang zum ‚Grund‘ durch die Sünde versperrt sei (vgl. S. 413, Z. 40–45). Deshalb sei der Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund im sündigen Menschen völlig ausgeschlossen (vgl. S. 415, Z. 65–66). Der gute Mensch aber werde durch das göttliche Wirken im Innersten seiner Seele auch in seinem äußeren Handeln unterrichtet (vgl. dazu auch Kap. 2.3.2.2, S. 219): „Swenne er [der mensche] sich ze gote kêret, alzehant glestet und glenzet in im ein lieht und gibet im ze erkennenne, waz er tuon und lâzen sol und vil guoter anewîsunge, dâ er vor niht abe enweste noch enverstuont“ (S. 413, Z. 46–48). So ist gewährleistet, dass der Mensch sich an das göttliche Gesetz hält, ohne dass ihm dieses von außen aufgedrängt werden muss: „Ez [das göttliche Licht] reizet dich ze gote und wirst vil guoter vermânunge gewar und dû enweist niht, wannen sie dir koment. Daz inwendic neigen enkumet enkeine wîs niht von keiner crêatûre noch von keiner ir anwîsungen, wan waz crêatûre wîset oder würket, daz kumet allez von ûzen zuo“ (S. 413, Z. 50–S. 414, Z. 53). Eckharts erleuchteter Mensch stellt somit das positive Gegenmodell zu jenem Irregeleiteten im ‚Buch geistlicher Armut‘ dar, der sich aufgrund einer nur vermeintlichen inneren Wahrheitserkenntnis von allen äußeren Geboten entbunden wähnt (siehe dazu oben, Anm. 827).
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Alsô sprach Kristus: ‚iuwer lieht sol liuhten vor den liuten‘. Er meinte die liute, die aleine ahtent der schouwelicheit und niht enahtent tugentlîcher würkunge und sprechent, sie enbedürfen sîn niht, sie sîn dar über komen. Die enmeinte Kristus niht, dô er sprach: ‚der sâme viel in ein guot ertrîche und brâhte hundertveltige vruht‘. Mêr: ez sint die, die er meinte, dô er sprach: ‚der boum, der niht vruht enbringet, den sol man abehouwen‘.832
Der eckhartischen Frontstellung gegen eine alleinige Geltung der vita contemplativa, welche die kirchliche Verwerfung des Quietismus im späten siebzehnten Jahrhundert vorwegzunehmen scheint,833 schließt sich Johannes Tauler an, der in diesem Zusammenhang wie der ‚Frankfurter‘, das ‚Bannerbüchlein‘ und das ‚Buch geistlicher Armut‘ den antifreigeistigen Diskurs aktiviert: In etlichen landen vint man lúte die einer valscher lidikeit phlegent und tnt sich aller wúrklicheit ab, und inwendig htent si sich vor gten gedenken, und sprechent si sin ze friden komen, und enwellent sich och nút ben an den werken der tugende und si sin dar úber komen. Si hant ein túfellin bi in sitzent, das verbút allem dem das si von innan und von ussen entfriden mag in gedenken und in allen wisen, umbe das si in dem friden bliben, umbe das er si denne her nach mit ime fre in einen ewigen unfriden, in sin helle; dar umbe beht er in iren valschen friden.834
Gegenüber der ‚falschen‘ Freiheit der freigeistigen Häresie positionieren sich die mystischen Prosatexte – wie der ‚Frankfurter‘ auch – also als Verfechter der ‚wahren‘ Freiheit, deren innerer Gottesbezug sich unmittelbar in ihrem äußeren Handeln niederschlägt. Die paulinische Gesetzesfreiheit bedeutet hier demnach keine Entbindung von den Verpflichtungen des göttlichen Gesetzes, sondern deren Befolgung aus dem Vollkommenheitszustand der ‚Gelassenheit‘ heraus.
Denn die von Gott inspirierte Wahrheitserkenntnis strahlt unweigerlich auf den ,äußeren‘ Menschen aus: „Wer nû wil vinden lieht und underscheit aller wârheit, der warte und neme war dirre geburt in im und in dem grunde, sô werdent alle krefte erliuhtet und der ûzer mensche. Wan alzehant sô got den grunt gerüeret inwendic, mit der vart sô wirfet sich daz lieht in die krefte und kan der mensche mê underwîlen, dan in ieman gelêren mac“ (S. 414, Z. 60–S. 415, Z. 64). 832 Meister Eckhart: Pr. S 104, DW IV/1, S. 583, Z. 198, Sp. A–S. 584, Z. 209, Sp. A. 833 Vgl. Meredith: Art. ‚Quietismus‘. Die verworfenen Artikel zielen – besonders in der 1687 erfolgten Verurteilung des Miguel de Molinos durch Papst Innozenz XI. – auf die via interna, welche Sittenlosigkeit als irrelevant für die innere Vollkommenheit zu gestatten scheint (vgl. ebd., S. 43–44). Die als häretisch, häresieverdächtig oder zumindest anstößig eingestuften Sätze der Konstitution Caelestis Pastor sind ediert in Enchiridion (hg. Denzinger), nn. 2201–2269, S. 646–656. 834 Pr. V 48, S. 218, Z. 11–18 [Hervorhebung L. W.]. Siehe zu Taulers Konzeption der ‚freien Geister‘ auch Gabriel: Rückkehr, S. 83–97 (zu ihrem Antinomismus bes. S. 86).
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Ganz in diesem Sinne reagiert das ‚Buch der Wahrheit‘ auf die Frage nach der Bedeutung von 1 Tim 1, 9:835 Entwúrt: Ein gerehter mensche haltet sich nach siner gewordenheit underwúrflicher denne andrú menschen, wan er verstat in dem grunde von innen, waz von ussen eime ieklichen gezem ist, und nimet ellú ding uf also. Aber daz er nit bandes enhat, daz ist da von, wan er daz selb wúrket usser gelazsenheit, daz dú gemeinde wúrket usser bezwungenheit.836
Eine äquivalente Aussage, jedoch mit pneumatologischer Akzentuierung, findet sich in Rulman Merswins ‚Buch von den drei Durchbrüchen‘. Anders als im ‚Frankfurter‘ wird die Geisterfülltheit des vergotteten Menschen hier explizit als Wirken des ‚Heiligen Geistes‘ – und damit der dritten göttlichen Person ‒ beschrieben: Harumb so ist gar nutze das men anevohenden menschen und zuonemenden menschen lere und bewise wie das sú ane sollent vohen die untugende zuo lossende und die tugende lerent begriffen. Wanne danne der mensche die tugende mit der helfe gottes alle lerete begriffen, so wurde er dann ouch wol meister úber alle untugende, und wurde ouch danne von dem heiligen geiste von innan geleret das er uf die ussewendige lere nút gar vil me gebe: doch so haltet er sich noch ordenunge der heiligen kyrchen.837
Das Bestreben der mystischen Predigten und Traktate des vierzehnten Jahrhunderts, sich durch die Aneinanderbindung von ‚innerem‘ und ,äußerem‘ Menschen von häretischen Interpretationen des paulinisch-augustinischen Freiheitsbegriffs abzugrenzen, dürfte vor allem von der – auch in den Texten selbst reflektierten – Einsicht motiviert sein, dass die Trennlinie zwischen ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Freiheit keineswegs so einfach zu ziehen ist, wie die antifreigeistige Programmatik zunächst suggeriert.838 Denn das Insistieren auf der Erfüllung des göttlichen
835 Heinrich Seuse: BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 8, S. 66, Z. 14–15: „Ein frage: Paulus sprichet, daz ‚dem gerehten enkein gesetzde gegeben ist‘.“ 836 Ebd., Z. 16–S. 68, Z. 22. 837 Rulman Merswin: Buch von den drei Durchbrüchen (hg. Jundt), S. 222, Z. 1–8 [eigene Zeilenzählung]. 838 Hier greift die Lehre von der ‚Unterscheidung der Geister‘, die vor allem erfahrenen ‚Gottesfreunden‘ zugestanden wird. Merswins ‚Bannerbüchlein‘ etwa macht die Unterwerfung des ‚anfangenden‘ Menschen unter einen solchen Erleuchteten zur Voraussetzung, um auf dem geistlichen Aufstiegsweg nicht den vielfältigen Verführungen der Natur und des Teufels zu erliegen. Vgl. ebd. (hg. Jundt), bes. S. 398–400. Siehe zur Annäherung von Natur und Teufel innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ auch die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 201–204. Johannes Tauler verweist ebenfalls auf die Gabe der Geisterunterscheidung, um wahre und trügerische Gottespräsenz in einem Menschen voneinander abgrenzen zu können. Vgl. Pr. V 42, S. 180, Z. 6–32. Das Gleiche gilt für das ‚Buch geistlicher Armut‘. Siehe ebd. (hg. Denifle), S. 73, Z. 25–36. Die Unterschei-
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Gesetzes durch entsprechendes Handeln wird fortwährend konterkariert durch die ausschließliche Wertschätzung des inneren Werkes.839 Dadurch aber droht die Separation von homo interior und homo exterior die Mystagogie der Texte unterschwellig doch wieder zu durchdringen.840 Deren literarischer Kampf gegen
dungsproblematik ist auch im Prolog des ‚Frankfurter‘ präsent, heißt es hier doch über das nachfolgende bchelein (S. 67, Z. 4–7): „[…] vnnd [es] leret manchen liplichen vnderscheit gotlicher warheit vnd besundern, *wie vnd wo methe man irkennen moge die warhafftigen, gerechten gotis frundt vnnd auch die vngerechten, falschen, freyen geiste, dy der heiligen kirchen gar schedelich synt.“ Vgl. aber auch Kap. 2.3.2.3, Anm. 641. Zu der sehr dünnen Linie, die ‚orthodoxe‘ und ‚häretische‘ Mystik im vierzehnten Jahrhundert voneinander trennt (so dass stets die Möglichkeit des ‚Kippens‘ in das jeweilige Gegenteil gegeben ist), siehe z. B. auch Anderson: The Discernment, S. 114, 123. 839 Zu Meister Eckhart vgl. Kap. 2.3.2.3, Anm. 633. Siehe auch Johannes Tauler: Pr. V 43, S. 189, Z. 20–30: „Und entete der mensche in einem ganzen jore niemer nút anders denne des werkes in im war nemen, so enwart nie enkein jor so wol von in angeleit, het er och nie enkein gt werk anders geton, si weren weler kúnne si weren, und wúrt im danne an dem ende des jars ein einig blik endecket des verborgenen werks das Got da wúrket in dem grunde, ja und enwurt im joch nút endecket, noch denne het der mensche das jor bas an geleit wan alle die die mit ir wúrklicheit die grosse werk geworcht hant. Wan mit Gotte enmag man nicht versumen, und dis werk ist Gotz werk und niht des menschen. Nu enist enkein zwivel, Got ensi verre edeler denne die creature. Als ist och sin werk úber alle creaturen. Und disem menschen enpfallet ab alle wúrklicheit uswendig, und er hat och iemer werkes geng inwendig ze tnde.“ Auch das ‚Buch geistlicher Armut‘ gesteht zumindest dem vollkommenen Menschen, der sich von allen zeitlichen Dingen gelöst hat, ein rein kontemplatives Leben zu. Siehe ebd. (hg. Denifle), S. 86, Z. 28–S. 87, Z. 3: „Und ob er ſie [die äußerlichen Tugenden] gerne tete mit den wercken, er enmag, wan er nihtes nit hat und arm iſt, und dar z als gar vol iſt gottes, daʒ er ſich mag kein ſtunde von ime keren, er mſſe ime alle ʒit ſtat geben. Und ouch daʒ er ſwach iſt an dem libe, daʒ er nit krefte hat die uſſerlich tugent z wúrckende. Und daʒ alles entſchuldiget in an der uſſerlichen tugent […]. Und daʒ er ſich nit dar in lat, daʒ hindert nit gelaſſenheit, mer: es iſt reht gelaſſenheit, daʒ er ſich het gelediget von allen uſſerlichen wercken, daʒ got ane alle hinderniſſe mag innerlichen in ime wúrcken ane allen uʒker. Und daʒ ſint die rehten anbetter, die do bettent in dem geiſte und in der warheit.“ 840 So sind nicht alle mystischen Texte durchgängig davon überzeugt, dass sich das göttliche Wirken im ‚inneren‘ Menschen auch auf den ,äußeren‘ Menschen auswirkt. Das ‚Buch geistlicher Armut‘ (hg. Denifle) konstatiert etwa (S. 174, Z. 8–17): „Ich ſpriche, daʒ der menſche iſt z nemen in ʒweier hande wiſe, nach dem uſſern menſchen und nach dem innern menſchen. Und ſo die gabe die der heilge geiſt iſt gegeben wurt, ſo wurt ſie enpfangen nach dem innern menſchen, und ſie verſwendet in einem nu alle ſúnde in dem inren menſchen, und behtet in fúrbas me vor allen ſúnden. Aber der uſſer menſche iſt der gabe nit enpfenglich, und da von ſo wurt ſie nit enpfangen von dem uſſern menſchen, und dar umbe ſo enmag der uſſer menſche nit allewegent leben ane tegeliche ſúnde, wan er hat gemeinſchaft mit der ʒit […].“ Auch Meister Eckhart hält eine vollkommene Sündenfreiheit sub conditione humana für ausgeschlossen. Der Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund befreie zwar von allen Todsünden, von lässlichen Sünden jedoch nur, insoweit diese vermeidbar seien. Vgl. Pr. S 101, DW IV/1, S. 367, Z. 218–221. Zugleich tendiert Eckhart dazu, die Sünde als unerheblich für den Gottesbezug des Menschen zu werten. Bereits in seiner frühesten erhaltenen deut-
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
die freigeistige Ketzerei scheint daher weniger der Abwehr einer äußeren Bedrohung als vielmehr der Domestizierung der eigenen unorthodoxen Tendenzen zu dienen.
2.3.5.4 Das Ideal der freien Gesetzesbindung: die ‚Erleuchteten‘ und ihre Gegner Die Übernahme der augustinisch-antipelagianischen Lehre von der Gesetzesfreiheit des begnadeten Menschen in den ‚mystischen Diskurs‘ und ihre Einbindung in die zeitgenössische Häresiedebatte erfolgt also keineswegs, ohne neue Reibungen zu erzeugen. Dennoch kommen die Predigten und Traktate aufs Ganze gesehen darin überein, dass die paulinische Freiheitslehre sich auf die Freiheit von allen äußeren Geboten bezieht, da deren von außen aufoktroyierte Geltung im vergotteten Menschen einer inneren Motivation zur Befolgung des göttlichen
schen Schrift – den Rede der underscheidunge – erklärt er, dass der anstôz der untugent nur den ‚äußeren‘ Menschen betreffe und die Gottunmittelbarkeit der obersten Seelenkräfte nicht gefährde (vgl. ebd., DW V, Kap. 9, S. 212, Z. 11–S. 213, Z. 11). Darüber hinausgehend konstatiert er in Predigt S 105 – ausdrücklich gegen die geltende theologische Lehrmeinung –, dass selbst Todsünden nicht dazu in der Lage sind, die naturhafte Gottunmittelbarkeit des menschlichen Geistes zu zerstören. Wenn aus dessen Grund heraus gute Werke verübt werden, seien diese daher auch dann von innerem Wert, wenn sich der Mensch im Stand der Todsünde befinde (DW IV/1, S. 649, Sp. A, Z. 154–168): „Nû merket den sin kurzlîche, als ez in der wârheit ist: diu werk, diu der mensche tuot, die wîle er in tôtsünden ist, sô entuot er doch diu werk niht ûz tôtsünden. Wan disiu werk sint guot, sô sint tôtsünde bœse. Mêr: er würket sie ûz dem grunde sînes geistes, der guot ist in im selber natiurlîche, aleine er niht enist in der gnâde. Und enverdienent diu werk niht himelrîche in in selber in der zît, in der sie geschehent, ez enschadet doch dem geiste niht, wan die vrühte des werkes âne werk und âne zît blîbent in dem geiste, und ist geist mit dem geiste, und wirt als lützel ze nihte, als lützel dem geiste sîn wesen ze nihte wirt.“ Diese tendenzielle Separation von ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Menschen führt dazu, dass die deutliche Abgrenzung gegenüber der ‚falschen‘ Freiheit verschwimmt. So nimmt der niederländische Eckhart-Kritiker Jan van Leeuwen (zu ihm: Ruh: Geschichte, Bd. 4, S. 100–117) die oben zitierte Eckhart-Predigt S 105 zum Anlass, den Meister als ‚teuflischen Menschen‘ zu diffamieren, der sich statt auf den christlichen Glauben auf sein ‚natürliches Licht‘ verlassen habe. Siehe dazu seine vor 1355 entstandene Eckhart-Polemik Van meester Eckaerts leere daer hi in doelde (hg. Kok), S. 153, Z. 1–3: „Het was een duvelyc mensche hiet meester eckaert vander predicaren ordene“; ebd., Z. 13–15: „ende hi waest oec seker in enen valschen bloeten natuerliken lichte /ende in verdonckernissen kerstens gheloefs.“ Die entsprechende Passage ist auch abgedruckt in Meister Eckhart: DW IV/1, S. 611–612. Sie umfasst den Beginn von Jans van Leeuwen kleiner Schrift und seine Wiedergabe der Eckhart-Predigt S 105 (= hg. Kok, S. 153, Z. 1–S. 155, Z. 37). Nicht von ungefähr erinnert der Vorwurf, dass Eckhart sich vom ‚natürlichen Licht‘ habe leiten lassen, an die antifreigeistige Polemik innerhalb der ‚deutschen Mystik‘, gilt der thüringische Dominikaner dem ‚guten Koch‘ von Groenendaal an anderer Stelle doch als Urheber der ‚Freigeist‘-Häresie. Vgl. Ruh: Geschichte, Bd. 4, S. 116.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Gesetzes gewichen ist. Sie gehen in dieser Hinsicht also mit der ersten Auslegung des ‚Frankfurter‘ von Gal 5, 18 konform.841 Solche Kontiguitäten zwischen unserem Traktat und anderen mystischen Prosatexten bestehen ebenfalls hinsichtlich der zweiten Exegese dieser Bibelstelle, die sich auf die Freiheit des geisterfüllten Menschen von jeglicher Verdienstgerechtigkeit bezieht.842 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine – schon mehrfach erwähnte843 – Passage aus dem 39. Kapitel des ‚Frankfurter‘, die vor der Analyse zunächst vollständig wiedergegeben werden soll: Doch sal man mercken, das vierley menschen die ordenung vnd gesetze vnd *die wiße handeln. Etliche thun eß wider vmmb got ader vmmb diß ader vmmb das, sunder vmmb die geczwungenheit. Die thun yr, ßo *sie mynst mugen, vnnd wirt en sure vnde swere. Die andern, dy thun sie vmmb lone. Das synt menschen, die anders nicht wissen dan das selbige vnd wenen, *man muge da mit hymmelrich vnd ewig leben vberkummen vnd vordienen vnd anders mit nichte. Vnd wer sein vil thut, der ist heilig, vnd wer syn icht vorsumet vnd vnderwegen leth, der ist vorloren vnnd des tufels. Vnd die haben großen ernst vnd fliß dar czu vnd wirt yn doch sure. Die dritten, das synt boße, falsche geiste, die wenen vnd sprechen, sie synt volkommen, sie dorffen sein nicht vnd han eß czu eyme spotte. Die virden, das synt irluchte menschen mit dem warenn lichte. Die handeln disse dinge nicht vmmb lone, wan sie wollen nichts vbirkummen da mit, ader das yn nichts dar vmmb werde, sundern sie thun von libe, was sie dißes thun. Vnd die han nicht also groß not, wie diß *dings vil geschee vnd bald vnd des glich, sunder was wol gescheen mag vnd mit frede vnd mit muß. Vnd wurde seyn etwas vorsumet an geverde vnd des glich, vnd dar vmmb werden sie nicht vorloren, wan sie wisßen wol, das ordenung vnd redelikeit besser vnd edeler ist den vnredelikeit. Dar vmmb wollen sie eß haldenn vnd wissen, das auch selikeit hir an nicht legt. Dar vmmb han sie nicht also groß not als die andern vnd disse menschen werden von den andern beiden partyen gestrafft vnnd georteilt. Wan die loner sprechen: diße menschen vorsumen sich czuml, vnde sprechen etwan, sie seyn vngerecht vnnd des gleich. Vnd die andern, das synt die freyen geiste, haben disse czu spotte vnd sprechen: sie gehen mit grobheit vnde mit torheit vmmb vnd des gleich. So halden sie das mittel vnd das beste, wan eyn liphaber gotis ist besser vnd got liber den hundert thusent loner. Also ist eß auch vmmb yre werck.844
Vorgestellt werden in dieser Passage vier Gruppen von Menschen, die sich in jeweils unterschiedlicher Weise gegenüber dem göttlichen Gesetz verhalten. Drei dieser Gruppen nehmen dabei eine Extremposition ein, die durch den Gegensatz
841 Siehe oben, Kap. 2.3.5.2, S. 274. 842 Siehe ebd. Zwar integrieren die seelsorgerisch ausgerichteten Texte der nacheckhartischen Mystik die Verdienstgerechtigkeit in ihre Mystagogie; anzustrebendes Ideal bleibt jedoch vielfach der in der unio stehende Mensch, dessen eigenes Wirken durch die Alleinwirksamkeit Gottes ersetzt ist und der daher keiner Verdienste mehr bedarf. Siehe dazu auch Kap. 2.3.3, bes. S. 253– 255. 843 Siehe Kap. 2.3.3, S. 247; Kap. 2.3.5.3, S. 279. 844 Kap. 39, S. 124, Z. 9–S. 125, Z. 35.
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von ‚innen‘ und ‚außen‘ bestimmt wird. Die ersten beiden Gruppen – in Aneignung der Terminologie des ‚Frankfurter‘ lassen sie sich als die ‚Gezwungenen‘ und die ‚Lohner‘ bezeichnen – gehören insofern zusammen, als sie von außen betrachtet den christlichen Normen und Geboten folgen, dies jedoch ausschließlich aufgrund eigensüchtiger Interessen und nicht als sichtbarer Ausdruck des göttlichen Wirkens im homo interior. Bei der dritten Gruppe handelt es sich um jene ‚bösen falschen Geister‘, die sich aufgrund ihrer vermeintlichen inneren Vollkommenheit über jedes äußere Gesetz erhaben wähnen. Allein die vierte Gruppe zeichnet sich durch eine Befolgung der lex dei aus, die vom Wirken des göttlichen Geistes inspiriert ist. Daher spiegelt sich nur bei diesen ‚Erleuchteten‘ im äußeren Handeln die innere Gottesgegenwart wider. Zentrales Thema der Passage – und genau das macht sie so interessant – ist also das Verhältnis von Gesetzestreue und Gottesnähe bzw. -ferne, das von den vier Gruppen jeweils unterschiedlich definiert wird und daher zu Konflikten untereinander führt. Diese Spannungen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Einbindung in den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts als auch hinsichtlich ihres korrelativen Bezuges zur Freiheitslehre der augustinisch-antipelagianischen Schriften. Wenden wir uns zunächst den Angehörigen der ersten Gruppe zu. Diese halten sich zwar an das Gesetz, aber weder in der Hoffnung auf göttliche Anerkennung noch auf irdische Vorteile, sondern allein aufgrund eines ihnen auferlegten Zwanges. Dementsprechend erfüllen sie zwar die Vorschriften eines christlichen Daseins, dies jedoch nur widerstrebend und in geringstmöglichem Maße. Aufgrund der Knappheit der Aussage bleibt unklar, ob der Zwang zur Gesetzestreue ausschließlich dem göttlichen Gesetz selbst entspringt – indem es die Warnung vor seiner Übertretung impliziert – oder zusätzlich von irdischen Aufsichtsinstanzen ausgeht, die seine Geltung durchsetzen. Denkbar sind beide Auslegungen. An dieser Stelle sei jedoch zunächst nur auf die erste Deutungsmöglichkeit eingegangen.845 Aus dieser ergibt sich insofern eine Analogie zur augustinisch-antipelagianischen Theologie, als der Kirchenvater in De spiritu et littera den vom Gesetz selbst ausgehenden Zwang zu seiner Befolgung ausführlich thematisiert. Dieser Zwang resultiert aus einem rein negativen Impuls, nämlich dem für die lex operum charakteristischen timor poenae.846 Der ‚Frankfurter‘
845 Zur zweiten Deutungsmöglichkeit siehe die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.3.5.5. 846 Vgl. spir. et litt. XXXII, 56 (CSEL 60, S. 213, Z. 1–6): „Sed adhuc est aliquid discernendum, quoniam et illi qui sub lege sunt et timore poenae iustitiam suam facere conantur et ideo non faciunt dei iustitiam, quia caritas eam facit, quam non libet nisi quod licet, non timor, qui cogitur in opere habere quod licet, cum aliud habeat in uoluntate qua mallet, si fieri posset, licere quod non licet.“ Siehe auch nat. et gr. LVII, 67 (CSEL 60, S. 284, Z. 9–11): „in quantum quisque spiritu ducitur, non
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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gibt zwar keine psychische Motivation für die geczwungenheit an; dennoch lassen sich die Angehörigen jener ersten Gruppe vor augustinischer Folie durchaus als Menschen verstehen, die das göttliche Gesetz als Bedrohung empfinden und es daher gegen ihre eigentliche Willensneigung aus Angst vor Strafe befolgen. Einen Rückhalt findet eine solche Auslegung auch innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘: Tauler-Predigt V 43 identifiziert die ,betwungene[n] knechte Gotz‘ ausdrücklich als Menschen, die allein aus Furcht den äußeren Geboten folgen.847 Auch wenn die ‚Lohner‘848 mit den Angehörigen dieser ersten Gruppe dadurch verbunden sind, dass ihr Leben – in augustinischer Diktion – ebenfalls von der lex operum und damit vom ‚tötenden Buchstaben‘ beherrscht wird,849 ist für sie dennoch eine andere Haltung gegenüber dem Gesetz kennzeichnend. Denn ihnen geht es nicht darum, Strafe zu vermeiden, sondern vielmehr darum, himmlischen Lohn zu erringen. Damit sind sie exemplarische Vertreter einer Verdienstgerechtigkeit, die durch sklavische Befolgung der ordenung, gesetze und wiße aus eigener Kraft auf Gott zuzustreben versuchen. Dass der ‚Frankfurter‘ ein solches meritorisches Leistungsdenken nicht nur an dieser Stelle, sondern generell zurückweist und die Bezeichnung loner stets als Negativbegriff verwendet, wurde bereits ausführlich dargelegt. Hier soll daher nur der gerade bereits erwähnte Aspekt der Rigidität hervorgehoben werden, der für das veräußerlichte Gerechtigkeitsverständnis der ‚Lohner‘ signifikant ist und ihnen als Gegenmodell zu den ‚Erleuchteten‘ eine breite Präsenz innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ sichert. Denn ungeachtet der breiten Akzeptanz des Verdienststrebens in der nacheckhartischen Mystik wird ein moralinsaures Pochen auf die unbedingte Einhaltung religiöser Zwänge als hypokritisch abgelehnt. Insbesondere in den Predigten
est sub lege, quia in quantum condelectatur legi dei, non est sub legis timore, quia timor tormentum habet, non delectationem.“ Siehe auch oben, Kap. 2.3.5.1, Anm. 799. 847 Anders als der ‚Frankfurter‘ hat Tauler vor allem ‚geistliche Leute‘ im Blick (Pr. V 43, S. 182, Z. 14–18): „Denne sint andere die sint betwungene knechte Gotz, die ms man twingen z dem dienste Gotz. Und das selbe wening das si tnt, das entnt sie nút von gtlicher minne noch von andacht, aber si tnt es von vorchten. Und das sint gnadelose minnelose geistliche lúte die man ze kore und ze vil anderem dienste Gotz twingen ms.“ 848 Siehe zu ihnen auch Kap. 2.3.2.2, S. 214 sowie Kap. 2.3.3, Anm. 703. 849 Der ‚Frankfurter‘ benennt dieses augustinische – auf 2 Kor 3, 6 rekurrierende – Gegensatzpaar zwar nicht. Es ist in seiner Auslegung des paulinischen Freiheitsbegriffs jedoch impliziert. Ausdrücklich verwendet es Meister Eckhart, wenn er eine auf den Wert äußerer ,Übungen‘ (d. h. asketischer Praktiken) vertrauende Verdienstfrömmigkeit zurückweist. Vgl. Pr. S 104, DW IV/1, S. 608, Z. 556, Sp. A–S. 609, Z. 567, Sp. A: „Diz ist gar lîhte ze bewærenne, wan man sol mê anesehen die vruht und die innern wârheit dan daz ûzer werk. Alsô sprichet sant Paulus: ‚diu geschrift tœtet‘, daz ist alliu ûzerlîchiu üebunge, ‚aber der geist machet lebendic‘, daz ist ein innerlich bevinden der wârheit. Des solt dû vil listiclîche war nemen, und waz dich aller næhest dâr zuo vüege, dem solt dû volgen vor allen dingen.“
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Johannes Taulers sind die Angehörigen der zweiten Gruppe als Vertreter eines pharisäischen Gebotszwanges omnipräsent.850 Die dritte Gruppe besteht aus jenen ‚bösen falschen Geistern‘, die als Vertreter eines gesellschaftsgefährdenden Antinomismus bereits weiter oben besprochen worden sind.851 Aufgrund ihres falschen Vollkommenheitsbewusstseins wähnen sie sich über das göttliche Gesetz erhaben und sind damit auch von jeglichen meritorischen Ambitionen frei. Diese innere Unabhängigkeit ist ihnen mit der letzten Gruppe, den ‚Erleuchteten‘, gemeinsam. Doch bei diesen erwächst die Gesetzesfreiheit aus der Gottespräsenz im homo interior und bedeutet damit gerade nicht die eigenmächtige Lösung vom, sondern vielmehr die freie Bindung an das Gesetz. In augustinischer Terminologie wären diese ‚vergotteten‘ Menschen als Repräsentanten der lex fidei zu bezeichnen. Ihre durch das ‚wahre Licht‘ – und damit durch die göttliche Liebe – motivierte Einhaltung der christlichen Gebote ist dabei im Unterschied zu den ‚Lohnern‘ frei von jeglicher zwanghaften Rigidität. Denn die ‚Erleuchteten‘ erstreben nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ keine Steigerung des himmlischen Lohnes durch die möglichst penible Befolgung von Vorschriften oder die Anhäufung von guten Werken. Gerade deshalb aber sehen sie sich der Kritik der ‚Lohner‘ und der ‚freien Geister‘ ausgesetzt: 850 Vgl. z. B. Pr. V 36, S. 132, Z. 18–S. 135, Z. 2: „Das ander von disen partien daz sint ouch grosse súnder, und dise menschen sint gar in eime gten schine und sint von grossen bungen und tnt vil gt werke und tragent den lúten ein vil gt bilde vor; und dis sint ypocriten und hant eine phariseliche wise und vol eigens willen und minnent sich selber und das ir in allen dingen und sint hofertig und ungelossen.“ Siehe auch die Zitate unten in Anm. 858. Siehe ferner Gabriel: Rückkehr, S. 488–496. Taulers Aversion gegen eine veräußerlichte Werkfrömmigkeit darf allerdings nicht als grundsätzliche Ablehnung aller äußeren ,Übungen‘ verstanden werden, denn diese treiben den Menschen auf seinem geistlichen Aufstiegsweg voran, bis er schließlich vom göttlichen Geist durchflutet wird. Vgl. dazu Kap. 2.3.2.4, Anm. 662. Seine Kritik richtet sich allein gegen ein von Hoffart und Eigennutz geprägtes Werkverständnis, das die Vorläufigkeit und den Vorbereitungscharakter jeglicher menschlichen Eigenleistung verkennt. Siehe dazu Pr. V 12, S. 57, Z. 32–S. 58, Z. 8: „Dis meinent und diseme dienent alle die wisen und alle die werg und bungen die wir hant in unserm heilgen ordene, und alle andere ordenunge, sú sigent weler hande kunne sú sigent, und in allen unsern gesetzeden und ordenunge, daz wir unsern Got alleine luterlichen meinent und das er in uns hochgezit mache und wir mit ime habent ein unbekumberten grunt, der nút inne enhabe denne Got luterlichen; und wie vil alle werg und wise herz dienent, also vil sint sú lbelicher und heiliger und nútzer, und wo des nút enist, do ist rehte also der juden synagoge. Die alte e die hette vil gesetzede und heilikeit und grosser wercke und darz maniger hande pinlicher bungen, aber mit allem dem so enmhte nieman behalten werden, aber alleine was es eine bereitunge der nuwen e, und in der nuwen e wart daz rich Gottes ufgeslossen und ufgeton. Also ist in allen bungen ussewendig, die alleine ein weg sint und eine bereitunge; und hie inne envindet man dis hochgezit nút, das alte es enwerde ingeneiget und geendet, und das nuwe inkomme in den grunt und in die luterkeit, so ist al z kleine oder zmole nút.“ 851 Siehe oben, Kap. 2.3.5.3.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Denn während die einen ihnen ihre scheinbare Laxheit vorwerfen, tadeln sie die anderen wegen ihrer Gesetzesgebundenheit. Mit der Positionierung der ‚Erleuchteten‘ zwischen den Extremen einer veräußerlichten Verdienstgerechtigkeit und einer verinnerlichten Selbstvergottung, die zu Attacken von beiden Seiten führt, schließt sich der ‚Frankfurter‘ an sein literarisches Bezugsfeld an. Denn auch andere mystische Prosatexte verorten den homo divinus zwischen Pharisäertum und freigeistiger Häresie. Im ‚Buch der Wahrheit‘ etwa werden den wahrhaft Gelassenen jene Menschen gegenübergestellt, die Christus entweder nur von innen oder nur von außen nachfolgen.852 Bei Ersteren handelt es sich um die Verfechter einer ‚ledigen Freiheit‘, die vermeinen, aufgrund ihres Verharrens in der kontemplativen Vernunft jede aktive, gegen den Bequemlichkeitsanspruch der Natur gerichtete Form der Christusnachfolge verweigern zu dürfen und ihren Spott gegen alle richten, die ihnen nicht zustimmen.853 Unter Letzteren sind die Verfechter einer streng asketischen, auf äußere Heiligung zielenden Lebensweise zu verstehen, die jede freiere Daseinsgestaltung ablehnen.854 Dass der ‚Frankfurter‘ die ‚Erleuchteten‘ in der zitierten Passage so pointiert von den ‚Lohnern‘ auf der einen und den ‚freien Geistern‘ auf der anderen Seite abgrenzt, entspricht der antipelagianischen Grundtendenz des Traktats. Denn die Anhänger beider Gruppierungen repräsentieren in jeweils unterschiedlicher Weise ein Selbstvervollkommnungsstreben, für das der ‚Frankfurter‘ aufgrund seines anthropologischen Pessimismus keine positive Aussagemöglichkeit zulassen kann.855 Während der ‚innerliche Pelagianismus‘ der ‚freien Geister‘ auf eine Selbstvergottung durch den Erkenntnisaufstieg der natürlichen Vernunft zielt,
852 BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 28, Z. 14–17: „Und die einerley sahen die glichnús [des Menschgewordenen mit dem Kreuz] an núwan von innan und nút von ussen, die andern von ussen und nit von innen, und waren beide gekeret mit schlage und hertikeit gegen der glichnús.“ 853 Ebd., S. 30, Z. 49–56: „Die einerley menschen, dú in von innen ansahen und nút von ussen, bezeichnent dú menschen, die Christi leben ansehent núwan in der vernunft nach schwlicher wise und nút in abwúrkender wise, da sú ir eigen nature sltin durbrechen in nachvolgklicher bunge dez selben bildes. Sú zúhent es alles nah diser angesiht z der nature wollust und lediger friheit in selb ze hilfe, und dunkt | sú menglich grob und unverstanden, dú inen des selben nit gehellent.“ 854 Ebd., Z. 57–64: „Etlichú sahen es ch an allein nach der ussern wise und nit nach dem inren, und dú schein herte und strenge. Und us dem bent sú sich strengklich und lebent behtklich und | tragent den lúten vor einen erberen heiligen wandel und úbersehent aber Christum von innen. Wan sin leben waz senfte und milte, aber disú menschen hant vil slahennes und urteilent ander lúte, und dunket sú alles daz unreht, daz ir wise nit fret.“ 855 Nicht aufzulösen ist die Aporie, dass der ‚Frankfurter‘ einerseits zwischen ‚Lohnern‘ und ‚freien Geistern‘ unterscheidet, andererseits aber von der „frey, falsch natur“ spricht, die allen Menschen gleichermaßen zukommt. Siehe dazu auch weiter unten, Kap. 2.3.5.5, S. 296.
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besteht der ,äußerliche Pelagianismus‘ der ‚Lohner‘ in der sklavischen Befolgung der lex operum, die ihnen die ewige Seligkeit sichern soll. Die ‚Erleuchteten‘ dagegen sind durch die Gottesgegenwart in ihrem Inneren – und im Kontext des ‚Frankfurter‘ bedeutet dies: durch die Alleinwirksamkeit Gottes856 – zum Guten befreit. Obgleich sich die Aversion gegen die ‚Lohner‘ wie ein roter Faden durch den ‚Frankfurter‘ zieht, ist doch nicht zu übersehen, dass er sich in programmatischer Hinsicht vorrangig gegen die ‚freien Geister‘ ausrichtet. Denn nur diese werden als Kirchenschädlinge identifiziert, von denen daher eine Abgrenzung notwendiger erscheint als von den ‚Lohnern‘, die zwar ebenfalls zurückgewiesen werden, jedoch als Anhänger einer zwar verfehlten, aber kirchlich sanktionierten Verdienstgerechtigkeit.857 Außerdem kommen nur die ‚freien Geister‘ aufgrund ihres Anspruchs innerer Vollkommenheit den ‚Erleuchteten‘ gefährlich nahe, zumal ihre Verachtung aller Gebote von außen betrachtet leicht mit der Gesetzesfreiheit der wahrhaft vergotteten Menschen zu verwechseln ist. Der vom ‚Frankfurter‘ den ‚Lohnern‘ zugewiesene Vorwurf gegenüber den ‚Erleuchteten‘, dass sich diese vorsumen würden, verweist auf diese prekäre Verwandtschaft. Damit allerdings lässt der Traktat die in anderen mystischen Prosatexten ausdrücklich geäußerte Befürchtung, dass die ‚Lohner‘ aufgrund ihrer veräußerlichten Gesetzestreue mehr Rückhalt innerhalb der christlichen Gemeinschaft finden als die ‚Erleuchteten‘, nur anklingen. Andere Predigten und Traktate dagegen unternehmen einige Anstrengungen, um die als ‚pharisäisch‘ diffamierte Gesetzestreue der ‚Lohner‘ gegenüber der freien Gesetzesbindung der von Gottes Geist Erfüllten nicht nur abzuwerten, sondern als gemeinschaftsfeindlich zu erweisen. Als entscheidendes Negativkriterium gilt dabei der Hang der ‚Lohner‘ zur moralischen Verurteilung ihrer Mitmenschen, insbesondere der ‚Erleuchteten‘, denen diese Neigung zur Belehrung und Abstrafung ihres Nächsten völlig fremd ist.858 Der ‚Frankfurter‘ beschränkt sich – abgesehen von der gerade
856 Siehe dazu Kap. 2.3.3, bes. S. 251. 857 Zur freigeistigen Verachtung der kirchlichen Gebote siehe die Ausführungen oben in Kap. 2.3.5.3 und dort besonders die ‚Frankfurter‘-Zitate in Anm. 823 und 838. Das Verhältnis der ‚Lohner‘ zur Kirche wird zwar nicht ausdrücklich thematisiert; da sie sich jedoch durch strenge Gesetzestreue ausweisen, ist anzunehmen, dass der ‚Frankfurter‘ sie als Mitglieder der kirchlichen Gemeinschaft betrachtet. 858 Tauler: Pr. V 9, S. 41, Z. 17–30: „Und dan die andern [neben den vernúnftigen] daz sint die pharisei, das sint die geistlichen die sich fúr gt hant und haltent von in selber und stont in iren ufsetzen und wisen und haltent ire gewonheit fúr alle ding und wellent in den geachtet sin und germet sin, und aller ir grunt der stet vol urteils uf alle die die der wisen nút ensint […]. Rehte also tnt dise lúte, sú haltent ir eigenen wisen und ufsetzen und alle ir gewonheit fúr die gtliche manunge und den gtelichen willen, und vernútent und urteilent die edeln Gotz frúnde die enkeinen eigenen
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erwähnten Textstelle – auf eine nur in intertextueller Perspektive erkennbare Reminiszenz an diesen behaupteten Kontrast. Denn auch er erklärt im Rahmen seiner Demutstheologie, dass der vergottete Mensch von jeder prätentiösen Zurschaustellung seiner moralischen Überlegenheit weit entfernt sei und seine Mitmenschen – wenn überhaupt – nur mit allergrößter Zurückhaltung kritisiere: Auch duncket disßen [wahrhaft demütigen] menschen, das alle seyne wort vnd seyne rede nichts *seyn vnd eyn thorheit. Dar vmmb redet er vnd spricht nicht, yemant czu leren ader czu straffen, yn tribe den gotliche libe vnd truwe dar czu, vnde das selbe geschiet mit forchten vnd so eß mynst mag.859
2.3.5.5 Der erzieherische Nutzen des Gesetzes bei Augustinus und im ‚Frankfurter‘ Zwar mögen die vorangegangenen Ausführungen zur ‚wahren‘ Freiheit der ‚Erleuchteten‘ die Geltung des göttlichen Gesetzes auch für sie deutlich hervorgehoben haben. Dennoch lässt sich sowohl in Bezug auf Augustinus als auch hinsichtlich des ‚Frankfurter‘ fragen, warum der ‚tötende Buchstabe‘ der lex operum
ufsetzen noch wisen enkunnent gevolgen, dan das sú Gotte in sinen verborgenen wegen mssent volgen“; ders.: Pr. V 10, S. 47, Z. 35–S. 48, Z. 10: „Die andern [lúte] das sint sus geistliche lúte die in grosseme schine sint und von vil grossen namen, und sint úber dise usser vinsternisse, duncket sú, verre kummen, und in irme grunde so sint sú phariseen und sint vol eigener minnen und eigens willen und sint rehte ir selbes vorwurff. Dise sint sere bse z erkennende under den frúnden Gots ussewendig, wan sú wol von me bunge underwilen sint wanne die waren Gotz frúnde sint, von ussen in bettende, in vastende und in hertekeit des lebendes, also daz sú von ussen nút sint z bekennende, denne der geist Gottes, in den der ist, erkennet es. Aber ein underscheit hant sú von den woren frúnden Gottes ussewendig; dise sint vol urteiles ander lúten und der Gottes frúnt und urteilent sich selber nút, aber die waren Gottes frúnt enurteilent nieman danne sich selber.“ Zur Ablehnung des ‚pharisäischen‘ Urteilens als Bestandteil von Taulers Konzept der ‚Gottesfreundschaft‘ siehe McGinn: The Harvest, S. 411–412. Vgl. ferner Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 126, Z. 30–39: „Und die [erleuchteten] menſchen werdent allewegent geurteilet, und man ſprichet daʒ ſie mſſig gant, und daʒ ſie ſich in keinen gten wercken wellent ben, und man ʒihet ſie dicke daʒ ſie brechent die geſetʒde der heilgen kirchen. Und daʒ iſt die ſache, wan in alle uſſerliche wiſe iſt enpfallen, und in dem wiſeloſen gotte haltent ſie alle geſetʒde der heilgen kirchen, und daʒ kúnnent uſſerliche menſchen nit verſtan noch an in gebrfen, und da von urteilent ſie ſie allewegent. Und daʒ iſt billich, wan ſie ſint blint; aber es iſt ein groſſe dorheit, daʒ ein blinde einen geſehenden wil fren oder wiſen“; Geistbuch (hg. Gottschall), S. 30, Z. 102–104: „Dise [auf die äußeren Werke fokussierten] lút hand vil eigenwilliger vnd gesczter gůtheit. Da von sind sú hertmtig vnd einsinnig vnd gar berrlich vnd vrteilen dik vnd richten ander lút.“ Zum ‚Buch der Wahrheit‘ siehe das Zitat oben in Anm. 854. 859 Frankfurter, Kap. 26, S. 106, Z. 19–22.
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überhaupt notwendig ist, wenn die Geisterfüllten äußerer Anweisungen gar nicht bedürfen, während die ‚natürlichen‘ Menschen ohnehin dem Reich des Teufels angehören.860 Der Kirchenvater reflektiert dieses Problem in De spiritu et littera mit Bezug auf die Paulusstellen 1 Tim 1, 9 und 1 Tim 1, 8.861 Dieser augustinischen Schrift zufolge ist der Nutzen des Gesetzes erzieherischer Natur: Indem es den Menschen mit seiner Sündhaftigkeit konfrontiert, führt es ihn – sofern er zu den Erwählten gehört862 – tamquam paedagogo863 zur Gnade hin, die allein ihn zur Erfüllung der Gesetzesvorschriften befähigt.864 Aber auch der Gerechtfertigte, also bereits vom spiritus gratiae Erfüllte, ist dazu aufgerufen, die lex dei anzuwenden. Indem er sie nämlich dem Sünder zu dessen Einschüchterung auferlegt, wird dieser – wiederum unter der Voraussetzung des göttlichen Beistandes – dazu gezwungen, zur Gnade Zuflucht zu nehmen.865 Diesen augustinischen Gedanken einer pädagogischen Funktion der lex operum – der im sechzehnten Jahrhundert auch von den Wittenberger Reformatoren aufgegriffen werden wird866 – adaptiert der ‚Frankfurter‘:
860 Bei Augustinus aufgrund der Erbsünde, die unauflöslich mit der – in sich guten – menschlichen Natur verschränkt ist; im ‚Frankfurter‘ aufgrund der grundsätzlichen Verdorbenheit der natura hominis. Siehe dazu bes. Kap. 2.3.1. 861 spir. et litt. X, 16 (CSEL 60, S. 168, Z. 10–13): „‚Iusto enim ‚lex non est posita‘; quae tamen bona est, ‚si quis ea legitime utatur‘. haec duo apostolus uelut inter se contraria conectens monet mouetque lectorem ad perscrutandam quaestionem atque soluendam.“ 862 Denn nur die Erwählten ruft Gott so an, dass sie sich aufgrund des Gesetzes ihrer Schwäche bewusst werden und daher zur Gnade fliehen. Vgl. spir. et. litt. XXXIV, 60 (CSEL 60, S. 220, Z. 1– S. 221, Z. 4). Hier wirken also die drei zur Erfüllung der göttlichen Gebote notwendigen Elemente miteinander: die Gesetzesvorschriften, der freie Wille und die Gnadenzuwendung, ohne die den beiden anderen Elementen keine Wirksamkeit zukommt. Vgl. auch oben, Kap. 2.3.5.1, Anm. 791. 863 spir. et. litt. X, 16 (CSEL 60, S. 169, Z. 5–6). Siehe auch nat. et gr. I, 1 (CSEL 60, S. 233, Z. 16–20): „hanc itaque iustitiam dei non in praecepto legis, quo timor incutitur, sed in adiutorio gratiae Christi, ad quam solam utiliter legis uelut paedagogi timor ducit, constitutam esse qui intellegit, ipse intellegit quare sit Christianus.“ Vgl. ferner c. ep. Pel. IV, 5, 10 (CSEL 60, S. 531, Z. 1–4). 864 spir. et litt. XIX, 34 (CSEL 60, S. 187, Z. 22–23): „lex ergo data est, ut gratia quaereretur, gratia data est, ut lex inpleretur.“ 865 spir. et litt. X, 16 (CSEL 60, S. 169, Z. 6–14): „quomodo enim iusto lex non est posita, si et iusto est necessaria, non qua iniustus ad iustificantem gratiam perducatur, sed qua legitime iam iustus utatur? an forte, immo uero non forte, sed certe sic legitime utitur lege iam iustus, cum eam terrendis inponit iniustis, ut cum et in ipsis coeperit inolitae concupiscentiae morbus incentiuo prohibitionis et cumulo praeuaricationis augeri, confugiant per fidem ad iustificantem gratiam et per donum spiritus suauitate iustitiae delectati poenam litterae minantis euadant?“ 866 So von Karlstadt in seinem Flugblatt ‚Wagen‘, in seiner ‚Auslegung und Erläuterung etlicher heiliger Schriften‘ sowie in seinem Kommentar zu De spiritu et littera. Siehe dazu Hasse: Karlstadt und Tauler, S. 101–102.
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Auch wirt yn dißem geistlichen armut vnd demutikeit vorstanden vnd funden, das alle menschen kummen czumäl auff sich selber vnd joch uff vntogent vnde boßheit geneyget vnd gekeret seyn, vnnd das dar vmmb not vnd nutze ist, das ordenung vnd wiße vnd gesetze vnd gebot sint, das die blintheit da mit geleret werde vnd boßheit geczwungen werde czu ordenlicheit. Vnd were des nicht, die menschen worden vil boßer vnd vnordenlicher dan hund ader ander vihe. Vnd wirt auch manig mensch durch diße weiße vnnd ordenunge geczogen vnd gekeret czu der warheit, das anders nicht geschee. Auch das wenigk menschen czu der warheit kommen synt, sie haben vor ordenunge vnd wiße angefangen vnd sich dar ynne gevbet, die weile sie nicht anders ader bessers westen. Sich, hir vmmb synt gesetze vnnd gebote vnd ordenunge vnd wiße yn der demutigen geistlikeit vnd yn geistlichen armut nicht vorsmehet noch vorspottet vnd auch die menschen, die do mit vmmb gehen vnd sie handeln. Sundern da wirt gesprochen yn eyner libsamen erbarmunge vnnd yn eyme clagende iamer vnd mit liden: Got vnd warheit, dir sie geclaget vnd du clagest eß selber, das menschliche blintheit vnd gebreche vnd boßheit macht, das das not ist vnd seyn muß, des yn der warheit nicht not ist noch sold seyn; vnd ist eyn begirde, das die menschen, die nicht bessers ader anders wissen czu der warheit czu kommen, das sie wissen vnd bekennen, wor vmmb alle gesetze vnd ordenunge seyn vnd gescheen. Vnd man grifft eß an mit den andern, die nicht *anders noch bessers wissen, vnd vbit yß mit yn, uff das man sie da bie behalde, das sie nicht czu boßen dingen keren, ader ab man sie mochte zu eynem nehern brengen.867
Demnach kommt dem Gesetz sowohl eine disziplinierende als auch eine pädagogische Funktion zu, wobei die Erstere im rein innerweltlichen Bereich angesiedelt ist und die Letztere darüber hinausweist. Zum einen nämlich dienen alle äußeren Gebote der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Indem sie von jenen, „die do mit vmmb gehen vnd sie handeln“, gegen den hier als animalisch eingestuften Drang des Menschen zur Eigensucht und Bosheit durchgesetzt werden, zwingen sie zu einer geordneten Lebensweise. Damit werden genau jene anarchischen Zustände verhindert, die der ‚Frankfurter‘ in anderen Passagen als Resultat einer ‚freigeistigen‘ Fehlauslegung des paulinisch-augustinischen Freiheitsbegriffs deklariert.868 Zum anderen – und darin tritt der korrelative Bezug zur augustinisch-antipelagianischen Theologie zutage – soll die erzwungene Befolgung des Gesetzes den Weg zur Wahrheit weisen, den naturhaft verdorbenen Menschen also zu Gott hinführen. Jenen Repräsentanten der demutigen geistlikeit und geistlichen armut, die das Gesetz bereits verinnerlicht haben und die der ‚Frankfurter‘ sonst auch als ‚Erleuchtete‘, ‚Geisterfüllte‘ oder ‚Vergottete‘ bezeichnet, scheint dabei eine Unterweisungsfunktion zugedacht zu sein: Indem sie, die des äußeren Gesetzes nicht mehr bedürfen – seine Notwendigkeit sogar beklagen –, sich dennoch
867 Kap. 26, S. 106, Z. 23–S. 107, Z. 45. 868 Siehe dazu die Ausführungen weiter oben, Kap. 2.3.5.3, bes. S. 277 und S. 279–280.
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seinen Regeln beugen, sollen sie ihre gottfernen Mitmenschen nicht nur vom Bösen abhalten, sondern zur inneren Vollkommenheit als eynem nehern anleiten.869 Dieser Hinweis auf die Exempelrolle der ‚Erleuchteten‘, die ihren sündenverfallenen Mitmenschen die Einübung in das göttliche Gesetz erleichtern soll, verbindet den ‚Frankfurter‘ mit Aussagen anderer Predigten und Traktate der ‚deutschen Mystik‘, die ebenfalls auf die Vorbildfunktion der Vollkommenen verweisen.870 Auf der syntagmatischen Ebene allerdings erfolgt die Integration der zitierten Passage nicht reibungslos. Zwar harmoniert sie mit dem Appell des ‚Frankfurter‘ zur Einübung in das Christusleben;871 zugleich aber widerstreitet sie den Äußerungen des Traktats zur grundsätzlichen Verworfenheit der menschlichen Natur, die unbelehrbar in der Gottesferne verharrt. So tritt hier wieder jenes Lavieren des ‚Frankfurter‘ zwischen Akzeptanz und Zurückweisung von Grundprämissen des ‚mystischen Diskurses‘ zutage, das letztlich in die Aporie von ethischem Anspruch und dessen Unerfüllbarkeit mündet.872 Diese Inkompatibilität von vita Christi und natura humana wird jedoch nie letztgültig formuliert, sondern durch jene Aussagen in der Schwebe gehalten, die den ‚Frankfurter‘ in den ‚mystischen Diskurs‘ einbinden. Diese den Traktat durchziehende Spannung bestimmt auch seine programmatische Ausrichtung gegen die ‚falschen freien Geister‘. Denn während er einerseits von einer ‚freigeistigen‘ Verfassung der menschlichen Natur spricht, der sich kein Mensch entziehen kann,873 bestimmt er die freyen geiste andererseits als eine antinomistische Gruppierung, die sich von den ‚Gezwungenen‘, den ‚Lohnern‘ und den ‚Erleuchteten‘ als je unterschiedlich motivierten Gesetzesbefolgern unterscheidet.874
869 Dieselbe Begrifflichkeit verwendet der ‚Frankfurter‘ weiter unten in Kapitel 26 (S. 107, Z. 50– S. 108, Z. 55), wenn er die Anerkennung des Gesetzes durch Christus mit dessen Aufforderung verbindet, nicht auf dieser niederen Stufe stehen zu bleiben, sondern zur Gesetzesfreiheit (verstanden als freie Bindung an das Gesetz aus der inneren Geisterfülltheit heraus) fortzuschreiten. Siehe oben, Kap. 2.3.5.3, S. 279 (dort auch das Zitat). 870 Als Beispiel sei eine Passage aus Tauler-Predigt V 10 (S. 50, Z. 16–21) zitiert, welche die Exempelrolle der Vollkommenen mit dem scholastischen Lehrsatz des facere quod in se est verbindet: „Vil lieben kint, hierumb setzent als daz ir geleisten múgent in geiste und in nature, daz úch dis wore lieht luhte in smackender wise, so múgent ir kummen in úwern ursprung, do dis wore lieht luchtet. Daz úch dis werde, darumb begerent und bittent mit nature und on nature, herfúr setzent als das ir geleisten múgent, bittent die Gottes frúnt daz sú úch darzů helffen, hangent den an die Gotte anhangent, daz sú úch mit in in Got ziehent.“ Vgl. auch oben, Kap. 2.3.5.3, Anm. 838. 871 Siehe dazu Kap. 2.2.2.3, S. 142; Kap. 2.2.3.3, S. 162 und ebd., Anm. 348. 872 Siehe dazu auch Kap. 2.3.4, S. 264–265. 873 Siehe Kap. 2.2.2.1, S. 114–115. 874 Siehe dazu weiter oben, Kap. 2.3.5.4.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
297
2.3.6 ‚Freier‘ und ‚befreiter‘ Wille Bei der Diskussion eines eckhartischen Augustinus-Zitats weiter oben in dieser Arbeit wurde als mögliche Quelle eine Passage aus der antipelagianischen Schrift Contra duas epistulas Pelagianorum vorgeschlagen.875 Die entsprechende Textstelle sei hier noch einmal wiederholt. Sie lautet: sed haec uoluntas, quae libera est in malis, quia delectatur malis, ideo libera in bonis non est, quia liberata non est. nec potest homo boni aliquid uelle, nisi adiuuetur ab eo, qui malum non potest uelle, hoc est gratia dei per Iesum Christum dominum nostrum; omne enim quod non est ex fide, peccatum est.876
Augustinus bringt hier die Verworfenheit des menschlichen Willens zum Ausdruck, der ohne den Beistand der durch den Glauben an Jesus Christus vermittelten göttlichen Gnade dauerhaft in der Sünde gefangen ist.877 Gleichwohl besteht der Kirchenvater darauf, dass der Wille ‚frei‘ (libera) sei878 – nämlich frei zum Bösen.879 Damit steht der ‚freie‘ Wille in Opposition zum ‚befreiten‘ (liberata) Willen,880 der durch die übernatürliche Mitteilung des spiritus gratiae die Verstrickung in die Sünde hinter sich gelassen hat.
875 Siehe Kap. 2.2.2.1, S. 114. 876 c. ep. Pel. I, 3, 7 (CSEL 60, S. 428, Z. 24–S. 429, Z. 4). 877 Vgl. etwa nat. et gr. XXIII, 25 (CSEL 60, S. 251, Z. 22–25): „[…] sed ut in peccatum iret, sufficit liberum arbitrium, quo se ipse uitiauit; ut autem redeat ad iustitiam, opus habet medico, quoniam sanus non est, opus habet uiuificatore, quia mortuus est“; c. ep. Pel. I, 3, 6 (CSEL 60, S. 428, Z. 11–16): „datur ergo potestas, ut filii dei fiant qui credunt in eum, cum hoc ipsum datur, ut credant in eum. quae potestas nisi detur a deo, nulla esse potest ex libero arbitrio, quia nec liberum in bono erit, quod liberator non liberauerit, sed in malo liberum habet arbitrium, cui delectationem malitiae uel occultus uel manifestus deceptor inseuit uel sibi ipse persuasit.“ 878 Vgl. gr. et lib. arb. II, 2 (PL 44, Sp. 882): „Revelavit autem nobis per Scripturas suas sanctas, esse in homine liberum voluntatis arbitrium“; ebd., IX, 21 (PL 44, Sp. 894): „Non enim, quia dixit, ‚Deus est enim qui operatur in vobis et velle et operari, pro bona voluntate‘, ideo liberum arbitrium abstulisse putandus est.“ 879 Vgl. Simpl. I, 2, 21 (Flasch: Logik des Schreckens, S. 230): „Liberum uoluntatis arbitrium plurimum ualet, immo uero est quidem, sed in uenundatis sub peccato quid ualet?“ Nur an einer Stelle seines Œuvres – in der gegen seinen hartnäckigsten Gegner gerichteten Schrift Contra Iulianum – spricht Augustinus vom ‚unfreien‘ Willen. Vgl. c. Iul. II, 8, 23 (PL 44, Sp. 689): „Hic enim vultis hominem perfici, atque utinam Dei dono, et non libero, vel potius servo propriæ voluntatis arbitrio.“ Vgl. auch Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 31, Anm. 87. 880 Vgl. dazu auch c. ep. Pel. II, 5, 9 (CSEL 60, S. 468, Z. 25–S. 469, Z. 2): „peccato Adae arbitrium liberum de hominum natura perisse non dicimus, sed ad peccandum ualere in hominibus subditis diabolo; ad bene autem pieque uiuendum non ualere, nisi ipsa uoluntas hominis dei gratia fuerit liberata et ad omne bonum actionis, sermonis, cogitationis adiuta“; ebd., III, 7, 20 (CSEL 60, S. 510, Z. 24–27): „quod planius et breuius ita dici potest: iustitiam legis non inpleri, cum lex iubet et
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Da die Willensfreiheit – im Sinne der Möglichkeit einer selbstbestimmten Wahl zwischen Gut und Böse – für den postlapsarischen Menschen nicht mehr zur Naturausstattung gehört,881 bleibt ihm die Initiation jener Heilskette verwehrt, an deren Anfang die Bedrohung durch die lex operum und an deren Ende die Liebe zur Gerechtigkeit und die Erfüllung des Gesetzes stehen.882 Folgt man Augustinus’ Ausführungen in De spiritu et littera,883 stellt sich der auf den Willen gerichtete Befreiungsprozess vielmehr so dar, dass zunächst das Gesetz – also der tötende Buchstabe – den Menschen zur Erkenntnis der Sünde führen muss. Doch nur insofern der Mensch an den Erlösungstod Christi glaubt und in diesem Glauben – der ebenfalls Geschenk Gottes ist884 – die Gnade erfleht, kann er der massa damnata entrinnen. Denn erst die Mitteilung der Gnade befreit die Seele vom Gebrechen der Sünde und führt so auf übernatürliche Weise zu deren Gesundung. Dadurch aber wird die bisher dem Bösen unterworfene Willenskraft zur Liebe der göttlichen Gerechtigkeit befreit885 und der Mensch im Sinne der lex fidei zur Befolgung des Gesetzes befähigt.
homo quasi suis uiribus facit, sed cum spiritus adiuuat et hominis non libera, sed dei gratia liberata uoluntas facit.“ 881 Das bedeutet allerdings nicht, dass der Mensch unweigerlich nur Böses verübt. Er ist durchaus zu äußerlich guten Taten fähig, denen innerhalb des göttlichen Heilsplanes jedoch kein intrinsischer Wert zukommt und die deshalb nichts zur Rettung des Menschen beitragen. Siehe dazu auch Schindler: Art. ‚Augustin/Augustinismus I‘, S. 683. Vgl. ferner Kap. 2.3.2.3, S. 233 mit Anm. 644. 882 Zu diesem Bruch mit dem spätantik-christlichen Ideal des Weisen, der aus eigener Initiative den Glauben ergreift und sich auf die Suche nach Gott macht, siehe Flasch: Logik des Schreckens, S. 38–41. 883 spir. et litt. XXX, 52 (CSEL 60, S. 208, Z. 19–23): „sed per legem cognitio peccati, per fidem inpetratio gratiae contra peccatum, per gratiam sanatio animae a uitio peccati, per animae sanitatem libertas arbitrii, per liberum arbitrium iustitiae dilectio, per iustitiae dilectionem legis operatio.“ Siehe zu dieser Heilskette, in die Augustinus die Willensfreiheit – im Sinne der voluntas liberata – einspannt, auch Schulze: Natur, Ethik und Gnade, S. 30 sowie Drecoll: ‚De spiritu et littera‘, S. 331. 884 Siehe dazu oben in Anm. 877 das Zitat aus Contra duas epistulas Pelagianorum. 885 Wenn Augustinus im positiven Sinne vom liberum arbitrium als einem Gottesgeschenk spricht, meint er diesen von den Fesseln der Sünde befreiten Willen. Vgl. pecc. mer. II, 6, 7 (CSEL 60, S. 77, Z. 16–23): „in hac quadripertita propositione quaestionum si a me quaeratur, utrum homo sine peccato possit esse in hac uita, confitebor posse per dei gratiam et liberum eius arbitrium, ipsum quoque liberum arbitrium ad dei gratiam, hoc est ad dei dona, pertinere non ambigens, nec tantum ut sit, uerum etiam ut bonum sit, id est ad facienda mandata domini conuertatur atque ita dei gratia non solum ostendat quid faciendum sit, sed adiuuet etiam, ut possit fieri quod ostenderit“; spir. et litt. XXXV, 62 (CSEL 60, S. 221, Z. 23–S. 222, Z. 2): „‚si a me quaeratur‘, inquam, ‚utrum homo sine peccato possit esse in hac uita, confitebor posse per dei gratiam et liberum eius arbitrium,
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Die augustinische Unterscheidung zwischen einer im Bereich der natürlichen Ordnungen zwar durchaus funktionsfähigen,886 aus gnadentheologischer Perspektive aber vom Heil ausgeschlossenen libera voluntas und einem durch das übernatürliche Eingreifen Gottes zum Heil befreiten Willen erwies sich insofern als anschlussfähig an den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts, als auch dieser zwischen zwei Ebenen des Willens unterscheidet: dem auf das bonum hoc aut hoc ausgerichteten natürlichen Willen, der die unendliche Distanz zu Gott als summum bonum nicht überbrücken kann, und dem in der unio mit Gott eins gewordenen Willen, der seine Ausrichtung auf die kreatürliche Ordnung – und damit auf die kategoriale Vereinzelung alles Geschaffenen – aufgegeben hat. Der begrenzten Freiheit des kreatürlichen Willens – der nach Aussage der mystischen Prosatexte im Rahmen seiner Kapazitäten durchaus das Gute wählen und das Böse ablehnen kann887 – steht die absolute Freiheit des mit Gott vereinten Willens gegenüber, der sich nicht mehr als natürliches Seelenvermögen auf ‚Dies-oder-das-Gute‘ ausrichten muss, sondern aus der vollkommenen Gutheit heraus will und wirkt. Diesen doppelten Freiheitsbegriff formuliert explizit etwa die Brulocht des Jan van Ruusbroec: „Der frie wille, der iſt der kúnig in der ſelen, der iſt fri von naturen vnd noch frier von gnaden.“888 Ausführlicher diskutiert wird er zudem im ‚Buch der Wahrheit‘: Auf die Frage, ob sich der Wille im ewigen Nichts auflöse,889 erhält der Jünger die Antwort, dass dies in der Tat zutreffe. Denn erst wenn der freie Wille seines natürlichen Wirkens – also der Tätigkeit des Wollens – enthoben sei, könne er im eigentlichen Sinne ‚frei‘ genannt werden.890 Dieser von den Beschränkungen des hoc aut hoc befreite Wille sei jenseits aller Zeitlichkeit mit Gottes Wirken vereint.891 Im Hier und Jetzt stelle sich dieses Verweilen des
ipsum quoque liberum arbitrium ad dei gratiam, hoc est ad dei dona, pertinere non ambigens, nec tantum ut sit, uerum ut bonum sit, id est ad facienda mandata domini conuertatur […].“ 886 Insofern der Mensch aufgrund seiner nach dem Sündenfall rudimentär erhalten gebliebenen Gottebenbildlichkeit auch ohne göttlichen Gnadenbeistand zu äußerlich guten Handlungen in der Lage ist. Siehe dazu auch Kap. 2.2.3.6, S. 173–174. 887 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die mystische Willenslehre von der augustinischen. Siehe dazu auch die Darlegungen weiter unten in diesem Kapitel, S. 301–302. 888 Ruusbroec: Brulocht (hg. Eichler), Buch I, S. 113, Z. 780–781. 889 BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 50, Z. 365: „Ein frage: Ob der wille zergange in dem nihte?“ 890 BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 50, Z. 366–368: „Entwúrt: Ja nach sinem wellende, wan wie fri der wille ist, so ist er alr erst fri worden, wan er bedarf nit me wellen.“ 891 BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 50, Z. 371–S. 52, Z. 376: „Dem menschen vergat sin wille nach dem wellende, daz er wil usser eigenschaft wúrken, nu dis, nu daz. Und hie hat er nit werk soliches wellendes in gebrestlicher wise, als da vor ist geseit, mer sin wille ist fri worden, also daz er
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Willens in der ‚stillen unberührten Freiheit‘ Gottes als unbedingte Ausrichtung auf das Gute dar: Mer der es nimet nach únser rede, so wil er [der Wille] nihteznit úbels wúrken und wil ellú gten ding. Aber eigenlich so ist alles sin leben und wellen und wúrken ein stillú unberrtú friheit, die sicher ane allen zwifel sin enthalt ist.892
Auch das ‚Buch geistlicher Armut‘ kennt die Unterscheidung zwischen ‚freiem‘ und ‚befreitem‘ Willen. Nur wenn die Seele die Freiheit ihres Willens aufgebe, könne sie mit dem göttlichen Willen bekleidet werden. Dies bedeute jedoch keine Herabsetzung ihres Willens, sondern vielmehr dessen Befreiung aus den Fesseln der Geschaffenheit. Deshalb sei nur der mit Gottes Geist vereinte Wille in Wahrheit frei.893 Die mystischen Texte kommen also mit Augustinus darin überein, dass der menschliche Wille erst in eine übernatürliche Ordnung überführt werden muss, bevor er dazu in der Lage ist, in Freiheit die Forderungen des göttlichen Gesetzes vollkommen zu erfüllen.894 Denn die Lösung von der Kreatürlichkeit bedeutet innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ zugleich die Befreiung von jener Selbstbezogenheit, die dem Menschen auch in seinem moralischen Streben anhaftet und ihn daran hindert, das Gute allein um des Guten willen – nicht aus Hoffnung
nit me denne ein werk wúrket, daz er selber ist nach vereinter wise, und ane zit wúrket.“ Ähnlich auch Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 80, Z. 36–S. 81, Z. 1: „Nu iſt des menſchen wille in ime ſelber unvollekomen, und da von ſo het er ouch ein unvollekomen werk; aber ſo der wille ſich erhebet úber ſich ſelber und úber alle ding in got, ſo het er ouch ein volkomen werck mit got, wan waʒ eins iſt daz het ouch ein wúrcken: nu iſt der wille vereiniget mit got, und da von ſo hat er ouch ein wúrcken mit got.“ Zum Wirken Gottes siehe ferner die Ausführungen in Kap. 3.2.2, bes. S. 330–334. 892 BdW (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 6, S. 52, Z. 376–380. 893 Buch geistlicher Armut (hg. Denifle), S. 129, Z. 26–30: „Und got gabet ime [dem menschlichen Willen] gar rilichen mit groſſer gaben, und mit der gaben twinget er den willen und machet in ime z male undertenig, und machet einen frien uſſer ime, alſo daʒ er entbunden wurt von aller creatúrlicher anhaftunge, und allein an got haftet“; ebd., S. 9, Z. 20–35: „[…] und [die Seele] git danne friheit ires willen uf, und machet ſich arm, und in dem ufgeben ires willen ſo nimet got iren willen und kleidet in mit ſinem willen und machet in fri und alvermúgen mit ime, alſo ſanctus Paulus ſprichet: ‚wer got an haftet, der wurt ein geiſt mit gotte‘. Und in dem armte ires willen ſo iſt ir wille geedelt und erhhet, und nit genidert, und vil me gefriget, danne obe ſie nit arm were worden ires willen. Der meiſter von natur ſprichet: ‚ein ieglich ding, daʒ der erſten ſache aller nehſte iſt, daʒ iſt aller edelſte‘; und wan ſie danne iren willen geeiniget hat mit dem gtlichen willen, ſo iſt er reht edel und fri, und wie der wille anders iſt, ſo iſt er nit fri. Und in der vereinunge ires geiſtes mit dem gtlichen geiſte ſo vermag die ſele alle ding frilichen, wan ‚wo der geiſt iſt do iſt friheit‘, als ſanctus Paulus ſprichet: ubi ſpiritus, ibi libertas. Und do von iſt armt ein glicheit gottes, wan es mit gotte alle ding vermag.“ 894 Vgl. dazu auch Kap. 2.3.5.1.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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auf Lohn oder Furcht vor Strafe – zu wollen und zu tun. Dementsprechend kann das Gegensatzpaar ‚freier‘ und ‚befreiter‘ Wille auch durch die Synonyme ‚eigener‘ und ‚gelassener‘ Wille ersetzt werden.895 Der ‚eigene‘ Wille entspricht damit dem durch eigenschaft – dem Pendant zur augustinischen concupiscentia innerhalb der mystischen Terminologie – bestimmten natürlichen Willen,896 während der ‚gelassene‘ Wille jedes eigene Begehren verloren hat, da er in der Einheit mit Gott schon immer erfüllt ist und sich auf kein noch zu erreichendes Ziel ausrichten muss. Das für den ‚freien‘ Willen kennzeichnende Moment der Unvollkommenheit und des Mangels ist im ‚befreiten‘ Willen daher aufgehoben. Wie bereits angedeutet, führt die Übernahme der augustinischen Unterscheidung zwischen den beiden Willensebenen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ allerdings nicht zu jener grundsätzlichen Verwerfung der libera voluntas, die charakteristisch für die antipelagianisch ausgerichtete Gnadentheologie des Kirchenvaters ist. Denn ungeachtet des sich im ‚freien‘ Willen ausdrückenden Begehrens nach Befriedigung der Eigenliebe wird dieser doch als Dispositionsvermögen anerkannt, das sich im Bereich des Irdischen frei zwischen Gut und Böse entscheiden kann897 und darüber hinaus die Fähigkeit zur Assimilation an den göttlichen Willen besitzt.898 Diese Möglichkeit einer Willenskonformität, die so-
895 Siehe z. B. das Kapitel Waʒ do ſy eigener wille, und waʒ gelaſſener wille ſy im ‚Buch geistlicher Armut‘ (hg. Denifle), S. 84–86. 896 Vgl. dazu Kap. 2.3.1, bes. S. 195–196. Siehe auch die Erläuterung des ‚eigenen‘ Willens im ‚Buch geistlicher Armut‘ (hg. Denifle), S. 84, Z. 8–16: „Eigen wille iſt nit anders danne ein beſitʒunge ſin ſelbes in liplichen dingen oder in geiſtlichen dingen. Der menſch der noch nit allen ʒitlichen dingen uʒ gegangen iſt innerlich und uſſerlich, der het noch eigenſchaft ſins willen, wan eigenſchaft des willen iſt daʒ er ſich neiget uf die creaturen und uf die ʒit; und da von wer noch mit den creaturen beladen iſt, der het noch eigenſchaft des willen. Und da von wer aller eigenſchaft wil ledig ſin, der ms die creaturen laſſen innerlich und uſſerlich, als verre es mit beſcheidenheit beſtat.“ 897 Vgl. z. B. Meister Eckhart: RdU, DW V, Kap. 22, S. 289, Z. 2–5: „Der mensche hât einen vrîen willen, dâ mite er gekiesen mac guot und übel, und leget im got vür in übeltuonne den tôt und in woltuonne daz leben. Der mensche sol sîn vrî und ein herre aller sîner werke und unzerstœret und ungetwungen.“ Auch andere mystische Predigten und Traktate des vierzehnten Jahrhunderts betonen die Ausstattung des Menschen mit einem freien Willen, wobei manche Texte der nacheckhartischen Mystik jedoch dazu neigen, dessen Vorliebe für irdische Dinge hervorzuheben. Exemplarisch sei hier nur eine Stelle aus Tauler-Predigt V 52 (S. 235, Z. 14–17) genannt: „Nu wie hant die ir minne und willen z Gotte gekert die ir herzen mit frijem willen und ir lust kerent z den creaturen, die si wissent das si die stat bekúmbernt do Got inne wonen solte, und im das benement wissentlichen.“ Die prinzipielle Fähigkeit des menschlichen Willens, sich vom Bösen ab- und dem Guten zuzuwenden, bleibt davon jedoch unberührt. 898 Siehe dazu Kap. 2.3.2.3, S. 229–230 mit Anm. 636. Merswins ‚Neun-Felsen-Buch‘ (hg. Strauch) formuliert den Zusammenhang zwischen Auserwählung und Willensfreiheit so, dass die Angleichung an den göttlichen Willen Voraussetzung für die Erwählung ist. Siehe ebd., S. 157, Z. 29–32: „[…] got het nieman usúrwellet denne der sinnen willen dt; ich wil dir sagen, es darf kein
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gar Meister Eckhart ungeachtet seiner klaren Grenzziehung zwischen den natürlichen Seelenkräften und Gott anerkennen muss,899 spielt insbesondere in jenen Texten der nacheckhartischen Mystik eine wichtige Rolle, die in Abgrenzung von der rigorosen Verinnerlichung des Göttlichen in der Lehre des thüringischen Dominikaners die Notwendigkeit der imitatio Christi und damit auch das Verdienstdenken wieder in den Vordergrund rücken.900 Auch der Übergang von der natürlichen in die übernatürliche Ordnung ist innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ anders als bei Augustinus nicht allein auf göttliche Intervention zurückzuführen. Vielmehr kann der geschaffene Wille in Analogie zur Vernunft seine eigene Selbstaufgabe wollen901 und dadurch seine Überformung durch den göttlichen Willen erzwingen oder zumindest positiv beeinflussen.902 Von einem ‚freien‘ Willen, der im augustinischen Sinne ausschließlich frei zum Bösen ist, kann innerhalb der Willenslehre der ‚deutschen Mystik‘ daher nicht die Rede sein. Wie aber geht der ‚Frankfurter‘ mit dem Problem der Willensfreiheit um und in welcher Weise adaptiert er die für den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts signifikante Unterscheidung von ‚freiem‘ und ‚befreitem‘ Willen? Hinsichtlich der Definition der Willensfreiheit lässt sich – ähnlich wie bei der Frage nach Akzeptanz oder Ablehnung des facere quod in se est903 – ein Lavieren
menſche gotte die ſchulde gebben noch den besen geiſten […].“ Damit skizziert der Traktat – wenn auch implizit – eine praedestinatio post praevisa merita (vgl. dazu Kap. 2.3.4, S. 260 und S. 264). Der antipelagianisch ausgerichtete Augustinus dagegen beharrt darauf, dass gute Werke eine Folge der electio seien. Vgl. Kap. 2.3.4, S. 260 mit Anm. 750. 899 Vgl. dazu Kap. 2.3.2.3, S. 229–230. 900 Vgl. dazu Kap. 2.3.2.4. 901 Vgl. z. B. Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 37, S. 277, Z. 427–437: „Das ſechſte ist, daz der menſch númer ſol vſſer ſinem aignen willen leben noch kain werk tn vſſ ſinem fryen willen, mer vſſ dem willen gottes oder ainer perſon an gottes ſtatt. Vnd das behielt den menſchen vor allen vllen der ſúnden, wan der menſch ſúndet allain mit fryem willen. So er denn ſinen willen nit enbte vnd in hett vff gegeben, ſo mht er nit geſúnden. Vnd in dem vffgeben ſins willen in den gttlichen willen ſo wirt der menſch gewitet ze enpfhend alle gttlichen gben, mit den er geſterket wirt, ainem ieglichen ding wider zeſtnd, daz got nit iſt, wan got gbet allain ſinen willen in ns. So wir im gebend nſern kranken willen, ſo git er ns wider vmb ſinen ſtarken mhtigen willen, vnd ſeczet den in ns, daz wir ſtark vnd veſt belibend.“ Siehe auch Tauler: Pr. V 1, S. 11, Z. 21–23: „Du solt dinen wandelberen willen insencken in den gtlichen willen, der unbewegenlich ist, daz diner krangheit geholffen werde.“ Zu weiteren Textstellen siehe Kap. 2.3.4, Anm. 790. 902 Ersteres gilt im Sinne Meister Eckharts, wenn Gott von nôt in den ‚gelassenen‘ Menschen, der seinen Eigenwillen aufgegeben hat, eingehen muss. Letzteres gilt für die Aufstiegslehren der nacheckhartischen Mystik, denen zufolge sich der Mensch in der Christusnachfolge vom Eigenwillen löst, um schließlich als Gottesgeschenk vom göttlichen Willen überformt zu werden. Siehe dazu auch Kap. 2.3.3, S. 256 mit Anm. 735 und 736. 903 Vgl. dazu Kap. 2.3.4, bes. S. 264–265.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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des Traktats zwischen verschiedenen Positionen feststellen, die ihn einerseits der augustinisch-antipelagianischen Lehre annähern, ihn andererseits aber auch in die ‚deutsche Mystik‘ mit ihrer weitaus positiveren Sicht auf die libera voluntas einbinden. So bestimmt der ‚Frankfurter‘ den Willen zumindest an einer Stelle als Dispositionsvermögen, das sich auch ohne göttliches Eingreifen sowohl zum Guten wie zum Bösen entscheiden kann: Auch ist gotis eygen, das er nymant czwinget mit gewalt czu thun ader czu lassen, sundern er lesset eynen itzlichen menschen thun vnd laßen noch seynem willen, eß sey gut ader boße, vnd wil nymant widersteen.904
Eine solche Affirmation des ‚freien‘ Willens lässt eigentlich erwarten, dass dem Menschen die Fähigkeit zugestanden wird, sich aus eigener Kraft auf Gott zuzubewegen – sei es im eckhartischen Sinne durch Selbstaufgabe des Willens oder in Kongruenz mit den Aufstiegslehren der nacheckhartischen Mystik durch Assimilation des eigenen Willens an den göttlichen Willen. Und tatsächlich erweckt die eine oder andere Passage den Eindruck, dass der ‚Frankfurter‘ dem Menschen beide Möglichkeiten moralischer Eigenverantwortlichkeit zusprechen will. Denn hinsichtlich der unio von Gott und Mensch – die er zuvor im Rückgriff auf die traditionelle Fließmetaphorik als Eingehen des geschaffenen Willens in den ewigen Willen beschrieben hat905 – bemerkt er: Vnd auch recht also diß ader das czu disßer eynung nicht gehelffen ader gedynen kan, also ist auch nicht, das eß gehindern ader geyrren mag denn allein der mensch selber mit seynem eygen willen.906
Und selbst die Befolgung der göttlichen Gebote – die der ‚Frankfurter‘ eigentlich den vom ‚göttlichen Licht‘ Erfüllten vorbehält – stellt er zumindest in einer
904 Kap. 33, S. 118, Z. 25–27. 905 Kap. 27, S. 110, Z. 7–12; zitiert in Kap. 2.2.2.2, Anm. 191. Dieses konventionelle Motiv tritt im ‚Frankfurter‘ neben seine spezifische Willenslehre. Siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel, S. 308–312. 906 Kap. 28, S. 111, Z. 20–23. Vgl. auch Kap. 22 (S. 100, Z. 22–29), das in eckhartischer Tradition die Bereitschaft des Menschen, Gott zu empfangen, und die Bereitschaft Gottes, sich dem Menschen mitzuteilen, wechselseitig aufeinander bezieht: „Nv spricht man: Ich bin czu dissem allen sampt nicht bereite, dar vmmb mag eß yn mir nicht gescheen. Vnd also gewynnet vnd findet man eyn entschuldigunge. So antwart man den vnd spricht, das der mensche nicht bereite ist ader wirt, das ist werlich seyne schult. *Vnd hette der mensch anders nicht czu warten *vnd czu schicken, den das er der bereitunge ware neme yn allen dingen, vnnd wie er bereitet wurde yn der warheit. Got solde yn wol bereiten. Vnd got hat also großen fleiß vnd libe vnd ernst czu der bereitunge, also czu dem yngiessen, wen er bereitet were.“
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Passage des 34. Kapitels als vom Menschen zu erbringende Eigenleistung dar, um sich die göttliche Zuwendung zu sichern: Vnd wer do wil, das ym got helffe czu dem besten vnd czu syme besten, der volge gotis rede vnd syner lere vnd gebote, ßo wirt vnd ist ym gehulffen vnd anders nicht.907
Bei genauerem Hinsehen offenbart sich allerdings, dass der ‚Frankfurter‘ die von ihm offerierten Optionen zur Annäherung an Gott unter einen schweren Vorbehalt stellt, nämlich die Negation des Eigenwillens. Denn wie das vorletzte Zitat zeigt, vereitelt dieser die unio, solange er auf seiner Autonomie beharrt und nicht zur Selbstaufgabe bereit ist. Zudem behindert er die Einhaltung des göttlichen Gesetzes. Der Verheißung, dass Gott dem Menschen zu seinem ‚Besten‘ verhelfe, wenn sich dieser nur an dessen Lehren und Gebote halte, geht nämlich eine Passage voraus, welche den Beistand Gottes vorrangig an die Aufgabe des Eigenwillens bindet: Das merck man: Wer dem menschen czu seynem eigen willen hilfft, der hilfft ym czu dem aller bosten. Wan ßo der mensche meher volget vnd czu nympt yn syme eigen willen, ßo er got vnd dem waren gut verrer ist. Nu wolde got dem menschen gerne helffen vnd *yn brengen czu dem, das an ym selber das beste ist vnd ist auch dem menschen vnder allen dingen das beste. Vnd sal das geschee, ßo muß aller eygen wille abe, also vor gesprochen ist, vnd dar czu hette vnd hulffe got dem menschen gerne; wan alle dij wile der mensch syne bestes sucht, ßo sucht er nicht seyne bestes vnnd findet eß auch nymmer. Wann des menschen bestes were vnd ist, das er wider sich noch daz syne suche ader meyne, das leret vnnd redet got.908
In intertextueller Perspektive mag die Forderung des ‚Frankfurter‘ nach Aufgabe des Eigenwillens zwar zunächst konventionell erscheinen, gehört diese doch zu den Grundprämissen der mystischen Prosaliteratur, da sich nur so die Transformation des ‚eigenen‘ Willens zum ‚gelassenen‘ Willen vollziehen kann.909 Im Unterschied zu seinem literarischen Bezugsfeld bedient sich der Traktat hinsichtlich des menschlichen Eigenwillens jedoch eines ‚Jargons der Ausschließlichkeit‘,910 der keinerlei positive Determination der voluntativen Fähigkeiten des
907 Kap. 34, S. 119, Z. 13–15. 908 Kap. 34, S. 119, Z. 7–13. 909 Vgl. etwa Tauler: Pr. V 14, S. 65, Z. 27–29: „Nu merckent, nu ms iemer ein mensche sterben. Wie wollen wir nu disen menschen nemmen oder heissen? Eigenwille oder eigenschaft“; ders.: Pr. V 42, S. 180, Z. 1–2: „Kinder, von disem usgange des eigenen willen dannan von wirt geborn und gat hin us der weseliche fride, der kumet usser der gebter tugent.“ 910 Der Ausdruck ist übernommen von Goris: Die Freiheit, S. 283 u. ö.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
305
Menschen – als zwar defizitär in ihrer Kreatürlichkeit und ihren sündhaften Neigungen, aber dennoch anerkennenswert in ihrem Streben nach dem höchsten Gut911 – zulässt. Eine willentliche Befreiung aus seiner Verstrickung in die Sünde durch Selbstnegation oder Angleichung an den göttlichen Willen ist dem Eigenwillen daher schlechthin unmöglich, wird er doch als per se sündhaft definiert: „Sich, her nach als vor, das alle die willen an gotis willen, das ist aller eygen wille, ist sunde, vnd was vß dem eigen willen geschiet.“912 Eine Aussage wie die folgende aus Rulman Merswins ‚Neun-Felsen-Buch‘ ist daher innerhalb des ‚Frankfurter‘ ausgeschlossen: ich wil dir sagen, welre menſche sine rehthe fúrnúmfthige sinne het, lit der selbe menſche inme garne mit dotsúnden gefangen, so bekennet doch der selbe menſche wol […] das got denne gar barmhercig iſt und imme an ſtette sinne hant búthet und imme uſser demme garne hilfet und den menſchen fúrbas uf fret, ebbe imme der menſche selber mit sime eigin willen folgen wil.913
911 Dieses Streben kann der Wille aus eigener Kraft jedoch nicht erfüllen, da er in seiner kreatürlichen Verfasstheit stets auf das bonum hoc aut hoc ausgerichtet bleibt. 912 Kap. 44, S. 138, Z. 17–18. Die Aussage beendet eine längere Darlegung des ‚Frankfurter‘ zur Opposition von ‚eigenem‘ und ‚göttlichem‘ Willen, die deutlich macht, dass Willensentscheide außerhalb der Einheit von menschlichem und göttlichem Willen unzulässig sind. Die starke Tendenz des Traktats, den Menschen als moralisch eigenverantwortliches Wesen zugunsten seiner vollkommenen Inbesitznahme durch Gott auszuschalten, tritt hier einmal mehr deutlich zutage. Die vollständige Passage lautet (Kap. 44, S. 137, Z. 1–S. 138, Z. 18): „Sjch, nu mocht man fragen: Ist icht wider got vnnd das ware gut? Man spricht: neyn. So ist auch nichts an got, sundern allein wollen anders den der ewige wille wil, vnd das anders gewold wirt den der ewige wil. Das ist wider den ewigen willen. Nu wil der ewige wille, das anders nicht gewollet ader gelibet werde den das ware gut, vnnd wan eß nu anders ist, das ist ym wider. Vnd yn dissem synne ist eß ware: wer an got ist, der ist wider got. Aber yn der warheit, so ist nichts wider got ader wider das ware gut. Man sal also vorsteen, also ab got sprech: Wer an mich wil ader nicht wil als ich ader anders den ich, der wil wider mich. Wan meyn wille ist, das nymant anders wollen sal den ich ader an mich, vnd an mynen willen sal keyn wille seyn. Recht als an mich ist wider weßen noch leben, noch diß ader das, also sold auch keyne wille seyn an mich vnd an mynen willen. Vnnd recht als yn der warheit alle weßen weßenlich eyns synt yn dem volkomen weßen vnd alle gut ein yn dem eynen vnd des glich vnd nicht geseyn mag an das eyne, also sollen alle willen eyn seyn yn dem eynen, volkommen willen vnd kein wille an den eynen. Vnd wo eß anders ist, das ist vnrecht vnd wider got vnd seynen willen, vnd dar vmmb ist eß sunde. Sich, her nach als vor, das alle die willen an gotis willen, das ist aller eygen wille, ist sunde, vnd was vß dem eigen willen geschiet“ [Hervorhebungen L. W.]. Vgl. auch Frankfurter, Kap. 43, S. 135, Z. 35–39: „[…] *was man sunde *nennet vnd ist, das kommet alles do von, das man anders wil den got vnnd das ware gut. Wenne were keine wille den der eyne, ßo geschee nymmer sunde. Vnd dar vmmb mag man wol sprechen, das aller eigen wille sunde sey. Vnd ist anders nicht den alles, das dar auß geschiet.“ 913 Merswin: Neun-Felsen-Buch (hg. Strauch), S. 158, Z. 21–31.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Vorgeprägt findet sich der ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘ in den Predigten Johannes Taulers, die den Eigenwillen ebenfalls durchgängig negativ charakterisieren.914 Allerdings zeigt sich zwischen dem Œuvre des Straßburgers und dem ‚Frankfurter‘ insofern eine diskursive Verschiebung, als Tauler in seine Willenssemantik eine gleichwertige positive Komponente integriert: Als ‚Eigenwille‘ ist der geschaffene menschliche Wille zwar grundsätzlich durch Gottesferne und Hinwendung zu den Kreaturen gekennzeichnet, als ‚Wille‘ jedoch kann er je nach kontextueller Einbettung sowohl negativ als auch positiv konnotiert sein. In ersterem Falle entspricht er dem ‚Eigenwillen‘,915 in letzterem Falle dem auf Gott ausgerichteten ‚guten‘ Willen.916 Der ‚Frankfurter‘ geht teminologisch insofern mit Tauler konform, als auch er beide Begrifflichkeiten verwendet. Ein an Gott assimilierter menschlicher Wille – der dennoch dem Bereich des Kreatürlichen angehört – muss ihm dabei aufgrund seines anthropologischen Pessimismus jedoch fremd bleiben. Vielmehr beharrt er darauf, dass jeder nicht-göttliche Wille sündhaft sei.917 Als guotwillic kann daher nur der vergottete Mensch gelten, der keinen ‚eigenen‘ Willen mehr besitzt.918 Der menschliche Wille als natürliches Seelenvermögen trägt dagegen immer den Makel des Gottesferne – und damit das Kennzeichen des Eigenwillens 914 Exemplarisch sei hier nur eine Passage aus Predigt V 72 (S. 393, Z. 6–12) zitiert: „Wie diser kouflúte alle die welt vol ist under pfaffen und under leigen, geistliche, múnche und nunnen, ach wie ein wite materie daz ist der dem noch solte gon, das menglich vol sines eigenen willen ist, vol, vol, vol! Und dovon siht man das sunderliche dise starcken man, der do wenig ist die sich Gottes underwindend; daz selbe wies leider kleine si, daz selbe sint arme frowen nammen; wanne es stot alles vol naturen, vol eigen willen; und domitte schent sú daz ire in allen dingen.“ Eine Durchsicht der Predigten in der Vetter-Edition hinsichtlich der Auslegung des ‚Eigenwillens‘ ergab, dass dieser ausschließlich eine negative Bewertung erfährt. 915 Vgl. z. B. Pr. V 26, Z. 8–11: „[…] und also herwiderumb in dem selben ougenblicke und in dem n das sich der mensche keret von Gotte z den creaturen mit willen, er si es selber oder welicher kunne die creaturen sint, so alzhant so flúhet der heilige geist und gat enweg mit allem sime richtme und allen sime schatze.“ 916 Vgl. z. B. Pr. V 12, S. 59, Z. 14–16: „Wol ist es wor, ein mensche der sunder dotsúnde ist und in eime heilgen gten willen ist, das er mit núte wolte tn das wider Gottes willen were, der wurt in dem heilgen glouben behalten […]“; Pr. V 22, S. 89, Z. 12–19: „Der mensche ms von not ufgon mit allen sinen kreften und sime gemte in die hocheit der ewikeit úber alle dise nidern geschaffenen ding […]. Disen ufgang den leit der wille, wanne der mag rechte gebieten allen den kreften, also ein fúrste gebútet in sime lande und ein wurt in sime huse. Diser fúrste der sol den menschen allezit uftriben úber alle dise ding.“ 917 Deshalb ist jedes Werk des natürlichen Willens schlecht, auch wenn es äußerlich dem göttlichen Willen entspricht. Vgl. Kap. 2.3.2.3, S. 230–231. 918 Kap. 33, S. 117, Z. 1–2: „HIr noch volget, das yn eyme vorgotten menschen die libe ist luter vnd vnvormischet vnd gutwillig czu allen vnd czu allen dingen.“ Es handelt sich hier um die einzige Stelle im ‚Frankfurter‘, wo der Begriff guotwillic Verwendung findet.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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schlechthin – in sich. Mit anderen Worten: ‚Wille‘ und ‚Eigenwille‘ sind im ‚Frankfurter‘ miteinander identisch. Und selbst jene vereinzelten Stellen, an denen eine affirmative Wertung des Willens aufscheint, büßen ihren positiven Aussagegehalt wieder ein, sobald sie im Zusammenhang mit der eigentümlichen Dependenzlehre des Traktats betrachtet werden.919 Damit bedient sich der ‚Frankfurter‘ des ‚Jargons der Ausschließlichkeit‘ in doppelter Hinsicht: einmal, indem er den ‚eigenen‘ Willen grundsätzlich negativ bestimmt, und darüber hinaus, indem er neben dem Eigenwillen kaum Raum für eine weitere Willenssemantik bietet. Der Grund für diese Aversion gegen den Willen liegt in dessen fester Verankerung in der – vom ‚Frankfurter‘ konsequent diabolisierten – menschlichen Natur begründet, von der ihm keine Emanzipation möglich ist.920 Damit aber steht das menschliche Wollen innerhalb des Traktats unter Voraussetzungen, welche die punktuelle Definition des Willens als Dispositionsvermögen eher als Reminiszenz an den ‚mystischen Normaldiskurs‘ denn als durchgängig gültige Aussage zu einer Grundkonstante des Menschseins erscheinen lassen.921 Als
919 Insbesondere gilt dies für die Bewertung der Seelenkräfte in Kap. 51, S. 144, Z. 16–18: „Das aller edelste vnd lustigiste, das yn allen creaturen ist, das ist bekentniß ader vornunfft vnd wille.“ Vgl. dazu vor allem Kap. 3.3.1, S. 342–343, aber auch die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel, S. 308–312. 920 In den Synonymreihen, die seine theologische Anthropologie prägnant zusammenfassen, behauptet der ‚Frankfurter‘ die Identität von Teufel, Sünde, Natur und Eigenwille. Vgl. Kap. 2.2.2.1, S. 117 und Kap. 2.3.1, S. 198. Tauler dagegen erkennt die Fähigkeit des Willens an, sich gegen die durch die Erbsünde bedingte Schwäche der Natur zu richten. Deshalb ist der Wille dazu in der Lage, auch gegen die natürliche Neigung des Menschen zur Bequemlichkeit dem göttlichen Gebot der ‚willigen Armut‘ zu folgen. Vgl. Pr. V 8, S. 36, Z. 33–S. 37, Z. 2: „Aber obe wol die krancke nature herwieder ist, do lit nút an, so der wille herz bereit ist.“ Allerdings zeichnet sich schon bei Tauler die Tendenz zu jener Substantialisierung der Fehlorientierung des Willens ab, die dann für den ‚Frankfurter‘ bestimmend sein wird. So spricht er nicht nur vom ‚Eigenwillen‘, sondern analog zur annemlicheit (vgl. dazu Kap. 2.3.1, S. 193–195) von der eigenwillecheit, um deren Verankerung in der menscheit zu signalisieren (vgl. Pr. V 8, S. 30, Z. 1; Pr. V 42, S. 184, Z. 5; Pr. V 44, S. 194, Z. 6; Pr. V 45, S. 196, Z. 1). Der ‚Frankfurter‘ verwendet die Termini eigenwille und eigenwillecheit in der Synonymreihe des 43. Kapitels (S. 137, Z. 95) nebeneinander und verweist damit auf ihre – bei Tauler so noch nicht gegebene – Konvertibilität. 921 Am deutlichsten verweisen die weiter oben (S. 303) zitierten Zeilen aus dem 33. Kapitel auf den Willen als Dispositionsvermögen. Allerdings bindet der ‚Frankfurter‘ die Aussage, dass Gott sich keinem menschlichen Handeln – sei dies nun gut oder böse – widersetze, sofort wieder in seinen spezifischen Entwurf des Gott-Mensch-Verhältnisses ein. Denn keineswegs werden hier die Kapazitäten des freien Willens diskutiert. Vielmehr geht es um die absolute Gewaltfreiheit des vergotteten Menschen, wie Christus sie exemplarisch verkörpert hat. Der ‚Frankfurter‘ legt dar, dass Gott keinem Menschen Widerstand leisten wolle und führt als Beispiel Christus an, der sich gegen seine Angreifer nicht zur Wehr setzte und dies auch Petrus verboten habe. Genauso wenig wie Christus könne ein vergotteter – also vollkommen von Gott erfüllter – Mensch anderen
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
solche Basisbestimmung erweist sich vielmehr die vom ‚Frankfurter‘ immer wieder behauptete Fehlorientierung des Willens,922 dem aufgrund seiner einseitig negativen Determination als ‚Eigenwille‘ weder im Streben nach dem ‚Besten‘ noch im ‚Sich-Lassen-Wollen‘ die Annäherung an Gott gelingen kann.923 Als vorläufiges Fazit ist festzuhalten, dass der ‚Frankfurter‘ hinsichtlich seiner Willenslehre den ‚mystischen Diskurs‘ zwar nicht endgültig verlässt, seine affirmativen Aussagen zu einer heilsrelevanten moralischen Kompetenz des ‚freien‘ Willens jedoch jenen Äußerungen unterordnet, die sich auf die naturhafte Fehlorientierung des Willens beziehen. In dieser Hinsicht gleicht der Traktat seinen Willensbegriff jenem in den augustinisch-antipelagianischen Schriften an.924 Seine Identifikation des Eigenwillens mit Teufel, Sünde und Natur925 überschreitet jedoch den augustinischen Horizont, weil eine gnadenhafte Heilung des Willens damit zumindest implizit ausgeschlossen wird.926 Überdies zeigt der Umgang des ‚Frankfurter‘ mit der Doppelbestimmung des Willens als ‚freier‘ und ‚befreiter‘ Wille, dass er sich hier weit von der augustinisch-antipelagianischen Lehre, aber ebenso weit von den Auslegungen dieses
Menschen Leid zufügen (vgl. dazu auch Kap. 3.3.1, S. 347–348). Die Passage zielt also auf eine Charakterisierung des homo divinus, nicht auf eine Bestätigung der freien Entscheidungsfähigkeit des natürlichen Willens. Die bereits zitierte Textstelle sei hier deshalb noch einmal im Zusammenhang wiedergegeben (Kap. 33, S. 118, Z. 25–34): „Auch ist gotis eygen, das er nymant czwinget mit gewalt czu thun ader czu lassen, sundern er lesset eynen itzlichen menschen thun vnd laßen noch seynem willen, eß sey gut ader boße, vnd wil nymant widersteen. Das merckt man aber yn Cristo, der wolde synenn vbelthetern nicht widerstan ader werenn. Vnd do yn sente Peter weren wold, do sprach Cristus: ‚Petre, stecke dein swert wider yn, wan mit gewalt widersteen vnnd weren vnd czwingen gehoret mir nicht czu noch den meynen‘. Auch mag ein vorgotter mensch nymant besweren *vnd betruben, das meynet also vil, yn seynem willen ader begirde ader yn seyner meynunge kumpt nymmer czu thun ader czu laßen, czu reden ader czu swigen, keynen menschen czu *leide ader czu betruben.“ 922 Siehe dazu oben, Anm. 912 und 917. Vgl. ferner Kap. 2.3.1, S. 200 sowie Kap. 2.3.4, S. 269 mit Anm. 790. 923 Vgl. auch Kap. 2.3.4, S. 269 mit Anm. 788. 924 Sicherlich ist Mossman recht zu geben, wenn er hinsichtlich der Auslegung von Willensfreiheit im ‚Frankfurter‘ schreibt, dass diese „nichts mit der Freiheit des Willens im klassischen, augustinischen Sinne zu tun hat, wonach der Mensch zwischen Alternativen wählen darf“ (Die Konzeptualisierung, S. 337). Mossman dürfte hier aber an jenen Augustinus denken, der in seinen Schriften das christlich-spätantike Ideal des Weisen vertritt (siehe auch oben, Anm. 882), nicht an den doctor gratiae, der erst seit 397 n. Chr. (mit den Quaestiones ad Simplicianum) in Erscheinung tritt und dessen Lehre die antipelagianischen Schriften bestimmt. 925 Siehe oben, Anm. 920. 926 Denn ist der Wille ebenso wie die Natur nicht nur mala, sondern ein malum (siehe zu dieser ursprünglich augustinischen Terminologie Kap. 2.3.1, S. 185), dann bedeutet die Beseitigung der ihm innewohnenden Verderbnis notwendigerweise seine Vernichtung.
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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augustinischen Motivs in der zeitgenössischen mystischen Prosaliteratur entfernt. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht vor allem das 51. Kapitel, auf das sich die folgenden Ausführungen beziehen werden. Wie Augustinus, aber auch wie zahlreiche andere Texte des paradigmatischen Korpus unterscheidet der ‚Frankfurter‘ zwei Ebenen des Willens: nämlich den Willen als natürliches Seelenvermögen – das er, wie gesehen, negativ beurteilt – und den durch göttliche Intervention geadelten Willen. Terminologisch fasst er diese Opposition in Übereinstimmung mit dem ‚Buch geistlicher Armut‘927 als jene von ‚Eigenwillen‘ und ‚gelassenem‘ Willen: Vnnd wo das geschee, das der wille *got also gar gelaßen were, da wurde das ander alczumal gelassen vnnd da bequeme sich got alles des seynen vnd der wille were nicht eygen wille.928
Den beiden Willensebenen werden zwei gegenläufige Freiheitsbegriffe zugeordnet: Während dem ‚gelassenen‘ Willen „eyne ware, gotlich freiheit auß eyme waren, gotlichen lichte“ entspricht,929 bleibt dem ‚Eigenwillen‘ in seiner Verirrung nur „eyn naturlich, vngerecht, falsch, betrogen tufels freiheit auß eim naturlichen, falschen, betrogen lichte“.930 Entsprechend dem ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘ ist der durch eigenschaft gekennzeichnete Eigenwille931 also nur zum Bösen frei – eine Reminiszenz an die augustinische Willenslehre. Der ‚gelassene‘ Wille dagegen ist von jeder ‚Ich‘-Sucht und damit von allem falschen Begehren befreit. Entscheidend für das diskursive Innovationsmoment, das die Willenslehre des ‚Frankfurter‘ hinsichtlich des ‚doppelten‘ Willensbegriffs kennzeichnet, ist indessen nicht seine Terminologie, sondern seine Begründung für die Verworfenheit des Eigenwillens und damit einhergehend seine theologisch-anthropologische Deutung des ‚gelassenen‘ Willens. Diese spezifische semantische Auslegung der beiden Willensebenen wirft zudem ein zusätzliches Schlaglicht darauf, warum der menschliche Wille im Kontext des ‚Frankfurter‘ dem ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘ unterworfen ist. Im Verständnis des ‚Frankfurter‘ erwächst die Sündhaftigkeit des Eigenwillens nicht etwa aus dessen kontinuierlich falschem Gebrauch durch den Menschen, sondern daraus, dass der Mensch ihn überhaupt gebraucht. Der Terminus ‚Eigenwille‘ bringt daher kein moralisches Defizit des natürlichen Willens zum Ausdruck – das durch göttliches Eingreifen, vielleicht auch durch menschliche 927 928 929 930 931
Siehe oben, Anm. 895. Kap. 51, S. 145, Z. 59–61. Kap. 51, S. 147, Z. 110–111. Ebd., Z. 111–112. Ebd., Z. 112–113: „Were nicht eygen wille, so were kein eygenschafft.“
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
Eigenanstrengung geheilt werden könnte –, sondern verweist auf eine grundsätzliche Fehlkonstruktion des Menschen. Denn dieser ist zwar mit einem ‚freien‘ Willen ausgestattet, der „wircklich vnd wollende“932 ist und damit das in ihm angelegte Potenzial seiner natürlichen Bestimmung gemäß in Tätigkeit umsetzt.933 Da dieses Wirken und Wollen jedoch dem Menschen zu eigen ist, kostet es den Willen nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ seine Freiheit und verkehrt den ursprünglich ‚freien‘ in einen sündhaften Willen. In den Worten des Traktats: Was frey ist, das ist nymants eigen, vnd wer das eygen macht, der thut vnrecht. Nu ist vnder aller freiheit nichts also frey als der wille, vnd wer den eygen macht vnd lisset yn nicht an seyner edeln freiheit vnd yn synem freyen adel vnd yn seyner freyen art, der thut vnrecht. Das thut der teufel vnd Adam vnd alle yr nochvolger.934
Keinen Zweifel lässt der Traktat daran, dass es sich bei dem so bestimmten Eigenwillen um den geschaffenen Willen handelt, über den der Mensch jedoch unrechtmäßig verfüge: Sich, also hat got willen geschaffen, aber nicht, das er eigen sal seyn. Nu kumpt der tufel vnd Adam, das ist die falsch natur, vnd nympt dissen willen an sich vnd macht yn yr eigen vnnd nutzet yn czu yr selber, czu dem yren.935
Dass jeder Gebrauch des Willens durch den Menschen bzw. durch die ‚falsche Natur‘ diesen als ‚Eigenwille‘ disqualifiziert, erklärt den ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘ in der Willenslehre des ‚Frankfurter‘. Wie aber bestimmt der Traktat im Gegenzug den wahrhaft ‚freien‘ bzw. ‚gelassenen‘ Willen? Die bereits zitierten Passagen lassen darauf schließen, dass der ‚Frankfurter‘ im Unterschied zu anderen mystischen Prosatexten nicht geschaffenen und göttlichen Willen kontrastieren will. Vielmehr differenziert er zwischen ‚angenommenem‘ und ‚freiem‘ geschaffenen Willen. Da die propria operatio des geschaffenen Willens das Wollen ist,936 muss dieses demnach auch im ‚gelassenen‘ Willen erhalten bleiben. Und so erläutert der ‚Frankfurter‘:
932 Ebd., S. 144, Z. 33–34. 933 Denn ein Wille ohne die Tätigkeit des Wollens würde seine propria operatio nicht ausführen und damit gegen die Naturordnung verstoßen. Siehe dazu Kap. 3.2.3, S. 337. 934 Kap. 51, S. 146, Z. 80–84. 935 Kap. 51, S. 145, Z. 61–65. 936 Als nach außen gerichtete Tätigkeit, die sich auf unterschiedliche – ihrer Erreichung noch harrende – Ziele ausrichtet. Der göttliche Wille dagegen ist – jedenfalls im Verständnis Meister Eckharts und der auf ihn folgenden mystischen Prosatexte – deshalb vollkommen, weil er kein außerhalb seiner selbst liegendes telos hat. Daher ist der göttliche Wille wesenhaft selbstreflexiv. Vgl. Enders: Die Reden der Unterweisung, S. 76. Der ‚Frankfurter‘ beschreitet in seiner Metaphysik
2.3 Augustinisch-antipelagianische Aspekte des mystischen Diskurses
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Auch sal man mercken: Jn welchem menschen der wille seyner freiheit gebrucht, da hat her syne eygen wergk, das ist wollen, vnnd do wil er, was er wil, vngehindert, ßo wil er auch das edelste vnd das beßte yn allen dingen. Vnd alles, das nicht edel vnd gut ist, das ist ym widder vnnd ist ym jammer vnd clage. Vnnd ßo der wille ye freyer ist vnd vngehindert, ßo ym vngut, vnrecht, boßheit, vntogent vnd alles, das man sunde heisset vnd ist, wers thut vnd großer jammer vnd clage ist. Das merck man by Cristo.937
Der hier beschriebene, vom Kardinallaster des ‚Annehmens‘ befreite Wille trägt als wollender zwar immer noch das Signum des Geschöpflichen in sich, ist aber von jeglicher Selbstbezogenheit als Kennzeichen des Eigenwillens geläutert. Vielmehr erscheint er als absolut dem Guten zugeneigter, unter der Sünde leidender, gottkonformer Wille, der im Mensch gewordenen Christus seinen vollkommenen Ausdruck gefunden hat.938 Eine solche Restitution der ursprünglichen Freiheit des geschaffenen Willens ist nur unter der Bedingung möglich, dass sich dieser nicht mehr in der Verfügungsgewalt des Menschen, sondern in derjenigen Gottes befindet. Zwar bleibt er in seinem Wollen bestehen und erfährt die Freude der Erfüllung und den Schmerz der Nichterfüllung. Auch dient ihm als ‚Ort‘ seines Wirkens weiterhin der Mensch. Dennoch ist er in den Besitz Gottes übergegangen, so dass es nicht mehr der Mensch selbst ist, der will, sondern stattdessen der Gott in ihm: Vnd yn dem menschen were vnd blibe lib vnnd leyd, wol vnd we vnd des glich. Wan do wille willliglichen will, da ist lip vnnd leyd, wol vnd we vnd des glich. Wan do wille williglichen wil, da ist lip ader leid. Wan ist eß, als der wille wil, so ist eß lieb, vnd was anders *wil, den der wille wil, das ist leid. Vnd diß lip vnd leid ist nicht des menschen, sunder gotis, wan wes der wille ist, des ist auch lip vnnd leid. Nu ist der wille nicht des menschen, sunder gotis, dar vmmb ist das lip vnd leid auch seyn, vnd da wirt nicht geclaget den alleyne, das wider got ist. So wirt auch keyne freude do dan allein von gote vnd von dem, das gotis ist vnd ym czu gehoret.939
Damit präsentiert der ‚Frankfurter‘ eine durchaus bizarre Auslegung des wahrhaft ‚freien‘ Willens. Anders als bei Augustinus handelt es sich nicht um einen durch
jedoch eigene Wege. Siehe dazu die folgenden Ausführungen in diesem Kapitel sowie Kap. 3.3.1, S. 345–346. 937 Kap. 51, S. 146, Z. 95–101. 938 Vgl. auch die Fortsetzung der Textpassage (ebd., Z. 101–106): „Yn dem [Christus] was der aller freyste, vngehinderste vnd vngeeygenst wille, der yn keynem menschen ye wart ader ymmer wirt. So was auch Cristus menscheit die aller freiste vnd ledigst creatur, vnd was doch die großte clage vnnd jammer vnd leiden vmmb sunde, das ist vmmb alles das, das wider got ist, das yn keyner creatur geseyn mag.“ 939 Kap. 51, S. 145, Z. 48–57.
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2 Augustinus im ‚Frankfurter‘?
göttliches Eingreifen zum Guten befähigten Willen, der aber in der Verfügungsgewalt des Menschen belassen wird. Abweichend von anderen mystischen Prosatexten konzipiert der Traktat den ‚gelassenen‘ Willen jedoch auch nicht als ganz in Gott aufgegangenen Willen, der in der unio allem Kreatürlichen – auch der Tätigkeit des Wollens – enthoben ist.940 Stattdessen ist der Wille dadurch zum Guten befreit, dass sein Wirken von Gott übernommen wird, der so in den Bereich des Geschöpflichen eindringt. Verständlich wird diese sehr spezielle Auslegung der Unterscheidung von ‚freiem‘ und ‚befreitem‘ Willen im Rahmen der Dependenzlehre des ‚Frankfurter‘, die weiter unten erläutert werden wird. Um diesen Ausführungen nicht vorzugreifen, sei hier abschließend nur bemerkt, dass der ‚Frankfurter‘ aufgrund bestimmter metaphysischer Prämissen eine Wirkunfähigkeit Gottes postuliert, die diesen in Abhängigkeit vom Menschen bringt. Denn um sein Wirk-Defizit auszugleichen, muss Gott von den natürlichen Seelenkräften des Menschen – insbesondere vom Willen – Besitz ergreifen: „Dar vmmb sold die creatur mit dem selben willen nicht wollen, sunder got sold vnd wold wollen wircklichen mit dem willen, der yn dem menschen ist, vnd doch gotis ist.“941
940 Vgl. oben, Anm. 890, das Zitat aus dem ‚Buch der Wahrheit‘. 941 Kap. 51, S. 145, Z. 42–44. Zur Einbettung dieses Zitats in den Kontext der Dependenzlehre siehe Kap. 3.3.1, S. 346.
3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘ 3.1 Vorbemerkungen Inspiriert von Martin Luthers Wertschätzung des ‚Frankfurter‘ als Dokument einer ‚wahren‘ Theologie in der Volkssprache hat der erste Teil dieser Arbeit jene Transformationen innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ nachgezeichnet, die von einer zunehmenden Öffnung der nacheckhartischen Mystik für augustinisch-antipelagianische Positionen zeugen. Aufgrund seines durchgängig negativen Naturbegriffs und seiner Ablehnung der von Meister Eckhart grundgelegten augustinischen Spiritualität schlagen sich diese diskursiven Verschiebungen im ‚Frankfurter‘ in einer Intensität nieder, die es Luther erlaubt, den theologischen Wert des Traktats unmittelbar mit jenem der augustinischen Werke und der Heiligen Schrift zu vergleichen. In einer zweiten, ebenfalls von Luthers Votum über den ‚Frankfurter‘ angeregten Perspektive soll nun – wiederum unter ständiger Berücksichtigung seiner paradigmatischen Achse – die Metaphysik des Traktats analysiert werden. Denn die schroffen Äußerungen der Schrift zur Gottesferne der natura humana, deren Streben nach dem höchsten Gut stets in die Irre geht, sind auf syntagmatischer Ebene verzahnt mit Aussagen über Gott, die nur auf den ersten Blick einen konventionellen Eindruck machen. Tatsächlich implizieren sie eine Depotenzierung des Schöpfers, die Luthers Beurteilung des ‚Frankfurter‘ als opus theologicissimum zumindest vor dem Hintergrund mystischer ‚Normaltheologie‘ massiv in Frage stellt. Dass die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘ zunächst wenig dazu geeignet erscheint, das philosophisch-theologische Eigenprofil des Traktats herauszuarbeiten, verdankt sich vorrangig seiner Identifikation Gottes mit dem Einen bzw. Guten schlechthin,1 dessen Erhabenheit über alles Geschaffene jeglicher Katego-
1 Das Eine und das Gute sind die vom ‚Frankfurter‘ bevorzugten Transzendentalbegriffe zur Bezeichnung Gottes. Siehe dazu auch Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 24–27. In der Tradition Meister Eckharts (vgl. etwa Aertsen: Der ‚Systematiker‘ Eckhart, bes. S. 222) unterscheidet der Traktat zwischen dem Guten schlechthin und ‚diesem oder jenem Guten‘, das die ratio des Kreatürlichen in sich trägt. Siehe z. B. Kap. 32, S. 115, Z. 1–S. 116, Z. 11: „Nv sal man mercken: Got als er gut ist, so ist er gut als gut vnd ist wider diß gut noch das gut. Hie mercke aber etwas. Sich, was *etwo ist, hie ader da, das ist nicht an allen enden vnnd vber alle ende vnd stete. Vnd was etwan ist, hute ader morgen, das ist nicht alwege vnd alle czit vnd vber alle czit. Vnde was etwas ist, dis ader das, das ist nicht alle vnd vber alle. Sich, were nu got etwas, diß ader das, ßo were er nicht alle vnnd vbir alle, als er ist, vnd ßo were er nicht die ware volkommenheit. Vnd dar vmmb ist got vnd ist doch wider diß nach das, das creatur als creatur bekennen ader genennen, gedencken ader gesprechen mag. *Dar vmmb were got, als er gut ist, *diß gut ader das gut, ßo were er nicht alles gut vnd vbir
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
rialisierung und damit den eingeschränkten menschlichen Erkenntnismöglichkeiten entzogen ist – eine Aussage, die den ‚Frankfurter‘ fest in den ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts einbindet.2 Sobald jedoch die existentielle Dimension der Gotteslehre in den Blick tritt, beginnt sich diese Konformität mit dem paradigmatischen Textkorpus aufzulösen. Denn die ausgedehnten Erläuterungen zur Dreieinheit Gottes, die zum Standardrepertoire der nacheckhartischen Mystik gehören – auch vornehmlich seelsorgerlich ausgerichtete Schriften wie die Predigten Johannes Taulers oder die Heinrich Seuse zugeschriebene Vita des ‚Dieners der ewigen Weisheit‘ verzichten nicht auf solche Theorieelemente‘3 –, zielen kaum auf die Befriedigung eines akademisch-wissenschaftlichen Interesses ohne konkreten Lebensbezug. Vielmehr sind sie in erster Linie darauf ausgerichtet, die Möglichkeiten und Bedingungen einer ‚Vergegenwärtigung des Heils‘,4 d. h. einer Überwindung der unfassbar großen Distanz von Schöpfer und Geschöpf, intellektuell zu durchleuchten. Die Etablierung einer positiven Beziehung zwischen dem einen, in majestätischer ‚Abgeschiedenheit‘5 verharrenden Gott und seiner in Vielheit zerfallenen, der Nichtigkeit unterworfenen Schöpfung gelingt im Rekurs auf zwei christliche
alles gut, vnd ßo were er nicht das einfeldig vnd volkumen gut, das er doch ist.“ Zur Konvertibilität des Guten mit dem Einen siehe Kap. 43, S. 135, Z. 13–22: „Wan yn dissem waren licht vnd yn dißer warer liebe ist ader blibet weder ich noch meyne, mir, du, deyne vnd des glich, sundern das lichte bekennet vnnd wisßet eyn gut, das alle gut vnd vber alle gut ist, vnd alle gut eyns synt weßenlich yn dem eynen, vnnd an das eyne kein gut ist. Vnnd dar vmmb wirt auch nicht da gemeynet diß ader das, ich noch du ader des gleich, sunder alleine das eyne, das wider ich noch du, diß ader das ist, sunder eß ist vber alle ich vnd du, diß vnd das, vnd yn dem wirt alles gut gelibet als eyn gut, als man spricht: alles yn eyme als eyne vnd eyn yn allem als alle, vnd eyn vnd alle gut gelibet durch das eyne yn dem eynen vnd dem eynen czu libe von der libe, die man czu dem eynen hat.“ Von einer kohärenten Transzendentalienlehre kann im ‚Frankfurter‘ indessen nicht die Rede sein. Der Identifikation der Transzendentalien mit Gott stehen Aussagen gegenüber, die das Gute ebenso wie die anderen allgemeinen Vollkommenheiten dem Bereich des Geschaffenen zuweisen. Siehe vor allem Kap. 6, S. 77, Z. 13–17. Siehe zu der gleichen Position Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 73, Z. 474–S. 74, Z. 479. 2 Vgl. auch Kap. 1.2.2, S. 37. 3 Siehe in der ‚Vita‘ vor allem die sogenannten ‚spekulativen Lehrkapitel‘, d. h. die Kapitel 46–52 (hg. Bihlmeyer, S. 155–190). Dass die theoretischen Ausführungen dieser Kapitel erst am Schluss der Lebensbeschreibung des ‚Dieners der ewigen Weisheit‘ stehen, hat seinen guten Grund: Sie sind dem vollendeten Menschen vorbehalten, der zur ‚Unterscheidung der Geister‘ in der Lage ist, also die bleibende Grenze zwischen seiner geschaffenen Vernunft und der ungeschaffenen göttlichen Vernunft anerkennt. Dass der ‚Frankfurter‘ dem ‚natürlichen Licht‘ eine solche Fähigkeit zur discretio abspricht, wurde weiter oben bereits erläutert. Siehe Kap. 2.3.2.3, S. 231 mit Anm. 641. 4 Ausdruck nach Goris: Die Vergegenwärtigung des Heils. 5 Siehe zu diesem Begriff die Ausführungen weiter unten, Kap. 3.2.1, S. 318–319.
3.1 Vorbemerkungen
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Dogmen: die trinitarische Selbstentfaltung des absolut einfachen göttlichen Wesens, in der sich Gott den Kreaturen zuneigt, und die Inkarnation der zweiten göttlichen Person, da die Menschwerdung des Sohnes Ermöglichungsgrund für die Gottwerdung des Menschen ist. Die berühmte athanasische Tauschformel – in der Formulierung Meister Eckharts: „Wan als daz wâr ist, daz got mensche worden ist, als wâr ist daz, daz der mensche got worden ist“6 – hat daher auch in die mystische Predigt- und Traktatliteratur Eingang gefunden.7 Nun verlässt der ‚Frankfurter‘ aber gerade hinsichtlich dieser beiden Grundtheoreme den mystischen ‚Normaldiskurs‘, indem er die trinitarische Dynamik ebenso negiert8 wie die Erlösungskraft der Inkarnation Christi.9 Damit vergibt er – anders als Meister Eckhart und dessen literarische Nachfolger – die Möglichkeit, die Hinwendung Gottes zu seinem Geschöpf und die damit korrelierende Gottbezogenheit des Menschen als gegenseitiges Bejahungsverhältnis zu konzipieren, das in seiner metaphysischen Fundierung sogar über den schöpfungstheologischen Optimismus scholastischer Theologieentwürfe, etwa eines Thomas von Aquin, weit hinausweist:10 Denn mit der trinitarischen Dynamik und der inkarnatorischen Adelung der menschlichen Natur verbinden sich innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ – zumal in den volkssprachlichen Predigten und Traktaten – all jene Aspekte augustinischer Spiritualität, die für eine vollständige oder weitestmögliche Aufhebung der Trennung von Gott und Mensch einstehen: die im intimum animae verankerte ontologische Gottebenbildlichkeit, der Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund und die Sohnwerdung des Menschen.11 Konsequenterweise wird dieses Fehlen einer intim-personalen Ausgestaltung der Gott-Mensch-Beziehung im ‚Frankfurter‘ begleitet und ergänzt durch seinen 6 Meister Eckhart: Pr. Q 46, DW II, S. 380, Z. 5–S. 381, Z. 1. 7 Vgl. etwa Blume der Schauung (hg. Ruh), welche die (verkürzt wiedergegebene) Formel Augustinus zuschreibt: „Set, vnd diz geschach alliz in dem einen ougenblike, vnd hirume sprichet Sant Augustinus, daz man werlichen sprechen mac, der mensche ist got, vnd got ist der mensche.“ Ebd., S. 46, Z. 119–S. 47, Z. 122. Die Zuweisung der Formel an Augustinus ist durchaus berechtigt. Vgl. ders.: trin. I, 13, 28 (LLT-A): „talis enim erat illa susceptio quae deum hominem faceret et hominem deum.“ Zwar ist das Axiom in der gesamten patristischen Literatur belegt, besonders häufig tritt es jedoch bei Athanasius auf. Vgl. auch Schönborn: Über die richtige Fassung, S. 3, Anm. 1. 8 Vgl. Kapitel 2.2.2.2, S. 124–125 und S. 131–132 sowie die nachfolgenden Kapitel 3.2.1 und 3.2.2. 9 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3. Zur Bedeutung der vita Christi innerhalb des ‚Frankfurter‘ siehe ferner Kap. 2.2.2.3. 10 Nach Thomas ist jeder Mensch in seinem Streben auf Gott ausgerichtet und kann durch vernunftgemäßes Handeln zumindest die beatitudo imperfecta des irdischen Daseins erreichen. Die jenseitige beatitudo perfecta bleibt ihm aufgrund der Angewiesenheit seiner Erkenntnis auf die Sinneswahrnehmung jedoch während seines Erdenlebens verschlossen. 11 Siehe dazu ausführlich Kap. 2.2.2.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
anthropologischen Pessimismus, der in der ebenso nachdrücklichen wie aus christlich-orthodoxer Perspektive unverantwortlichen Gleichsetzung von Teufel, Sünde und Natur kulminiert und damit jede Christologie unterdrückt, die auf einer Erlösung der natura hominis durch Inkarnation und Kreuzestod besteht. Die Etablierung eines Naturbegriffs, der die gestürzte menschliche Natur als vollständige Natur auslegt und in der Figur Adams als dem immer schon Gefallenen eine sinnfällige Verkörperung findet,12 entspricht daher der theologischen Anthropologie des ‚Frankfurter‘, die zwar auch eine Soteriologie integriert, diese jedoch nicht in der Menschwerdung Christi fundiert.13 Da der Traktat als metaphysische Prämissen für die Reduktion oder Überwindung der Distanz von Schöpfer und Geschöpf weder die trinitarische Selbstentfaltung Gottes noch die Inkarnation Christi geltend machen kann, müsste er hinsichtlich seiner Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses eigentlich komplett aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ herausfallen. Die von ihm behauptete Gottesferne des Menschen hindert ihn jedoch keineswegs daran, an der Möglichkeit einer Einswerdung von Gott und Mensch und damit am Proprium des ‚mystischen Diskurses‘ festzuhalten. Der ‚Frankfurter‘ konzipiert die unio – zumindest in den ihm eigentümlichen Äußerungen dazu14 – allerdings so, dass sie die genuine Fremdheit von Gott und Mensch nicht aufhebt. Zum einen präsentiert er in einer thematischen Serie von drei Kapiteln seine Lehre von der Begegnung des Menschen mit dem ‚Einen‘ bzw. ‚Vollkommenen‘ in der Seele, dessen Statik und Abstraktheit jedoch die unberührbare Andersheit Gottes bestätigt, anstatt sie zu nivellieren.15 Daneben vertritt der Traktat noch ein weiteres, wesentlich spektakuläreres unio-Konzept, welches auf seiner Gotteslehre beruht, die in einer Schlüsselstelle des 31. Kapitels spekulativ entfaltet wird. Dieses Konzept, welches im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird,16 scheint die gerade vorgebrachte These von der Aufrechterhaltung des Fremdheitsmoments auch in der unio zunächst ad absurdum zu führen, hebt es doch die Distanz von Gott und Mensch in geradezu dramatischer Weise auf: Es zielt nämlich nicht nur auf eine Vergottung des Menschen, sondern komplementär dazu auch und vor allem auf eine Vermenschung Gottes. Die für mystische Texte grundlegende existentielle Dimension
12 Siehe oben, Kap. 2.3.1, bes. S. 185–187. 13 Siehe dazu auch Kap. 3.3.2.3, bes. S. 368–377. 14 Zu den Divergenzen des ‚Frankfurter‘, die sein spannungsvolles Verhältnis zu anderen Repräsentanten des ‚mystischen Diskurses‘ begründen, gehört auch das Nebeneinander von innovativen und eher konventionellen Formulierungen der unio. Vgl. Kap. 1.2.3, S. 52. 15 Siehe oben, Kap. 2.2.2.2, S. 120–125. 16 Siehe Kap. 3.2 und 3.3 (jeweils mit Unterkapiteln).
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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ihrer Gotteslehre wird im ‚Frankfurter‘ demnach keineswegs aufgegeben, sondern erfährt ganz im Gegenteil eine Doppelung: Denn in der unio wird nicht nur das menschliche, sondern auch das göttliche Dasein grundlegend transformiert. Dass die genuine Fremdheit von Gott und Mensch in diesem alle Grenzen sprengenden Einheitsvollzug dennoch erhalten bleibt, liegt im ‚göttlichen Autismus‘ begründet,17 der statt auf eine Erhebung der menschlichen Seele in die Sphäre des Göttlichen vorrangig auf eine Okkupation aller physisch-psychischen Lebensvollzüge des Menschen zielt.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘ 3.2.1 ‚Gott als Gottheit‘: das Problem absoluter Unbezogenheit des Göttlichen Im 31. Kapitel unternimmt der ‚Frankfurter‘ den singulären Versuch, sein eigentümliches unio-Konzept auf dessen metaphysischen Hintergrund hin zu durchleuchten. Dies geschieht in einer dreifachen Perspektivierung des Göttlichen, die terminologisch von Meister Eckhart inspiriert und deshalb innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ verankert ist. Im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Traktaten und Predigten zeigt sich allerdings, dass die begriffliche Übereinstimmung eine „Nicht-Identität des Identischen“18 in sich birgt, die dem philosophischtheologischen Eigenpotenzial des ‚Frankfurter‘ geschuldet ist. Die entscheidende Passage lautet: Got als gotheit gehoret nicht czu weder wille noch wissen ader vffenbarn noch diß noch daß, das man genennen mag ader gesprechen ader gedencken. Aber got als got gehoret czu, das er syne selbe voriehe vnd sich selber bekenne vnd libe vnd sich selber *ym vffinbare yn ym selber, vnd diß noch alles an creature; vnd diß ist yn got noch alles eyn weßen vnd nicht als eyn wircken, die wile eß an creatur ist, vnd yn dissem vorgehen vnd vffenbaren wirt die personlich vnderscheid. Aber got, als got mensch ist ader do got lebet yn eyme gotlichen ader yn eyme vorgotten menschen, gehoret got etwas czu, das seyne eigen ist vnnd ym allein czu gehoret vnd nicht creaturen, vnd ist yn ym selber an creatur orspruncklich vnd weßenlich, ader nicht formelich ader wircklich, vnnd got wil das selbe gewirckt vnd gevbet han, wan eß ist dar vmmb, das eß gewirckt vnd gevbet werden sal. Vnd was solde eß anders? Solde eß mußig seyn, was were eß danne nutze? Szo were eß also gut, eß were nicht vnd besser. Wann was nyrgent czu nutze ist, das ist vmmb sust vnd das wil got vnd die natur nicht. Nu dar got wil das gevbet vnd gewircket han, vnd das mag an creatur nicht gescheen, das eß also seyn solle. Ja, solle wider diß noch das seyn, ader were diß noch das, ader were
17 Dieser fand bereits im ersten Teil dieser Arbeit Beachtung. Siehe Kap. 2.3.3. 18 Imbach: Autonomie, S. 135.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
keyn werck ader wircklikeit ader des gleich, was were ader sold got ioch selber? Ader was were eß? Ader weß got were er?19
Die für moderne Leser zunächst irritierende Unterscheidung von ‚Gott als Gottheit‘ und ‚Gott als Gott‘ geht auf Meister Eckhart zurück20 und ist im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ trotz der ihr innewohnenden Problematik gängig.21 Während die ‚Gottheit‘ das absolut einfache, über alles Kreatürliche erhabene und von der Schöpfung abgewandte Wesen Gottes – gewissermaßen Gottes ‚Innerstes‘ – bezeichnet, steht der Terminus ‚Gott‘ für die Zuwendung Gottes zu den Kreaturen, mithin für seine ‚Außenseite‘.22 Im Lateinischen korrespondieren dem Begriffspaar ‚Gottheit‘/‚Gott‘ dementsprechend die Ausdrücke absolutum und relatum.23 Indem der ‚Frankfurter‘ der Gottheit jegliche Tätigkeit – und damit jeden Selbst- oder Fremdbezug – abspricht, schließt er sich einem Grundkonsens der ‚deutschen Mystik‘ an. In der zeitgenössischen Predigt- und Traktatliteratur besteht Einigkeit darüber, dass die Gottheit sich weder mitteilt noch sich selbst oder etwas anderes
19 Kap. 31, S. 114, Z. 15–S. 115, Z. 33 [Hervorhebungen L. W.]. 20 Die semantisch auf den Aspekt der Einheit Gottes festgelegte Bezeichnung ‚Gottheit‘ findet allein im ersten Band der Deutschen Werke etwa 40 Mal Verwendung. Siehe die Auflistung der Einzelstellen im Wörterverzeichnis von DW I, S. 561. Der Terminus ‚Gott‘ dagegen kann sowohl die einfache göttliche Wesenheit als auch die Trinität benennen. In diesem Fall unterscheidet Eckhart nicht zwischen ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘, sondern zwischen got und ,got‘, so z. B. in der berühmten Armutspredigt Q 52 (DW II, S. 486–506, hier: S. 492, Z. 7–S. 493, Z. 2): „Aber dô ich ûzgienc von mînem vrîen willen und ich enpfienc mîn geschaffen wesen, dô hâte ich einen got; wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht ‚got‘, mêr: er was, daz er was. Aber dô die crêatûren gewurden und sie enpfiengen ir geschaffen wesen, dô enwas got niht ‚got‘ in im selben, mêr: er was ‚got‘ in den crêatûren.“ Siehe zu dieser Terminologie Eckharts z. B. auch McGinn: The God beyond God, S. 3; Wilde: Das neue Bild, S. 219–222; Enders: Das Gottesverständnis, S. 45–46. Bemerkenswerterweise kommt der Ausdruck deitas in den lateinischen Schriften nur ausgesprochen selten vor. Siehe dazu Wilde: Das neue Bild, S. 220. Dennoch gibt es keinen Bruch zwischen den lateinischen und deutschen Schriften, sondern nur eine terminologische Verschiebung. Im Lateinischen unterscheidet Eckhart nicht ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘, sondern die Wesenheit von den Relationen. 21 In Vertretung seien hier nur drei besonders prägnante Stellen zitiert, die mit der terminologischen Differenzierung zwischen ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘ zugleich eine Erklärung verbinden: „Alsô ist got an den persônen got und an nâtûre gotheit nâch der einveltikeit der nâtûre“ (Pfeiffer II, Traktat XII, S. 517, Z. 32–33); „Die drîe persône sint an den persônen got und an der nâtûre gotheit“ (Pfeiffer II, Traktat XV, S. 541, Z. 15–16); „Dú driheit der personen hat beschlossen die einikeit in ir als ire natúrlich wesen, dar umbe ist ein ieklichú person got, und na einvaltekeit der natur ist es gotheit“ (Seuse [hg. Bihlmeyer]: Vita, Kap. 52, S. 185, Z. 12–14). Zu der mit dieser Differenzierung verbundenen Problematik siehe die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 22 Vgl. Ueda: Die Gottesgeburt, S. 113–115; Goris: Der Mensch, S. 196. 23 Vgl. Goris: Der Mensch, S. 188.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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will oder weiß.24 In dieser ‚Abgeschiedenheit‘ als ihrer ‚fundamentalen Seinsweise‘25 ist sie notwendigerweise ebenso statisch wie steril.26 Auch die völlige Entzogenheit der Gottheit gegenüber dem menschlichen Erkenntnis- und Ausdrucksvermögen ist vor dem Hintergrund negativer Theologie selbstverständlich.27 Wenn der Traktat in seiner Konzeption Gottes ‚als Gottheit‘ dennoch vom mystischen ‚Normaldiskurs‘ abweicht, so liegt diese Differenz nicht in seiner Aussage über die Gottheit als solche begründet.28 Ein Vergleich mit anderen mystischen Prosatexten des konkreten Korpus zeigt jedoch, dass sich der ‚Frankfurter‘ einer ‚Logik des Ausschlusses‘29 bedient, indem er exklusiv den Aspekt göttlicher Unbezogenheit betont. Damit aber verweigert er sich der Möglichkeit, eine positive Hinwendung der Gottheit zum Menschen (und umgekehrt) in sein metaphysisches Konzept zu integrieren. Tatsächlich gehört die Lösung des Problems, wie die Gottheit als ein jeglicher Relationalität enthobener ‚God beyond God‘30 mit einer positiven Hinwendung Gottes zu seiner Schöpfung in Einklang zu bringen ist, zu den fundamentalen Herausforderungen der ‚deutschen Mystik‘. Denn einerseits muss von der Gottheit als Prinzip und Ziel des mystischen Einheitsvollzugs jegliches Moment der Alteri-
24 Vgl. Meister Eckhart: Pr. Q 22, DW I, S. 389, Z. 6–9: „Waz ist daz leste ende? Ez ist diu verborgen vinsternisse der êwigen gotheit und ist unbekant und wart nie bekant und enwirt niemer bekant. Got blîbet dâ in im selber unbekant […]“; ders.: Pr. Q 51, DW II, S. 476, Z. 12–S. 477, Z. 1: „Ich sprach an eyner anderen statt: Die verborgen fynsternuß des vngesichtigen liechtes der ewigen gotheyt ist vnbekant vnnd wirt auch nymmer bekant“; Pfeiffer II, Traktat XIV, S. 532, Z. 30–32: „Diu gotheit hât gote elliu dinc gelâzen; si ist als arm und als blôz und als ledic, als obe si niht enwêre; si hât niht, si wil niht, si bedarf niht, si enwürket niht noch gebirt niht“; Pfeiffer II, Traktat II, S. 390, Z. 14–17: „Daz einvaldige wesen götlîcher nâtûre daz ist einikeit. Diu einikeit möhte sich niht wol ir selber geoffenbâren. Daz selbe ist sîn unmugentheit unde diu unmugentheit ist diu einikeit selbe.“ 25 So Enders: Abgeschiedenheit des Geistes, S. 63; vgl. auch Goris: Der Mensch, S. 187. Die von Enders bejahte Frage, ob die Anwendung des Abgeschiedenheitstheorems auf die Gottheit bereits von Meister Eckhart vorgenommen wird, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Aus hier nicht näher zu erläuternden Gründen betrachte ich den von Enders analysierten Traktat Von abegescheidenheit, der den Terminus ‚Abgeschiedenheit‘ auf die Seinsweise der Gottheit (statt auf den Vollkommenheitsstatus des Menschen) bezieht, als Erzeugnis der nacheckhartischen Mystik. 26 Allerdings gilt diese Unfruchtbarkeit nur für einen Aspekt der Gottheit. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist sie sehr wohl hervorbringend. Siehe dazu die folgenden Ausführungen sowie Kap. 3.2.2, bes. S. 330–333. 27 Siehe auch oben, Kap. 2.2.2.2, S. 125. 28 Zecherles Urteil: „Dass der Verfasser der ‚Theologia Deutsch‘ an der vorliegenden Stelle von der damals üblichen mystologischen Terminologie abweicht, ist nicht erkennbar“, trifft deshalb durchaus zu. Die Suggestion dieser Aussage, dass sich der ‚Frankfurter‘ aufgrund seiner begrifflichen Übereinstimmung in einen mystischen Grundkonsens einfügt, ist dennoch zu revidieren. 29 Ausdruck nach Imbach: Autonomie, S. 130. 30 Ausdruck nach McGinn: The God beyond God.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
tät ferngehalten werden, das sich bei jeder Form der Hervorbringung zwangsläufig ergibt; andererseits aber liegt es an der Gottheit, jenen zeitenthobenen Kreislauf zu initiieren, der Gottheit, Gott und Mensch miteinander verbindet31 und dadurch die Aufnahme des Menschen in die innergöttliche Dynamik ermöglicht. Dies aber ist die metaphysische Voraussetzung dafür, die ontologische Gottebenbildlichkeit der Seele zu vollenden: Denn nur insofern sich diese in der Gottesgeburt als Sohn Gottes zu ihrem väterlichen Ursprung zurückwendet, ist ihr der ‚Durchbruch‘ in die Gottheit möglich.32 Meister Eckhart entwickelt zur Beseitigung dieser Schwierigkeit eine hochspekulative Lösung, indem er die Transzendentalienlehre als das philosophische Fundament seines Denkens33 auf die Dreieinheit Gottes anwendet: Da die Gottheit – in seinen lateinischen Werken spricht Eckhart auch von der essentia Dei – sowohl mit dem Sein als auch mit der Einheit Gottes identifiziert werden muss,34 ist sie zugleich steril und gebärend. Ihre Unfruchtbarkeit betrifft die Perspektive des Seins, insofern dieses in seiner absoluten Unbestimmtheit nichts hervorzubringen vermag.35 Wenn die Gottheit jedoch sub ratione unius betrachtet wird, ist sie gebärend, da die begriffliche Hinzufügung des Einen zum Seienden jenes Moment der Differenz importiert, das nach Eckhart das Phänomen der Hervorbringung überhaupt erst ermöglicht.36 Eckhart weitet diese Identifikation der Gottheit mit dem Sein und dem Einen zu einer Art transzendental geprägten Appropriationenlehre aus, indem er die vier ‚klassischen‘ Transzendentalien auch auf die drei göttlichen Personen anwendet. Während das Wahre exklusiv dem Sohn und das Gute ausschließlich dem Geist vorbehalten ist,37 kann der Person des Vaters sowohl das Sein als auch
31 Siehe dazu auch weiter unten, Kap. 3.2.2, S. 328–329. 32 Siehe zu diesem für Meister Eckhart eminent wichtigen Motiv u. a. Ueda: Die Gottesgeburt, S. 119–121. 33 Jan A. Aertsen spricht im Anschluss an Josef Koch von Eckharts ‚Transzendentalien-Metaphysik‘. Siehe ders.: Der ‚Systematiker‘ Eckhart, S. 226. 34 Vgl. McGinn: Meister Eckhart on God, S. 135. 35 In Ioh., LW III, n. 512, S. 443, Z. 8–15: „Esse autem, tum quia ad intus et essentiam respicit, tum quia absolutum et indeterminatum, nullius productionis principium est secundum sui rationem. Ab indistincto enim et indeterminato nihil procedit […]. Hinc est etiam quod theologi dicunt esse seu essentiam nec generare nec generari.“ Vgl. dazu Goris: Ontologie, S. 699–701. 36 In Ioh., LW III, n. 514, S. 445, Z. 3–4: „Restat videre quomodo esse sub ratione sive proprietate unius principium est et ab ipso procedit universitas et integritas totius entis creati.“ Vgl. dazu Goris: Ontologie, S. 699–702; ders.: Dietrich von Freiberg, bes. S. 185. 37 Siehe das erste Zitat in der folgenden Anmerkung. Freilich gilt diese Exklusivität nur gemäß der Appropriation, nicht in dem Sinne, als ob einer Person etwas zukäme, was den anderen beiden fehlt.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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das Eine zugeeignet werden.38 Indem Eckhart auf diese Weise die Gottheit und die erste der trinitarischen Personen in eine dynamische Beziehung setzt, versucht er implizit, den Verdacht einer orthodoxiesprengenden Trennung von Gottheit und Gott zu entkräften.39 Allerdings zeigen die Reaktionen der kirchlichen Zensoren deutlich, dass dieser Lösungsansatz nicht als ausreichend angesehen wurde, um den Eindruck einer häretischen Realdistinktion endgültig abzuwehren: Der Vorwurf, eine absolute Einheit Gottes in Absehung von der personalen Selbstentfaltung des göttlichen Wesens gelehrt zu haben, ist in der posthumen Zensurierungsbulle In agro dominico überaus präsent.40
38 Zur Identifikation der Person des Vaters mit dem Sein vgl. In Ioh., LW III, n. 360, S. 304, Z. 14– S. 305, Z. 4: „Septimo, quod indivisa sunt opera horum trium in creaturis, quarum sunt unum principium. Propter quod in creaturis ens respondens patri, verum respondens filio, bonum respondens appropriate spiritui sancto convertuntur et unum sunt, distincta sola ratione, sicut pater et filius et spiritus sanctus sunt unum, distincta sola relatione.“ Zur Identifikation der Person des Vaters mit dem Einen vgl. In Ioh., LW III, n. 562, S. 489, Z. 6–10: „Ipsum vero unum ex sui proprietate distinctionem indicat. Est enim unum in se indistinctum, distinctum ab aliis et propter hoc personale est et ad suppositum pertinet cuius est agere. Propter quod sancti unum sive unitatem in divinis attribuunt primo supposito sive personae, patri scilicet.“ 39 Dessen ungeachtet finden sich in Eckharts Werk immer wieder Passagen, die eine radikale Isolation der ‚Gottheit‘ von ‚Gott‘ nahelegen. Siehe etwa Pr. Q 2, DW I, S. 43, Z. 3–S. 44, Z. 2: „Got selber luoget dâ [in das bürgelîn] niemer în einen ougenblik und geluogete noch nie dar în, als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner persônen. Diz ist guot ze merkenne, wan diz einic ein ist sunder wîse und sunder eigenschaft. Und dar umbe: sol got iemer dar în geluogen, ez muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft; daz muoz er alzemâle hie vor lâzen, sol er iemer mê dar în geluogen. Sunder als er ist einvaltic ein, âne alle wîse und eigenschaft: dâ enist er vater noch sun noch heiliger geist in disem sinne und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz.“ Ähnlich auch In Ex., LW II, n. 65, S. 70, Z. 2–4: „Propter hoc solum genus praedicamenti relationis non transit in substantiam in divinis, sed manet quasi foris stans. Propter quod antiqui dicebant relationes esse assistentes et foris stantes.“ Die Herausgeber weisen ebd., Kap. 1 darauf hin, dass mit den antiqui Gilbertus Porretanus gemeint sei, der aufgrund der hier von Eckhart affirmativ wiedergegebenen Position im Jahre 1143 in Reims verurteilt worden ist. Siehe dazu Lossky: Théologie négative, S. 342–344; Merle: Deitas, S. 15–20; McGinn: The God beyond God, S. 13. Allerdings ist nach Markus Enders davon auszugehen, dass Eckharts Distanzierung der ‚Gottheit‘ von den trinitarischen Personen gerade der Wahrung der Rechtgläubigkeit dienen sollte. Denn dass die Relation als einzige Kategorie nicht in Gottes Substanz übergeht, ist in Eckharts Theologie der ausschlaggebende Grund dafür, überhaupt Relationen in Gott annehmen zu können. Der Thüringer wendet sich in diesem Punkt gegen die rigorose Einheitsmetaphysik des jüdischen Denkers Moses Maimonides, die er ansonsten weitgehend übernimmt. Siehe dazu die Ausführungen von Enders: ‚Gott ist einer‘, bes. S. 29–31. 40 Artikel 23 und 24 der Zensurierungsbulle beziehen sich auf Eckharts angebliche Leugnung der Trinität zugunsten der Einheit Gottes. Siehe Enchiridion (hg. Denzinger), n. 973, S. 402; n. 974, S. 403.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Die komplexen transzendentaltheoretischen Überlegungen Eckharts zum Verhältnis von ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘ finden sich in der an ihn anschließenden Predigt- und Traktatliteratur mit ihren oft ausgedehnten Dreieinigkeitsspekulationen zwar nicht wieder. Die Doppelperspektive Eckharts, wonach die Gottheit sowohl steril als auch gebärend ist, wird jedoch – im Verzicht auf die philosophische Reflexion – übernommen.41 Das eigentliche Interesse der Texte liegt dabei allerdings auf der zweiten Perspektive: der Hinneigung der Gottheit zum Menschen, wobei diese Zuwendung stets an die trinitarische Selbstentfaltung gebunden ist, da sich die Opposition von absolutum und relatum anders nicht überwinden lässt.42 Für diese verstärkte Beachtung der ‚Außenseite‘ Gottes dürfte – vielleicht neben einer durch die Eckhart-Verurteilung geschärften Sensibilität für die mit einer Überbetonung der absoluten Einheit Gottes verbundenen Gefahren – das Anliegen maßgeblich gewesen sein, die gegenseitige Bezogenheit von Gott und Mensch möglichst stark zu betonen. Eine Ausnahme stellt der ‚Frankfurter‘ dar. Nicht nur versagt er sich abgesehen von einer nachträglich hinzugefügten trinitarischen Schlussformel jeden
41 Zur Sterilität der Gottheit siehe oben, S. 319–320 mit Anm. 35. Im Anschluss an Eckhart wird diese auch als Unfruchtbarkeit des Seins ausgedrückt. Siehe z. B. Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 45, Z. 90–92: „Wan dy meister sprechen, daz weder wesin noch nature ingebirt noch inwirt geborn“; Pfeiffer II, Traktat XI, S. 499, Z. 32–33: „Niht alsô, daz diz wesen iht bere: daz wesen birt niht“; Johannes Franke: Von zweierlei Wegen (hg. Pfeiffer), S. 247, Z. 3–6 [eigene Zeilenzählung]: „waz ist wesen der drîer persônen in der drîvaldikeit? daz einveldiclich al in im beslozzen hât nâh einvaldikeit unde doch weder enbirt noch engibet an im selber weslich waz iz gibet.“ Zur Gottheit als primum productivum vgl. z. B. Jostes, Nr. 82 (Hie hebet sich an ain guter sermo von dem reich gotes), S. 85, Z. 21–24: „Die gotheit ist ein fndament aller gotlichen volkmenheit. Dor um ist die gotheit in ir selber die unbeweglich einikeit und die uberswebent stillheit und ist ein anfank aller azfliezzng“; Pfeiffer II, Traktat XI, S. 514, Z. 29–31: „Alsô ist diu gotheit geflozzen in den vater, in den sun und in den heiligen geist und in der êwikeit in sich selben und in der zît in die crêatûren“; Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 43, Z. 80–81: „Der dritte vorwurf ist wy daz dy gotheit vnbewegelichen vz sich vrsprunget alle creaturen.“ Deutlich formuliert der ‚In-principio-Dialog‘ den Doppelaspekt der Gottheit als steril und gebärend. Siehe ebd. (hg. Witte), Z. 338–345: „Als du n gedenckest an eins in abegescheidenheit aller dinge, die da werden gezalt, also solt du gedencken, daz daz gotlich wesen stet in abegescheidenheit leterlich aller dinge, die do seint ditz vnd daz. Wann daz götlich wesen noch grozzer lauterr abegescheidenheit hat in seiner natur von allem wesen denn der anuang der zale. – Hab in deinen gedencken furbaz: Als manigualtige zal fleuzzet von einem, daz ein anuang, als manigualtigheit der creatr fleuzt vom wesen, daz vor allem wesen ist.“ 42 Vgl. Pfeiffer II, Traktat XV, S. 540, Z. 37–40: „Unde wêren die drîe persône mit der underscheit in der gotheit niht, sô enwêre diu gotheit nie geoffenbâret worden unde si enhête nie crêatûre geschaffen.“ Zur Betonung der Trinität in Werken der nacheckhartischen Mystik siehe z. B. auch Khorkov: Der Traktat, S. 204 (zu Seuse) und S. 206 (zu ‚Von dem ewigen Wort‘). Vgl. zudem BaraBancel: ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘, S. 107 (zu Seuse und anonymen Nonnengedichten).
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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Hinweis auf die Dreipersonalität Gottes;43 er reduziert seine Aussagen über ‚Gott als Gottheit‘ außerdem auf den Aspekt ihrer Abwendung vom Menschen. So, wie der ‚Frankfurter‘ die Gottheit im 31. Kapitel darstellt, ist sie von jeglicher Pluralität hermetisch abgeriegelt.44 Sie verharrt daher in einem Zustand „of frozen immobility“, der für die – zugleich wüste wie blühende – Gottheit Meister Eckharts und seiner literarischen Nachfolger gerade nicht zutrifft.45
3.2.2 ‚Gott als Gott‘: die Entdynamisierung des Göttlichen Wie die Aussage des ‚Frankfurter‘ über Gott ‚als Gottheit‘ scheint auch seine Definition Gottes ‚als Gott‘ auf den ersten Blick völlig unverfänglich. Doch eine kontextbezogene Detailanalyse offenbart, dass sich der Traktat tatsächlich weit vom Grundkonsens der ‚deutschen Mystik‘ entfernt. Die wenigen Zeilen, in denen der ‚Frankfurter‘ zu Gott ‚als Gott‘ Stellung bezieht,46 lassen sich zu drei Kernaussagen systematisieren: 1.) ‚Gott als Gott‘ ist durch den Rückbezug auf sich selbst gekennzeichnet. Damit ist jenes Moment der Alterität gegeben, das die
43 Siehe oben, Kap. 2.2.2.2, Anm. 243. 44 Damit verschärft der ‚Frankfurter‘ das bereits bei Meister Eckhart auftretende Problem einer Separation des göttlichen Wesens von dessen trinitarischer Entfaltung. Siehe oben, Anm. 39. Andere mystische Prosatexte dagegen betonen mit Nachdruck, dass ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘ einander wechselseitig durchdringen. Vgl. Pfeiffer II, Traktat II, S. 387, Z. 21–30: „Dar umbe sint drîe persônen in der gotheit nâch der einikeit irre nâtûre. Dar umbe vliezent drîe persône persônlich unde wesenlich mit dem wesen in daz wesen, dâ sie gotheit an sint, niht daz diu gotheit ein ander sî denne daz sie selber sint, sie sint gotheit nâch der einikeit irs nâtiurlîchen wesens. Dar umbe vliezent sie persônlich unde wesenlich mit dem wesen in daz wesen, wan wesen wirt mit nihte begriffen denne dâ mit, daz ez selber ist. Dar umbe ist ez in einer stillen stilheit unde begrîfet sich selbe mit ime selben. Der învluz ist in der gotheit ein einikeit der drîer persône âne underscheit“; Pfeiffer II, Traktat XII, S. 517, Z. 25–27: „Diu drîheit hât ir mügentheit an der einekeit unde diu einikeit hât ir wirdekeit an der drîheit“; Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Hillenbrand), S. 143, Z. 32–36: „Und merkent: Wande die widertragunge in gotte, die da underscheit machet zwischent den personen, niht anders sint denne gtlich wesen, harumb ist das die personen, die da nement gtlich wesen, und die widertragunge mit ein ander niht underscheiden sint von gtlichem wesenne […].“ Eindringlich wendet sich auch das ‚Buch der Wahrheit‘ gegen eine Fehlauslegung der begrifflichen Trennung von ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘ als Realdistinktion. Vgl. ebd. (hg. Sturlese/Blumrich), Kap. 3, bes. S. 10, Z. 26–S. 12, Z. 51. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Bara-Bancel: ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘, S. 96–99. 45 Siehe dazu das Statement von McGinn zu Eckharts Konzeption der ‚Gottheit‘ (The God beyond God, S. 14–15): „In fine, the divine unity is prior to the Trinity as the hidden ground of the bullitio of Father, Son, and Holy Spirit, but it can never be considered alone as standing in some sort of frozen immobility, nor could such a desert without bloom be the goal of the soul’s journey.“ 46 Frankfurter, Kap. 31, S. 114, Z. 17–21. Siehe die entsprechenden Zeilen innerhalb der Passage zur dreifachen Perspektivierung des Göttlichen, zitiert in Kap. 3.2.1, S. 317–318.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Konstitution der göttlichen Personen ermöglicht. 2.) Die Selbstreflexion Gottes ist rein innergöttlich zu verstehen; sie bleibt von allem Kreatürlichen unberührt. 3.) Aufgrund dieser Freiheit von den Geschöpfen ist Gott ‚als Gott‘ des Wirkens nicht mächtig. Wenden wir uns zunächst dem ersten Aspekt zu, der bei oberflächlicher Lektüre mit nichts Ungewöhnlichem aufwartet. Dass ‚Gott‘ im Unterschied zur ‚Gottheit‘ durch Relationalität, d. h. durch reflexiven Selbstbezug bestimmt ist, gilt seit Meister Eckhart als communis opinio der mystischen Predigt- und Traktatliteratur.47 Die rhetorische Darbietung dieser metaphysischen Selbstverständlichkeit offenbart jedoch den Abstand des ‚Frankfurter‘ zu seinem literarischen Bezugsfeld. In entschiedener Wendung gegen eine Grundtendenz der volkssprachlichen Mystik verweigert er Gott ‚als Gott‘ jenes dynamische Moment, das sowohl seine Distanz zur absolut einfachen Gottheit als auch seinen Abstand zur Schöpfung im Allgemeinen und zum Menschen im Besonderen aufhebt. Diese – auch für die Begegnung mit dem ‚Einen in der Seele‘ charakteristische –‚Entdynamisierung des Göttlichen‘ lässt sich an zwei sprachlichen Merkmalen festmachen: Zum einen meidet der Traktat in seinem metaphysischen Entwurf jene Fließmetaphorik, die in einem komplexen Kreislaufmodell Ausgang und Rückkehr der göttlichen Personen, der menschlichen Seele und der kreatürlichen Welt beschreibt und zum Standardrepertoire mystischer Prosa gehört.48 Zum anderen
47 Zu Eckhart, der die Relationalität Gottes an den Transzendentalbegriff des Einen koppelt (siehe oben, Kap. 3.2.1, S. 320), vgl. Beierwaltes: ,Und daz Ein machet uns saelic‘, bes. S. 109–110. Siehe auch Enders: ‚Gott ist einer‘, S. 51–53. Im ‚Frankfurter‘ dagegen bleibt das Eine – sei es in seinem Immanenzaspekt als das ‚Eine in der Seele‘, sei es in seinem Transzendenzaspekt – von jeglicher Vielheit unberührt. Siehe dazu auch die Ausführungen oben, Kap. 2.2.2.2, S. 124–125 sowie S. 131–132 und Kap. 2.2.3.3, S. 154–155. Zum reflexiven Selbstbezug Gottes im Unterschied zur Gottheit siehe z. B. Pfeiffer II, Traktat II, S. 390, Z. 19–22: „Wan si [die einikeit] ez denne von ir selber niht geoffenbâren mohte, dar umbe habent ez die persône geoffenbâret, unde nieman mêr denne in selber, wan ez ir nâtiurlich wesen ist.“ 48 Meister Eckhart: Pr. Q 50, DW II, S. 456, Z. 7–13: „Ich han es me gesprochen: von dem werke in gotte vnd von der gebvrt, da der vater gebirt sinen eingebornen svn, vnd von dem vs flvsse entblget der heiliger ‹geist›, das der geist von in beiden ‹vs flv̀ sset›, vnd in dem vs flvsse entspringet dv̀ sele vs gevlossen; vnd das bilde der gotheit ist gedruket in die sele, vnd in dem vs vliessende vnd in dem wider vlissende der drier personen wirt dv̀ sele wider in gevlossen vnd wirt wider in gebildet in ir erste bilde svnder bilde“; Pfeiffer II, Traktat II, S. 387, Z. 36–37: „Dar umbe sprichet der vater sînen sun unde sprichet sich in sînem sune allen crêatûren, allez in disem vliezen“; Pfeiffer II, Traktat XI, S. 496, Z. 4–11: „Das fünfte ist, daz man bekennen sol die gotheit, diu in den vater ist geflozzen unde hât in erfüllet mit vermügentheit und ist geflozzen in den sun unde hât in erfüllet mit wîsheit unde sie sint ein in der nâtûre. Daz sprach Kristus selber ‚dâ ich bin, dâ ist mîn vater, unde dâ mîn vater ist, dâ bin ich.‘ Unde sie sint geflozzen in den heiligen geist unde hânt in erfüllet mit guotem willen. Daz sprach Kristus ‚ich unt mîn vater hân einen geist‘, unde der heiligeist ist geflozzen in die sêle“; Pfeiffer
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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bedient er sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, einer geschickten terminologischen Strategie, um der per se dynamischen Selbstentfaltung des göttlichen Wesens in die göttlichen Personen einen statischen Charakter aufzudrängen. Auf diese Weise wahrt er sein philosophisch-theologisches Eigenprofil, ohne die Grenzen der Orthodoxie zu verletzen. An der äußerst verknappten Erläuterung zur personenkonstituierenden Selbstreflexion Gottes – „[…] vnd yn dissem vorgehen vnd vffenbaren wirt die personlich vnderscheid“ – sind mehrere Merkmale auffallend: zunächst der Verzicht auf eine genaue Bestimmung des ‚Unterschieds der Personen‘, über deren Anzahl und Benennung der ‚Frankfurter‘ sich abweichend von anderen Predigten und Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ generell ausschweigt.49 Dem Leser ist damit freilich die Möglichkeit unbenommen, diese Auslassung aus seinem christlichen Vorwissen zu ergänzen; so weit die spätmittelalterliche Überlieferung des ‚Frankfurter‘ Hinweise auf seine Rezeption erlaubt, wurde davon wohl auch ganz selbstverständlich Gebrauch gemacht.50 Bemerkenswert ist ferner die Meidung jener Termini, die sich im volkssprachlichen Bereich zur Bezeichnung der göttlichen processiones etabliert haben wie ûzvluz, entgiezunge, ûzbruch oder ûzblüejen.51 Stattdessen verwendet der ‚Frankfurter‘ den ansonsten nur in anderen semantischen Zusammenhängen auftauchenden Begriff vorgehen,52 den Alois Maria Haas in seiner neuhochdeutschen Übersetzung des Traktats mit ‚Bekennen‘ wiedergibt.53
II, Traktat XIV, S. 530, Z. 12–19: „Der vater ist ein begin der gotheit und ist ein brunne in der gotheit, der an allen dingen ûz fliuzet in der êwikeit und in der zît. Diu gotheit ist ein himel der drîer persônen unde der vater ist got und ist ein persône von nieman geborn noch gevlozzen, unde der sun ist got und ist ein persône und ist geborn von dem vater, unde der heiligeist ist got und ein persône unde fliuzet von in beiden. Her ûf sprichet sant Paulus ‚der ungeschaffen geist, der dâ vliuzet in den geschaffen geist.‘“ 49 Siehe oben, Kap. 2.3.5.2, S. 275. Ausgenommen ist die trinitarische Schlussformel am Ende des vermutlich nachträglich ergänzten 53. Kapitels. Zudem erwähnt der ‚Frankfurter‘ in eben diesem Kapitel das Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater als innergöttlichen Geburtsvorgang. Siehe Kap. 2.2.2.2, S. 135. 50 Soweit sich dies erschließen lässt, wurde der ‚Frankfurter‘, ohne Anstoß zu erregen, in die gängigen Frömmigkeitskategorien eingeordnet. Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 19–28. 51 Eine tabellarische Zusammenstellung der im mystischen Kontext gebräuchlichen Bezeichnungen für die trinitarische Dynamik findet sich bei Ruh: Die trinitarische Spekulation, S. 36. 52 Bei Meister Eckhart hat der Terminus die Bedeutung ‚vorangehen‘; ‚den Vorrang haben‘. Vgl. Pr. Q 2, DW I, S. 25, Z. 3; Pr. Q 3, DW I, S. 52, Z. 12; Pr. Q 11, DW I, S. 189, Z. 1. Er wird nie dazu verwendet, den trinitarischen Lebensvollzug Gottes zu beschreiben. Das scheint – mit Ausnahme des ‚Frankfurter‘ – auch für die nacheckhartische Mystik Geltung zu haben. 53 ‚Der Franckforter‘. Theologia deutsch (hg. Haas), S. 92: „Und in diesem Bekennen [= vorgehen] und Offenbaren entsteht der Unterschied der Personen.“
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Tatsächlich aber handelt es sich um eine Lehnübersetzung des lateinischen procedere.54 In der Verwendung dieses Terminus zeigt sich einmal mehr das Lavieren des ‚Frankfurter‘ zwischen Integration in den mystischen ‚Normaldiskurs‘ und seiner Tendenz zu sprachlicher wie theologisch-philosophischer Emanzipation. Denn im lateinischen Bereich ist die Verwendung von procedere für die innergöttliche Personenkonstitution, aber auch für das Hervorgehen des Seelengrundes aus dem göttlichen ‚Grund‘55 durchaus gängig.56 In der mittelhochdeutschen Übertragung geht die dynamische Konnotation dieses Begriffs jedoch verloren, so dass in der volkssprachlichen Mystik üblicherweise die oben genannten, der Fließmetaphorik verpflichteten Ausdrücke zum Einsatz kommen. Dass der ‚Frankfurter‘ dem Vollzug der Personenbildung dagegen einen möglichst statischen Charakter zu verleihen sucht, zeigt sich zusätzlich in seinem Rückgriff auf das Hilfsverb ‚werden‘ („[…] wirt die personlich vnderscheid“), das in seiner semantischen Unbestimmtheit keinerlei Rückschluss auf das Wie der personalen Selbstunterscheidung Gottes zulässt. Dieses sprachliche Ausweichmanöver gegenüber einer Dynamisierung des reflexiven Selbstbezuges Gottes – der in der mystischen Predigt- und Traktatliteratur engstens mit jenen Aspekten augustinischer Spiritualität verknüpft ist, die der ‚Frankfurter‘ ebenfalls meidet57 – tritt besonders scharf im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Texten hervor, in denen die vom ‚Frankfurter‘ gewählte Formulierung persônlich underscheit bzw. persônlîch underscheidunge auch Verwendung findet. Drei Beispiele – aus der Seuse-Vita, einer Eckhart-Predigt und einer Predigt Johannes Taulers – seien zitiert: 54 Damit nähert sich der ‚Frankfurter‘ der Terminologie der ‚deutschen Scholastik‘ an, die – worauf Kurt Ruh aufmerksam macht (vgl. Die trinitarische Spekulation) – in ihren Bezeichnungen für die processiones von der zeitgenössischen mystischen Prosa abweicht, insofern sie auf die Konnotation des ‚Fließens‘ verzichtet. Die volkssprachliche Übersetzung der thomasischen Summa theologiae übersetzt processio dementsprechend mit ûzganc. Bei anderen volkssprachlichen Begriffen – etwa den Übersetzungen von unitas und trinitas (vgl. ebd., S. 29) – lässt sich dagegen kein Unterschied zwischen eher akademisch-wissenschaftlich ausgerichteten und vornehmlich existentiell-mystisch orientierten Texten feststellen (dass sich hier eine klare Abgrenzung ohnehin verbietet, da der ‚mystische Diskurs‘ als Teildiskurs des philosophisch-theologischen Diskurses zu betrachten ist, fand bereits in der Einleitung Erwähnung; vgl. Kap. 1.2.2 mit Anm. 121 sowie Kap. 1.2.3, S. 59–60). 55 Die Begriffe ‚Grund‘ und ‚Abgrund‘ beziehen sich auf die Gottheit. Siehe etwa Meister Eckhart: Pr. Q 12, DW I, S. 194, Z. 4–5: „[…] daz er uns offenbâre allen den abgrunt sîner gotheit […].“ 56 Vgl. Flasch: Procedere ut imago. Das ‚Hervorgehen als Bild‘ bezeichnet sowohl bei Dietrich von Freiberg als auch bei Meister Eckhart gleichermaßen die processio verbi und die Konstitution des Seelengrundes. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.2.3.1, S. 148–149. 57 Siehe oben, Kap. 2.2.2.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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Und swenn dis wort flússet uss dem usblik dez vater nah der forme der natur mit persnlichen underscheid, so heisset sin entgiessunge von dem vater ein geburt […].58 Dise craft [gemeint ist das Seelenfünklein] machet den vater der selen glich Durch sine vsfliesende gotheit, von der er allen den hort sines gotlichen wesennes gegozzen hat in den svn vnd in den heilgen geist mit personlicher vnderscheidunge, alse die gehvgede der selen den creften der selen vs gusset ‹den› schaz der bilde.59 Nu di erste und die úberste geburt daz ist das der himelsche vatter gebirt seinen eingebornen sun in gtlicher wesenlicheit, in persnlicher underscheit.60
Die Differenz zum ‚Frankfurter‘ könnte größer kaum sein: Dient die Formel dort nichts anderem als der äußerst verknappten Mitteilung eines metaphysischen Faktums, ist sie hier in einen dynamischen Kontext eingebettet, der außer zusätzlichen Informationen zu den innergöttlichen Vorgängen auch einen spirituellen Mehrwert bietet: Die Personenkonstitution wird in emphatischer Rede als Prozess des Fließens dargestellt, die Benennung der Personen ist eindeutig, und die Geburt des Sohnes aus dem Vater wird als der für die volkssprachliche Mystik vorrangige innergöttliche Vorgang besonders hervorgehoben. Kommen wir zum zweiten Aspekt. Das Insistieren des ‚Frankfurter‘ darauf, dass die personenkonstituierende Selbstbezüglichkeit Gottes ân crêatûre – also frei von allen Kreaturen – sei, mag auf den ersten Blick völlig orthodoxiekonform erscheinen. Außerdem lassen sich ohne Schwierigkeit äquivalente Aussagen in anderen Texten des paradigmatischen Korpus finden. So schreibt etwa Meister Eckhart: „Wizzet ir, wâ von got got ist? Dâ von ist got got, daz er âne crêatûre ist. Er ennante sich niht in der zît.“61 Und Pfeiffer-Spruch 44 sekundiert: „kein krêatûre mac got berüeren […].“62 Doch der Eindruck von der Konformität des ‚Frankfurter‘ täuscht. Die Herausgeber der Eckhart-Predigt weisen extra darauf hin, dass der Meister hier gerade nicht Gott ‚als Gott‘, sondern Gott in seiner Absolutheit – also die Gottheit – meine;63 und tatsächlich betont der Thüringer an anderen Stellen seines Werkes nachdrücklich die Zuwendung Gottes zu den Kreaturen, insofern Gott ‚als Gott‘ ja
58 Seuse (hg. Bihlmeyer): Vita, Kap. 51, S. 181, Z. 11–13. 59 Meister Eckhart: Pr. Q 83, DW III, S. 437, Z. 7–10. 60 Tauler: Pr. V 1, S. 7, Z. 16–18. 61 Pr. Q 38, DW II, S. 241, Z. 2–3. 62 Pfeiffer II, Spruch 44, S. 612, Z. 16. 63 Vgl. DW II, S. 241, Anm. 2. In diesem Sinne erklärt auch der Johannes Franke zugeschriebene Traktat ‚Von zweierlei Wegen‘: „diz ist der hôhe wec der gotheit, dâ nie crêâtûre inne gewandelt hât.“ Ebd. (hg. Pfeiffer), S. 246, Z. 28–29 [eigene Zeilenzählung].
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
die schöpferische ‚Außenseite‘ Gottes repräsentiert.64 Das Gleiche gilt für den zitierten Spruch, nimmt dieser den Ausschluss aller Kreaturen aus dem Bereich des Göttlichen doch sofort wieder zurück, indem er fortfährt: „[…] got berüeret hier umbe alle krêatûre, wan er hât alle krêatûre geschaffen unde beheltet sie in irme wesen.“65 Die ‚Berührung‘ aller Kreaturen durch Gott spielt in der mystischen Traktatund Predigtliteratur eine wichtige Rolle, garantiert sie doch die Unmittelbarkeit des Schöpfers zu seiner Schöpfung und ist damit eine Grundvoraussetzung für die intime Nähe von Gott und Mensch. Worin aber besteht dieses ‚Berührtwerden‘ der Kreatur durch Gott, wenn die Distanz zwischen beiden so unendlich groß ist, dass von Seiten der Kreatur keinerlei Zugang zur Sphäre des Göttlichen besteht? Die Antwort der mystischen Prosatexte ist eindeutig: Gemeint ist die geistige Präsenz der Geschöpfe im trinitarischen Lebensvollzug der Gottheit, insofern der Vater als Gebärender die Schöpfung überhaupt erst ermöglicht,66 der Sohn sie als das ewige Wort des Vaters ideenhaft in sich birgt67 und der Geist als Gottes aus-
64 Siehe z. B. Pr. Q 22, DW I, S. 376, Z. 6–8: „Hier inne ist ze verstânne, daz wir sîn ein einiger sun, den der vater êwiclîche geborn hât. Dô der vater gebar alle crêatûren, dô gebar er mich, und ich vlôz ûz mit allen crêatûren und bleip doch inne in dem vater“; Pr. Q 30, DW II, S. 97, Z. 6–S. 98, Z. 5: „Der prophête sprichet: ‚got sprach einez, und ich hôrte zwei‘. Daz ist wâr: got ensprach nie dan einez. Sîn spruch enist niht dan einez. In dem éinen spruche sprichet er sînen sun und den heiligen geist mite und alle crêatûren und enist niht dan éin spruch in gote. Aber der prophête sprichet: ‚ich hôrte zwei‘, daz ist: ich verstuont got und crêatûren. Dâ ez got sprichet, dâ ist ez got; aber hie ist ez crêatûre“; Pr. Q 31, DW II, S. 118, Z. 1–3: „Nieman enmac daz wort eigenlîche gesprechen dan der vater. Daz werk ist im sô eigen, daz ez nieman gewürken enmac dan der vater. In dem werke würket got alliu sîniu werk, und der heilige geist hanget dar inne und alle crêatûren.“ 65 Pfeiffer II, Spruch 44, S. 612, Z. 16–18. 66 Siehe z. B. Pfeiffer II, Traktat II, S. 387, Z. 36–37: „Dar umbe sprichet der vater sînen sun unde sprichet sich in sînem sune allen crêatûren, allez in disem vliezen“; Seuse (hg. Bihlmeyer): Vita, Kap. 51, S. 179, Z. 26–28: „[…] so sihst du die úberswenken, úbernaturlichen entgiessunge dez wortes uss dem vater, von des geberene und sprechen ellú ding werdent her fúr gesprochen und gegeben […]“; Johannes Franke: Von zweierlei Wegen (hg. Pfeiffer), S. 248, Z. 15–16 [eigene Zeilenzählung]: „ir [gemeint sind die geschaffenen Dinge] êwic ursprunc ist der vater und aller dinge bilde in im daz ist der sun […].“ 67 Siehe z. B. Meister Eckhart: In Gen. I, LW I/1, n. 5, S. 188, Z. 9–S. 189, Z. 2: „Hinc est quod sancti communiter exponunt deum creasse caelum et terram in principio, id est in filio, qui est imago et ratio idealis omnium. Unde Augustinus dicit: ‚qui negat ideas, negat filium dei‘. Sic ergo deus creavit omnia in principio, id est in ratione et secundum rationem idealem, alia quidem ratione hominem, alia leonem, et sic de singulis“; Pfeiffer II, Traktat II, S. 391, Z. 23–24: „Der sun ist ein verstentnisse des vaters und ist bildener aller dinge in sînem vater“; Wie die minig sel (hg. Bach), S. 242, Z. 15–16 [eigene Zeilenzählung]: „[…] und da gepirt sich der sun auss dem vater in einvaltiger unbeweglicher endloser warhait und in ym alle dink.“ Zum Sohn als Inbegriff der rationes aeternae
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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schmelzende Güte sie in ihren zeitlich und räumlich bestimmten Seinsstatus hinaustreten lässt.68 Die Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung setzt also die Selbstentfaltung des absolut einfachen göttlichen Wesens in die drei göttlichen Personen voraus,69 deren Dynamik gerade nicht als in sich selbst kreisend gedacht wird, sondern auf die kreatürliche Welt ausgreift und über diese Einbeziehung die Schöpfung im Allgemeinen und den Menschen im Besonderen in die Gottheit zurückführt.70 Anders als im ‚Frankfurter‘ ist also auch die Gottheit nicht völlig frei von allem Kreatürlichen, zumindest dann nicht, wenn sie statt unter dem Aspekt ihrer absoluten Seklusion in ihrer Bedeutung als Prinzip und Ziel alles Geschaffenen betrachtet wird.71 Wenn der ‚Frankfurter‘ darauf beharrt, dass Gott ân crêatûre sei, spricht er ihm im Grunde genommen seine Schöpfungskompetenz ab. Freilich vermag der Traktat diese Perspektive keineswegs durchzuhalten, thematisiert er an anderer Stelle doch ausdrücklich das Hervorgehen der Kreaturen aus ihrem göttlichen Ursprung und bedient sich dabei auch der gängigen Fließmetaphorik – die er im Unterschied zu anderen mystischen Prosatexten allerdings nicht auf die innerseelische Begegnung von Gott und Mensch anwendet.72 Ob die mit der strikten
vgl. Enders: Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 39 sowie ders.: Das mystische Wissen Seuses, S. 145–147. Siehe ferner Langer: Sich lâzen, S. 334. 68 Siehe z. B. Meister Eckhart: Pr. Q 18, DW I, S. 302, Z. 2–4: „Aber güete daz ist, dâ got ûzsmilzet und gemeinet sich allen crêatûren. Wesen ist der vater, einicheit ist der sun mit dem vater, güete ist der heilige geist“; Pfeiffer II, Traktat XI, S. 497, Z. 26–29: „Der heiligeist ist ein zesamenthalt des vaters unde des suns und ist ein mit in in dem entwerdenne und er ist ein werkmeister und ein würker des werdens in der êwikeit und in der zît.“ 69 Meister Eckhart: In Ex., LW II, n. 16, S. 22, Z. 7–8: „Hinc est quod emanatio personarum in divinis ratio est et praevia creationis.“ Vgl. dazu McGinn: The God beyond God, S. 14–15. Zur spekulativen Verschränkung von Trinitäts- und Schöpfungslehre bei Meister Eckhart siehe ferner Schönberger: Meister Eckhart, S. 215. 70 Siehe oben, S. 324 mit Anm. 48. 71 Siehe z. B. Meister Eckhart: Pr. Q 21, DW I, S. 363, Z. 8–9: „Alle crêatûren sint in gote und sint sîn selbes gotheit und meinet ein vüllede […]“; ders.: Pr. Q 22, DW I, S. 388, Z. 11–14: „Dâ er [der Sohn] ûzgienc von dem allerhœhsten, dâ wolte er wider îngân mit sîner brût in dem allerlûtersten und wolte ir offenbâren die verborgene heimlicheit sîner verborgenen gotheit, dâ er ruowet mit im selber mit allen crêatûren“; Pfeiffer II, Traktat XI, S. 502, Z. 36–39: „Unde sol diu crêatûre dar zuo komen, daz si gote volgen sol dar, dâ er êwiklîche erhaben ist, sô muoz si sich erheben über alle crêatûren und ouch über sich selben und über allen iren nutz und niez unde volgen dem unbekentnisse in die wüesten gotheit.“ Zur paradoxen Bestimmung der Gottheit als fruchtbar und zugleich unfruchtbar innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ siehe oben, Kap. 3.2.1, S. 319–320 sowie die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel. 72 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.2, S. 129.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Trennung von göttlicher und kreatürlicher Sphäre einhergehende Problematik dem Autor bzw. den Redaktoren des ‚Frankfurter‘ bewusst war, liegt im historischen Dunkel. Für das spezifische unio-Konzept des Traktats bietet diese Absonderung Gottes von der geschaffenen Welt jedenfalls einen eigenwilligen metaphysischen Erklärungsansatz, der – wie sich weiter unten noch zeigen wird – auch auf die ‚manichäische‘ Tendenz der Schrift ein zusätzliches Schlaglicht wirft.73 Das für den ersten hier diskutierten Aspekt kennzeichnende Bemühen des ‚Frankfurter‘ um eine ‚Entdynamisierung des Göttlichen‘ bestimmt auch seine Eliminierung der Kreaturen aus der personenkonstituierenden Selbstreflexion Gottes. Indem er auf die Dynamik des Fließens verzichtet und damit den Gottheit, Gott und Schöpfung umfassenden Kreislauf des Seins aus seinem metaphysischen Entwurf verbannt, konzipiert er Gott ungeachtet des personlich vnderscheid als in sich verharrend. Gott ‚als Gott‘ hat weder Kontakt zu Gott ‚als Gottheit‘ noch zur Welt des Kreatürlichen. Der dritte Aspekt formuliert die Konsequenz, die sich nach Auskunft des ‚Frankfurter‘ aus der Freiheit Gottes von allem Kreatürlichen ergibt, nämlich sein Unvermögen zu wirken. Dies ist ohne Zweifel eine Aussage, die den Rahmen christlicher ‚Normaltheologie‘ verlässt. Um sie in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, ist vor einem endgültigen Urteil jedoch zu fragen, was innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ überhaupt unter dem Wirken Gottes verstanden wird. Nun scheint ein Vergleich der prekären These des ‚Frankfurter‘ mit Meister Eckharts Metaphysik ihre Brisanz zunächst zu entschärfen. Denn auch der Dominikaner klammert – wie sein Ordensbruder Dietrich von Freiberg – Wirk- und Zielursache aus dem Bereich des Göttlichen aus, da die innergöttlichen Vorgänge durch geistige Prozessualität, d. h. durch Formalursächlichkeit bestimmt sind.74 Die bullitio – also die Konstitution der drei göttlichen Personen durch Selbstreflexion und die mit der Geburt des Sohnes aus dem Vater identische Emanation des Seelengrundes als imago Dei – ist deshalb kein Wirken im eigentlichen Sinne. Nur wenn Gott als Schöpfergott – und damit die ebullitio – in den Blick kommt, lässt sich angemessen von Gottes Wirken reden.75
73 Vgl. den Schluss dieses Kapitels sowie das anschließende Kapitel 3.2.3. 74 Vgl. Flasch: Meister Eckhart. Die Geburt, S. 100 (zu Dietrich), S. 118 (zu Eckhart); Goris: Dietrich von Freiberg, bes. S. 177–184 (zur sowohl bei Dietrich als auch bei Eckhart auftretenden Schwierigkeit, dass der Begriff des Guten durch seine Verbindung mit der extrinsischen Kausalität im Vergleich zu den anderen Transzendentalien abgewertet wird). Zur Zentralstellung der Formalursächlichkeit in Eckharts Metaphysik siehe auch Aertsen: Meister Eckhart, S. 10. 75 Vgl. Meister Eckhart: In Sap., LW II, n. 283, S. 615, Z. 10–S. 616, Z. 3: „Adhuc autem sexto principaliter ad hoc, ut deus filius in nobis nascatur, in mentem veniens, oportet quietum silentium continere omnia. Filius enim imago est patris, et anima ad imaginem dei. Imago autem ex sui ratione
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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In der Volkssprache allerdings findet diese terminologische Differenzierung keinen Niederschlag. Vielmehr wird – auch bei Eckhart selbst – jeder Lebensvollzug Gottes, also jeglicher Ausdruck göttlicher Dynamik, unterschiedslos als göttliches Wirken dargestellt.76 Für die trinitarische Selbstentfaltung der Gottheit gilt dies ebenso77 wie für das formale Herausfließen des intimum animae aus dem göttlichen ‚Grund‘78 und die Hervorbringung der kreatürlichen Welt.79 Vor diesem Hintergrund tritt die Sonderstellung des ‚Frankfurter‘ deutlich hervor. Dennoch bleibt er in den ‚mystischen Diskurs‘ eingebunden, insofern auch der zeitgenössischen Predigt- und Traktatliteratur eine Unberührtheit der
et proprietate est formalis quaedam productio in silentio causae efficientis et finalis, quae proprie creaturam extra respiciunt et significant ebullitionem. Imago autem, utpote formalis emanatio, sapit proprie bullitionem.“ Vgl. auch ders.: Sermo XLIX/3, LW IV, n. 511, S. 425, Z. 14–S. 426, Z. 12. Das Wirken des Schöpfergottes setzt allerdings die – im ‚Frankfurter‘ nicht gegebene – geistige Anwesenheit der Kreaturen in Gott voraus. Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. 76 Allerdings können in der Volkssprache neue Differenzierungen auftreten wie jene zwischen inblîbender würkunge (in Eckharts lateinischen Schriften: bullitio) und ûzgânder würkunge (in Eckharts lateinischen Schriften: ebullitio), um die verschiedenen Arten göttlichen Wirkens voneinander abzugrenzen. Siehe dazu die Zitate in Kap. 2.2.2.2, Anm. 233 und 234. 77 Vgl. Meister Eckhart: Pr. Q 4, DW I, S. 72, Z. 11–14: „Ich wart einest gevrâget, waz der vater tæte in dem himel? Dô sprach ich: er gebirt sînen sun, und daz werk ist im sô lüstlich und gevellet im sô wol, daz er niemer anders getuot dan gebern sînen sun, und sie beide blüejent ûz den heiligen geist“; ders.: Pr. Q 31, DW II, S. 116, Z. 8–S. 117, Z. 2: „Ich hân ez ouch mê gesprochen: der mich vrâgete, waz got in dem himel tæte, ich spræche: er gebirt sînen sun und gebirt in alzemâle niuwe und vrisch und hât sô grôzen lust in dem werke, daz er anders niht entuot, dan daz er daz werk würket“; Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Hillenbrand), S. 138, Z. 42–S. 139, Z. 3: „Got ist ein luter wúrkunge, und dis wúrken ist ein verstan, und mit dirre wúrkunge, mit disem verstanne, so verstet er niht anders dan sin wesen, dan sich selber. Und verstet er sich selber, so begriffet er vollekomenlich sich selber, anders sin wúrkunge were nit vollekomen“; Pfeiffer II, Liber positionum, n. 148, S. 677, Z. 27–29: „Ez ist ein vrâge von dem wirkêre unde von dem werke, wâ daz werc als edel und als vollekomen sî, als der wercmeister? Diz ist gesprochen von den persônen in der drîvaltikeit.“ 78 Meister Eckhart: Pr. Q 6, DW I, S. 110, Z. 6–7: „Wan der vater éin werk würket, dar umbe würket er mich sînen eingebornen sun âne allen underscheit“; ders.: Pr. Q 31, DW II, S. 118, Z. 3–7: „Wan got würket daz werk in der sêle, daz sîn geburt ist; sîn geburt daz ist sîn werk, und diu geburt ist der sun. Daz werk würket got in dem innigesten der sêle und sô verborgenlîche, daz ez niht enweiz engel noch heilige, noch diu sêle selber enkan dar zuo niht getuon, dan daz si ez lîdet; ez gehœret gote aleine zuo“; Pfeiffer II, Spruch 59, S. 620, Z. 25–26: „Daz êrste werc, daz got würket in der sêle, daz ist sînen sun geberen in der sêle […].“ 79 Meister Eckhart: Pr. Q 43, DW II, S. 319, Z. 5–S. 320, Z. 1: „Von nôt muoz got würken alliu sîniu werk. Got ist alle zît würkende in einem nû in êwicheit, und sîn würken ist: sînen sun gebern; den gebirt er alle zît. In der geburt sint alliu dinc her ûz komen […]“; Pfeiffer II, Traktat XV, S. 534, Z. 33– 34: „Daz ander geschepfnüsse ist der drîer persône alleine, wan sie ein sint an irn werken, dâ sie elliu dinc von nihte schaffent.“
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Sphäre des Göttlichen von jeglichem Wirken keineswegs unbekannt ist. Die omnipräsente Unterscheidung von ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘ wird nämlich regelmäßig damit begründet, dass Erstere nicht wirke. Als locus classicus für diese Lehre darf eine in der nacheckhartischen Mystik oft zitierte Passage aus Eckhart-Predigt S 109 gelten. In Hinblick auf seine Bemerkung, dass „Got und gotheit hânt underscheit als verre als himel und erde“,80 führt der Meister aus: Got der würket, diu gotheit enwürket niht. Si enhât ouch niht ze würkenne. In ir enist ouch kein werk. Si engeluoget ouch ûf kein werk. Got und gotheit hânt underscheit an würkenne und an nihtwürkenne.81
An dieser Position hält die nacheckhartische Mystik, soweit sie sich mit Gottes Wirken befasst, durchgängig fest.82 Dabei ist allerdings die Einschränkung zu machen, dass es sich um eine spezifische Perspektive handelt: Die Gottheit wirkt nicht, insofern sie unter dem Gesichtspunkt ihrer ‚Abgeschiedenheit‘ betrachtet wird.83 Nur dann gilt das ebenfalls vielzitierte Diktum: „wesen birt niht.“84 Wird
80 Pr. S 109, DW IV/2, S. 767, Z. 34–S. 768, Z. 35. 81 Pr. S 109, DW IV/2, S. 772, Z. 61–S. 773, Z. 64. Das ‚Buch der Wahrheit‘ (hg. Sturlese/Blumrich) gibt diese Stelle folgendermaßen wieder: „Dú Warheit sprach: Ja, gotheit und got | ist eins, und doch so ‚wúrket noch gebirt gotheit nit, aber got gebirt und wúrket‘.“ Ebd., Kap. 3, S. 10, Z. 37–39. In Merswins ‚Leben Jesu‘ (hg. Lindner) lautet die Stelle: „Maister Eghart spricht: ‚Under got und gothait ist als verr underschait: got, der wuirkt, die gothait wuirkt nuit, si enhat och nuiz ze wuirkent.‘“ Ebd., S. 248, Z. 4–8. Im Traktat ‚Von den drei Fragen‘ fehlt das Zitat teilweise. Nicht vorhanden ist es z. B. in Lieftincks Edition (nach Brüssel, Kgl. Bibl., Cod. 643/644; Lieftinck, S. 240–244). Das Gleiche gilt für Merswins Bearbeitung der kurzen Schrift, dem ‚Buch von den drei Durchbrüchen‘ (hg. Jundt: Le livre, S. 215–230). In Denifles Ausgabe (in: Taulers Bekehrung, S. 137–143) nach der Züricher Handschrift Cod. C 96 (320) ist es dagegen aufzufinden: „Von disem durchbruch sprach meister egghart: Under got und under gotheit ist als verre underscheid, als der himel ob der erde. Got der wúrket, dú gotheit wúrket nit. Si hat ŏch nit ze wúrken.“ Ebd., S. 141, Z. 21–24 [eigene Zeilenzählung]. Im Traktat ‚Von der geistlichen Spur‘ heißt es: „Maister ekkart sprichet vnder got vnd gothait ist also verre vnderschaiden als der himel ob der erden Got der wurket die gothait wurket nit Si enhat och nit ze würkent.“ Zitiert nach DW IV/2, S. 754; hier (S. 754/755) finden sich ebenfalls Hinweise auf die oben zitierten Stellen aus dem Traktat ‚Von den drei Fragen‘ und Merswins ‚Leben Jesu‘. 82 Siehe z. B. Pfeiffer II, Traktat XIII, S. 525, Z. 15–17: „Seht, alsô ist ez umbe die gotheit: diu wirket niht in irre nâtûre, mêr: allez, daz si wirket, daz wirket si mit den persônen […]“; Pfeiffer II, Liber positionum, n. 5, S. 632, Z. 33–37: „Seht, alsô ist ez umbe die gotheit: si hât in ir beslozzen alliu dinc, aber si enwürket noch enbirt niht an ir selber. Swaz si würket, daz geschiht allez mit den persônen persônlich unde wesenlich. Seht, dâ heizet diu gotheit daz berhaftic wesen, dâ si ûz birt an den persônen persônlich unde wesenlich.“ 83 Siehe dazu die Ausführungen oben, Kap. 3.2.1, S. 322 mit Anm. 41 (dort vor allem das Zitat aus dem ‚In-principio-Dialog‘). 84 Siehe oben, Kap. 3.2.1, S. 319–320.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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die Seinsperspektive, derzufolge die Gottheit aufgrund ihrer vollkommenen Unbestimmtheit notwendigerweise steril ist, jedoch zugunsten der Einheitsperspektive verlassen,85 greift ein anderer Grundsatz. Denn in ihrer absoluten Einheit unterscheidet sich die Gottheit durchaus von allem anderen, nämlich durch UnUnterschiedenheit.86 Damit aber ist jenes Moment der Alterität gegeben, welches die Unfruchtbarkeit der essentia Dei aufhebt und paradoxerweise zugleich doch ihre All-Einheit bestätigt. Denn für Gott als Gebärenden gilt: „Sin wesen ist sin wúrken.“87 Nun erst lässt sich die Aussage des ‚Frankfurter‘ in ihrer Eigenart genauer bestimmen: Der Traktat verabsolutiert die Wirkunfähigkeit Gottes, indem er eine nur für Gott ‚als Gottheit‘ zulässige Bestimmung auf Gott ‚als Gott‘ anwendet: „[…] vnd diß ist yn got noch alles eyn weßen vnd nicht als eyn wircken.“ Zusätzlich zementiert er seine Position dadurch, dass er die Gottheit nur unter dem Aspekt ihrer Seklusion darstellt und damit Gottes wesen rigoros von jeglichem Wirken isoliert. Indem der ‚Frankfurter‘ den Ausschluss aller Kreaturen aus dem Bereich des Göttlichen für die Wirkunfähigkeit Gottes verantwortlich macht, bestätigt er einmal mehr dessen mangelnde Schöpfungskompetenz. Denn der Gott, den der Metaphysikentwurf des 31. Kapitels präsentiert, kann die Kreaturen nicht in ihren raum-zeitlichen Seinsstatus hinaustreten lassen, da sie nicht auf geistige Weise in ihm präsent sind. Der Verzicht des ‚Frankfurter‘ auf eine ausdrückliche Benen-
85 Aufgrund der Konvertibilität der Transzendentalien ens und unum ist eine völlige Trennung der einen Perspektive von der anderen allerdings nicht möglich. Die Einheitsperspektive meint eine Betrachtung des Seins sub ratione unius. Siehe dazu oben, Kap. 3.2.1, S. 320. 86 Vgl. Beierwaltes: Unterschied durch Un-Unterschiedenheit. 87 Johannes Tauler: Pr. V 60, S. 277, Z. 17. Vgl. Seuse (hg. Bihlmeyer): Vita, Kap. 50, S. 171, Z. 19–20. Auch in den akademischen Debatten des frühen vierzehnten Jahrhunderts taucht diese Position als Argument auf, so wenn der an Thomas von Aquin orientierte Dominikaner Johannes Picardi von Lichtenberg in ablehnender Reaktion auf die Intellektlehre Dietrichs von Freiberg (siehe dazu oben, Kap. 2.2.3.1, S. 148–149) die Erhabenheit Gottes folgendermaßen begründet: „Nulla enim creatura est sua operatio. In deo autem sunt idem.“ Zitiert nach Mojsisch: ‚Causa essentialis‘, S. 109. Zu Thomas siehe Krämer: Imago Trinitatis, S. 116. Vgl. für den volkssprachlichen Bereich Vorsmak des êwigen lebennes (hg. Hillenbrand), S. 141, Z. 4–6: „Und ist das [die Unmöglichkeit, ein von uns gebildetes Wort als ‚Sohn‘ zu bezeichnen] hier umbe, wand keiner kreaturen wúrken ist ein substancie alse gottes wúrkunge ist, mer aller creaturen wúrkunge sind zvalle, als ich me geseit habe.“ Der V. Gaesdoncksche Traktat dagegen setzt in Abgrenzung von Thomas die Identität von Wesen und Wirken auch für das Bild in der Seele voraus. Vgl. Beccarisi: Dietrich in den Niederlanden, S. 302; siehe auch S. 300. Die Diskussion dreht sich also darum, ob die Identität von wesen und würken nur Gott allein zukommt oder auch für die innerseelische imago Dei angenommen werden darf. Nicht aber wird – wie im ‚Frankfurter‘ – Gott die Wirkkompetenz abgesprochen.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
nung der Person des Heiligen Geistes,88 in der sich Eckhart zufolge der Übergang vom Göttlichen zum Kreatürlichen vollzieht, ist so gesehen nur folgerichtig.89 Abschließend sei nach den Konsequenzen gefragt, die sich auf syntagmatischer Ebene aus der These des ‚Frankfurter‘ ergeben: Wenn Gott nicht wirken kann, da er frei von allen Kreaturen ist, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass er des Wirkens mächtig wird, sobald er in den von ihm strikt getrennten Bereich des Kreatürlichen eindringt. Damit aber kehrt der Traktat eine christliche Grundanschauung in ihr genaues Gegenteil: Denn ihm zufolge geht das göttliche Wirken der Kreatur nicht voraus, sondern es setzt diese voraus. Der sich dem Menschen in seiner Fülle schenkende Gott Meister Eckharts, dem das Privileg des Wirkens „âne mittel und âne bilde“ zukommt, ist hier ersetzt durch einen Gott, der aufgrund eines ihm innewohnenden Mangels auf den Menschen angewiesen ist. Wie die folgenden Ausführungen zu ‚Gott, insofern er Mensch ist‘, zeigen werden, beruhen das eigentümliche unio-Konzept des ‚Frankfurter‘ und seine damit einhergehende Dependenzlehre auf genau dieser Annahme einer Wirkohnmacht Gottes, die aus der Perspektive christlicher ‚Normaltheologie‘ nur als skandalös bezeichnet werden kann. Doch damit nicht genug: Wenn Gott der Dimension seines schöpferischen Wirkens beraubt ist, dann bedeutet dies gezwungenermaßen, dass die Kreatur – insbesondere der Mensch – nicht von Gott stammt, sondern einem anderen Reich angehört. Rufen wir uns noch einmal die Äußerungen des ‚Frankfurter‘ über die Natur des Menschen ins Gedächtnis zurück: „Icheit vnd selbheit, das gehoret alles dem teufel czu, vnd des halben ist er eyn teufel.“90 Die für die Anthropologie des ‚Frankfurter‘ charakteristische ‚manichäische‘ Tendenz hat somit einen Rückhalt in seiner Metaphysik.
88 Vgl. Kap. 2.3.5.2, S. 275. 89 Eine Gesamtschau auf die Texte des konkreten Korpus zeigt, dass der Heilige Geist vorzugsweise innerhalb folgender Zusammenhänge thematisiert wird: in Hinblick auf die Gottesgeburt im Seelengrund, die sich stets als trinitarisches Wirken darstellt; hinsichtlich der Verbindung zwischen Gott und Schöpfung, insofern der Heilige Geist den Übergang zwischen Ungeschaffenem und Geschaffenem repräsentiert; und schließlich bei der Behandlung der trinitarischen Dynamik, d. h. der Personenkonstitution durch die unterschiedlichen Relationen. Es handelt sich mithin durchgängig um Aspekte, die der ‚Frankfurter‘ aus seiner Metaphysik ausklammert. 90 Kap. 22, S. 99, Z. 17–18.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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3.2.3 ‚Gott, insofern er Mensch ist‘: die Abhängigkeit Gottes von der Kreatur Die Wendung „got, als got mensch ist“91 lässt zunächst erwarten, dass sich die anschließenden Erläuterungen im Metaphysikentwurf des ‚Frankfurter‘ auf die Inkarnation beziehen werden. Das jedoch ist nicht der Fall. Statt um das historisch einmalige Ereignis der Menschwerdung Christi geht es um Gott, „do got lebet yn eyme gotlichen ader yn eyme vorgotten menschen“92, also um Gott, insofern er von einem Menschen Besitz ergriffen hat. Innerhalb der ‚deutschen Mystik‘ ist diese Thematik sicherlich alles andere als ungewöhnlich. Zwar sticht die Formulierung „got, als got mensch ist“ aufgrund der Übertragung des Inkarnationsmotivs auf die unio hervor. Sie sprengt jedoch nicht den Rahmen des innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ Sagbaren, da hier ja generell die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen im Zentrum steht, kann Letzterer doch nur so in die Sphäre des Göttlichen emporgetragen werden. Dennoch handelt es sich um mehr als um eine rhetorische Finesse des ‚Frankfurter‘, wenn dieser in seiner dritten Perspektivierung des Göttlichen von Gott spricht, insofern dieser Mensch ist und diesen ‚vermenschten‘ Gott mit dem ‚vergotteten‘ Menschen gleichsetzt. Denn hier soll im Kontext der Gotteslehre des 31. Kapitels etwas anderes zum Ausdruck gebracht werden als die fundamentale Menschzuwendung Gottes, wie sie auch in weiteren mystischen Predigten und Traktaten artikuliert wird. Vielmehr begründet der ‚Frankfurter‘ in dieser Passage seine Dependenzlehre, die sich wie ein roter Faden durch den Traktat zieht93 und zu jenen diskursiven Innovationen gehört, die ihn als eigenständiges ‚Werk‘ von anderen mystischen ‚Werken‘ abgrenzen. Während mystische Texte aus dem literarischen Umfeld des ‚Frankfurter‘ im Einklang mit einer Grundnorm christlicher Lehre darauf insistieren, dass die mit der unio einhergehende Transformation ausschließlich den Menschen – und zwar vornehmlich den ‚inneren Menschen‘94 – betrifft, während Gott als der Vollkom-
91 Frankfurter, Kap. 31, S. 114, Z. 21. Zur Integration dieser Wendung in die dreifache Perspektivierung des Göttlichen siehe das vollständige Zitat zu Beginn von Kapitel 3.2.1, S. 317–318. 92 Kap. 31, S. 115, Z. 1. 93 Besonders deutlich tritt sie in verschiedenen Passagen zutage, die auf Kapitel 31 folgen (siehe dazu v. a. Kap. 3.3.1). Doch sie durchdringt auch das Leidenskonzept und die Soteriologie des ‚Frankfurter‘, die bereits in vorausgehenden Abschnitten des Traktats erläutert werden. Siehe dazu Kap. 3.3.2.3. 94 Der ,äußere Mensch‘ kann zwar durch asketische Disziplinierung die Umformung des ‚inneren Menschen‘ einleiten und umgekehrt durch das Ausströmen der göttlichen Fülle vom ‚inneren‘ in den ,äußeren Menschen‘ beeinflusst werden (vgl. Kap. 2.3.2.2, S. 219 mit Anm. 599). Eigentlicher ‚Ort‘ des göttlichen Wirkens ist jedoch immer der homo interior.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
mene schlechthin von jeder Wandlung unberührt bleibt,95 gilt dies für unseren Traktat gerade nicht. Denn hier geht Gott keineswegs in den Menschen ein, um diesen entweder von nôt96 oder gnadenhaft an seiner Erhabenheit teilhaben zu lassen; vielmehr benötigt er den Menschen, um sich dasjenige anzueignen, was ihm ebenso ‚als Gottheit‘ wie auch ‚als Gott‘ fehlt: nämlich Wirkmächtigkeit. Es ist diese äußerst unkonventionelle Motivation der unio, die den ‚Frankfurter‘ am weitesten aus der christlich-orthodoxen ‚Normaltheologie‘ im Allgemeinen und aus der ‚deutschen Mystik‘ im Besonderen herausträgt. Allerdings ist die Kontinuität zum ‚mystischen Diskurs‘ auch bei dieser heiklen Auslegung des GottMensch-Verhältnisses nicht völlig unterbrochen; die Behauptung einer Abhängigkeit Gottes von seinem Geschöpf findet sich nämlich auch in anderen Predigten und Traktaten; sie wird dort jedoch auf weniger anstößige Weise begründet als im ‚Frankfurter‘. Darauf ist gleich zurückzukommen. Zunächst sei jedoch die Argumentation des ‚Frankfurter‘ in der zur Diskussion stehenden Passage genauer analysiert: In unmittelbarem Anschluss an seine Überlegungen zu ‚Gott als Gott‘ beharrt der Traktat nochmals auf der Wirkunfähigkeit Gottes, da dieser in sich selbst „an creatur orspruncklich vnd weßenlich“, aber nicht „formelich ader wircklich“ sei.97 Damit wird erneut deutlich, dass der ‚Frankfurter‘ Bestimmungen der statischen Gottheit auf Gott überträgt, denn die Wendung „formelich ader wircklich“ bringt in der mystischen Predigt- und Traktatliteratur die im ‚Frankfurter‘ fehlende Dynamik der innergöttlichen Vorgänge – also die geistige Prozessualität der Personenkonstitution – zum Ausdruck.98
95 Denn auch die innergöttliche Dynamik und die virtuelle Präsenz der Kreaturen innerhalb der Sphäre des Göttlichen sind Raum und Zeit und damit der Wandelbarkeit des Geschöpflichen entzogen. Die Aussagen zur Unveränderlichkeit Gottes in der religiösen Literatur der Spätantike und des Mittelalters sind Legion. Zitiert seien hier beispielhaft vier Aussagen aus unterschiedlichen literarischen Kontexten. Augustinus: trin. XV, 3, 5 (LLT-A): „[…] ubi si quid relatiue, id est ad aliquid quod ipse non est, etiam ex tempore dicitur sicuti est: domine, refugium factus es nobis, nihil ei accidere quo mutetur sed omnino ipsum in natura uel essentia sua immutabilem permanere“; Albertus Magnus: In I Sent., dist. 8, C, a. 16 (Quid sit incommutabilitas, et utrum aliqua mutatio cadat in Deum?): „Solutio. Dicendum, quod Dei solius natura et per se et per accidens incommutabilis est: non tantum secundum fidem, sed etiam secundum omnes Philosophos qui aliquid de ipso intellexerunt“; Meister Eckhart: Pr. Q 21, DW I, S. 358, Z. 2–4: „Ûzer gote enist niht dan niht aleine. Dar umbe ist ez unmügelich, daz in got iht gevallen müge anderunge oder wandelunge“; ders.: Pr. S 95, DW IV/1, S. 199, Z. 303, Sp. A–S. 200, Z. 307, Sp. A: „Aber got enmac noch geminnert noch gemêret werden, wan er unmæzic und unwandelhaftic ist, mêr: diu sêle muoz erhaben und gewîtet werden, wan si kleine und wandelhaftic ist.“ 96 Siehe Kap. 2.3.3, Anm. 735. 97 Kap. 31, S. 115, Z. 24–25. 98 Siehe etwa Jostes, Nr. 82 (Hie hebet sich an ain guter sermo von dem reich gotes), S. 87, Z. 11–18: „Nu moht man wenen, daz dis geistend maht geleich wer in disen zwein personen; und dez
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
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Erst wenn Gott in einem ‚göttlichen‘ oder ‚vergotteten‘ Menschen lebt, kann er das in ihm ursprungshaft Angelegte wirkend entfalten. Da der ‚Frankfurter‘ das Wirkvermögen mit aller Entschiedenheit an die Kreatur und damit an das ens hoc aut hoc bindet,99 bedeutet dies, dass sich Gott ‚vermenscht‘, indem er geschöpfliche Eigenschaften annimmt und sich dadurch mit Individualitätsmerkmalen ausstattet.100 In den Worten des ‚Frankfurter‘: In einem vergotteten Menschen „gehoret got etwas czu, das seyne eigen ist vnnd ym allein czu gehoret vnd nicht creaturen“.101 Die Nutzlosigkeit eines sich nicht durch Inbesitznahme eines Menschen verwirklichenden Gottes erklärt der ‚Frankfurter‘ mit dem berühmten Axiom „Deus et natura nihil faciunt frustra“.102 Dadurch ergibt sich eine bemerkenswerte Parallele zu einer Passage aus dem Traktat De intellectu et intelligibili des Dominikanertheologen Dietrich von Freiberg, die zugleich jedoch die theologische Eigenständigkeit des ‚Frankfurter‘ offenbart. Dietrich schreibt: Natura autem nihil agit frustra, quia, sicut non deficit in necessariis, ita non abundat in superfluis. Esset autem unaquaeque res superflua in natura et frustra, si destitueretur propria operatione sua, quae est finis rei, propter quem est, qua, inquam, operatione tendit in extra.103
Der Dominikaner rekurriert hier auf die aristotelische Lehre, „dass alles, was eine Wirkung besitzt, um dieser Wirkung willen besteht“.104 Deshalb ist eine Sache dann vergebens, wenn sie in sich selbst verharrt, anstatt die ihr angemessene Wirkung hervorzubringen. Nichts anderes sagt der ‚Frankfurter‘, nur wendet er das Theorem in einer aus christlicher Perspektive sehr problematischen Weise auf Gott an: Um nicht vergebens zu sein, muss auch Gott wirkend aus sich heraus-
enist niht. Wann noch formlichem anfang so ist dis geistend maht anders niht (en andert) im vater den im sne; wann der vater ist formlich ein ander dink denn der sn, aber do man si nimt, dis geistend maht, formlich und wurklich, al da ist si die formlich red, und die eigenschaft, die do formlich setzt die person dez heilgen geists. Dor um get auz der heilig geist von zwein formlichen ursprngen, als von einem wurklichen beginnen“ [Hervorhebung L. W.]. 99 Kap. 31, S. 115, Z. 30–31: „Nu dar got wil das gevbet vnd gewircket han, vnd das mag an creatur nicht gescheen, das eß also seyn solle.“ Vgl. auch ebd., Z. 31–33; Zitat weiter unten in diesem Kapitel, S. 340. 100 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 3.3.1. 101 Kap. 31, S. 115, Z. 22–24. 102 Frankfurter, Kap. 31, S. 115, Z. 28–29: „Wann was nyrgent czu nutze ist, das ist vmmb sust vnd das wil got vnd die natur nicht.“ Ursprünglich aristotelisch (vgl. De caelo I 4, 271a 33; II 11, 291b 13f.), wird dieser Grundsatz von zahlreichen christlichen Schriftstellern adaptiert. 103 Dietrich von Freiberg (hg. Mojsisch): De intellectu et intelligibili I 10 (2), S. 143, Z. 10–13. 104 Goris: Dietrich von Freiberg, S. 170.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
treten. Da ihm dies ‚als Gott‘ jedoch nicht möglich ist, hat er sich seine Existenzberechtigung dadurch zu sichern, dass er – wie der ‚Frankfurter‘ im 32. Kapitel formuliert – „eyn creatur an sich nympt vnd yr geweldig ist“.105 Ungeachtet der Extravaganz dieser Äußerung ist sie innerhalb der volkssprachlichen Mystik des vierzehnten Jahrhunderts nicht völlig beispiellos. So konstatiert auch Meister Eckhart eine gewisse Abhängigkeit Gottes vom Menschen: „Gotes natûre und sîn wesen und sîn gotheit die hangent dar ane, daz er muoz würken in der sêle.“106 Ähnlich äußert sich nicht nur der Thüringer wiederholt.107 Ungeachtet der posthumen Zensurierung dieses Aspektes seiner Lehre108 finden sich vergleichbare Aussagen auch des Öfteren in der nacheckhartischen Mystik. Johannes Tauler etwa schreibt: Got enbegert noch enbedarff nút in aller der welte denne alleine eins dinges, des begert er also uznemende sere als aller sin flis do an gelige, daz ist daz einige das er den edeln grunt den er in dem edeln geiste des menschen geleit hat, daz er in blos und bereit vinde, das er sins edeln gtlichen werkes do inne bekummen múge; wanne Got hat gantzen gewalt in himel und in erden, aber do an gebristet ime allein daz er sins aller wunnenclichesten werkes an dem menschen nút bekummen enmag.109
So umstritten Aussagen wie diese aus christlich-orthodoxer Perspektive sicherlich sind – Zekorn sieht in ihnen gar „die Grenze dessen, was theologisch sinnvoll formuliert werden kann, mindestens erreicht, wenn nicht bereits überschritten“110 –, bleiben sie dennoch von der Brisanz des ‚Frankfurter‘ weit entfernt. Denn sowohl Meister Eckhart als auch die nacheckhartische Mystik beziehen die Dependenzstruktur exklusiv auf das innerseelische Wirken Gottes, das ihn
105 S. 116, Z. 30. 106 Pr. S 109, DW IV/2, S. 764, Z. 19–S. 765, Z. 20. Noch drastischer formuliert Eckhart in Pr. Q 4, DW I, S. 73, Z. 12–S. 74, Z. 1: „Gotes natûre ist, daz er gebe, und sîn wesen swebet dar an, daz er uns gebe, ob wir unden sîn. Sîn wirs niht noch enpfâhen wir niht, sô tuon wir im gewalt und tœten in.“ Zum ‚Gotteszwang‘ bei Meister Eckhart siehe auch Wilde: Das neue Bild, S. 264–269. 107 Siehe dazu die in DW IV/1, S. 486, Anm. 38 angegebenen Textstellen. 108 Vgl. Enchiridion (hg. Denzinger), n. 963, S. 401. Es handelt sich um Satz 13 der Zensurierungsbulle In agro dominico. 109 Tauler: Pr. V 5, S. 22, Z. 5–11. 110 Zekorn: Gelassenheit, S. 35. Er bezieht sich auf Tauler: Pr. V 53, S. 240, Z. 18–22: „In der worheit: Got ist so not nach uns als ob alle sine selikeit an uns gelige. Und sin wesen, alles das Got der vatter gemacht und geschaffen hat in himel und in erden mit aller siner wisheit und gte, das hat er alles dar umbe geton das er uns do mit wider rffe und lade in unsern ursprung und wider brechte in sich.“ Wenn Zekorn (ebd.) meint: „Diese Aussage läßt sich nicht mehr steigern: Gott selbst existiert um des Menschen willen“, so gilt dies nur mit Einschränkung. Dem ‚Frankfurter‘ gelingt es durchaus, die Abhängigkeit Gottes von der Schöpfung nochmals zu verschärfen.
3.2 ‚Gott als Gottheit‘, ‚Gott als Gott‘, ‚Gott als Mensch‘
339
in keinerlei Berührung mit dem ‚Dies-oder-das-Seienden‘ bringt. So bleiben die absolute Souveränität und Freiheit Gottes gewährleistet, welcher er durch eine Bindung an die Materie verlustig gehen würde.111 Auch ist Gottes Abhängigkeit nicht durch ein ihm innewohnendes Defizit verursacht, sondern durch den neuplatonischen Grundsatz bonum est diffusivum sui motiviert.112 Um sich dem Menschen mitteilen zu können, ist Gott jedoch auf dessen Empfänglichkeit, d. h. die bewusste Entfernung von jeglichem eigenmächtigen Wirken angewiesen.113 Nur im Zustand der ‚Gelassenheit‘ also kann Gott im Menschen wirken, dann aber auf geistige Weise ohne jegliches Mittel, so wie er in sich selbst wirkend ist.114 Genau dies bleibt dem Gott des ‚Frankfurter‘ verwehrt. Vielmehr instrumentalisiert er den Menschen, um überhaupt wirkmächtig zu werden. Zwar beharren auch weitere mystische Prosatexte des paradigmatischen Korpus darauf, dass der gotterfüllte Mensch nichts anderes sei als ein Werkzeug Gottes, da der homo divinus sein selbstmächtiges Wirken zugunsten einer Alleinwirksamkeit Gottes aufgegeben habe.115 Die von jeglicher Kreatur unabhängige Allmacht des gött-
111 Für Eckhart bedeutet Freiheit im Rückgriff auf antike Traditionen „primär Nicht-Gebundenheit, nämlich Nicht-Gebundenheit an die stoffliche Existenzform“ (Leppin: Dynamisierung, S. 106). Siehe dazu Pr. Q 32, DW II, S. 145, Z. 4–7: „Götlîchiu sælicheit liget an drin dingen: daz ist an bekantnisse, daz er sich selben endelîche bekennet, daz ander vrîheit, daz er unbegriffen und unbetwungen blîbet von aller sîner crêatûre, und an volkomener genüegede, daz er sich selben und aller crêatûre genüeget.“ 112 Eckhart verbindet diesen Grundsatz mit dem weiter oben erwähnten aristotelischen Axiom natura nihil facit frustra. Vgl. Pr. S 103, DW IV/1, S. 487, Z. 113–115: „Daz wizzest: got enmac niht lære noch îtel lâzen. Got und diu natûre enmügen daz niht lîden, daz ihtes iht îtel oder lære sî.“ Zur Herkunft des neuplatonischen Philosophems siehe Kremer: Dionysius Pseudo-Areopagita. Zu seiner Verwendung bei Meister Eckhart vgl. z. B. Enders: ‚Gott ist einer‘, S. 10, 33. 113 Vgl. Pfeiffer II, Spruch 46, S. 614, Z. 2–8: „Meister Eckehart sprach in einem sermône: mîn ôtmüetikeit gibet gote sîne gotheit, unt daz bewêret man hie mite. Wan gotes reht eigen ist geben. Nû mac got niht geben, er enhabe danne etwaz, daz enpfenclich sî sîner gâbe. Nû mache ich mich enpfenclich sîner gâbe mit mîner ôtmüetikeit, und hier umbe sô mache ich got einen geber mit mîner ôtmüetikeit, und wan danne geben ist gotes eigen, dar umbe sô gibe ich gote daz sîn eigen ist mit mîner ôtmüetikeit“; ebd., S. 614, Z. 14–17: „Und hier umbe, sol got sîne götlîche eigenschaft mit sîner gâbe üeben, sô bedarf er wol mîner ôtmüetikeit; wan âne ôtmüetikeit sô mac er mir niht geben, wan ich der gâbe âne ôtmüetikeit niht enpfenclich bin.“ 114 Vgl. Meister Eckhart: Pr. S 101, DW IV/1, S. 350, Z. 82–84: „Got würket in der sêle âne alle mittel, bilde oder glîchnisse, jâ, in dem grunde, dâ nie bilde înkam dan er selber mit sînem eigenen wesene. Daz enmac niht getuon kein crêatûre“; ders., Pr. Q 52, DW II, S. 501, Z. 1–4: „Wan, vindet er den menschen alsô arm, sô ist got sîn selbes werk würkende, und der mensche ist got alsus in im lîdende, und got ist ein eigen stat sîner werke mit dem, daz got ist ein würker in im selben.“ 115 Siehe z. B. Tauler: Pr. V 60f, S. 312, Z. 7–10: „Denne so wúrket Got alles des menschen werk in ime und usser ime, und der mensche wúrket nút usser im selber. Denne Got wúrket, und der mensche
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
lichen Wirkens ist dabei jedoch vorausgesetzt.116 Indem Gott als wesenhaft Wirkender im Seelengrund empfangen wird, erfolgt eine den ganzen Menschen erfassende Umwandlung, von der Gottes Sein absolut unberührt bleibt. Keinesfalls also besteht wie im ‚Frankfurter‘ eine Notwendigkeit für Gott, sich seines Geschöpfes zu bemächtigen, um einen ihm selbst innewohnenden Mangel auszugleichen. Diese Konsequenz seines Metaphysikentwurfs – die Angewiesenheit Gottes auf die Kreatur – reflektiert der Traktat explizit: „Ja, solle wider diß noch das seyn, ader were diß noch das, ader were keyn werck ader wircklikeit ader des gleich, was were ader sold got ioch selber? Ader was were eß? Ader weß got were er?“117 Die hier formulierte Einsicht in die Problematik seiner Gotteslehre führt allerdings nicht zu deren Revision. Stattdessen legt sich der ‚Frankfurter‘ ein Spekulationsverbot auf, indem er davon absieht, die Implikationen seines Gottesbegriffs weiter zu durchdenken.118 Diese Restriktion gilt allerdings nicht für das schöpfungstheologische Faktum als solches. Dieses zieht sich, wie bereits erwähnt, geradezu leitmotivisch durch den ‚Frankfurter‘ und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner negativen, die Grenze zum ‚Manichäismus‘ überschreitenden Anthropologie,119 aber auch mit seiner eigentümlichen Christologie.120 Insofern handelt es sich bei der dreifachen Perspektivierung des Göttlichen im 31. Kapitel um eine Schlüsselpassage des ‚Frankfurter‘, welche andere Aussagen des Traktats zum Gott-MenschVerhältnis in spezifischer Weise moduliert, wenn sie in ihrer Tragweite ernst genommen und nicht durch eine verharmlosende, christlich-orthodoxen Maßstäben entsprechende Lektüre entschärft wird. Welches Fazit lässt sich aus den bisherigen Ausführungen ziehen? Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘, wie sie sich im spekulativen Entwurf des 31. Kapitels präsentiert, ist durch die Aspekte der Vereinseitigung, Entdynamisierung und Entfremdung gekennzeichnet. Indem der Traktat nur eine Seite der Gottheit – ihre absolute Seklusion – darstellt und Gott seiner aus der Dynamik der innergöttlichen Bewegungen hervorgehenden Wirkmächtigkeit beraubt, lässt er eine inti-
ist nút denne ein gezowe das Got wúrket.“ Vgl. zu dieser Stelle auch Zekorn: Gelassenheit, S. 181. Siehe ferner die Zitate in Kap. 2.3.3, S. 252–253. 116 Meister Eckhart: Pr. S 102, DW IV/1, S. 424, Z. 152–153: „Und als got ist almehtic an dem würkenne, alsô ist diu sêle abgründic an dem lîdenne.“ 117 Frankfurter, Kap. 31, S. 115, Z. 31–33. 118 Siehe Kap. 31, S. 115, Z. 33–36; zitiert oben in Kap. 1.2.2, S. 38. 119 Insofern die Wirkunfähigkeit Gottes ihn als Schöpfergott disqualifiziert. Siehe oben, Kap. 3.2.2, S. 329. 120 Siehe unten, Kap. 3.3.2.3.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
341
me Nähe von Gott und Mensch, wie sie sich in anderen mystischen Predigten und Traktaten der ungeschuldeten, jedoch seinem Wesen entsprechenden Menschzuwendung Gottes verdankt, nicht zu. Das Leben Gottes in einem ‚göttlichen‘ oder ‚vergotteten‘ Menschen bedeutet daher nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – die Erhebung der Seele in die Sphäre des Göttlichen, sondern ist das Resultat eines divinatorischen Gewaltaktes, der dazu dient, ein Defizit Gottes zu kompensieren.121
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre 3.3.1 Gottes ‚Autismus‘ Wie weiter oben bereits gezeigt wurde,122 stellt der ‚Frankfurter‘ das Wirken Gottes im Menschen als ‚autistischen Selbstbezug Gottes‘ dar, wodurch sich ungeachtet der literarischen und historischen Distanz ein korrelativer Bezug zu den antipelagianischen Schriften des Augustinus ergibt. Zugleich bleibt der Traktat in den zeitgenössischen Kontext der ‚deutschen Mystik‘ eingebunden, insofern die unio in den Schriften Meister Eckharts, aber auch in anderen Predigten und Traktaten des konkreten Korpus als vollständige Aufgabe des menschlichen Eigenwirkens zugunsten einer göttlichen Alleinwirksamkeit konzipiert wird. Dass der ‚Frankfurter‘ trotz dieser Übereinstimmungen einen Sonderweg beschreitet, liegt an seiner eigentümlichen Dependenzlehre, deren Grundzüge im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurden.123 Anders als bei Augustinus ist das Wirken Gottes im Menschen hier kein souveräner Gnadenakt eines allmächtigen Herrschers, der nur seine Auserwählten zum Heil beruft. Im Unterschied zur communis opinio der ‚deutschen Mystik‘ handelt es sich aber auch nicht um die bedingungslose, jedoch auf die Empfangsbereitschaft des Menschen angewiesene Zuwendung des Schöpfers zu seinem vernunftbegabten Geschöpf, um es auf geistige Weise in seinen Ursprung zurückzuführen. Stattdessen dient das göttliche Wirken im Menschen in unserem Traktat vornehmlich dem Nutzen Gottes, da dieser sich nur durch die Inbesitznahme eines
121 Mit seiner Koppelung von göttlicher Unvollkommenheit und mangelnder Wirkmächtigkeit nimmt der ‚Frankfurter‘ die exakte Gegenposition zu dem Franziskaner Marquard von Lindau ein. Vgl. ders. (hg. Blumrich): Pr. 32, S. 223, Z. 67–68: „Wan nun gott vnmſſeklichen volkomen iſt, ſo iſt er ch vnmſſeklich wúrklich.“ 122 Siehe Kap. 2.3.3. 123 Siehe Kap. 3.2.3. Vgl. zudem Kap. 3.2.1 und 3.2.2, da die Dependenzlehre aus der Gotteslehre des ‚Frankfurter‘ resultiert.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Menschen aus seiner Wirkungslosigkeit und damit aus seiner metaphysischen Ohnmacht befreien kann. Dieses in der dreifachen Perspektivierung des Göttlichen spekulativ begründete Defizit artikuliert der ‚Frankfurter‘ im 32. Kapitel nochmals in aller Deutlichkeit: Sich, nu ist got auch eyn licht vnd bekentniß, ßo gehort licht vnd bekentniß czu vnd ist syn eigen, das eß luchte vnd erluchte, scheyne vnd bekenne, vnnd dar vmmb das got licht vnd bekentniß ist, ßo muß er luchten vnd irluchten vnnd bekennen, vnd alles diß luchten vnd bekennen yn got ist an creatur. Eß ist nicht da als eyn werck, sunder als ein weßen ader eyn vrsprung. Sal eß aber geschen als eyn werck yn wirckender wiße, das muß yn creaturen geschen.124
Wie das Erkennen sind auch alle anderen geistigen Vollkommenheiten in Gott zwar ursprungshaft angelegt, ohne jedoch zur Wirkung gelangen zu können: Sich, recht als got eyn gut bekentniß vnd licht ist, also ist er auch eyn wille vnd libe vnd gerechtikeit vnd warheit vnd ist auch alle togent, vnd ist doch alles eyn weßen yn got, vnnd eß mag keines nymmer gewircket vnd gevbet werden an creatur, wan eß ist yn got an creatur nicht anders dann eyn weßen vnd eyn vrsprung vnd nicht werck.125
Der ausschließlich gebende Gott Meister Eckharts126 ist im ‚Frankfurter‘ also ersetzt durch einen nehmenden Gott, der sich der kreatürlichen Vermögen bedienen muss, um den ihm innewohnenden Mangel zu beheben. Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich, wieso der ‚Frankfurter‘ ungeachtet seines anthropologischen Pessimismus den natürlichen Seelenvermögen Vernunft und Wille Wertschätzung entgegenbringen kann,127 obwohl sie den Menschen stets und unbelehrbar in die Irre leiten, anstatt ihn auf Gott auszurichten.128 Ihr Adel konstituiert sich ausschließlich aus ihrem Wert für Gott, insofern
124 S. 116, Z. 12–17. 125 Kap. 32, S. 116, Z. 25–29. 126 Siehe etwa Meister Eckhart: Pr. Q 41, DW II, S. 297, Z. 1–3: „Im [Gott] ist vil nœter, daz er uns gebe, dan uns ze nemenne; aber wir suln ez niht meinen; wan ie minner wir ez meinen oder gern, ie mê got gibet. Dâ mite meinet got niht anders, dan daz wir deste rîcher werden und deste mê enpfâhen mügen.“ 127 Siehe oben, Kap. 2.2.2.3, S. 139. 128 Vgl. dazu u. a. die Ausführungen in Kap. 2.3.1, S. 200. Siehe ferner im ‚Frankfurter‘ Kapitel 42, welches die Frage diskutiert, „ab man got moge bekenne vnd nicht lieben“ (so der Registereintrag). Die natürliche Leitungsfunktion der Vernunft wird dort so ausgelegt, dass sie den Willen aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit stets nur zu sich selbst hinführt, jedoch nicht zu Gott. Vgl. ebd., S. 132, Z. 26–S. 133, Z. 31: „Vnd eß [das natürliche Licht] hat bekennen vor das beste vnd vor das edelste vnd dar vmmb leret eß die liebe, sie solle das bekennen vnd wissen lip han fr das beste vnd edelste. Sich, alda wirt das bekennen vnd wissen mer gelibet den *das, das bekant wirt, wan das
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
343
sie ihm jenen Status der Vollkommenheit verleihen, der ihm weder ‚als Gottheit‘ noch ‚als Gott‘ zukommt. In den Worten des Traktats: Das aller edelste vnd lustigiste, das yn allen creaturen ist, das ist bekentniß ader vornunfft vnd wille. Vnd disse czwei seynt mit eynnander; wo das ein ist, do ist auch das ander, vnd weren diße czwei nicht, ßo were auch kein vornunfftig creatur, sundern allein vihe vnd vihelikeit. Das were eyn groß gebrech, vnd got mochte sich des seynen nyrgent bekommen, vnnd seyner eygenschafft, do von vor gesaget ist yn wircklicher weiße, das doch seyn sal vnd gehoret czu volkommenheit.129
Vernunft und Wille als menschliche Vermögen ermöglichen es Gott also, sich eigenschaft anzueignen. Damit erfährt jener in Bezug auf den Menschen ausschließlich negativ konnotierte Begriff130 eine positive Umwertung. Was aber ist unter göttlicher ‚Eigenschaft‘ zu verstehen? Wenden wir uns zur Beantwortung dieser Frage zunächst dem Werk Meister Eckharts zu. Der Thüringer verwendet
falsch, naturlich licht libet seyn bekennen vnnd wissen, das eß selber ist mer den *das, das bekant wirt.“ Einer eigentlichen Beantwortung der Frage entzieht sich der ‚Frankfurter‘ damit, weil sie innerhalb seiner Konfiguration diskursiven Materials nicht relevant ist. Denn zu einer wahrhaften Gotteserkenntnis ist das ‚natürliche Licht‘ des Menschen nicht in der Lage. Damit aber ist auch eine naturhafte Gottesliebe ausgeschlossen, bedürfte diese doch der Anweisung durch die Vernunft: „Eyn itzlich libe muß von eyme lichte ader bekentniß geleret vnd geleitet werden“ (Kap. 42, S. 132, Z. 7–8). Vgl. Meister Eckhart: Pr. Q 75, DW III, S. 298, Z. 1: „Nû enkan man got niht geminnen, man enmüeze in ê bekennen […].“ Eine optimistische Gegenposition zum ‚Frankfurter‘ findet sich bereits im 13. Jahrhundert bei David von Augsburg [?]: Die vier Fittige geistlicher Betrachtung (hg. Pfeiffer I), S. 361, Z. 3–5: „Swer in [Gott] siht der muoz in minnen, und sô man in ie volleclîcher erkennet, sô man in ie krefteclîcher minnet.“ Vgl. ders. [?]: Von der Erkenntnis der Wahrheit (hg. Pfeiffer I), S. 364, Z. 10– 12: „Sô diu verstantnüsse ie grœzer ist sô diu minne ie kreftiger ist, wan got ist sô guot, daz in niemen erkennet ern müeze in ouch minnen.“ Zum vierzehnten Jahrhundert siehe den Vorsmak-Traktat (hg. Pfeiffer), S. 445, Z. 18–24: „Nû möhte man frâgen, ob es müglich wêre, das ieman alsus vollekomenlîche got bekannte und in niht minnete. har zuo sprich ich, das got mit al sîme gewalte nâch dem orden der dinge den wir nû sehen das niht getuon möhte, das dekein verstentlich crêâtûre got bekante sunder mittel unde niht minnete. unde das möhte man bewêren in maniger hande wîs.“ Dass die vom ‚Frankfurter‘ aufgeworfene Fragestellung auch im akademisch-scholastischen Kontext präsent ist, zeigt das Beispiel des Heinrich von Gent. Dieser formuliert als fünfte Quästio innerhalb seines Quodlibet XII: „Utrum Deus posset facere quod intellectus possit videre ipsum, et quod tamen voluntas eum non diligat.“ Der Diskussionsverlauf ist allerdings ein völlig anderer als im ‚Frankfurter‘ und führt dementsprechend auch zu einem abweichenden Ergebnis: „[…] idcirco dico quod simpliciter impossibile est quod intellectus videat Deum ut finem quod proprie pertinet ad intellectum practicum | circa amabile, cum sit finis in quo est perfecta ratio omnis boni, et quod voluntas nolit ipsum.“ Ebd. (hg. Decorte), S. 32, Z. 40–43. 129 Kap. 51, S. 144, Z. 16–23. 130 Vgl. Kap. 2.3.1, bes. S. 195–196.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
den Terminus abhängig davon, ob er ihn auf die ‚Gottheit‘ oder auf ‚Gott‘ bezieht, in jeweils unterschiedlicher Weise. Hinsichtlich der Gottheit lässt sich nur im übertragenen Sinne von eigenschaft sprechen, da das absolut einfache göttliche Wesen jede Form einer akzidentiellen Hinzufügung ausschließt.131 Das gilt sowohl für Wesens- als auch für Wirkeigenschaften.132 Wenn Eckhart von dem Begriff dennoch Gebrauch macht, dann im Sinne von Gottesprädikaten, welche die Vollkommenheit der gotheit zum Ausdruck bringen.133 ‚Eigenschaft‘ bedeutet in dieser Auslegung die Unberührtheit Gottes von allem ‚Fremden‘ – also paradoxerweise gerade die Freiheit von jeglicher eigenschaft:134 „Daz ist gotes eigenschaft, daz niht vremdes in in envellet, niht ûfgetragen, niht zuogeleget.“135 Im eigentlichen Sinne ist der Begriff der eigenschaft den drei göttlichen Personen vorbehalten, die zwar das einfache göttliche Wesen jeweils vollständig repräsentieren, sich aber durch ihre inneren Beziehungen (Vaterschaft, Sohnschaft, Liebesbindung von Vater und Sohn) voneinander unterscheiden: „Patet ergo quod in divinis sive in deo est amor procedens; omne autem quod in divinis ad processionem pertinet, proprium est personae vel personis.“136 Der Terminus eigenschaft bringt also eine Eigentümlichkeit zum Ausdruck, die ‚außerhalb‘ der Gott-
131 Vgl. Enders: ‚Gott ist einer‘, S. 27. 132 Vgl. Pr. Q 2, DW I, S. 43, Z. 6: „[…] wan diz einic ein ist sunder wîse und sunder eigenschaft.“ 133 Das gilt vor allem für die Transzendentalien. Vgl. z. B. Pr. Q 21, DW I, S. 368, Z. 6–8: „In dem daz got ein ist, in dem nimet er allez, daz er würket an crêatûren und an gotheit. Ich spriche mê: einicheit hât got aleine. Gotes eigenschaft ist einicheit […]“; VeM, DW V, S. 115, Z. 13–14: „Ez sprichet ein heidenischer meister, daz daz ein ist geborn ûz dem obersten gote. Sîn eigenschaft ist wesen ein mit einem“; Pr. Q 8, DW I, S. 131, Z. 4: „Gotes eigenschaft ist wesen“; BgT, DW V, S. 14, Z. 12–14: „Waz wunders ist danne, daz ich leidic wirde, sô ich leit und untrôst minne und suoche? Mîn herze und mîn minne gibet die güete der crêatûre, daz gotes eigenschaft ist“; In Ioh., LW III, n. 97, S. 83, Z. 13–15: „Secundo sic exponatur: propria ista, in quae deus venit, sunt esse sive ens, unum, verum, bonum. Haec enim quattuor deus habet propria, utpote ‚primum‘, quod ‚est dives per se‘.“ 134 Denn im Rückgriff auf den jüdischen Denker Moses Maimonides vertritt Eckhart die Auffassung „einer Eigenschaft als eines akzidentellen und vielheitlichen Zusatzes zu einer Substanz“, Enders: ‚Gott ist einer‘, S. 27. 135 DW II, Pr. Q 44, S. 344, Z. 1–2. 136 Meister Eckhart: In Ioh., LW III, n. 163, S. 134, Z. 12–14. Siehe auch ders.: Pr. Q 27, DW II, S. 51, Z. 4–S. 52, Z. 4: „Dô ich nû predigete an der drîvalticheit tage, dô sprach ich ein wörtelîn in der latîne, daz der vater sînem eingebornen sune gæbe allez, daz er geleisten mac, alle sîne gotheit, alle sîne sælicheit, und enbehielte im selber niht. Dô was ein vrâge: gap er im ouch sîne eigenschaft? Und ich sprach: jâ! wan diu eigenschaft des vaters, daz er gebirt, daz enist niht anders wan got; wan ich hân gesprochen, daz er im selber niht behalten enhât. Jâ, ich spriche: die wurzel der gotheit die sprichet er alzemâle in sînen sun.“ Siehe auch ders.: DW II, Pr. Q 48, S. 419, Z. 3–S. 420, Z. 3: „Dirre vunke widersaget allen crêatûren und enwil niht dan got blôz, als er in im selben ist. Im engenüeget noch an vater noch an sune noch an heiligem geiste noch an den drin persônen, als verre als ein
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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heit steht.137 Damit gehört er der Sphäre Gottes ‚als Gott‘ an, also der schöpfungszugewandten wirkenden ‚Außenseite‘ Gottes.138 Eckhart versteht unter Gottes ‚Eigenschaften‘ dementsprechend Wirkeigenschaften.139 Wie das obige Zitat zeigt, bezieht auch der ‚Frankfurter‘ den Terminus eigenschaft auf das Wirken Gottes, das jedoch nur dann zur Aktualität gelangen kann, wenn Gott von einem Menschen und dessen Seelenvermögen Besitz ergreift. Erst dann verliert der Begriff – der im ‚natürlichen‘ Menschen in engstem Bezug zur Ursünde des ‚Annehmens‘ steht – seine negative Konnotation. Im vergotteten Menschen bedeutet eigenschaft die unbedingte Ausrichtung aller individuellen Lebensvollzüge auf Gott – aber nicht aufgrund einer autonomen moralischen Entscheidung, sondern aufgrund der Okkupation durch das ‚wahre Licht‘: Eß ist auch eyn eygenschafft gotis, die er haben wil vnd ym wol gefellet yn eyme menschen, vnnd ist wol gots eigen, wan eß gehoret menschen nicht czu vnd er vormag seyn nicht. Vnd wo sich got diß bekommen kan, das ist ym das *wirdigste vnd das libste, wan eß ist dem menschen das bittirste vnd das swerste. Alles, das hie geschriben ist von gotis eygenschafft, die er doch han wil yn dem menschen, yn dem sie gevbet vnd gewirckt sol werden, die leret das ware lichte, vnd leret dar czu, das der mensch, yn dem sie gewircket vnd gevbet wirt, das er sich der also wenigk an nympt, als ab er nicht were. Wan do wirt bekant also, daz eß der mensch nicht vormag vnnd ym nicht czu gehoret.140
Das besondere Interesse des ‚Frankfurter‘ gilt in diesem Zusammenhang dem menschlichen Willen. Dessen Befreiung aus seiner diabolischen Selbstbezogenheit, die ihm in seiner natürlichen Verfasstheit das Erstreben Gottes als summum bonum versagt, zielt – anders als in der Willenslehre des Augustinus – nicht auf die Rettung des Menschen, sondern auf die Selbstlegitimation Gottes.141 Die aus der metaphysischen Spekulation des 31. Kapitels bereits bekannte Argumentationsfigur, dass Gott nur als Wirkendem eine Existenzberechtigung zukomme,142 wird daher im 51. Kapitel spezifisch auf den Willen bezogen:
ieglîchiu bestât in ir eigenschaft.“ Siehe auch Pfeiffer II, Traktat XII, S. 517, Z. 36–37: „Mêr: die drîe persône behaltent nâch rede an dem underscheide ir eigenschaft.“ 137 Siehe dazu Kap. 3.2.1, Anm. 39. 138 Vgl. dazu Kap. 3.2.1, S. 318 sowie Kap. 3.2.2, S. 324. 139 Siehe Enders: ‚Gott ist einer‘, S. 25–26. Unter Gottes Wirken ist hier jeder Ausdruck der göttlichen Dynamik zu verstehen, also sowohl die Selbstentfaltung des göttlichen Wesens in die drei relational voneinander verschiedenen göttlichen Personen als auch die schöpferische Hervorbringung der Welt. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 3.2.2, S. 331. 140 Kap. 37, S. 122, Z. 21–30. 141 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. 2.3.6, S. 308–312. 142 Siehe oben, Kap. 3.2.3, bes. S. 337–338.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Hie sal man aber etwas mercken vnd besundern von dem willen. Der ewige wille, der yn got orsprunglich vnd weßenlich ist vnde an alle werck vnd wircklikeit, der selb wille ist yn dem menschen ader yn der creatur wircklich vnd wollende, wan dem willen gehoret czu vnde ist seyn eygen, das er wollen sal. Was solde er anders? Er were anders vorgebens, sold er kein werck haben. Vnd diß magk an creatur nicht gescheen. Dar vmmb sal creatur seyn vnd got wil sie haben, das disser wille seyn eygen werck dar ynne habe vnd wircke, der yn got an werck ist vnd seyn muß.143
Die konventionelle mystische Lehre, dass der geschöpfliche Wille in den göttlichen Willen eingehen müsse, um die Distanz zwischen Gott und Mensch zu überwinden,144 erfährt so im ‚Frankfurter‘ eine bemerkenswerte Neuinterpretation: Denn seiner Lehre zufolge wird der kreatürliche Wille nicht etwa in der Weise vom göttlichen Willen überformt, dass er sich in diesem auflösen würde. Vielmehr bleibt er in seiner Geschöpflichkeit bestehen, während die Verfügungsgewalt über ihn allerdings nicht mehr dem Menschen, sondern Gott zukommt: Dar vmmb der wille yn der creatur, den man eynen geschaffen willen heißet, der ist also wol gotis als der ewige wille vnd nicht der creaturen. Vnd wan nu got an creatur wurcklich vnd beweglich nicht gewollen mag, dar vmmbe wil er eß thun yn vnd mit den creaturen. Dar vmmb sold die creatur mit dem selben willen nicht wollen, sunder got sold vnd wold wollen wircklichen mit dem willen, der yn dem menschen ist, vnd doch gotis ist. Vnd wo das luterlich vnd gentzlich were ader yn welchem menschen da wurde gewold nicht von dem menschen, sunder von got, vnd da were der wille nicht eygen wille vnd da wurde auch nicht anders gewold, den als got wil. Wan got wolde selber do vnd nicht der mensch, vnd da were der wille eyn mit dem ewigen willen vnd were dar yn geflossen.145
143 Kap. 51, S. 144, Z. 31–38. 144 Siehe z. B. Tauler: Pr. V 1, S. 11, Z. 21–23: „Du solt dinen wandelberen willen insencken in den gtlichen willen, der unbewegenlich ist, daz diner krangheit geholffen werde“; Marquard von Lindau (hg. Blumrich): Pr. 37, S. 277, Z. 432–437: „Vnd in dem vffgeben ſins willen in den gttlichen willen ſo wirt der menſch gewitet ze enpfhend alle gttlichen gben, mit den er geſterket wirt, ainem ieglichen ding wider zeſtnd, daz got nit iſt, wan got gbet allain ſinen willen in ns. So wir im gebend nſern kranken willen, ſo git er ns wider vmb ſinen ſtarken mhtigen willen, vnd ſeczet den in ns, daz wir ſtark vnd veſt belibend.“ Vgl. auch Pfeiffer II, Traktat IV, S. 418, Z. 2–6: „[…] und wêre mîn wille als guot als gotes wille, nochdenne wêre ich niht ein arm mensche, und daz ich joch mit dem selben willen als vil würhti als got würket. War umbe? Dâ ist got unde gotes wille einz, ich und mîn wille sîn zwei, wan ich bin ein mensche unde niht got […].“ Textentsprechungen finden sich in der Einleitung zu Eckhart-Predigt 52, wie sie die Eckhart-Handschriften Str3 und Bra3 überliefern. Siehe dazu DW II, S. 521, Z 8–15, Sp. B und S. 523, Z. 11–18, Sp. A. Siehe auch Kap. 2.3.2.2, S. 217. 145 Kap. 51, S. 144, Z. 38–S. 145, Z. 48. Siehe zu diesem Zitat auch Kap. 2.3.2.2, S. 218. Bei dem von Gott in Besitz genommenen geschaffenen Willen handelt es sich im Verständnis des ‚Frankfurter‘ um den ‚freien‘ im Gegensatz zum ‚eigenen‘ Willen. Siehe dazu Kap. 2.3.6, bes. S. 308–312.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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Die häretischen Implikationen dieses Konzepts sind offensichtlich: Nicht nur, dass der Gott des ‚Frankfurter‘ einen Mangel aufweist, zu dessen Ausgleich er der natürlichen Seelenkräfte des Menschen bedarf. Der Traktat geht noch einen Schritt weiter, indem er die Besitzergreifung eines Menschen durch Gott als dessen Menschwerdung bezeichnet: […] vnd dann vorbaß mer wirt got selber der mensch, also das do nicht meher ist, das nicht got ader gotis sey, vnd auch das da nichts ist, das sich ichts an neme. So ist vnd lebet vnnd bekennet vnd vormag vnd libet vnnd wil vnd thut vnd lesset got, das ist daz ewig, eyn volkommen alleyne.146
Damit aber pervertiert der Traktat die Inkarnation als christliches Grunddogma gleich in zweifacher Hinsicht: zum einen, weil er die Menschwerdung Gottes von der Person Christi abkoppelt,147 zum anderen, weil er das für die Begründung der Inkarnation im mystischen Kontext essentielle Liebesmotiv aufgibt. Denn im ‚Frankfurter‘ steigt Gott nicht aus seiner göttlichen Vollkommenheit in die menschliche Niedrigkeit herab, um die Liebe zu seinem Geschöpf kundzutun,148 vielmehr bemächtigt er sich des Menschen aus egoistischen Gründen. Diese diskursive Innovation wird allerdings dadurch verschleiert, dass die Elogen des ‚Frankfurter‘ auf den vergotteten Menschen genau jene Nähe zwischen Gott und Mensch suggerieren, die für andere mystische Predigten und Traktate aufgrund ihrer augustinischen Spiritualität elementar ist. Die Instrumentalisierung des Menschen wird dabei im ‚Frankfurter‘ niemals problematisiert, sondern gilt als Voraussetzung für die Erfüllung seines hehren ethischen Ideals, das dem ‚natürlichen‘ Menschen aufgrund seiner diabolischen Verfasstheit notwendigerweise fremd bleiben muss: die uneingeschränkte Gottesliebe149 sowie die bedingungslose Zuwendung zum Mitmenschen.150 Um das überwältigende Ausmaß dieser Nächstenliebe darzustellen, bedient sich der sprachlich sonst meist eher spröde Traktat eines für ihn außergewöhnlich ausdrucksstarken Bildes: Ja, der eynen vorgotten menschen hundertfart totet, vnnd wurde er wider lebendig, er mußt den menschen lieb han, der yn also getotet hette, vnd hette ym doch also vil vnrechts vnd
146 Kap. 53, S. 151, Z. 52–56 [Hervorhebung L. W.]. 147 Siehe dazu auch unten, Kap. 3.3.2.3. 148 Vgl. Schönberger: Meister Eckhart, S. 215. 149 Siehe dazu auch Kap. 2.3.3, bes. S. 250–252. 150 Die selbstvergessene Nächstenliebe gehört – wie Regina Schiewer gezeigt hat – auch in den Predigten Johannes Taulers zu den Merkmalen der ‚Gottesfreunde‘. Vgl. dies.: ‚Vos amici Dei estis‘, S. 240. Damit wird erneut deutlich, dass der ‚Frankfurter‘ taulerische Aussagen rezipiert, diesen aber eine andere anthropologische und metaphysische Grundlage verleiht.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
vbels vnd boßes gethan, vnd mußt ym wol wollen vnd gonnen vnd begeren vnd auch dem selben das aller beßte thun, mochte er eß genemen vnd entphaen.151
Allerdings lässt der ‚Frankfurter‘ keinen Zweifel daran, dass dieses Höchstmaß an Selbstlosigkeit nicht dem Menschen an sich, sondern dem ‚Gott im Menschen‘ zuzuschreiben ist: Hie nach volget, das got yn eynem vorgotten menschen keyner rach begeret ader wil ader thut vmmb alles das vbel, das man ym gethun magk ader ymmer geschiet. Das mercke man aber bie Cristo, der sprach: ‚Vater, vorgib yn, wan sie wissen nicht, was sie thun‘.152
Damit aber beinhaltet der ethische Entwurf des ‚Frankfurter‘ eine merkwürdige Doppelbödigkeit. Jede Passage, die in scheinbar konventioneller Weise die Gottbezogenheit und Leidensbereitschaft des vergotteten Menschen herausstellt, hat aufgrund der Dependenzlehre den Beigeschmack jenes göttlichen ‚Autismus‘, der den Menschen zum bloßen Medium göttlicher Wirkentfaltung reduziert.
3.3.2 Gott als Leidender 3.3.2.1 Leiden und Leidenthobenheit von Mensch und Gott im Kontext der ‚deutschen Mystik‘ Zu den Grundüberzeugungen Meister Eckharts gehört die Leidenthobenheit des vergotteten Menschen.153 Zwar bleibt dessen ,äußerer Mensch‘ während seines
151 Kap. 33, S. 117, Z. 5–10. 152 Kap. 33, S. 118, Z. 21–24. 153 ‚Leiden‘ (pati) kann in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie verschiedene Bedeutungen haben. Thomas von Aquin unterscheidet in S. th. I, q. 79, a. 2 drei Arten des Leidens. Demnach ist Leiden: 1.) der Verlust von etwas, das einem Ding oder einem Menschen seiner Natur oder besonderen Neigung nach zukommt; hierzu zählen etwa Krankheit und Traurigkeit; 2.) eine positive oder negative Veränderung; hierzu können auch Heilung oder Freude gehören; 3.) der Übergang von etwas in Möglichkeit Befindlichem zur Wirklichkeit, indem es dasjenige empfängt, zu dem es in Möglichkeit war; dies bezieht sich auf den Verstand und seine Empfangsbereitschaft für Formen. Im Folgenden wird ‚Leiden‘ im Sinne von negativen ‚Gefühlen‘ oder ‚Gefühlsregungen‘ (passiones animae) verstanden (vgl. zu dieser Terminologie Brungs: Die passiones animae, S. 198, Anm. 1), also im Sinne der ersten von Thomas aufgeführten Definition. Als passio übersetzen auch Eckharts Zensoren den von diesem verwendeten Terminus lîden (vgl. DW I, S. 197, Anm. 2 die Übersetzung eines inkriminierten Satzes aus Pr. Q 12; die Stelle ist unten, Anm. 155, aufgeführt). Im Begriffsinventar des ‚Frankfurter‘ finden sich für dieses Verständnis von ‚Leiden‘ die Ausdrücke betrüebenisse, jâmer und klage.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
349
irdischen Daseins dem Wandel und der Vergänglichkeit unterworfen und damit anfällig für schädliche äußere Einflüsse.154 Der in der unio stehende ‚innere Mensch‘ jedoch ist von allen Leiderfahrungen befreit: „Nû sehet, dirre mensche wonet in éinem liehte mit gote; dar umbe enist in im noch lîden noch volgen sunder ein glîchiu êwicheit.“155 Vorbild für diese Unberührtheit des homo interior von aller äußeren Unbill ist Christus, dessen Leiden ausschließlich den ,äußeren Menschen‘ affiziert hat, während seine oberste Seelenkraft in der Gottesschau verharrte.156 Die
154 Denn aufgrund des kreaturhaften Auseinandertretens von ‚innerem‘ und ,äußerem‘ Menschen kann im Diesseits nur der homo interior mit Gott eins werden. Der homo exterior dagegen bleibt den Wechselfällen des Daseins (Armut, Krankheit, Tod etc.) unterworfen. Diese Separation gilt beim vergotteten Menschen allerdings nur auf der kreatürlichen, nicht auf der moralischen Ebene, insofern die Gottesgegenwart in seinem ‚inneren Menschen‘ das Handeln seines ,äußeren Menschen‘ regiert. Siehe dazu Kap. 2.3.2.2, S. 219 sowie Kap. 2.3.5.3, bes. S. 282. Im Jenseits wird auch die kreaturhafte Scheidung von homo interior und homo exterior aufgehoben. Vgl. dazu Meister Eckhart: Pr. Q 67, DW III, bes. S. 134, Z. 1–11. Siehe zu dieser Passage auch den Kommentar in Largier II, S. 657–658 (dort zu S. 26, Z. 14–25). 155 Pr. Q 2, DW I, S. 34, Z. 5–7. Eckhart dürfte sich hier gegen die in der Passionsfrömmigkeit seiner Zeit propagierte leidende Christusnachfolge wenden, wie sie in der nacheckhartischen Mystik – so auch im ‚Frankfurter‘ – dann wieder prominent wird. Vgl. zu dieser abwehrenden Haltung Eckharts auch Haas: Jesus Christus, S. 208, Anm. 77. Den Aufruf Christi, sein Kreuz aufzuheben und ihm nachzufolgen (vgl. Mt 16, 24; Lk 9, 23), deutet Eckhart dementsprechend als Botschaft der Leidbefreiung (Pr. Q 59, DW II, S. 630, Z. 4–6): „‚Verlöugene dîn selbes und biut ûf dîn kriuze!‘ Daz sprechent die meister, daz sî pîne: vasten und ander pîne. Ich spriche, ez sî pîne ábelegen, wan niht dan vröude volget disem wesene.“ Vgl. auch die Auslegung in Pr. Q 76, DW III, S. 326, Z. 1–3. Zur Leidenthobenheit des vergotteten Menschen siehe besonders auch Pr. Q 2, DW I, S. 36, Z. 8–S. 37, Z. 6: „Wilt dû rehte wizzen, ob dîn lîden dîn sî oder gotes, daz solt dû her an merken: lîdest dû umbe dîn selbes willen, in welher wîse daz ist, daz lîden tuot dir wê und ist dir swære ze tragenne. Lîdest dû aber umbe got und got aleine, daz lîden entuot dir niht wê und ist dir ouch niht swære, wan got treit den last. Mit guoter wârheit! Wære ein mensche, der lîden wolte durch got und lûterlîche got aleine, und viele allez daz lîden ûf in zemâle, daz alle menschen ie geliten und daz al diu werlt hât gemeinlich, daz entæte im niht wê noch enwære im ouch niht swære, wan got der trüege den last.“ Vgl. ferner Pr. Q 12, DW I, S. 197, Z. 6–8: „Hie ist der mensche ein wâr mensche, und in disen menschen envellet kein lîden, als wênic als in götlich wesen gevallen mac […]“; Pr. Q 13, DW I, S. 214, Z. 6–9: „Ein ungloubiger meister sprichet: die wîle der mensche bî gote ist, sô ist unmügelich, daz er lîde. Der mensche, der hôhe ist und entrûwet allen crêatûren und gote getrûwet ist, der enlîdet niht; und sölte der lîden, gotes herze würde getroffen.“ 156 Vgl. Eckharts Auslegung des Jesuswortes „tristis est anima mea usque ad mortem“ (Mt 26, 38; Mk 14, 34) in Pr. Q 49, DW II, S. 440, Z. 5–S. 441, Z. 4: „Dô enmeinte er niht sîne edele sêle nâch der wîse, als si vernünfticlîche aneschouwende ist daz oberste guot, dâ er mite geeiniget ist an der persône und selber ist nâch der einunge und nâch der persône: daz was er in sînem allerhœhsten lîdenne aneschouwende in sîner obersten kraft âne underlâz, glîche nâhe und über al, als er nû tuot; dâ enmohte kein betrüepnisse învallen noch pîne noch tôt. Daz ist in der wârheit; wan dô der lîchame von pîne an dem kriuze starp, dô lebete sîn edel geist in dirre gegenwerticheit. Aber nâch dem teile, als der
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
pastoral ausgerichtete nacheckhartische Mystik – paradigmatisch die Predigten Taulers und das Seuse-Œuvre – hält zwar im Anschluss an Eckhart an der Leidensfreiheit des homo divinus fest.157 Die dahin führende ‚christozentrische Wegphilosophie‘158 steht jedoch ganz im Zeichen einer tätigen imitatio Christi, die sich am Lebens- und Leidensvorbild des Mensch gewordenen Gottessohnes orientiert.159 Der ‚anfangende‘ und ‚fortschreitende‘ Mensch muss sich innerlich und äußerlich dem Leiden unterwerfen,160 um den Aufstieg zu Gott zu bewältigen und nicht der
edel geist redelîche was geeiniget ze den sinnen und ze dem lebenne des heiligen lîchamen, als verre nante unser herre sînen geschaffenen geist eine sêle, als si dem lîchamen leben gap und mit den sinnen was vereinet und mit der redelicheit. Nâch dirre wîse, als verre was sîn sêle ‚betrüebet unz in den tôt‘ mit dem lîbe, wan der lîp muoste sterben.“ Vgl. auch den Traktat Von abegescheidenheit, der dieselbe Bibelstelle in gleicher Weise auslegt, aber explizit die Terminologie von ,äußerem‘ und ‚innerem‘ Menschen anwendet (DW V, S. 421, Z. 8–S. 422, Z. 5): „Nû was in Kristô ouch ein ûzwendiger mensche und ein inwendiger mensche, und ouch in unser vrouwen; und swaz Kristus und unser vrouwe ie geredeten von ûzern sachen, daz tâten sie nâch dem ûzern menschen, und stuont der inner mensche in einer unbewegelîchen abegescheidenheit. Und alsô redete Kristus, dô er sprach: ‚mîn sêle ist betrüebet biz in den tôt‘ […].“ 157 So schreibt Tauler über den Menschen, der sich Gott gelassen hat, ähnlich wie Eckhart: „[…] so wer dis tete und in disem stunde, dem wer die búrde Gottes lichte in der worheit, jo also lichte daz uf dem menschen alle die búrden wurdent geleit die alle die welt treit, die wurde ime also lichte das es ime rechte were es were ein luter niht; jo es were im ein wunne, ein gengede, ein fride, ein himelrich, wanne got trge die búrde und der mensche wer zmole lidig und also uz gegangen und Got ginge zmole in aller wise in in alles des menschen tn und lossen“ (Pr. V 6, S. 28, Z. 10–16). Vgl. auch Pr. V 65, S. 358, Z. 14–16: „‚Als der mensche her in kumt‘, spricht Proculus, ‚was denne uf den usseren menschen gevallen mag: armte, liden oder gebreste, das si weler kúnne es si, des enachtet der mensche nút‘.“ Wie Eckhart verweist auch Tauler als Paradigma auf die von allem äußeren Leiden unberührte Gottesschau Christi (Pr. V 39, S. 157, Z. 13–21): „Die edele minnekliche sele, unser herre Jhesus Christus, die was nach iren obersten kreften ane alle underlos gekert fúrwúrflichen in die gotheit, und was in irem ersten beginne das si geschaffen wart, in den fúrwurf gekert und was denne aber als selig und gebruchlich als si ietzunt ist. Und nach sinen nidersten kreften so was er wirklich, bewegelich, lidelich unde hatte gebruchen und wúrken und liden mit einander. Do er leit an dem krúce und starb, do was er nach sinen obersten kreften in dem selben gebruchen do er ietzunt inne ist.“ 158 Der Terminus stammt von Ulrich: Zur Bedeutung, S. 130. 159 Tauler: Pr. V 20, S. 81, Z. 14–19: „Lieben kint, nu sehent wir daz er [Christus] uns vorgangen ist in die selikeit, und wellen wir ime nochvolgen, so mssent wir ch den weg mercken den er drú und drissig jor uns bewiset het in ellende, in armte, in bitterkeit úber die masse, und mssent rehte den selben weg noch gon, wellent wir mit ime kummen úber alle himmele.“ Die Forderung Christi, sein Kreuz aufzuheben und ihm nachzufolgen, versteht Tauler dementsprechend im Gegensatz zu Eckhart (vgl. oben, Anm. 155) als Aufruf zur Leidensnachfolge (Pr. V 21, S. 85, Z. 11–14): „[…] wanne also mste Cristus liden und komen also in sin ere. Dem minneklichen hertzogen súllent wir nochvolgen, der uns die banier vorgetragen hat; und neme ieder mensche sin crútze und volge ime, so kummet er do er ist.“ 160 Vgl. dazu Kap. 2.3.2.4, S. 236 mit Anm. 658 (zur Seuse-Vita).
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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Versuchung der freigeistigen Häresie zu erliegen.161 Diese Fokussierung auf den Christus passus bedeutet zugleich, dass statt der Gottnatur Christi seine leidensfähige Menschnatur in den Vordergrund gestellt wird.162 Aufgrund seiner Doppelnatur repräsentiert Christus also zugleich absolute Leidensfreiheit und intensivstes Leiden, und beiden Aspekten wird im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts eine exemplarische Bedeutung für den Menschen zugeschrieben – hinsichtlich des ersteren als Ziel, hinsichtlich des letzteren als Weg zum Ziel. Auch wenn die Predigten und Traktate keinen Zweifel daran lassen, dass die göttliche Natur aufgrund ihrer Unwandelbarkeit von allem zuoval des Leidens unberührt bleibt,163 äußern sie sich dennoch in unterschiedlicher Weise zum ‚Leiden Gottes‘. Diese Aussagen durchbrechen jedoch nicht die Grenzen christlich-abendländischer Dogmatik, sondern sind entweder im uneigentlichen Sinne oder vor dem Hintergrund der Idiomenkommunikation zu verstehen. Meister Eckhart etwa spricht komplementär zur Leidenthobenheit des vergotteten Menschen vom Leiden Gottes.164 Dies heißt allerdings nicht, dass Gott
161 Vgl. dazu Kap. 2.3.2.4, S. 237 mit Anm. 660. 162 Aus dieser Perspektive werden statt der inneren Gottesschau Christi die Intensität und Allumfassendheit seines Leidens betont, das alle Seelenkräfte – die oberen wie die niederen – affiziert habe. Vgl. Johannes Tauler: Pr. V 14, S. 65, Z. 12–15: „Nu súllen wir wegen die unbegriffenliche tieffe minne die uns Cristus bewiset hat in dem unbegriffenlichen minnewercke in dem er so unbegriffenlichen gelitten het in allen sinen úbersten kreften und in allen sinen nidersten kreften unde in allen sinen sinnen indewendig und ussewendig.“ Dass die Gottnatur Christi von allem Leiden unberührt bleibt, steht zwar außer Frage; aber Tauler betont ihre strikte Trennung von der Menschnatur, deren Leiden er umso greller hervorhebt (Pr. V 13, S. 61, Z. 38–S. 62, Z. 6): „In disem wintere was unser lieber herre Jhesus Cristus, der also gar gelossen waz von sime vatter in helffender wisen und von der gotheit, der er doch natúrlichen waz vereiniget, daz ein einig troppfe sinre gotheit der krancker durchlidender menscheit nie einen ougenblig z helffe enkam in allen sinen nten und in sime unsprechenlicheme lidende. Er waz vor allen menschen der aller lidendeste und der aller gelossenste one alle helffe.“ 163 Vgl. oben, Anm. 155, das Eckhart-Zitat aus Predigt Q 12. Siehe ferner Kap. 3.2.3, Anm. 95. Meister Eckhart: Pr. Q 76, DW III, S. 328, Z. 1–2: „Danne hân ich rehte vröude, sô sie noch leit noch pîn von mir genemen enmac, wan danne bin ich gesast in daz götlich wesen, dâ keine stat leit nicht enhât.“ Vgl. z. B. auch Pseudo-Engelhart von Ebrach: Das Buch der Vollkommenheit (hg. Schneider), Nr. 193, S. 86, Z. 24: „Ein ander site ist an gote, daz er niemer betrubet wirt.“ 164 BgT, DW V, S. 51, Z. 4–11: „daz got mit uns ist in lîdenne, daz ist, daz er mit uns lîdet selbe. Wærlîche, der die wârheit bekennet, der weiz, daz ich wâr spriche. Got der lîdet mit dem menschen, jâ, er lîdet nâch sîner wîse ê und unglîche mê dan der dâ lîdet, der durch in lîdet. Nû spriche ich: wil danne got selber lîden, sô sol ich gar billîche lîden, wan, ist mir reht, sô wil ich, daz got wil. Ich bite alle tage, und got heizet mich biten: ‚herre, dîn wille gewerde‘, und doch, sô got wil lîden, sô wil ich von lîdenne klagen; dem ist gar unreht.“
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Merkmale des Geschöpflichen annimmt.165 Vielmehr zielt Eckharts Lehre darauf, die Überwindung des Leidens durch die geistige Aufnahme des Menschen in die Sphäre des Göttlichen aussagbar zu machen. Der homo divinus ist so von Gott umfangen, dass er vom Leiden nicht mehr berührt wird.166 Denn Gott nimmt das Leiden des Menschen in seine Einheit auf167 und verkehrt es so in „wunne und trôst“.168 Gottes Leiden ist daher – so Eckharts paradoxe Formulierung – ein ‚Leiden ohne Leiden‘.169 Die Leidensfreiheit Gottes gilt insbesondere hinsichtlich der menschlichen Sündhaftigkeit. Denn als dem göttlichen Sein entgegengesetztes Nichts befindet sich die Sünde außerhalb des göttlichen Horizontes.170 Dementsprechend gehören der Schmerz und die Klage über die Sünde dem Bereich des Kreatürlichen an.171 Der Mensch, in dessen Seelengrund sich die Gottesgeburt vollzieht, ist daher dem
165 Denn als ‚Gefühlsregung‘ ist das Leiden integraler Bestandteil der aus Leib und Seele zusammengesetzten menschlichen Natur. Seine Entstehung ist an die sinnlich wahrnehmbare Welt gebunden. Vgl. Brungs: Die passiones animae, S. 199, 201. 166 RdU, Kap. 11, DW V, S. 228, Z. 9–S. 229, Z. 3: „In der wârheit, der mensche, der des sînen wære ganz ûzgegangen, der würde alsô mit gote umbevangen, daz alle crêatûren in niht enmöhten berüeren, si enrüerten got ze dem êrsten, und swaz an in komen solte, daz müeste durch got an in komen; dâ nimet ez sînen smak und wirt gotvar. Swie grôz daz lîden sî, kumet ez durch got, dar under lîdet got ze dem êrsten.“ 167 BgT, DW V, S. 53, Z. 16–S. 54, Z. 3: „Noch ist daz sibende in dem worte, daz got mit uns ist in lîdenne und mitlîdet mit uns: daz uns krefticlîche sol trœsten gotes eigenschaft dâ von, daz er daz lûter ein ist sunder alle zuovallende menge underscheides, joch in gedanken; daz allez, daz in im ist, got selbe ist. Und, wan daz wâr ist, sô spriche ich: allez, daz der guote mensche lîdet durch got, daz lîdet er in gote, und got ist mit im lîdende in sînem lîdenne. Ist mîn lîden in gote und mitlîdet got, wie mac mir danne lîden leit gesîn, sô lîden leit verliuset und mîn leit in gote ist und mîn leit got ist?“ 168 BgT, DW V, S. 51, Z. 11–15: „Ouch spriche ich sicherlîche, daz got sô gerne mit uns und durch uns lîdet, sô wir aleine durch got lîden, daz er lîdet sunder lîden. Lîden ist im sô wünniclich, daz lîden enist im niht lîden. Und dar umbe, wære uns reht, sô enwære ouch uns lîden niht lîden; ez wære uns wunne und trôst.“ 169 Vgl. das Eckhart-Zitat in der vorhergehenden Anmerkung. 170 Pr. Q 5a, DW I, S. 78, Z. 6–9: „Got der erkennet ouch nútz usser im, sunder sin oug ist allein in sich selber gekert. waz er sicht, daz sicht er alles in im. doru sicht unns got nitt, so wir sind in súnden. doru also vil wir sygend in im, also vil bekennet unns got, daz ist: so vil wir on súnd sygen.“ 171 Pr. Q 38, DW II, S. 241, Z. 3–5: „In der zît ist crêatûre und sünde und tôt. Disiu hânt ein sippesîn in einem sinne, und wan diu sêle dâ der zît entvallen ist, dar umbe enist dâ noch wê noch pîne; joch ungemach wirt ir dâ ein vröude“; Pr. Q 42, DW II, S. 307, Z. 3–5: „Eyâ, der mensche sölte sich alsô getriuwelîche ze gote halten, daz in alliu dinc nihtes niht enmöhten ervröuwen noch betrüeben. Er sol alliu dinc nemen in gote, als sie dâ sint.“
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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Leiden unter der Sünde ebenso wenig unterworfen172 wie der Engel173 und Gott selbst. Dass Gott trotz seiner Leidlosigkeit die Erfahrung des Leidens nicht fremd ist, liegt in der Passion Jesu Christi begründet. Zwar ist die göttliche Natur des inkarnierten Gottessohnes leidunfähig. Trotzdem macht Christus die Erfahrung seines eigenen Leidens und Sterbens,174 weil in seiner Person bzw. Hypostase beide Naturen – ohne sich miteinander zu vermischen175 – vereinigt sind. Auch wenn diese Erfahrung nur der menschlichen Natur zukommt, lässt sie sich aufgrund der Einheit der Person von Christus als Sohn Gottes aussagen.176 Eine Eckhart-Predigt drückt dies folgendermaßen aus: „Auch want alle die nederste krfft vnd leibliche sin vnsers herren Jesu Christi / also geeinicht worden mit der gotheit / das man sprechē mag / Got sahe / Got horte / Got leyt.“177 Die Rede vom ‚Leiden Gottes‘ ist hier also durch die Idiomenkommunikation178 gerechtfertigt. Orthodoxiekonform hält auch der ‚Frankfurter‘ an der Leidensfreiheit Gottes fest: „Got yn ewikeit ist an leyt, liden vnd betrupnis vnd leth ym mit nichte swere ader leit seyn vmmb keyne dingk, was da ist ader geschicht.“179 In der zunächst unverfänglich erscheinenden Formulierung, dass ‚Gott in Ewigkeit‘ unberührt von jeglicher passio sei,180 verbirgt sich jedoch eine häretische Spitze: Denn wie die vorangegangenen Kapitel zur Dependenzlehre des ‚Frankfurter‘ gezeigt haben, vertritt der Traktat die Überzeugung, dass Gott erst in seiner – von der Person Christi abgekoppelten –‚Menschwerdung‘ zur Vollkommenheit gelangen kann.
172 Pr. Q 76, DW III, S. 324, Z. 7–9: „Daz der mensche klaget und leidic ist, daz ist allez von gebresten. Dar umbe muoz ez allez getilget sîn und ûzgetriben sîn, daz der mensche werde gotes sun, daz noch klage noch leit dâ ensî.“ 173 Pr. Q 37, DW II, S. 222, Z. 4–S. 223, Z. 3: „Unser meister vrâgent, ob die engel betrüebet werden, sô der mensche sünde tuot. Wir sprechen: nein! wan sie sehent in die gerehticheit gotes und nement dar inne alliu dinc in im, als sie sint in gote. Dar umbe enmügen sie sich niht betrüeben.“ 174 Vgl. Wenz: Chalcedon, S. 176. 175 Vgl. das Glaubensbekenntnis von Chalcedon (Wenz: Chalcedon, S. 169; siehe auch ebd., S. 172–173). 176 Vgl. Wenz: Chalcedon, S. 173. Vgl. z. B. auch Thomas von Aquin, ScG IV, Kap. 34, n. 11: „Omnis mutatio vel passio conveniens corpori alicuius, potest attribui ei cuius est corpus: si enim corpus Petri vulneretur, flagelletur, aut moriatur, potest dici quod Petrus vulneratur, flagellatur, aut moritur. Sed corpus illius hominis fuit corpus verbi Dei, ut ostensum est. Ergo omnis passio quae in corpore illius hominis facta fuit, potest verbo Dei attribui. Recte igitur dici potest quod verbum Dei, et Deus, est passus, crucifixus, mortuus et sepultus.“ 177 Pr. Q 46 [nach KT], DW II, S. 387, Z. 33–35. Vgl. auch Tauler: Pr. V 11, S. 51, Z. 1–2: „Ouch sit unser ewiger vatter Got und herre so grosse smacheit und manigvaltige pine gelitten hat […].“ 178 Siehe dazu Müller: Art. ‚Idiomenkommunikation‘. 179 Kap. 40, S. 126, Z. 33–S. 127, Z. 35. 180 Vgl. zu dieser Bestimmung von ‚Leiden‘ oben, Anm. 153.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Neben dem ‚Gott in Ewigkeit‘ gibt es nach Aussage des ‚Frankfurter‘ also auch einen ‚Gott in der Zeit‘. Dieser aber ist, wie weiter unten zu zeigen sein wird, keineswegs von jeglichem Leiden befreit.
3.3.2.2 Leidlosigkeit und Leiden des vergotteten Menschen im ‚Frankfurter‘ Vor der Hinwendung zum eng mit der Dependenzlehre verbundenen Thema des ‚leidenden Gottes‘ seien die – aufgrund seiner ‚Vielstimmigkeit‘ nicht immer miteinander kompatiblen – Aussagen des ‚Frankfurter‘ zu Leidenthobenheit und Leiden des vergotteten Menschen zusammengetragen. Anders als die diskurssprengenden Äußerungen des Traktats zum ‚leidenden Gott‘ sichern diese seine Einbindung in den ‚mystischen Diskurs‘, der – wie bereits gezeigt – sowohl die Leidensnachfolge im Rahmen der imitatio Christi als auch die Leidensfreiheit in der unio zu wesentlichen Bestandteilen seiner Mystagogie erhebt. Analog zur Leidlosigkeit Gottes (in seiner Göttlichkeit) beschreibt der ‚Frankfurter‘ verschiedene Ausformungen einer inneren Leidenthobenheit des Menschen. Die eckhartische Perspektive ist ihm also keineswegs fremd. Sie wird jedoch nicht einfach übernommen, sondern – parallel zur Frage der Gesetzesbindung oder -freiheit des vergotteten Menschen181 – in die antifreigeistige Programmatik des Traktats integriert. Dementsprechend grenzt der ‚Frankfurter‘ eine ‚richtige‘ und eine ‚falsche‘ Form der Leidlosigkeit voneinander ab. Letztere wird jenen ‚falschen freien Menschen‘ zugeschrieben, die unter Verweigerung der vita Christi auf rein geistige Weise in die Sphäre des Göttlichen emporsteigen wollen. Dieser luciferische Anspruch des ‚natürlichen Lichts‘, dessen ‚Schein-Göttlichkeit‘ ja zu den dominanten Motiven des ‚Frankfurter‘ gehört, wird in folgender Passage artikuliert: […] vnd do von, das eß [das ‚natürliche Licht‘] wenet, das eß got sey, ßo nympt eß sich des an, das got czu gehoret, vnde nicht des, das gotis ist, also got mensch ist ader yn eyme vorgotten menschen; sunder eß nympt sich an des, das gottes ist vnd ym czu gehort, als er got ist an creatur yn ewikeit. Wan also man spricht: Got ist durfftloß, frey, mussig, ledig vnd vbir alle vnd des gleich, das alles war ist, vnd ist vnbeweglich vnde nympt sich nichts an vnd ist an gewissen, vnd was er thut, das ist wol gethan. Sich, also wil ich auch seyn, spricht das falsch licht. Wan so man got glicher ist, so besser, vnd dar vmmb wil ich got glich seyn vnd wil ioch got seyn vnnd bey got sitzen vnd seyn ym glich, recht als lucifer, der tufel, thet. Got yn ewikeit ist an leyt, liden vnd betrupnis vnd leth ym mit nichte swere ader leit seyn vmmb keyne dingk, was da ist ader geschicht.182
181 Vgl. dazu Kap. 2.3.5. 182 Kap. 40, S. 126, Z. 24–S. 127, Z. 35. Vgl. Kap. 42, S. 133, Z. 38–42: „[…] vnd gibt sich vor got dar vnde wil da vor gehalden seyn, vnd eß sey aller dinge wol wirdig vnd habe czu allen dingen recht, vnd
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
355
Hinsichtlich der ‚richtigen‘ Form einer Leidensfreiheit des homo interior bleiben die Ausführungen des ‚Frankfurter‘ disparat. Dies gilt insbesondere für seine Bestimmung des Verhältnisses von ‚Leiden‘ und ‚Leidlosigkeit‘. Im elften Kapitel sichert der Traktat jenen Menschen, die in Anerkennung ihrer Sündenverfallenheit zur ewigen Verdammnis bereit sind,183 die Befreiung aus dieser innerlichen Hölle durch Gott und ihre Versetzung in einen Zustand absoluter Seelenruhe zu: Nu lesset got den menschen nicht yn disßer helle, sunder er nympt yn an sich, also das der mensche nichts enrucht danne allein des ewigenn gutis vnd bekennet, das dem ewigenn gute als vberwol ist, vnde seyne wunne, *fride vnd freude, rue vnnd genuge. Vnd wanne den der mensche nicht anders enrucht noch begert dann das ewige gut vnd ym selbes nicht, ßo wirt des ewigen gutis frede vnd freude vnd wunne vnde luste, vnd was des ist, alles des menschen, vnd so ist der mensche ym hymmelrich.184
Es handelt sich hier um einen aus der vollkommenen Erfüllung mit dem ewigen Gut resultierenden Zustand der apatheia, der den Menschen vor allen Leiderfahrungen bewahrt: Aber wan er yn dem hymmelrich ist, so mag yn nichts betruben ader vngetrosten vnd gloubet nicht, das er betrubt ader vngetrost magk werden […].185
Inhaltlich kommt diese Position der Abgeschiedenheitslehre Meister Eckharts nahe, die ebenfalls auf das aus der Antike übernommene, christlich-monastische apatheia-Modell rekurriert.186 Während Eckhart die abegescheidenheit bzw. gelâzenheit jedoch als „zuständlich-seinshafte[s], nahezu ewigkeitliche[s] Vereintsei[n] mit Gott“ konzipiert,187 gilt das für den ‚Frankfurter‘ zumindest in diesem Kapitel nicht. Vielmehr handelt es sich um eine vorübergehende Befreiung aus dem innerlichen Infernum, in das der Mensch aber jederzeit zurückgeworfen werden kann: „Vnd alle die wile der mensche yn der czeit ist, ßo magk er gar dicke auß eynem yn das ander fallen, ja vnder tage vnd nacht etwen dicke vnd alles an sich
sey vbir alle ding kommen als vbir tugent vnd des glich vnd ioch vber Cristum vnd Cristus leben, vnd wirt alles eyn spotte, wan eß wil nicht Cristus seyn, sundern eß wil got seyn yn ewikeyt.“ 183 Vgl. zu diesem – auch in den Tauler-Predigten auftauchenden – Motiv der resignatio ad infernum z. B. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 110–115. 184 Kap. 11, S. 85, Z. 28–34. 185 Ebd., Z. 39–40. 186 Vgl. Sturlese: Meister Eckhart: Ein Porträt, S. 19. 187 Haas: Gelassenheit, S. 253.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
selber.“188 Die zeitliche Begrenztheit des Seligkeitszustandes erinnert daher eher an einen raptus als an die ‚Gelassenheit‘ in eckhartischer Auslegung.189 Dass der Mensch dem elften Kapitel zufolge nur vorübergehend in einem Zustand innerer Leidlosigkeit verharren kann, verbindet seine Aussagen mit jenen des siebten Kapitels. Hier befasst sich der ‚Frankfurter‘ mit der Passion Christi, welche nur dessen ,äußeren‘, aber nicht seinen ‚inneren‘ Menschen betroffen habe.190 Diese Gleichzeitigkeit von ‚Leiden‘ und ‚Leidlosigkeit‘ sei jedoch Christus allein vorbehalten gewesen, während gewöhnliche Menschen zwischen leidenthobener vita contemplativa und leidunterworfener vita activa abwechseln müssten: Aber diße czwei augen der sele des menschen mugen nicht *gleich mitenander yre werck gevben. Sunder sal die sele mit dem rechten auge yn die ewikeit sehen, so muß *sich das lincke auge aller seyner werck vorczihen vnd sich halden, als ab eß tod sey. Vnnd sal das lincke aug seyne werck vbin noch der vßwendikeit, das ist die czite vnd die creature handeln, ßo muß das recht auge gehindert werde an seynen werck, das ist an seyner beschaubunge.191
Allerdings besteht zwischen dem siebten und elften Kapitel des ‚Frankfurter‘ kein unmittelbarer thematischer Bezug. Zudem verzichten beide auf jene theologischanthropologischen Motive, die andere Kapitel des ‚Frankfurter‘ miteinander in Beziehung setzen. Stattdessen kommt ihnen der Charakter eigenständiger Ab-
188 Kap. 11, S. 86, Z. 51–53. 189 Zur zeitlichen Begrenztheit des raptus siehe z. B. Wegener: Wie der mensche, S. 113. Allerdings fehlt im ‚Frankfurter‘ bis auf vereinzelte Reminiszenzen der Gedanke eines stufenweisen Aufstiegs zum Göttlichen, der letztlich in die Entrückung mündet. Auch verwendet der Traktat zumindest im elften Kapitel keine spezifische Terminologie, die auf einen raptus hinweist. Der mittelhochdeutsche Terminus für ‚Entzückung‘ – zuc – taucht an einer einzigen Stelle im 53. Kapitel auf (S. 150, Z. 18). 190 Hier geht der ‚Frankfurter‘ also mit anderen mystischen Prosatexten konform. Vgl. oben, Kap. 3.3.2.1, Anm. 156 und 157. Siehe Kap. 7, S. 78, Z. 10–23: „Also stundt der jnner mensch Cristi noch dem rechten auge der sele yn volkommen *gebruchen gotlicher nature, yn volkommener wunne vnd freude. Aber der vßer mensch vnd das lincke auge der sele *stunt mit ym yn volkummen leiden vnd jamer vnd erbeite. Vnde diß geschach alßo, das das inwendigk vnnd das rechte auge vnbeweget vnnd vngehindert vnd vnberuret bleib von aller der erbeite vnd leiden vnd marter, das yn dem vßern menschen geschach. Man spricht: *Do Cristus an der sule gegeischelt wart ader an dem creucze hing nach dem vßern menschen, do stunt die sele ader der jnner mensche nach dem rechten auge yn also volkummen gebruchunge, wunne vnd freuden alßo nach der hymmelfart ader also ynczunt. So wart auch der vßer mensche ader die sele nach dem lincken auge yn yren wercken yn allem dem, das yr czu gehoret czu der vßwendikeit, nye gehindert ader gemynnert von dem inwendigen; yr keynes wartet auff das ander.“ 191 Kap. 7, S. 78, Z. 27–S. 28, Z. 33.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
357
handlungen zu, die zwar auf der paradigmatischen Achse am zeitgenössischen ‚mystischen Diskurs‘ partizipieren, innerhalb des Syntagmas jedoch isoliert sind. Dementsprechend hat ihre These vom volatilen Charakter des Leidens, aber auch der Leidlosigkeit nicht für den ganzen ‚Frankfurter‘ Geltung. Kapitel 27 und 28 etwa stehen deutlich in eckhartischer Tradition, da sie die Gleichzeitigkeit von vita activa und vita contemplativa zum Ideal erheben: „Wan das wirt bekant yn der warheit, das der ynner mensch steen sal vnbeweglich vnd der vßer mensch muß vnd sal beweget werden.“192 Die ‚Unbeweglichkeit‘ des homo interior – und damit seine Freiheit von allen Gemütsbewegungen – verdankt sich der unio mit Gott, der das Wirken des ,äußeren Menschen‘ übernimmt.193 Dieses Modell einer übernatürlichen Transformation des ‚inneren Menschen‘ ist nicht nur in den beiden genannten Kapiteln präsent, sondern durchdringt den ‚Frankfurter‘ in unterschiedlicher thematischer Perspektivierung – etwa, wenn er die Wertigkeit äußerer Handlungen von der inneren Gottesgegenwart abhängig macht,194 nur dem von Gott erfüllten Menschen die Möglichkeit einer Hinwendung zum summum bonum zugesteht195 oder die Gesetzesfreiheit jener Erleuchteten hervorhebt, die durch die Besessenheit mit dem Geist Gottes sowohl von der Hoffnung auf himmlischen Lohn als auch von der Furcht vor höllischer Strafe entlastet sind.196 Die Einung des inneren Menschen mit Gott bedeutet die Befreiung von allem Leiden, insofern dieses an die – in der unio überwundene – menschliche Natur und an die geschöpfliche Welt gebunden ist. Dementsprechend beschreibt der ‚Frankfurter‘ den Vollendungszustand des vergotteten Menschen im 43. Kapitel – darin mit dem elften Kapitel übereinstimmend – als Zustand der apatheia, in dem jedes Begehren erfüllt ist: Vnnd do wirt vnd ist ein gengte vnd eyne stillesteen, nicht czu begeren mer ader mynner czu wissen, czu haben, czu leben, czu sterben, czu seyn ader nicht czu sein, vnd was des ist, das wirt vnd ist alles eyn vnd glich.197
Die eckhartische Tendenz des ‚Frankfurter‘, den vergotteten Menschen in die Sphäre der Leidlosigkeit zu erheben, kann sich aufgrund seiner dezidiert antifreigeistigen Programmatik allerdings nicht vollständig durchsetzen. Denn diese verlangt nach einer Einübung in das Christusleben als Korrektiv der fehlausgerichteten menschlichen Natur und damit nach einer Ethik, in deren Zentrum die
192 193 194 195 196 197
Kap. 28, S. 111, Z. 9–11. Siehe zum Kontext dieses Zitates auch Kap. 2.3.2.2, S. 221. Siehe den Anfang von Kapitel 28, zitiert ebd. Vgl. Kap. 2.3.2.2, S. 219–220. Vgl. Kap. 2.3.3, bes. S. 245–246. Vgl. Kap. 2.3.5.2, Anm. 814. Kap. 43, S. 135, Z. 27–30.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Passion steht: „Auch wer ym [Christus] volgen wil, der sal das creucze an sich nemen, vnd das creucze ist anders nicht den Cristus leben, wan das ist eyn bitter creucz aller natur.“198 Damit schließt sich der ‚Frankfurter‘ jenen Texten der nacheckhartischen Mystik an, welche in der Aneignung der vita Christi die unhintergehbare Voraussetzung eines christlichen Daseins sehen: WEr Cristus leben weiß vnd bekennet, der weiß vnd bekennet auch Cristum, vnnd hir widervmmb, wer das leben nicht bekennet, der bekennet auch Cristum nicht […]. Vnnd also vil Cristus leben yn eym menschen ist, als vil ist auch Cristus yn ym, vnd als wenigk des eynen, als wenigk des andern. Wan wo Cristus leben ist, do ist Cristus, vnd do seyn leben nicht ist, da ist Cristus auch nicht.199
Abweichend von anderen mystischen Predigten und Traktaten des paradigmatischen Korpus integriert der ‚Frankfurter‘ die imitatio nicht in ein Stufenmodell, das über eine zunehmende Angleichung an Christus als Lebens- und Leidensvorbild schließlich zur Vollendung des Menschen in der unio führen würde.200 Stattdessen beharrt er darauf, dass das Leiden in der Christusnachfolge bis zum Ende des irdischen Daseins währen müsse: Aber wo Cristus vnd seyne ware nachvolger synt, da muß von not ware, gruntliche vnd geistliche demutikeit vnd geistlich armut seyn vnd eyn nyder gedrucket, yn blibendes gemute, vnd das sal ynwendig vol heymlichs, vorborgens jamers vnd lidens seyn biß yn den leiplichen tod.201
198 Kap. 51, S. 147, Z. 133–135. 199 Kap. 45, S. 139, Z. 1–7. 200 Vgl. z. B. Tauler: Pr. V 48, S. 218, Z. 27–32: „Kinder, dise menschen die disen engen weg gon súllen, die súllent vor allen dingen sehen das si hert stant und vaste in den fsstaphen des lieben herren Jhesu Christi. Und so er ie herter und vaster hie inne stat, so er ie luterre wirt. Denne entlssent sich die trwenden fúste und werdent so gtliche minnekliche hende, und denne umbe vohet si unser herre so zartlichen in sine vetterlichen arme und frt si uf, hoch úber alle ding.“ Eine systematische Aufstiegslehre bietet Tauler indessen nicht. Neben eine Christusnachfolge, die über die Disziplinierung des ,äußeren‘ und Formung des ‚inneren‘ Menschen schließlich zur unio führt, treten in seinen Predigten daher weitere Aufstiegsmodelle wie der Dreischritt von iubilatio, geistiger Armut und Einigung. Vgl. Büchner: Die Transformation, S. 102. Überhaupt wartet die geistliche Literatur des Mittelalters mit einer Vielfalt differenzierter Stufenlehren auf. Siehe Wegener: Wie der mensche, S. 110–111. 201 Kap. 26, S. 108, Z. 68–72. Allein steht der ‚Frankfurter‘ mit dieser Forderung einer kontinuierlichen Christusnachfolge freilich nicht. Die geistlichen Aufstiegslehren der Tauler-Predigten finden ihren End- und Höhepunkt zwar in der Lösung des Menschen von allen ‚Bildern‘, also von allen sinnlichen Repräsentationen, zu denen auch die exemplaris imago des inkarnierten Christus gehört. Gegen eine ‚freigeistige‘ Fehlauslegung der imitatio Christi behauptet der Straßburger jedoch die dauerhafte Verpflichtung des Menschen auf das ‚Bild‘ des Menschgewordenen (Pr. V 15, S. 71, Z. 6–8): „Nu sprechent etliche lúte: ‚bist du nút noch darúber komen?‘ Ich spriche: ‚nein,
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
359
Ungeachtet ihrer Kürze beinhaltet diese Textpassage die für den ‚Frankfurter‘ zentralen Aspekte der imitatio Christi: Es handelt sich hierbei um eine Lebenshaltung,202 die durch geistliche Demut und Armut203 sowie durch eine negative Gemütsverfassung – „jâmer und lîden“ – gekennzeichnet ist. Auslöser dieser permanenten affektiven Reaktion ist die menschliche Sündhaftigkeit: Sich, alleyn nu lichte keyn mensche also gar vnnd luterlich yn dißem gehorsam ist, also Cristus was, *nu ist doch moglich eynem menschen, also nahe dar czu vnd bey czu kommen, das er gotlich vnd vorgotet heißet vnnd ist. Vnnd so der mensche dissem ye nehir kumpt vnnd gotlich vnd vorgotet wirt, ßo ym alle vngehorsam, sunde vnd vngerechtikeit leit ist vnnd wirßer thut vnd groß, bitter liden ist.204
Keinen Zweifel lässt der ‚Frankfurter‘ daran, dass die aus der unio resultierende Leidlosigkeit des vergotteten Menschen mit seinem Leiden unter der Sünde zusammenfällt. Denn unmittelbar nach seiner Schilderung der innerlichen Unbe-
úber das bilde unsers herren Jhesu Christi enmag nieman kummen‘.“ Vgl. auch Merswins ‚Bannerbüchlein‘ (hg. Jundt), S. 398. Hier wird gegen eine fehlgeleitete ‚freigeistige‘ Vollkommenheitslehre das Exempel des Paulus aufgeboten, der nach seiner Entrückung in die lebenslange Christusnachfolge eintrat (ebd., Z. 34–37 [eigene Zeilenzählung]): „Ich wil dir sagen, lieber mensche: do sanct Paulo der zug beschach, do er do wider zuo ime selber wart gelossen, do wart ime zuo hant ein crútze uf geleit, das mueste er tragen untze an sinen tot.“ 202 Dies im Unterschied zu einem bloß theoretischen Wissen über die vita Christi oder zu jenen Frömmigkeitspraktiken, die allein auf die Durchführung eines bestimmten ‚Programms‘ zur Sicherung des Seelenheils zielen (etwa durch die Bewältigung eines vorgegebenen Gebetspensums), nicht aber auf eine Formung des gesamten Daseins. Zur Kritik des ‚Frankfurter‘ an einem Heiligkeitswissen, das nichts zur Heiligung des eigenen Lebens beiträgt, vgl. Kap. 9, S. 81, Z. 4– 10: „Dar vmmb wie wol eß gut ist, das man fraget vnd erferet vnd joch bekennet wirt, was gute vnd heilige menschen gethan *ader gelyden haben, *vnnd wie sie gelebt haben, vnd joch was got yn en vnd durch sie gewirckt habe vnd gewolt. Doch were eß hundertfeldigk besser, das der mensche erfure vnd erkennet wurde, was vnd wie seyn eygen leben were, vnd auch was got yn ym were vnd wolde vnd wirckte, vnd wo czu yn got nuczen wulde ader nicht.“ 203 Vgl. auch Kap. 26, S. 107, Z. 46–50: „Sich, alles, das hie for gesprochen ist von armut vnd demutikeit, das ist yn der warheit also, vnd bewert vnd beczuget man das mit dem leben Cristi vnd mit seynen worten. Wann er hat alle werck der waren demutikeit gevbet vnd volbracht, als man yn seyme leben findet, vnnd mit worten spricht er eß: ‚Lernet von mir, das ich gütig bin vnd eyns demutigen hertzen‘“; Kap. 35, S. 120, Z. 20–27: „Diße creatur sal von gotlicher warheit vnd gerechtikeit got vnd allen creaturen vnderthan seyn, vnnd yr sal nicht vnderthan ader gelassen seyn, vnd got vnnd alle creatur haben recht vbir sie vnnd czu yr, vnd sie czu nichte ader vbir nichte, vnd sie ist allen schuldig vnde yr nymant, vnd diß alles yn lidender wiße vnd auch etwan yn thunder wiße. Vnd do von wirt den auch geistlich armut, da von Cristus sprach: ‚Seligk synt die armen des geistes, wan das reiche gotis ist yr‘. Diß hat alles Cristus mit wortten geleret vnd mit leben volbracht.“ 204 Kap. 16, S. 93, Z. 70–75.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
wegtheit des homo divinus im 43. Kapitel205 fügt er hinzu: „Vnd do wirt nicht geclaget den allein sunde […].“206 Und wenige Zeilen später ergänzt er emphatisch: Vnd diß wirt alleyne geclaget yn eynem waren, vorgotten menschen vnd wirt alßo ßere geclaget vnd thut also wee, das der selbe mensche hundert schemelich, pinlich tode liden sold, das worde nicht also sere geclaget vnd thet nicht als we vnnd das muß bliben biß yn den lieplichen tod. Vnd wo das nicht ist, do ist auch nicht eyn ware, gotlich ader vorgotter mensch an czwifel.207
3.3.2.3 Die Auswirkungen der Dependenzlehre auf das Leidenskonzept des ‚Frankfurter‘ Der ethische Anspruch des ‚Frankfurter‘, in die lebenslange Christusnachfolge einzutreten, führt – wie bereits im ersten Teil dieser Studie mehrfach gezeigt – in die Aporie, dass die frey, falsch natur des Menschen genau dies verwehrt.208 Eine systematische Auflösung dieser Schwierigkeit findet sich innerhalb des Traktats zwar nicht; seine Leidenslehre integriert jedoch durchaus einen Erklärungsansatz, um die grundsätzliche Verweigerung der natura humana gegenüber der vita Christi mit dem Nachfolge-Postulat in Deckung zu bringen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zunächst die Aussage des ‚Frankfurter‘, dass die imitatio Christi aus der ‚wahren Liebe‘ heraus erfolgen müsse.209 Diese aber liegt – wie bereits gezeigt – nicht im Vermögen des Menschen, sondern ist göttlicher Natur.210 Der vergottete Mensch ist daher kein aktiv Liebender, der sich als autonomes moralisches Subjekt der vita Christi zuwendet, sondern jene Empfängnisinstanz, in der sich die Liebe Gottes in zweifacher Hinsicht entfaltet: in der Ausrichtung auf das höchste Gut211 und in der Hinneigung zum Christusleben: Vnd yn welchem menschen *geliebet wirt yn dem waren licht vnd yn der waren liebe,212 das ist das aller edelste, beste vnd wirdigiste leben, das ye *wart ader ymmer gewirt. Dar vmmb muß eß auch gelibet vnd gelobet werden vber alle leben. Vnde diß was vnd ist yn Cristo yn gantzer volkommenheit, er were anders nicht Cristus. Vnd diße libe, da von dis edel leben
205 Zitiert oben, S. 357. 206 Kap. 43, S. 135, Z. 31. 207 Ebd., Z. 39–44. 208 Siehe Kap. 2.3.2.4, S. 242; Kap. 2.3.4, S. 264–265; Kap. 2.3.5.5, S. 296. 209 Siehe das ‚Frankfurter‘-Zitat zu Beginn von Kap. 2.3.3, S. 244. 210 Vgl. Kap. 2.3.3, bes. S. 250–251. 211 Vgl. Kap. 2.3.3, bes. S. 245–246. Insofern Gott selbst das höchste Gut ist, zeigt sich hier der Autismus der göttlichen Liebe. 212 Zu diesen vom ‚Frankfurter‘ bevorzugten Passivkonstruktionen, wenn es um das Innenleben des vergotteten Menschen geht, vgl. Kap. 2.3.3, S. 252 mit Anm. 716.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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gelibet wirt vnd alles gut, *die macht, das alles das, das zu leiden, zu thun ader czu gescheen geburet vnd seyn muß vnd sal, das wirt alles willicklich vnd gerne gethan vnd geliden, wie swere eß der natur ist. Dar vmmb spricht *Jesus: ‚Mein joch ist suße vnd meyn burde lichte‘. Das kumpt von der libe, die dis edel leben libet.213
Die Christusnachfolge ist demnach ein Resultat der Besitzergreifung des Menschen durch die ‚wahre Liebe‘ bzw. das ‚wahre Licht‘. Sie führt nicht zu Gott hin, sondern ist – wie die guten Werke – Ausdruck der Gottespräsenz im Menschen. Versucht der Mensch aus eigener Kraft, sich der vita Christi anzunähern, bleibt er ein irregeleiteter ‚Lohner‘,214 der einer veräußerlichten Werkgerechtigkeit folgt: Cristus hatte seyn leben nicht vmmb lone, sundern von libe, vnd die liebe macht das leben liecht vnnd nicht swere, vnd das eß gerne gehabt vnd williclichen getragen wirt. Aber der eß nicht hat von liben, sunder er wenet, er habe eß vmmb lone, dem ist eß *suere vnd were seyn gerne schire *loß. Vnde das gehoret eynem iglichen loner czu, das er seyner erbeit gerne eyn ende hette. Aber eynen waren liphaber vordrußet weder erbeit noch czit ader lidens. Dar vmmb ist geschriben: Got dienen vnd leben ist lichte dem, der eß thut. Eß ist ware dem, der eß von libe thut. Aber der eß vmmb lone thut, dem ist eß swere.215
Dass es sich bei den in der wahren Christusnachfolge stehenden ‚Liebhabern‘, die hier zu den ‚Lohnern‘ in Kontrast gesetzt werden, um die mit dem ‚göttlichen Licht‘ Erleuchteten handelt, hat der ‚Frankfurter‘ bei seiner Unterscheidung von vier Menschengruppen im 39. Kapitel hinreichend deutlich gemacht.216 Der Mensch ist also erst zur Christusnachfolge – damit aber auch zum Leiden unter der Sünde – befähigt, wenn er bereits den Status eines vergotteten Menschen innehat. Dann nämlich lässt ihn die Okkupation durch das ‚wahre Licht‘ die freigeistige Fehlausrichtung seiner Natur überwinden. Allerdings stellt sich die Frage, ob es unter einer solchen Voraussetzung überhaupt noch der Mensch selbst ist, der leidet. An diesem Punkt nun kommt die dem ‚Frankfurter‘ zu eigene Dependenzlehre wieder ins Spiel. Erinnern wir uns an die weiter oben bereits zitierte Textpassage: „Got yn ewikeit ist an leyt, liden vnd betrupnis vnd leth ym mit nichte swere ader leit seyn vmmb keyne dingk, was da ist ader geschicht.“217 Aber,
213 Kap. 43, S. 136, Z. 52–61. 214 Zum ‚Lohner‘ als Repräsentant eines pharisäischen Gebotszwanges bzw. der lex operum vgl. auch Kap. 2.3.2.2, S. 214 und Kap. 2.3.5.4. 215 Kap. 38, S. 123, Z. 22–S. 124, Z. 30. 216 Vgl. Kap. 2.3.5.4. 217 Siehe oben, Kap. 3.3.2.1, S. 353.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
so fährt der Traktat fort, „do got mensch ist vnnd yn eyme vorgotten menschen, da ist eß anders“.218 Ebenso wie Meister Eckharts Gott kennt der Gott des ‚Frankfurter‘ – zumindest in seiner Göttlichkeit – keinerlei Leiderfahrung und ist damit auch von jeglicher Sündenklage befreit. Anders als der thüringische Dominikaner stellt unser Traktat dies jedoch nicht als Ausdruck göttlicher Vollkommenheit dar. Vielmehr besteht er darauf, dass Gott sich das Leiden unter der menschlichen Sündhaftigkeit als Aspekt seines Wirkens aneignen müsse. Dazu allerdings bedarf Gott des Menschen. Eine Passage, die sich zu diesem Abhängigkeitsverhältnis besonders ausführlich äußert, sei hier in Gänze wiedergegeben: Nv sal man mercken: Got, als er got ist, ßo mag wider leid *noch betrupniß ader misseval yn en kommen, vnnd wirt doch got betrubt vmmb des menschen sunde. So nu diß nicht gescheen mag yn got an creatur, ßo muß eß gescheen, da got mensch ist ader yn eyme vorgotten menschen. Sich, do ist sunde got also leid vnd muet yn also ßere, das got alda selbs gerne wolt gemartert werdenn vnnd lieplich sterben, uff das er eyns menschen sunde da mit vortilgenn mochte. Vnd der czu ym spreche, ab er liber leben wolde, daz die sunde blebe, ader sterben vnd die sunde myt seynem tode vortilgenn. Er wolde sterben, wann got ist eyns menschen sunde leider vnd thut ym werser den seyn eigen marter vnd tod. Thut ym nu eyns menschen sunde also wee, wie thut ym den aller menschen sunde? Sich, hie beij sal man mercken, wie der mensch got betrube mit seynenn sunden. Vnd wo got mensch ist ader yn eyme vorgotten menschen, da wirt anders nicht geclaget den sunde, ader ist anders keyn leit. Wann alles, das da ist ader geschiet an sunde, das wil got han vnd seyn. Aber die clage vnd der jammer, der vmmb die sunde ist, der sal vnd muß bliben biß yn den lieplichen todt *an eynem vorgotten menschen. Vnd solde der mensche leben biß an den jungsten tag ader ewiclichen, hie von was vnd ist Cristus heymelich leiden, da von nymant saget ader weiß den allein Cristus. Vnd dar vmmb heißet eß vnd ist heymlich.219
Ausgehend von dieser Textstelle sollen im Folgenden zwei für die Leidenslehre des ‚Frankfurter‘ zentrale Gesichtspunkte beleuchtet werden: 1.) die Ersetzung des menschlichen Leidens durch das göttliche Leiden; und 2.) das Verhältnis Christi zu Gott und zum göttlichen Leiden. 1. Die Ersetzung des menschlichen Leidens durch das göttliche Leiden. Bereits zu Beginn der gerade zitierten Passage tritt der Kontrast zwischen Meister Eckhart und dem ‚Frankfurter‘ deutlich hervor: Zielt die Mystagogie in den Werken des Thüringers auf eine Überwindung des menschlichen Leidens durch dessen Aufnahme in die göttliche Leidlosigkeit, so entwirft unser Traktat ein genau gegenläufiges Leidenskonzept: Da Gott ‚als Gott‘ nicht leiden könne – nicht
218 Kap. 40, S. 127, Z. 35–36. 219 Kap. 37, S. 121, Z. 1–S. 122, Z. 20.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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einmal unter der menschlichen Sündhaftigkeit –, müsse er sich diese Fähigkeit durch die Inbesitznahme eines Menschen aneignen: „So nu diß nicht gescheen mag yn got an creatur, ßo muß eß gescheen, da got mensch ist ader yn eyme vorgotten menschen.“220 Die Verdrängungsterminologie des 24. Kapitels bringt diesen divinatorischen Gewaltakt, der zwar das göttliche Defizit ausgleicht, den Menschen in seinem kreatürlichen So-Sein jedoch vernichtet, adäquat zum Ausdruck. Zwar seien in der unio Gott und Mensch präsent, jedoch in der Weise, dass das Menschsein vollkommen von Gott übernommen werde: Wo vnd wanne got vnd mensch voreyniget wurden synt, also das man yn der warheit spricht vnd sine die warheit vorgehet, das eyns ist ware, volkommen got vnd ware, volkommenn mensch vnd doch mensch got als gar entwichet, das got aldo selber ist der mensche, vnde got ist ioch alda selbst, vnd das selbe ein *wircket stetiglichen vnd thut vnd leßet an alles ich, mir vnd meyne vnd des gleichen. Sich, do ist war Cristus vnd anders nyrgent.221
Ähnlich wie der geschaffene Wille bleiben auch die passiones animae im ‚vermenschten‘ Gott in ihrer körpergebundenen Kreatürlichkeit erhalten.222 Dass das göttliche Leiden daher nicht etwa metaphorisch, sondern als konkrete psychische wie physische Leiderfahrung zu verstehen ist, formuliert der ‚Frankfurter‘ im weiteren Fortgang des 24. Kapitels mit aller wünschenswerten Deutlichkeit: Vnd synt den got alda der selbe mensch ist, ßo ist er auch besobelich, befintlich libes vnd leides vnd des gleich. Als eyn mensch, der nicht got ist, befindet vnd *befulet alles das, daz dem menschen wol vnd we thut vnde besunder das ym wider ist. Also ist eß auch, do got vnd mensch eins ist vnd doch got der mensch ist. Do wirt alles das beschoben vnd entpfunden, das got vnd mensch wider ist. Vnnd als do selbs der mensch czu nicht wirt vnd got alles ist, also wirt eß auch vmmb das, das dem menschen wider ist, vnd seyn leiden wirt gar czu nichte ghein dem, das got wider ist vnd seyn leiden ist. Vnd diß muß weren von gote, alle die weile das liplich vnd wesenlich leben weret vnd ist.223
Damit steht allerdings fest: Das Leiden des vergotteten Menschen gehört nicht mehr ihm selbst zu, denn sein Zunichtewerden in der unio – durchaus ein gängiges mystisches Motiv224 – betrifft die Gesamtheit seiner seelisch-körper-
220 Kap. 37, S. 122, Z. 3–4. 221 Kap. 24, S. 102, Z. 1–7. 222 Vgl. auch oben, Kap. 3.3.2.1, Anm. 165. 223 Kap. 24, S. 102, Z. 10–S. 103, Z. 19. 224 Insofern die Schöpfung als solche nach Meister Eckhart ein reines Nichts ist und nur durch die göttliche Seinsmitteilung zu einem ‚Etwas‘ wird, ist der Mensch dazu aufgefordert, sich durch Selbstaufgabe von allem Geschöpflichen – wozu auch sein individuelles Personsein zählt –
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lichen Lebensvollzüge. Indem Gott von diesen Besitz ergreift und so in einer kreatürlichen Weise leidensfähig wird, offenbart er erneut jenen ‚göttlichen Autismus‘, der für die Dependenzlehre des ‚Frankfurter‘ so charakteristisch ist. Während das Leidenskonzept des ‚Frankfurter‘ demnach auf der Werkebene in seinen eigentümlichen Metaphysikentwurf eingebunden ist, offenbart es in intertextueller Perspektive seine Innovationskraft noch in einer weiteren Hinsicht. Wie die Forschungen zum mystischen Grundbegriff der gelâzenheit erwiesen haben, bleibt Eckharts Deutung desselben als zeitenthobener Zustand des gelâzen sîn225 in der nacheckhartischen Mystik nicht in dieser Konsequenz erhalten. Vielmehr tritt dem eckhartischen Gelassenheitsverständnis eine praktischethische Auslegung dieses Terminus zur Seite, die auf die Forderung der imitatio Christi ausgerichtet ist und eine „Haltung geduldigen Gleichmuts und demütiger Ergebung im Leiden“ bezeichnet.226 Vor diesem Hintergrund lassen sich die abzuwenden und in die Seinsfülle des Göttlichen einzugehen. In der ‚Gottesgeburt im Seelengrund‘ gelangt diese Loslösung des ‚inneren Menschen‘ von der kreatürlichen Welt zur Vollendung. Siehe zu diesem abnegare proprium z. B. Meister Eckhart: Pr. Q 1, DW I, S. 14, Z. 2–8: „Swenne diu sêle kumet in daz ungemischte lieht, sô sleht si in ir nihtes niht sô verre von dem geschaffenen ihte in dem nihtes nihte, daz si mit nihte enmac wider komen von ir kraft in ir geschaffen iht. Und got der understât mit sîner ungeschaffenheit ir nihtes niht und entheltet die sêle in sînem ihtes ihte. Diu sêle hât gewâget ze nihte ze werdenne und enkan ouch von ir selber ze ir selber niht gelangen, sô verre ist si sich entgangen, und ê daz si got hât understanden. Das muoz von nôt sîn.“ Siehe zu dieser Textstelle auch den Kommentar in Largier I, S. 754–757 (dort zu S. 18, Z. 2–9). Zur metaphysischen Grundlegung der eckhartischen Lehre von kreatürlichem Nichts und göttlichem Sein und ihrem dynamischen Verhältnis zueinander vgl. Aertsen: Der ‚Systematiker‘ Eckhart, S. 208–214. Auch Tauler verlangt vom Menschen die Abkehr von aller ‚Ich‘-Verhaftung und die Besinnung auf seine eigene Nichtigkeit, um das in seiner Seele Verborgene – gemeint ist in der Tradition christlicher Metaphysik der in der Seele wohnhafte Gott – aufdecken zu können (Pr. V 81, S. 433, Z. 15–17): „Du mst entkleit werden, du mst uf din niht gewiset werden und sehen waz in dir verborgen und bedecket lit.“ Das Zunichtewerden des Menschen als Voraussetzung für seine innerliche Transformation zum homo divinus bedeutet allerdings niemals, dass sich Gott dadurch verändern würde. Deshalb warnt Tauler vor einem falschen Verständnis der einunge (Pr. V 15, S. 69, Z. 14–15): „Diz wurt dicke valschlichen verstanden, wan gtliche nature enpfohet keinen zval.“ Der ‚Frankfurter‘ repräsentiert aus dieser orthodoxen Perspektive eine solche Fehlauslegung der unio, da er sie komplementär zur Vergottung des Menschen als ‚Vermenschung‘ Gottes versteht. Siehe dazu die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. 225 Zur eckhartischen Umdeutung des biblischen gelâzen hân zum gelâzen sîn siehe Völker: ‚Gelassenheit‘, S. 281–285. 226 Völker: ‚Gelassenheit‘, S. 286 (hier mit Bezug auf Seuses ‚Büchlein der Ewigen Weisheit‘). Die Zweiteilung zwischen dem metaphysisch-spekulativen Gelassenheitsbegriff Meister Eckharts und dem praktisch-ethischen Gelassenheitsverständnis der nacheckhartischen Mystik sollte allerdings nicht über die ausgesprochen komplexe Semantik der ‚Gelassenheit‘ hinwegtäuschen. Völker selbst weist darauf hin (vgl. etwa die Tabelle ebd., S. 302). Siehe dazu vor allem auch die Einleitung zum Sammelband ‚Semantik der Gelassenheit‘ (hg. Hasebrink/Bernhardt/Früh) sowie
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Ausführungen des 24. Kapitels als Versuch deuten, beide Gelassenheitskonzepte übereinanderzublenden, anstatt sie in einen spirituellen Aufstiegsweg zu integrieren, innerhalb dessen sie einander ablösen.227 Denn indem Gott „mit seyme eygen, das ist mit seyner selbheit“228 in den Menschen eingeht, übernimmt er als deus humanatus229 dessen Leiden und tritt so in die Christusnachfolge ein, die der Mensch als ‚natürlicher‘ Mensch nicht leisten kann: „Sich, do ist war Cristus vnd anders nyrgent.“230 Im Gegenzug ist der von Gott vollkommen erfüllte Mensch – der homo divinus – von allen Leiderfahrungen befreit, steht er doch in der unio mit dem leidensfreien ‚Gott in Ewigkeit‘. Auf diese Weise werden die lebenslange Leidensverpflichtung des vergotteten Menschen (die dem deus humanatus obliegt) und dessen leidenthobener Erfüllungszustand (in dem sich der homo divinus befindet) miteinander vereinbar. Allerdings verursacht die körperliche wie geistige Absorption des Menschen durch Gott ein immenses Ungleichgewicht zugunsten des Letzteren, und dies nicht nur im Bereich des Kreatürlichen, also innerhalb der Wirkungssphäre des ‚vermenschten‘ Gottes. Auch der mit dem ‚Gott in Ewigkeit‘ vereinte Mensch löst sich notwendigerweise in seiner das geschaffene Sein definierenden kategorialen Vereinzelung auf, da das göttliche ‚Eine‘ durch Un-Unterschiedenheit gekennzeichnet ist. Auch darauf verweist das 24. Kapitel des ‚Frankfurter‘: Auch sal man mercken, das das eyn, da got vnd mensch voreyniget seyn, an sich selber vnd an alle vnnd alles ledig steet vnd ist *icht, das ist gotis halben vnd nicht des menschen ader der creatur halben. Wan gotis eygen ist an diß vnd daß vnd an selbheit vnd icheit vnd dem eß glich stee vnd sey.231
Damit aber gilt die Verdrängung des Menschen auf geschöpflicher wie auf göttlicher Ebene, so dass er in seiner eigenen Identität vollkommen preisgegeben wird. In der – innerhalb des Traktats nie explizit formulierten – Konsequenz
die in diesem Band enthaltenen Beiträge. Auch der ‚Frankfurter‘ bedient sich eines durchaus vielschichtigen Gelassenheitskonzepts. Insofern stellen die folgenden Ausführungen eine dem Pragmatismus geschuldete Reduktion dar. Zur Auseinandersetzung unseres Traktats mit der gelâzenheit siehe u. a. Kap. 2.2.3.3, S. 158–159; Kap. 2.3.2.2, S. 218–219; Kap. 2.3.2.3, S. 226–228; Kap. 2.3.3, S. 252–253. 227 Damit versucht der ‚Frankfurter‘, die dem Gelassenheitsbegriff „inhärente Spannung von Zustand (in gelâzenheit) und Herstellung des Zustands (bunge)“ in innovativer Weise aufzulösen. Siehe die Einleitung zum Band ‚Semantik der Gelassenheit‘ (vgl. die vorhergehende Anmerkung), S. 15. 228 Frankfurter, Kap. 24, S. 103, Z. 27. 229 Explizit spricht der ‚Frankfurter‘ vom ‚vermenschten‘ Gott. Siehe dazu auch unten, S. 370. 230 Kap. 24, S. 102, Z. 7. 231 Ebd., S. 103, Z. 20–23.
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stehen daher nach der Inbesitznahme des Menschen durch Gott nicht mehr Mensch und Gott, sondern ‚Gott in der Zeit‘ und ‚Gott in Ewigkeit‘ einander gegenüber. Im Unterschied zum Menschen in seiner natürlichen Verfasstheit, dessen Streben zum Endziel aufgrund seiner selbheit immer in die Irre führt, ist ‚Gott, insofern er Mensch ist‘ jedoch exklusiv auf den ewigkeitlichen Gott ausgerichtet. Auf diese Weise erhält die Gelassenheitslehre des ‚Frankfurter‘ eine weitere, in anderen Predigten und Traktaten jenseits der Möglichkeiten des Sagbaren liegende Komponente. Durch die Differenzierung zwischen ‚zeitlichem‘ und ‚ewigkeitlichem‘ Gott wird nämlich die im ‚mystischen Diskurs‘ ansonsten vorausgesetzte Selbstidentität Gottes aufgehoben. Damit aber kann die Gelassenheitslehre – in ihrer spekulativen Variante als Lösung der Bindung an das eigene ‚Ich‘ – auch auf Gott selbst Anwendung finden. Denn im und durch den vergotteten Menschen liebt Gott zwar sich selber, jedoch nicht als sich selber, sondern als höchstes Gut: Vnd sprech man czu der libe: Was hastu lieb?, sie sprech: Ich han gut lieb. War vmmb? Sie sprech: Dar vmmb, das eß gut ist vnd vmmb gut. Szo ist eß gut vnnd recht vnd wol gethan, das eß *gelibet werde. Vnd were icht bessers den got, das must gelibet werde vor got. Vnd dar vmmb hat sich *got nicht lieb als sich selber, sunder als gut. Vnd were *vnd wesset got icht bessers denn got, das hette er lieb vnde nicht sich selber.232
Anders als der Gott Meister Eckharts, der aufgrund seiner Abweisung jeglicher Alterität die Bezeichnung ‚Ego‘ zu Recht für sich beanspruchen darf,233 muss der Gott des ‚Frankfurter‘ auf diese Form göttlicher Selbstbehauptung verzichten: Also gar ist icheit vnd selbheit von got gescheiden vnd gehoret ym nicht czu, sunder als vil seyn nöt ist czu der personlichkeit. Sich, diß sal seyn vnd ist yn der warheit yn eyme gotlichen ader yn eyme waren, vorgotten menschen, dan er wer anders nicht gotlich adder vorgottet.234
232 Kap. 32, S. 116, Z. 42–S. 117, Z. 47. Vgl. auch Kap. 43, S. 135, Z. 11–16: „Vnd yn dissem synne spricht man vnd ist ware: Got hat sich selber nicht lib als sich selber, wan were icht besser den got, das hette got lieb vnd nicht sich selber. Wan yn dissem waren licht vnd yn dißer warer liebe ist ader blibet weder ich noch meyne, mir, du, deyne vnd des glich, sundern das lichte bekennet vnnd wisßet eyn gut, das alle gut vnd vber alle gut ist, vnd alle gut eyns synt weßenlich yn dem eynen, vnnd an das eyne kein gut ist.“ 233 Siehe Meister Eckhart: Pr. Q 28, DW II, S. 68, Z. 3–5: „Ez blîbet allez daz eine, daz in im selben quellende ist. ‚Ego‘, daz wort ‚ich‘, enist nieman eigen dan got aleine in sîner einicheit“; ders.: In Ex., LW II, n. 14, S. 20, Z. 3–7: „Li ‚ego‘ pronomen est primae personae. Discretivum pronomen meram substantiam significat; meram, inquam, sine omni accidente, sine omni alieno, substantiam sine qualitate, sine forma hac aut illa, sine hoc aut illo. Haec autem deo et ipsi soli congruunt, qui est super accidens, super speciem, super genus. Ipsi, inquam, soli.“ 234 Ebd., S. 117, Z. 47–51.
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Das Motiv der Fremdheit, welches im ‚Frankfurter‘ das Gott-Mensch-Verhältnis bestimmt, wird damit – wenn auch in verschobener Weise – auf das Verhältnis Gottes zu sich selbst übertragen. Denn während der Mensch Gott dadurch entfremdet ist, dass er die ontologische Gottebenbildlichkeit nicht in sich trägt und in seiner Suche nach dem höchsten Gut in perfider Weise stets auf seine icheit zurückgeworfen wird, besteht die Selbstentfremdung Gottes darin, dass er sich selbst als etwas anderes, nämlich als höchstes Gut lieben muss – und zwar im und durch den Menschen.235 Eine größere Distanz zum völlig autarken, durch absolute Selbstreferentialität ausgezeichneten Gott Meister Eckharts kann es wohl nicht geben. Denn in den Predigten des Thüringers lautet die Antwort auf die Frage „Waz minnet got?“: „Got minnet niht wan sich selben und als vil er sîn glîch vindet in mir und mich in im.“236 2. Das Verhältnis Christi zu Gott und zum göttlichen Leiden. Bereits das vorhergehende Kapitel hat darauf aufmerksam gemacht, dass der ‚Frankfurter‘ im Rahmen seiner Dependenzlehre die Menschwerdung Gottes von der Person Christi entkoppelt. Damit stellt er zugleich die Hypostatische Union als Voraussetzung für die Idiomenkommunikation infrage. Tatsächlich spricht der Traktat nie davon, dass Christus für die menschlichen Sünden den Tod erlitten habe.237 Stattdessen formuliert er in der weiter oben zitierten Passage den Tod Gottes als Hypothese, und dies nicht in Bezug auf Christus, sondern auf den vergotteten Menschen bzw. ‚Gott, insofern er Mensch ist‘: „Sich, do ist sunde got also leid vnd muet yn also ßere, das got alda selbs gerne wolt gemartert werdenn vnnd lieplich sterben, uff das
235 Das Paradoxon, dass Gott sich selbst lieben muss (weil er selbst das höchste Gut ist), aber nicht als sich selbst lieben darf (weil dies der Kardinalsünde der selbheit entsprechen würde), führt im ‚Frankfurter‘ zu ebenso widersprüchlichen Formulierungen. Man lese etwa den Beginn des 43. Kapitels (S. 134, Z. 1–10): „Auch sal man mercken, wo das ware licht vnd die ware liebe ist vnd joch yn eyme menschen, da wirt das *volkommende gut bekant vnd gelibet von ym selber, vnd doch nicht also, das eß sich selber von ym selber vnd als sich selber, sunder das ware, einfeldig gut vnd das volkommenn vormagk vnd wil anders nicht lib han yn dem, als eß yn ym *ist, denn das ein, ware gut. Vnd wann eß nu das selbe ist, ßo muß eß sich selber lib han, vnnd nicht sich selbir als sich selber vnd nicht von ym selber als von ym selber, sundern also vnd yn dem, als das eyn, ware gut libet vnd lieb hat das eyn, ware, volkummen gut, vnd das eyn, ware, volkummen gut wird gelibet von dem eynen, waren, volkummen gut.“ 236 Meister Eckhart: Pr. Q 41, DW II, S. 285, Z. 9–10. Siehe auch ders.: Pr. Q 8, DW I, S. 130, Z. 7–8: „Got enminnet niht dan sîn wesen, er gedenket niht dan sîn wesen“; ders.: Pr. Q 10, S. 168, Z. 3–6: „Ez sprichet ein meister, daz diu sêle berüeret wirt âne mitel von dem heiligen geiste, wan in der minne, dâ sich got selben inne minnet, in der minne minnet er mich, und diu sêle minnet got in der selben minne, dâ er sich selben inne minnet […].“ 237 Auch Zecherle stellt fest, dass der ‚Frankfurter‘ aus seinen Darlegungen die Satisfaktionslehre ausklammert, wonach „Christus durch seinen Tod stellvertretende Genugtuung für die Sünde leistete“. Siehe ders: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 45.
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er eyns menschen sunde da mit vortilgenn mochte.“238 Eine ähnlich hypothetische Äußerung zum Tod Gottes findet sich in Kapitel 16: Kurtzlich alles, das do ist, behaget vnd gefellet got wol an alleyne der vngehorsam. Vnnd der vngehorsam mensche *behaget ym also vbel vnd ist ym also gar wider vnd claget also ßere do von, das an der stat, do der mensche vnlidenlich239 vnd des befintlich vnd fullich ist, das ym wider ist, gerner hundert tode wulde leiden, uff das er den vngehorsam yn eyme menschen ertodet vnd seynen gehorsam da wider geberen mochte.240
Diese Äußerungen sind freilich zu verstreut und bleiben theologisch zu unscharf, um den ‚Frankfurter‘ aus dem Kontext der ‚deutschen Mystik‘ zu isolieren. Zudem steht die Passion Christi – wenn auch ohne Erwähnung ihrer soteriologischen Bedeutung – im Zentrum des siebten Kapitels und lässt mit ihrer Unterscheidung von ,äußerem‘ und ‚innerem‘ Menschen Christi die Zwei-Naturen-Lehre anklingen. Allerdings ist kaum zu leugnen, dass der ‚Frankfurter‘ das Motiv des ‚leidenden Gottes‘ nicht mit der Passion Christi in Verbindung bringt, sondern in seine Dependenzlehre einflicht: Gott übernimmt physisch wie psychisch das Leiden des Menschen, indem er sich in der unio dessen eigenschaft aneignet. Mit dieser sehr spezifischen Auslegung des Leidens Gottes muss sich fast zwangsläufig die Frage stellen, in welchem Verhältnis der leidende Gott zum leidenden Christus steht und welche Rolle Letzterer überhaupt im ‚Frankfurter‘ spielt. Dass Christus in unserem Traktat ebenso wie in anderen mystischen Prosatexten das Paradigma schlechthin für den stets unter der menschlichen Sündhaftigkeit leidenden, in einer kontinuierlichen Demutshaltung verharrenden gotlichen menschen darstellt, ist in den Ausführungen der vorliegenden Arbeit immer wieder herausgestellt worden und tritt auch in der oben zitierten Passage deutlich hervor.241 Zugleich zeigte sich jedoch, dass der ‚Frankfurter‘ abweichend von Meister Eckhart und der nacheckhartischen Mystik die menschliche Natur als
238 Kap. 37, S. 122, Z. 4–7. 239 Nach Auskunft der gängigen Wörterbücher (Lexer, BMZ) hat das Adjektiv unlîdelich im Mittelhochdeutschen zwei gegenläufige Bedeutungen: Es meint einerseits ‚frei von Leiden, nicht leidend, unempfänglich für körperliches Leiden‘, andererseits aber auch ‚unleidlich, unerträglich, schmerzlich‘. Hier dürfte die letztere Bedeutung die richtige sein. Vgl. auch von Hinten (Hg.): ‚Der Franckforter‘ (‚Theologia Deutsch‘), S. 54–55. 240 S. 93, Z. 64–70. Eine orthodoxe Variante dieser Äußerung findet sich in Merswins ‚NeunFelsen-Buch‘ (hg. Strauch, S. 5, Z. 26–32): „Die entwrte ſprach: sag an, wo biſt du mit diener minne odder was redde iſt dis? sag an, du weiſt doch wol, ebbe got einnen menſchen liese virlorn werden den er eht mid sime dode mehthe behalten, wer es mgeliche er litte e ander werbe den bittern dot ebbe er ein menſchen lieſe fúrlorn werden.“ 241 Kap. 37, S. 122, Z. 15–19: „Aber die clage vnd der jammer, der vmmb die sunde ist, der sal vnd muß bliben biß yn den lieplichen todt *an eynem vorgotten menschen. Vnd solde der mensche leben
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unerlöste betrachtet, der Menschwerdung Christi also offenbar keine soteriologische Bedeutung zuschreibt. Signifikant sind in diesem Zusammenhang die Aussagen des dritten Kapitels. Dieses schließt mit jener Passage, in welcher der ‚Frankfurter‘ die Erlösungskraft betont, die im Zustand der ‚Gelassenheit‘ – verstanden als absolute menschliche Passivität zugunsten der Alleinwirksamkeit Gottes – liegt.242 In den unmittelbar vorausgehenden Erläuterungen gibt der Traktat genauere Auskunft über seine Soteriologie. Sie sind ein Paradebeispiel dafür, wie der ‚Frankfurter‘ es versteht, zwischen Tradition und Provokation zu lavieren, indem er theologische Sachverhalte so formuliert, dass sie auf der paradigmatischen Achse zwar unverfänglich erscheinen, innerhalb des Syntagmas jedoch in den Sog der Dependenzlehre geraten. Zunächst erklärt der Traktat das ‚Annehmen‘ zum adamitischen Grundlaster, das auch in den Nachkommen des Urvaters verwurzelt sei.243 Darauf bezogen fährt ein stellvertretend für alle Menschen stehendes ‚Ich‘ in einem emphatischen Bekenntnis fort: Nu dar, ich bin hundert mal tiffer gefallen vnd verrer ab gekeret dan Adam, vnnd Adams fal vnd seyn abkeren mochten alle menschen nicht gepessern ader wider brengen. Ader wie sal *mein fal gepessert werden? Er muß gebessert werde also Adams vnd von dem selbigen, do von Adams fal gebessert wart vnd yn der selben weiße. Von wem ader yn welcher weiße geschach die besserunge? Der mensch mocht nicht an got vnnd got sold nicht an menschen. Dar vmmbe nam got menschlich natur ader menschheit an sich vnd wart vormenscht vnd der mensch wart vorgötet. Alda geschach die besserunge.244
Vor dem Hintergrund seines literarischen Bezugsfeldes – aber auch im umfassenderen Rahmen christlicher ‚Normaltheologie‘ – lässt sich diese Passage ohne Weiteres in orthodoxer Hinsicht auf die Menschwerdung Christi hin auslegen.245 Denn es scheint, dass der ‚Frankfurter‘ hier die athanasische Tauschformel in einer eigenen Formulierung zum Ausdruck bringt.246 Merkwürdig mag allenfalls die Rede vom ‚vermenschten‘ Gott anmuten,247 der dem vergotteten Menschen als
biß an den jungsten tag ader ewiclichen, hie von was vnd ist Cristus heymelich leiden, da von nymant saget ader weiß den allein Cristus.“ Siehe oben, S. 362. 242 Zitiert in Kap. 2.3.2.1, S. 209. 243 Kap. 3, S. 73, Z. 1–6. 244 Ebd., S. 73, Z. 7–S. 74, Z. 14. 245 Siehe z. B. Zecherle: Die ‚Theologia Deutsch‘, S. 40–41. 246 Zur athanasischen Tauschformel siehe Kap. 3.1, S. 315. 247 Die Bezeichnung findet sich weder im Œuvre Meister Eckharts noch in den Predigten Johannes Taulers. Letztere sprechen hinsichtlich der Inkarnation vielmehr von der ‚vergotteten Menschheit‘. Siehe Pr. V 27, S. 113, Z. 33; Pr. V 37, S. 142, Z. 17–18; Pr. V 44, S. 193, Z. 14. Im mittelhochdeutschen Wörterbuch Matthias Lexers (Online-Datenbank) findet sich für das Verb
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Komplement zur Seite gestellt wird. Auffallend – aber keineswegs außergewöhnlich – ist zudem, dass die Annahme der menschlichen Natur ganz allgemein Gott, nicht aber exklusiv der zweiten göttlichen Person zugewiesen wird.248 Innerhalb der durch die Dependenzlehre bestimmten diskursiven Konfiguration – die allerdings nur auf der Ebene des Syntagmas wirksam ist – entfaltet die Passage allerdings eine andere, jenseits der Orthodoxie liegende Bedeutung. Dann nämlich gilt, dass hier gar nicht von der Inkarnation Christi die Rede ist, sondern von der Besitzergreifung des Menschen durch Gott. Auch die folgenden Aussagen stützen eine solche Einbindung des dritten Kapitels in die spezifische unio-Lehre des ‚Frankfurter‘: Also muß auch meyn fal gebessert werden. Ich vormag seyn nicht an got vnd got sal ader enwel nicht an mich. Denne sal eß gescheen, so muß got auch yn mir vormenscht werden, also das got an sich neme alles das, das yn mir ist, von ynnen vnd von vsßen, das nichts nicht yn mir sey, das got wider strebe ader seyne werck hindere. Das got alle menschen an sich neme, die da synt, vnd yn en vormenscht wurde vnnd sie yn ym vorgotet, vnd gesche eß nicht yn mir, meyn fal vnd meyn abkeren wurde nummer gebessert, eß gesche dann auch yn mir.249
Dass die ‚Vermenschung‘ Gottes durch dessen Annahme des gesamten Menschen „von ynnen vnd von vsßen“ erfolgen soll, verbindet die Aussagen des dritten mit jenen des weiter oben behandelten 24. Kapitels, das dem in der unio Mensch gewordenen Gott alle psychischen und physischen Eigenschaften des zu seinen
vermenschen als einziger Quellenbeleg der ‚Frankfurter‘. Aus dem ‚mystischen Diskurs‘ bleibt es damit weitestgehend ausgeschlossen. Die ‚Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank‘ bietet einen weiteren vereinzelten Nachweis im Werk Oswalds von Wolkenstein (Kap. 1, Lied 130, Stanza 8, Z. 2). Erst seit der Reformationszeit scheint das Verb vermenschen häufiger Verwendung zu finden. Siehe die Belege im entsprechenden Artikel des Deutschen Wörterbuchs von Jakob und Wilhelm Grimm (Bd. 25, Sp. 860; http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=vermenschen [16. August 2015]). Ähnliches gilt für das Nomen vermenschung. Die generelle Zurückhaltung im mittelalterlichen religiösen Schrifttum gegenüber der Rede vom ‚vermenschten‘ Gott resultiert vielleicht aus dem kirchlichen Verbot dieser Bezeichnung auf der gegen den Adoptianismus gerichteten Synode von Frankfurt (794 n. Chr.). Siehe Enchiridion (hg. Denzinger), n. 613, S. 281: „Mansit vero persona Filii in sancta Trinitate, cui personae humana accessit natura, ut esset una persona, Deus et homo, non homo deificus et humanatus Deus, sed Deus homo et homo Deus.“ 248 Ähnlich auch Meister Eckhart in Predigt Q 5b, DW I, S. 86, Z. 8–9 (zitiert in Kap. 2.3.1, Anm. 501). Die thomasische Summa theologiae weist nachdrücklich darauf hin, dass die ‚Annahme‘ der menschlichen Natur im eigentlichen Sinne nur der Person des ‚Wortes‘ zukommt. Von der göttlichen Natur könne die assumptio nur mittelbar aufgrund ihrer Präsenz in der zweiten göttlichen Person ausgesagt werden. Vgl. S. th. III, q. 3, a. 2, ad 2. 249 Kap. 3, S. 74, Z. 15–22.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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Gunsten ‚entwichenen‘ Menschen zuschreibt.250 Zudem betont die Passage, dass die Erlösung des Menschen gerade nicht dadurch erfolgt, dass Gott die menschliche Natur an sich (secundum se) annimmt, um dadurch das Heil für alle Menschen zu sichern.251 Im Gegenteil: Nur die ‚Vermenschung‘ Gottes im Einzelmenschen sichert dessen Befreiung aus den Fängen der Adamssünde. Gott muss also alle Menschen annehmen, um alle Menschen zu erlösen – eine im „orthodoxen Lehrsystem der Christologie“252 zurückgewiesene Position.253 Indem Gott die menschliche Natur jeweils im Einzelmenschen annimmt, hebt er deren grundsätzliche Fehlausrichtung in diesem individuellen Menschen auf und eignet sich zugleich dessen Eigenschaften, also die Eigenschaften der Person, an.254 Die das Kapitel abschließende Eloge auf das passive ‚Gottleiden‘, die sich in intertextueller Perspektive an Meister Eckharts Gelassenheitslehre anschließt,255 gerät so innerhalb des Syntagmas ebenfalls in den Sog der Dependenzlehre. Denn 250 Siehe oben, S. 363. 251 Vgl. dagegen Thomas von Aquin, S. th. III, q. 4, a. 5, ad 1: „Ad primum ergo dicendum quod assumi convenit secundum se humanae naturae, quia scilicet non convenit ei ratione personae […].“ Dies bedeutet allerdings nicht, dass Christus die menschliche Natur „in ihrer von den Einzelwesen losgelösten und abgesonderten Allgemeinheit“ angenommen hat. Wenz: Chalcedon, S. 184. Vielmehr nimmt er nach Thomas, der damit Johannes Damascenus rezipiert, eine Einzelnatur an, die in der bereits existierenden göttlichen Hypostase des Logos – und damit in der Hypostase einer anderen Natur – enhypostasiert wird. Siehe dazu Kapriev: Philosophie, S. 118 sowie S. 128– 133 (zu Johannes Damascenus); Wenz: Chalcedon, S. 183–185 (zu Thomas von Aquin und Johannes Damascenus). Siehe ferner Thomas von Aquin: S. th. III, q. 2, a. 2, ad 3: „Ad tertium dicendum quod ‚Dei verbum non assumpsit naturam humanam in universali, sed in atomo‘, idest in individuo sicut Damascenus dicit, alioquin oporteret quod cuilibet homini conveniret esse Dei verbum, sicut convenit Christo.“ 252 Wenz: Chalcedon, S. 183. 253 Vgl. Thomas von Aquin: S. th. III, q. 2, a. 5, ad 2: „Similiter etiam non potest dici quod filius Dei assumpsit humanam naturam prout est in omnibus individuis eiusdem speciei, quia sic omnes homines assumpsisset.“ Siehe auch Wenz: Chalcedon, S. 184 (zu Thomas, der wiederum auf Johannes Damascenus rekurriert): „Auch könne keine Rede davon sein, daß der Sohn Gottes die menschliche Natur in allen einzelnen Menschen angenommen habe.“ 254 Siehe dazu auch Kap. 3.2.3, S. 338–340 und Kap. 3.3.1, S. 343–345. 255 Siehe Kap. 2.3.2.1, S. 209. Auch Eckhart hebt hervor, dass die Gottesgeburt im Seelengrund in jedem Menschen stattfinden müsse. Siehe z. B. Pr. S 101, DW IV/1, S. 336, Z. 4–5: „Sant Augustînus sprichet: daz disiu geburt iemer geschehe und aber in mir niht engeschihet, waz hilfet mich daz? Aber daz si in mir geschehe, dâ liget ez allez ane.“ Vgl. dazu auch Haas: Jesus Christus, S. 293. Dabei setzt Eckhart allerdings die durch die Inkarnation geadelte menschliche Natur voraus, die im Vollzug dieses rein geistigen Geburtsgeschehens ihre Vollendung findet. Vgl. dazu Kap. 2.2.2.1, S. 111 und Kap. 2.2.2.2, S. 134. Anders als Thomas von Aquin (siehe oben, Anm. 251) hält es Eckhart für erwiesen, dass die von Christus angenommene menschliche Natur mit der Natur aller Menschen identisch ist. Vgl. Sermo LII, LW IV, n. 523, S. 437, Z. 9–10: „Natura autem assumpta communis est omni homini sine magis et minus.“
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
im gottleidenden Menschen übernimmt Gott selbst dessen Wirken und eignet sich damit jene Kompetenz an, die ihm weder ‚als Gottheit‘ noch ‚als Gott‘ zukommt. Die vom ‚Frankfurter‘ hervorgehobene Verstrickung des Menschen in die Kardinalsünde des ‚Annehmens‘, welche den Zustand der ‚Gelassenheit‘ verhindert, steht sowohl in Bezug zu jenen Aussagen, die das facere quod in se est in dessen eckhartischer Auslegung zurückweisen,256 als auch zu jenen Aussagen, die das Eingehen Gottes in den Menschen als Besessenheit oder Gewaltakt formulieren.257 Vor dem Hintergrund der Dependenzlehre bekommt eine weitere – zunächst orthodox klingende – Aussage des dritten Kapitels eine eigentümliche Bedeutung. Im Einklang mit den geltenden Lehrentscheiden der christlichen ‚Normaltheologie‘ insistiert der ‚Frankfurter‘ darauf, dass kein Mensch Adams Abkehr von Gott sühnen oder rückgängig machen konnte. Dies stimmt mit dem bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten geprägten Grundsatz überein, dass die Erlösung des Menschen Gott vorbehalten bleibt: „Ein Mensch erlöst den Menschen nicht.“258 Im Kontext der Dependenzlehre und der damit verbundenen Entkoppelung des göttlichen Leidens von der Inkarnation Christi stellt sich jedoch die Frage, ob der ‚Frankfurter‘ Christus überhaupt als Mensch gewordenen Gott konzipiert, in dessen Hypostase menschliche und göttliche Natur zwar nicht miteinander vermischt, aber miteinander vereint sind.259 Tritt Christus in unserem Traktat nicht vielmehr als Prototyp des vollkommen von Gott erfüllten Menschen auf, der sich in allen seinen Lebensvollzügen ganz und gar auf den ‚Gott in Ewigkeit‘ ausrichtet? Dies würde auf der Werkebene erklären, wieso die natura humana unerlöst ist und die Soteriologie des ‚Frankfurter‘ auf eine ‚Vermenschung‘ Gottes in jedem einzelnen Menschen zielt. Eine klare Aussage hierzu macht der Traktat freilich nicht. Stattdessen hält er seine christologischen Äußerungen in der Schwebe zwischen Unterwerfung unter die Zwänge des philosophisch-theologischen Diskurses und deren tendenzieller Durchbrechung, wodurch er einmal mehr die Einnahme unterschiedlicher Lektürehaltungen ermöglicht. Dennoch gibt es innerhalb des Syntagmas verschiedene Indizien für eine eigenständige, von anderen Predigten und Traktaten der ‚deutschen Mystik‘ abweichende Christologie. Zunächst einmal sind hier die bereits dargestellten Besonderheiten des ‚Frankfurter‘ zu nennen: seine Vermeidung jeglichen Hinweises auf die soteriologische Bedeutung der Menschwerdung
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Vgl. Kap. 2.3.4, S. 265–267 und S. 269. Vgl. Kap. 2.3.5.2, S. 274 sowie Kap. 3.2.3, S. 337–338. Hübner: Die eine Person, S. 163. Siehe auch oben, Kap. 3.3.2.1, S. 353–354.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
373
Christi, seine konsequente Verunglimpfung der menschlichen Natur und seine Kombination des Motivs vom ‚leidenden Gott‘ mit seiner spezifischen unio-Lehre. Zwar lässt der ‚Frankfurter‘ im Anschluss an äquivalente Aussagen seines literarischen Bezugsfeldes keinen Zweifel daran, dass Christus das Exempel schlechthin an Armut, Demut und Gehorsam ist und überdies das ethische Ideal einer bedingungslosen Nächstenliebe im Höchstmaß erfüllt. Fraglich erscheint allerdings, ob Christus diesem Anspruch als einheitliches Subjekt – d. h. als Inkarnation des ihn personierenden göttlichen Logos – gerecht wird. Am aussagekräftigsten ist hier das 33. Kapitel, das bereits in den vorangehenden Ausführungen Aufmerksamkeit gefunden hat, weil es die Liebesfähigkeit des vergotteten Menschen zugleich hervorhebt und unterminiert. Denn während sich der homo divinus einerseits uneingeschränkt und unter Aufgabe aller Eigenbedürfnisse seinem Nächsten zuwendet, ist dies andererseits doch kein Ausweis seiner Mitmenschlichkeit. Der ‚Frankfurter‘ beharrt nämlich darauf, dass ein derartiger Altruismus nicht dem Menschen an sich, sondern dem ‚Gott im Menschen‘ zukommt.260 Dies aber gilt auch für Christus, den das 33. Kapitel als exemplaris imago des vergotteten Menschen in Szene setzt, und zwar anhand seiner Reaktion auf den Verrat des Judas: Sich, diß magk man mercken vnd bewißen vnd beweren mit Cristo. Der sprach czu Judas, der yn vorriet: ‚Frunt, wor vmmb bistu kommen?‘, also ab er spreche: Du hassest mich vnd bist meyn feint, so habe ich dich lieb vnd bin dein frunt, vnd begerest vnd ganst vnd thust mir das aller bößt, das du kanst ader magst, ßo wil ich vnd begere vnd gan dir des allerbestenn vnd gebe vnd thete eß dir gerne, mogestu eß genemenn vnd entphaen, recht alßo got vß der menscheit spreche: Ich bin eyn luter, einfeldig gut, also magk ich auch nicht wollen, begeren, gegunnen, *gethun, geben den gut. Sal ich dir dynes vbels vnd dyner boßheit lonen, das muß ich mit gute thun, wan ich bin *ader han anders nicht.261
Anstatt wie andere Predigten und Traktate des paradigmatischen Korpus die personale Einheit Christi hervorzuheben262 – was der im vierzehnten Jahrhundert 260 Siehe dazu Kap. 3.3.1, S. 347–348. 261 Kap. 33, S. 117, Z. 11–S. 118, Z. 20 [Hervorhebung L. W.]. 262 Siehe z. B. Meister Eckhart: Pr. Q 41, DW II, S. 293, Z. 10–S. 294, Z. 1: „Unser herre Jêsus Kristus der ist ein einic sun des vaters, und er aleine ist mensche und got“; ders.: Pr. Q 49, DW II, S. 428, Z. 8–S. 429, Z. 1: „Nû merket, waz er hœret, der daz wort gotes hœret. Er hœret Kristum geborn von dem vater in voller glîcheit des vaters mit angenomenheit unserer menscheit, geeiniget an sîner persône, wârer got und wârer mensche, éin Kristus“; Blume der Schauung (hg. Ruh), S. 45, Z. 97–S. 46, Z. 108: „Der virde vorwurf ist dy einvnge menschelicher nature mit gotlicher nature in der personen des svnes vnd doch vnvermischet einer nature mit der andern, sunder menschlich nature ane genvmen an gotliche nature. Hir vmme sprechen dy heiligen, daz Christus lip vnd sele hat eine gotliche persone vnd nicht ein menscheliche persone, wan da der heilige geist formete den
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
längst etablierten Auffassung des Chalcedonense entspricht263 –, betont der ‚Frankfurter‘ hier die Separation der menscheit von Gott. Wie in anderen vergotteten Menschen auch – auf die der Traktat seine christologischen Äußerungen ja direkt im Anschluss überträgt264 – ‚wohnt‘ Gott in Christus, um in ihm und durch ihn zu wirken und sich in ihm und durch ihn dem Leiden zu unterwerfen. Explizit zum Ausdruck gebracht wird dieses inhabitatio-Modell in Kapitel 15. Dort erklärt der ‚Frankfurter‘ die menscheit Christi zur ‚Wohnstatt‘ Gottes und akzentuiert so einmal mehr die kategoriale Differenz zwischen Gottnatur und Menschnatur, ohne diese durch einen Verweis auf die Einheit der Person aufzufangen: Ja die menscheit Cristi was vnd stunt also gar an sich selber vnd an all also ye kein creatur, vnd waz nicht anders dan eyn huß ader eyn wonung gotis. Vnd alles, das da got czu gehoret vnd das die selbe menscheit waz vnd lebte vnd eyn wonunge was der gotheit, des nam sie sich alles nicht an. Sie nam sich auch der selben gotheit nicht an, der wonunge sie was, noch alles deß, das die selbige gotheit yn yr wulde, thet ader liß, noch alles deß, das yn der selben menscheit ye geschach ader geliden wart; sundern yn der menscheit was wider annemen noch gesuch ader begirde, sundern alleyne eyn gesuche vnnd begirde, wie der gotheit genug geschee, vnd des selben nam sie sich nicht an. Von dissem synne kan man hie nu nicht mere geschriben ader gesprechen. Er ist *vnaußsprechlich, er wart noch nye czu grunde gar auß gesprochen noch nymmer wirt, wan er wil sich wider sprechen noch schriben lan weder von dem, der es ist vnd weyß.265
Wie auch in der zuvor zitierten Passage erscheint Christus hier nicht als inkarnierter Logos, sondern als vergotteter Mensch, in dem Gott der Dependenzlehre entsprechend seine Wirkfähigkeit erlangt. Eine deutliche Verbindung besteht damit zu jener Textstelle, in welcher der ‚Frankfurter‘ alle Menschen lobt, die sich als eyn huß vnd eyn wonunge266 der Gottheit zur Verfügung gestellt haben, um sie jedoch zugleich vor der Kardinalsünde des annemens zu warnen. Christi Vorbildfunktion scheint nun darin zu bestehen, vor diesem Grundlaster gefeit zu sein. Indem der ‚Frankfurter‘ mehrfach betont, dass sich die menscheit Christi weder
licham vnd dy driveldikeit geschuf dy sele vnd sy in den licham goz, da bestunt lip vnd sele vf der personen des ewigen wortis. Hy von sprechen dy heiligen, daz Christus ist ein naturlich svn gotis.“ 263 Zur christologischen Ausgleichsformel des Chalcedonense siehe Wenz: Chalcedon, S. 169, 174. Zur Formierung der prochalcedonischen Partei zu einer theologischen Wirkmacht im sechsten Jahrhundert und der Durchsetzung des christologischen Dogmas im siebten Jahrhundert vgl. ebd., S. 175–178. 264 Kap. 33, S. 118, Z. 21–23: „Hie nach volget, das got yn eynem vorgotten menschen keyner rach begeret ader wil ader thut vmmb alles das vbel, das man ym gethun magk ader ymmer geschiet.“ Siehe zu dieser Textstelle auch Kap. 3.3.1, S. 348. 265 Kap. 15, S. 89, Z. 23–S. 90, Z. 35. 266 Kap. 17, S. 94, Z. 13. Siehe dazu Kap. 2.3.4, S. 265.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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der gotheit noch ihres Wirkens angenommen habe, bringt er allerdings statt der ontologischen Verbindung beider Naturen in Christus ihre Diastase zur Geltung. Durch die Anwendung der Einwohnungsmetaphorik auf Christus ergibt sich ein korrelativer Bezug des ‚Frankfurter‘ zu jenen christologischen Ansätzen, die anders als die schließlich zur Durchsetzung gelangte Lehre von der Gottmenschheit des inkarnierten Logos auf der Unterschiedenheit von göttlicher und menschlicher Natur beharren und damit die Einheit Christi als erlösendes Subjekt in Frage stellen. In seiner Summa contra Gentiles kritisiert Thomas von Aquin die altkirchlichen Theologen Theodor von Mopsuestia und Nestorius – beide Vertreter der ‚antiochenischen Schule‘267 –, weil sie die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in Christus als Einwohnungsverhältnis konzipiert haben: Theodorus igitur Mopsuestenus et Nestorius eius sectator, talem sententiam de praedicta unione protulerunt. Dixerunt enim quod anima humana et corpus humanum verum naturali unione convenerunt in Christo ad constitutionem unius hominis eiusdem speciei et naturae cum aliis hominibus; et quod in hoc homine Deus habitavit sicut in templo suo, scilicet per gratiam, sicut et in aliis hominibus sanctis […].268
Da die von diesen Theologen postulierte Einwohnung Gottes im Menschen Christus in ihrer Eigenart nicht von der Einwohnung Gottes in anderen heiligmäßigen Menschen zu unterscheiden sei, könne sie – so Thomas – unmöglich als ‚Inkarnation‘ bezeichnet werden.269 Vielmehr handle es sich um eine rein affektive Vereinigung, welche die Verschiedenheit von göttlicher und menschlicher Person letztlich bestätige:
267 Neben Theodor von Mopsuestia und Nestorius gehören zu dieser antiochenischen Schultradition Eustathius von Antiochien, Marcell von Ancyra, Diodor von Tarsus, Johannes Chrysostomus und Theodoret von Kyros. Vgl. Wenz: Chalcedon, S. 171. Bereits Eustathius (gest. vor 337 n. Chr.) konzipierte das Verhältnis von Gottheit und Menschheit in Christus als Einwohnung des göttlichen Logos im Menschen Christus. Vgl. Hauschild: Lehrbuch, S. 169. Dieses Logos-Anthropos-Modell mit dem Grundgedanken der inhabitatio wird von anderen antiochenischen Denkern wie Theodor von Mopsuestia aufgenommen. Siehe ebd., S. 175. Vgl. auch Calhoun: Lectures, S. 285–286. 268 Thomas von Aquin: ScG IV, Kap. 34, n. 2. 269 Ebd., n. 3: „Sed si quis diligenter consideret, praedicta positio veritatem incarnationis excludit. Non enim secundum praedicta verbum Dei fuit homini illi unitum nisi secundum inhabitationem per gratiam, ex qua consequitur unio voluntatum. Inhabitatio autem verbi Dei in homine non est verbum Dei incarnari. Habitavit enim verbum Dei, et Deus ipse, in omnibus sanctis a constitutione mundi, secundum illud apostoli II ad Cor. 6–16: ‚vos estis templum Dei vivi: sicut dicit dominus: quoniam inhabitabo in illis‘: quae tamen inhabitatio incarnatio dici non potest; alioquin frequenter ab initio mundi Deus incarnatus fuisset. Nec hoc etiam ad incarnationis rationem sufficit si verbum Dei, aut Deus, pleniori gratia habitavit in illo homine: quia magis et minus speciem non diversificant unionis.“
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Et sic, secundum praedicta, oportet quod alia sit persona verbi Dei, et alia persona illius hominis qui verbo Dei coadoretur. Et si dicatur una persona utriusque, hoc erit propter unionem affectualem praedictam.270
Die Idiomenkommunikation sei bei einer derartigen Trennung von Gott und Mensch ausgeschlossen, komme es doch allein dem Menschen Christus zu, gelitten zu haben und gestorben zu sein: Et quia talis unio non facit ut quod de uno dicitur, de altero dici possit […]; sicut homini illi convenit quod sit natus de virgine, quod passus, mortuus et sepultus, et huiusmodi; quae omnia asserunt de Deo, vel de Dei verbo, dici non debere.271
Damit aber könne, so lautet die orthodoxe Begründung für die Ablehnung des inhabitatio-Modells, Christi Passion und Kreuzestod keine soteriologische Bedeutung zukommen, da es ja unmöglich sei, dass ein Mensch den Menschen erlöse.272 Thomas hätte seine Kritik auch auf die Christologie des ‚Frankfurter‘ anwenden können, zumal dem Tod Christi hier ebenfalls keine soteriologische Qualität zuerkannt wird und das ‚Leiden Gottes‘ nicht an die Idiomenkommunikation gekoppelt, sondern im Rahmen der Dependenzlehre als eigenständiges Motiv neben der vita Christi ausgearbeitet wird. Die Einwohnungslehre erhält somit im ‚Frankfurter‘ eine ganz eigene Akzentuierung: Christus erscheint auf syntagmatischer Ebene als vergotteter Mensch, in dem sich das Wirken Gottes in exemplarischer Weise vollzieht. Das von Thomas zurückgewiesene Logos-Anthropos-Modell der antiochenischen Theologen273 ist hier transformiert zu einem für die Mystagogie des ‚Frankfurter‘ prägnanten Theos-Anthropos-Modell. Dieses impliziert eine weitere Analogie zu einem Kritikpunkt des Thomas. Der Aquinate wirft Nestorius vor, abweichend von der orthodoxen Lehre nur einen Willen in Christus angenommen zu haben, in dem sich die Vereinigung von Mensch und Gott vollzogen habe.274 Auch der ‚Frankfurter‘ schließt eine Anglei-
270 Ebd., n. 2. Siehe auch ebd.: „Sed tamen, quia in illo homine maior plenitudo gratiae fuit quam in aliis hominibus sanctis, fuit prae ceteris templum Dei, et arctius Deo secundum affectum unitus, et singulari quodam privilegio divina nomina participavit.“ 271 Ebd. Vgl. auch Müller: Art. ‚Idiomenkommunikation‘, Sp. 405 (zum Thema ‚Klassische Regeln über Idiomenkommunikation‘): „Zu vermeiden sind Aussagen wie ‚Gott wohnt im Menschen Jesus wie in einem Tempel.‘“ 272 Vgl. Hübner: Die eine Person, S. 166 (zu Theodor von Mopsuestia). 273 Siehe oben, Anm. 267. 274 S. th. III, q. 18, a. 1 (Utrum in Christo sit alia voluntas divina, et alia humana), c: „Nestorius etiam, qui posuit unionem Dei et hominis esse factam solum secundum affectum et voluntatem,
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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chung des menschlichen Willens an den göttlichen Willen im vergotteten Menschen aus. Dieser müsse vielmehr „einwillig seyn mit dem ewigen willen“ und nicht wie Lucifer und Adam auf dem Besitz seines eigenen Willens bestehen.275 Wie bereits gezeigt, versteht der ‚Frankfurter‘ unter dieser Einwilligkeit die Okkupation des geschaffenen Willens durch Gott, wodurch das Kardinallaster des annemens aufgehoben und die ursprüngliche Willensfreiheit restituiert wird.276 Paradigma für diesen kontinuierlich unter der menschlichen Sündhaftigkeit leidenden, absolut auf das Gute fixierten Willen ist der Wille Christi. Damit aber wird die Koexistenz eines gottkonformen menschlichen Willens und eines göttlichen Willens in Christus zugunsten der spezifischen Willenslehre des ‚Frankfurter‘ zumindest implizit ausgeschlossen. Im Vergleich mit anderen mystischen Prosatexten des paradigmatischen Korpus sowie mit signifikanten Textstellen aus der zeitgenössischen scholastischen Literatur erweist sich die Christologie des ‚Frankfurter‘ also als durchaus extravagant, auch wenn sie nicht systematisch erörtert, sondern nur punktuell präsentiert wird. Innerhalb der spezifischen diskursiven Konstellation des Traktats sind diese verstreuten christologischen Aussagen in die Dependenzlehre eingebunden, insofern sie eine Erklärung dafür bieten, warum die Erlösung des Menschen in der ‚Vermenschung‘ Gottes erfolgen muss und damit unter Anwendung eines Leidenskonzepts, welches das ‚Leiden Gottes‘ von der Hypostatischen Union auf die unio-Lehre verlagert.
3.3.2.4 Der falsche Anspruch der ‚freien Geister‘ auf Leidenthobenheit Wie weiter oben bereits erwähnt, grenzt der ‚Frankfurter‘ eine richtige und eine falsche Form der Leidlosigkeit voneinander ab, wobei Letztere in die antifreigeistige Programmatik des Traktats eingebettet ist.277 Grundkennzeichen dieser ‚freigeistigen‘ Aspirationen ist das ihnen zugrunde liegende Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der natürlichen Vernunft, d. h. des ‚falschen Lichts‘, das den Menschen vermeintlich in ein Unmittelbarkeitsverhältnis zum ‚Gott in Ewigkeit‘ setzt und damit aller Leiderfahrungen enthebt. Dieses Anstreben eines geistigen
posuit unam voluntatem in Christo.“ Zur orthodoxen Lehre von den zwei Willen Christi siehe Wenz: Chalcedon, S. 177; Kapriev: Philosophie, S. 133–135. 275 Kap. 49, S. 142, Z. 3–6: „Wan man spricht, der tufel luciper fiel von dem hymelreich vnd kerete sich von gote vnd des glich, das ist nicht anders, denn er wold seynen eygen willenn han vnd nicht einwillig seyn mit dem ewigen willen.“ 276 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.3.6, S. 308–312 und in Kap. 3.3.1, S. 345–346. 277 Siehe oben, Kap. 3.3.2.2, S. 354.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
Vollkommenheitsstatus, der von „leyt, liden vnd betrupnis“ befreit ist,278 hat im ‚Frankfurter‘ zudem eine christologische Komponente. Denn komplementär zu ihrer Verweigerung gegenüber der vita Christi sucht die natura hominis mit der ihr zu eigenen Hybris die Identität mit dem verherrlichten Auferstehungschristus zu erlangen: Das ist do von, wan Cristus vnd seyn leben ist aller natur wider vnd swere. Dar vmmb wil die natur nicht dar an. Aber got seyn yn ewikeit vnd nicht mensch ader Cristus seyn nach der erstendunge, das ist alles liechte, lustig vnd gemachsam der natur.279
Diese Form der Christuswerdung scheint sich zunächst auf den ‚inneren Menschen‘ zu beschränken, also nicht die Körperlichkeit mit einzubeziehen. Im Hintergrund dürfte hier der biblische Lehrsatz stehen, dass nur der Sohn den Vater erkennen kann.280 Jedenfalls insistiert der ‚Frankfurter‘ darauf, dass sinnliche Leiderfahrungen auch nach ‚freigeistiger‘ Überzeugung nicht zu vermeiden sind: Vnd also bleibet da kein leid, liden ader betrupniß vmmb kein ding ader sache, den allein eyn lieplich vnd synnelich enpfinden, das muß bliben biß an den lieplichen tod, vnd was do von lidens kommenn mag.281
278 Kap. 40, S. 126, Z. 33. 279 Kap. 42, S. 133, Z. 42–46. Siehe auch Kap. 40, S. 127, Z. 58–61: „Vnd spricht vnd wenet, man sey vber Cristus lieplich leben kommen vnd sey vnd solle sey vnlidelich vnnd vnberurlich, also Cristus was nach der erstendunge, vnd anders mannig wunderlich, falsch irrunge, die hie von ersteen vnnd erhaben werden.“ Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die bereits im 13. Jahrhundert entstandene Compilatio de novo spiritu das ‚freigeistige‘ Bestreben, den Sohn in Richtung auf den Vater zu überschreiten, als pelagianisch und teuflisch verurteilt. Siehe ebd. (hg. Preger), S. 466, n. 58: „Dicere quod homo equetur Patri et transcendat filium non tantum heresis Pelagii est sed etiam dyabolicum. Lucifer enim dixit: similis ero altissimo.“ 280 Vgl. Mt 11, 27. Siehe auch Frankfurter, Kap. 42, S. 133, Z. 37: „Vnd eß ist ware, das got von nicht bekant wirt den von gote“ (dazu Kap. 2.3.1, S. 200). 281 Kap. 40, S. 127, Z. 55–58. Zu unterscheiden ist diese ‚freigeistige‘ Reduktion menschlichen Leidens auf die Körperlichkeit von jener Gesellschaftsutopie, die der ‚Frankfurter‘ im sechzehnten Kapitel entwirft. Unter der Voraussetzung, dass alle Menschen in dem wahren Gehorsam stünden, wären sie nämlich von aller Leidensverpflichtung entbunden (S. 92, Z. 50–54): „Sich, weren alle menschen yn dem waren gehorsam, ßo were kein leyd noch leiden, sundern lichte, synneliche leiden: das were aber nicht czu clagen. Das merck man: Wanne were ym also, ßo wern alle menschen eyns vnd nymant thet dem andern leid noch leiden an. So lebete *vnd thete auch nymant wider got. Wo von sold danne leid *vnd leiden komme?“ Der ‚Frankfurter‘ imaginiert hier das soziale Miteinander von vergotteten Menschen, die vollständig von der Sünde – damit aber auch vom Leiden unter der menschlichen Sündhaftigkeit – befreit sind. An der Nichterfüllbarkeit dieses Zustandes lässt der Traktat jedoch keinen Zweifel (ebd., Z. 54–55): „Abir nu leider synt alle menschen vnd alle die werlt yn vngehorsam.“ Siehe dazu auch den Anfang von Kap. 17 (S. 94, Z. 1–8), der mit Bezug auf das vorhergehende Kapitel vor einer Fehlform der ‚Gelassenheit‘ warnt, die mit einem leidensfreien
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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Im 29. Kapitel allerdings wird eine Lehre vorgestellt, die den Vollkommenheitsanspruch des ‚natürlichen Lichts‘ auch auf den Körper überträgt. Von exemplarischer Bedeutung ist hier einmal mehr der Auferstehungschristus, der seinen unverletzlichen, der Sterblichkeit entrissenen Leib seinen Nachfolgern bereits im Hier und Jetzt verheißen habe: Eß ist gesprochen vnnd gehort, der mensch muge vnd solle werden yn der czit vnleidelich yn aller weiße, als Cristus was nach der vfferstendunge. Vnd das wolde man beweißen vnd beweren do mit, das Cristus sprach: ‚Ich wil uch vor gehen yn Gallilea, da sold yr mich sehen‘, vnde auch, das er sprach: ‚Eyn geist hat wider fleisch ader beine, als yr mich sehet haben‘. Vnnd wolde man das also glosiren, als yr mich gesehen habt vnd mir *noch gevolget seyt mit eyme totlichen libe vnd leben, also solt ir mich auch sehen vnnd ich sal uch vor gehen vnd yr mir nach volgen yn Galilea, das ist, yn eyner vnlidelicheit vnd *vnbeweglikeit befinden vnd smecken solt, vnd dar jnne leben vnd bliben, ee denn yr den leiplichen tod durch gehet vnd erlidet. Vnd als yr mich sehet fleisch vnd beyne haben vnd ich doch vnlidlich bin, also sollet yr auch vor dem leiplichen tode yn uwer lieplikeit vnd yn uwer totlichen menscheit vnlidelich werden.282
Der ‚Frankfurter‘ lehnt diese auf eine physische Vergottung des Menschen zielende Auslegung von Mt 26, 32 und Lk 24, 39 mit Verweis auf das durch Leiden und Tod bestimmte Erdenleben Christi, dem es nachzufolgen gelte, strikt ab.283 Damit schließt er sich all jenen Texten des konkreten Korpus an, die vor einer die vita Christi transzendierenden Aufstiegsmystik warnen.284 Zwar stellt der ‚Frankfurter‘
Wohlleben einhergehe, welches dem gegebenen gottfernen Status der Menschheit unangemessen sei. Zwar fehlt hier ein unmittelbarer Bezug zur freigeistigen Häresie; die Aussagen stehen jedoch in Zusammenhang mit der Warnung des 25. Kapitels vor einer verfehlten, dem Bequemlichkeitsanspruch der Natur entsprechenden Form der ‚Gelassenheit‘, die zu ‚geistlicher Hoffart‘ und ‚falscher Freiheit‘ verführt. Siehe dazu Kap. 2.3.2.3, S. 226–228. 282 Kap. 29, S. 111, Z. 1–S. 112, Z. 13. 283 Vgl. Kap. 29, S. 112, Z. 14–27. 284 Als locus classicus kann hier eine oft zitierte Passage aus Heinrich Seuses ‚Büchlein der ewigen Weisheit‘ gelten. Auf die Beschwerde des ‚Dieners‘ im zweiten Kapitel, dass er bei seiner Suche nach der Gottheit Christi immer wieder auf dessen Menschheit verwiesen werde (hg. Bihlmeyer, S. 204, Z. 27–31), erhält er die warnende Antwort der ‚Ewigen Weisheit‘: „Es mag nieman komen ze gtlicher hocheit noch ze ungewonlicher szikeit, er werde denn vor gezogen dur daz bilde miner menschlichen bitterkeit. So man ane daz durchgan miner menscheit ie hher uf klimmet, so man ie tieffer vellet. Min menscheit ist der weg, den man gat, min liden ist daz tor, durch daz man gan můz, der zů dem wil komen, daz du da sůchest“ (ebd., S. 205, Z. 1–7). Vgl. auch Seuse: Vita (hg. Bihlmeyer), Kap. XIII. Hier wird der Diener aufgrund seiner Abneigung gegenüber der Passion Christi scharf zurechtgewiesen (S. 34, Z. 9–12): „weist du nit, daz ich daz tor bin, dur daz alle die waren gotesfrúnd mssent in dringen, die zů rechter selikeit son komen? Du můst den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen zů miner blossen gotheit.“ Siehe ferner Tauler: Pr. V 47, S. 210, Z. 19–22: „Niemer mensche ensol so hoch komen das er iemer us den
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
hier keinen ausdrücklichen Bezug zu ‚freigeistigen‘ Fehlauslegungen der Christusnachfolge her. Insofern er auf der Werkebene aber immer wieder die ‚freigeistige‘ Verweigerungshaltung der natura humana im Allgemeinen und der freyen geiste im Besonderen gegenüber der vita Christi thematisiert,285 fügt sich Kapitel 29 widerstandslos in die antifreigeistige Programmatik des Traktats ein. Wie dargelegt, zielen die Invektiven des ‚Frankfurter‘ gegen die freigeistige Häresie jedoch in der Regel gegen das geistige Vervollkommnungsstreben ihrer Anhänger. Das gilt auch für andere Predigten und Traktate der nacheckhartischen Mystik. In Rulman Merswins ‚Bannerbüchlein‘ allerdings findet sich eine Kritik an den ‚freien falschen Menschen‘, die wohl ebenfalls die körperliche Komponente mit einbezieht: Dise frigen valschen menschen sprechent sú habent nút me zuo lidende noch zuo sterbende und sprechent sú habent us gelitten und gestorben, und sprechent: wer noch zuo lidende und zuo sterbende habe, der si noch ein grob mensche und si noch voul bilde.286
Zudem existiert im ‚mystischen Diskurs‘ als Alternative zu einer Diffamierung der körperlichen Angleichung an den Auferstehungschristus, wie sie der ‚Frankfurter‘ und das ‚Bannerbüchlein‘ vornehmen, die Möglichkeit der Affirmation einer derartigen physischen Transformation. Denn in Konkurrenz zur Verpflichtung auf die lebenslange imitatio Christi steht die ebenfalls biblisch begründete Aufforderung, die menscheit Christi letztlich in Richtung auf die Gottheit zu übersteigen.287 In dem kirchlichen Lehrsatz ,Per Christum hominum ad Christum deum‘, der im Hintergrund der mystischen Aufstiegslehren steht, wie sie sich in den pastoral orientierten Texten des paradigmatischen Korpus finden, ist diese Transzendie-
fsspúren unsers herren súlle komen: so er ie hoher kumet, so er ie tieffer dar in kumet und dar in trettende wirt in wúrklicher wise und in gebruchlicher wise.“ Zu den zitierten Seuse-Passagen siehe auch Haas: Heinrich Seuses Kreuzesmystik, S. 164–165; ders.: Sinn und Tragweite, S. 103–105; Kaiser: Die Christozentrik, S. 113–114. Zur Bedeutung der Menschheit Christi für mystische Aufstiegslehren siehe ferner Haas: Jesus Christus, S. 295. 285 Zu dieser doppelten Definition der freigeistigen Häresie siehe Kap. 2.3.5.5, S. 296. 286 Bannerbüchlein (hg. Jundt), S. 393, Z. 11–15 [eigene Zeilenzählung]. Siehe auch Wegener: nach dem aller lieblichsten exempel Christi, S. 208. 287 Eine Schlüsselstelle in diesem Zusammenhang ist Ioh 16, 7: „expedit vobis ut ego vadam si enim non abiero paracletus non veniet ad vos si autem abiero mittam eum ad vos.“ Unter Heranziehung der bernhardischen Unterscheidung zwischen amor carnalis zur Menschheit Christi und amor spiritualis zur Gottheit Christi (vgl. Haas: Jesus Christus, S. 296, Anm. 22) lässt sich diese Stelle auf die Notwendigkeit hin auslegen, den Christus passus zugunsten der Gottheit zu transzendieren. Vgl. Meister Eckhart: In Ioh., LW III, n. 655, S. 570, Z. 5–6 (in der Auslegung von Ioh 16, 7): „[…] amor etiam Christi hominis, in quantum creatura, impedit seu retardat amorem dei […].“ Vgl. auch Haas: Jesus Christus, S. 303.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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rung bereits angelegt.288 Anders als im ‚Frankfurter‘, der im Rahmen seiner antifreigeistigen Ausrichtung auf einer lebenslangen imitatio Christi besteht,289 eröffnet sich damit zumindest punktuell die Perspektive auf eine Überformung des Menschen, die auch den homo exterior und damit die leibliche Dimension mit einbezieht. Signifikant ist hier etwa die dritte Seuse-Predigt, welche die für die nacheckhartische Mystik charakteristische ‚christozentrische Wegphilosophie‘ dezidiert auf Leiden, Sterben und Auferstehung hin auslegt. Die Überwindung
288 Zur Verwendung dieses Lehrsatzes in den Seuse-Schriften siehe Haas: Heinrich Seuses Kreuzesmystik, S. 158–159; ders.: Sinn und Tragweite, S. 110; Ulrich: Zur Bedeutung, S. 133; Mossman: Marquard von Lindau, S. 137–138. Dass die Verpflichtung auf die imitatio Christi und die Forderung, diese zu überschreiten, innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ in ein unaufhebbares Spannungsverhältnis geraten können, zeigt sich paradigmatisch in den Tauler-Predigten. Während diese einerseits auf der Nicht-Transzendierbarkeit der Christusnachfolge bestehen (siehe die Tauler-Zitate oben, Kap. 3.3.2.2, Anm. 201 und in diesem Kapitel, Anm. 284), machen sie diese Überschreitung andererseits zur Voraussetzung für die spirituelle Vervollkommnung. Siehe z. B. Predigt V 24, S. 100, Z. 28–32: „Die heiligen jungern worent also gar besessen von innan und von ussen mit der gegenwertikeit unsers herren Jhesu Cristi, und also erfúllet alzůmole alle ire winkel, hertze, sele, sinne, krefte, indewendig und ussewendig, daz daz besessen uz mste und abe mste, soltent sú zů dem woren geistlichen indewendigen troste komen“; Pr. V 37, S. 142, Z. 20–24: „Nu wissest, als du alsus ein scheffelin bist worden und dem minneklichen bilde, unserm herren Jhesu Christo, bist nachgevolget, das von not sin ms, denne bist du alrerst wol ein gt heilig mensche. Aber solt du ein edel mensche werden, so wissest das es noch unmossen verre ist, do du noch úber klimmen mst“; Pr. V 19, S. 79, Z. 13–17: „Do unser herre bi sinen jungern waz, do minneten sú so wunderlichen sine menscheit daz sú nút zů der gotheit gelangen kundent vor der minnen der menscheit. Do sprach er: ‚es ist úch nútze das ich von úch vare, oder der heilige geist, der trster, enmag úch nút werden‘.“ Siehe dazu auch oben, Anm. 287. Signifikant ist in diesem Zusammenhang zudem Tauler-Predigt V 54, welche die fleischlich minne zur Menschheit Christi als ‚pharisäische‘ Liebe abwertet (vgl. ebd., S. 247, Z. 11–32). Mit der den ‚mystischen Diskurs‘ durchziehenden Problematik, dass die ‚bildhafte‘ Nachfolge des Mensch gewordenen Christus einerseits als unaufgebbar gilt, andererseits aber zugunsten einer rein geistigen Christusnachfolge überschritten werden soll, setzt sich Seuse-Predigt III auseinander (hg. Bihlmeyer, S. 526, Z. 14–S. 527, Z. 20). 289 Siehe die beiden ‚Frankfurter‘-Zitate oben, Kap. 3.3.2.2, S. 358 (Kap. 26, S. 108, Z. 68–72) und S. 360 (Kap. 43, S. 135, Z. 39–44). Vgl. ferner das ‚Frankfurter‘-Zitat oben, Kap. 3.3.2.3, S. 362 (Kap. 37, S. 121, Z. 1–S. 122, Z. 20). Zu bedenken ist allerdings, dass die lebenslange Verpflichtung des Menschen auf die imitatio Christi im Kontext der dem ‚Frankfurter‘ eigentümlichen Dependenzlehre eine folgenschwere Umdeutung erfährt, ist es doch der ‚vermenschte‘ Gott, der das physische wie psychische Leiden des Menschen übernimmt. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3. Zudem macht der ‚Frankfurter‘ in anderen thematischen Zusammenhängen – vor allem bei der Diskussion der Gesetzesfreiheit des vergotteten Menschen – für die ‚wahrhaft Erleuchteten‘ einen über alle irdischen Mängel erhabenen Vollendungszustand geltend. Siehe dazu Kap. 2.3.5.2, S. 274 und Kap. 2.3.5.4, S. 290–291. Diese Diskrepanzen auf der Werkebene lassen sich nicht auflösen.
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3 Die Gotteslehre des ‚Frankfurter‘
des Todes durch Christus gelte dabei auch für seine Nachfolger, die aus Gnade dem Auferstandenen gleich werden: So welcher mensch disen weg noch geen wlte und erstorben und verdorben were an im selber in Christo, der mücht und müst on allen zweivel auch mit im uff ersteen. Werdestu mit im begraben, so steestu sicherlich mit im uff, wie S. Paulus spricht: ‚ir seyt todt und euwer leben ist verborgen mit Christo in got.‘ In der warheit, dieser mensch würt etlicher massen unleidlich, untodlich, und fyrt mit im zu hymel, in gantzer, warer vereynung mit dem sun, in den vatter, in das vtterlich hertz, in gantzer, warer, gleicher, eynbarlicher seligkeit, in gantzer besitzungen. Was got hat von naturen, das hastu von gnaden. Disz musz aber erfolgt werden. Diser mensch, der disen weg geet, ist über ander gemeyn leut erhaben, wie ein edel mensch über eyn beest.290
Insbesondere der letzte Satz dieser Passage lässt darauf schließen, dass sie einen bereits im Hier und Jetzt erreichbaren Vollkommenheitsstatus beschreibt.291 Ähnliches gilt für den Vorsmak-Traktat, der – in einer konsequenten Weiterführung eckhartischer Lehre292 – eine metaphysische Erklärung für die Leidenthobenheit des ,äußeren Menschen‘ bietet. In der unio werde die sêlikeit der obersten Seelenkräfte in die niederen Vermögen und den Körper ausgegossen, „alsô das der lîp wirt untœtlich unde behende unde sibenwarbe klârer dan diu sunne“.293 Die komplexe Auseinandersetzung des ‚Frankfurter‘ mit dem Leiden Gottes und des Menschen, deren Ergebnisse keineswegs in allen Aspekten miteinander kompatibel sind,294 kennzeichnet den Traktat einmal mehr als engagierten – in seiner Mystagogie allerdings auf keine Systematik zielenden – Diskussionspartner innerhalb der ‚deutschen Mystik‘. Während er sich mit seiner Integration der Leidensthematik in die ihm eigentümliche Dependenzlehre weit vom ‚mystischen Normaldiskurs‘ entfernt, bindet er sich mit seinen Aussagen zu Leiden und Leidlosigkeit des vergotteten Menschen und zur ‚freigeistigen‘ Fehlauslegung menschlicher Leidenthobenheit in sein literarisches Bezugsfeld ein. Doch auch bei diesen diskurskompatiblen Aussagen erweist er sich ungeachtet aller werk-
290 Seuse: Predigt III (hg. Bihlmeyer), S. 519, Z. 6–17. 291 Dementsprechend verweist Bihlmeyer in einer Fußnote zu dieser Stelle (S. 519, Anm. 11) auf die Seuse-Vita, S. 153, Z. 2ff. Dort wird geschildert, wie sich der Leib des ‚Dieners ‘ während einer seiner Predigten verklärt. 292 Eckhart spricht ebenfalls von einem Ausströmen des göttlichen Lichts vom ‚inneren‘ in den ‚äußeren‘ Menschen. Vgl. Kap. 2.3.2.2, S. 219 mit Anm. 599. Dadurch wird der homo exterior in all seinen Lebensvollzügen auf Gott ausgerichtet, ohne aber von den äußerlichen Leiderfahrungen des kreatürlichen Daseins befreit zu werden. Eine derartige Überformung durch den homo interior bleibt der jenseitigen Glückseligkeit vorbehalten. Siehe dazu oben, Kap. 3.3.2.1, S. 349 mit Anm. 154. 293 Vorsmak-Traktat (hg. Pfeiffer), S. 449, Z. 2–4. 294 Siehe auch oben, Anm. 289.
3.3 Die thematische Entfaltung der Dependenzlehre
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internen Unstimmigkeiten nicht nur als ‚Sammelbecken‘ dessen, was in der mystischen Prosaliteratur des vierzehnten Jahrhunderts sagbar ist, sondern als eigenständige Stimme innerhalb der zeitgenössischen Debatten um das richtige Verhältnis von Gott und Mensch.
4 Resümee und Ausblick 4.1 Resümee Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass der ‚Frankfurter‘ ungeachtet seiner thematischen Konventionalität kein Epigone Meister Eckharts und Johannes Taulers ist.1 Zwar weist er in intertextueller Perspektive vielfache Kontiguitäten mit jenen Schriften auf, die heute mit den Namen dieser beiden Hauptvertreter der ‚deutschen Mystik‘ verbunden werden. Ebenso zahlreich sind seine Äquivalenzen mit einer Fülle weiterer mystischer Predigten und Traktate des vierzehnten Jahrhunderts, die entweder anderen namentlich bekannten Autoren zugeordnet werden oder aber von anonymen Verfassern stammen. Die Art und Weise jedoch, wie der ‚Frankfurter‘ bei seiner Bestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses die innerhalb des ‚mystischen Diskurses‘ zugelassenen Spielräume des Sagbaren ausreizt und ihre Grenzen zumindest teilweise überschreitet, offenbart ihn als eigenständiges Werk, dessen philosophisch-theologisches Profil sich in signifikanter Weise von demjenigen sonstiger mystischer Prosatexte unterscheidet. Wie der zweite Hauptteil dieser Arbeit (Kap. 3) herausgestellt hat, ist diejenige diskursive Innovation, welche den ‚Frankfurter‘ am weitesten von seinem literarischen Bezugsfeld entfernt, seine Dependenzlehre. Sie bietet eine metaphysische Begründung für die im Traktat immer wieder konstatierte Abhängigkeit Gottes vom Menschen, aus der sich entscheidende Konsequenzen für seine Soteriologie, Christologie und sein Gelassenheitskonzept ergeben.2 In der Angewiesenheit Gottes auf den Menschen tritt einmal mehr jenes Fremdheitsmotiv zutage, welches die Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses im ‚Frankfurter‘ auf verschiedenen Ebenen durchdringt.3 Zudem zeigt sich im Rahmen der Dependenzlehre besonders stark die Tendenz des Traktats, die vom philosophisch-theologischen Diskurs vorgegebenen Grenzen zu sprengen. Denn die Besitzergreifung des Menschen durch Gott in der unio führt nicht nur zu einer Auflösung des Menschen in seiner physisch-psychischen Personalität, sondern auch zu einer Transformation Gottes, der sich menschliche eigenschaft aneignet und erst dadurch zur Vollkommenheit gelangt.4 Die von den anderen Texten des paradigmatischen Korpus stets erfüllte Vorgabe des Diskurses, dass die Vereinigung von Gott und Mensch immer nur eine Veränderung des Menschen bewirke, wird so vom ‚Frankfurter‘ außer Kraft gesetzt. 1 2 3 4
Vgl. dazu Kap. 1.2.2, S. 28–29. Siehe dazu vor allem Kap. 3.3.2.3. Siehe dazu auch Kap. 1.2.3, S. 51 und S. 55. Siehe dazu vor allem Kap. 3.2.3, 3.3.1 und 3.3.2.
4.1 Resümee
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Martin Luthers Hochschätzung der Schrift als opus theologicissimum,5 die als Anregung für den zweiten Hauptteil der Arbeit diente, erweist sich daher im Vergleich des Traktats mit seinem ursprünglichen literarischen Bezugsfeld als hinfällig. Das bedeutet allerdings nicht, dass der ‚Frankfurter‘ den ‚mystischen Diskurs‘ verlässt. Vielmehr werden seine eigenwillige Metaphysik und die daraus resultierende Dependenzlehre in mehrfacher Hinsicht relativiert. Zum Ersten legt sich der Traktat selbst ein Spekulationsverbot auf und unterwirft die intellektuelle Reflexion der Dependenzlehre damit einem Tabu, dessen Wirksamkeit allerdings begrenzt ist. Denn es ändert nichts an der Präsentation des metaphysischen Faktums als solches, dessen Gültigkeit der ‚Frankfurter‘ auch nach dem Aussprechen des Verbots nicht infrage stellt.6 Zum Zweiten werden die Aussagen des Traktats zur Angewiesenheit Gottes auf den Menschen durch andere, den Regeln des philosophisch-theologischen Diskurses entsprechende Aussagen relativiert, so dass die Grenzüberschreitung nur punktuell erfolgt und eine von den Vorgaben christlicher ‚Normaltheologie‘ gesteuerte Lektüre ohne Weiteres möglich bleibt. Darauf lässt jedenfalls die Tradierung des ‚Frankfurter‘ in den spätmittelalterlichen Handschriften schließen, auch wenn die verhältnismäßig geringe Anzahl der erhaltenen Überlieferungsträger auf eine eher zurückhaltende Rezeption hindeutet.7 Zum Dritten erscheinen manche Aussagen, die innerhalb des Syntagmas in den Sog der Dependenzlehre geraten, völlig orthodoxiekonform, wenn ihre Beurteilung auf der paradigmatischen Achse erfolgt.8 Die Verletzung der Normen des ‚mystischen Diskurses‘ wird im ‚Frankfurter‘ also immer wieder zurückgenommen, so dass er ständig zwischen Konvention und Provokation laviert, jedoch ohne dadurch seines selbständigen theologisch-philosophischen Profils verlustig zu gehen. Diese Eigensignatur tritt besonders im Rahmen jener Vergleichsperspektive zutage, die den ersten Hauptteil dieser Arbeit (Kap. 2) bestimmt hat und von Luthers Integration des ‚Frankfurter‘ in den Kontext der sich im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts entwickelnden Wittenberger Theologie inspiriert ist. Stellt man Luthers spezifische Sicht auf den ‚Frankfurter‘ in Rechnung, so erweist sich seine enthusiastische Beurteilung des Traktats als opus theologicissimum nämlich als durchaus berechtigt. Denn seine Hochschätzung der Schrift als Dokument einer volkssprachlichen Theologie, die mit der augustinisch-antipela-
5 Siehe dazu auch Kap. 1.1. 6 Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 38 und Kap. 3.2.3, S. 340. 7 Zur verhaltenen Rezeption des ‚Frankfurter‘ im Spätmittelalter siehe Kap. 1.2.1, S. 14–15. Dass die Integration des Traktats in das mystisch-aszetische Profil monastischer Sammelhandschriften dennoch problemlos erfolgte, stellt Kap. 1.2.2, S. 19–28 dar. 8 Vgl. dazu Kap. 3.3.2.3, S. 369–373.
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4 Resümee und Ausblick
gianischen Ausrichtung der Wittenberger Reformbestrebungen konform geht, ist nicht ausschließlich einer ideologischen Perspektive geschuldet, welche von außen Wertmaßstäbe an den Traktat heranträgt, die diesem innerhalb seines ursprünglichen diskursiven Bezugsfeldes völlig fremd sind. Zwar legt der ‚Frankfurter‘ – anders als dies im lateinisch-akademischen Bereich für die schola Augustiniana moderna gilt9 – kein Zeugnis für eine volkssprachliche Rezeption der antipelagianischen Schriften des Kirchenvaters ab. Im Vergleich mit den anderen Texten des konkreten Korpus zeigt sich jedoch, dass die in der nacheckhartischen Mystik stattfindenden Diskussionen um eine naturhafte Intimität von Gott und Mensch, für die Meister Eckharts Theologie eintritt, zu einer Annäherung des ‚mystischen Diskurses‘ an augustinisch-antipelagianische Positionen führen.10 Diese sind im ‚Frankfurter‘ deshalb von besonderer Prägnanz, weil er im Unterschied zu anderen Texten der ‚deutschen Mystik‘ durchgängig auf die von Meister Eckhart grundgelegte augustinische Spiritualität verzichtet.11 Ihren Kernelementen – der uneingeschränkten Wertschätzung der menschlichen Natur als erlöste und durch die Inkarnation zusätzlich geadelte, der Zielvorgabe einer Transformation des Menschen zum Sohn Gottes im Vollzug der Gottesgeburt im Seelengrund und der Definition des Innersten der Seele als dynamischer imago Dei – stellt der Traktat eine konsequent negative Anthropologie entgegen, deren Grundprämissen den eckhartischen Vorgaben zuwiderlaufen. Denn der ‚Frankfurter‘ bestimmt die natura humana als unerlöst und gottfern,12 von einer Gottesgeburt im Seelengrund weiß er aufgrund seiner Entdynamisierung des Göttlichen nichts13 und eine fest im Innersten der Seele verankerte ontologische Gottebenbildlichkeit, die den naturhaften Gottesbezug des Menschen sichert, klammert er aus seiner imago-Lehre aus.14 Aufgrund dieser Ablehnung einer augustinischen Spiritualität, deren Zentrum die intime Nähe von Gott und Mensch ist und für deren Geltung der Kirchenvater sowohl in Eckharts Œuvre als auch in den Predigten und Traktaten der nacheckhartischen Mystik häufig namentlich als Autorität einsteht, verbietet sich für den ‚Frankfurter‘ jegliche Augustinus-Zitation. Die augustinisch-antipelagianischen Spuren, die sich durch ihn hindurchziehen, machen es jedoch möglich, dass Martin Luther ihn unmittelbar an die Seite des Kirchenvaters stellt.15
9 Siehe dazu Kap. 2.2.1, S. 97–99 sowie Kap. 2.3.2.3, S. 232–234. 10 Siehe dazu Kap. 2.3.1–2.3.6. 11 Siehe dazu Kap. 2.2.2. 12 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.1, S. 114–119. 13 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.2, S. 132–135 sowie Kap. 3.2.2. 14 Siehe dazu Kap. 2.2.3.5 und Kap. 2.2.3.6. 15 Siehe dazu auch Kap. 2.1, S. 83.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘ (1516, 1518, 1520) 4.2.1 Einführung Dass Martin Luther gerade den ‚Frankfurter‘ als volkssprachlichen Zeugen für die Legitimität der Wittenberger Theologie auswählte und mehrfach als Flugschrift publizierte, ist also wohlbedacht. Zwar verschleiert der Traktat seine diskursive Nähe zu augustinisch-antipelagianischen Theologieentwürfen durch die Einbettung der entsprechenden Äußerungen in ein Geflecht unverfänglicherer Aussagen, so dass er sich auch ohne Weiteres in den Kontext von ‚Mystik‘ und ‚Frömmigkeitstheologie‘ einordnen lässt. Doch gerade diese Stimmenvielfalt dürfte ihn aus zwei Gründen für Luther interessant gemacht haben: zum einen, weil dieser seine eigene im Werden begriffene Lehre trotz der Fokussierung auf die augustinisch-paulinische Theologie offen hielt für die Integration monastischer Leitvorstellungen;16 zum anderen, weil der Wittenberger Augustiner in der Frühphase seiner publizistischen Tätigkeit (1516–1519) eine Konfrontation seiner volkssprachlichen Leser mit schwierigen theologischen Problemen, polemischen Auseinandersetzungen und kirchenkritischen Positionen weitgehend vermied. Strikt augustinische Aussagen, wie sie bereits im September 1516 in den von Bartholomäus Bernhardi verteidigten Thesen für Unruhe an der Theologischen Fakultät Wittenberg sorgten, bleiben in Luthers deutschen Veröffentlichungen daher außen vor. Diese Differenzierung zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten bedeutet jedoch nicht, dass Luther den augustinisch-antipelagianischen Impuls, der das universitäre Reformprogramm bestimmte, seinen akademisch unbewanderten Lesern und Leserinnen vorenthalten hat. Er bindet ihn vielmehr so in seine seelsorgerisch-katechetischen Werke ein, dass diese anschlussfähig an die gängigen Frömmigkeitskategorien bleiben, diese aber zugleich in subtiler Weise unterminieren. In Anknüpfung an die Überlegungen zu Luthers Perspektive auf den ‚Frankfurter‘ in Kapitel 2.1 wollen die folgenden Ausführungen dazu anregen, die mehrfache Publikation des Traktats in der Entstehungsphase der Wittenberger Theologie unter diesem Blickwinkel zu sehen. Ihr Ziel ist es, die Übereinstimmungen des ‚Frankfurter‘ mit der augustinisch-antipelagianischen Programmatik Luthers 16 Gerade die jüngere Luther-Forschung hebt hervor, wie sehr sich Luthers Selbstverständnis in der Entstehungsphase der Wittenberger Theologie „innerhalb des mittelalterlichen Theologieund Frömmigkeitssystems“ (Leppin: Martin Luther, S. 87) bewegte. Siehe z. B. Leppin: Martin Luther, S. 69, 100; Grosse: Der junge Luther, z. B. S. 222, 231–233; Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, z. B. S. 239–241.
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4 Resümee und Ausblick
und seiner Mitstreiter zumindest ansatzweise herauszuarbeiten, ohne diese von den ‚mystischen‘ und ‚frömmigkeitstheologischen‘ Aspekten des Traktats zu isolieren. Es soll also – wenn auch nur kursorisch – aufgezeigt werden, wie sich Luthers Ausgaben der kleinen mystischen Schrift in das volkssprachliche Publikationsprogramm der Wittenberger Theologen in den Jahren zwischen 1515 und 1520 einfügen.17 Um die Veränderungen in der funktionalen Ausrichtung und medialen Aufbereitung des Traktats, die sich in den drei zu analysierenden Editionen beobachten lassen, angemessen zu kontextualisieren, werden sie jenen drei Publikationsphasen zugeordnet, die Moeller für Luthers Berühmtwerden herausgearbeitet hat. Auf diese Weise lässt sich zeigen, dass die Vielstimmigkeit des ‚Frankfurter‘ zwar in allen drei Editionen erhalten bleibt – und damit auch die durch die Einnahme verschiedener Lektürehaltungen gegebene Möglichkeit, ihn unterschiedlichen Teildiskursen des zeitgenössischen theologischen Diskurses zuzuweisen.18 Durch die variierende paratextuelle Gestaltung verschiebt sich das Gewicht jedoch in Richtung einer Präsentation als reformatorischer Text. Die erste Publikationsphase umfasst die Jahre 1516 und 1517, das heißt die Phase einer beginnenden Vermittlung der ‚neuen‘ Wittenberger Theologie zunächst an die akademische, dann aber auch an die außerakademische Öffentlichkeit.19 Die ‚Frankfurter‘-Ausgabe vom 04. Dezember 1516 kann in diesem Rahmen als vorläufiger – zunächst nicht besonders erfolgversprechender – Versuch gedeutet werden, ein mit der augustinisch-antipelagianischen Programmatik der Wittenberger Reformer kompatibles Dokument einer ‚wahrhaftigen‘ volkssprachlichen Theologietradition an ein deutschsprachiges Publikum zu vermitteln, ohne dieses durch das radikale Durchbrechen gängiger Frömmigkeitskategorien vor den Kopf zu stoßen. Damit steht dieser ‚Frankfurter‘-Druck in einer Reihe mit anderen neu verfassten Schriften aus dem Wittenberger Theologenkreis, die ebenfalls von einem Ineinander von mystischen, frömmigkeitstheologischen und
17 Diese Perspektive bedingt, dass die schriftstellerische Dominanz Martin Luthers im hier behandelten Zeitraum (insbesondere in den Jahren 1518–1520) zurückgenommen wird zugunsten der Einbettung des ‚Frankfurter‘ in ein Textfeld, das sich aus den Schriften mehrerer Autoren konstituiert. 18 Sowohl der ‚frömmigkeitstheologische‘ als auch der ‚reformatorische‘ Diskurs werden im Folgenden als Teildiskurse des zeitgenössischen theologischen Diskurses betrachtet. Hinzu tritt der ‚mystische Diskurs‘, der im fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhundert jedoch nicht unabhängig vom ‚frömmigkeitstheologischen Diskurs‘ existiert. Vielmehr werden mystische Begrifflichkeiten wie gelâzenheit semantisch so ausgelegt, dass sie in die frömmigkeitstheologische Programmatik mit ihrer Ablehnung hochspekulativer Konzeptionen einer seinshaften unio von Gott und Mensch integrierbar sind. In den kommenden Ausführungen wird daher nicht strikt zwischen ‚mystischem‘ und ‚frömmigkeitstheologischem‘ Diskurs unterschieden. 19 Siehe dazu Moeller: Das Berühmtwerden, S. 66–69.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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augustinisch-antipelagianischen Kategorien zeugen. Zu denken ist hier vor allem an die Werke des Johann von Staupitz aus den Jahren 1515 bis 151820 sowie an Luthers erste eigenständige volkssprachliche Publikation, die ‚Sieben Bußpsalmen‘ aus dem Jahr 1517. Zwar fügen sich diese Schriften – etwa durch ihre christozentrische Ausrichtung – in das zeitgenössische frömmigkeitstheologische Schrifttum ein; zugleich bieten sie jedoch eine Alternative zu erfolgreichen Werken wie der ‚Himmlischen Fundgrube‘ des Johannes von Paltz, die das Zusammenwirken von göttlicher Gnade, menschlichem facere quod in se est und kirchlicher Sakramentalgewalt zu einer umfassenden Lebens- und Sterbelehre ausgestalten. Aufgrund der ihn durchziehenden augustinisch-antipelagianischen Spuren zeigt der ‚Frankfurter‘ – wie auch die bereits genannten Schriften von Staupitz und Luther – zudem Übereinstimmungen mit der akademischen Theologie der Wittenberger. Die Grenze zwischen universitär-wissenschaftlichem und religiös-katechetischem Schrifttum wird in diesen volkssprachlichen Schriften demnach zwar aufrechterhalten, jedoch dergestalt, dass die beiden Bereiche nicht hermetisch voneinander abgeriegelt sind, sondern Schnittmengen aufweisen. Die zweite Publikationsphase umfasst die Zeit der Konsolidierung und Profilierung der Wittenberger Theologie in den Jahren 1518 bis 1519, die trotz der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der Römischen Amtskirche im Bereich der volkssprachlichen Publikationen Luthers immer noch weitgehend seelsorgerisch-katechetisch ausgerichtet bleibt.21 Innerhalb dieser Phase erschien am 04. Juni 1518 der Zweitdruck des ‚Frankfurter‘. In seiner programmatischen Vorrede lässt Luther nun keinen Zweifel mehr daran, dass der Traktat einen Beitrag dazu leisten soll, das Wittenberger Reformprojekt an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Wie zu zeigen sein wird, dokumentiert er die Kongruenz des ‚Frankfurter‘ mit seiner theologisch-anthropologischen Lehre dadurch, dass er Impulse aus dem Traktat in seine eigenen Schriften aufnimmt. Insbesondere betrifft dies die Willenslehre und damit einen zentralen Aspekt der Wittenberger Theologie. Darüber hinaus lassen sich in der vollständigen Fassung des ‚Frankfurter‘ weitere – in der Kurzfassung von 1516 nur anklingende oder aufgrund der fehlenden Kapitel
20 Auch wenn Staupitz Wittenberg bereits Ende 1512 verlassen hatte, wird er im Folgenden zum Wittenberger Theologenkreis gerechnet. Dies liegt in seiner auch von den Zeitgenossen wahrgenommenen Bedeutung für die Wittenberger Reformbemühungen begründet. So bezeichnet der Nürnberger Rechtskonsulent Christoph Scheurl, der Staupitz’ Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis in die Volkssprache übersetzt hat (siehe auch Kap. 4.2.2.4, S. 401 mit Anm. 77), den Augustinereremiten als „gemeinsamen Vater dieser Reformbemühungen“ (Kruse: Universitätstheologie, S. 105). Vgl. auch Kap. 1.1, Anm. 19 sowie Kap. 2.1, Anm. 7 und Anm. 51. 21 Vgl. Moeller: Das Berühmtwerden, S. 69–74.
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4 Resümee und Ausblick
noch nicht vorhandene – Äquivalenzen mit dem Wittenberger Reformprogramm erkennen, die zumindest angedeutet werden sollen. Mit der dritten Publikationsphase des Jahres 1520 war sowohl der Höhepunkt von Luthers schriftstellerischer Produktion22 als auch ein ausgereiftes Stadium reformatorischer Theologie erreicht. Die zuvor beachtete ‚Scheidung der Sprachbereiche‘ löste sich auf,23 und es begann jene Phase ausgedehnter Parteinahme für ‚die Luthersache‘, die sich des Massenmediums der Reformationsflugschrift bediente, um „den Anspruch auf allgemeine öffentliche Meinungsrepräsentanz“ literarisch umzusetzen.24 Innerhalb dieses nun eindeutig reformatorischen Kontextes erschien – nach Ausweis des Kolophons am 28. September 1520 – eine weitere Wittenberger Ausgabe des ‚Frankfurter‘, gedruckt wiederum von Johann Rhau-Grunenberg. Zwar handelt es sich um einen Nachdruck der Ausgabe von 1518, der jedoch durch neu hinzugekommene paratextuelle Elemente seine Zugehörigkeit zum Reformationsdiskurs unmittelbar kenntlich macht. Insbesondere sticht die intensive Annotation des Textes hervor, die sich deutlich von den kommentierenden Randbemerkungen in den bereits vorgestellten spätmittelalterlichen Textzeugen unterscheidet.25 Da die paratextuelle Auslegung des ‚Frankfurter‘ möglicherweise auf Luther selbst zurückgeht, der dann auch für diese Edition verantwortlich zeichnen würde, wird sie in den folgenden Ausführungen mit berücksichtigt. Die Fokussierung der Randbemerkungen auf die Kardinalsünde des ‚Annehmens‘ bringt diese allerdings ebenso in die Nähe von Karlstadts Gelassenheitslehre. Die folgenden drei Unterkapitel (4.2.1, 4.2.2 und 4.2.3) tragen als Überschrift jeweils den zeitgenössischen Kurztitel der ‚Frankfurter‘-Edition, die in ihnen besprochen wird. Dieser wird dann auch in den zugehörigen Ausführungen beibehalten. Während es sich bei der Luther-Ausgabe von 1516 um das ‚Geistlich edle Büchlein‘ handelt, geht es in den Darlegungen zu den beiden folgenden Editionen von 1518 und 1520 um die ‚Deutsche Theologie‘. Als Referenztext dient nun nicht mehr die moderne Ausgabe Wolfgang von Hintens, sondern der jeweilige Luther-Druck. Für Verweise auf das Tauler-Œuvre wird dementsprechend statt der Vetter-Ausgabe der Augsburger Tauler von 1508 herangezogen. Die Kontextualisierung der drei ‚Frankfurter‘-Editionen bezieht sich in erster Linie auf Schriften, deren Erstauflagen innerhalb der drei genannten Publikati-
22 Vgl. ebd., S. 86. 23 Vgl. ebd., S. 87. Siehe auch ders.: Die frühe Reformation, S. 152. 24 Kaufmann: Der Anfang, S. 376. Kaufmann sieht insbesondere in der anonymen Flugschriftenproduktion der Jahre 1520–1522 eine ‚Publikationshaltung‘ (ebd., S. 365) verwirklicht, die diesem Anspruch Rechnung trägt. Vgl. ebd., S. 356–376. 25 Siehe dazu Kap. 1.2.2, S. 24–28.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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onsphasen erschienen sind. Hierbei handelt es sich zugegebenermaßen um eine künstliche Grenzziehung, die vor allem einer pragmatischen Einschränkung der Vergleichsmöglichkeiten geschuldet ist.26 Sie wird daher verschiedentlich durchbrochen, um zu zeigen, wie sich bestimmte dem Wittenberger Augustinismus konforme Aussagen seriell durch die vor- und frühreformatorischen Publikationen der Jahre 1515 bis 1520 hindurchziehen und so einen diskursiven Zusammenhang generieren, dem der ‚Frankfurter‘ inkorporiert wird, ohne dadurch seiner Übereinstimmungen mit anderen diskursiven Formationen verlustig zu gehen. Wie in den beiden Hauptteilen dieser Arbeit wird der ‚Frankfurter‘ im Zentrum der Darlegungen stehen. Die zum Vergleich herangezogenen Texte bilden wiederum seine paradigmatische Achse; allerdings besteht diese nun nicht mehr aus der Predigt- und Traktatliteratur der ‚deutschen Mystik‘, sondern aus Publikationen Martin Luthers und seiner theologischen Mitstreiter. Anders als in den beiden Hauptteilen der vorliegenden Studie wird es im Folgenden auch nicht mehr darum gehen, das Besondere des ‚Frankfurter‘ im Vergleich zu seinem literarischen Bezugsfeld herauszuarbeiten. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie er sich als Erzeugnis und Dokument jener Transformationsprozesse, die im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts stattfinden und zu dessen Annäherung an augustinisch-antipelagianische Positionen führen, in sein neues diskursives Umfeld einfügt. Statt der Differenz steht nun also die Übereinstimmung im Zentrum des Interesses. Dementsprechend tritt die ‚Werkperspektive‘, die in den vorangehenden Kapiteln dazu diente, das spezifische theologisch-philosophische Profil des ‚Frankfurter‘ im Vergleich zu den Texten des konkreten Korpus zu erschließen, hinter der ‚intertextuellen Perspektive‘ zurück.27 Die kursorische 26 So wird Staupitz’ Schrift Ein ſeligs newes Jar von der lieb gottes in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – mit Aussagen des ‚Frankfurter‘-Drucks von 1518 in Beziehung gesetzt. Da diese Schrift auf Staupitz’ Adventspredigten des Jahres 1517 zurückgeht, wäre allerdings auch eine Fokussierung auf die erste Publikationsphase nahe liegend. Aufgrund der Nachdrucke – 1520 erscheint die Schrift in Basel und Augsburg mit dem verkaufsfördernden Zusatz „bewert vnd approbiert durch D. Martinum Luther“ – wäre ebenso die Zuordnung zur dritten Publikationsphase möglich. Siehe zu dem erwähnten Zusatz die Basler Ausgabe des Druckers Adam Petri (VD 16: S 8710) sowie die Augsburger Ausgabe von Melchior Ramminger (VD 16: S 8707). Vgl. ferner Moeller: Das Berühmtwerden, S. 83. 27 Nimmt man den ‚Frankfurter‘ als ‚Werk‘ in den Blick, so finden sich für zahlreiche seiner Aussagen keine Kookurrenzen innerhalb des vor- und frühreformatorischen Schrifttums. In Hinblick auf Martin Luther hat diese Dissonanzen Steven E. Ozment herausgearbeitet. Siehe Mysticism, S. 22–24. Wie bereits in den beiden Hauptteilen dieser Arbeit (Kap. 2 und 3) aufgezeigt, ist es ausgeschlossen, alle Aussagen des ‚Frankfurter‘ einer bestimmten Diskursformation zuzuordnen. Zwar gehört er von seinen Ursprüngen her dem ‚mystischen Diskurs‘ an, dessen Regeln er aber aufgrund seiner dezidierten Abwendung von der augustinischen Spiritualität der ‚deutschen
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Analyse der drei Drucke konzentriert sich jeweils – sofern vorhanden und aussagekräftig – auf das Titelblatt, die Vorrede, die Randbemerkungen sowie einige prägnante inhaltliche Aspekte.
4.2.2 Eyn geyſtlich edles Buchleynn – die Wittenberger Druckausgabe von 1516 4.2.2.1 Das Titelblatt Wie bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit angemerkt, rückt die von Luther gewählte Überschrift des „an titell unnd namen“ aufgefundenen ‚Büchleins‘28 ein zentrales Thema der Wittenberger Theologie in den Mittelpunkt: nämlich die Opposition von Adam und Christus bzw. von ‚altem‘ und ‚neuem‘ Menschen.29 Damit erhalten die Kapitel 15 und 16 – in Luthers Ausgabe handelt es sich um die Abschnitte 8–1330 – eine prononcierte Stellung, da in ihnen die Adam-ChristusAntinomie und damit der Kontrast von homo vetus und homo novus im Vordergrund steht.31 Allerdings kommt den beiden Kapiteln im Kontext des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ keine isolierte Stellung zu, insofern dieses den Menschen in seiner natürlichen widergöttlichen Verfasstheit grundsätzlich als Gegenpol zur
Mystik‘ und seiner extravaganten Gotteslehre immer wieder bricht. Wie die spätmittelalterliche Rezeption des Traktats zeigt, ist er im fünfzehnten Jahrhundert mit dem ‚frömmigkeitstheologischen Diskurs‘ durchaus vermittelbar, ohne jedoch in diesem aufzugehen. Ähnlich widerständig bleibt seine Aufnahme in den Reformationsdiskurs. Zwar sind die Aussagekongruenzen mit vorund frühreformatorischen Schriften offensichtlich; es bleibt jedoch immer ein nicht integrierbarer Aussagenüberschuss. Gerade diese Vielstimmigkeit trägt dann im weiteren Verlauf des sechzehnten Jahrhunderts und darüber hinaus dazu bei, dass die ‚Theologia deutsch‘ von den Vertretern ganz unterschiedlicher reformatorischer Gruppierungen in Beschlag genommen werden kann. 28 Den kommenden Darlegungen liegt das Faksimile der Druckausgabe von 1516 in Baring (Bibliographie), S. 11–25 zugrunde. Siehe auch VD 16: T 890. Da die Seiten, auf denen sich das Faksimile befindet, nicht nummeriert sind, wird im Folgenden eine eigene Seitenzählung verwendet, die jedoch nahtlos an Baring anschließt (er nummeriert die Seiten bis 10, dann folgen das Faksimile [11–25] sowie das Titelblatt des Nachdrucks der Erstauflage [26], bevor die Zählung mit S. 27 weitergeht). Außerdem ist jeweils angegeben, ob sich die zitierte Textpassage in der linken (A) oder der rechten Spalte (B) befindet. 29 Siehe Kap. 1.1, S. 4–5. 30 Abschnitt 8 in Luthers Edition (welche keine Kapitelzählung aufweist) beginnt mit Kap. 14 in der Einteilung der Handschriften C und D (wie sie die Edition Wolfgang von Hintens repräsentiert), woran sich nahtlos ein erster Teil von Kapitel 15 anschließt. Abschnitt 9 in Luthers Edition besteht aus dem zweiten Teil von Kapitel 15. Das ursprüngliche Kapitel 16 umfasst dann die folgenden Abschnitte 10 bis 12 und den Beginn von Abschnitt 13, der unmittelbar mit dem ehemaligen Kapitel 17 fortgesetzt wird. 31 Darauf weist auch Leppin hin. Vgl. ‚Omnem vitam […]‘, S. 19–20. Siehe ferner Florin: ‚Ein hass […]‘, S. 178.
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Gottzugewandtheit des Christuslebens auffasst. Daher erfolgt in der Flugschrift selbst auch keine besondere Hervorhebung dieser Abschnitte. Wie gesehen handelt es sich bei der Opposition von Adam und Christus bzw. ‚altem‘ und ‚neuem‘ Menschen ebenfalls um ein Grundthema der augustinisch-antipelagianischen Schriften, das – in unterschiedlicher Verwendung – auch im ‚mystischen Diskurs‘ präsent ist und so auch Leserinnen und Leser des fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhunderts erreicht. Im Tauler-Œuvre findet es sich in mehreren Predigten des von Luther verwendeten und annotierten Augsburger Tauler-Druckes.32 Diese diskursübergreifende Funktion des Titels – der sich je nach Lektürehaltung als Ausdruck mystischer, frömmigkeitstheologischer oder augustinisch-antipelagianischer Programmatik begreifen lässt – gilt auch für den darunter befindlichen Holzschnitt. Er zeigt eine konventionelle Kreuzigungsszene,33 welche durch den Adamsschädel unter dem Kruzifix die Adam-Christus-Antinomie zwar anklingen lässt, jedoch weit davon entfernt ist, die etablierten Frömmigkeitskategorien eines frühneuzeitlichen Publikums zu durchbrechen.34 Vergleichbare Titelholzschnitte finden sich zum Beispiel auch in den verschiedenen Ausgaben
32 Es handelt sich im Augsburger Tauler um die Predigten X, fol. 22v, Sp. A (= V 6, S. 25, Z. 17–19); XLIIII, fol. 110r, Sp. A (= V 39, S. 161, Z. 11–14); XXXIIII, fol. 78v, Sp. A (= V 60c, S. 295, Z. 28–30 und S. 296, Z. 1–2). Zugrunde gelegt ist hier und im Folgenden das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek 2 P. lat. 1450 (VD 16: J 783). 33 Siehe Baring: Bibliographie, S. 11 (Faksimile). Vom Betrachter aus links neben dem Kreuzesstamm befinden sich die Gottesmutter Maria und Johannes, beide sind stehend mit verhaltener Trauergestik dargestellt. Vor dem Kreuz – dem Zuschauer den Rücken zuwendend – kniet Maria Magdalena und umfasst dessen Fußende. Rechts sind der römische Zenturio mit Lanze und eine weitere männliche Figur zu sehen, deren rechte Hand einen Zeigegestus aufweist. Vermutlich handelt es sich um den Hauptmann, der nach Jesu Dahinscheiden Gott preist (vgl. Lk 23, 47). Eine dritte, von den beiden anderen weitgehend verdeckte Figur dieser Gruppe ist nicht zu identifizieren. Nach Baring (Bibliographie, S. 27) kann es sich sowohl um einen Kriegsknecht als auch um einen Schriftgelehrten handeln. 34 Offen bleiben muss ohnehin, inwieweit Martin Luther auf die Auswahl des Titelholzschnittes Einfluss genommen hat. Aufgrund der von ihm gewählten Überschrift, der stark christologischen Akzentuierung des Traktats und der häufigen Verwendung von Kreuzigungsdarstellungen in der zeitgenössischen frömmigkeitstheologischen Literatur (siehe dazu auch die folgende Anmerkung) kann die Entscheidung ebenso auf den Drucker Rhau-Grunenberg zurückgehen. Bereits Baring (Bibliographie, S. 27) hat darauf aufmerksam gemacht, dass derselbe Titelholzschnitt für Luthers Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) nochmals Verwendung findet. Siehe auch WA 1, S. 523, zu Druck A. Luther selbst weist in seiner Vorclerung […] etlicher Artickell yn ſeynem Sermon von dem heyligen ſacrament (Januar 1520) jede persönliche Verantwortung für die visuelle Druckgestaltung zurück. Gegen seine Gegner, welche an der Abbildung zweier Monstranzen auf dem Titelblatt der Sakramentsschrift als vermeintlichem Ausdruck böhmischer Ketzerei Anstoß nahmen, bemerkt er (WA 6, S. 82, Z. 19–23): „Das aber ʒwo monſtrantʒen druckt ſeyn, bit ich meyne hoch ſynnigen die ſelben liben, das ſie mir gnedig wolten ſeyn, dan ich furwar die ʒeyt
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der im vorhergehenden Kapitel bereits erwähnten ‚Himmlischen Fundgrube‘ des Augustinereremiten Johannes von Paltz,35 die ein umfassendes Lehrprogramm für die Sicherung des eigenen Seelenheils durch die Fruchtbarmachung des Leidens Christi beinhaltet. Luthers Freund, geistlicher Berater und beruflicher Förderer Johann von Staupitz lässt sein ‚Büchlein von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi‘ im Jahr 1515 bei Melchior Lotter ebenfalls mit einer Kreuzigungsszene als Titelholzschnitt drucken.36
4.2.2.2 Die Vorrede In der knappen Vorrede zum ‚Geistlich edlen Büchlein‘ – soweit bekannt handelt es sich um Luthers erste volkssprachliche Äußerung im Buchdruck – verweist der Wittenberger Augustiner nicht nur auf dessen inhaltliche Nähe zu Johannes Tauler, sondern macht zumindest verhalten auf seine Besonderheit aufmerksam. Denn nur bei einer oberflächlichen Lektüre erscheine es „untchtig ader auſʒ der weyſʒe gewonlicher prediger unnd lerer reden“, tatsächlich aber sei es „auſʒ dem grund des Jordans von einem warhafftigen Jſraeliten erleſʒen“.37 Die Möglichkeit, hinter den konventionellen Themen des ‚Büchleins‘ eine weitere Sinndimension aufzuspüren und es dadurch in eine von den etablierten Frömmmigkeitskategorien abweichende diskursive Tradition einzuordnen, klingt so zumindest an. Anders als im akademischen Bereich verzichtet Luther jedoch noch auf die eindeutige Formulierung einer programmatischen Stoßrichtung. Überhaupt lässt die mediale Aufbereitung des Traktats von der späteren Zugkraft des Namens ‚Martin Luther‘ nichts erahnen. Unprätentiös steht der Name des bis dato weitgehend unbekannten Wittenberger Theologieprofessors – F. Martinus Luder38 – unter der Vorrede; auf dem Titelblatt wird kein Herausgeber genannt.39 Die bisherigen Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die in den Paratexten vorhandenen Signale für eine Einbettung des ‚Geistlich edlen Büch-
nit hab, das ich müge ſehen, was der Drucker für bild, buchſtaben, tindten odder papyr nympt, und iſt mir vor nie geſchehn, habs mich auch nit furſehen, das man von mir ſolchs begerend wurd.“ 35 Siehe z. B. das Titelblatt des ‚Fundgrube‘-Druckes von Hans Froschauer, Augsburg 1501 (VD 16: J 247) oder der ‚Fundgrube‘-Ausgabe von Konrad Kerner, Straßburg 1517 (VD 16: J 250). 36 Siehe VD 16: S 8697. 37 WA 1, S. 53; siehe auch das Faksimile in Baring: Bibliographie, S. 12, Sp. A. 38 Erst seit dem Oktober 1517 ersetzte der Augustiner das ‚d‘ in ‚Luder‘ durch ‚th‘. Etwa zeitgleich begann er damit, in Briefunterschriften eine gräzisierende Form seines Namens zu verwenden: Eleutherius (‚eines Freien würdig‘, ‚Befreier‘), was er wohl in erster Linie im Sinne des Befreitseins verstand. Vgl. Leppin: Martin Luther, S. 124. 39 Vgl. auch Moeller: Das Berühmtwerden, S. 67.
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leins‘ in den Kontext der sich formierenden Wittenberger Theologie für zeitgenössische Leser und Leserinnen, die keinen Zugang zu den noch weitgehend lokal begrenzten akademischen Diskussionen hatten,40 aufgrund der Dominanz des frömmigkeitstheologischen Diskurses unkenntlich gewesen sein dürften. Für sie hat sich das ‚Büchlein‘, von dem nur ein Nachdruck aus dem Jahr 1518 bekannt ist,41 vermutlich unauffällig in das breite Feld christozentrisch ausgerichteter religiöser Unterweisungsliteratur eingefügt.42
4.2.2.3 Die drei lateinischen Randbemerkungen Der Spagat zwischen gewonlicher Lehre und einer Neuauslegung des Altbekannten kennzeichnet ebenso die drei lateinischen Anmerkungen, die in den Erstdruck des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ inseriert sind und darauf hindeuten, dass Luther die Lektüre der kleinen Schrift auch einem gelehrten Publikum zumuten wollte. Die erste lautet: id est antequam discernant inter figuram et rem figure, nondum potentes separare preciosum absconditum a vili operculo figure et illi adhereri.43
Die traditionelle Unterscheidung von res und figura – Brecht weist auf ihren augustinischen Ursprung hin44 – lässt sich auf eine Fülle von Sachverhalten
40 Hamm weist darauf hin, dass sich der Umbruch in Luthers Theologie „hinter Klostermauern fernab aller spektakulären Publizität vollzog“, Die Reformation, S. 139. Siehe auch Kruse: Universitätstheologie, S. 53, Anm. 1: „Bis 1518 gab es kaum gedrucktes Material, welches die Rezeption der frühen Theologie Luthers über den Wittenberger Raum hinaus hätte ermöglichen können.“ Hinsichtlich der Thesenreihen, welche die Wittenberger Theologie erstmals einer akademischen Öffentlichkeit bekanntmachten, waren Luther und seine ersten Anhänger aber bereits seit 1516 um eine Ausweitung des Empfängerkreises bemüht. So schickte Nikolaus von Amsdorff mehrere Exemplare der Disputationsthesen Bernhardis (1516) nach Erfurt. Siehe dazu Aland: Die theologischen Anfänge, S. 243; Kruse: Universitätstheologie, S. 83. Karlstadts Thesenreihe De natura, lege et gratia contra scolasticos et usum communes (1517) wurde von Luther mit der Bitte um Weiterverbreitung nach Nürnberg an Christoph Scheurl geschickt (siehe Kruse: Universitätstheologie, S. 93). Seine eigenen Thesen contra scholasticam theologiam (1517) sandte Luther sowohl nach Nürnberg als auch nach Erfurt. Siehe Kruse: Universitätstheologie, S. 104–105. 41 Es handelt sich um die Ausgabe von Wolfgang Stöckel, Leipzig 1518. Siehe Baring: Bibliographie, S. 28. 42 Exemplarisch genannt seien hier nur die ‚Himmlische Fundgrube‘ des Johannes von Paltz, der ‚Schatzbehalter‘ des Stephan Fridolin und die diversen Artes moriendi (z. B. Wie man sich halten sol by eym sterbenden menschen des Johannes Geiler von Kaysersberg), welche das Vertrauen auf die Erlösungskraft des Leidens Christi programmatisch in den Vordergrund stellen. 43 Hier zitiert nach WA 59, S. 4, Z. 1–2. Siehe auch Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. A (Faksimile). 44 Siehe Brecht: Randbemerkungen, S. 12.
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anwenden und dürfte nicht nur lateinkundigen Rezipienten, sondern auch einer gebildeten volkssprachlichen Leserschaft vertraut gewesen sein.45 Offen bleiben muss, ob Luther die Anmerkung selbst verfasst hat oder ob er sie bereits in der handschriftlichen Vorlage vorfand und bewusst an ihrem Platz beließ.46 Fest steht, dass er die Terminologie bereits in seiner ersten selbständigen volkssprachlichen Schrift – der Auslegung der Sieben Bußpsalmen von 1517 – auf seine eigene Theologie adaptiert. Dort heißt es: Das iſt, die euſʒerlich gerechtickeit und ſcheynende frumickeyt iſt lauter triegerey an grund unnd warheit, darumb das ſie die ynnerlich ſunde decket und nur ein figur iſt der grundlichen waren gerechtickeyt.47
Angesichts der assoziativen Randnotizen in Handschrift D, welche die Aussagen des Traktats in zeitgemäße Frömmigkeitskategorien einordnen, stellt sich die Frage, ob die lateinischen Glossen im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ ähnlich verfahren oder ob sie einen unmittelbaren Rückhalt im Text haben. Die erste, oben bereits zitierte Randbemerkung befindet sich – legt man die auf Handschrift D basierende Zählung der modernen Edition zugrunde – neben dem dreizehnten Kapitel,48 welches in äußerst verknappter Form vor einer eigenmächtigen Lösung von den ‚Bildern‘ warnt.49 In der Teminologie der Glosse fordert der Text den Menschen also dazu auf, bei der figura zu verharren, bis ihn das göttliche Wirken von diesem vili operculum befreit. So gesehen, tritt die lateinische Randbemerkung in ein Spannungsverhältnis zum Text – jedenfalls, wenn man sie als implizite Aufforderung zur Abkehr von der figura als ‚wertlosem Deckel‘ zugunsten der kostbaren res versteht. Allerdings weist der Druck von 1516 eine vom ursprünglicheren Wortlaut, wie ihn die Edition Wolfgang von Hintens wiedergibt, leicht abweichende Aussage auf. Zwar wird auch hier zunächst vor der selbstbestimmten Abwendung von
45 Vgl. Augsburger Tauler (1508), fol. 126r: „V die alte ee iſt geweſʒen ain weg v ain figur d[er] newen ee“ (= Pr. V 73, S. 395, Z. 10–11). 46 Dies gilt ebenso für die anderen beiden Randbemerkungen. Vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 13. 47 WA 1, S. 188, Z. 24–26 (Auslegung des 4. Bußpsalms). Siehe auch ebd., S. 189, Z. 25–28: „Alſʒo nu das ſprengen mit hyſſopen und mit waſſer waſchen Euſerlich nichts nutz iſt tʒu der ynnern waſchung und beſprengeung, dan allein ein figur unnd lediges tʒeichen […].“ Auf weitere Textstellen – u. a. in den Randbemerkungen zu den Tauler-Predigten – verweist Brecht: Randbemerkungen, S. 12. 48 In der Einteilung des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ handelt es sich um den Abschluss des siebten Abschnittes, der aus den ursprünglichen Kapiteln 12 und 13 besteht. 49 Zitiert ist das sehr kurze Kapitel in Kap. 2.1, Anm. 14.
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den ‚Bildern‘ gewarnt.50 Dann aber fährt der Text fort: „vnd darumb ſolte man alle ʒeyt mit vleyſʒ warnemen d[er] werck gottes v ſeiner heyſſung treybung v vermanūg v nicht die werck / heyſʒūg / od[er] vermanūg des mēſchen.“51 Der hier aufgebaute Gegensatz zwischen menschlichem und göttlichem Wirken fehlt in der ältesten Überlieferungsschicht, wie sie Handschrift D repräsentiert. Dort ist nur vom Wirken Gottes die Rede.52 Mit dieser erweiterten Textpassage geht die lateinische Randbemerkung durchaus konform, auch wenn sie eine abweichende Terminologie verwendet. Jedenfalls lassen sich die Bezeichnungen figura und res von einem gebildeten Leser auf den Kontrast von menschlichem und göttlichem Handeln übertragen. Dies dürfte auch das Einverständnis Luthers gefunden haben, denn die oben zitierte Passage aus der Auslegung der Sieben Bußpsalmen ist in einen Kontext eingebettet, in dem alle menschlichen Versuche, „mit vill worten, tichten, wercken gote ʒu dienen und nach ʒukommen“,53 als ,äußerlicher Schein‘ und damit als figura der wahren, innerlichen, von Gott geschenkten Gerechtigkeit verstanden werden.54 Unter der Voraussetzung, dass die Glosse auf Luther selbst zurückgeht, stellt sich die Frage, ob er hier nicht doch einen Eingriff in seine Vorlage vorgenommen hat, um Text und Paratext aufeinander abzustimmen. Immerhin fällt auf, dass die genannte Gegenüberstellung exklusiv in den Luther-Ausgaben auftritt.55 Auszuschließen ist eine solche Angleichung sicherlich nicht. Von Hinten weist jedoch darauf hin, dass es sich bei dem Texteingriff möglicherweise um ein Spezifikum der Überlieferungsstufe *Y6 handelt, welches dann bereits in der handschriftlichen Vorlage des Druckes von 1516 vorhanden gewesen wäre. Zwar kennt Handschrift I – der einzige weitere erhaltene Zeuge dieser Gruppe – die Opposition von menschlichem und göttlichem Wirken nicht. Hier lautet der Text: „vnd der mb ſolt man alʒeit warnemen der werck gotes vnd ſein heiſʒung treibung oder v[er]manvng des menſchen.“56 Die Konjunktion oder, welche auch in den Luther-
50 Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. A (Faksimile): „Es ſpricht ein lerer. Es ſind menſchen yn der zeyt die den bilden ʒu fr vrlaub geben ee ſye die warheyt dar von geloſʒen /vnnd darumb das ſie ſich ſelber loſʒen ſʒo mgen ſy kaume oder nicht ʒu der warheyt gereychē […].“ 51 Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. A (Faksimile). 52 Siehe Kap. 2.1, Anm. 14. 53 WA 1, S. 188, Z. 36. 54 Vgl. auch WA 1, S. 188, Z. 32–35: „Die weyſʒheyt gottis wirt den hoffertigen nur ym euſʒer ſcheyn offenbart, aber denn demutigen wirt ſie yn ynnewendiger warheyt und vorborgenen grund ertʒeigt. und ſpricht, deiner weyſʒheyt, dan ſie iſt nit unſer, ſundern gottis, der ſie uns gibt.“ 55 Nach von Hinten, S. 55, ist die Lesart von Druck B (1518) vermutlich von Druck A (1516) übernommen. 56 Fol. 118v.
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Drucken vorkommt (im zweiten Teil des Gegensatzpaares), könnte jedoch darauf hindeuten, dass hier durch Homoioteleuton Text verloren gegangen ist.57 In jedem Fall ist die Glosse mit Luthers theologischer Anthropologie kompatibel, ohne das Koordinatensystem vorreformatorischer Religiosität zu durchbrechen. Gleiches gilt für die beiden anderen Randbemerkungen. Die zweite befindet sich neben einer Passage des ehemals sechzehnten Kapitels,58 welches im LutherDruck in drei Absätze (10, 11 und 12 in eigener Zählung) unterteilt ist. Es handelt sich um das Ende des elften Absatzes.59 Die Glosse lautet: ichheyt, id est, si dicere licerem, Meitas, id est mei commodi affectus quo ego meipsum quaero. Quanto decrescit ego hominis, tanto crescit in eis Ego divinum.60
Hier wird im Einklang mit dem Text ein Leitmotiv des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ aufgenommen, welches bereits im vierzehnten Jahrhundert seine Nähe zu augustinisch-antipelagianischen Positionen bezeugt. Denn es erklärt die icheit zum Grundlaster des Menschseins, welches fest in der natura humana verankert ist, und schafft damit einen korrelativen Bezug zum augustinischen Kardinallaster der concupiscentia.61 Den Aspekt der fehlgeleiteten Suche, die statt auf Gott auf das eigene Selbst zielt, übernimmt die Randbemerkung aus anderen Passagen des ‚Geistlich edlen Büchleins‘.62 Die Übersetzung von icheit als meitas entspricht insofern der Terminologie des Traktats, als dieser in der vollständigen Version als Synonym für icheit und selbheit auch den volkssprachlichen Begriff mînheit verwendet.63 Die Fokussierung der Glosse auf die icheit führt jedoch nicht zwangsläufig zu ihrer Auslegung im Sinne der Wittenberger Theologie. Sie kann ebenso gut als Aufruf zur Abkehr von allem Eigenen zugunsten einer Alleinwirksamkeit Gottes verstanden und damit in etablierte mystische Kategorien eingeordnet werden. Der zweite Satz der Glosse, welcher einen Ausschnitt des nebenstehenden deutschen Textes übersetzt, legt ein solches Verständnis sogar nahe. Die dritte Glosse lautet: „id est ubi deus est nostrum ego et tota intentio.“64 Sie befindet sich in der Luther-Ausgabe am Beginn des 21. Abschnittes.65 In der
57 Vgl. von Hinten, S. 55. 58 In der Edition von Hintens: S. 92, Z. 42–49. 59 Siehe Baring: Bibliographie, S. 17, Sp. B (Faksimile). 60 Hier zitiert nach WA 59, S. 4, Z. 7–9. 61 Siehe dazu Kap. 2.3.1, S. 190–191. 62 Vgl. Kap. 15, S. 89, Z. 5–7 (Luther-Druck 1516: Abschnitt 8; vgl. Baring, Bibliographie, S. 16, Sp. B); ebd., Z. 15–18 (Luther-Druck 1516: Abschnitt 8; vgl. Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. B). 63 Vgl. Kap. 2.3.1, Anm. 469. 64 Hier zitiert nach WA 59, S. 4, Z. 11. 65 Vgl. Baring: Bibliographie (Faksimile), S. 23, Sp. B.
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Kapiteleinteilung der ältesten Überlieferungsschicht handelt es sich um eine Stelle aus dem 26. Kapitel.66 Brecht weist darauf hin, dass die Randbemerkung insofern eine eigene Interpretation des nebenstehenden Textes vornimmt, als sie die hier „behauptete Identität von Gott und Mensch nicht als Vergottung, sondern als eine Einung der Willensrichtung bestimmt“.67 Eine Transformationsmystik eckhartischer Prägung wird damit zurückgewiesen. Dies entspricht der Theologie Martin Luthers ebenso wie der frömmigkeitstheologischen Programmatik des fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhunderts.68
4.2.2.4 Inhaltliche Aspekte Bereits in den Ausführungen zum Titelblatt des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ wurde darauf hingewiesen, dass das 1515 erschienene ‚Büchlein von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi‘ ebenfalls mit einer Kreuzigungsszene auf dem Titelblatt aufwartet.69 Angesichts der Thematik erscheint dies sicherlich alles andere als ungewöhnlich, zumal Staupitz’ Ars moriendi ganz der zeitgenössischen frömmigkeitstheologischen Programmatik verpflichtet ist, in der die Fokussierung auf das richtige Sterben im Lichte der Passion Christi zu den normativen Themen gehört. So nimmt es kaum wunder, dass das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ in vielerlei Hinsicht den gängigen Frömmigkeitskategorien entspricht. Wie in anderen volkssprachlichen Sterbelehren auch wird der Tod von einer unverfügbaren Macht zum Instrument des Heiles umgedeutet, welches dem Menschen die Möglichkeit gibt, sich durch willige Annahme seines Leidens und Sterbens den Eingang seiner Seele in die ewige Seligkeit zu verdienen.70 Ähnlich 66 In der Edition von Hintens S. 108, Z. 56–61. Im Luther-Druck sind der Schluss von Kapitel 25 und der Beginn von Kap. 26 zum neunzehnten Abschnitt (nach eigener Zählung) zusammengefasst. Das 26. Kapitel umfasst fernerhin die Abschnitte 20 und 21. 67 Randbemerkungen, S. 13. 68 Siehe auch Kap. 2.1, Anm. 63. 69 Siehe oben, Kap. 4.2.2.1, S. 394. 70 Büchlein von der Nachfolgung, fol. Biij v: „Dann der todt iſt das getʒaw /das an allen vortʒuge /das leben wirckt /vnnd auſʒ dem das er ein pein /der ſunde geweſen /ein volkommen gnugſam vordienſt /des ewigen lebens wirdt.“ Siehe ferner ebd., fol. Fiij r: „es iſt kein vordienſtlicher werck dan vmb gottes willen willig ſterben.“ Vgl. z. B. Johannes Geiler von Kaysersberg: Wie man sich halten sol by eym sterbenden menschen (hg. Bauer), S. 7, Z. 6–10 (innerhalb der dritten vermanung des Sterbenden): „Ist es das du also mit geruwtem hertzen lydest und treist williglich die pen die du von not wegen sust tragen must, so losset dir got ab pen und schuld, und gewiß wurst du in gon in das paradis.“ Siehe ferner Johannes von Paltz: Himmlische Fundgrube (hg. Burger u. a.), S. 240, Z. 24–25: „Ein mensch mochte den tot alßo gern aufnemen, er mochte dardurch erwerben vergebung pein und schuld“; ebd., S. 241, Z. 21–22: „Also auch durch den tod mag ein mensch erwerben bezallung der schuldt und kaufen das ewig leben.“
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der ‚Himmlischen Fundgrube‘ führt das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ in diesem Zusammenhang als Positivexempel den reuigen Schächer am Kreuz an, dem Christus den sofortigen Eintritt ins Paradies verheißen hat.71 Die für den ‚guten‘ Tod des Sterbenden essentielle Begierde nach Gott, welche allen irdischen Bindungen entsagt, verwirklicht sich dem ‚Büchlein‘ zufolge in einem Stufenmodell, wie es in der zeitgenössischen Frömmigkeitsliteratur in den verschiedensten Ausformungen präsent ist.72 Von einer Überwindung jenes mittelalterlichen Gradualismus, der statt der reformatorischen ‚nahen Gnade‘ einen stufenweisen Heilsgewinn propagiert,73 kann in Staupitz‘ Schrift also nicht die Rede sein. Und dennoch bietet diese Sterbelehre Anschlussstellen an den Augustinismus der Wittenberger Theologie, indem sie nämlich die von Adam ererbte Gottesferne des Menschen hervorhebt. Signifikant sind in dieser Hinsicht vor allem das dritte und vierte Kapitel,74 die im Rückgriff auf paulinische Terminologie die Adam-Christus-Antinomie mit den Gegensatzpaaren alter Mensch – neuer Mensch und Ungehorsam – Gehorsam in Beziehung setzen.75 Allein in der Christusnachfolge,
71 Vgl. Lk 23, 39–43. Zur ‚Himmlischen Fundgrube‘ siehe Kap. 2.3.4, Anm. 755. Im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ heißt es (fol. Biij r): „ab ein mēſch aller weldt ſunde vff ym hette /gibt er gote ein begirigē willigen todt /er gewindt ſo vil do mit /das er alle pein /die er tʒu duldē vmb ſein ſunde ſchuldig worden betʒale /Vnd die ſchatʒe des himliſchē reichs vber kumme […]. Des ſey vns der ſchacher am creutʒe ein getʒeuge.“ 72 Vgl. Kap. 3.3.2.2, Anm. 200. Das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ stellt 15 Stufen vor, die zum intensivsten Gottesverlangen (abweichend von anderen spätmittelalterlichen Stufenmodellen nicht zur Erfüllung!) führen. Siehe dazu fol. Eiij r–Fij r (Das .xi. Capitel von den letʒten begirdē des ſterbenden menſchen; tatsächlich handelt es sich um das dreizehnte Kapitel). Dass Staupitz das gewohnte Stufenmodell mit einem neuen – durchaus an die Wittenberger Theologie anschließenden – Inhalt zu füllen versteht, zeigt besonders nachdrücklich die schriftliche Fassung seiner Adventspredigten von 1517 (Ein ſeligs newes Jar). Hier werden jene Menschen, die Gott über alles lieben, dem herkömmlichen Dreischritt entsprechend in Anfänger, Zunehmende und Vollkommene unterteilt (VD 16: S 8708, fol. 224v). Der Aufstieg von einer Stufe in die nächsthöhere ist jedoch allein Gott zuzuschreiben (fol. 225v): „ich hab geſagt das der menſch /ſo hoch mit gotlicher frundligkeit berurt /liebe yn ſollicher weyſʒ /oder der heylig geyſt liebe yn ym alſo. Auff das nyemandt ſein ſteigen ym ſelbſt ʒuleg /ſonder gothe ʒueygne.“ Mehr noch: Da es nicht in den Kräften des Menschen steht, die verschiedenen Grade zu erreichen und sich dort zu halten, wird deren natürliche Abfolge aufgebrochen. Gott kann sowohl einen Sünder unmittelbar in den Status der Vollkommenen erheben als auch einen Vollkommenen wieder auf die niedrigeren Stufen zurückwerfen. Siehe ebd., fol. 226v. 73 Vgl. Leppin: Von der Polarität zur Vereindeutigung, bes. S. 306 und 313. 74 Fol. Aiij r–Avi r: Das drit Capittel von dem angeerbten ſchaden des erſten vngehorſsams; fol. Avi r–Bi v: Das. iiij. Capittel von dem tode des leyblichen todes. 75 Büchlein von der Nachfolgung, fol. Bi r: „recht do iſt der todt geſtorben /do das leben am holtʒe ſtarb /das iſt der eynige vatter /in dem wir alle lebendig gemachet /als wir in Adam alle geſtorben“; ebd., fol. Bi v: „dorūb dʒ nymādt den newen menſchē in Chriſto antʒihen mag /er hab dan den alten
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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die hier ganz auf das Thema der richtigen Sterbevorbereitung fokussiert wird, lässt sich dieser Gegensatz überwinden. Das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ verwendet zur Bezeichnung jenes inneren Transformationsprozesses den augustinischen Begriff der ‚Geburt‘ bzw. ‚Wiedergeburt‘.76 Derselben Terminologie bedient sich Staupitz zu Beginn des Jahres 1517 auch in seinem die Erwählung des Menschen behandelnden theologischen Hauptwerk, dem Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, welches der Nürnberger Rechtskonsulent Christoph Scheurl unmittelbar in die Volkssprache übertragen hat.77 Ähnlich wie im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ schafft also auch im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ die Kreuzigungsszene des Titelholzschnitts eine Verbindung des etablierten frömmigkeitstheologischen Diskurses zur Wittenberger Theologie, jedoch ohne die Opposition von homo novus und homo vetus bereits im Titel aufzugreifen. Dies bleibt den inhaltlichen Ausführungen vorbehalten. Durch die strikte Gegenüberstellung von Adam und Christus und die diese begleitenden Gegensatzpaare gibt Staupitz’ ‚Büchlein‘ nicht nur seine Nähe zu den Wittenberger Reformbestrebungen zu erkennen – die Auflehnung des ‚alten Menschen‘ gegenüber seinem Schöpfer, sein genuiner Ungehorsam gegenüber den göttlichen Geboten und die Notwendigkeit seiner Wiedergeburt als ‚neuer Mensch‘ in im ſelb auſʒgetʒogē /Nymādt wirdt new geborn der nicht geſtorbē iſt /Derhalben iſt nicht in allē der angeborne todt vō Adam geſtorbē /die Chriſtū bekēnen v anruffen ſunder in dene alleine /die in yne geſtorbē /in Chriſto leben /die in yrer eignē gerechtickeit vortʒagen /in Chriſto hoffen /die der gnadē alleine /keiner phflicht warten“; ebd., fol. Avi v: „Sich erfindet auch /das der todt der ſelen /der durch vngehorſam geboren /durch gehorſam widerumb ſterben moge.“ 76 Vgl. Kap. 2.2.3.5, Anm. 414 (zu Augustinus). Im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ siehe fol. Avi r: „Auſʒ dem allen vornehme wir /das Adams erbteil /nicht da ſunde /durfftickeit /tʒeitlicher vnd ewiger todt ſey /ſal ymandt leben /iſt nodt /er ſey einer andern geburt /von andern eldern /von den er /leben /ſeligkeit vnd recht ſein gewinne /vnd ererbe“; ebd., fol. Avi v: „Weytter ſʒo kein todt /an newes leben geſchicht /wan der boſe todt ſtirbet /muſʒ das gut leben / geboren werden /das vns das recht ſein mehrmalſʒ genennet /vnnd ſʒo das nicht dann auſʒ gotte flewſt /muſʒ ſolche geburt nicht auſʒ den blutē/nicht auſʒ dem willen des fleiſch /nicht auſʒ dem willen des mannes /ſunder auſʒ gote ſein /Mehr ſo ſolche geburt tʒum leben iſt /erfindet ſich nodt ſein /das ſie von dem vater komme /der alletʒeith gerecht bleybe /vnd aller menſchen gerechtickeit /kreffticklich in ſich habe“; ebd., Kap. 5 (fol. Bi v–Biij v): „Das funfft Capittel von dem angeerbtē nutʒ des newgebornen in Chriſto“ [Hervorhebungen L. W.]. 77 Daher erschien die deutsche Fassung noch vor der lateinischen, nämlich am 19. Januar 1517. Die lateinische Ausgabe folgte am 06. Februar. Siehe in Scheurls Übersetzung (hg. Dohna/Wetzel) Kap. 6, n. 34, S. 113/115: „Der sünder wirdet aber gerechfertiget durch die widergeburt, wann er widergeborn wirdet aus dem wasser und dem heiligen geist, nit durch ein leipliche, sunder ein geistliche geburt; wann was aus dem fleisch geborn, das ist fleisch, was aus dem geist geborn wirdet, ist geist; (er) wirdet widergeborn, nit aus dem bluet, nit aus dem willen des fleischs noch aus dem willen des manns, sunder aus got; nit aus einer noturft, sunder aus einer freien wal gots, wann der geist, wo er wil, geistet er“ [Hervorhebungen L. W.].
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gehören bereits im September 1516 zu den Kernthemen der Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata78 –, es tritt auch in einen intertextuellen Zusammenhang mit dem ‚Geistlich edlen Büchlein‘, dessen Abschnitte 8 bis 13 das grundlegend gestörte und allein durch die ander gepurt79 in Christus wiederherzustellende Gott-Mensch-Verhältnis mit derselben Terminologie zum Ausdruck bringen.80 In das sich so konstituierende Textfeld fügen sich zudem Luthers ‚Sieben Bußpsalmen‘ ein, deren Erstauflage im März oder April 1517 ähnlich dem ‚Geistlich edlen Büchlein‘ ohne Autorennennung auf dem – in diesem Falle schmucklosen – Titelblatt in Wittenberg erschienen ist.81 Auch hier konzentriert sich die Auslegung des biblischen Textes auf die Vernichtung des ‚alten Adam‘,82 dessen Ungehorsam selbst die äußerlich guten Werke des Menschen durchdringt, und auf die Geburt des ‚neuen Menschen‘ in Christus.83 78 Quaestio de viribus, Conclusio prima, Corollarium I (WA 1, S. 145, Z. 29–30): „Homo vetus, vanitas vanitatum universaque vanitas, Reliquas quoque creaturas, alioqui bonas, efficit vanas.“ Solange der Mensch nicht aus Gottes Geist wiedergeboren ist, bleibt er ‚alter Mensch‘, dessen Werke sich auch dann in Sünde verkehren, wenn sie äußerlich gut sind. Siehe ebd., Corollarium II (WA 1, S. 146, Z. 20–25): „Nisi quis ex spiritu renatus sit (sit quantopere coram se et hominibus iustus, castus, sapiens), caro est, carnalis est, vetus homo est. Omnia bona extra Deum carnis sunt, sola bona increata spiritus sunt. Augustinus: Sine ipsa vero (loquitur de fide, quae per dilectionem operatur) etiam quae videntur bona opera in peccata vertentur.“ Mit den bereits von Augustinus präferierten Bibelstellen Ioh 15, 5 („Sine me nihil potestis facere“) und 1 Kor 4, 7 („Quid enim habes, quod non accepisti?“) wird jeder Versuch des Menschen, aus eigener Kraft den göttlichen Geboten gehorsam zu sein, zurückgewiesen. Siehe ebd., Conclusio secunda (WA 1, S. 147, Z. 23–27): „Et multis aliis novi et veteris Testamenti concludendo sic docetur, maximeque per Ezechielem Prophetam, ubi prorsus Deus ait, nullis se hominum meritis bonis provocari, ut eos bonos faciat velut obedientes mandatis suis, sed potius hoc eis retribuere bonum pro malo, propter seipsum hoc faciendo, non propter illos.“ In den letzten Worten kommt jener ‚göttliche Autismus‘ zum Ausdruck, den sowohl die augustinisch-antipelagianischen Schriften als auch die Predigten und Traktate der ‚deutschen Mystik‘ aussagen – allerdings im Rahmen von völlig unterschiedlichen diskursiven Formationen. Siehe dazu Kap. 2.3.3 und Kap. 3.3.1. 79 Abschnitt 10 (Baring: Bibliographie, S. 17, Sp. A). In der Edition von Hintens: Kap. 16, S. 91, Z. 17. 80 Siehe dazu Kap. 2.2.3.3. 81 Drucker ist wie auch im Falle des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ Johann Rhau-Grunenberg. Wiederum steht Luthers Name unter der Vorrede: „F. Martinus Luder Augustiner tzu Wittenberg. 1517“ (WA 1, S. 158, Z. 19–21). 82 Siehe WA 1, S. 162, Z. 25. 83 Siehe z. B. WA 1, S. 162, Z. 33–S. 163, Z. 5: „dan ynn diſʒer probe iſt er gelernet, dass eyn rechts leben nit ſteet yn vilen wercken, als die Juden meynten, wider die er nu hie anhebet zu reden bis an des pſalmen ende. Sundern es ſteet nur yn eynem creutʒigen und todten des alten menſchen, alſʒo das des euſʒern menſchen wandel, es ſey nach der werlt adder nach der ſcheynend heyligkeyt ſoll ʒu nichte werden, und alleyne das beſten, das Chriſtus ſagt, Selig ſeyn die do weynend und hungern und durſten nach der gerechtigkeit, dan ditʒ leben soll nit anders ſeyn, dan ein haſʒ uber den alten
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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Den genannten Texten gemeinsam ist, dass sie die innerliche Transformation des Menschen vom homo vetus zum homo novus nicht in dessen eigene Macht legen, da sie von einer grundsätzlichen Verdorbenheit der menschlichen Natur ausgehen. In den Worten des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ bedeutet dies für den Menschen, dass er „von ym ſelber v von dem ſeinen nicht iſt noch vermag oder hat / noch taug dan allein gebreſten v vntugend v boſʒheyt“.84 Dass er sich von Natur aus der vita Christi verweigert, liegt in seiner sündhaften Selbstbezogenheit begründet, die das ‚Geistlich edle Büchlein‘ terminologisch als icheit und selbheit fasst.85 Damit stellt es einen korrelativen Bezug zum augustinischen Kardinallaster der concupiscentia her86 und öffnet sich zugleich einem Rezipientenkreis, der für die konzedierte ‚Wahrheit‘ der augustinisch-antipelagianischen Schriften eine Bestätigung in weiteren Textzeugnissen sucht. Nicht umsonst wird in Luthers Ausgabe des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ gerade der Begriff icheit durch eine erläuternde Randbemerkung hervorgehoben.87 Überhaupt legen sowohl Staupitz
menſchen und eyn ſuchen und vorlangen des lebens, yn dem newen menſchen“; ebd., S. 164, Z. 3–6: „Jch byn aber der arm und ungeſtalte Laʒarus worden durch meynen willigen tʒorn, auff das ich gottis tʒorn entgehe, wilchem niemant entgehen mag, dan wer ſeyn Adam creutʒiget, vorwuſtet und ʒu nichte machet.“ Die zunehmende Annäherung von Mensch und Teufel, die sich im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts beobachten lässt und im ‚Frankfurter‘ ihren Höhepunkt findet, korrespondiert mit Luthers negativer Anthropologie. Siehe ebd., S. 197, Z. 24–25: „alſʒo ſein wir all yn Adam durch den teuffel geſchlagen und beraubt unſers urſprunges, das iſt gottis […].“ Doch auch Staupitz beklagt im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ die aus dem Sündenfall resultierende Gewalt des Teufels über den Menschen. Es sei „vorwar ein ſeer kleglich /erbarmlich ding tʒu horen /dʒ dem mēſchen nach gottes angeſicht recht geſchaffen /die ſunde vil nahen /gleich der natur eigen iſt /Alſo das es der natur nicht mehr moglich /ein vnſchuldigen menſchen tʒu geberen /vnd der boſʒ geiſt /die erſte beſitʒung aller menſchen hat /Welche mutter beweinet yre ſchmertʒliche geburt nicht billich /die vorſteht /dʒ yre frucht ehr des teufels /dan yr ſelb iſt.“ Detailliert aufgezeigt werden die Aussagekongruenzen des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ mit Luthers ‚Sieben Bußpsalmen‘ (in der Fassung von 1517) in Florin: ‚Ein hass […]‘, S. 178–190. 84 Baring: Bibliographie, S. 22, Sp. B (Faksimile). Es handelt sich um den neunzehnten Abschnitt in Luthers Edition (eigene Zählung). Die gleiche Passage findet sich bereits in der ältesten Überlieferungsschicht. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 105, Z. 3–4. 85 Baring: Bibliographie, S. 23, Sp. B (Faksimile): „Vnd darumb get alle natur vnd ſelbheit von diſem leben [Christi] vnd heltet ſich ʒu dem valſchen ledigen leben als vor geſchriben iſt.“ Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 108, Z. 73–75. Siehe z. B. auch Geistlich edles Büchlein, ebd., S. 20, Sp. B (am Ende des sechzehnten Abschnittes): „Jchheyt v ſelbheit /gehort alles dem tewffel ʒu.“ Siehe auch ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 22, S. 99, Z. 17–18. Zur Abweisung des Kreuzes durch die eygenweiſʒen siehe auch Luther: Sieben Bußpsalmen (WA 1, S. 180, Z. 19– 21): „Sie wollen nit reden ader leeren den weg des creutʒs und der ungetichten demut, ſundern die werck und gerechtickeyt yrhe ſelber, das doch eytel und unnutz leere ſeynd […].“ 86 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.3.1, bes. S. 190–191. 87 Siehe oben, Kap. 4.2.2.3, S. 398.
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als auch Luther in ihren volkssprachlichen Veröffentlichungen der Jahre 1515– 1517 einen Schwerpunkt auf die Eigenliebe des Menschen,88 die sich in der Konkupiszenz offenbart89 und mit einer ererbten Unfähigkeit zum Guten einhergeht.90 Damit schlagen sie zugleich eine Brücke zur Universitätstheologie des Wittenberger Kreises, dessen lateinische Thesenreihen die menschliche Selbstverhaftung und das daraus resultierende Unvermögen zu intrinsisch guten Werken in provokanter Zuspitzung formulieren.91 Die Ablehnung jeglicher Verdienstmöglichkeit und damit des facere quod in se est, wie sie etwa Bernhardis Quaestio de viribus und Luthers Disputatio contra
88 Siehe z. B. Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 8, n. 46, S. 133: „Aus Adam wirdet uns angeborn ein lieb gegen uns, ein eigennützige lieb, ein krüme in der wale, ein tunkle finstere im gericht; daraus erfolgt die boßheit des werks.“ 89 Schon im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ rechnet Staupitz die „begirlickeit tʒum boſʒen“ zu den von Adam ererbten Hauptübeln (vgl. fol. Aiv r). Siehe ferner Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 8, n. 47, S. 135: „Es werden entzündet die herzen zu den werken Ade durch die verfluchten begirlikeit, durch die uns die warlich guten dingk hessig und die gedichten lustig werden […]“; ebd., n. 48, S. 135: „Derhalb wirdet die sinreichkeit fengklich gefürt, der will ist gebunden, also das itzundt alle weißheit der welt, aller verstandt, fürsichtikeit, vernunft und kunst der begirlikeit sölichergestalt dienen, als weren sie allein hie umb und von irentwegen.“ In seiner Auslegung der Sieben Bußpsalmen erklärt Luther, dass der angeborene list der concupiscentia durch ein äußerlich gutes Leben nur übertüncht, nicht aber überwunden werden könne. Dies setze die göttliche Gnadenzuwendung voraus. Vgl. WA 1, S. 168, Z. 3–10. 90 Luther vermittelt in den ‚Sieben Bußpsalmen‘, dass der Mensch „von natur ein kind des tʒorns und der ſunde“ ist (WA 1, S. 188, Z. 15). Auch Staupitz sieht im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ hinsichtlich der Ausrichtung des Menschen auf Gott nur wenig Hoffnung (fol. Av r–Av v): „Synne vnnd gedencken /menſchlichs hertʒens ſein von iugent an tʒum boſʒen gehende.“ Mit Bezug auf die Autorität des ‚heiligen Augustinus‘ stellt er fest, „das aller ſterblichen /leben /vordampt ſey /ab es anders /ein leben ſolle genāt werden“ (fol. Av v). Die Ablehnung Gottes durch die menschliche Natur ist ferner eines der Kernthemen des Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis. Die Überwindung dieser Aversion ist nur durch göttliches Eingreifen möglich, „wann die verlasen natur hat weder erkennen, noch wöllen, noch etwas guts tun, der auch got selbst erschrockenlich ist“. Siehe Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 6, n. 33, S. 113. 91 Die Aussage, dass der Mensch stets nur ‚das Seine‘ suche, leitet die erste These der Quaestio de viribus ein (WA 1, S. 145, Z. 10–13): „Homo, ratione animae Dei imago et sic ad gratiam Dei aptus, suis naturalibus viribus solis creaturam quamlibet qua utitur vanitati subiicit, sua et quae carnis sunt quaerit.“ Siehe auch Disputatio contra scholasticam philosophiam, These 21 (WA 1, S. 225, Z. 9): „Non est in natura nisi actus concupiscentiae erga deum“; Karlstadt, De natura (hg. Kolde), These 14 (S. 451): „14. Speciale est in peccato hereditario quod reatu soluto concupiscentia manet.“ Siehe auch Kähler: Karlstadt und Augustin, S. 14* (mit anschließendem Kommentar). Karlstadt veröffentlichte seine Thesenreihe am 26. April 1517 (vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 89). In Koldes Edition werden die Thesen fälschlicherweise als Disputationsthesen Bernhardis ausgewiesen. Vgl. auch Kruse: Universitätstheologie, S. 89, Anm. 189.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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scholasticam theologiam artikulieren,92 findet sich – in unterschiedlicher Intensität – auch im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ sowie in den volkssprachlichen Schriften von Staupitz und Luther wieder. Das ‚Geistlich edle Büchlein‘ definiert den Ungehorsam des Menschen gegenüber Gott als Wahn, aus eigenen Kräften etwas zu vermögen, obwohl er tatsächlich der Selbstliebe verfallen ist.93 Zugleich hält es allerdings an der Möglichkeit der Einübung in das Christusleben fest.94 Damit zeigt sich im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ als einer leicht überarbeiteten Kurzversion des ‚Frankfurter‘ die auch für den Gesamttraktat typische Tendenz, zwischen Ablehnung und Anerkennung des facere quod in se est zu lavieren, aufgrund der Verwerfung der menschlichen Natur jedoch eher zur Zurückweisung zu tendieren.95 Ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Akzeptanz und Verneinung menschlichen Verdienststrebens lässt sich auch in Staupitz’ Schriften ausmachen. So hält das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ zwar an der Heilswirksamkeit des ‚richtigen‘ Sterbens und damit an dessen meritorischem Wert fest;96 zugleich hebt es aber die Gnadenabhängigkeit des Menschen hervor, der nur als Erwählter unmittelbar in das Himmelreich eingehen kann.97 Diese Angewiesen-
92 Quaestio de viribus (WA 1, S. 147, Z. 10–12): „Homo, Dei gratia exclusa, praecepta eius servare nequaquam potest neque se, vel de congruo vel de condigno, ad gratiam praeparare, verum necessario sub peccato manet“; Disputatio contra scholasticam theologiam, These 33 (WA 1, S. 225, Z. 35–36): „Falsum et illud est, quod facere quod est in se sit removere obstacula gratiae. Contra quosdam.“ Zur scholastischen Unterscheidung von Billigkeitsverdienst (meritum de congruo) und Würdigkeitsverdienst (meritum de condigno) sowie zum facere quod in se est siehe Kap. 2.3.4, S. 257–258. 93 Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. B (Faksimile): „Hie bey mag man mercken was vngehorſam ſey. das iſt das der menſch vō ym ſelber etwas heldet v wenet ehr ſey vnd wiſſe vnd vermge etwas /v ſich ſelber vnd das ſein ſuchet yn den dingen /vnd ſich ſelber lieb hat vnd deſʒ geleych.“ Vgl. auch ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 15, S. 89, Z. 15–18. 94 Baring: Bibliographie, S. 21, Sp. B (Faksimile): „Sich dis weren gut weg ʒu dem beſten vnd bereytung ʒu dem letʒten ende /das der menſch yn der ʒeyt vberkōmen mag das iſt das leyplich leben Chriſti wa yn dem leben Chriſti ſind vnd werden die vorgenanten weg gehalten volliglich v gentʒlich /bis an das ende des leyplichen lebens. Darumb ʒu dem edeln lieblichem leben chriſti iſt kein ander noch beſſer weg oder bereyttung /dann das ſelb leben vnd ſich darynnen gebet alſo vil v es mglich iſt.“ Vgl. auch ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 23, S. 101, Z. 15–S. 102, Z. 21. 95 Siehe dazu auch Kap. 2.3.4, S. 264–265. 96 Siehe oben, S. 399–400. 97 Das ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ erläutert im fünften Kapitel zunächst, dass jenen Menschen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Das gilt auch für den Tod. Es definiert diese Menschen als solche, „die auſʒ gotlichem vorſatʒ /heilig genent ſein /die auſʒ got in dem blute Chriſti new geborn /den alten mēſchen Adams ſun /gātʒ auſʒ getʒogē haben“ (fol. Bi v). Danach unterscheidet das ‚Büchlein‘ zwischen drei Gruppen von Menschen, die aufgrund ihres unterschiedlichen Umgangs mit dem Tod entweder in die ewige Verdammnis, ins Fegefeuer oder unmittelbar in die Seligkeit eingehen (fol. Bij r–Biij r). Bei Letzteren handelt es sich um jene Gott liebenden
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heit des Menschen auf die Zuwendung Gottes, die jedes Verdienstdenken letztlich obsolet macht, durchdringt auch die Aussagen im Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis. Wie in den augustinisch-antipelagianischen Schriften wird hier die Gottgefälligkeit des Menschen an den Glauben gebunden, der wiederum ein Geschenk Gottes und damit gnadenhaft verliehen ist.98 Die Kategorie des Verdienstes ist damit zwar keineswegs aufgehoben; noch in seiner Schrift Ein ſeligs newes Jar von der lieb gottes (1518) greift Staupitz auf sie zurück. Er bindet ihre Wirksamkeit jedoch an die Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen.99 In Kongruenz mit seinen lateinisch-akademischen Aussagen weist Luther in den ‚Sieben Bußpsalmen‘ jede Anerkennung menschlicher Verdienste im Sinne einer eigenverantworteten moralischen Kompetenz des Menschen zurück und vereindeutigt damit die im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ und in den Staupitz-Schriften dominierende Tendenz.100 Gemäß der allen genannten deutschen Texten gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber einer ‚pelagianischen‘ Wertschätzung der menschlichen Natur als Garant für den Gottesbezug des Menschen warnen sie vor einer ‚veräußerlichten‘ Aneignung der Tugenden durch die Vernunft als natürlichem Seelenvermögen. Das ‚Geistlich edle Büchlein‘ formuliert diese Unfähigkeit des Menschen, die allein in der Christusnachfolge erfüllbaren christlichen Gebote durch ihre bloße
Menschen, die aufgrund ihrer Erfüllung mit dem Geist Gottes aus sich selbst herausgetreten und „allein gotleidende menſchen“ sind (fol. Bij v). Durch diese Anwendung einer mystischen Kategorie wird die Instrumentalisierung des Todes als Mittel zum Heilserwerb außer Kraft gesetzt. 98 Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 4, n. 15, S. 91: „Diser gloub Christi ist so notturftig, das an den unmöglich ist, got wolzugefallen. Nun mögen wir den von uns selbst nit erlangen, darumb das fleisch und blut inen nit eröfnen; wann es ist ein gab gots, und die nit aus unsern werken entstet, domit niemant frolock, gleich als wer er aus eigner verdinstnus in die zal der heiligen eingeschriben, und vermein, auß natur zu sich zu zihen, das allein der gnad zugehört und eignet.“ 99 Staupitz: Ein ſeligs newes Jar, fol. 222v: „Jm [dem Hl. Geist] hat aber geliebt vnd wolgefallē vmb vnſers verdienſt willē /verborgen yn vns ʒuſein.“ 100 Vgl. z. B. WA 1, S. 161, Z. 19–25. Allerdings lässt Luther die Kategorie ‚Verdienst‘ zu, wenn sie die Anerkennung des sündhaften Menschen durch Gott beschreibt. Vgl. ebd., S. 170, Z. 21–23: „[…] ich wil meyn ſchult ſagen, ſo wirt er [Gott] mein vordinſt ſagen, als er teet Marie Magdalenen ym hauſʒe Symonis leproſi.“ Damit wird zwar jede Eigenleistung des Menschen ausgeschlossen, zugleich aber das Entlastungsmoment für den Menschen hervorgehoben. Die Schroffheit, mit der Luther das theologische Konzept eines Zusammenwirkens von Gott und Mensch als ‚pelagianisch‘ verwirft, bleibt dem akademischen Diskurs vorbehalten. Vgl. Disputatio contra scholasticam theologiam, These 28 (WA 1, S. 225, Z. 22–26): „Illae authoritates: Convertimini ad me, et convertar ad vos, Item: appropinquate deo et appropinquabit vobis, Item: Quaerite et invenietis, Item: Si quaesieritis me, inveniar a vobis, et iis similes, si dicantur, quod unum naturae, alterum gratiae sit, nihil aliud quam quod pelagiani dixerunt asseritur.“
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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Erkenntnis zur Fruchtbarkeit zu bringen, im fünfzehnten Abschnitt.101 Luther erklärt in den ‚Sieben Bußpsalmen‘ den unvorſtand zur Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben, da der Mensch nur dann den göttlichen vorſtand empfange.102 Aus eigenen Kräften ist ihm ein tugendhaftes Dasein nicht möglich. Dementsprechend verunglimpft Luther alle Bestrebungen, Gott durch ein veräußerlichtes Studium nahezukommen und macht stattdessen die Selbsterkenntnis, also die Einkehr in das eigene Innere, als Voraussetzung für die Zueignung der göttlichen Gerechtigkeit geltend.103 ‚Außen‘ und ‚Innen‘ stehen hier in einem Verhältnis von figura und res, wodurch sich ein intertextueller Bezug zur ersten lateinischen Randbemerkung im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ ergibt.104 In einer
101 Baring: Bibliographie, S. 19, Sp. B (Faksimile): „Nymant gedenck /das er ʒu diſem waren liecht vnd waren bekentnuſʒ kome /oder ʒu chriſtus leben mit vil fragen oder mit leſen vnnd hohen kunſten /noch mit hoher naturlicher vernunfft.“ Siehe auch ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 19, S. 96, Z. 1–4. 102 In der Auslegung des zweiten Bußpsalmes (V. 10: „Jch wil dyr vorſtand geben und dich underweiſen yn dem weg, daryn du wandeln ſalt“) lässt Luther Gott erklären, dass allein die Ersetzung des menschlichen Verstandes durch den göttlichen Verstand ein gottgefälliges Dasein ermögliche. Siehe WA 1, S. 171, Z. 29–33: „Es muſʒ geen nit nach deym vorſtand, ſundern uber deyn vorſtand. Senck dich yn unvorſtand, ſo gebe ich dyr mein vorſtand. unvorſtand iſt der rechte vorſtand. nit wiſʒen wo hynn du geeſt, das iſt recht wiſſen wo du hyn geeſt. Meyn vorſtand macht dich gar unvorſtendig.“ Die Ausführungen erinnern an Eckhart-Predigt S 104 (im Augsburger Tauler: Predigt IX). Dort beschreibt Eckhart seine Abgeschiedenheitslehre aus intellekttheoretischer Perspektive als Ersetzung der ‚wirkenden Vernunft‘ durch Gott. Siehe Augsburger Tauler (1508), fol. 20ra: „Sihe alles das hie tht die würckende vernunfftt an eim natülichen [!] menſchen das ſelbig thůt auch got gantʒ in aller weiſe an ainem ab geſchayden menſchen. Er nympt hye ab die wirckend vernunfft v ſetʒt ſich ſelber wider an die ſtat. v wirket mit jm ſelber was die wirckend vernunft soldte wircken. Wa dyſer menſch hatt ſich ſelber gemſſiget vn [!] die wirckende vernunfft alle geſchwayget an jm.“ Siehe auch Meister Eckhart: Pr. S 104, DW IV/1, S. 587, Z. 236, Sp. B–S. 588, Z. 245, Sp. B. Dass Martin Luther diese Eckhart-Predigt (wenn auch als vermeintliche Tauler-Predigt) zur Kenntnis genommen hat, beweist seine Randbemerkung. Siehe WA 9, S. 100, Z. 7–15. 103 WA 1, S. 189, Z. 1–8: „Jn diſſem ſuchet mann alles gott, aber gantʒ mit dem rucken und euſʒerlichen, innewendig kennen ſie ſeyn weniger, dan all ander, darumb das ſie ſich ſelb ſuchen, auch an got mit den ſelben weyſʒen ſtudiren unnd gottis erkennen xc. Das ynnerlich aber unnd vorborgen diſſer weiſʒheit iſt nit anders dan gruntlich erkennen ſich ſelb, und alſʒo ſich ſelb haſſen, und alle gerechtickeyt nit bey ſich, ſundern bey got ſuchen, altʒeit ſeyn vordrieſʒen, und nach gote ſenen, das iſt, demutig got lieben und ſich laſʒen.“ Ausdrücklich geht Luther auf die imputative Gerechtigkeit an späterer Stelle der ‚Sieben Bußpsalmen‘ ein. Siehe WA 1, S. 212, Z. 33–38: „Hie iſt ʒu mercken, das das wortleyn deyn warheit und dein gerechtickeyt nit heyst die, do got mit war und gerecht iſt, alſʒ etlich vill meinen, ſundern die gnad, da mit uns gott warhafftig macht unnd gerecht durch Chriſtum, wie dan Apoſtolus Paulus Ro. 1. und 2. und 3. nennet die gerechtickeit gottis und warheit gottis, die uns durch denn glauben Chriſti geben wirt.“ 104 Siehe dazu die Ausführungen oben, Kap. 4.2.2.3, S. 395–398 mit dem Zitat aus WA 1, S. 188, Z. 24–26.
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4 Resümee und Ausblick
Linie mit dem ‚Büchlein‘ und den ‚Sieben Bußpsalmen‘ stehen auch die StaupitzSchriften. So erklärt Ein ſeligs newes Jar: „Wolt got die bucher wern alle verlorn / darinnen vns die menſchen haben gelernet tugēt wircken / vnd wer allein die lieb funden / ſo thet yeder man was er ſolt.“ Wie die Analyse der paratextuellen Elemente im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ bereits gezeigt hat, lässt es sich als Zeugnis für eine den Wittenberger Reformbestrebungen entsprechende volkssprachliche Theologietradition in Beschlag nehmen, ohne dadurch seiner Zugehörigkeit zu mystischen und frömmigkeitstheologischen Kategorien verlustig zu gehen. Dies gilt auch für die inhaltlichen Aspekte. Denn die Aufrufe zur Abkehr von allem Eigenen105 und zur demütigen Unterwerfung unter Gott106 – eine Reminiszenz an Meister Eckharts Gelassenheitslehre und an deren Auslegungen in der nacheckhartischen Mystik – lassen sich als integrale Bestandteile eines Theologieentwurfs auffassen, der auf die Negation aller meritorischen Bemühungen des Menschen zielt. Das machen sich auch Staupitz und Luther zunutze, die in dieser frühen Veröffentlichungsphase beide kein Interesse daran haben, den etablierten frömmigkeitstheologischen Diskurs außer Kraft zu setzen, sondern ihn vielmehr so auszugestalten suchen, dass er mit der Wittenberger Reformtheologie kompatibel ist.107 So verwenden beide das Substantiv gelâzenheit sowie morphologisch oder semantisch verwandte Begrifflichkeiten, um den Zustand einer Losgelöstheit des Menschen von seiner sündhaften Ichbezogenheit – der augustinischen concupiscentia – zu beschreiben. Staupitz etwa greift im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ auf die Terminologie der Brautmystik zurück, um den Kontrast von seelischer Passivität und göttlicher Aktivität zum Ausdruck zu bringen.108 Zudem widmet er der ‚Gelassenheit‘ als 105 Baring: Bibliographie, S. 16, Sp. B (Faksimile): „Jch ſprich der menſch ſolt als gar ann ſich ſelber ſten v ſeyn das iſt an ſelbheyt v ichheyt das ehr ſich v das ſein als wenig ſuchte od[er] meynte yn allen dingen als ob ehr nicht wehr /noch ſein ſelbs als wenig entpfinden vnd von ym ſelber vnd dem ſeinen als kleyn haltten als ehr nicht were /vnd als wenig von ym ſelber als wenig vō allen Creaturen.“ Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 15, S. 89, Z. 5–10. 106 Baring: Bibliographie, S. 21, Sp. A (Faksimile): „Aber wer got leydē ſol v wil /der muſʒ v ſol alles leydē. das iſt got v ſich ſelber /v alle creaturen /nichts auſʒgenomen. v wer got gelaſſen gehorſam vnd vnderthan ſol vnnd wil ſein /der muſʒ vnd ſol gelaſʒen vnnd gehorſam ſein yn leydender weyſʒ /v nicht yn thuender wurck der weyſʒe.“ Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 23, S. 101, Z. 4–8. 107 Luther macht dies sehr deutlich, wenn er am 31. März 1518 in einem Brief an Staupitz erklärt, dass er nichts anderes lehre als Tauler und das ‚Geistlich edle Büchlein‘. Vgl. WA.B 1, S. 160 (Nr. 66), Z. 8–11. Siehe auch Kap. 2.1, Anm. 51. Indem Luther Staupitz darauf hinweist, dass jener das ‚Büchlein‘ selbst zur Drucklegung an Christian Aurifaber weitergereicht habe, betont er zudem ihren gemeinsamen theologischen Hintergrund. 108 Fol. Bi r–Bi v: „[…] /vnd er allein iſt der breutgam /der ehman einer ytʒlichē ſelen /die ſich yme willig eigendt /vō ym einig /wird ſie trachtig der frucht tʒum ewigen leben /der euch auch gewalt
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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Zustand weitestmöglicher ‚Ich‘-Negation ein vollständiges Kapitel.109 Auch im Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis wird der Mensch dazu aufgefordert, sich seines Selbst zu entledigen.110 Luther erklärt die gelâzenheit in den ‚Sieben Bußpsalmen‘ zur höchsten Gerechtigkeit des Menschen, insofern sie nämlich in der Anerkennung sowohl der eigenen Sündhaftigkeit als auch der göttlichen Gerechtigkeit bestehe.111 Einzige Aufgabe des homo interior sei es deshalb, sich ganz dem göttlichen Willen zu überlassen.112 Die von Staupitz und Luther wahrgenommene Möglichkeit, die der ‚deutschen Mystik‘ entstammende und in den frömmigkeitstheologischen Diskurs übernommene Gelassenheitssemantik mit ihrer augustinisch-paulinisch orientierten Neukonzeption des GottMensch-Verhältnisses zu verschränken,113 spiegelt sich – wie weiter oben bereits aufgezeigt114 – auch in der zweiten Randglosse des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ wider. Dessen Fokussierung auf die vita Christi als exemplarischer Verwirklichung einer Daseinshaltung, die auf Leiden, Armut und Demut ausgerichtet ist und alle
geben hath /gottes kindt tʒu ſein /in ſeinem blute tʒu leben /in ſeiner ſtercke tʒu fechten /in ſeinē krefften tʒu beſtehn /ſo fern ſie doch (das in alleweg ſein muſʒ) ſich ſelb im gātʒ reſignirt gelaſſen /v vbergebe.“ 109 Das tʒwelfft Capittel von der endtlichē gelaſſenheit (fol. Eij r–Eiij r). Die vollkommene ‚Gelassenheit‘ – von Staupitz definiert als ‚Lassen Gottes‘ und damit als Abschied vom ‚Warum‘ aller Gelassenheitsbestrebungen – bleibt dem gekreuzigten Christus vorbehalten. Siehe fol. Eij v: „Aber den got /vmb des willen wir vns laſſen /tʒu laſſen /iſt vber menſchliche gelaſſenheit / […] Dennoch iſt ſie auſʒ dem tʒu vil liebenden hertʒen Jeſu gefloſſen […].“ 110 Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 2, n. 5, S. 83: „Wann got mag nit wirdiglich gelobt werden von imants, der sich selbst nit vernichtigt. Derhalb ist ein ider sovil dest seliger, ie mer er von im selbst entledigt; und der ist in ewikeit selig, der von dem lob gots nimmer abweicht.“ Auch in seiner 1518 erschienenen Schrift Ein ſeligs newes Jar bedient sich Staupitz der Gelassenheitssemantik, indem er als Voraussetzung für die „wirckūg des heiligē geiſtes“ (fol. 227r) die „volkōmene lermachung des geyſtes“ (fol. 232v) einfordert. 111 WA 1, S. 194, Z. 9–14: „Darumb betʒalen wyr yhn nit anders, dan geben uber als was wyr haben und was wyr ſelbs ſeyn, und das mit demutiger erkentnis unſʒer ſund und bekentnis ſeyner gerechtickeit, das er gerecht ſey, wie ſeyn gotlicher will mit uns handelt. Diſʒe weyſʒe und gelaſſenheit iſt die hochſt gerechtickeit, die wir haben mgen, und das rechte opfer, das do heyſt holocauſtum, alſʒe hernach volget.“ 112 Ebd., S. 210, Z. 10–13: „darumb iſt ynn diſʒem cleynen pſalm das gantz leben, werck unnd wandell des ynnewendigen menſchen gar meyſterlich beſchriben, das es nit anders ſey dan ein vorlaſʒen yn gott und gantz gottis willen gelaſʒen ſteen.“ 113 Bereits im ‚Büchlein von der Nachfolgung‘ rekurriert Staupitz auf den „heiligſtē Paulo“ (fol. Aiv v) als Autorität für die Zerrüttung der menschlichen Natur. Er zitiert dabei jene Stellen aus dem siebten Kapitel des Römerbriefes (siehe ebd.), die sich auch regelmäßig in den augustinischantipelagianischen Schriften finden. 114 Siehe oben, Kap. 4.2.2.3, S. 398.
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inneren wie äußeren Lebensvollzüge des Menschen bis zu seinem Tod umfasst, verletzt ebenfalls nicht die Grenzen des innerhalb des frömmigkeitstheologischen Diskurses Sagbaren. Und auch sie ist anschlussfähig an die Wittenberger Reformtheologie, wie sie sich in unterschiedlicher Weise sowohl einer lateinisch-akademischen als auch einer volkssprachlich-laikalen Öffentlichkeit präsentiert. So geschieht die Vermittlung einer die gesamte Existenz des Menschen ergreifenden verinnerlichten Demutshaltung in den ‚Sieben Bußpsalmen‘ durch Aussagen, deren Kontiguität mit jenen des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ schwerlich zu übersehen ist. Im fünften Abschnitt des ‚Büchleins‘ – dem elften Kapitel nach der Einteilung der Handschriften C und D – heißt es beispielsweise über den Menschen, der sich in der resignatio ad infernum in die größtmögliche Gottesferne hineinbegibt: ya er dunckt ſich vnwirdig alles leydens / das ym yn der ʒeyt geſchechenn kan / v das billich v rechte ſy / das alle Creaturen wider yn ſein.115
Wenige Zeilen später wird die Zwillingsformel ‚billig und recht‘ erneut herangezogen, um die Rechtmäßigkeit seines Leidens zu bestätigen: […] er wil geren vngetroſtet v vnerloſet ſein vnnd ym iſt auch nicht leyd ſein verdammen v leyden / Wan es iſt billich v recht v iſt nicht wider got / Sūnder es iſt der wille gottes / v das iſt ym lieb v iſt ym wol da mit / jm iſt allein leyd ſein ſchuld vnd boſʒheit.116
Eine äquivalente Aussage findet sich nochmals im neunzehnten Abschnitt.117 Auch in Luthers ‚Sieben Bußpsalmen‘ wird die Legitimität des menschlichen Leidens durch die Zwillingsformel emphatisch hervorgehoben: Jch wegere das leyden und ſtraffe nit. ich byn willig und bereit darzu. ja es iſt billich und recht, das ich nur leyde, und gleich tʒum leyden bereyt, geborn und geordnet, dan ich voller ſund byn.118
115 Baring: Bibliographie, S. 14, Sp. B (Faksimile). Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 11, S. 84, Z. 6–8. 116 Baring: Bibliographie, S. 15, Sp. A (Faksimile). Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 11, S. 84, Z. 12–16. 117 Baring: Bibliographie, S. 22, Sp. B (Faksimile): „[…] vnd darūb hat man yn der warheyt nyndert ʒu rechte /vnd wirt do geſprochen auſʒ einem demutigen gemute. Es iſt billich v recht /das got v alle creature wider mich ſein /v recht wider mich v ʒu mir haben /v ich wider nymant ſey vnd ʒu nicht recht habe.“ Siehe auch ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 105, Z. 8–S. 106, Z. 11. 118 WA 1, S. 182, Z. 16–18.
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Die im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ dezidiert vorgebrachte Forderung, die Leidensund Demutshaltung so zu internalisieren, dass sie das gesamte menschliche Leben bis zum leiblichen Tod umfasst,119 formulieren auch die Eingangsthesen der Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum.120 Hier ist besonders die vierte These hervorzuheben, welche die einleitende Sequenz zur rechten Buße als Daseinshaltung mit dem Hinweis auf ihre lebenslange Dauer zum Abschluss bringt: „Manet itaque pena, donec manet odium sui (id est penitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni celorum.“121 Als exemplaris imago des rechten Lebens wird am Ende der Thesenreihe wie auch im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ Christus geltend gemacht, dem der Gläubige durch Leiden, Tod und Hölle nachfolgen müsse.122
4.2.3 Eyn deutſch Theologia – die Wittenberger Druckausgabe von 1518 4.2.3.1 Titelblatt und Vorrede Wie weiter oben bereits beschrieben, setzt das Titelblatt der ‚Deutsch Theologia‘123 den Kontrast von Adam und Christus weitaus deutlicher in Szene als der Druck von 1516.124 Zwar ist nicht zu entscheiden, ob Luther selbst Einfluss auf die Bildauswahl genommen hat.125 Dennoch greift der Holzschnitt in der Kontrastierung von Adams Begräbnis und Christi Auferstehung den programmatischen Impuls des Titels auf und setzt ihn in eine visuell eingängige Darstellung um. Im Vergleich zum ‚Geistlich edlen Büchlein‘ erscheint der Titel selbst leicht gekürzt;126 die Fokussierung auf die Adam-Christus-Antinomie wird jedoch unver119 Baring: Bibliographie, S. 23, Sp. B (Faksimile): „aber wo chriſtus vnd ſein war nochfolger ſein /do muſʒ von not war gruntlich vnd geyſtlich demutigkeyt vnd geyſtlich armut ſein vnd ein nidergetruckt in bleybendes gemute vnd das ſol inwendigs vol heymlichs verborgens jamers vnd leydens ſein bis yn den leyplichen tod.“ Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 108, Z. 68–72. 120 Zu dieser Aufnahme eines ‚mystischen‘ Motivs in die Ablassthesen siehe auch Leppin: ‚Omnem vitam […]‘, bes. S. 13–22. Leppin konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die ersten beiden Thesen. 121 WA 1, S. 233, Z. 16–17. 122 Declaratio, These 19 [94] (WA 1, S. 238, Z. 18–19): „Exhortandi sunt Christiani, ut caput suum Christum per penas, mortes infernosque sequi studeant.“ Vgl. auch Staupitz: Ein ſeligs newes Jar, fol. 231r: „Die got im hochſten grad liebhaben dē iſt nit mer ſchwer /das ioch v die burde chriſti zutragē.“ 123 Den folgenden Ausführungen liegt das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München 4 P. lat. 1580 zugrunde (VD 16: T 896). 124 Vgl. Kap. 1.2.3, S. 43 mit Anm. 193. 125 Siehe dazu Kap. 4.2.2.1, Anm. 34. 126 Eine vollständige Wiedergabe des Titels findet sich in Kap. 1.1, Anm. 8.
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ändert beibehalten. Auffallend ist die Ergänzung Eyn deutſch Theologia, die nun als Haupttitel der Schrift fungiert. Die das Titelblatt des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ kennzeichnende Verschränkung von mystischen, frömmigkeitstheologischen und augustinisch-antipelagianischen Kategorien ist damit keineswegs aufgehoben; aber es findet doch eine deutliche Akzentverschiebung statt. Denn die Bezeichnung ‚Ein geistlich edles Büchlein‘ weist auf eine Schrift mit erbaulicher Ausrichtung hin, nicht aber auf ein theologisches Werk. Die in diesem Titel implizierte Distanz des ‚Büchleins‘ zur Universitätstheologie wird zwar durch die aufgezeigten Schnittstellen mit dem akademischen Diskurs unterlaufen; dies geschieht jedoch nur unterschwellig.127 Anders gesagt: Auf der paradigmatischen Achse des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ gibt sich seine Nähe zu den Aussagen der Wittenberger Theologie zwar zu erkennen; im Werk selbst aber fehlen signifikante Textmarkierungen, die das Lesepublikum auf diese Äquivalenzen hinweisen. Der im Jahr 1518 für eine volkssprachliche Schrift äußerst ungewöhnliche Titel Eyn deutſch Theologia stellt ein solches Signal dar.128 Durch ihn wird der Traktat programmatisch an die Wittenberger Theologie angebunden. Dies gilt umso mehr in der Zusammenschau mit Luthers Vorrede, welche die volkssprachliche Theologietradition, für die das ‚Büchlein‘ als Zeuge einzustehen hat, positiv von der Universitätstheologie und ihren Sprachkonventionen abhebt.129 Zudem schwingt in der apodiktischen Feststellung, dass „die Deutſchē Theologē an ʒweyffell die beſʒten Theologen ſeyn“,130 eine nationale Komponente mit. Dass Luther für die erneute Publikation des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ einen Haupttitel wählte, der die Grenze zwischen lateinisch-wissenschaftlichem und volkssprachlich-laikalem Bereich aufzuheben scheint, mutet dennoch zunächst merkwürdig an. Denn der Wittenberger Professor unterscheidet in seinen deutschen Schriften der ersten und zweiten Publikationsphase die intendierte deutsche
127 Allerdings deuten die drei lateinischen Randbemerkungen darauf hin, dass Luther eine gelehrte Leserschaft des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ nicht ausschloss. 128 Der VD 16 gibt für die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts außer der ‚Deutsch Theologia‘ bzw. ‚Theologia deutsch‘ nur eine weitere deutsche Schrift an, die den Terminus ebenfalls im Titel verwendet. Es handelt sich um die antireformatorisch ausgerichtete Tewtsche Theologey des Berthold Pürstinger (VD 16: P 2922 und P 2923). Siehe auch die Edition von Reithmeier. 129 Die Aussage, dass das ‚Büchlein‘ in „deutſcher ʒungen“ (WA 1, S. 379, Z. 8–9) einen direkteren Zugang zu Gott vermittle, als dies die lateinische, griechische und hebräische Sprache vermöchten, ist in Luthers Polemik gegen seine scholastischen Gegner eingebettet. Sie impliziert also keine Verachtung der klassischen Bibelsprachen, sondern dient dazu, der deutschen Sprache einen theologischen Geltungsanspruch zuzuweisen. Siehe zur Vorrede der ‚Deutsch Theologia‘ auch die Ausführungen in Kap. 2.1, S. 81–83. Zum programmatischen Anspruch der Vorrede vgl. ferner Ozment: Mysticism, S. 20–21. 130 WA 1, S. 379, Z. 11–12.
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Leserschaft strikt von einem akademisch gebildeten Rezipientenkreis.131 So lautet der Titel für seine Vaterunser-Auslegung aus dem Jahr 1519 Auſlegung deutſch des Vater unnſer fuer dye einfeltigen leyen.132 Und auch im ‚Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi‘ wird der angezielte Empfängerkreis unter dem Titelholzschnitt explizit genannt: „Fur die Leyen.“133 Luther behauptet allerdings nicht, dass die Inhalte der Wittenberger Theologie für ‚Laien‘ ungeeignet wären, jedenfalls nicht in Hinblick auf ihren theologischen Kern – die auf augustinisch-paulinischen Vorgaben beruhende Neubestimmung der Stellung des Menschen vor Gott mit den daraus resultierenden Konsequenzen.134 Denn dieser Kern betrifft unmittelbar das Seelenheil. Dem Wittenberger geht es also nicht darum, die zentralen Aussagen der von ihm und seinen Mitstreitern als ‚richtig‘ erkannten Reformtheologie – die sich bis 1520 zur ‚reformatorischen Theologie‘ weiterentwickeln sollte135 – einem bestimmten Leserkreis vorzuenthalten; es geht ihm vielmehr um die Unterschiedlichkeit der literarischen Gattungen und Ausdrucksformen, die dem jeweiligen Bildungs- und Verständnisniveau angepasst sein müssen.136 Bereits in jenem Brief an Christoph Scheurl vom 06. Mai 1517, in dem er sich darüber beklagt, dass seine ‚Sieben Bußpsalmen‘ anders als vorgesehen nicht nur unter ‚rohen Sachsen‘, sondern auch unter ‚feinen Nürnbergern‘ verbreitet würden, äußert er sich zu dieser Anpassung seiner Schriften an die von ihm unterstellten Aufnahmekapazitäten seiner Leser und Leserinnen. Die ‚Bußpsalmen‘ seien für jene verfasst, „denen die christliche Lehre nicht wortreich genug vorgekäut werden könne“.137 Die einen scholastischen Wissenshorizont voraussetzende Knappheit universitärer Aus-
131 Vgl. Moeller: Das Berühmtwerden, S. 71–74; Steer: Bettelorden-Predigt, S. 333–334. Siehe auch Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, S. 181. 132 WA 2, S. 80, Z. 1–2. Siehe dazu jedoch auch unten, Anm. 136. 133 Siehe WA 2, S. 739, Drucke A–C. 134 Anderes gilt zunächst für die theologischen Auseinandersetzungen und kirchenpolitischen Kontroversen, die sich seit 1518 um diese Lehre entspannen. 135 Vgl. Leppin: Martin Luther, S. 116–117. 136 Die Trennung zwischen ‚Laien‘ und ‚Gelehrten‘ wurde allerdings schon in den ersten Jahren von Luthers schriftstellerischer Tätigkeit durch (authorisierte oder unauthorisierte) Übersetzungen vom Lateinischen ins Deutsche und umgekehrt regelmäßig unterlaufen. Als Beispiel sei zum einen der Beichttraktat Ein kurtʒ underweyſung, wie man beichten ſol: auſʒ Doctor Martinus Luther Auguſtiners wolmeinung getʒogen (WA 2, S. 57–65) genannt. Es handelt sich hierbei um einen deutschen Auszug aus einem lateinischen Beichttraktat, den Luther für Georg Spalatin verfasst hatte. Ein zweites Beispiel ist die ausdrücklich für eine laikale Leserschaft vorgesehene Auſlegung deutſch des Vater unnſer (WA 2, S. 74–130), die 1520 in einer anonymen lateinischen Übersetzung erschien. Siehe WA 2, S. 75 sowie S. 79–80. 137 Die Übersetzung ist WA 1, S. 154 entnommen. Luthers Beschwerde lautet vollständig (WA. B 1, S. 93 [Nr. 38], Z. 6–8): „Non enim Nurinbergensibus, id est, delicatissimis et emunctissimis
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4 Resümee und Ausblick
drucksformen, wie sie vor allem in den Thesenreihen hervorsticht, wird damit als für Laien ungeeignet erklärt. Gleiches gilt für die Vermittlung theologischer Positionen, deren Geltung in den inneruniversitären Diskussionen erst noch geklärt werden muss. Deshalb erscheint Luther die von ihm nicht beabsichtigte außerakademische Verbreitung seiner Ablassthesen als problematisch: „Sunt enim nonnulla mihi ipsi dubia, longeque aliter et certius quaedam asseruissem vel omisissem, si id futurum sperassem.“138 Auch die Schroffheit der gelehrten Auseinandersetzungen mit ihren pointierten Positionsbestimmungen suchte Luther von einer laikalen Leserschaft fernzuhalten. Deutlich formuliert er dies in seinem Unterricht auff etlich artickell: „Es iſt fur mich kummen, wie das ethliche menſchen meyne ſchrifft, ſunderlich, die ich mit den gelerten nah der ſcherffe gehandelt, dem eynfeltigen volk felschlich eynbilden unnd mich yn ethlichen artickeln vordechtig machen […].“139 Dass diese Rücksichtnahmen gegenüber einem volkssprachlichen Rezipientenkreis allerdings nicht zur Relativierung der Grundsätze seiner theologischen Anthropologie führen, macht Luther in seinem Unterricht auff etlich artickell ebenfalls deutlich. So erläutert er hier in aller Klarheit, dass die guten Werke des Menschen für das Seelenheil irrelevant sind, sofern sie nicht aus der göttlichen Gnade hervorgehen.140 Wenn Luther für seine Zweitauflage des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ den Haupttitel ‚Eyn deutsch Theologia‘ wählt, signalisiert er damit also keine Aufhebung der Grenze zwischen den Literaturgattungen, die dem universitären und jenen, die dem volkssprachlichen Bereich zugeordnet sind. Aber er signalisiert die Aufhebung der Grenze zwischen ‚Erbauung‘ und ‚Theologie‘, indem er den Inhalt des ‚Büchleins‘ zur Theologie erklärt und es damit programmatisch der Wittenberger Theologie zuweist. Damit verschärft Luther die tendenzielle Abwendung des frömmigkeitstheologischen Diskurses von einer Universitätswissenschaft, deren komplexe Lehrgebäude im Rahmen dieser Diskursformation als irrelevant für die Sicherung des Seelenheiles erscheinen. Während es frömmigkeitstheologische Schriftsteller wie Johannes Geiler von Kaysersberg jedoch vermeiden, der scholastischen Theologie ihr Daseinsrecht abzusprechen,141 ist es genau dies, was Luther
animabus, sed rudibus, ut nosti, Saxonibus, quibus nulla verbositate satis mandi et praemandi potest eruditio christiana, editae sunt.“ 138 Siehe Luthers Brief an Scheurl vom 05.03.1518 (WA.B 1, S. 152 [Nr. 62], Z. 13–15). Vgl. zu dieser Passage auch Moeller: Das Berühmtwerden, S. 68–69. 139 WA 2, S. 69, Z. 7–10. 140 Vgl. WA 2, S. 71, Z. 31–S. 72, Z. 2. 141 Vielmehr ist von Geiler der Satz „Gehört in die schül, nit auf den predigstül“ überliefert (siehe Williams-Krapp: Observanzbewegungen, S. 188), der die Eigenständigkeit beider Bereiche indiziert.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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und seine Mitstreiter tun. Ihnen gilt die Universitätswissenschaft – wie es auch die Vorrede zur ‚Deutsch Theologia‘ mit Nachdruck bestätigt – aufgrund ihrer vorgeblichen Distanz vom ‚heiligen Wort Gottes‘142 als obsolet. Für diese Absonderung der Wittenberger Theologie von der als triegisch diffamierten schultheologia143 ist die Umbenennung des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ in ‚Eyn deutsch Theologia‘ signifikant. Wie auch der Augsburger Tauler-Druck wird das ‚Büchlein‘ damit als volkssprachlicher Vertreter jener lauteren Theologia des creutʒis in Beschlag genommen, die in der Wahrnehmung der Wittenberger von der Schultheologie verdrängt worden ist.144 Die Trennung der Sprachbereiche mit ihren jeweils spezifischen Ausdrucksformen ist damit zwar nicht außer Kraft gesetzt; aber die ‚Deutsche Theologie‘ wird als ein Werk präsentiert, das im Idiom der ‚Laien‘ dieselben Grundsätze vermittelt, die auch in den lateinischen Texten der Wittenberger Reformtheologen vertreten werden.
4.2.3.2 Inhaltliche Aspekte Wie zu erwarten, bleiben die bereits aufgezeigten Übereinstimmungen von Aussagen des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ mit volkssprachlichen Schriften der Wittenberger Theologen, aber auch mit den lateinischen Ausdrucksmodi der von ihnen vertretenen universitären Theologie hinsichtlich der ‚Deutsch Theologia‘ von 1518 bestehen. Das gilt für die Adam-Christus-Antinomie mit den ihr zugehörigen Gegensatzpaaren ‚Ungehorsam/Gehorsam‘ und ‚alter Mensch/neuer Mensch‘145 ebenso wie für den Aspekt der ‚Wiedergeburt‘,146 die Behauptung einer grundsätzlichen Verdorbenheit der menschlichen Natur durch die concupiscentia147 142 Vgl. WA 1, S. 379, Z. 4. 143 Vgl. Luthers Übersetzung der Pariser Lehrzensur (1521), WA 8, S. 289, Z. 16–18: „Martinus. 5. Von der tʒeyt an, da die Schultheologia, das iſt, die triegiſche Theologia, hatt angefangen, iſt die Theologia des creutʒis auſʒgeledigt und alles vorkeret.“ 144 Ebd., Z. 10–14: „Martinus. 4. Jnn den predigten Johannis Tauleri, ynn deutſcher ſprach geſchrieben, find ich (ſpricht Luther) mehr lautter und gegrundter Theologie, denn ynn allenn aller hohen ſchulen Schullerernn erfunden iſt odder erfunden mag werden ynn alle yhren hohen ſynn ſchrifften.“ Vgl. auch die vorhergehende Anmerkung. 145 Siehe dazu z. B. Luther: Auslegung deutsch (WA 2, S. 100, Z. 34–38); Karlstadt: Auslegung (VD 16: B 6113, fol. Cij r); Luther: Heidelberger Disputation, Conclusio 21, Probatio (WA 1, S. 362, Z. 29–31). 146 Siehe dazu z. B. Luthers ‚Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe‘ (WA 2, S. 724–737). Vgl. ferner Luther: Heidelberger Disputation, Conclusio 24, Probatio (WA 1, S. 363, Z. 35–37). 147 Zur Verdorbenheit der menschlichen Natur siehe z. B. Luther/Spalatin (?): Eine kurze Unterweisung (WA 2, S. 60, Z. 2–5); Luther: Auslegung deutsch (WA 2, S. 84, Z. 1–2); Nikolaus von Amsdorff: Eine christliche Vorbetrachtung (WA 9, S. 223, Z. 8–S. 224, Z. 3); Karlstadt: Auslegung
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4 Resümee und Ausblick
und die daraus resultierende Ablehnung des facere quod in se est.148 Auch die Abwehrhaltung gegenüber der natürlichen Vernunft als Instrument der Gotteserkenntnis findet sich in der ‚Deutsch Theologia‘ genauso wie in den Wittenberger Schriften.149 Aufrechterhalten wird zudem die Verbindung dieser augustinischantipelagianischen Kategorien mit Elementen des ‚mystischen‘ und ‚frömmigkeitstheologischen‘ Diskurses. So greifen die Wittenberger Theologen ebenso wie die ‚Deutsch Theologia‘ weiterhin auf die Gelassenheitssemantik zurück,150 wenn (fol. Aiij v; Ei v). Die Diabolisierung des ‚natürlichen‘ Menschen, die zu den Grundaussagen der ‚Deutsch Theologia‘ gehört, findet sich in der gleichen Härte bei Luther. Vgl. Ein deutsch Theologia, Kap. 20, fol. Diij r: „Jcheyt v ſelbheyt /das gehrt alles dem teuffel ʒu /und deſʒhalben iſt er [der Mensch] ein teuffel“ (= ‚Der Franckforter‘ [hg. von Hinten], Kap. 2, S. 99, Z. 17–18). Luther erklärt in einer Fastenpredigt aus dem Jahr 1518 (WA 1, S. 277, Z. 1): „Ein iglicher iſt aus im ſelber ein teufel, aber aus Chriſto heilig.“ Zur Ichbezogenheit des Menschen siehe z. B. Johannes Agricolas Bearbeitung von Luthers Vaterunser-Predigten, die dieser in der Fastenzeit 1517 gehalten hatte (Auslegung, WA 9, S. 125, Z. 34; ebd., S. 147, Z. 37–39). 148 Siehe dazu z. B. Luther: Fastenpredigt (WA 1, S. 272, Z. 25–29); Luther: Fastenpredigt (WA 1, S. 275, Z. 38–40); Luther/Spalatin (?): Eine kurze Unterweisung (WA 2, S. 64, Z. 20–23); Luther: Heidelberger Disputation, Conclusio 3 (WA 1, S. 356, Z. 16–17), Conclusio 5 (ebd., S. 357, Z. 19–20), Conclusio 16 (ebd., S. 360, Z. 25–26). 149 Die Kontiguität von Aussagen der ‚Deutsch Theologia‘ mit Aussagen Luthers ist erneut kaum zu übersehen. So lautet der Anfang des siebzehnten Kapitels in der Flugschrift (fol. Dij r): „Niemant gedenck das er ʒu diſʒem waren liechte /v waren bekentnus kome /oder ʒu Chriſtus leben mit vill fragen /oder vō horen ſagen /oder mit leſʒen oder ſtudieren /noch mit groſʒen hochen kunſten vnd meiſterſchaft /od[er] mit hocher naturlicher v[er]nufft“ (= ‚Der Franckforter‘ [hg. von Hinten], Kap. 19, S. 96, Z. 1–4). Luther schreibt in seiner Auſlegung deutſch des Vater unnſer fuer dye einfeltigen leyen (WA 2, S. 111, Z. 35–S. 112, Z. 1): „Das broet Jheſum Chriſtum magk nyemant haben von ym ſelbſt wyder durch ſtudiren, noch horen, noch fragen, noch ſuchen. Dan Chriſtum tʒu erkennen, ſeind alle bucher tʒu wenigk, alle lerer ʒu geringe, alle vornunfft ʒu ſtumpff.“ An die Attacken der ‚Deutsch Theologia‘ gegen die ‚glorierende‘ Vernunft, die sich über alles Geschöpfliche zu erheben sucht (siehe das Zitat in Kap. 2.2.3.6, S. 180; im Druck von 1518: Kap. 40, fol. Hi v), erinnert Luthers Vernunftkritik in der Auslegung des 109. (110.) Psalms (WA 1, S. 696, Z. 10– 13): „Darumb iſt auff erden unter allen frlichaiten kain frlicher ding, dann ain hochreiche ſinnige vernunfft, ſonderlich ſo ſy fellt in die gaiſtlichen ding, die die ſel und got antreffen.“ 150 Siehe z. B. Luther: Eine kurze Erklärung (WA 1, S. 252, Z. 9–12); Luther: Fastenpredigt (WA 1, S. 276, Z. 2–3); Luther: Eine kurze Form (WA 6, S. 15, Z. 11–12); Karlstadt: Auslegung, fol. Aiv v, Bi v, Ci r, Civ v. Insbesondere in Karlstadts Auſʒlegung vnnd Lewterung (1519) wird die Verklammerung von mystischer Gelassenheitssemantik und augustinisch-antipelagianischer Theologie dadurch augenfällig, dass die dem ‚mystischen Diskurs‘ entstammenden Aussagen mit Randbemerkungen versehen werden, die auf die antipelagianischen Schriften des Kirchenvaters verweisen. Siehe z. B. fol. Aiij r. Hier lautet der Fließtext: „Dan im hochſte v gotlichem reich wirſtu dir ſelbſt klein v veracht /v mogſtu in recht vernichtigkeit dein ſelbſt alhie kōmen /wurdeſtu warhafftig alhie ſelig /v ein reich gots.“ Die zugehörige Randbemerkung verweist auf eine Passage aus Contra Iulianum.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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sie die Lösung des Menschen von seiner naturhaften Ichbezogenheit und seine Hinwendung zu Gott beschreiben.151 Bestehen bleibt auch die Forderung einer lebenslangen Christusnachfolge, die als alle äußerlichen wie innerlichen Lebensvollzüge des Menschen umfassende Daseinshaltung zu verstehen ist.152 Diese intertextuellen Bezüge, die bereits 1516 eine Einbindung des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ in das Wittenberger Reformprogramm ermöglicht haben, intensivieren sich hinsichtlich der ‚Deutsch Theologia‘ sogar noch. Dies liegt vorrangig darin begründet, dass sie im Unterschied zum Erstdruck eine vollständige Fassung des ‚Frankfurter‘ repräsentiert, die mit den zuvor fehlenden Kapiteln 1–6 und 29–53 aufwarten kann.153 Darüber hinaus beinhalten auch die Kapitel 7–28 – in der Zählung der ‚Deutsch Theologia‘ handelt es sich um die Kapitel 7–26 – Textpassagen, die im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ nicht vorhanden sind und daher erst jetzt zur Konsolidierung der paradigmatischen Achse beitragen können. Dies betrifft beispielsweise die Bekleidungsmetaphorik. Wie im ersten Teil dieser Arbeit ausführlich dargestellt, formuliert der Traktat die Notwendigkeit einer Abtötung des ‚alten Menschen‘ zugunsten der Geburt des ‚neuen Menschen‘ mittels paulinischer Bekleidungsmetaphorik.154 Im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ fehlt die entsprechende Passage des sechzehnten Kapitels allerdings,155 so dass kein Bezug zu äquivalenten Aussagen der Wittenberger Theologen hergestellt werden kann.156 Dies ändert sich mit dem Druck der ‚Deutsch Theologia‘, in der die Textstelle nun wieder vorhanden ist: „Hie von ſpricht Sanctus Paulus Legt ab
151 Weder in der ‚Deutsch Theologia‘ noch in den Schriften der Wittenberger Theologen kann der Mensch diesen Gottesbezug selbst bewirken. Ihm muss vielmehr die Selbstmitteilung Gottes bzw. dessen Gnadenzuwendung vorausgehen. 152 Einschlägig ist hier vor allem Luthers Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Chriſti (WA 2, S. 131–142). Siehe ferner Luther: Sermon von Ablass und Gnade (WA 1, S. 244, Z. 15–20); Luther: Fastenpredigt (WA 1, S. 270, Z. 36–37); Luther: Eine kurze Form (WA 6, S. 15, Z. 30–34; S. 16, Z. 13–14). Eingebunden sind Luthers Aufforderungen zu einer Christusnachfolge, die das gesamte Dasein durchdringt, in seine Gegenüberstellung von theologia gloriae und theologia crucis. Zur Verwerfung der Ersteren zugunsten der Kreuzestheologie siehe z. B. Luther: Heidelberger Disputation, Conclusio 20, Probatio (WA 1, S. 362, Z. 15–19); ebd., Conclusio 21 (inkl. Probatio; WA 1, S. 362, Z. 20–33). 153 Nach der Kapitelzählung der Edition von Hintens. 154 Vgl. Kap. 2.2.3.3. 155 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 17, Sp. A. 156 Staupitz: Büchlein von der Nachfolgung, fol. Bi v: „[…] dorūb dʒ nymādt den newen menſchē in Chriſto antʒihen mag /er hab dan den alten in im ſelb auſʒgetʒogē“; ebd.: „WJr wiſſen ſpricht Paulus /dʒ die got lieben /alle ding tʒum beſten mitwircken /dene die auſʒ gotlichem vorſatz /heilig genent ſein /die auſz got in dem blute Chriſti new geborn /den alten mēſchen Adams ſun gātʒ auſʒgetʒogē haben“; ebd., fol. Eiij r (zur Gottverlassenheit Christi am Kreuz): „vmb vnſern willen /hat er den got auſʒgetʒogen /auff das wir yne alle tʒeit antʒyhen.“
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den alten menſchen mit ſeynē wercken / vnd ʒiecht an eynem newē mēſchen / der noch got geſchaffen v gebildet iſt.“157 Über diese Vertiefung der bereits seit 1516 zu beobachtenden intertextuellen Bezüge hinaus erweitert sich deren Vielfalt. Denn durch die verstärkte Publikationstätigkeit der Wittenberger Theologen, insbesondere Martin Luthers, in den Jahren 1518 und 1519 vergrößert sich das paradigmatische Korpus, in welches die ‚Deutsch Theologia‘ eingebunden ist. Als besonders interessant erweist sich in diesem Zusammenhang die Willenslehre. Wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt, akzeptiert die ‚Deutsch Theologia‘ abweichend von anderen mystischen Predigten und Traktaten keine moralische Eigenkompetenz des geschaffenen Willens, solange der Mensch die Verfügungsgewalt über diesen beansprucht.158 Erst die Inbesitznahme der voluntas creata durch Gott befreit diese zum Guten. Für den menschlichen Willen als natürlicher Seelenkraft gilt dagegen der ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘: Er wird ausschließlich als Eigenwille definiert, der aufgrund der in allen Menschen verwurzelten Ichsucht zu keinen genuin guten und damit vor Gott anerkennenswerten Werken befähigt ist. Denselben ‚Jargon der Ausschließlichkeit‘ verwendet Luther, wenn er die Definition des menschlichen Willens als freies Dispositionsvermögen verwirft und ihn stattdessen als ‚Eigenwillen‘ bestimmt, der durch die göttliche Gnade zum Guten befreit werden muss.159 Die Übereinstimmung von Aussagen der ‚Deutsch Theologia‘ mit Luthers Willenslehre resultiert zwar in erster Linie aus den aufgezeigten Transformationen des ‚mystischen Diskurses‘ im vierzehnten Jahrhundert. Darüber hinaus scheint Luther aber auch Anregungen aus dem Traktat aufgegriffen und in seinen eigenen anthropologischen Entwurf inkorporiert zu haben. Damit greift hinsichtlich der Willenslehre nicht nur jenes weite poststrukturalistische Intertextualitätskonzept, wie es dieser Arbeit im Ganzen zugrunde liegt, sondern auch jenes eng gefasste Intertextualitätsverständnis, wie es etwa Genette formuliert hat.160 Luthers Ausführungen zum menschlichen Eigenwillen in seiner Auſlegung deutſch des Vater unnſer fuer dye einfeltigen leyen weisen
157 Kap. 14, fol. Civ r. 158 Siehe Kap. 2.3.2.3, bes. S. 230–232; Kap. 2.3.6, bes. S. 308–312; Kap. 3.3.1, bes. S. 345–346. 159 Luther: Ein Sermon (WA 2, S. 247, Z. 15–21): „Weyter folget, das man den freyen willen nymmer recht nennet odder verſteht, er ſey dann mit gottis gnaden getʒieret, an welche er meer ein eygener dann freyer will heyſſen ſoll: dann an gnad thut er nit gottis willen, ſundern ſeinen eygnen willen, der nimmer gut iſt. Er iſt wol frey geweſen in Adam, Aber nw durch ſeynen fall verterbet und in ſunden gefangen, doch den namen des freyen willens behalten, darumb das er frey geweſt und durch gnad widder frey werden ſoll.“ 160 Vgl. Genette: Palimpseste, S. 10. Vgl. dazu auch Kap. 1.2.3, Anm. 232.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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jedenfalls eine große Nähe zum 50. Kapitel der ‚Deutsch Theologia‘ auf.161 Besonders signifikant ist folgende Passage aus der Auſlegung deutſch: So ſpricht man ‚Ey, hat uns doch got eynen freyen willen gegeben‘. Antwort: Ja freylich hat er dir einen freyen willen gegeben. Warumb wiltu yn dan machen ʒu eynem eygen willen und leſt yn nit frey bleyben? Wan du da mit thueſt was du wilt, ſo iſt er nit frey, ſundern dein eygen. Got aber hat dir nach nyemant ein eygen willen gegeben. Dan der eygen wil kumpt vom teuffel und Adam, die haben yren freyen willen, von got empfangen, yn ſelbſt tʒu eygenn gemacht, dan ein freyer will iſt, der nichts eygens will, ſundern allein auff gottis willen ſchauet, da durch er dan auch frey bleybet, nyrgend anhangend ader anclebenth.162
Das Zugeständnis an den Menschen, von Gott mit einem freien Willen ausgestattet worden zu sein, gepaart mit dem Vorwurf, dass der Mensch diesen freien Willen durch sein eigenes Wollen seiner ursprünglichen Freiheit beraubt und zum Eigenwillen degradiert habe, findet sich in ähnlicher Formulierung im 50. Kapitel der ‚Deutsch Theologia‘. Gleiches gilt für die Schuldzuweisung an den Teufel und Adam. Die entsprechende Textstelle lautet: Was frey iſt / dʒ iſt niemātʒ eigē v wer dʒ eigē macht / d[er] thut vnrecht / Nu iſt vnter aller freyheyt nichtʒ alſo frey / als d[er] will / v wer dē eigen macht / v leſʒt yn nit an ſeiner edlen freyheit / v in ſeinē freyem adel / v in ſeiner freyen art / der thut vnrecht / das thut der teufel v adam / vnd all yr nachuolger.163
Luthers Definition des freien Willens am Schluss der zitierten Passage als ausschließlich auf den Willen Gottes ausgerichteter Wille lässt an die Ausführungen im 49. Kapitel der ‚Deutsch Theologia‘ denken.164 Hier ist die Konformität mit dem göttlichen Willen ebenfalls das ausschlaggebende Kriterium: „[…] vnd da wer der will nit eigen wil / v da wurd auch nit anders gewolt dan als got will […].“165 Die Vermutung, dass sich Luther bei der Abfassung der Auſlegung deutſch von der ‚Deutsch Theologia‘ anregen ließ, gewinnt durch eine weitere Beobachtung noch mehr an Substanz. Luthers Text lag am 5. April 1519 im Druck vor,166 also
161 In der ursprünglichen Kapitelzählung handelt es sich um einen Teil des 51. Kapitels. Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 145, Z. 63–S. 146, Z. 94. 162 WA 2, S. 104, Z. 31–39. 163 Kap. 50, fol. Jiv v. 164 Hierbei handelt es sich wie auch bei Kapitel 50 (siehe oben, Anm. 161) um einen Teil des ehemals 51. Kapitels. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 144, Z. 31–S. 145, Z. 62. 165 Kap. 49, fol. Jiij v–Jiv r. Diese Aussage ist allerdings in die dem Traktat eigentümliche Dependenzlehre eingebunden, wonach Gott das geschöpfliche Wollen des Menschen übernimmt, um sich selbst zu vervollkommnen. Reminiszenzen an diese die Regeln des theologisch-philosopischen Diskurses sprengende Lehre finden sich bei Luther nicht. 166 Vgl. WA 2, S. 74–75.
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eine ganze Weile nach der Herausgabe der ‚Deutsch Theologia‘. Es handelt sich hierbei um die schriftliche Fassung seiner Predigten über das Vaterunser, die er im Anschluss an seine Dekalog-Predigten in der Fastenzeit 1517 gehalten hat.167 Schon Anfang 1518 erfolgte die Publikation einer ‚Auslegung und Deutung des heiligen Vaterunsers‘ durch Johannes Agricola, die auf seinen Mitschriften der Luther-Predigten beruht.168 Zwar macht Agricola in seinem Vorwort deutlich, dass er seine Vorlagen bearbeitet hat, so dass mit dem Wegfall oder der Ersetzung bestimmter Predigtabschnitte gerechnet werden muss.169 Dennoch ist bei seiner Auslegung der dritten Vaterunser-Bitte auffällig, dass sich hier keine Anklänge an die oben zitierte Luther-Passage finden. Die Frage nach der Ausstattung des Menschen mit einem freien Willen taucht zwar durchaus auf: „So ſprichſtu: ‚Ey warumb hat mir dan goth ein freyen willen geben?‘“170 Sie wird jedoch mit Hinweis auf die Autorität des Augustinus sofort als verfehlt zurückgewiesen: „Antwort Auguſtinus: Der wille des menſchen auſſerhalb der gnade iſt ein knecht und nicht frey, er iſt dynen, allein iſt er frey wan er durch die gnade gericht wirt.“171 Auch wenn nicht vollkommen auszuschließen ist, dass Agricola die Passage absichtlich ausgelassen oder verändert hat, erscheint doch eine andere Annahme plausibler: Sie fehlte in seinen Mitschriften, weil Luther in der Fastenzeit 1517 die ‚Deutsch Theologia‘ noch gar nicht kannte.172 Erst für die schriftliche Abfassung seiner Predigten konnte er sie als Inspirationsquelle nutzen. Eine breitere Bezugnahme auf den Traktat in Form von nachweisbaren Anspielungen oder Zitaten findet sich in Luthers Schriften der zweiten Publikationsphase indessen nicht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Aussagen der ‚Deutsch Theologia‘ hinsichtlich ihrer Willenslehre, aber auch über diese hinaus mit den Schriften des Wittenbergers und seiner theologischen Mitstreiter korrespondieren und so ihre Integration in die frühreformatorische Programmatik ermöglichen. Dies sei kursorisch anhand von zwei mit der Willenslehre zusammenhängenden und für die augustinisch-antipelagianische Tendenz der ‚Deutsch Theologia‘ signifikanten Aspekten aufgezeigt: 1.) der Angewiesenheit des Menschen auf die Zuwendung Gottes, um zur bedingungslosen Gottes- und Nächstenliebe befähigt zu werden; 2.) der Befreiung des vergotteten bzw. begnadeten Menschen von der zerstörerischen Macht des Gesetzes.
167 Vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 84. 168 Vgl. WA 9, S. 122–123; Kruse: Universitätstheologie, S. 84–85. 169 Vgl. WA 9, S. 124, Z. 18–19; siehe dazu auch Kruse: Universitätstheologie, S. 85, Anm. 160. 170 WA 9, S. 139, Z. 21. 171 Ebd., Z. 22–24. 172 Das ‚Geistlich edle Büchlein‘ endet ja mit dem 28. Kapitel des ‚Frankfurter‘ (in der Kapitelzählung der Handschriften C und D).
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1. Aufgrund der Verdorbenheit des Willens als natürlichem Seelenvermögen ist der Mensch in der ‚Deutsch Theologia‘ weder zur bedingungslosen Gottesnoch zur Nächstenliebe befähigt. Erst seine Erfüllung mit dem ‚göttlichen Licht‘ befreit den Menschen zum Guten und transformiert ihn damit zum göttlichen bzw. vergotteten Menschen. Um diese absolute Abhängigkeit des Menschen von Gottes übernatürlichem Eingreifen zu formulieren, bedienen sich Luther und Staupitz ähnlicher Formulierungen wie der Traktat. So bezeichnet Luther den begnadeten Menschen als gotformig und vergottet.173 Staupitz lässt die Gottesund Nächstenliebe des Gerechtfertigten aus der gnadenhaft eingegossenen göttlichen Liebe resultieren, welche die Angleichung an die vita Christi ermöglicht: […] wann der gerechtfertiget liebet ungezweifelt und liebt got umb liebe: darumb liebet er got über alle dink, den nechsten nach dem gesetz. Wann er hat die lieb, die sich bei der mussikeit nit leidet, sunder wo sie durch die gnad eingossen ist, do füret sie ins herz Christum und in Christo die gehorsam, die reue, die gerechtikeit; legt an Christum in der neuikeit des lebens, zeucht Adam auß; macht groß das leben Christi, verwürft das leben Adam.174
In ähnlicher Weise hebt die ‚Deutsch Theologia‘ die Durchflutung des vergotteten Menschen mit der göttlichen Liebe hervor, welche ihm den Eintritt in die imitatio Christi ermöglicht: Sich wa ein ſolcher vorgotter menſch were / oder iſt / da wirt oder iſt das aller peſte / v edliſt leben / v gott das wirdigeſt dʒ ye geward / od[er] ymer gewirt / Vnd vō der ewigen liebe (die da liebt got als gut / vnd vmb gut / vnd das peſte v edliſte in allen dingen / liebt vmb gut) wirt das war edel leben [d. h. die vita Christi] als ſere geliebt / das es nymer mer gelaſſen wirt / oder auff geſchutt175 / wa es yn eym mēſchen iſt.176
Aus dieser Erfüllung des vergotteten Menschen mit der ewigen Liebe resultiert auch seine Nächstenliebe: Hernach volget dʒ in eim v[er]gottē mēſchen / die lieb iſt lautter / v vnuermiſchet / v gut willig ʒu allē / v ʒu allē dingē […]. Ja der einē v[er]gottē mēſchē hūdert mal ttet / v wurd wid[er] lebētig / er muſʒt den mēſchē lieb habē / der yn alſʒo gettet hette.177
173 Luther: Ein Sermon (WA 2, S. 248, Z. 2). 174 Staupitz/Scheurl: Ein nutzbarliches Büchlein (hg. Dohna/Wetzel), Kap. 8, n. 45, S. 131. 175 Verschreibung für auſſ geſchutt. 176 Kap. 36, fol. Fiv v. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 38, S. 123, Z. 1–6. Vgl. ferner Kap. 2.3.3, S. 245–246. 177 Kap. 31, fol. Fij r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 33, S. 117, Z. 1–7. Vgl. ferner Kap. 3.3.1, S. 347–348.
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Staupitz und die ‚Deutsch Theologia‘ kommen also darin überein, dass die moralische Kompetenz des Menschen von seiner vorgängigen Besitzergreifung durch die göttliche Liebe abhängig ist. In den Worten des Augustinereremiten: Alſo geſchicht / das alle mal die weſenliche ſelbſtendige lieb die got ſelbſt iſt / ehe in dē menſchen iſt / den ſein eygne lieb / oder etwas das gut genennt mag werden.178
In den Worten der ‚Deutsch Theologia‘: Aber ware liebe wirt gelert / vnd geleitet / von dem waren liecht vnd bekentnus / vnd das war ewig od[er] gotlich liecht leret die liebe nichtʒ lieb habē / da das war einfeltig volkumen gut / v vmb nichtʒ dan vmb gut.179
Diese Neuausrichtung des Menschen und seine damit einhergehende moralische Ermächtigung resultieren aus der Aufhebung der in seiner Natur verwurzelten ‚Ich‘-Verhaftung durch die Wirksamkeit der göttlichen Liebe: Sich da wirt da fůrbas mer nit anders gewlt / oder gemeynet dan gut / als gut / v vmb nit anders / dan darumb / dʒ es gut iſt […]. Wan da iſt all ſelbheit v icheit / v ich v mir / v des gleich / gelaſſen v abgefallen.180
Ähnlich äußert sich Andreas Bodenstein gen. Karlstadt in seiner Auſʒlegung vnnd Lewterung etʒlicher heyligenn geſchrifften: Lieb gottes hat ein widerarth gegē vnſer natur / da vnſʒere natur begert das yr wie obgemelt. Aber die lyb gots ſuchet nicht das ir / v fuert den mēſchē vber ſich in gotlichē willen […].181
Wie bereits weiter oben gezeigt, ist auch hier die Grenze zur Universitätstheologie durchlässig, insofern die Wittenberger im akademischen Kontext durchgängig darauf insistieren, dass dem Menschen die Überwindung seiner angeborenen Konkupiszenz zugunsten einer vollkommenen Gottes- und Nächstenliebe ohne göttliches Eingreifen nicht gelingen kann.182
178 Staupitz, Ein ſeligs newes Jar, fol. 222r. Siehe auch ebd., fol. 221v: „Die lieb gotes vbr alle ding kombt in keinen menſchen /der heilig geiſt ſey den vor darinn.“ 179 Kap. 40, fol. Hij r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 42, S. 134, Z. 65–67. Vgl. ferner Kap. 2.3.3, S. 250. 180 Kap. 30, fol. Fij r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 32, S. 116, Z. 35–41. Vgl. ferner Kap. 2.3.3, S. 246. 181 Auslegung, fol. Bvi v. 182 Siehe z. B. Luthers Thesen 90 und 91 der Disputatio contra scholasticam theologiam, die explizit gegen Gabriel Biel gerichtet sind (WA 1, S. 228, Z. 20–23): „90. Gratia dei datur ad dirigendum voluntatem, ne erret etiam in amando deum. Contra Gab.“; „91. Nec datur, ut frequentius et facilius eliciatur actus, Sed quia sine ea non elicitur actus amoris. Contra Gab.“ Zu Biel siehe auch
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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2. Nur dem von der ewigen Liebe durchdrungenen Menschen ist nach Aussage der ‚Deutsch Theologia‘ die freie Einhaltung des göttlichen Gesetzes möglich: Sider nu in diſem liechte / v ī diſer liebe / alle gut in eim / vnd als ein / v das ein in allem / v in allen als ein v vnd als alle / geliebt wirt / ſo muſʒ alles das / da geliebet werden / das guten namen in der warheit hat / als tugent / ordnung / redlicheit / gerechtickeit / warheit / v d[er] gleichē / Vnd alles, das got v dem waren gut / ʒu gehrt / v ſein eigen iſt / das wirt / da geliebt vnd gelobet […].183
Im Anschluss an die augustinische Unterscheidung von lex operum und lex fidei äußern sich die Wittenberger Theologen in ähnlicher Weise über die zwanglose Erfüllung des Gesetzes durch die Erwählten, die zur bedingungslosen Gottesliebe befähigt worden sind. Staupitz etwa schreibt: Wir begreiffenn daruber / das nyemandt das geſetʒ halten mag / er libe den got vber alle ding / vnnd das vns der buechſtab daſſelbig keinerlei weis geben mag.184
Für die von Gott Begnadeten verliert das Gesetz somit seinen Schrecken, weil sie es, so Martin Luther, freywillig erfüllen. Weder stehen sie aus „knechtlicher forcht“ – wie die ‚Gezwungenen‘ in der ‚Deutsch Theologia‘ – noch aus „kindiſcher liebe“ – wie die ‚Lohner‘ in der Terminologie des Traktats – unter dem Zwang, sich ihm gegen die Neigung ihrer menschlichen Natur unterwerfen zu müssen.185
Kap. 2.2.1, S. 96–97 mit Anm. 96. Vgl. ferner Karlstadt: De natura (hg. Kolde), These 24 (S. 451): „Nulla bona merita praecedunt graciam. Contra communem“; ebd., These 40 (S. 452): „Hereticum est confirmare, quod deus in donis suis sit posterior et nos priores“; ebd., These 97 (S. 454): „Obseruacio praecepti sine charitate seu gratia nedum est invtilis ad vitam aeternam sed occidens. Contra Capreolum.“ 183 Kap. 41, fol. Hiij r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 43, S. 136, Z. 45–50. Vgl. ferner Kap. 2.3.3, S. 250. 184 Ein ſeligs newes Jar, fol. 221r. 185 Luther: Auslegung des 109. (110.) Psalms (August 1518), WA 1, S. 699, Z. 3–10: „Wann ʒwo ʒeit ſtymmet die geſchrift, Aine der krancken, die was und iſt in allen denen, die under dem geſatz leben, Wann dieweil die menſchen die gebott gotes nit freywillig und auſʒ liebe, ſonder auſʒ knechtlicher forcht oder kindiſcher lieb hielten, ſo was in das gebot nur ain untrglicher laſt und bürde, und in unmüglich zůerfüllen. Wann gots gebot můſʒ freywillig erfüllt werden, Und das iſt der natur nit müglich, darumb iſt ſy under dem geſatʒe erkranckt und erlegen, und unmchtig worden, das ʒu erfüllen.“ Ebd, Z. 18–22: „Die ander ʒeit iſt der gnaden und hilffe zeit, durch wlche der menſch geſterckt wirt, frey gottes willen und gebot ʒu halten auſʒ lautter gottes lieb, nit dieſelben zu thůn umb ires nutʒ oder lones willen, auch nit ʒu laſſen weder durch leiden noch durch ſterben. Das iſt nun nit der natur, ſonder der gnaden werck.“
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4 Resümee und Ausblick
Die Frage nach dem Nutzen des Gesetzes,186 das selbst bei strikter Befolgung kein positives Gott-Mensch-Verhältnis generiert,187 beantwortet die ‚Deutsch Theologia‘ mit dem Hinweis auf seinen pädagogischen Wert: Vnd wirt auch mannich mēſch / durch diſʒe weiſe / v ordnūg geʒogen / v gekert ʒu der warheit / das anders nit geſchech. Auch wenig menſchen ʒu der warheit komen ſind / ſie haben dan vor ordnung / v weis angefangen / vnd ſich dar yn gebt / die weil ſye nit anders / oder peſſers wiſten.188
Das Gesetz stellt also eine Art Wegweiser zur ‚Wahrheit‘ dar, muss letzten Endes aber durch die Inbesitznahme des Menschen vom Geist Gottes überwunden werden.189 Diese erzieherische Funktion des Gesetzes artikulieren auch die Wittenberger Reformer im Rahmen ihres gnadentheologischen Augustinismus. So schreibt Johann von Staupitz: Aus dem allen ſehen wir / das der buchſtaben ein ſchreckūg iſt / von der natur / ʒu der gnad / von ſich ſelbſt / ʒum geiſt / inn deme wir zu gott rueffen. Vatter vatter / vnd werden gotes vber alle ding begierig.190
Wie nicht anders zu erwarten, finden diese volkssprachlichen Aussagen zur Bedeutung des göttlichen Gesetzes für die Stellung des Menschen vor seinem Schöpfer eine Fundierung in der Wittenberger Universitätstheologie.191
Vgl. zu den ‚Gezwungenen‘ und den ‚Lohnern‘ in der ‚Deutsch Theologia‘ die Darlegungen in Kap. 2.3.5.4. Siehe ferner im folgenden Kapitel (4.2.4.1) die Ausführungen zur Wittenberger Neuauflage von 1520. 186 Verstanden als lex operum. 187 Die in Hinblick auf das Seelenleben tödliche Macht des Gesetzesbuchstabens bringen die Wittenberger Theologen wie bereits Augustinus mit der Zitation von 2 Kor 3, 6 – „littera occidit, spiritus autem vivificat“ – zum Ausdruck. Siehe z. B. Staupitz: Ein ſeligs newes Jar, fol. 221r; Karlstadt: Auslegung, fol. Dij v; Bernhardi: Quaestio de viribus, Conclusio 2 (WA 1, S. 147, Z. 14–15); Luther: Heidelberger Disputation, Conclusio 1, Probatio (WA 1, S. 356, Z. 2). 188 Kap. 24, fol. Eij r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 106, Z. 29–33. 189 Siehe dazu Kap. 2.3.5.2. 190 Ein ſeligs newes Jar, fol. 221r–221v. Vgl. Karlstadt: Auslegung, fol. Di v: „Darumb iſt gottes geſetʒ (als Paulus ſpricht) heylig vnd geiſtlich. Vnnd Auguſtinus erkleret /das es dem menſchen ſein ſunde offenbar kundtlich vnnd vnlaugbar macht vnd das leret /das naturlich begirlickeit boſʒ iſt / […].“ Siehe auch Kap. 2.3.5.5, S. 294 mit Anm. 866. 191 Zur Ablehnung einer rein äußerlichen Gesetzeserfüllung aus natürlichen Kräften siehe etwa Martin Luther: Disputatio contra scholasticam theologiam, Thesen 62 (WA 1, S. 227, Z. 14–15), 63 (ebd., Z. 16), 66 (ebd., Z. 21) sowie Thesen 68–80 (WA 1, S. 227, Z. 23–S. 228, Z. 4). Vgl. ferner ders.: Heidelberger Disputation, Conclusio 18 (inkl. Probatio; WA 1, S. 361, Z. 22–30); Conclusio 23 (inkl. Probatio, ebd., S. 363, Z. 15–23); Conclusio 26 (inkl. Probatio; ebd., S. 364, Z. 17–26). Zum
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
425
Die hier nur kursorisch aufgezeigten Übereinstimmungen sollen weder die unterschiedlichen theologischen Profile der Wittenberger Reformer verdecken noch suggerieren, dass es sich bei der ‚Deutsch Theologia‘ um einen vorreformatorischen Text handelt, der die augustinisch-antipelagianische Programmatik der frühneuzeitlichen Autoren bereits vorwegnimmt. Aber sie sollen plausibel machen, wieso der Traktat in seiner vollständigen Fassung als Zeuge für eine ‚wahrhaftige‘ volkssprachliche Theologietradition vereinnahmt werden konnte. Das Zustandekommen der Aussageäquivalenzen, die diese Inbesitznahme ermöglicht haben, resultiert zweifellos aus völlig unterschiedlichen Voraussetzungen: Während Luther und seine Mitstreiter ihren Augustinismus aus der Lektüre der gnadentheologischen Schriften des Kirchenvaters beziehen und zu deren Vermittlung in ihren deutschen Publikationen zumindest teilweise die Terminologie des ‚mystischen Diskurses‘ nutzen, verhält es sich bei der ‚Deutsch Theologia‘ in gewisser Weise umgekehrt: Als genuiner Bestandteil des ‚mystischen Diskurses‘ kündet sie von den dort im vierzehnten Jahrhundert stattfindenden Transformationsprozessen, die – auch ohne unmittelbare Augustinus-Rezeption – zu einer Annäherung an augustinisch-antipelagianische Theologieentwürfe führen.
4.2.4 Eyn Deutſch Theologia – die Wittenberger Druckausgabe von 1520 Eine dritte Wittenberger Ausgabe des Traktats erschien am 28. September 1520 erneut bei Rhau-Grunenberg,192 nachdem die frühneuzeitliche Erfolgsgeschichte der Schrift bereits ihren Anfang genommen193 und Silvan Otmar seine Augsburger Ausgabe mit dem schlagkräftigen Titel ‚Theologia Teütsch‘ versehen hatte.194 Wie bereits aufgezeigt, ist die Aufbereitung dieses Drucks demjenigen von 1518 sehr ähnlich, auch wenn Luthers Name weitaus prominenter erscheint als in den beiden Vorgängerdrucken und neue paratextuelle Merkmale wie Kopfzeilen und Blattangaben hinzutreten.195 Wichtigste Neuerung dürfte jedoch eine Vielzahl von Randbemerkungen sein,196 die Brecht zufolge ungeachtet ihrer erbauli-
pädagogischen Nutzen des Gesetzes siehe z. B. Karlstadt: De natura (hg. Kolde), These 66 (S. 453): „Praeceptis diuinis admonetur liberum arbitrium, ut graciam querat.“ 192 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek 4 P. lat. 1585 (VD 16: T 902). 193 Baring führt Drucke aus Leipzig, Augsburg und Straßburg an. Siehe Bibliographie, S. 32–37. 194 Siehe auch Kap. 1.1, S. 2–3. 195 Siehe Kap. 1.2.3, Anm. 196. 196 Es sind etwa 170. Siehe Brecht: Randbemerkungen, S. 14.
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4 Resümee und Ausblick
chen Ausrichtung durchaus von Martin Luther selbst stammen könnten.197 Ob dies tatsächlich der Fall war, lässt sich indessen nicht mehr feststellen. Auf jeden Fall aber zeugen die Marginalien von derselben diskursiven Offenheit, die das vor- und frühreformatorische Schrifttum der Wittenberger Theologen ohnehin bestimmt und daher auch für Luthers Entscheidung, zunächst das ‚Geistlich edle Büchlein‘ und danach die ‚Deutsch Theologia‘ in zeitgemäßer Form zu publizieren, von Bedeutung gewesen sein dürfte.198 Diese Offenheit ist allerdings nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Vielmehr weisen die Randbemerkungen – wie Brecht ebenfalls betont199 – zugleich ein dezidiert reformatorisches Profil auf, so dass sie den programmatischen Anspruch des Titelblatts und der Vorrede aufnehmen und intensivieren. Ungeachtet ihrer Anschlussfähigkeit an mystische und frömmigkeitstheologische Semantiken tragen die Randbemerkungen damit entscheidend dazu bei, die ‚Theologia Deutsch‘ innerhalb eines medialen Umfeldes, das nun auch im volkssprachlichen Bereich zunehmend durch die Auseinandersetzungen zwischen Martin Luther und der Römischen Kirche geprägt wird, als Reformationsflugschrift zu positionieren. Zwar fehlt in der ‚Deutsch Theologia‘ jede explizite Polemik – Brecht stellt sie deshalb in die Nähe von Luthers berühmter Freiheitsschrift200 –; dennoch bezieht sie aufgrund ihrer Aussageäquivalenzen mit dem Reformationsdiskurs und deren zusätzlicher Hervorhebung durch die paratextuellen Elemente eine eindeutige Position innerhalb der theologischen Auseinandersetzungen.201 Die folgenden Ausführungen werden sich im Anschluss an die Darlegungen zur Einbindung der ‚Deutsch Theologia‘Ausgabe von 1518 in das Wittenberger Reformprogramm zunächst noch einmal einem inhaltlichen Aspekt zuwenden, bevor dann abschließend ein kurzer Blick auf die Randbemerkungen geworfen wird.
4.2.4.1 Inhaltliche Aspekte Wie oben bereits aufgezeigt, kommen die ‚Deutsch Theologia‘ und die Wittenberger Reformer darin überein, dass der Mensch ohne göttliche Zuwendung das
197 Vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 28–29, 31. 198 Siehe dazu auch Kap. 4.2.1, S. 388–389. 199 Vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 29–30. 200 Vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 31. 201 Aufgrund dieser klaren Stellungnahme erhebt die ‚Deutsch Theologia‘ zumindest implizit den Anspruch, zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen. Allerdings gehört sie – nach einer Unterscheidung von Berndt Hamm – nicht zu den pamphletartig-polemischen Reformationsflugschriften, sondern ist sachlich-programmatisch ausgerichtet. Vgl. Hamm: Die Reformation, S. 142.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
427
Gesetz nicht erfüllen kann. Dessen positiver Nutzen für den ‚natürlichen‘, noch nicht vom Geist Gottes ergriffenen Menschen besteht in seiner pädagogischen Funktion. Diese Kontiguität der Aussagen gilt auch für die dritte Publikationsphase. Martin Luther erklärt in seiner reformatorischen Programmschrift ‚Von den guten Werken‘, die 1520 einige Monate vor der Wittenberger Neuausgabe der ‚Deutsch Theologia‘ erschienen ist,202 dass die geistlichen wie weltlichen Ordnungen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens notwendig seien. Denn da nicht alle Menschen den Glauben hätten, müssten sie von außen zum Verüben guter Werke angeregt werden: Cʒum viertʒehenden, Sʒo mochſtu ſprechenn ‚Warumb hot man dan ſʒo vil / geiſtlicher unnd weltlicher geſetʒ, und vil Cerimonien der kirchen, Cloſter, ſtette, / die menſchen da durch tʒun guten wercken tʒw dringen und ʒureitʒen, ſo der / glaub durch das erſte gebot alle ding thut?‘Antwort: Eben darumb, das / wir den glauben nit alleſampt haben odder achten: wo den yderman hette, / durfften wir keins geſetʒ ymmer mehr, ſondern thet ein iglicher von yhm ſelbs / gute werck ʒu allertʒeit, wie yhn die ſelb ʒuvorſicht wol leret.203
Dem Gesetz kommt in Luthers Auslegung somit eine disziplinierende Funktion zu, ein Aspekt, den auch die ‚Deutsch Theologia‘ hervorhebt, allerdings ohne den Glauben zur Voraussetzung der Gesetzeserfüllung zu erklären:204 Sich hierumb ſeind geſetʒt / vnd die gebott / vnd ordnūg vnd weyſʒe / yn der demtigen geyſtlicheit / vnd ynn geyſtlichem armut / nit vorſchmecht / noch vorſpottet / v auch die menſchē die damit vmb gnad [!] / vnd ſie handelnt / ſonder da wirt geſprochen / yn eyner liebhabenden erbarmung / vnd yn eim clagenden iamer vnd mit leyden. Got vnd warheit / dir sey geclagt / vnd du clageſt es ſelber / das menſchlich blindtheit / vnd gebrech / vnd boſʒheit / macht das das nott iſt / vnd ſeyn muſʒ / des in der warheit nit not iſt / noch ſolte ſeyn / vnd iſt ein begird / das die menſchen / die nit beſſers / oder anders wiſſent / ʒu der warheyt ʒu kōmen / das ſie wiſſen / vnd bekennen / warumb alle geſetʒe / vnd ordnung ſein / vnd geſchehen.205
Luther und die ‚Deutsch Theologia‘ kommen auch darin überein, dass die aufgrund der göttlichen Zuwendung vom Zwang des Gesetzes Befreiten gegenüber den anderen Menschen eine Unterweisungsfunktion ausüben sollen. In der Flugschrift heißt es dazu:
202 Nach WA 6, S. 196–197, dürfte die endgültige Drucklegung Ende Mai 1520 erfolgt sein. 203 WA 6, S. 213, Z. 15–21. 204 Vielmehr macht der Traktat die Inbesitznahme des Menschen durch Gott zur Voraussetzung des freien Gesetzesgehorsams. 205 Kap. 24, fol. 13r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 106, Z. 33–S. 107, Z. 42. Vgl. ferner Kap. 2.3.5.5, bes. S. 295.
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4 Resümee und Ausblick
Vnd man greyffet es an / mit den andern / die nit beſſers / noch anders wiſſent / vnd bet es mit yhn / auff das man ſie da bey behalte / das ſie nit ʒu bſʒen dingen keren / oder ob man ſie mchte / ʒu eynem nehern brengen.206
Luther schreibt: Dieweil aber wir in diſſem ſermon furgenommen ʒuleren, wilch rechtſchaffen gute werck ſein, unnd itʒt von dem hochſten werck redenn, iſts offenbar, das wir nit vonn den andern, drittenn odder vierden menſchen reden, ſʒondern von den erſten, denen die andern alle ſollen gleich werden, und ſie von den erſten ſʒo lange geduldet und underweiſſet werden.207
Dieses Zitat ist erklärungsbedürftig, denn Luther verweist hier auf seine unmittelbar vorhergehenden Ausführungen zurück, in denen er vier verschiedene Arten von Menschen unterschieden hat. Nur die erste dieser Gruppen hat Vorbildcharakter und nur ihr kommt die belehrende Funktion zu. An dieser Stelle nun wird deutlich, dass Luther sich auch noch 1520 von der ‚Deutsch Theologia‘ für seine eigenen Arbeiten inspirieren ließ. Denn die Unterteilung in die vier Menschenarten greift auf eine für die Gesetzeslehre des Traktats überaus wichtige Stelle des 37. (in den Handschriften C und D: 39.) Kapitels zurück und adaptiert sie für die reformatorische Lehre.208 Diese Kernpassage der ‚Deutsch Theologia‘ ist im ersten Teil der vorliegenden Arbeit bereits vollständig zitiert und ausführlich analysiert worden.209 Deshalb sei hier nur Luthers Erläuterung der vier Gruppen in Gänze wiedergegeben: Nu aber ſeind vierley menſchen. Die erſten, itʒt geſagt, die keins geſetʒ / dorffen, davon Paulus i. Thi. i. ſagt ‚Dem gerechten (das iſt dem gleubigen) / iſt kein geſetz gelegt‘, ſʒondern ſolche thunn freywillig, was ſie wiſſen und / mugen, allein angeſehen in feſter ʒuvorſicht, das gottis gefallen und huld uber / ſie ſchwebt in allen dingen. Die andern wollen ſolcher
206 Kap. 24, fol. 13r. Siehe ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), Kap. 26, S. 107, Z. 42–45. Vgl. ferner Kap. 2.3.5.5, bes. S. 295. 207 WA 6, S. 214, Z. 32–36. 208 Zwar finden sich auch in den Tauler-Predigten hinsichtlich der Stellung des Menschen vor Gott ähnliche Gruppierungsversuche. Im Vergleich zu der entsprechenden Passage in der ‚Deutsch Theologia‘ weisen sie jedoch eine weitaus größere Distanz zu Luthers Unterteilung auf. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass der Reformator für seine eigene Darstellung der vier Arten von Menschen nicht Tauler, sondern den Traktat herangezogen hat. Zu Tauler siehe zum einen die Unterscheidung von vier Arten von Sündern (Augsburger Druck, Predigt XL, fol. 95v–98v [= V 36, S. 131–140]) und zum anderen die Bestimmung von fünf Menschengruppen in ihrem je spezifischen negativen oder positiven Gottesverhältnis (Augsburger Druck, Predigt XLVII, fol. 116va– 117ra [= V 43, S. 182, Z. 12–S. 183, Z. 17]). 209 Siehe Kap. 2.3.5.4 (das Zitat ebd., S. 287). Die Passage befindet sich in der ‚Deutsch Theologia‘-Ausgabe von 1520 auf fol. 20v–21r.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
429
freiheit miſʒbrauchen, / ſich falſchlich drauff vorlaſſen unnd faul werden, von denen ſagt ſanct Petrus / i. Pet. ij. ‚Jr ſolt leben als die frey ſein, und doch nit die ſelben freyheit / machen tʒw einem deckel der ſund‘, als ſprech er ‚die freiheit des glaubens gibt / nit urlaub ʒu ſunden, wirt ſie auch nit decken, ſondern gibt urlaub allerley / werck ʒuthun unnd alles ʒuleiden, wie ſie fur die hand kommen, das nit an / ein odder etlich werck allein yemandt gebunden ſey‘. Alſo auch ſanct Paul / Gal. v ‚Seht ʒu, das yr diſʒe freyheit nit laſſet ſein ein urſach ʒu fleiſch- / lichem leben‘. Diſe muſʒ man treiben mit geſetʒ und bewaren mit leren und / vormanung. Die dritten ſein boſʒe menſchen, ʒu ſundenn altʒeit erwegen, die / muſʒ man mit geſetʒen geiſtlich und weltlich tʒwingen, wie die wilden pferd / und hund, und wo das nit helffenn wil, ſie vom lebenn thun durchs weltlich / ſchwert. Wie ſanct Paulus Roma. xiij. ſagt: Die weltlich gewalt tregt das ſchwert und dienet got daryn, nit tʒur forcht den frummen, ſundern den boſen. / Die vierden, die noch mutig und kindiſch ſein ym vorſtand ſolchs glaubens und / geiſtlichs lebens, die muſʒ man wie die jungen kinder locken und reitʒen mit / den euſſerlichen, beſtimpten unnd vorbundenn geſchmuck, leſʒen, beten, faſten, / ſingen, kirchenn, tʒierden, orgelen und was des in Cloſtern und kirchen geſetʒt / odder gehaltenn wirt, ſʒo lange biſʒ ſie auch denn glauben leren erkennen.210
Bei der ersten Gruppe handelt es sich also um jene Menschen, die durch die Wirksamkeit ihres Glaubens vom Gesetzeszwang befreit sind. Sie entsprechen den vom ‚wahren Licht‘ Erleuchteten in der Diktion der ‚Deutsch Theologia‘, die hier erst an vierter Stelle genannt werden, in der Ethik des Traktats aber ebenfalls den höchsten Status einnehmen. Luthers zweite Gruppe – jene, welche die christliche Gesetzesfreiheit mit Gesetzlosigkeit verwechseln – entspricht der dritten Gruppe der ‚Deutsch Theologia‘. Hier handelt es sich um die „bſʒ / falſch geyſt“, die sich aufgrund der vermeintlichen Vollkommenheit ihres ‚inneren Menschen‘ allen äußeren Geboten widersetzen und so das Gemeinschaftsleben gefährden. Ähnliches gilt in der ‚Deutsch Theologia‘ für die erste Gruppe, nämlich die ‚Gezwungenen‘, die sich nur widerwillig dem Gesetz beugen. Ihnen entsprechen in Luthers Schrift jene „boſʒe[n] menſchen“, die nur durch den Zwang geistlicher und weltlicher Gebote diszipliniert werden können. Zur vierten und letzten Gruppe gehören hier alle Menschen, die sich an äußerliche Gesetzeswerke als Ausweis ihres Glaubens klammern und damit noch weit von der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ entfernt sind. Für sie verwendet die ‚Deutsch Theologia‘ die Bezeichnung ‚Lohner‘ und ordnet sie der zweiten Gruppe zu. Sicherlich bietet Luthers Adaptation der Textstelle aus der ‚Deutsch Theologia‘ keinen Anhaltspunkt dafür, dass er für deren Wittenberger Neuauflage mit den neu hinzugekommenen Randbemerkungen verantwortlich zeichnet. Aber sie ist doch ein wichtiger Hinweis darauf, dass Luthers Interesse an dem Traktat mit
210 WA 6, S. 213, Z. 22–S. 214, Z. 6.
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4 Resümee und Ausblick
der Weiterentwicklung der Wittenberger Reformtheologie zur reformatorischen Theologie keineswegs erloschen ist.211
4.2.4.2 Die Randbemerkungen Eine inhaltliche Durchmusterung der Randbemerkungen hat bereits Brecht vorgenommen und dabei auf die zahlreichen Übereinstimmungen mit Luthers Schriften hingewiesen. Aufgrund dessen kommt er zu dem Schluss, dass eine Verfasserschaft des Reformators durchaus wahrscheinlich ist.212 Angesichts der in den vorherigen Ausführungen vorgestellten Beobachtungen zu Luthers Aneignung des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ bzw. der ‚Deutsch Theologia‘ lassen sich Brechts Ausführungen noch ergänzen. So ist auffällig, dass in Kap. 14 der ‚Deutsch Theologia‘ eine der Randbemerkungen ,Icheyt. Selbheyt‘ lautet. Denn wie gezeigt hebt auch die zweite der drei lateinischen Marginalien im ‚Geistlich edlen Büchlein‘ den Begriff der icheit hervor, und zwar zu derselben Passage des Fließtextes.213 Da die Randbemerkungen des ‚Geistlich edlen Büchleins‘ von Luther entweder selbst verfasst oder aus der handschriftlichen Vorlage adaptiert worden sind, liegt die Vermutung nahe, dass er die Marginalie in die ‚Deutsch Theologia‘-Ausgabe von 1520 übernommen hat. Ferner heben die Randbemerkungen die Opposition des menschlichen Willens zum göttlichen Willen hervor und bedienen sich dabei des für Luther wie für die ‚Deutsch Theologia‘ typischen ‚Jargons der Ausschließlichkeit‘: Der menschliche Wille ist demnach kein freies Dispositionsvermögen, sondern grundsätzlich zum Bösen neigender Eigenwille.214 Auffallend ist zudem, dass die Randbemer-
211 Noch 1522 gilt Luther der Traktat als Vertreter einer lauteren deutschen Theologietradition. Siehe Kap. 2.1, Anm. 46. 212 Siehe oben, S. 425–426. 213 Es handelt sich nach der Kapitelzählung der Handschriften um eine Passage des sechzehnten Kapitels. Vgl. ‚Der Franckforter‘ (hg. von Hinten), S. 92, Z. 42–49. Siehe auch Kap. 4.2.2.3, S. 398. 214 Siehe die Randbemerkungen zu Kap. 32 (fol. 18r): „der mēſch hatt keynen freyen willē ſonder eyn aygen willenn“; „gottis wille v menſchen wille iſt wydder eynander.“ In der Edition von Hintens beziehen sich die Marginalien auf Kap. 34, S. 119, Z. 9–13 und Z. 16–20. Siehe ferner die Randbemerkung zu Kap. 47 (fol. 29r): „eygner will brint in der helle“ (bezieht sich in der Edition von Hintens auf Kap. 49, S. 142, Z. 1–2). Vgl. außerdem die Randbemerkungen zu Kap. 50 (fol. 30v): „Die natur macht den willen von goth reyne geſchaffen falſch“; „Der will iſt eigen natur“ (beziehen sich in der Edition von Hintens auf Kap. 51, S. 145, Z. 63–66 und auf S. 145, Z. 68–S. 146, Z. 74; die zweite Marginalie ist allerdings etwas zu tief platziert worden, so dass man den Textbezug erst erschließen muss).
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
431
kungen die vom ‚göttlichen Licht‘ Erleuchteten der ‚Deutsch Theologia‘ in reformatorischer Perspektive als vom Glauben Erfüllte interpretieren. Genau dies macht auch Martin Luther bei seiner Aneignung der oben besprochenen Passage aus dem 37. Kapitel der ‚Deutsch Theologia‘.215 Die Annahme, dass die Annotationen in der Wittenberger Ausgabe von 1520 auf den Reformator zurückgehen, erscheint vor diesem Hintergrund plausibel. Dennoch seien drei kritische Hinweise gestattet: 1. Obwohl die reformatorische Ausrichtung der Randbemerkungen in ihrer Gesamtheit offensichtlich ist – man beachte alleine die zahlreichen Invektiven gegen die menschliche Natur in ihrer sündhaften Verfasstheit216 –, gibt es auch zahlreiche Annotationen, die entweder an mystische oder frömmigkeitstheologische Semantiken anschließen217 oder aber nur als Schlagworte fungieren, z. B.: „Was do ſey das volkommen“;218 „Dʒ gteylte“;219 „Was ſnd ſey“;220 „Was iſt ware gehorſam“;221 „Vngehorſam“.222 Vergleichbare Randbemerkungen finden sich auch in den spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen des Traktats.223 Diese Ähnlichkeit resultiert vermutlich daraus, dass der frühneuzeitliche Verfasser der Marginalien zumindest teilweise denselben Aspekten Aufmerksamkeit schenkte wie die spätmittelalterlichen Schreiber oder Schreiberinnen – was dann einmal mehr die Überschneidung reformatorischer Interessen mit etablierten Frömmigkeitskategorien indiziert. Unwahrscheinlich, jedoch nicht vollkommen ausgeschlossen ist die Übernahme dieser schlagwortartigen Randbemerkungen aus einer annotierten
215 Siehe oben, S. 428–429. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zwei Randbemerkungen zum zehnten Kapitel (fol. 4v und 5r). Die erste bezieht sich auf den Kapitelanfang und lautet: „Glaub erkenth alle dingk.“ Der zugehörige Text lautet: „Nu ſoll mā mercken /wo erleuchte menſchen ſind mit dem waren liecht /die bekennen /das alles /das ſie begeren /od[er] erwelen mgent /nichts iſt gegen dem /das von allen creaturen yn dem als creatur ye begert /odder erwelte noch bekant wart“ (vgl. ‚Der Franckforter‘ [hg. von Hinten], Kap. 10, S. 82, Z. 1–4). Die zweite Randbemerkung einige Zeilen später lautet: „Glaube wechtſʒ ī d[er] liebe ye mer vnd mehr.“ Auch hier bezieht sich die danebenstehende Textpassage auf die Erleuchteten (vgl. ‚Der Franckforter‘ [hg. von Hinten], Kap. 10, S. 82, Z. 5–11). 216 Entsprechende Marginalien finden sich auf fol. 1r, 1v, 9v, 11v, 21r, 22r, 24v, 25r, 26v, 30v, 31v. 217 Vgl. z. B. die Randbemerkungen auf fol. 13r: „Aller ſchrift regell iſt yn dem leben Chriſti exemplificirt“ oder auf fol. 14v: „Der mēſch hatt keynn warūb dā alleyn den gottlychen wolgefallē.“ 218 Kap. 1, fol. 1r (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 1, S. 71, Z. 3–4). 219 Kap. 1, fol. 1r (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 1, S. 71, Z. 8–9). 220 Kap. 2, fol. 1v (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 2, S. 73, Z. 1–2). 221 Kap. 13, fol. 6v (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 15, S. 89, Z. 11–12). 222 Kap. 13, fol. 7r (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 15, S. 89, Z. 15). 223 Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 127 und Anm. 131.
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4 Resümee und Ausblick
Handschrift.224 In diesem Falle hätten die Marginalien der ‚Theologia deutsch‘Ausgabe von 1520 unterschiedliche Quellen. 2. Die Kongruenzen der Randbemerkungen mit Luthers Schriften sind nicht so spezifisch, dass andere Verfasser aus dem Wittenberger Kreis ausgeschlossen wären. Wie bereits aufgezeigt, ist die ‚Deutsch Theologia‘ in ein diskursives Feld eingebettet, das sich bereits seit 1515 herausbildet und zu dessen zunehmender Dichte neben Luther weitere Autoren – unter ihnen Johann von Staupitz, Andreas Bodenstein gen. Karlstadt und Johannes Agricola – beitragen. Gerade die ausschließliche Fokussierung der Randbemerkungen auf anthropologische Aspekte unter Vermeidung kirchenpolitischer Polemik lässt darauf schließen, dass sie weniger der Unterstützung der ‚Luthersache‘ als vielmehr der Vermittlung der ‚reformatorischen Sache‘ dienen sollten. Eine Verfasserschaft Luthers bleibt damit selbstverständlich im Rahmen des Möglichen. 3. Nimmt man Martin Luther als Verfasser der Randbemerkungen an, so erregt besonders eine von ihnen Aufmerksamkeit. Sie gehört zum zweiten Kapitel der ‚Deutsch Theologia‘ und lautet: „Annemlickeyt der natur.“225 Bereits Brecht hat darauf hingewiesen, dass der von Tauler übernommene Begriff annemlicheit – die ‚Deutsch Theologia‘ verwendet nur das Verb annemen – eigentlich nicht zu Luthers Repertoire gehört. Jedenfalls bleibt er in den Schriften des Reformators außen vor.226 Die im ‚mystischen Diskurs‘ des vierzehnten Jahrhunderts allgegenwärtige Negativsemantik des ‚Annehmens‘ – der Terminus steht für die ungerechtfertigte Selbstzuschreibung göttlicher Gaben und damit für das verfehlte Autonomiestreben des Menschen227 – ist Luther zwar nicht unbekannt,228 findet bei ihm jedoch keine programmatische Nutzung. Anders sieht es bei Andreas Bodenstein gen. Karlstadt aus. Bereits in seiner 1519 erschienenen Auſʒlegung
224 Unwahrscheinlich ist dies deshalb, weil der Druck von 1520 auf dem Druck von 1518 basiert, nicht auf einem Manuskript. Es müssten also entweder die zuvor ignorierten Annotationen der handschriftlichen Vorlage für die Ausgabe von 1518 oder die Randbemerkungen einer zusätzlich herangezogenen Handschrift in die Neuauflage eingegangen sein. 225 Fol. 1v (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 2, S. 73, Z. 5–8). 226 Vgl. Brecht: Randbemerkungen, S. 15. 227 Siehe dazu Kap. 2.3.1, bes. S. 193–195. 228 Auslegung deutsch (WA 2, S. 92, Z. 1–5): „Dan ſo yemant were, der gottis name gnugſam heyliget, der durfft nit meher beten das pater noſter, Und wer ſo reyn were, das er ſich keynes dings, keyner ere eygen anneme, der were gantʒ reyn und der name gottis gantʒ volkommen geheiliget yn ym, das gehort aber nit yn dis leben, ſundern in den hymmel“; Von den guten Werken (WA 6, S. 220, Z. 26–30): „Nu laſſen wir ditʒ gutte werck alle ſteen und uben uns /in vilen anderen, geringeren guten wercken, ja eben durch andere gutte werck /diſſes umbſtoſſen und gantʒ vorgeſſen: alſo wirt den der heilige namen gottis /durch unſern vorfluchten namen, eigen wolgefallen und ehr ſuchen unnutʒ angenommen und vorunehret, der allein ſolt geehret werden […]“ [Hervorhebungen L. W.].
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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vnnd Lewterung etʒlicher heyligenn geſchrifften ist der Begriff annemlicheit durchgängig präsent.229 Diese taulerische Terminologie verbindet Karlstadt mit den aus der ‚Deutsch Theologia‘ entlehnten Begriffen mîneit und icheit, die er zudem um dîneit und unserheit ergänzt.230 ‚Annehmlichkeit‘ ist für Karlstadt der Gegenbegriff zur ‚Gelassenheit‘. In der Auſʒlegung vnnd Lewterung wird dies ebenso deutlich231 wie in seiner am 11. Oktober 1520 publizierten Miſſiue vonn der aller hochſte tugent gelaſſenheyt, in der Karlstadt das Oppositionspaar auf die eigene Lebenssituation bezieht: „Ja ich muſʒ / nicht allein euch / ſonder mich ſelber gelaſſen / ich darff mich meynes leybs v lebens nicht annhemen.“232 Dementsprechend kann er als Synonym für ‚Annehmlichkeit‘ auch ‚Ungelassenheit‘ verwenden.233 Aufgrund dieser Beobachtungen lassen sich die Randbemerkungen in der ‚Theologia deutsch‘ auch in die Nähe Karlstadts stellen. Nicht nur, dass der Terminus annemlicheit in ihnen auftaucht; insbesondere in den Marginalien zu den ersten fünfzehn Kapiteln des Traktats wird regelmäßig ein Bezug zu Textstellen hergestellt, die auf das Kardinallaster des ‚Annehmens‘ und damit auf die icheit des Menschen eingehen.234 Zudem wird die von Karlstadt als ‚allerhöchste
229 Vgl. fol. Bij v, Cij r, Ciij v, Dvi r, Eiii v, Eiv r. Siehe auch die Randbemerkung auf fol. Bi v: „wie annemlikeit verdirbt.“ 230 Auſʒlegung vnnd Lewterung, fol. Bi r: „Der handel dieſer nacht heyſt nemlich /annēlickeit /wolgeuollickeit /ankleblickeit /genugde v luſt in guten werckē. Obgenanter wiert [gemeint ist der Teufel] lad ich dunckē hat ſein ſach vnd handel auch mit volgenden namen gnant /mein vnd dein. Jtem meinheit vnd deinheit /ich vnd du. Item vnſerheit vnd icheit. Dieſe namen vnd ding /ſtifftē mercklichen ſchaden vnd vorhindernus tʒu rechtem leben […].“ 231 Siehe z. B. fol. Bi r: „Alſo ſolſtu auch gelaſſen ſein vnd gotlicher gutheit /in eygenſchafft nit annemen.“ Die Opposition von ‚Gelassenheit‘ und ‚Annehmlichkeit‘ zieht sich durch die gesamte Schrift. 232 Siehe in der Wittenberger Ausgabe (VD 16: B 6173) fol. Bij v. Siehe auch ebd., fol. Biij v: „Jſt es nit ein ſchmertʒlich ding /das ich mich keynes leydens darff annemen /als hett ich von mir ſelber was auſʒgericht /Wil ich von gottis wegen etwas leyden oder ein Creutʒ ertragen /ſʒo muſʒ ich zuuor mich vorleuchnen /vnd mich ſelber vorlaſſen.“ 233 Auſʒlegung vnnd Lewterung, fol. Eiij v: „Nue hore annemlikeit vnd vngelaſſenheit ſtehen grundlich in dem /das eyner gotlich eingab gebraucht als eygen vnd menſchlich.“ Das gleiche Synonympaar findet sich in Karlstadts Gelassenheitsschrift von 1523 (Was geſagt iſt /Sich gelaſſen /vnd was das wort gelaſſenhait bedeüt /vnd wa es in hailiger geſchrifft begriffen; VD 16: B 6256), welche die ‚Deutsch Theologia‘ mehrfach namentlich erwähnt und in zahlreichen Passagen eine unmittelbare Rezeption des Traktats erkennen lässt. Vgl. ebd., fol. Bi v: „Aber die teüfliſch vntugent /annemligkait oder vngelaſſenhait /greyffet nach frembder eer vnd gůt (als der Lucifer nach gotes glori griff) […].“ Ebd., fol. Eiv r: „Darbey lerne /das annemligkait vnd vngelaſſenhait /todſünd vnd teüfliſche laſter ſeind /wlche Lucifer gehabt hat.“ 234 Einschlägig sind folgende Randbemerkungen: Kap. 1, fol. 1r: „Menſchlicher natur geſucht“ (Bezugsstelle in der Edition von Hintens: Kap. 1, S. 72, Z. 26–29); Kap. 2, fol. 1v: „Annemlickeyt der
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4 Resümee und Ausblick
Tugend‘ gerühmte ‚Gelassenheit‘ in den Annotationen mehrfach hervorgehoben.235 Dies bedeutet nicht, dass Karlstadt selbst der Verfasser der Randbemerkungen gewesen sein muss. Denn wie bereits in Bezug auf Martin Luther aufgezeigt, ist das theologische Profil der Annotationen für eine solche Zuweisung zu einem bestimmten Urheber nicht scharf genug.236 Denkbar ist daher auch, dass es sich bei dem Autor der Marginalien weder um Luther noch um Karlstadt, sondern um einen mit den Schriften beider vertrauten Anonymus gehandelt hat.
4.2.5 Schlussbemerkung Die kursorische Analyse der drei Wittenberger Ausgaben des ‚Frankfurter‘ in Hinblick auf ihre mediale Gestaltung und ihre diskursive Einbindung in das Schrifttum der Wittenberger Reformtheologen hat bestätigt, dass sich dieser mystische Traktat in besonderer Weise als Zeuge einer mit der Wittenberger Reformtheologie kongruenten augustinisch-antipelagianischen Theologietradition in der Volkssprache anbot. Sie hat außerdem erwiesen, dass sich die Inanspruchnahme des Traktats für die ,Öffentlichkeitsarbeit‘ Martin Luthers und seiner Mitstreiter zwischen 1516 und 1520 zwar nicht grundsätzlich, aber doch graduell verschoben hat. Zwar bieten alle drei Ausgaben die Möglichkeit, bei der Lektüre des Traktats eine konservative Haltung einzunehmen und statt seiner Kongruenz mit der Wittenberger Theologie vorrangig oder ausschließlich seine Kontiguität mit Aussagen des mystischen und frömmigkeitstheologischen Diskurses wahrzunehmen. Eine solch einseitige Fokussierung dürfte beim ‚Geistlich edlen Büchlein‘ jedoch einfacher gewesen sein als bei der ‚Deutsch Theologia‘-
natur“ (Bezugsstelle: Kap. 2, S. 73, Z. 5–8); Kap. 3, fol. 1v: „Mercke wʒ hatt Adās ſunde groſʒ gemacht“ (Bezugsstelle: Kap. 3, S. 73, Z. 2–3); Kap. 3, fol. 2r: „wo durch gott gehindert wirt“ (Bezugsstelle: Kap. 3, S. 74, Z. 29); Kap. 5, fol. 2v: „Warynne ſteen chriſtliche werck“ (Bezugsstelle: Kap. 5, S. 76, Z. 20–21); Kap. 10, fol. 5r: „Got iſt alleyn guth /darūb gehort yhm auch allein dʒ gut tʒu“ (Bezugsstelle: Kap. 10, S. 83, Z. 13–15); Kap. 14, fol. 8r: „Jcheyt. Selbheyt“ (Bezugsstelle: Kap. 16, S. 92, Z. 46–48); Kap. 15, fol. 8v: „Des guten ſoll ſich niemands annhemen“ (Bezugsstelle: Kap. 17, S. 94, Z. 9–11). 235 Anmerkungen, die den Begriff ‚Gelassenheit‘ beinhalten, finden sich auf fol. 5v, 9v, 10v und 28r. Insbesondere die letztgenannte Randbemerkung hebt den hohen Status der ‚Gelassenheit‘ hervor: „Chriſtēthū ſteet in warer gelaſſenheyt.“ Zu Karlstadts biblisch orientierter Gelassenheitslehre, wie er sie in seiner Gelassenheitsschrift von 1523 (s. o., Anm. 233) entwirft, siehe Hasse: Karlstadt und Tauler, S. 173–185. 236 So bedienen sich ja z. B. auch Staupitz und Luther der Gelassenheitssemantik. Siehe Kap. 4.2.2.4, S. 408–409 sowie Kap. 4.2.3.2, S. 416–417.
4.2 Ausblick: die Wittenberger Druckausgaben des ‚Frankfurter‘
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Ausgabe von 1518 mit ihrem programmatischen Vorwort und dem darauf abgestimmten Titelblatt. Noch deutlicher zur Schau gestellt wird der reformatorische Anspruch in den Randbemerkungen der Neuauflage von 1520, deren Fokussierung auf die Verworfenheit der menschlichen Natur und ihre Gnadenabhängigkeit sich schwerlich ignorieren lässt. Durch die variierende paratextuelle Ausstattung des einst titellosen Traktats wandelt sich dieser so innerhalb weniger Jahre vom Erbauungsbüchlein mit reformerischer Tendenz zur Reformationsflugschrift.237 Eines aber bleibt konstant: Kein anderer spätmittelalterlicher mystischer Traktat kann sich neben dem ‚Geistlich edlen Büchlein‘ oder der ‚Deutsch Theologia‘ als Dokument einer lauteren volkssprachlichen Theologietradition etablieren. Luthers in der Vorrede von 1518 geäußerter Wunsch, „das dißer puchleyn mehr an tag kumen“, erfüllt sich nicht.238 Allerdings bedurften die Wittenberger solcher schmalen deutschen Schriften bald auch gar nicht mehr. Sie – allen voran Martin Luther – schufen sich ihre eigenen volkssprachlichen ‚Büchlein‘, und das bekanntermaßen mit gewaltigem Erfolg.239 An der Beliebtheit der ‚Deutsch Theologia‘ bzw. ‚Theologia deutsch‘ änderte sich durch die schriftstellerische Produktivität der Reformatoren und ihrer Unterstützer nichts. Ganz im Gegenteil – basierend auf den Wittenberger Druckausgaben von 1518 und 1520240 entfaltete der Traktat eine breite Wirkungsgeschichte, die bis ins 20. Jahrhundert hinein andauerte.241 Doch das ist ein anderes Thema.
237 Die Verdrängung der erbaulichen Literatur durch reformatorische Propagandaschriften (vgl. Hamm, Die Reformation, S. 163) lässt sich so anhand ein und desselben Traktats beobachten. Zugleich bleibt die Kontinuität zwischen den drei Wittenberger Editionen des ‚Frankfurter‘ gewahrt. 238 Siehe Kap. 2.1, S. 81. 239 Zur beeindruckenden Auflagenzahl insbesondere von Martin Luthers seelsorgerisch-katechetischen Schriften in den Jahren zwischen 1517 und 1520 siehe z. B. Moeller, Die frühe Reformation, S. 150–152. Siehe auch die tabellarischen Aufstellungen zur Auflagenhöhe der zwischen 1517 und 1519 gedruckten Lutherschriften in ders., Das Berühmtwerden, S. 89–92. 240 Der Druck von 1520 mit seinen zahlreichen Randbemerkungen liegt der Neuausgabe der ‚Deutsch Theologia‘ durch Johann Arndt 1597 und damit auch deren rund 60 Nachdrucken zugrunde. Siehe Baring, Bibliographie, S. 38; Brecht, Randbemerkungen, S. 14; Peters, Art. ‚Theologia deutsch‘, S. 261. 241 Siehe dazu die Überblicke in der Edition von Hintens, S. 3–5 sowie in Peters, Art. ‚Theologia deutsch‘, S. 261–262. Vgl. vor allem zur Rezeption der ‚Theologia deutsch‘ durch Sebastian Franck und Valentin Weigel den Aufsatz von Nagy, ‚Manch lieblicher Unterschied […]‘. Siehe zu Letzterem ferner Baring, Valentin Weigel. Zur lateinischen Übersetzung der ‚Theologia deutsch‘ durch Sebastian Castellio und ihrer Indizierung durch Papst Paul V. siehe Zambruno, La ‚Theologia Deutsch‘, S. 396–402.
Anhang Abkürzungen Lateinische Schriften: Augustinus Contra duas epistulas Pelagianorum: c. ep. Pel. Contra Iulianum libri sex: c. Iul. Contra Iulianum opus imperfectum: c. Iul. imp. De dono perseverantiae: perseu. De gratia et libero arbitrio: gr. et lib. arb. De libero arbitrio: lib. arb. De natura et gratia: nat. et gr. De nuptiis et concupiscentia: nupt. et conc. De peccatorum meritis et remissione: pecc. mer. De spiritu et littera: spir. et litt. De trinitate: trin. De vera religione: uera rel. In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus: ep. Io. tr. Quaestiones ad Simplicianum: Simpl.
Lateinische Schriften: Thomas von Aquin Summa contra Gentiles: ScG Summa theologiae: S. th.
Mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Schriften Meister Eckhart: Das Buch der göttlichen Tröstung: BgT Meister Eckhart: Die Reden der Unterweisung: RdU Meister Eckhart: Von dem edlen Menschen: VeM Heinrich Seuse: Das Buch der Wahrheit: BdW Heinrich Seuse: Das Büchlein der ewigen Weisheit: BdeW Martin Luther: Werke (Weimarer Ausgabe) – Abteilung 1 (Schriften): WA ‒ Abteilung 2 (Tischreden): WA.TR ‒ Abteilung 4 (Briefwechsel): WA.B
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Buchreihen und Datenbanken (lateinische Schriften) Corpus Christianorum, Series Latina: CCL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum: CSEL Patrologia Cursus Completus, Series Latina: PL Library of Latin Texts, Series A (Online-Datenbank): LLT-A
Buchreihen und Datenbanken (mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Schriften) Gesamtkatalog der Wiegendrucke (Online-Datenbank): GW Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des sechzehnten Jahrhunderts (Online-Datenbank): VD 16 Franz Pfeiffer (Hg.): Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 1: Pfeiffer I Franz Pfeiffer (Hg.): Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2: Pfeiffer II
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Frühdrucke Eyn geyſtlich edles Buchleynn von rechter vnderſcheyd vnd vorstand, was der alt v new menſche ſey, Was Adams v was gottis kind sey, v wie Adā ynn vns ſterben vnnd Chriſtus ersteen ſall (Johann Rhau-Grunenberg: Wittenberg 1516) [VD 16: T 890]. Eyn deutſch Theologia. das iſt Eyn edles Buchleyn / von rechtem vorſtand / was Adam vnd Chriſtus ſey / vnd wie Adam yn vns ſterben / vnd Chriſtus erſteen ſall (Johann Rhau-Grunenberg: Wittenberg 1518) [VD 16: T 896]. Eyn Deutſch Theologia. das iſt Eyn edles Bchleyn / von rechtem vorſtandt / was Adam vnd Chriſtus ſey / vnd wie Adam yn vns ſterben / v Chriſt[us] erſteen ſall (Johann Rhau-Grunenberg: Wittenberg 1520) [VD 16: T 902].
Editionen und Übersetzungen (weitere Quellen) Albertus Magnus: B. Alberti Magni, Ratisbonensis Episcopi, Ordinis Prædicatorum, Opera Omnia. Hg. von Auguste Borgnet. Bd. 25: Commentarii in I Sententiarum (Dist. I–XXV). Paris 1893. Albrecht von Eyb: Spiegel der Sitten. Hg. von Gerhard Klecha. Berlin 1989 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 34). Augustinus Hipponensis: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensi Episcopi, Opera Omnia, Post Lovaniensium Theologorum Recensionem […] Accurante et Denuo Recognoscente J.-P. Migne, Tomus Tertius, Pars Altera. Paris 1864 (Patrologia Cursus Completus. Series Latina 35). Augustinus Hipponensis: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensi Episcopi, Opera Omnia, Post Lovaniensium Theologorum Recensionem […] Accurante J.-P. Migne, Tomus Decimus, Pars Prior. Paris 1865 (Patrologia Cursus Completus. Series Latina 44). Augustinus Hipponensis: Sancti Aurelii Augustini, Hipponensi Episcopi, Opera Omnia, Post Lovaniensium Theologorum Recensionem […] Accurante J.-P. Migne, Tomus Decimus, Pars Altera. Paris 1865 (Patrologia Cursus Completus. Series Latina 45). Augustinus Hipponensis: Sancti Aureli Augustini Opera (sect. 8, pars 2). Ed. Caroli F. Urba, Iosephi Zycha. Pragae u. a. 1902 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 42). Augustinus Hipponensis: Sancti Aureli Augustini Opera (sect. 8, pars 1). Ed. Caroli F. Urba, Iosephi Zycha. Vindobonae, Lipsiae 1913 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 60). Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters. Zweiter Teil: Dokumente vornehmlich zur Geschichte der Valdesier und Katharer. Hg. von Ignaz von Döllinger. Darmstadt 1968 [Nachdruck der Ausgabe München 1890].
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Anhang
Verzeichnis der Handschriften Augsburg, Universitätsbibliothek ‒ Cod. III.1.8° 22, 1453 und 1460–1475: S. 11, Anm. 45 Budapest, Nationalbibliothek ‒ Cod. Germ. 13, 2. Hälfte 15. Jh.: S. 102, Anm. 122 Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek ‒ Hs. 540, um 1480: S. 105, Anm. 137 Dessau, Landesbücherei ‒ Hs. Georg. 44.8°, 1477 bzw. 1478: S. 11, Anm. 45 Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek ‒ Ms. C 21, 1476: S. 105, Anm. 136 Einsiedeln, Stiftsbibliothek ‒ Cod. 278 (1040), 3. Viertel 14. Jh.: S. 106, Anm. 140 Engelberg, Stiftsbibliothek ‒ cod. 124, 1359: S. 13, Anm. 57 Frankfurt, Universitätsbibliothek
‒ Ms. germ. oct. 30, 1494 bzw. 1497: S. 11, Anm. 45 Karlsruhe, Landesbibliothek ‒ Cod. St. Georgen 79, Ende 15. Jh.: S. 103, Anm. 125 München, Staatsbibliothek ‒ cgm 854, 1528–1534: S. 11, Anm. 45 München, Universitätsbibliothek ‒ 4° Cod. ms. 482, Ende 15. Jh.: S. 11, Anm. 45 Nürnberg, Stadtbibliothek ‒ Cod. Cent. VI, 61, 1489–1490: S. 11, Anm. 45 ‒ Cod. Cent. VII, 22, Ende 15. Jh.: S. 11, Anm. 45 Prag, Nationalbibliothek ‒ Cheb MS. 45/330 [9] (früher Eger/Cheb [Böhmen], Franziskanerkloster, Cod. 45/330), 1465: S. 11, Anm. 45 St. Gallen, Stiftsbibliothek ‒ Cod. 1014, Ende 15. Jh.: S. 11, Anm. 45 Wien, Österreichische Nationalbibliothek ‒ Cod. 4079, frühes 16. Jh.: S. 11, Anm. 45
Verzeichnis der Drucke Köhler, Fiche 1849, Nr. 4726 o. O. 1523: S. 80, Anm. 41 VD 16: B 6113 Leipzig: Melchior Lotter d. Ä., 1519: S. 415, Anm. 145 VD 16: B 6173 Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1520: S. 433, Anm. 232 VD 16: B 6256 Augsburg: Silvan Otmar, 1523: S. 433, Anm. 233 VD 16: J 247 Augsburg: Hans Froschauer, 1501: S. 394, Anm. 35 VD 16: J 250 Straßburg: Konrad Kerner, 1517: S. 394, Anm. 35
VD 16: J 783 Augsburg: Hans Otmar, 1508: S. 13, Anm. 59; S. 393, Anm. 32 VD 16: P 2922/P 2923 München: Hans Schobser, 1528: S. 412, Anm. 128 VD 16: S 8697 Leipzig: Melchior Lotter d. Ä., 1515: S. 394, Anm. 36 VD 16: S 8707 Augsburg: Melchior Ramminger, 1520: S. 391, Anm. 26 VD 16: S 8708 Leipzig: Melchior Lotter d. Ä., 1518: S. 400, Anm. 72 VD 16: S 8710 Basel: Adam Petri, 1520: S. 391, Anm. 26
Personen- und Werkregister
VD 16: T 890 Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1516: S. 392, Anm. 28 VD 16: T 896 Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1518: S. 3, Anm. 8; S. 43, Anm. 191; S. 411, Anm. 123
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VD 16: T 902 Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1520: S. 4, Anm. 14; S. 43, Anm. 196; S. 425, Anm. 192
Personen- und Werkregister Ach ir gottes minnerin 31, Anm. 145 Ad nostrum qui 152; 280, Anm. 824 Agricola, Johannes 3, Anm. 7; 432 ‒ ‚Auslegung und Deutung des heiligen Vaterunsers‘ 416, Anm. 147; 420 Albertus Magnus 32, Anm. 148; 124, Anm. 212; 180, Anm. 446; 336, Anm. 95 Albrecht von Brandenburg (Erzbischof) 77 Amerbach, Johannes 78; 96, Anm. 89 Angela von Foligno 88, Anm. 62 Aristoteles 60, Anm. 264; 83, Anm. 48; 97, Anm. 97; 126, Anm. 217; 147, Anm. 318 Augustinus von Ancona ‒ Milleloquium Sancti Augustini (siehe auch Bartholomäus von Urbino) 99, Anm. 106 Augustinus von Hippo 5; 9; 54; 58; 59; 63–67; passim ‒ Confessiones 92; 93; 102; 105, Anm. 135, 138 ‒ Contra duas epistulas Pelagianorum 85, Anm. 56; 113; 171, Anm. 412; 176, Anm. 432, 433; 201, Anm. 533; 297; passim ‒ Contra Iulianum 85, Anm. 56; 97, Anm. 99; 172, Anm. 412–414; 176, Anm. 432; 177, Anm. 434; 183, Anm. 456; passim ‒ Contra Iulianum opus imperfectum 78, Anm. 35; 94, Anm. 81; 184, Anm. 458; 185, Anm. 462, 463 ‒ De civitate Dei 92; 93, Anm. 77; 94, Anm. 82; 102, Anm. 122 ‒ De doctrina christiana 104, Anm. 132 ‒ De fide et operibus 104, Anm. 132
‒ De gratia et libero arbitrio 253; 297, Anm. 878 ‒ De libero arbitrio 105, Anm. 138; 112, Anm. 159, 160 ‒ De natura et gratia 78, Anm. 35; 92; 93, Anm. 77; 94, Anm. 83; 97, Anm. 99; passim ‒ De ordine 93 ‒ De peccatorum meritis et remissione 78, Anm. 35; 85, Anm. 56; 92; 93, Anm. 77; 170–172; passim – De praedestinatione et gratia 93; 94, Anm. 80 ‒ De spiritu et littera 172, Anm. 415; 173–175; 185, Anm. 481; 213, Anm. 573; 215, Anm. 581; 232, Anm. 643; passim ‒ De trinitate 92; 93, Anm. 77; 102, Anm. 120; 105, Anm. 138; 110, Anm. 152; 131; passim ‒ De vita beata 93 – Enarrationes in Psalmos 58, Anm. 257 ‒ In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus 113 ‒ Quaestiones ad Simplicianum 113, Anm. 165; 172, Anm. 415; 179, Anm. 443; 260; 297, Anm. 879; 308, Anm. 924 ‒ Soliloquia 92, Anm. 76; 95, Anm. 89; 104, Anm. 134 Aurifaber, Christian (Christian Düring) 83, Anm. 51; 408, Anm. 107 Avicenna 180, Anm. 446 Bartholomäus von Urbino ‒ Milleloquium Sancti Augustini (siehe auch Augustinus von Ancona) 92, Anm. 76; 99
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Bernhardi, Bartholomäus ‒ Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata 76; 85, Anm. 57; 387; 395, Anm. 40; 404; 424, Anm. 187 Bernhard von Clairvaux 88, Anm. 62; 89, Anm. 65; 90, Anm. 68; 96; 113, Anm. 163; 235, Anm. 654 Berthold von Moosburg 32, Anm. 148; 122 Biel, Gabriel 96, Anm. 95; 97; 101, Anm. 119; 257, Anm. 739; 258, Anm. 745; 259, Anm. 749; 422, Anm. 182 Blosius, Ludwig ‒ Apologia pro domine Ioanne Thaulero adversus dominum Ioannem Eckium 192, Anm. 491 ‚Blume der Schauung‘ 29/30, Anm. 145; 124, Anm. 212; 131, Anm. 241; 153, Anm. 341; 239, Anm. 665; 314, Anm. 1 Bodenstein, Andreas gen. Karlstadt 94, Anm. 83; 142, Anm. 292; 184, Anm. 457; 432 ‒ Auſʒlegung vnnd Lewterung etʒlicher heyligenn geſchrifften 416, Anm. 150; 422; 432; 433 ‒ De natura, lege et gratia contra scolasticos et usum communes 85; 395, Anm. 40 ‒ Miſſiue vonn der aller hochſte tugent gelaſſenheyt 433 ‒ Was geſagt iſt / Sich gelaſſen / vnd was das wort gelaſſenhait bedeüt 194, Anm. 500; 433, Anm. 233 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 49, Anm. 229 ‒ De consolatione philosophiae 25, Anm. 123 Bonaventura 89, Anm. 65, 66; 236, Anm. 655 Bradwardine, Thomas 93, Anm. 76; 98, Anm. 103 Buchbinder, Johannes 13 ‚Buch geistlicher Armut‘ 31, Anm. 145; 112, Anm. 159; 118, Anm. 183; 119, Anm. 188; 126, Anm. 219; 166; 167; passim Buoch von dem grunde aller bôsheit 204, Anm. 541; 227, Anm. 627 Caelestis Pastor 283, Anm. 833 Caelestius 207, Anm. 548 Capgrave, John
‒ , Life of Saint Augustine‘ 105, Anm. 138 Compilatio mystica (Greiths Traktat, ‚Lehrsystem der deutschen Mystik‘) 30, Anm. 145; 126, Anm. 219; 130, Anm. 236; 253, Anm. 720 Cum inter cetera 96 David von Augsburg 109, Anm. 149; 235, Anm. 650; 259, Anm. 748; 343, Anm. 128 Der înslac siehe Von der edelkeit der sêle ‚Der Traum eines Gottesfreundes‘ 251 De vita christiana 95 Dietrich von Freiberg 30, Anm. 145; 126, Anm. 217; 130, Anm. 236; 143; 144, Anm. 296; 148–153; passim ‒ De intellectu et intelligibili 337 ‒ De visione beatifica 148, Anm. 323; 149 Diodor von Tarsus 375, Anm. 267 Dionysius Pseudo-Areopagita 49, Anm. 229; 88, Anm. 62; 89, Anm. 65, 66; 106, Anm. 140; 123–125; 261 Diu glôse über daz êwangelium S. Johannis 31, Anm. 145 Diu zeichen eines wârhaften grundes 25, Anm. 121; 30, Anm. 145 Düring, Christian siehe Christian Aurifaber Eck, Johannnes 83; 184, Anm. 457 ‒ De purgatorio contra Ludderum 192, Anm. 491 ‒ Enchiridion 190, Anm. 488 Eckhart von Gründig ‒ Ler von der selykeit (‚Traktat von der wirkenden und möglichen Vernunft‘) 143 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 1, Anm. 2; 7; 8; 13; 14, Anm. 65; 18; passim ‒ Expositio libri Genesis 112; 165, Anm. 383; 328, Anm. 67; passim ‒ Expositio libri Sapientiae 128; 164, Anm. 382; 216, Anm. 587; passim ‒ Expositio s. evangelii sec. Iohannem 110; 196, Anm. 508; 225, Anm. 617; passim ‒ ‚Gottesgeburtzyklus‘ (Predigten S 101‒104) 22; 69, Anm. 2; 71, Anm. 9; passim ‒ Liber benedictus (‚Das Buch der göttlichen Tröstung‘, Von dem edeln menschen) 136; 165; 115, Anm. 173; passim
Personen- und Werkregister
‒ Opus tripartitum 60, Anm. 264; 229, Anm. 635 ‒ Predigt Q 1 212; 364, Anm. 224 ‒ Predigt Q 2 138, Anm. 273; 321, Anm. 39; 325, Anm. 52; passim ‒ Predigt Q 5a 111; 352, Anm. 170 ‒ Predigt Q 5b 22, Anm. 107; 134; 194, Anm. 501; passim ‒ Predigt Q 24 117 ‒ Predigt Q 25 111; 217, Anm. 592; 230, Anm. 638 ‒ Predigt Q 29 58, Anm. 257; 282 ‒ Predigt Q 38 152, Anm. 340; 239, Anm. 665; 327; 352, Anm. 171 ‒ Predigt Q 39 213, Anm. 570; 220 ‒ Predigt Q 40 150, Anm. 326; 175 ‒ Predigt Q 41 213, Anm. 571; 253; 342, Anm. 126; passim ‒ Predigt Q 44 344 ‒ Predigt Q 46 150, Anm. 326; 186, Anm. 471; 315; 353, Anm. 177 ‒ Predigt Q 49 22, Anm. 107; 141; 194, Anm. 501; passim ‒ Predigt Q 52 121, Anm. 196; 139, Anm. 278; 212, Anm. 569; 230; passim ‒ Predigt Q 54b 111 ‒ Predigt Q 58 261 ‒ Predigt Q 73 121, Anm. 196; 218; 226, Anm. 622; passim ‒ Predigt Q 83 126, Anm. 220; 164; 327 ‒ Predigt S 93 112; 165, Anm. 382 ‒ Predigt S 109 332; 338 ‒ Rede der underscheidunge 7, Anm. 26; 22, Anm. 108; 36, Anm. 161; 71, Anm. 9; 118; 142, Anm. 290; passim ‒ Sermo die b. Augustini Parisius habitus 60, Anm. 264 ‒ Sermones et lectiones super Ecclesiastici 128 Erasmus von Rotterdam 1; 5; 85, Anm. 56; 108, Anm. 145; 184, Anm. 457; 221; passim Eustathius von Antiochien 375, Anm. 267 Florus von Lyon 98, Anm. 101 Forster von Ansbach, Johann 47, Anm. 216 Franke, Johannes
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‒ ‚Von zweierlei Wegen‘ 322, Anm. 41; 327, Anm. 63; 328, Anm. 66 Froben, Johannes 78, Anm. 35 Gansfort, Wessel 82, Anm. 46 Geiler von Kaysersberg, Johannes 107, Anm. 142–144; 395, Anm. 42; 399, Anm. 70; 414 ‚Geistbuch‘ 29/30, Anm. 145; 52; 114, Anm. 169; 180, Anm. 446; 232, Anm. 641; 264; 293, Anm. 858 Gerson, Jean 86, Anm. 60; 88, Anm. 62, 63 Gilbertus Porretanus 321, Anm. 39 Glaser, Peter ‒ Tavleri Christliche Lehre von den frnemsten heuptstcken der heiligen Schrifft 192, Anm. 491 Godeverd van Wefele 183, Anm. 452 Gottfried, Johann 102, Anm. 122 Gottschalk von Orbais 96, Anm. 93; 97, Anm. 101 Gregor der Große 96 Gregor von Rimini 78, Anm. 34; 83; 93, Anm. 76; 233–234; passim Greiths Traktat siehe Compilatio mystica Hätzer, Ludwig 19, Anm. 94 Heinrich von Gent 343, Anm. 128 Heinrich von St. Gallen 20, Anm. 96, 98 Hermann von Fritzlar 22 ‒ Buch von der heiligen lebine 126, Anm. 219; 137, Anm. 268 Hieronymus (Kirchenvater) 5; 95; 100; 101, Anm. 117; 184, Anm. 457 Hiltalingen, Johannes 98, Anm. 103; 99, Anm. 104; 234, Anm. 649 Holcot, Robert 257, Anm. 739; 258, Anm. 741 Hugolin von Orvieto 98, Anm. 103; 99, Anm. 104 In agro dominico 210; 321; 338, Anm. 108 Innozenz XI. (Papst) 283, Anm. 833 ‚In-principio-Dialog‘ 30, Anm. 145; 322, Anm. 41; 332, Anm. 83
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Anhang
Jan van Leeuwen ‒ Van meester Eckaerts leere daer hi in doelde 286, Anm. 840 Jan van Ruusbroec 88, Anm. 62; 183, Anm. 452; 235 ‒ Brulocht 111, Anm. 155; 163, Anm. 377; 220, Anm. 603; 262, Anm. 762; 263; 299 Johannes XXII. (Papst) 35, Anm. 157; 222 Johannes Chrysostomus 375, Anm. 267 Johannes Damascenus 109, Anm. 148; 112; 371, Anm. 251, 253 Johannes Duns Scotus 223, Anm. 610; 260, Anm. 751 Johannes von Frankfurt 12 Johannes von Paltz 92, Anm. 76; 108, Anm. 144; 389; 394 ‒ Coelifodina 70, Anm. 5; 94, Anm. 80 ‒ ‚Himmlische Fundgrube‘ 106, Anm. 141; 260, Anm. 755; 395, Anm. 42; 399, Anm. 70 Johann von Staupitz 5, Anm. 19; 71; 83, Anm. 51; 241, Anm. 670; 260, Anm. 754; 389; passim ‒ Ein ſeligs newes Jar von der lieb gottes 391, Anm. 26; 400, Anm. 72; 406; 408; 409, Anm. 110; 411, Anm. 122; passim ‒ ‚Büchlein von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi‘ 394; 399–401; 403, Anm. 83; 404, Anm. 89, 90; 405; 408; passim ‒ Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis (siehe auch Christoph Scheurl) 84, Anm. 51; 389, Anm. 20; 401; 404, Anm. 90; 406; 409; passim Jordan von Quedlinburg 101; 105 ‒ Collectanea Sancti Augustini 99; 100; 105 ‒ Opus Dan 104, Anm. 133 ‒ Vita Sancti Augustini 100; 105, Anm. 138 Jostes (‚Meister Eckhart und seine Jünger‘) 139, Anm. 276 ‒ Nr. 82 322, Anm. 41; 336, Anm. 98 Jud, Leo 104, Anm. 132 Julian von Aeclanum 170, Anm. 405; 176; 183; 207, Anm. 548; 233, Anm. 644 Karlstadt siehe Andreas Bodenstein gen. Karlstadt Klenkok, Johannes 98, Anm. 103
Kuttenmann ‒ ‚Vom Reuer, Wirker und Schauer‘ 21, Anm. 103; 31, Anm. 145 Lang, Johannes 5, Anm. 19; 78–79; 85, Anm. 56; 86, Anm. 60 ‚Lehrsystem der deutschen Mystik‘ siehe Compilatio mystica Lupus Servatus 98, Anm. 101 Luther, Martin 1–2; 4–9; 10–12; 18; 53–56; 69–91; passim ‒ Auſlegung deutſch des Vater unnſer fuer dye einfeltigen leyen 413; 415, Anm. 145, 147; 416, Anm. 147, 149; 418–420; 432, Anm. 228 ‒ Brief Nr. 30 72 – Brief Nr. 39 1; 6 ‒ Brief Nr. 41 78–79 ‒ ‚Die sieben Bußpsalmen‘ (erste Bearbeitung) 389; 396–397; 402; 404, Anm. 89, 90; 406–410; 413 ‒ Disputatio contra scholasticam theologiam 76; 77, Anm. 32; 85, Anm. 57; 190, Anm. 488; 257, Anm. 739; 259, Anm. 749; passim ‒ Disputatio Heidelbergae habita 77; 415, Anm. 145, 146; 416, Anm. 148; 417, Anm. 152; 424, Anm. 187, 191 ‒ Disputatio Johannis Eccii et Martini Lutheri Lipsiae habita 78, Anm. 34; 83; 184, Anm. 457 ‒ Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum 76; 411; 414 ‒ ‚Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi‘ 413 ‒ Unterricht auff etlich artickell 414 ‒ ‚Von den guten Werken‘ 427; 432, Anm. 228 ‒ ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ 90, Anm. 68 – Vorrede zur ‚Theologia deutsch‘-Ausgabe von 1516 2, Anm. 5; 4; 45, Anm. 199; 83, Anm. 50; 394–395 ‒ Vorrede zur ‚Theologia deutsch‘-Ausgabe von 1518 43; 76, Anm. 26; 81; 82–83; 160; 389; 411–415; 435
Personen- und Werkregister
Manuale 95–96; 102–103 Marcell von Ancyra 375, Anm. 267 Mardach, Eberhard ‒ ‚Sendbrief von wahrer Andacht‘ 21, Anm. 102 Marquard von Lindau 114, Anm. 169; 126, Anm. 219; 131, Anm. 241; 143, Anm. 293; 144, Anm. 297; 150, Anm. 327; passim Martin von Amberg 21, Anm. 103 Mechthild von Magdeburg 88, Anm. 62 Meditationes 95–96; 102–103 ‚Meister des Lehrgesprächs‘ 30, Anm. 145 Meister Eckhart siehe Eckhart von Hochheim ‚Meister Eckharts Wirtschaft‘ 21, Anm. 104 Merswin, Rulman 13; 23, Anm. 114; 57; 63; 191, Anm. 491; passim ‒ ‚Bannerbüchlein‘ 114, Anm. 169; 180, Anm. 446; 281; 283; 284, Anm. 838; 359, Anm. 201; 380 ‒ ‚Buch von den drei Durchbrüchen‘ 284; 332, Anm. 81 ‒ ‚Meisterbuch‘ 23; 28; 30, Anm. 145; 46; 69, Anm. 2 ‒ ‚Neun-Felsen-Buch‘ 119, Anm. 187; 202, Anm. 534; 269, Anm. 790; 301, Anm. 898; 305; 368, Anm. 240 Michael de Massa 20, Anm. 96 Miguel de Molinos 283, Anm. 833 Moses Maimonides 321, Anm. 39; 344, Anm. 134 Neander, Michael ‒ Theologia Bernhardi et Tauleri 192, Anm. 491 Nestorius 375; 376 Nider, Johannes 14, Anm. 75 ‚Niederrheinisches Augustinusbuch‘ 101, Anm. 120; 104 Nikolaus von Amsdorff 85, Anm. 56; 395, Anm. 40; 415, Anm. 147 Nikolaus von Straßburg 106, Anm. 141; 229, Anm. 634 Otmar, Silvan 3; 18, Anm. 89 Paulus von Tarsus 49, Anm. 229; 78; 83, Anm. 50; 85, Anm. 56; 113, Anm. 165; 157; 163; passim
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Pelagius 59; 95; 97; 98, Anm. 104; 101, Anm. 118; 170, Anm. 405; passim Petri, Adam 391, Anm. 26 Petri, Johannes 78, Anm. 35 Petrus Lombardus 145; 238, Anm. 663 Peuger, Lienhart ‒ Von der sel wirdichait vnd aigenschafft 29, Anm. 145; 139, Anm. 276; 111, Anm. 155; passim Pfeiffer-Sprüche ‒ 42 216 ‒ 44 327–328 ‒ 45 257 ‒ 53 153 Picardi von Lichtenberg, Johannes 333, Anm. 87 Platon 126, Anm. 217 Possidius 105, Anm. 135 Proklos 122–123; 126, Anm. 217 Pseudo-Albertus Magnus 21, Anm. 103 Pseudo-Engelhart von Ebrach ‒ ‚Buch der Vollkommenheit‘ 30, Anm. 145; 235; 351, Anm. 163 Pupper von Goch, Johannes 82, Anm. 46 Pürstinger, Berthold 412, Anm. 128 Ramminger, Melchior 391, Anm. 26 Rhau-Grunenberg, Johann 1, Anm. 3; 4, Anm. 14; 43; 84, Anm. 51; 390; 393, Anm. 34; 402, Anm. 81; 425 Rudolf von Biberach ‒ De septem itineribus aeternitatis 101, Anm. 120 Savonarola, Girolamo 107, Anm. 142 Scheurl, Christoph 395, Anm. 40; 413 ‒ Ein nutzbarliches büchlein von der entlichen volziehung ewiger fürsehung 389, Anm. 20; 401; 404, Anm. 88–90; 406, Anm. 98; 409, Anm. 110; 421 Schöffer, Peter 19, Anm. 94 Schreiber, Ursula 78, Anm. 37 ‚Schule des Geistes‘ 31, Anm. 145 ‚Schwester Katrei‘ 30, Anm. 145; 189, Anm. 481 ‚Sendbrief vom Betrug teuflischer Erscheinungen‘ 14; 20, Anm. 102; 45, Anm. 205
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Anhang
Sermones ad fratres in eremo 100; 104, Anm. 134 Seuse, Heinrich 22; 23, Anm. 114; 57; 58; 63; 74, Anm. 16; passim ‒ Predigt III 381 ‒ ‚Buch der Wahrheit‘ 15, Anm. 67; 150; 151; 168–169; 240, Anm. 667, 668; 284; passim ‒ ‚Büchlein der Ewigen Weisheit‘ 22, Anm. 107; 24, Anm. 121; 34; 364, Anm. 226; 379, Anm. 284; passim ‒ Vita (Der Súse) 180, Anm. 446; 193, Anm. 495; 236, Anm. 657, 658; 326; 382, Anm. 291; passim Soliloquia animae ad deum 95; 96, Anm. 90; 103; 104, Anm. 134 Spalatin, Georg 1; 6; 72; 80; 85, Anm. 56; 99, Anm. 105; passim ‚Spamers Mosaiktraktate‘ 30, Anm. 145 Speculum peccatoris 96; 101, Anm. 120; 103 ‚Spiegel der Seele‘ 30, Anm. 145; 109, Anm. 148; 112, Anm. 159; 131, Anm. 241; 139, Anm. 276; 153, Anm. 343; passim Steinbach, Wendelin 258, Anm. 745 Tauler, Johannes 1, Anm. 2; 2, Anm. 7; 6; 13; 28; 29; 31; 33–35; 39; 54; 57; passim ‒ Predigt V 1 134, Anm. 255; 139, Anm. 276; 201, Anm. 531; 327; passim ‒ Predigt V 3 201; 254 ‒ Predigt V 5 338 ‒ Predigt V 7 197, Anm. 515; 198 ‒ Predigt V 12 205; 290, Anm. 850; 306, Anm. 916 ‒ Predigt V 22 193, Anm. 497; 306, Anm. 916 ‒ Predigt V 23 183, Anm. 452; 197; 262, Anm. 763 ‒ Predigt V 32 198; 201, Anm. 532; 262, Anm. 763 ‒ Predigt V 36 199; 290, Anm. 850; 428, Anm. 208 ‒ Predigt V 37 202; 237; 369, Anm. 247; 381, Anm. 288 ‒ Predigt V 43 193; 194, Anm. 498; 235, Anm. 651; 289; passim
‒ Predigt V 44 202; 307, Anm. 920; 369, Anm. 247 ‒ Predigt V 46 193 ‒ Predigt V 47 196; 201, Anm. 532; 220, Anm. 603; 379, Anm. 284 ‒ Predigt V 48 114, Anm. 169; 202, Anm. 534; 237, Anm. 660; 283; 358, Anm. 200 ‒ Predigt V 55 194, Anm. 498; 195; 273, Anm. 802 ‒ Predigt V 60 333 ‒ Predigt V 64 22, Anm. 112; 122; 126, Anm. 217 ‒ Predigt V 67 194, Anm. 498; 196 Theodor von Mopsuestia 375 Theodoret von Kyros 375, Anm. 267 Thomas von Aquin 60, Anm. 264; 143; 151; 155; 169, Anm. 403; passim ‒ Summa contra Gentiles 149, Anm. 324; 353, Anm. 176; 375–376; passim ‒ Summa theologiae 111, Anm. 154; 112, Anm. 159, 160; 144–148; 165, Anm. 385; 348, Anm. 153; 376, Anm. 274; passim ‚Traktat von der Minne‘ 30, Anm. 145; 152, Anm. 336; 234, Anm. 649 ‚Traktat von der wirkenden und möglichen Vernunft‘ siehe Eckhart von Gründig Vinzenz von Beauvais 102, Anm. 120 Von abegescheidenheit 22; 30, Anm. 145; 164, Anm. 382; 241, Anm. 669; passim Von dem anefluzze des vater 31, Anm. 145; 135, Anm. 259; 332, Anm. 82 ‚Von dem Schauen Gottes durch die wirkende Vernunft‘ 30, Anm. 145; 143, Anm. 294 Von dem zorne der sêle 31, Anm. 145 Von den drîn fragen 22; 30, Anm. 145; 124; 168; 332, Anm. 81 Von den XII nutzen unsers herren lîchames 31, Anm. 145; 113, Anm. 163; 277, Anm. 815; passim Von der edelkeit der sêle (Der înslac) 31, Anm. 145; 131, Anm. 241; 138, Anm. 275, 276; passim Von der geburt des êwigen wortes in der sêle 133; 198, Anm. 521; 254
Personen- und Werkregister
Von der übervart der gotheit 31, Anm. 145; 110, Anm. 152; 113, Anm. 163; passim ‚Von Vollkommenheit‘ 31, Anm. 145 Vorsmak des êwigen lebennes 30, Anm. 145; 129; 243, Anm. 674; passim
Wilhelm von Ockham 257, Anm. 739; 258, Anm. 744 Zosimus (Papst) 207, Anm. 548 Zwingli, Huldrych 190, Anm. 488
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