Der flexible Mensch auf der Bühne: Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende [1. Aufl.] 9783839415573

Welchen kulturellen, ethischen und ökonomischen Stellenwert besitzen Arbeit und Familie in zeitgenössischen Lebensentwür

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German Pages 520 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Forschungsstand
1.3 Auswahl der Theatertexte
1.4 Methodisches Vorgehen und Gliederung
2. Debatten zum Sozialen im Theater der Jahrtausendwende
2.1 Die postdramatische Inszenierung des ‚Realen‘
2.2 Die ‚realistische‘ Dramatisierung der Wirklichkeit
3. Arbeit und Familie in der Tradition des sozialen Dramas
3.1 Bürgerliches Trauerspiel
3.2 Drama des Sturm und Drang
3.3 Drama des Naturalismus
3.4 Drama des Expressionismus
3.5 Kritisches Volksstück im 20. Jahrhundert
3.6 Arbeit und Familie in der Dramatik seit den 1990er Jahren
4. Das Individuum und das Soziale in Zeitdiagnosen
4.1 Klassiker der Individualisierungsthese
4.2 Signaturen der Individualisierung um die Jahrtausendwende
4.2.1 Kreative Konstruktionen individueller Lebensstile
4.2.2 Der flexible Mensch in Zeit und Raum
4.2.3 Die unternehmerische Erschaffung des Selbst
5. Arbeit im Theatertext
5.1 Arbeit als Spiel: Moritz Rinkes Republik Vineta
5.1.1 Poetik des Komischen
5.1.2 Auserwählte Führungskräfte
5.1.3 Vineta – Insel und Projekt
5.2 Arbeit a ls Zustand: Falk Richters Unter Eis
5.2.1 Dramaturgie der Gegenstimme
5.2.2 Die Omnipräsenz der Arbeit
5.2.3 Der Fall des überflüssigen Ichs
5.3 Arbeitsbeziehungen in Ausschnitten: John von Düffels Elite I.1
5.3.1 Dramaturgie des Ausschnitts
5.3.2 Raum- und Zeiterfahrungen der mobilen Elite
5.3.3 Körper im Zeichen des (Nicht-)Erfolgs
5.4 Arbeit als Selbstperformance: Kathrin Rögglas wir schlafen nicht
5.4.1 Ästhetik des Dokumentarischen
5.4.2 Die „peer group“ der Unternehmensberater
5.4.3 Das Zeitmanagement von Arbeitsjunkies und seine Folgen
5.5 Arbeitssubjekte im theoretischen Theatertext: René Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels
5.5.1 Polleschs Antitheatertexte
5.5.2 Die Theatralisierung von Theorie im Text
5.5.3 Arbeit an sich: Unternehmerische und künstlerische Potenziale des Individuums
5.5.4 Wohnräume, Arbeitsräume, Geschlechterräume
6. Familie im Theatertext
6.1 Familie auf dem Stationenweg: Lukas Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
6.1.1 Dramaturgie des ‚einfachen‘ Problemstücks
6.1.2 Die bürgerliche Familienordnung und ihre Überschreitung
6.1.3 Körper und Sexualität
6.2 Familiale (Gewalt-)Rituale: Marius von Mayenburgs Turista
6.2.1 Die künstliche Sprache der Zerstörung
6.2.2 Familienrituale und Familienordnung
6.3 Familie als Sprachspiel: Martin Heckmanns’ Kränk
6.3.1 Sprache in Bewegung
6.3.2 Der Generationenkonflikt als Sprachkonflikt
6.3.3 Familienordnung und Ökonomie
7. Abschließendes
8. Dank
9. Literatur
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Der flexible Mensch auf der Bühne: Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende [1. Aufl.]
 9783839415573

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Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne

Lettre

Christine Bähr (Dr. phil.) ist Akademische Rätin a.Z. im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Dramatik und Theater sowie kulturtheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft.

Christine Bähr

Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Christine Bähr Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1557-9

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung | 9 1.1 Fragestellung | 9

1.2 Forschungsstand | 17 1.3 Auswahl der Theatertexte | 25 1.4 Methodisches Vorgehen und Gliederung | 31 2.

Debatten zum Sozialen im Theater der Jahrtausendwende | 37

2.1 Die postdramatische Inszenierung des ‚Realen‘ | 39 2.2 Die ‚realistische‘ Dramatisierung der Wirklichkeit | 55 3.

Arbeit und Familie in der Tradition des sozialen Dramas | 71

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Bürgerliches Trauerspiel | 76 Drama des Sturm und Drang | 85 Drama des Naturalismus | 98 Drama des Expressionismus | 110 Kritisches Volksstück im 20. Jahrhundert | 116 Arbeit und Familie in der Dramatik seit den 1990er Jahren | 126

Das Individuum und das Soziale in Zeitdiagnosen | 145 4.1 Klassiker der Individualisierungsthese | 148 4.2 Signaturen der Individualisierung um die Jahrtausendwende | 159 4.2.1 Kreative Konstruktionen individueller Lebensstile | 159 4.2.2 Der flexible Mensch in Zeit und Raum | 172 4.2.3 Die unternehmerische Erschaffung des Selbst | 177 4.

5.

Arbeit im Theatertext | 187

5.1 Arbeit als Spiel: Moritz Rinkes Republik Vineta | 188 5.1.1 Poetik des Komischen | 194 5.1.2 Auserwählte Führungskräfte | 211 5.1.3 Vineta – Insel und Projekt | 221 5.2 Arbeit als Zustand: Falk Richters Unter Eis | 234 5.2.1 Dramaturgie der Gegenstimme | 239 5.2.2 Die Omnipräsenz der Arbeit | 251 5.2.3 Der Fall des überflüssigen Ichs | 258 5.3 Arbeitsbeziehungen in Ausschnitten: John von Düffels Elite I.1 | 265 5.3.1 Dramaturgie des Ausschnitts | 271 5.3.2 Raum- und Zeiterfahrungen der mobilen Elite | 283 5.3.3 Körper im Zeichen des (Nicht-)Erfolgs | 298 5.4 Arbeit als Selbstperformance: Kathrin Rögglas wir schlafen nicht | 306 5.4.1 Ästhetik des Dokumentarischen | 308 5.4.2 Die „peer group“ der Unternehmensberater | 315 5.4.3 Das Zeitmanagement von Arbeitsjunkies und seine Folgen | 320 5.5 Arbeitssubjekte im theoretischen Theatertext: René Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels | 335 5.5.1 Polleschs Antitheatertexte | 336 5.5.2 Die Theatralisierung von Theorie im Text | 342 5.5.3 Arbeit an sich: Unternehmerische und künstlerische Potenziale des Individuums | 355 5.5.4 Wohnräume, Arbeitsräume, Geschlechterräume | 365 6.

Familie im Theatertext | 381

6.1 Familie auf dem Stationenweg: Lukas Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern | 381 6.1.1 Dramaturgie des ‚einfachen‘ Problemstücks | 385 6.1.2 Die bürgerliche Familienordnung und ihre Überschreitung | 402 6.1.3 Körper und Sexualität | 410

6.2 Familiale (Gewalt-)Rituale: Marius von Mayenburgs Turista | 419 6.2.1 Die künstliche Sprache der Zerstörung | 422 6.2.2 Familienrituale und Familienordnung | 430 6.3 Familie als Sprachspiel: Martin Heckmanns’ Kränk | 435 6.3.1 Sprache in Bewegung | 436 6.3.2 Der Generationenkonflikt als Sprachkonflikt | 442 6.3.3 Familienordnung und Ökonomie | 446 7. Abschließendes | 453 8. Dank | 459 9. Literatur | 461

1. Einleitung

1.1 F RAGESTELLUNG „Arbeit ist Lifestyle.“1 In dieser Setzung kommt ein Verständnis von Arbeit zum Ausdruck, das seit der Jahrtausendwende in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten anzutreffen ist und als ein mit gesellschaftskritischem Potenzial ausgestattetes Sujet Eingang in die zeitgenössische Dramatik findet. Arbeit als Lebensstil zu begreifen, bedeutet, in der Arbeit nicht mehr nur allein Erwerbsarbeit, einen Opponenten zur freizeitlichen Lebensgestaltung, Mühsal und fremdbestimmtes Handeln zu sehen. Vielmehr gilt Arbeit als Ort individueller Selbstentfaltung und als zentraler Bezugspunkt der Identitätsbildung. Doch diese Art des Arbeitens ist alles andere als einfach zu bewerkstelligen. Sie stellt den Arbeitenden vielmehr vor neue Herausforderungen, die im historischen Rückblick einmalig sind: Er wird als Arbeitssubjekt selbst zur Aufgabe eines offenen Produktionsprozesses, dessen Endpunkt nicht greifbar ist. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Deregulierung des Arbeitsmarktes zum Ausgang des 20. Jahrhunderts etabliert sich eine postbürokratische Arbeitspraxis, die auf den ‚flexiblen‘ Menschen setzt. Als Voraussetzungen einer erfolgreichen Teilhabe an gesellschaftlich anerkannter Arbeit gelten nicht mehr allein fachliches Wissen und sachbezogene Fähigkeiten. Vielmehr gewinnt die Bereitschaft an Bedeutung, sich in kurzfristigen und projektförmigen Arbeitsstruk-

1

Alexander Meschnig: Unternehme Dich selbst! Anmerkungen zum proteischen Charakter, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 26-43, S. 28.

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turen zu engagieren und die eigene Persönlichkeit in die Arbeitsprozesse miteinzubringen. Zum Leitbild der neukapitalistischen Arbeitspraxis wird das sich selbst organisierende und kontrollierende Arbeitssubjekt, das als ‚Unternehmer seiner selbst‘ aufritt. Um die eigenen Chancen auf Arbeit zu sichern, ist es demnach erforderlich, sich einerseits den Anforderungen des Marktes anzupassen und sich andererseits als innovative und individuelle ‚Marke‘ zu entwerfen. Zu einem zentralen Aspekt der Arbeit wird damit der Akt der Selbststilisierung, der letztlich auf den ‚ganzen‘ Menschen zielt. Die Trennung von Arbeit und Leben, die in fordistisch organisierten Arbeitsstrukturen Gültigkeit besitzt, unterliegt in der postfordistischen Arbeitskultur einem auf Dauer gestellten Prozess der zeiträumlichen Entgrenzung und Subjektivierung. Die Selbstinszenierung als dynamisches und kreatives Arbeitssubjekt korrespondiert mit der Entdifferenzierung zwischen Arbeit und Privatleben und stellt damit auch die Alltagspraxis des Familienlebens unter veränderte Vorzeichen. Wenngleich in der Zeit um die Jahrtausendwende flexible Arbeitsformen keineswegs ausschließlich die soziale Praxis der Arbeit bestimmen, so gewinnen sie doch im Kontext der sogenannten New Economy an zunehmender Verbreitung und öffentlicher Aufmerksamkeit. Dabei ist festzustellen, dass parallel zu der gesellschaftlichen Bedeutung der Wirtschaft und deren Vernetzung mit soziokulturellen Zusammenhängen auch die Literatur und das Theater das Sujet der Arbeit für sich entdecken.2 Zum Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung wird die Beobachtung, dass sich die Dramatik3 um die Jahrtausendwende verstärkt dem sozialen Feld der Arbeit zuwendet und entsprechend auch dessen traditionelles Pendant, den Lebensraum der Familie in den Fokus nimmt. Der gelegentlich geäußerten These4 zum

2

Vgl. Christoph Deupmann: Narrating (new) Economy: Literatur und Wirtschaft um 2000, in: Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld 2008, S. 151-161, S. 152.

3

Der Begriff ‚Dramatik‘ wird als literaturwissenschaftliche Bezeichnung für die eine der drei Großgattungen verwendet. Ihm zugeordnet werden sowohl dramatische als auch nicht dramatische Theatertexte.

4

Ulrike Horstenkamp-Strake konstatiert 1995 das „Ende des Familiendramas“ und schlägt vor, stattdessen vom „Ehedrama“ oder „Beziehungsdrama“ zu sprechen. Der Niedergang des Familiendramas ist, so Horsten-

1. E INLEITUNG

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Abschied der Gegenwartsdramatik von der Familie ist entgegenzuhalten, dass familiäre Beziehungen gleich in welcher Erscheinungsform nach wie vor zu einem der populärsten Themen auf der Bühne gezählt werden können. In den zeitgenössischen Theatertexten der Jahrtausendwende wird die Familie ebenso wie die Arbeit als ein Thema aufgegriffen, von dem jede und jeder, auf Seite der Produzenten wie auf Seite der Rezipienten, individuell und persönlich ‚betroffen‘ ist und das demzufolge als Gegenstand eines gesellschaftlich interessierten Theaters behauptet werden kann. Die ästhetische Vermittlung von Arbeit und Familie im Theatertext reflektiert, so die These, die neuen Bedingungen, die veränderten Möglichkeiten und die flexiblen Grenzen, die in den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Individuen für eine individuelle Lebensgestaltung und den Status sozialer Zugehörigkeit kennzeichnend sind, jedoch im modernen Arbeitsleben verschwiegen werden. Dabei zeigt sich, dass die Konzentration auf die traditionsreichen Themen Arbeit und Familie keineswegs mit einer Absage an ästhetische Formexperimente einhergeht. Es lässt sich zwar im Vergleich mit der Dramatik der 1980er Jahre von einer tendenziell stärkeren Beachtung von Handlung im Theatertext sprechen. Dennoch ist kaum abzustreiten, dass die um die Jahrtausendwende geführte Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Postdramatischen, die allem voran in der 1999 veröffentlichten Studie Postdramatisches Theater5 von Hans-Thies Lehmann einen viel beachteten Anknüpfungspunkt findet, die Reflexion auf die dramatische Form erneut vorantreibt. Mit der Abkehr vom Text als Spielvorlage und der Hinwendung zu Spielformen, die das Moment des Performativen in den Vordergrund rücken, werden im postdramatischen Theater Bedeutung tragende Zusammenhänge, wo nicht gänzlich aufgekündigt, so doch zugunsten

kamp-Strake, einem veränderten Geschlechterverhältnis zuzuschreiben, das durch eine wachsende Gleichberechtigung und die Aufwertung der Paarbeziehung gegenüber der Elternschaft gekennzeichnet ist. (Vgl. Ulrike Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“ Autorität und Familie im deutschen Drama, Frankfurt/ Main u.a. 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 1506), S. 226 u. S. 228f.). 5

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999.

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theatraler Selbstreflexivität fragmentiert. In der forcierten theaterbezogenen Selbstverständigung tritt an die Stelle einer repräsentierenden Darstellung von sozialen und politischen Gegenständen ein veränderter Zeichengebrauch, der die Formen von Wahrnehmung selbst als politische ausweisen soll.6 Dabei verliert insbesondere das gesprochene Wort gegenüber dem Akt und der Weise des Sprechens und gegenüber den ‚Mitteilungen‘ des Körpers an Bedeutung.7 Im Ensemble der theatralen Mittel nimmt der Körper als Medium des Sinnlichen eine herausragende Position ein. Allerdings vermag die Fokussierung auf den individualisierten Körper nicht allein die Selbstreferentialität des Theaters auszudrücken. Der Körper fungiert auch als das Zeichen, das die Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen anstoßen kann, denn er lässt sich als männlich oder weiblich, dick oder dünn, sportlich oder ungelenk, schön oder hässlich, gesund oder krank wahrnehmen und steht für Erfolg, Attraktivität und Reichtum oder das Gegenteil. Die körperliche Repräsentation des Sozialen, die in der Selbstreferentialität der postdramatischen Spielformen angelegt ist, lässt sich nur idealiter konsequent verdrängen. Auch postdramatisches Theater findet nicht nur als ein soziales Ereignis statt, in dem Akteure auf Rezipienten treffen oder Rezipienten zu Akteuren werden, sondern es verhält sich auch zu gesellschaftlichen Ereignissen und verhandelt soziale Themen. Das produktive Ineinandergreifen von postdramatischer Ästhetik und gesellschaftspolitischer Reflexion lässt sich nahezu paradigmatisch am Beispiel des Theaters von René Pollesch nachvollziehen, dessen Stück Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels zum Korpus der in der vorliegenden Untersuchung analysierten Theatertexte zählt. In Abgrenzung zur prononciert formalästhetischen Verhandlung von Gegenwartsfragen im postdramatischen Theater bekennt sich das Theater des sogenannten ‚Neuen Realismus‘, für das allem voran die Berliner Schaubühne unter Leitung von Thomas Ostermeier Pate steht, explizit zur Darstellung sozialer Inhalte, die in erster Linie auf der Auseinandersetzung mit Dramatik, insbesondere der zeitgenössischen, basiert. Im Anschluss an die Rezeption junger britischer Dramatik lässt sich seit Mitte der 1990er Jahre sowohl ein wachsendes Interesse an

6

Hans-Thies Lehmann konstatiert knapp: „Politik des Theaters ist Wahr-

7

Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 384.

nehmungspolitik“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 469).

1. E INLEITUNG

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sozialkritischen Sujets als auch eine zunehmende Nachfrage nach Theatertexten sowie nach Nachwuchsautorinnen und Nachwuchsautoren beobachten. Die Adressierung des Autors als eine zentrale Instanz des theatralen Prozesses, die Aussagen zur sozialen ‚Wirklichkeit‘ formuliert, geht einher mit der Favorisierung von ‚realistischen‘ Geschichten und einer neuen Hochzeit des Erzählens im Theater. In ihrem Rückblick auf die Dramatik der 1990er Jahre hält die Autorin Simone Schneider 1999 fest: […] [W]ährend das deutsche Feuilleton noch vergebens das „Zeitstück“ suchte, bestückte die neue Dramatik ihre Bühnen längst mit eigenwilligen Werken, poetisch populär, schillernd zwischen Botho Strauß und Mickey Mouse. Jenseits des großen Weltentwurfs schärften die neuen Stücke den Blick auf die Vielfältigkeit von Welt. Statt Geschichte wurden Geschichten gezeigt, Menschen in ihrer Unmittelbarkeit, die „Hunde-Jule“, der „Ofen-Wolf“ oder „Michel“ und „Mania“, auf der Treppen [sic!] sitzend, nichts als glücklich und geschlagen in den Provisorien unserer Zeit. Entgegengesetzt der „avantgardistischen Moderne“, mit Lust an Dialog, Fabel und Figur zog Lebensweltlichkeit ins deutschsprachige Drama.8

Im Zuge der Reformulierung einer realistischen Ästhetik durch die zeitgenössische Dramatik gilt die Aufmerksamkeit auf inhaltlicher Ebene dem Privaten und dem Lebensalltag. Ausgeleuchtet werden hierin milieubedingte und geschlechtliche Macht- und Gewaltbeziehungen, wobei insbesondere die Darstellungen von Einzelschicksalen und (Schicksals-)Gemeinschaften insbesondere die Erfahrungsdimension des psychischen und körperlichen Leidens herauspräparieren. Die Entwürfe von Figuren, Handlungen und Situationen folgen dabei weniger psychologischen Erklärungsmustern, sondern greifen vielmehr auf Mittel der Übertreibung, Stilisierung und auch Poetisierung zurück, wie etwa in den Theatertexten Sarah Kanes oder Marius von Mayenburgs anschaulich wird.

8

Simone Schneider: Passende Worte. Ein Bericht, in: Theater der Zeit 54 (1999) H. Mai/Juni, S. 30-31, S. 31. Von den zitierten Figuren stammen die ersteren beiden aus Dea Lohers Inzestdrama Tätowierung (UA 1992) und die letzteren beiden aus Simone Schneiders Ost-West-Farce Malaria (UA 1998).

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Die Fokussierung sozialkritischer Themen auf dem Theater korreliert zwar mit einer Wiederentdeckung des Autors und weiter mit einer erneuten Hinwendung zum dramatischen Schreiben, doch ist mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf das Soziale keineswegs die Präferenz einer spezifischen dramatischen Form zu erkennen. Vielmehr ist eine vielfältige Variation im Umgang mit Elementen des Dramatischen festzustellen, die immer wieder auch mit Formen des Postdramatischen verbunden werden. In der vorliegenden Studie sollen die beiden ästhetischen Positionen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Gegenteil wird nach dem Ineinandergreifen von dramatischen und postdramatischen Darstellungsmitteln und -modi im Theatertext gefragt, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Aktualisierung von Raum-, Zeit- und Körperentwürfen gerichtet werden soll. Es versteht sich allerdings von selbst, dass diesbezüglich nicht jeder der für diese Arbeit ausgewählten Theatertexte in gleichem Maße ergiebig ist. Die im Analyseteil dieser Studie behandelten Theatertexte zeichnen sich durch das Merkmal der Genre- und Sprachhybridität aus. Der Fokus der Analysen wird demgemäß nicht ausdifferenziert durch die Beobachtung, dass die dramatische Form im Theatertext auch angesichts einer postdramatischen Theaterästhetik fortbesteht und dass dies in enger Verbindung mit einem Interesse am Sozialen einhergeht. Richtungsweisend für die Lektüren ist vielmehr die Frage danach, mit welchen Formen des Dramas die Theatertexte der Jahrtausendwende architextuelle Verknüpfungen eingehen und durch welche sprachlichen und theaterästhetischen Formen sie die Tradition des sozialen Dramas aufnehmen und transformierend weiterführen. Die Kontextualisierung der ausgewählten Theatertexte durch die Gattungstradition des sozialen Dramas begründet sich entsprechend durch die inhaltlichen Akzente ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ und weniger durch formalästhetische Aspekte. Der Rekurs auf die Tradition des sozialen Dramas, die vom bürgerlichen Trauerspiel über die naturalistische Dramatik bis zum kritischen Volksstück reicht, aber auch die Bezugnahme auf weitere Genres, etwa die Komödie, die Tragödie oder das Zeitstück, stellen den Rückgriff auf ein Formenrepertoire dar, das die Stilmittel für eine individuelle Textgestaltung und Ausgestaltung der Darstellung von Arbeit und Familie bereithält. Welche Merkmale den sozialen Feldern Arbeit und Familie in der Dramatik um die Jahrtausendwende zugeschrieben werden, zeichnet sich zum einen auf der Folie der Arbeits- und Familienrepräsentatio-

1. E INLEITUNG

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nen in der Tradition des sozialen Dramas ab. Zum anderen erhalten die literarischen Darstellungen Kontur durch ihre Beziehungen zu Aussagen der zeitdiagnostischen Diskurse zu Arbeit und Familie. Mit anderen Worten, die Textlektüren arbeiten die Zeitgenossenschaft der Theatertexte heraus. Signifikanterweise lässt sich in diesem Zusammenhang insbesondere bei den Texten zum Thema ‚Arbeit‘ eine Tendenz zu einer Ästhetik des Dokumentarischen feststellen. Zwar lässt sich nicht von einem Wiederaufleben des Dokumentardramas klassischer Couleur sprechen, das mit Namen wie Peter Weiss, Rolf Hochhuth und Heinar Kipphardt assoziiert ist. Jedoch kann die Beobachtung, die der Theaterkritiker Thomas Irmer 2003 für das „vor allem“ in der freien Szene entwickelte „neue Dokumentartheater“ anstellt, durchaus auch als Kommentar zur Präsenz des Dokumentarischen in der ‚jungen‘ Dramatik um die Jahrtausendwende gelesen werden. Irmer stellt fest: Die neunziger Jahre, in denen sich der sozialwissenschaftliche Theorieschub früherer Jahrzehnte geradezu entgrenzte, haben eine nie gekannte junge Sachbuchleserschaft hervorgebracht, die mit dieser kritischen Bildung lange schon auch ins Theater geht. Diese Zuschauer bringen nicht bloß das Wissen von Fakten mit, sondern den reflektierten Umgang mit ihnen, das Wissen um Konstruktionen, verdichteten [sic!] Theoriewirklichkeiten, immer wieder zu prüfenden [sic!] Interpretationen, eine Fähigkeit, Konstruktionen gegen Konstruktionen zu halten und dabei Geschichte als Geschichten auszuwerten.9

Die Gegenwartsdramatik zu Arbeit und Familie reflektiert die Popularität sozialwissenschaftlicher Thesen und Terminologien nicht nur, sondern überbietet sie zum Teil auch. Darauf verweist allem voran die ausgiebige Nutzung von Fachsprachen, wobei gerade das Vokabular des ökonomischen Diskurses oder genauer: des arbeitsorganisatorischen Diskurses die Gestaltung der Figurenrede prägt. Vorgeführt wird in Texten wie in Falk Richters in Unter Eis und René Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels die Diffusion von Alltags- und Spezialistendiskurs, die – bei aller (wirkungs-)ästhetischen

9

Thomas Irmer: Recherchen reflektierter Gegenwart. Die Rückkehr des Dokumentartheaters zu anderen Bedingungen, in: Theater der Zeit 58 (2003) H. 4, S. 30-31, S. 31.

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Differenz der genannten Beispiele – mittels poetischer und theatraler Sprach- und Formelemente kritisch reflektiert wird. Wie sich im Vergleich von Arbeits- und Familientheatertexten zeigt, setzen sich Erstgenannte – an Sprache, Aussagen und Situationen der Figuren – erkennbar offensiver mit den Veränderungen im Normalarbeitsverhältnis und ihren Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Individuums auseinander. Die Familientheatertexte bleiben demgegenüber in der Auseinandersetzung mit dem sozialwissenschaftlich diagnostizierten Wandel der sogenannten ‚Normalfamilie‘ und des Familienalltags vergleichsweise zurückhaltend. Im Vergleich zur Arbeitsdramatik thematisieren die Familienstücke den zeitdiagnostisch beobachteten Wandel im familiären Alltag, der sich etwa durch eine zeiträumliche Deregulierung oder durch Veränderungen im geschlechtsspezifischen Rollenverständnis begründen lässt, tendenziell weniger kritisch. In den Arbeitsstücken werden die als ‚Globalisierung‘ und ‚Individualisierung‘ gefassten Prozesse in ihren Folgen für das alltägliche (Arbeits-)Leben, für das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben wie auch für das Selbstverständnis des Individuums reflektiert. Bei ihrer Darstellung des arbeitenden beziehungsweise arbeitslosen Individuums greifen die hier untersuchten Theatertexte unter anderem Richard Sennetts Thesen zum ‚flexiblen Menschen‘ und ‚neuen Kapitalismus‘ auf und setzen sich mit der im zeitdiagnostischen Diskurs verankerten Rede vom Arbeitssubjekt als ‚Unternehmer seiner selbst‘ auseinander. Zu den populärsten Figuren in der gesamten neueren Arbeitsdramatik zählen entsprechend Manager, Unternehmensberater und Beschäftigte im Sektor der Kommunikations- und Informationsbranche. Gleichwohl ist das Spektrum der Erwerbstätigen in der Arbeitsdramatik der Jahrtausendwende denkbar breit angelegt. Es reicht von Billiglohnarbeitern (Mit dem Gurkenflieger in die Südsee von Christoph Nußbaumeder, UA 2005) über Sozialarbeiter (Kaspar Häuser Meer von Felicia Zeller, UA 2008) bis hin zu Börsianern (Erreger von Albert Ostermaier, UA 2000).10

10 Christoph Nußbaumeder: Mit dem Gurkenflieger in die Südsee, in: Spectaculum 77. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2006, S. 117-151. Felicia Zeller: Kaspar Häuser Meer, in: Theater heute 49 (2008) H. 11, Beilage, S. 1-12. Albert Ostermaier: Erreger, in: Albert Ostermaier: Erreger. Es ist Zeit. Abriss. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2002, S. 7-44.

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Leitbild der Darstellung familiärer Beziehungen in den Familiendramen, und dieser Befund ist von einem eigenen, allerdings soziologischen Interesse, bleibt nach wie vor die (zumeist vierköpfige) Kleinfamilie. Abweichungen von dieser Konstellation werden in den hier analysierten Familiendramen angedeutet, bestimmen allerdings nur im Fall von Martin Heckmanns’ Kränk die zentrale Konfliktdramaturgie. Darüber hinaus spielt die Verbindung von Arbeits- und Familienalltag aus Perspektive der Familienstücke eine weitestgehend marginalisierte Rolle. Zwar bilden Berufstätigkeit und Beruf durchaus zwei wichtige Größen in der Aushandlung familiärer (Geschlechter-)Beziehungen. Jedoch steht auch im Familienstück der Jahrtausendwende die Frage nach der Emanzipation aus den Abhängigkeitsstrukturen der Familie und nach den Bedingungen individueller Selbstbestimmung im Vordergrund. Die vorliegende Studie wird die literaturwissenschaftliche Forschung zur Gegenwartsdramatik um einen neuen Untersuchungsschwerpunkt erweitern. Sie geht der Frage nach, welche Darstellungen von Arbeit und Familie in den zwischen den Jahren 2000 und 2005 uraufgeführten deutschsprachigen Theatertexten anzutreffen sind und welche Bezüge zu zeitdiagnostischen Thesen, allem voran aus den Sozialwissenschaften, die Theatertexte herstellen. Darüber hinaus sucht die Studie zeitgenössische Formen des Schreibens fürs Theater zu erfassen, wobei insbesondere die Anschlüsse an die Tradition des sozialen Dramas sowie das Ineinandergreifen von dramatischen und postdramatischen Formelementen in den Blick genommen werden. Der folgende Überblick über die Forschung zur zeitgenössischen Dramatik seit den 1990er Jahren soll die wissenschaftliche Positionierung der vorliegenden Untersuchung weiter profilieren.

1.2 F ORSCHUNGSSTAND Eine Antwort auf die Frage, welche Resonanz die deutschsprachige Dramatik um die Jahrtausendwende in der Forschung hervorruft, fällt je nach Blickwinkel und Fokus denkbar verschieden aus.11 Die hier

11 Der im Folgenden angeführte Forschungsstand berücksichtigt die Fachliteratur, die bis Januar 2010, dem Abschluss der Promotion, erschienen ist.

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vorliegende Untersuchung geht von der Beobachtung aus, dass sich weit mehr Publikationen nach wie vor den Theatertexten etablierter und kanonisierter Autorinnen und Autoren widmen als denjenigen einer auf den deutschsprachigen Bühnen erfolgreichen ‚jüngeren‘ Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern. Abseits einer institutionell begründbaren zeitlichen Verzögerung wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur im Allgemeinen mag dies im Besonderen einer nicht selten anzutreffenden Einschätzung in Rechnung zu stellen sein, derzufolge die Theatertexte des Dramatikernachwuchses vielfach zu wenig komplex und nicht so ‚dicht‘ wie die Klassiker oder allein für den schnellen Gebrauch – als Reaktion auf eine theatermarktbedingte Nachfrage – produziert seien. Die letztgenannte Annahme berührt dabei zum einen ein Problem, das nicht allein Theatertexte, sondern auch den Theaterbetrieb insgesamt betrifft, wenn dieser für sich, allem voran zur Sicherung seiner gesellschaftspolitischen Relevanz, den Anspruch erheben will und soll, tagespolitische Themen zu verhandeln. Zum anderen suchen auch im (literatur-)wissenschaftlichen Diskurs arrivierte Dramatikerinnen und Dramatiker ihre Texte möglichst zeitnah zu aktuellen Diskussionen auf die Bühne zu bringen. Im April 2009 etwa legt Elfriede Jelinek „pünktlich zur Krise“12 ihre Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns13 vor, die in einer Koproduktion von Schauspiel Köln und Thalia Theater Hamburg in der Regie von Nicolas Stemann zur „sofortigen“14 Uraufführung ge-

Zu den jüngeren Publikationen, die nicht detailliert in die Diskussion einbezogen werden konnten, zählen unter anderem Katharina Pewnys aufschlussreiche Studie über das Prekäre im Gegenwartstheater (Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld 2011) und Ljubinka Petrovic-Ziemers Untersuchung zur Körperlichkeit im Gegenwartsdrama (Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik, Bielefeld 2011). 12 Franz Wille: Das große Wir, in: Theater heute 50 (2009) H. 6, S. 20-23, S. 22. 13 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie, in: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 207-348. 14 Joachim Lux in Elfriede Jelinek, Joachim Lux: Geld oder Leben! Das Schreckliche ist immer des Komischen Anfang. Elfriede Jelinek im Email-

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bracht wird. „Man müsste“, kommentiert Jelinek, „überhaupt eine schnelle Theater-Eingreiftruppe haben, die auf solche Ereignisse immer rasch eingehen kann“.15 Die Forschung zur deutschsprachigen Dramatik seit den 1990er Jahren, die sowohl in der Literatur- als auch in der Theaterwissenschaft angesiedelt ist, lässt sich zunächst in zwei Rubriken einteilen: Auf der einen Seite liegt der Akzent auf der Frage nach dem Umgang mit der dramatischen Form und dem Verhältnis von Text und Theater, auf der anderen Seite wird der Schwerpunkt auf die in den Stücken verhandelten Themen gesetzt. Die vorliegende Arbeit ist der letztgenannten Gruppe zuzuordnen. Im Folgenden werden diejenigen Forschungsbeiträge vorgestellt, die für die Thematik der vorliegenden Studie einschlägige Relevanz besitzen. Für die Diskussion um die Voraussetzungen und Formen zeitgenössischer Dramatik ist die 1997 publizierte Arbeit von Gerda Poschmann Der nicht mehr dramatische Theatertext16 einschlägig. Poschmann geht von der Beobachtung aus, dass die Eigenschaft von Theatertexten, dramatisch zu sein, nicht mehr fraglos vorausgesetzt werden kann. In den Fokus rückt Poschmanns Arbeit mithin auch den veränderten Status des Textes in der szenischen Aufführungspraxis, in der Text und Sprache zunehmend nur noch als Material und als ein mit anderen theatralen Mitteln gleichgestelltes Element eingesetzt werden. Um den „undramatischen“ Texten analytisch gerecht zu werden, entwickelt die Theaterwissenschaftlerin ein gegenüber der Terminologie der klassischen Dramentextanalyse verändertes Begriffsinstrumentarium und plädiert für die Lektürepraxis der sogenannten dramaturgischen Analyse. Poschmann trifft dabei etwa die Unterscheidung zwischen „Texttheatralität“ und „szenischer Theatralität“, um der Eigenschaft eines für die Bühne geschriebenen Textes zu entsprechen, „theatrale Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung [zu stellen],

Verkehr mit Joachim Lux, in: Programmheft zu „Die Kontrakte des Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek, Schauspiel Köln, Spielzeit 2008/2009, S. 3-6, S. 3. 15 Elfriede Jelinek in Jelinek, Lux: Geld oder Leben!, S. 3. 16 Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997 (Theatron, 22).

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die er selbst nicht besitzt“.17 In der vorliegenden Untersuchung wird von Poschmann der Begriff des „Theatertextes“ übernommen. Dieser dient als Oberbegriff für dramatische und nichtdramatische Texte und unterstreicht den doppelten Charakter des ‚Dramas‘, zugleich für die theatrale Aufführung und für die Lektüre bestimmt zu sein. Die Frage nach dem Verhältnis von ‚Drama‘ und ‚Theatertext‘ fokussiert der von Hans-Peter Bayerdörfer im Jahr 2007 herausgegebene Sammelband Vom Drama zum Theatertext?18. Auch der Herausgeber plädiert für eine „erweiterte literarische Analyse“, die nicht nur dramatische, sondern auch „anti- oder a-dramatische Schreibweisen“ zu erfassen sucht.19 Der Band eröffnet entsprechend ein weites Spektrum europäischer Gegenwartsdramatik, die in erster Linie durch Einzelanalysen zu Theatertexten so unterschiedlicher Autorinnen und Autoren wie Péter Esterházy, Rainald Goetz, Elfriede Jelinek, Katharina Schlender und Tim Staffel beleuchtet wird. Von hervorgehobenem Interesse für die hier vorgelegten Textlektüren zu Arbeit und Familie sind die beiden Forschungsbeiträge zu Theatertexten von Lukas Bärfuss, die einmal von Thomas Bühler auf den Gegenwartsbezug von Alices Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom und einmal von Katharina Keim auf die Frage nach den „Glaubensfragen im zeitgenössischen Religionsdrama“ am Beispiel von Der Bus. Das Zeug einer Heiligen hin untersucht werden.20 Da-

17 Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 42. 18 Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52). 19 Hans-Peter Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 1-14, S. 5. 20 Thomas Bühler: Die Praxis schlägt zurück. „Alices Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom“ von Lukas Bärfuss, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 4351; sowie Katharina Keim: Seltsame Heilige, gottverlassene Gläubige. Glaubensfragen im zeitgenössischen Religionsdrama: Lukas Bärfuss’ „Der

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rüber hinaus sind auch Dag Kemsers Aufsatz zu Falk Richters Unter Eis und Kathrin Rögglas wir schlafen nicht, der sich mit deren Ästhetik des Dokumentarischen befasst, sowie Nikolaus Freis Ausführungen zur Tragödie in Marius von Mayenburgs Dramatik von einschlägigem Interesse für die hier vorgelegten Textanalysen.21 Auch der Sammelband von Stefan Tigges, Dramatische Transformationen22, fragt nach den theoretischen und praktischen Beziehungen zwischen einer postdramatischen Theaterästhetik und einer (nicht mehr) dramatischen Schreibpraxis. Der Band führt literatur-, theaterund medienwissenschaftliche Perspektiven auf das Gegenwartstheater zusammen und anhand einer Reihe von Theatertexten zeitgenössischer Dramatikerinnen und Dramatiker „junge Schreibstrategien“ vor. Für die vorliegenden Theatertextlektüren sind unter anderem der Aufsatz von Peter Michalzik zu Dramen für ein Theater ohne Drama, in dem er als Reaktionen des Dramas auf seine Marginalisierung „eine Art von Spezialisierung“ wie auch Formen des „Rückzugs“ erkennt, sowie Diedrich Diederichsens Abhandlung zu René Polleschs theorieorientierter Theaterarbeit von besonderem Interesse.23

Bus. Das Zeug einer Heiligen“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 86-94. 21 Dag Kemser: Neues Interesse an dokumentarischen Formen: „Unter Eis“ von Falk Richter und „wir schlafen nicht“ von Kathrin Röggla, in: HansPeter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 95-102; sowie Nikolaus Frei: Psychotischer Held und die Metaphysik des Banalen. Marius von Mayenburg und die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Zeit, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 64-75. 22 Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008. 23 Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen

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Gegen die These einer Verdrängung dramatischer Texte von den deutschsprachigen Bühnen wendet sich Nikolaus Freis literaturwissenschaftliche Studie Die Rückkehr der Helden24 aus dem Jahr 2006. Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei dem sogenannten „postdramatischen Theater“ um „kein neues Phänomen“ handele, verfolgt Freis Untersuchung das Ziel, die „Überlebensfähigkeit“25 der dramatischen Form darzustellen und die Existenz einer dramatischen Theaterliteratur, einer „genuine[n] Dramatik“26, nachzuweisen. Den Fokus seiner Theatertextanalysen richtet Frei dabei auf das Vorhandensein dramatischer Konflikte, mit dem die „Rückkehr der Helden“ einhergehe. Als Gegenstand seiner Lektüren wählt Frei Theatertexte von insgesamt sieben zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, wobei sich der Untersuchungszeitraum über die Jahre 1994 bis 2001 erstreckt. Freis Auseinandersetzung mit den Diskussionen um eine postdramatisches Theater sowie um die Ästhetik eines ‚Neuen Realismus‘ an der neuen Schaubühne in Berlin sind für die vorliegende Studie ebenso relevant wie seine Lektüren zur Dramatik von Marius von Mayenburg und Moritz Rinke. Ein Plädoyer für ein dramatisches Drama27 hält auch die Theaterwissenschaftlerin Birgit Haas. In ihrer Studie, die als „Gegenrede zu Lehmanns ‚postdramatischem Theater‘“28 konzipiert ist, hinterfragt Haas die Begriffe des postdramatischen und ‚postbrechtschen‘ Theaters, indem sie sich der Debatte um das Gegenwartstheater aus dem Blickwinkel verschiedener ästhetischer Positionen, etwa der Ästhetik des Erhabenen, der Ästhetik Adornos oder der Ästhetik Sartres, nähert. Haas’ Thesen gegen das von Lehmann behauptete Paradigma des Postdramatischen werden in der vorliegenden Studie im Abschnitt zu

Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42; sowie Diedrich Diederichsen: Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 101-110. 24 Frei: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994–2001), Tübingen 2006 (Forum Modernes Theater, 35). 25 Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 16. 26 Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 13. 27 Birgit Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007. 28 Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 11.

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den Theaterdebatten der Jahrtausendwende diskutiert. An ihre theater-, kunst- und dramentheoretischen Überlegungen schließt Haas einen Überblick über die deutsche zeitgenössische Dramatik an, die sie aufgeteilt sieht in die Gruppe der Brecht- und Sartre-Nachfolger und in die Gruppe der Ibsen- und Strindberg-Nachfolger. Zur ersteren zählt Haas Autorinnen und Autoren wie Dea Loher, Oliver Bukowski und Roland Schimmelpfennig, in letztere ordnet sie unter anderem Lutz Hübner, Anja Hilling und Lukas Bärfuss ein. Der These von der Rückkehr beziehungsweise vom Fortbestand der Dramatik entspricht die Beobachtung eines Autorenbooms im Theater. Dass es sich bei der wachsenden Nachfrage nach Dramatikerinnen und Dramatikern keineswegs nur um ein Phänomen der deutschsprachigen Theaterszene handelt, sondern diese eine europäische Dimension besitzt, ist ein Befund, den der von Friedemann Kreuder und Sabine Sörgel herausgegebene Sammelband Theater seit den 1990er Jahren29 liefert. Die Wiederkehr des Autors sehen Kreuder und Sörgel dabei mitbegründet in den „Momenten kultureller Identitätskrisen“, die nicht zuletzt auf eine nach 1989 hegemonial auftretende Globalisierung zurückzuführen seien.30 Die zum Ausgang des 20. Jahrhunderts anwachsende theateröffentliche Beachtung der Dramatik geht einher mit einer stärkeren Konzentration auf Themen und Stoffe. In der wissenschaftlichen Forschung lassen sich bislang allerdings erst wenige systematische Untersuchungen zu thematischen Schwerpunkten finden. Eines der zentral verhandelten Themen stellt die Frage nach einer dramatischen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen von 1989, die etwa von Birgit Haas’ anthologisch angelegter Studie Theater der Wende – Wendetheater31 aufgegriffen wird und die Dag Kemsers instruktive Arbeit zu

29 Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext, unter Mitarbeit von Pamela Schäfer, Tübingen 2008 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 39). 30 Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel: Einleitung, in: Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext, unter Mitarbeit von Pamela Schäfer, Tübingen 2008 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 39). S. 7-17, S. 7. 31 Birgit Haas: Theater der Wende – Wendetheater, Würzburg 2004.

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„Zeitstücke[n] zur deutschen Wiedervereinigung“32 diskutiert. Um den thematischen Schwerpunkt der ‚sozialen Geschichten‘ in der Dramatik seit den 1990er Jahren hat sich Franziska Schößler unter anderem in ihrer Studie Augen-Blicke33 verdient gemacht und damit die Fragestellung vorangetrieben. Schößler kontextualisiert die Theatertexte, die sie den „soziale[n] Geschichten“ zuordnet und die sich mit „Familiendesaster[n]“ und „Arbeitslosigkeit“ – so die entsprechenden Kapiteltitel – beschäftigen, mit den Themen „Erinnerung“ und „Mythos“, unter die die Dramatik beispielsweise von Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, Botho Strauß, Peter Handke und Albert Ostermaier fällt. Eine der grundlegenden Fragen der Studie beschäftigt sich damit, inwieweit die Dramatik die Codierung des gesellschaftlichen Feldes der 1990er Jahre reflektiert.34 Schößlers Theatertextlektüren legen explizit den Akzent auf Anschlüsse an zeitgenössische Theoreme der Literatur- und Kulturwissenschaft und nicht auf Formanalysen.35 Die unter den „sozialen Geschichten“ subsumierten Theatertexte stammen überwiegend aus der Feder von Autorinnen und Autoren, die ihr Theaterdebüt in den 1990er Jahren feierten, und werden von Schößler in die Tradition des sozialen Dramas gestellt.36 Aufschlussreiche Textlektüren legt Schößler mit ihrer Studie unter anderem zu Wilfried Happels Das Schamhaar und Mordslust, zu John von Düffels Oi und Rinderwahnsinn, Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot sowie zu Arbeitslosendramen wie Londn – L.Ä. – Lübbenau von Oliver Bukowski, Erreger von Albert Ostermaier und Täglich Brot von Gesine Danckwart vor. Es sind insbesondere Schößlers Studien zum sozialen Drama seit den 1990er Jahren, denen sich die vorliegende Untersu-

32 Dag Kemser: Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung. Form – Inhalt – Wirkung, Tübingen 2006. 33 Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33). 34 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 13f. 35 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 14. 36 Einen kursorischen Überblick über die soziale Dramatik der 1990er Jahre enthält Schößlers Einführung in das Genre: Franziska Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003.

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chung mit ihrer Schwerpunktsetzung ‚Arbeit und Familie in der Gegenwartsdramatik‘ verpflichtet weiß.

1.3 AUSWAHL DER T HEATERTEXTE Wenn die vorgelegte Publikation den Anspruch formuliert, Aussagen über die Darstellung von Arbeit und Familie im Theatertext der Jahrtausendwende zu treffen, so geschieht dies auf Basis eines Textkorpus, das in Anbetracht der Vielzahl und Vielfalt der infrage kommenden Texte in seiner Auswahl exemplarischen Charakter besitzt. Es kann und soll nicht der Anspruch dieser Untersuchung sein, das gesamte Spektrum der Familien- und Arbeitsdramatik um die Jahrtausendwende zu repräsentieren. An dieser Stelle werden daher die Kriterien angeführt, nach denen die Auswahl der zu analysierenden Theatertexte erfolgt.37 Die grundlegende Entscheidung ist mit der Bestimmung des Untersuchungszeitraumes gegeben, der sich auf den Beginn des 21. Jahrhunderts, auf die Jahre 2000 bis 2005, konzentriert. In dieser Zeitspanne kamen die gewählten Theatertexte zur Uraufführung. Jenseits von arbeitspragmatischen Gründen, die eine Beschränkung der Textmenge erforderlich machen und die allein den Endpunkt des gewählten Zeitraumes bestimmen, bietet sich das Jahr 2000 mit Blick auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die Bereiche Arbeit und Familie aufgrund eines außerliterarischen Ereignisses als zeitliche Begrenzung an. Es handelt sich um das Jahr, in dem der Aufstieg der New Economy mit dem Platzen der sogenannten „Dotcom-Blase“ einen jähen Abbruch erfährt. Die als New Economy bezeichnete Wirtschaftsform geht mit einer tiefgreifenden Veränderung von Arbeitsmarktstrukturen und Arbeitsformen, beispielsweise durch Start-up-Unternehmensgründungen, einher, indem sie auf die fortschrittlichen Bereiche der Kommunikations- und Informationstechnologie setzt und die Ideen von Netzwerkund Projektarbeit etabliert.38 Mit dem Abebben des Booms steht nicht mehr die Gegenüberstellung, sondern die Fusion von traditioneller und

37 Vgl. zur Kriterienauswahl bei der Erstellung des Textkorpus ähnlich und überzeugend: Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 58-65. 38 Vgl. Michael Marti: Die Droge Arbeit, in: Der Spiegel 25, 19. Juni 2000, S. 122-126.

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‚neuer‘ Wirtschafts- und Arbeitspraxis im Vordergrund des allem voran medial geprägten öffentlichen Diskurses. In Deutschland wird dieser aus wirtschafts- und arbeitspolitischer Perspektive in den folgenden Jahren durch das Reformkonzept Agenda 2010 der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung geprägt. Proklamiertes Ziel der Reformen ist eine umfassende Umstrukturierung des Sozial- und Arbeitssystems. Aus Sicht des theaterästhetischen Diskurses folgt der gewählte Untersuchungszeitraum unmittelbar auf das Erscheinungsjahr einer Publikation, die in der Rede vom „postdramatischen Theater“ zum zentralen Angelpunkt wird: 1999 erscheint Hans-Thies Lehmanns Essay Postdramatisches Theater, der öffentlichkeitswirksam in der Dezemberausgabe der Fachzeitschrift Theater heute rezensiert wird. Mit Lehmanns Abhandlung gewinnt die kontinuierlich geführte Diskussion zum Verhältnis von Theater und (dramatischem) Text im Sinne einer Fixierung und Polarisierung eine ‚(an-)greifbare‘ Position. Dabei wirkt der Essay auch über die theaterwissenschaftlichen Fachgrenzen hinaus, allem voran in den literaturwissenschaftlichen Fachdiskurs hinein. Einen weiteren Aspekt der Auswahl stellt die Kategorie der ‚Generation‘ dar, die sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption von Dramatik und Theater der späten 1990er Jahre eine explizite Rolle spielt. Die in einer langen Tradition im Theaterdiskurs gründende und zur Jahrhundertwende lediglich zugespitzte39 Rede vom ‚Generationenwechsel‘ führen die Theaterkritiker, aber auch die Theatermacher selbst im Mund. Populärerweise wird dabei auf die Übernahme der Baracke des Deutschen Theaters in Berlin durch Thomas Ostermeier und sein Team Bezug genommen. Von ihnen heißt es im Feuilleton: Sie sind „unter 30 und stehen vielleicht für einen neuen Typus von Theatermachern, der ohne Zwang zur Distinktion nach dem eigenen Stil und den eigenen Themen sucht“40. Der Aufstieg einer jungen Generation im Feld des Theaters – der durchaus auch mit Distinktionskämpfen einhergeht – steht dabei im Zeichen einer Aufbruchstimmung, die sich mit den Umwälzungen im Bereich der Arbeit, mit der

39 Vgl. die Wahl der „Generationendebatte“ zum „ärgerlichsten Ereignis“ der Spielzeit 2000/2001 in der Kritikerumfrage im Theater-heute-Jahrbuch 2001. 40 Petra Kohse: Der Spielort als Factory, in: Die Tageszeitung, 5. März 1997, S. 12.

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Etablierung der New Economy, parallelisieren lässt. Hier wie dort gelangen die ‚Jungen‘ in Führungspositionen. Zum gesellschaftlichen und sozialen Status der „Jugend“ hält Thomas Ostermeier 2004 rückblickend und nicht ohne Hang zur Selbststilisierung fest: Wir wurden als Generation verstanden und bekamen Raum und Zeit, uns zu artikulieren. Dadurch entstand [sic!] Stärke und Selbstvertrauen. Unsere Meinungsführer wurden interviewt, es gab die Start-up-Helden, es gab eine Bewegung im Theater, in der Musik, in der Mode. Die Jungen von heute sind aber jung in einer Zeit, in der sie nicht interessant sind. Jetzt werden die Alten gefragt.41

Ostermeier konstatiert einen Wandel im Kult um die Jugend, den zu diskutieren hier nicht die Stelle ist. Festzuhalten bleibt allerdings, dass mindestens mit Blick auf die Theaterlandschaft das Interesse und die Aufmerksamkeit gegenüber dem Nachwuchs – sowohl von Autorinnen und Autoren als auch von Regisseurinnen und Regisseuren – nach wie vor anhalten, wenngleich die Fortdauer des Engagements vielleicht weniger in Formen des Hypes, wie sie die Nachfrage zum Ausgang der 1990er Jahre prägen, als vielmehr in institutionell lancierten Bahnen, etwa in der Tradition der Autorentage und Stückefestivals, statthat.42 So heißt es 2008 in Stück-Werk 5, einem Handbuch zum Stand zeitgenössischer Dramatik: „[…] [A]uch in rein quantitativem Sinne hat sich seit 1997 [dem Publikationsjahr des ersten Bandes von Stück-Werk, C.B.] viel getan: An Nachwuchs mangelt es der deutschsprachigen Dramatik nicht, wohl auch deshalb, weil sich die Ausbildungsstätten und -formen für Dramatiker/innen multipliziert und professionalisiert haben.“43 Darüber hinaus dokumentieren auch Publikationen wie der

41 Thomas Ostermeier: Alter und Ego, in: Die Zeit, 16. September 2004, S. 65. 42 Um nur einige der bekanntesten für die deutschsprachige Dramatik zu nennen: Stücke. Mülheimer Theatertage, Heidelberger Stückemarkt, Berliner Theatertreffen, Hamburger Autorentheatertage am Thalia Theater u.a. 43 Die Auswahl der porträtierten Dramatiker/innen folgt ‚strengen‘ Kriterien: Die „Devise“ lautet „39 (Dramatiker/innen) unter 40 (Jahren) mit mindestens drei Uraufführungen bis Ende der laufenden Spielzeit 2007/2008. Weil Lesungen hier nicht einberechnet werden, taucht mancher Name nicht auf – sogar solcher Autoren, die regelmäßig in szenischen Lesungen vorgestellt werden oder mit ihren ersten Stücken gleich für Furore sorgen,

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2003 erschienene Band Werk-Stück. Regisseure im Porträt44 oder der 2005 veröffentlichte Titel Radikal jung. Regisseure45, dass auch im Bereich der Regiearbeit nach wie vor nicht nur die von Ostermeier sogenannten „Alten“ gefragt sind. Die Autorinnen und Autoren der im hier gegebenen Analysezusammenhang verhandelten Theatertexte gehören vor diesem Hintergrund nicht zu der jüngsten Generation46, sondern sie bilden die sogenannte ‚junge Generation‘ der ausgehenden 1990er Jahre; die Abgrenzung verläuft hier anhand ihres Alters (Jahrgang 1960 und jünger), des Zeitpunktes ihres Debüts auf der professionellen Theaterbühne (in den 1990er Jahren) und der Anzahl der Uraufführungen (mehr als drei). Darüber hinaus wird als Selektionskriterium des Textkorpus die Zugehörigkeit des Textes zum Bereich der deutschsprachigen Literatur

wie Darja Stocker oder der ebenfalls mit dem ersten inszenierten Stück zu den Mülheimer Theatertagen eingeladene Ewald Palmetshofer.“ (Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski: Vorwort, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 6-7, S. 6). 44 In bemerkenswertem Unterschied zum Auswahlverfahren bei den Dramatiker/innen in Stück-Werk legen die Herausgeberinnen von Werk-Stück bei der Auswahl der porträtierten Regisseure kein ‚strenges’ quantitatives Kriterium – Alter, Zahl der Inszenierung oder Ähnliches – fest: „Da Regisseure sich auf verschiedensten Wegen an ihre Rolle im Theater heranarbeiten, sind die Begriffe jung oder alt kaum auf sie anwendbar. Der eine hat mit Dreißig zwei Dutzend Inszenierungen hinter sich, der andere nimmt den Umweg – über die Schauspielerei zum Beispiel –, bevor er überhaupt zu inszenieren beginnt. ‚Jung‘ wäre also heute eher, wer nicht zu einer ganz bestimmten, erfolgreichen Theater-Generation gehört, die im Schulterschluss mit ‚ihrer‘ Kritik, Wissenschaft und einem beachtlichen Teil Publikum Generationsbewusstsein demonstriert und sich bis heute genau darauf beruft“ (Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt: Vorwort, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): Werk-Stück. Regisseure im Porträt, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Arbeitsbuch), S. 6-7, S. 6). 45 Anke Roeder, C. Bernd Sucher (Hg.): Radikal jung. Regisseure. Porträts, Gespräche, Interviews, Berlin 2005 (Theater der Zeit, Recherchen, 25). 46 Zu dieser wären etwa, um nur wenige Namen zu nennen, Autor/innen wie Dirk Laucke, Philipp Löhle, Nora Mansmann und Gerhild Steinbuch zu zählen.

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gewählt, wobei nicht die Nationalität des Autors, sondern die Sprache des Theatertextes entscheidend ist. So zählen zu den Autorinnen und Autoren der analysierten Texte der Schweizer Lukas Bärfuss sowie die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla. Die Auswahl ist demnach von der Konvention mitbestimmt, unter der ‚deutschsprachigen Theaterlandschaft‘ auch die schweizerische und österreichische Theaterszene zu verstehen. Die Entscheidung, bei der Analyse und Lektüre allein auf diejenigen Texte zuzugreifen, die bereits in gedruckter Form veröffentlicht wurden, hat sowohl eine pragmatische als auch eine fachwissenschaftliche Dimension. Das Kriterium der schriftlichen Publikation grenzt die Menge der Theatertexte nicht nur auf einen vergleichsweise übersichtlichen Umfang ein, sondern schließt auch einen beachtlichen Anteil der für die Bühne verfassten Texte aus. Das primäre rezeptionsästhetische Ziel eines Theatertextes, das durch die konventionalisierten Wege seiner Distribution realisiert wird, ist dessen szenische Aufführung; seine über den Gebrauchswert als Bühnenmanuskript hinausgehende Drucklegung bleibt demgegenüber sekundär – wenngleich auch alles andere als unbedeutend. Die Emphase, mit der Dramatiker/-innen darauf hinweisen, nicht in erster Linie Literatur produzieren zu wollen47, weist darauf ebenso hin wie die Publikationspraxis der Theaterverlage, die nur einen Bruchteil der gespielten Theatertexte in Buchform herausgibt. Demgemäß schreibt sich auch die hier vorgenommene Selektion als Form der Exklusion unversehens in den Prozess der (literaturwissenschaftlichen) Kanonisierung ein. Diese zeichnet sich bei der gegebenen Textauswahl auch an der sehr unterschiedlich fortgeschrittenen Forschungsliteratur ab. Während etwa zu Falk Richters Unter Eis oder Kathrin Rögglas wir schlafen nicht schon einige Sekundärliteratur vorhanden ist, finden sich zu Lukas Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern oder Marius von Mayenburgs Turista bislang noch kei-

47 Lutz Hübner zum Beispiel bekennt: „Ich schreibe lieber für den Betrieb“ (Lutz Hübner: „Ich schreibe lieber für den Betrieb“, in: Birgit Haas (Hg.): Dramenpoetik 2007. Einblicke in die Herstellung des Theatertextes, Hildesheim, Zürich, New York 2009 (Germanistische Texte und Studien, 81), S. 97-101).

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ne oder kaum wissenschaftliche Auseinandersetzungen.48 Der exkludierenden Funktion der binären Zuordnung ‚schriftlich publiziert/ nichtschriftlich publiziert‘ und deren Bedeutung als ein Gradmesser der Kanonisierung soll durch den historischen Abschnitt zur Dramatik seit den 1990er Jahren und durch gelegentliche Querverweise auf außerhalb des Theaterdiskurses weniger bekannte Texte sowie Autorinnen und Autoren zugunsten des ohne Zweifel breiten Spektrums der Gegenwartsdramatik gegengesteuert werden. Zwar konzentriert sich die vorliegende Untersuchung in erster Linie auf die schriftlich fixierten und in einem Buch (in einer Werkausgabe oder in periodischen Anthologien wie Spectaculum oder Theater Theater), einer Zeitschrift (Theater heute oder Theater der Zeit) oder einem Programmheft publizierten49 Texte, doch nimmt sie punktuell, insbesondere wo theater- und wirkungsästhetische Aspekte der analysierten Theatertexte zur Sprache kommen, auch Inszenierungen in den Blick. Obwohl dies jedoch maßgeblich über das Medium der in Fachzeitschriften, Feuilletons und Internet-Fachforen lancierten Theaterkritik geschieht, bleibt die Orientierung an der schriftlichen Vermitteltheit der Theaterstücke dominant. Die Auseinandersetzung mit Theatertexten der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts setzt den Schwerpunkt auf die Themen Arbeit und Familie, wobei mindestens eines von beiden als konstitutiv für das jeweilige Theaterstück betrachtet wird. Diese inhaltliche Bestimmung zeigt sich in hohem Maße davon abhängig, was unter ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ verstanden wird. Als Ausgangspunkt der Auswahl unter thematischen Gesichtspunkten dienen daher neben den inhaltlichen Merkmalen der Texte auch verschiedene Paratexte wie Verlagsankündigungen, Programmhefte, Rezensionen oder Selbstaussagen der Autorinnen und

48 Den Grad der Kanonisierung aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich zudem an der Integration der ‚neueren‘ Theatertexte in die Schullektüre ablesen. Zu Rinkes Republik Vineta etwa ist bereits ein Lektüreschlüssel erschienen und der ein oder andere der in dieser Arbeit behandelten Texte wurde bereits in didaktischen Fachzeitschriften wie Der Deutschunterricht diskutiert. 49 Die Veröffentlichung von Theatertexten im Internet geschieht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wenn überhaupt, vor allem auszugsweise und/oder temporär begrenzt (vgl. etwa die Homepages von Kathrin Röggla oder Elfriede Jelinek).

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Autoren. Welche Formen, Strukturen und Phänomene als ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ bezeichnet werden, daran haben die Theatertexte in dem Verständnis des in dieser Untersuchung verfolgten Lektüreansatzes keinen geringeren Anteil als etwa soziologische Studien. Mit diesen produzieren die ausgewählten Stücke entweder durch explizite Hinweise und Paratexte der Autorinnen und Autoren oder durch Schlagworte, Motive und Figurationen des Theaterstückes ein intertextuelles Geflecht von Aussagen zu Arbeit und Familie.

1.4 M ETHODISCHES V ORGEHEN UND G LIEDERUNG Die vorliegende Untersuchung der Darstellungen von Arbeit und Familie in der deutschsprachigen Dramatik der Jahrtausendwende besteht zum einen in der textgenauen Analyse der ästhetischen Form der Texte, die die literaturwissenschaftliche Perspektive durch theaterwissenschaftliche Lektüreansätze zu ergänzen sucht. Dem methodischen Vorgehen liegt mithin die Annahme zugrunde, dass die Veränderungen im Bereich der ‚Dramen‘produktion zwar keineswegs eindeutig aus zeitgenössisch-modifizierten Bedingungen der Bühnenästhetik zu deduzieren sind, dennoch aber – wie auch schon in den klassischen dramentheoretischen Überlegungen betont wird – von einem wechselseitigen Wirkungsverhältnis auszugehen ist. Zum anderen widmet sich die Untersuchung dem durch Inhalt und Themen der Texte ausgewiesenen, ästhetisch vermittelten Verständnis von Arbeit und Familie und dessen Verflechtungen mit zeitdiagnostischen Thesen insbesondere aus dem Bereich der Sozialwissenschaften. Die formalästhetischen Merkmale des jeweiligen Theatertextes werden unter Rückgriff auf das Begriffsinstrumentarium der klassischen Dramenanalyse herausgearbeitet. Aus dem methodischen Ansatz einer „aufführungsbezogenen, dramaturgischen Analyse“50, den Gerda Poschmann in ihrer theaterwissenschaftlichen Arbeit Der nicht mehr dramatische Theatertext entwickelt, wird, wie gesagt, der Begriff ‚Theatertext‘ übernommen. Im Unterschied zum Begriff des ‚Dramas‘ können mit diesem auch weniger widerspruchsvoll solche für das Theater geschriebenen Texte erfasst werden, die als nicht mehr drama-

50 Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 16.

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tisch gestaltete Texte zu begreifen sind. Zudem verweist das Kompositum offensichtlicher als der Ausdruck ‚Drama‘ darauf, dass der Theatertext einerseits „Bestandteil der Inszenierung im Theater“ ist und andererseits „als literarische[...] Gattung mit Textstatus“ gilt.51 Als Bezeichnung für die eine der drei literarischen Großgattungen dient der Begriff ‚Dramatik‘. Darüber hinaus kommt aus dem Feld theaterwissenschaftlicher Forschung der Begriff ‚postdramatisch‘ zur Anwendung, der vor allem durch Hans-Thies Lehmanns gleichnamige Abhandlung zum postdramatischen Theater auch Eingang in nichttheaterwissenschaftliche Disziplinen fand. Der Terminus dient in den vorliegenden Analysen zur Beschreibung all jener Textphänomene und Textstrategien, die den materiellen Charakter der Sprache, ihre Lautlichkeit, hervorheben, die mithin den Akt und die Weise des Sprechens in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und die auf eine Desemantisierung von Sinnstrukturen sowie eine Fragmentarisierung von Bedeutungszusammenhängen hinwirken. Er findet vor allem auch dort Anwendung, wo die Theatertexte die Wahrnehmungen von Zeit, Raum und Körper reflektieren. Ziel der formanalytischen Bestandteile der Lektüren ist es, zum einen den Spezifika des Einzeltextes gerecht zu werden. Zum anderen wird dessen Textästhetik mit den Traditionen des Schreibens für das Theater im Allgemeinen und der Dramatik des Autors oder der Autorin im Besonderen in Beziehung gesetzt. Die Auseinandersetzung mit den Repräsentationen von Arbeit und Familie im Theatertext wird im Anschluss an kulturwissenschaftlich orientierte Lektüreansätze, vor allem an den New Historicism52 geführt. Den Textlektüren liegt nicht eine vorgefertigte Auffassung von dem zu-

51 Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 41. 52 Für die folgenden Ausführungen zum New Historicism vgl. besonders Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a., 2. Aufl., Tübingen, Basel 2001 [1995]; Moritz Baßler: New Historicism und Textualität der Kultur, in: Lutz Mausner, Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 293-312; Gertrud Lehnert: Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der „New Historicism“, in: Iris Därmann, Christoph Jamme (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München 2007, S. 105-118; Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 2006.

1. E INLEITUNG

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grunde, was Arbeit und Familie in einem sozioökonomischen Sinne empirisch nachweislich sind. Die literarischen Darstellungen werden nicht als Widerspiegelung oder als Produkt der sozialen und gesellschaftlichen Realität verstanden, wie dies in der marxistischen Literaturtheorie geschieht. Vielmehr folgen die Analysen der Annahme, dass literarische Darstellungen von Arbeit und Familie – im Sinne dessen, was Stephen Greenblatt „Verhandlungen“ nennt, – und die als Arbeit und Familie bezeichneten sozialen Praktiken und Gemeinschaften reziprok miteinander verflochten sind. Ein Verständnis von Arbeit und Familie bildet sich erst in der Vernetzung verschiedener Diskurse heraus, wobei Literatur die Funktion zugesprochen werden kann, Diskurse einer Zeit zu bündeln und zu verknüpfen. Zentral für die Analyse der Theatertexte ist demnach die Untersuchung intertextueller Beziehungen, die der jeweilige literarische Text mit Texten aus anderen Wissensfeldern eingeht. Für die Verknüpfung der ästhetischen mit nichtästhetischen Aussagen werden kultur- und sozialwissenschaftliche Texte herangezogen, die sich mit Aspekten der Arbeit und der Familie beschäftigen und zu zeitdiagnostischen Thesen Stellung nehmen. Außerdem finden mit der Fokussierung auf den Gegenwartsbezug der literarischen Darstellungen auch Texte aus dem Bereich der Printmedien und des Internets Eingang in die Textlektüren, wobei neben Artikeln zu den Themen Arbeit und Familie in der Gegenwart auch Theaterkritiken zu den jeweiligen Theatertexten einbezogen werden. Darüber hinaus werden die Theatertexte mit zeitgenössischen Debatten zum Sozialen im Theater kontextualisiert, die in erster Linie in Form zentraler, schriftlich fixierter Abhandlungen rekonstruiert werden. Der Theatertext ist zugleich Element einer literarischen Gattung, nämlich der Dramatik, und Element eines theatralen Ereignisses, nämlich der Aufführung. Diese doppelte Codierung des Textes und der thematische Schwerpunkt des für die Untersuchung gewählten Textkorpus begründen die Gliederung der Arbeit wie folgt: Das auf die Einleitung folgende zweite Kapitel, „Debatten zum Sozialen im Theater der Jahrtausendwende“, erschließt den theatergeschichtlichen Kontext der zu analysierenden Theatertexte. Es wird hierzu – aus Sicht der thematischen und formalen Fragen an die Theatertexte – auf zentrale Debatten eingegangen, die das Feld der Theaterpraxis, deren Kommentierung in der Theaterkritik und deren Theoretisierung in der Theaterwissenschaft prägen. Von Bedeutung ist zum

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Ersten die Diskussion des von Hans-Thies Lehmann sogenannten „postdramatischen Theaters“. Grundlegende Überlegungen gelten hier einer Theaterästhetik, die nicht mehr auf Repräsentation, sondern stärker auf die Gegenwärtigkeit und Selbstreflexivität des Theaters setzt, die also nicht mehr den (dramatischen) Text, sondern die theatralen Mittel wie Körper, Stimme, Raum und Zeit ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Zum Zweiten geht das Kapitel auf die Rede vom sogenannten „Schaubühnen-Realismus“ beziehungsweise „Neuen Realismus“ ein. Kennzeichnend für die so benannte Theaterästhetik sind das Plädoyer für das Geschichtenerzählen, die Hinwendung zum Autor sowie die Favorisierung sozialkritischer Dramatik. Das Kapitel präsentiert und problematisiert Relationen von Theater und Text vor allem unter strukturellen und (wirkungs-)ästhetischen Gesichtspunkten. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Thematisierung von Arbeit und Familie in der dramatischen Tradition. Es handelt sich um einen historischen Abriss zur Gattung des sozialen Dramas, der mit der Dramatik seit den 1990er Jahren abschließt. Anhand ausgewählter markanter Genres und historischer Formationen, die aus der Perspektive einzelner, zumeist kanonisierter Theatertexte in den Blick kommen, werden jeweils zentrale Elemente der Darstellung von Arbeit und Familie rekonstruiert. Diese werden am Stückpersonal, am dramaturgischen Bau, an der raumzeitlichen Dimensionierung des Geschehens, an den wirkmächtigen inhaltlichen Aspekten des Arbeits- oder Familienthemas sowie an den bedeutendsten wirkungsästhetischen Merkmalen festgemacht. Richtungsweisend ist nicht zuletzt die Frage nach der Rolle von Zeit und Raum sowie nach der Bedeutung des Körperlichen, über die der Bogen zu den Textanalysen der Familien- und Arbeitsdramatik der Jahrtausendwende zu schlagen ist. Das vierte Kapitel zielt auf eine nähere Bestimmung und Operationalisierung der Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ im Horizont zeitdiagnostischer Gegenwartsanalysen, die vor allem der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung entstammen. Eingeführt wird die Frage nach der Bedeutung von Arbeit und Familie für individuelle, gesellschaftliche und kulturelle Lebenszusammenhänge durch einen theoriegeschichtlichen Blick auf die Positionen von Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel. Aus dem Spektrum der Darstellungs-, Begriffs- und Deutungsraster zu den Phänomenen Arbeit und Familie um die Jahrtausendwende wird – in heuristischer Absicht – insbesondere das Konzept der Individualisierung berücksichtigt. Ein besonderes

1. E INLEITUNG

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Augenmerk richtet sich auf die Bedeutung räumlicher, zeitlicher und körperlicher Dimensionen in zeitdiagnostischen Vorstellungen und Darstellungen von Arbeit und Familie. Die Analyse von insgesamt acht Theatertexten, die in der Zeit zwischen 2000 und 2005 entstanden sind beziehungsweise uraufgeführt wurden, erfolgt in den Kapiteln fünf und sechs. Hier werden die ausgeführten Überlegungen zur Theater(-text-)ästhetik mit den dramatischen und zeitdiagnostischen Reflexionen auf die sozialen Themen Arbeit und Familie zusammengeführt und am konkreten Text diskutiert. In einem siebten Kapitel folgen abschließende Bemerkungen, die einen Ausblick auf sich an die Untersuchung anschließende Forschungsfragen geben.

2. Debatten zum Sozialen im Theater der Jahrtausendwende

Das seit jeher ebenso kontrovers wie produktiv diskutierte Verhältnis von Theater und Drama beziehungsweise von Theater und Text, welches sich sowohl in systematischen als auch historischen Darstellungen wiederkehrend in Begriffen des Prozessualen wie ‚Retheatralisierung‘ und ‚Reliterarisierung‘ niederschlägt, kreist um die Jahrtausendwende zentral um die „flexible Arbeitsformel“1 des „postdramatischen Theaters“2. Mit dieser werden Formen der theatralen Aufführungspraxis zu erfassen gesucht, die sich, in Reaktion auf eine wachsende Medienkonkurrenz seit den 1970er Jahren, vom dramatischen Text als Spielvorlage abwenden und selbstreferenziell das Moment des Performativen in den Mittelpunkt stellen.3 Hans-Thies Lehmann kon-

1

Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 9-27, S. 9.

2

Innerhalb des theaterwissenschaftlichen Diskurses findet der Begriff des postdramatischen Theaters erstmals 1987 bei Andrzej Wirth Verwendung. (Vgl. Andrzej Wirth: Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien, in: Gießener Universitätsblätter (1987) H. 2, S. 83-91.) Zur Herkunft des Begriffs siehe Christel Weiler: Postdramatisches Theater, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat, Stuttgart, Weimar 2005, S. 245-248, insb. S. 245f.

3

Diese zeitliche Zäsur wählt Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999, S. 27.

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statiert in seinem nicht nur für die wissenschaftliche Diskussion richtungsweisenden Essay über Postdramatisches Theater das ‚Abwandern‘ von Drama und Illusionierung in den Bereich der Medien, „während die Aktualität der Performance zur neuen Dominante des Theaters wird“4. Bringt Lehmann das Dramatische als mögliches Differenzkriterium zwischen Theater und Medien in Anschlag und weist seine Darstellung postdramatischer Ästhetik der Auseinandersetzung mit den Medien zugleich einen zentralen5 Stellenwert zu, so scheint das Dramatische unter verschobenen Vorzeichen doch nach wie vor an den Konstitutionsprozessen theatraler Präsentationsformen ‚jenseits des Dramas‘ beteiligt zu sein. Zu denken ist etwa an intermediale Verknüpfungen mit Dramaturgien und Ästhetiken der Daily Soap, des Reality-TV oder des Videoclips. Es gilt mithin festzuhalten, dass „das Dramatische“ in den Medien und darüber hinaus auch „in anderen Realitätsbereichen, die mit menschlichem Handeln (bzw. dessen Simulation) zu tun haben, absolute Hochkonjunktur hat“6. Diese Beobachtung fließt in eine zweite prominente Perspektive auf das Gegenwartstheater ein. Besonders öffentlichkeitswirksam unter dem Label „neuer Realismus“7 richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Reetablierung von Geschichten und Helden im Theatertext, indem vor allem die Rollen des Textes und des Autors in den Vordergrund theaterbezogener Selbstverständigungen rücken. Beide Perspektiven auf das Gegenwartstheater kreuzen sich auf verschiedenen Ebenen der theaterästhetischen Reflexion, wobei die Begriffe ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘ zusammen mit Vorstellungen des ‚Politischen‘ und des ‚Sozialen‘ auffällige Knotenpunkte bilden. Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, wie der jeweilige ästhetische Ansatz das Thema des Sozialen aufgreift und verhandelt.

4

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 409.

5

Vgl. etwa das Kapitel „MEDIEN“ in Lehmann: Postdramatisches Theater,

6

Dagmar Borrmann: Mehr Drama! Über ein paar Paradoxa der deutschen

S. 401-447. Gegenwartsdramatik – oder Warum eine Gattung nichts dafür kann, wenn sie zuweilen mit dummen Inhalten gefüllt wird, in: Theater heute 44 (2003) H. 12, S. 32-35, S. 34. 7

Thomas Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 54 (1999) H. Juli/August 1999, S. 10-15, S. 10.

2. D EBATTEN

2.1 D IE DES

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POSTDRAMATISCHE I NSZENIERUNG ‚R EALEN ‘

Mit seinem 1999 publizierten Essay Postdramatisches Theater verfolgt Hans-Thies Lehmann das Ziel, eine „analytische Deskription der neueren Theater-Idiome“8 zu liefern, um mit ihr nichts Geringeres als „eine ästhetische Logik des neuen Theaters zu entfalten“9. Zum Gegenstand dieses Vorhabens werden dabei insbesondere diejenigen Theaterformen, die im Bereich des „experimentell gesonnenen und künstlerisch risikobereiten Theater[s]“10 angesiedelt sind, die zumeist nicht dem Mainstream des subventionierten Theaterbetriebs angehören. Dass die Grenzen einer entsprechenden Zuordnung allerdings fließende sind, zeigt mindestens die Namensliste von Repräsentanten des postdramatischen Paradigmas, die Lehmann anführt; darunter finden sich Künstler wie Robert Wilson, Einar Schleef, Stefan Pucher, René Pollesch und andere mehr, deren Theaterproduktionen durchaus auch an etablierten Häusern zu sehen sind.11 Die Karriere des Begriffs ‚postdramatisch‘ im Feld der Praxis wie auch im Bereich der Wissenschaft verdankt sich, wie in einem Rück-

8

So formuliert Lehmann im Vorwort der dritten Auflage seines Essays: HansThies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, 3. veränderte Aufl., Frankfurt/Main 2005 [1999], S. 3. Zitiert wird in der vorliegenden Arbeit aus der Erstausgabe von 1999.

9

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 15. Birgit Haas hält fest, dass dabei „letztlich eine eher philosophische[...] als theaterwissenschaftliche[...] Theorie“ entsteht (Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 23).

10 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 34. Im „normalen Theater“ lebe, so Lehmann, das Drama fort: „als Erwartung großer Teile seines Publikums, als Grundlage vieler seiner Darstellungsweisen, als quasi automatisch funktionierende Norm seiner Drama-turgie [sic!]“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 30). 11 Anja Dürrschmidt und Barbara Engelhardt stellen ihrer Dokumentation zu Gegenwartsregisseuren 2003 folgende Beobachtung voraus: „Schon lange verwischen sich […] die Grenzen zwischen freiem und institutionellem Theater, verwischen sich beide nicht nur ästhetisch und personell, sondern werden zunehmend klassische Produktionsstrukturen aufgebrochen und neue Arbeitsweisen koproduzierend erprobt“ (Dürrschmidt, Engelhardt: Vorwort. Werk-Stück. Regisseure im Porträt, S. 6).

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blick von Theater heute 2008 formuliert wird, „nicht nur verschiedenen Theaterformen und -schulen, sondern auch seiner einzigartigen Unschärfe“12. Ohne den Begriff des Postdramatischen explizit zu definieren13, bestimmt Lehmann als kleinsten gemeinsamen Nenner der von ihm avisierten Theaterereignisse die Abkehr von den Prinzipien des Dramatischen: von „Ganzheit“, „Illusion“ und „Repräsentation von Welt“14, die zugleich eine Absage an den Text als die das theatrale Spiel regulierende Größe bedeutet. In diesbezüglich verwandtem Sinne spricht Gerda Poschmann bereits zwei Jahre zuvor vom „nicht mehr dramatischen Theatertext“, in dem Figuration und Narration nebensächlich oder ganz aufgegeben werden.15 Entwickelt Lehmann seine Sicht auf das ‚neue‘ Theater vor allem mit Blick auf performancenahe Spielformen, so betont er zugleich, dass „Texttheater“ nicht als „ein einfach Überwundenes“, sondern durchaus als eine „genuine und authentische Spielart des postdramatischen Theaters“ zu betrachten sei.16 Entsprechend bezieht sich der Theaterwissenschaftler auch auf Arbeiten von Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Rainald Goetz und Peter Handke, die „mindestens teilweise“ dem postdramatischen Theater zuzurechnen seien.17 Die postdramatische Theaterästhetik profiliert sich allem voran in der Negation18 des Dramas, die, wie Christoph Menke formuliert, auf

12 Was kommt nach der Postdramatik?, in: Theater heute 49 (2008) H. 10, S. 7. 13 Vgl. Benno Wirz: Das Problem des postdramatischen Theaters, in: Forum Modernes Theater (2005) H. 2, S. 117-132, S. 118. Auf Selbstwidersprüche in Lehmanns Ausführungen weist Franz Wille in seiner Rezension von 1999 hin. (Vgl. Franz Wille: Ab die Post! Gibt es eine Theorie für das neue Theater? Hans-Thies Lehmanns „Postdramatisches Theater“ will alles und viele erklären, in: Theater heute 40 (1999) H. 12, S. 26-31.) 14 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22. 15 Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997 (Theatron, 22), S. 177. 16 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 14. 17 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 25. 18 Wirz sieht in der Ex-negativo-Bestimmung des Postdramatischen einen zentralen Grund für die Polarisierung von dramatischem und postdramatischem Theater im öffentlichen Diskurs. (Vgl. Wirz: Das Problem des postdramatischen Theaters, S. 122f.)

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„eine Mobilisierung der contradictio in adiecto im Ausdruck und Phänomen ‚dramatisches Theater‘“19 zurückzuführen ist. Im Unterschied zum dramatischen Theater, das durch die dominierende Stellung und Funktion des Textes als Sinnangebot geprägt ist, kehren postdramatische Theaterformen die „Eigenmacht der nicht-literarischen Elemente des Theaters“20 hervor und nähern sich damit der Performance. Zu beschreiben ist dieser Vorgang als Prozess der Selbstreflexion, in dem die konsolidierte Liaison von Theater und Text als ideologisches Konstrukt hinterfragt und aufgelöst wird.21 Vollzieht sich die theatrale Selbstreflexion, wie Lehmann an einer Vielzahl konkreter Theaterereignisse darzulegen sucht, in einem Vorgang der Dekomposition, der Zergliederung und der Verkehrung oder Aufhebung von Hierarchien, so führt dieser Weg der Verselbständigung der Theatermittel – Körper, Stimme, Licht, Raum und andere – in letzter Konsequenz auf ein Theater zu, „das überhaupt nicht mehr auf ‚Drama‘ beruht“22. Obwohl Lehmann sich dezidiert gegen die Epochenbezeichnung der Postmoderne als Beschreibungskategorie postdramatischer Theaterformen wendet, weisen die von ihm angeführten Formen der Verselbständigung und die mit ihnen verbundenen charakteristischen Stilelemente, nämlich „Parataxis, Simultaneität, Spiel mit der Dichte der Zeichen, Musikalisierung, Visuelle [sic!] Dramaturgie, Körperlichkeit, Einbruch des Realen, Situation/Ereignis“23, durchaus eine Nähe zur postmodernen Ästhetik auf, wie Birgit Haas betont.24

19 Christoph Menke: Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters, in: Patrick Primavesi, Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen, 20), S. 27-35, S. 27. 20 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 74. 21 Der Begriff des ‚dramatischen Theaters‘ bezeichnet nach Menke „mehr eine Theorie, eine Konzeption – eine Ideologie, denn eine Praxis des Theaters“ (Christoph Menke: Doppelter Fortschritt: postdramatisch – postavantgardistisch, in: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno u.a., Berlin 2006 (Kaleidogramme, 5), S. 178-187, S. 180). 22 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 43. 23 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 146. 24 Vgl. Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 24-28.

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In selbstreflexiver Wendung, die die Grundgegebenheiten von Theater hervorkehrt, erprobt das postdramatische Theater einen Gebrauch theatraler Zeichen, der vorrangig darauf angelegt ist, Zusammenhänge zu desemantisieren und zu fragmentieren, und der damit jegliche präskriptive Sinnzuschreibung aufkündigt. Insofern vorformulierte, aufs Ganze zielende Einheiten, etwa in Form einer Geschichte oder eines Charakters, fehlen, wird der Akt der Sinnstiftung und Bedeutungskonstitution grundsätzlicher und konsequenter als im Repräsentationstheater an den Zuschauer delegiert. Hier wie dort obliegt es dem Rezipienten, das Bühnengeschehen durch seinen Blick und nach seinen subjektiven Bedürfnissen und Interessen zu selektieren und zu ordnen. Allerdings sind unter dem Vorzeichen des Postdramatischen die oft simultan angeordneten, variabel verdichteten, kontrastiv eingesetzten oder konvergierenden theatralen Elemente – Klänge und Geräusche, Worte und Gesten, Licht und Bewegungen – weniger bis gar nicht auf ein sukzessives Erreichen von Synthesis und Kohärenz angelegt als vielmehr auf das Erleben intensiver vereinzelter Momente25 sowie auf die Erfahrung des Unabgeschlossenen und Unabschließbaren26. Erstrebenswert scheint eine „Kunst des Nichtverstehens“, die nicht mit fixierbaren Standpunkten und hierarchisierenden Ordnungen wie richtig/falsch, wichtig/unwichtig oder zentral/peripher operiert, sondern auf das andauernde Moment des Erfahrens und auf das Prinzip des Parataktischen setzt.27 In einem Erfahrungsraum, der nicht durch den für das Drama konstitutiven Logos der Sprache strukturiert ist, sondern sich vornehmlich über die Präsenz des Körpers28 mitteilt, werden Prozesse der Wahrnehmung zum eigentlichen Gegenstand der szenischen Verhandlung zwischen Künstler und Rezipient. Der Modus gesteigerter Selbstreferenzialität bringt dementsprechend weniger die Reflexion auf Themen als vielmehr – idealiter – die Bewusstwerdung der Theatersituation

25 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 141. 26 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 169. 27 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens, in: Merkur 48 (1994) H. 542, S. 426-431. 28 Lehmann bezeichnet diese näher als „sinnfreie Präsenz des Körpers“: „Was immer an Bedeutung auf die Bühne kommt – es wird durch die Sinnlichkeit des Körpers immer ein Stück weit um seine Konsistenz gebracht“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 274).

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selbst hervor. Der Zuschauer soll sich des Theaters als eigene Realität, als „TheatReales“29 gewahr werden, das konstitutiv auf dem Ineinandergreifen von Realem und Fiktivem, Praxis und Spiel beruht. Kommt also auch postdramatisches Theater nicht ohne Referenz auf Prinzipien der Repräsentation zustande? Birgit Haas erhebt in diesem Sinne, zu Recht, den kritischen Einwand, dass gerade der Begriff des „TheatRealen“ offenlegt, wie auch postdramatisches Theater der Repräsentation verpflichtet bleibt, indem es den performativen Akt selbst im Modus des Als-Ob aufführt: „Anders gesagt: Noch in der antimimetischen Provokation kann Theater der Semiose nicht entgehen.“30 Lehmanns Ausführungen zum Postdramatischen antizipieren diese Überlegung selbst, wenn es heißt: „Repräsentation und Präsenz, mimetisches Spiel und Performance, Dargestelltes und Darstellungsvorgang: aus dieser Doppelung hat das Theater der Gegenwart, in dem es sie radikal thematisiert und dem Realen Gleichberechtigung mit dem Fiktiven einräumt, ein zentrales Element des postdramatischen Paradigmas gewonnen.“31 Demnach geht es nicht um die radikale Geste, sondern um einen andauernden Prozess der Überschreitung. In der Reflexion auf das Postdramatische scheint weniger die – bisweilen anklingende und oft vermutete – Absolutsetzung des Performativen produktiv als vielmehr dessen Relation zu dem, was Repräsentation und Mimesis bleibt oder als solche, beispielsweise mittels Medieneinsatz, ins Spiel gebracht wird. Dem postdramatischen Theater wird die Leistung zugerechnet, das Verhältnis von Inszeniertem und Wirklichkeit – und das heißt in bedeutendem Maße das Verhältnis von Bühne und Publikum – in den Fokus zu rücken. Dabei soll außerästhetische Realität gerade nicht als

29 Lehmann spricht vom „TheatReale[n]“ als der „nur im Theater gegebene[n] Realität“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 370; Hervorhebung getilgt, C.B.). 30 Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 30. 31 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 175. Außerdem formuliert Lehmann weniger oppositionell als vielmehr komparatistisch: Grundsätzlich meine postdramatisches Theater einen neuartigen „Typ des Zeichengebrauchs“, den „mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information“ kennzeichnen (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 146).

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vorgegebener Rahmen im Sinne eines geschlossenen fiktiven Kosmos, wie ihn das Drama zur Darstellung von Welt entwirft, fixiert oder als dezidierte Referenz auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie etwa Brechts antiillusionistisches Theater vollzog, präsent sein. Und auch der alte Traum der historischen Avantgarden, Kunst und Leben verschmelzen zu können, wird in der postdramatischen Ästhetik nicht reanimiert. Vielmehr zählt dessen Scheitern zur Vorgeschichte und zu den Voraussetzungen der postdramatischen Theaterästhetik, wie Christoph Menke unterstreicht, wenn er den Begriff „postavantgardistisch“ in die Debatte ums Postdramatische einbringt: Im Unterschied zu den historischen Avantgarden, die versuchten, Spiel und Praxis „dialektisch“ zu integrieren, bringe das postdramatische Theater „die Einsicht in die Differenz, die Spiel und Handeln, Theater und Praxis kategorial voneinander unterscheidet, zur Geltung“32. Ihrem Anspruch nach sucht die postdramatische Theaterästhetik nicht die asymptotische Annäherung von Realität und Fiktion zu erreichen, sondern deren grundlegende Differenz sowohl im ästhetischen als auch im politischen Sinne produktiv zu machen. Um die Differenz von Spiel und Wirklichkeit im Wahrnehmungshorizont des Zuschauers zu etablieren, setzen postdramatische Theaterformen auf die ‚Gleichberechtigung‘ des Realen. Die Gleichstellung von Spiel und Realität vollzieht sich im Zuge einer umfassenden Enthierarchisierung der Theatermittel, die insbesondere den Primat des Textes revidiert und die von Lehmann als Akt der „Emanzipation“33 aufgefasst wird. Diesem Bild eines ‚selbstbestimmten‘ Ablösungsprozesses des Theatralen vom Dramatischen kontrastiert in bemerkenswerter Weise die Vorstellung vom zum Schlagwort gewordenen „Einbruch des Realen“34. Während Ersteres einen im Inneren des Systems ‚Theater‘ stattfindenden Vorgang der Ausdifferenzierung assoziieren lässt, steht letztere Wendung für ein (massives) Moment der Transgression.

32 Menke: Doppelter Fortschritt, S. 183; vgl. auch Menke: Praxis und Spiel, S. 34. 33 Hans-Thies Lehmann: Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater, in: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno u.a., Berlin 2006 (Kaleidogramme, 5), S. 169-177, S. 172. 34 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 170; Hervorhebung getilgt, C.B.

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Das Vordringen des Realen in den Raum der Inszenierung findet im dramatischen Theater vornehmlich als zufälliges Ereignis, in Form einer vom Publikum erkennbaren Panne statt oder lässt sich als absichtsvoller Akt des Schauspielers identifizieren, etwa wenn dieser mit einer Begrüßung zu spät kommender Zuschauer die Vierte Wand durchbricht. Demgegenüber bleibt die Wahrnehmung des Realen, und das heißt der konkreten Theatersituation im postdramatischen Theater, nicht mehr nur dem Zufall überlassen, sondern sie wird systematisch als etwas, das immer schon Anteil am theatralen Spiel hat, eingesetzt. Inwieweit eine kalkulierte Panne allerdings eine der ‚echten‘ Fehlleistung vergleichbare desillusionierende Wirkung entfalten kann, das muss, wie Nikolaus Frei35 einwendet, als fraglich gelten. In vergleichbarer Weise lassen sich auch Strategien hinterfragen, die die Wirklichkeit mittels Schauspiellaien ins theatrale Spiel integrieren. Zu denken ist an Volker Löschs ‚Bürger-Chöre‘, die aus ‚echten‘ Hartz-IV-Empfängern in seiner Inszenierung von Peter Weiss’ Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats aus dem Jahr 2008 oder aus ‚authentischen‘ türkischstämmigen Frauen aus Stuttgart in seiner Medea-Inszenierung (2007) gebildet werden. Zwar sind die ‚normalen Bürger‘ als solche, etwa durch biographische Erzählungen, erkennbar, doch bleiben ihre Äußerungen durch einen zuvor abgesteckten textlichen und inszenatorischen Rahmen, durch eine Dramaturgie, begrenzt und damit unter künstlerischen Gesichtspunkten selektiert. Dass Löschs Inszenierungen immer wieder zu Skandalen führen, die auch juristische Konsequenzen nach sich ziehen, verweist gleichwohl nachdrücklich auf das postdramatische Spiel mit der „Unentscheidbarkeit“36 von Realität und Fiktion und mit dem schmalen Grat des Übertretens von dem einen in den anderen Bereich. Als weiteres Beispiel lassen sich in diesem Kontext die Produktionen von Rimini Protokoll anführen, die ausschließlich mit „Experten

35 Frei hält mit Nachdruck fest, „dass der Versuch in sich schon scheitert, da Pannen, die als solche inszeniert sind, um z.B. als Verfremdungseffekt den Zuschauern fehlerhaft zu erscheinen, selbst keine Pannen mehr sind, ebenso wenig wie performative Momente von Spontaneität, die auf eine wie auch immer geartete theatrale Wirkung angelegt sind“ (Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 29). 36 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 171 u. S. 173.

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des Alltags“37 erarbeitet werden. Es handelt sich dabei um ‚Spezialisten‘, auf die das Regieteam bei seinen Recherchen zu einem bestimmten Thema stößt. In Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (UA 2006) sind dies etwa unter anderem ein wissenschaftlich ausgewiesener Marx-Experte, ein ehemaliger Spieler, ein ‚Alt-68er‘ und ein studentischer Aktivist. Die Inszenierung konstituiert sich aus den biographischen Erzählungen, die einerseits durch die Präsenz der Experten verbürgt werden und damit temporär die Als-ob-Wirklichkeit suspendieren. Andererseits werden die Erzählungen im Vorfeld der Aufführung (schriftlich) fixiert und damit unter künstlerischen Gesichtspunkten gestaltet. Rimini Protokoll geht noch einen Schritt weiter, wenn über den Einsatz von Experten hinausgehend auch über die Wahl der Spielorte die Nähe zur Wirklichkeit gesucht wird. Die Künstlergruppe zeigt vermehrt Theater im öffentlichen Raum beziehungsweise entdeckt „das Theater in der Wirklichkeit“38. In Sonde Hannover (UA 2002) beobachten die Zuschauer, mit Ferngläsern ausgestattet, aus dem zehnten Stock eines Hochhauses das Geschehen auf der Straße, währenddessen ihnen über Kopfhörer O-Töne von Passanten und Erzählungen von einem Ökonomen, einem Politologen, einem Flugbeobachter und anderen zugespielt werden. Der voyeuristische Blick von oben wird als „theatraler Blick auf die reale Außenwelt“ inszeniert, indem zu Beginn der Aufführung ein Fensterputzer einen roten Vorhang aufzieht und die Sicht auf den städtischen Raum freigibt.39 In Call Cutta (UA 2005), um ein letztes Beispiel zu nennen, begibt sich jeder einzelne Zuschauer, oder besser: Teilnehmer, auf einen durch ein indisches Call-Center ferngesteuerten Stadtrundgang durch Berlin. Hier wird Theater, durchaus im ethnologischen Sinne, zum „Wirklichkeitserkundungstheater“40. Dabei bewegt sich der Zuschauer, wie Annemarie Matzke ausführt, sowohl in seiner Umgebung als auch in der im Han-

37 Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007. 38 Peter Laudenbach: Hexenküche Wirklichkeit. Theatertreffen 2006: Das Dokumentarstück ist wieder da, in: Süddeutsche Zeitung, 22. Mai 2006, S. 11. 39 Vgl. Annemarie Matzke: Riminis Räume. Eine virtuelle Führung, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 104-115, S. 107. 40 Laudenbach: Hexenküche Wirklichkeit, S. 11.

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dygespräch entworfenen, „anderen behaupteten Realität“41. Diese Doppelung gewinnt, so Matzke, den Charakter des Theatralen: „Das Telefongespräch schafft eine Rahmung, die den Benutzer theatralisiert.“42 Das Moment theatraler Selbstreferenzialität betrifft demnach nicht allein die Sachmittel des Theaters, sondern infiziert auch dessen Laien-‚Darsteller‘. Die postdramatische Problematisierung der Grenze zwischen Ästhetischem und Realem stellt, wie Lehmann betont, einen selbstreflexiven Akt des Theaters dar, insofern dieses auf sich als Inszeniertes, als Zurschaustellung verweist: Nicht das Vorkommen von „Realem“ als solchem, sondern seine selbstreflexive Verwendung kennzeichnet die Ästhetik des postdramatischen Theaters. Diese Selbstreferentialität ist es, die Wert, Ort, Bedeutung des Außerästhetischen im Ästhetischen und damit die Verschiebung von dessen Begriff zu denken erlaubt. Das Ästhetische ist durch keine inhaltliche Bestimmung zu erfassen (Schönheit, Wahrheit, Gefühl, anthropomorphisierende Widerspiegelung usw.), sondern […] allein als Grenzgang, als fortwährendes Umschlagen nicht von Form und Inhalt, sondern von „realer“ Kontiguität (Zusammenhang mit der Realität) und „inszeniertem“ Konstrukt ineinander. In diesem Sinne heißt postdramatisches Theater: Theater des Realen.43

Das postdramatische Theater stellt Spiel und Realität nicht einander gegenüber, sondern macht die Konfrontation von Realem und Fiktivem zu seinem intendiert offensichtlichen Gegenstand. Die in diesem Sinne forcierte Selbstthematisierung sieht sich gleichwohl wie jede selbstreferenzielle Kunst der Gefahr wie auch dem Vorwurf ausgesetzt, in Ästhetizismus zu münden. Der Dynamik eines L’art pour l’art steuere allerdings, wie Lehmann insistiert, die Eigenart theatraler Mittel entgegen, die „von Hause aus niemals rein ästhetisch fungieren können, weil sie die ethische Dimension des realen (nicht des dramatisch fingierten) Anderen stets ganz materiell und praktisch in die theatrale Kommunikation hineintragen“44. Damit klingt zugleich an, dass die Selbstbezüglichkeit des Theaters diejenige des Zuschauers zu evo-

41 Matzke: Riminis Räume, S. 113. 42 Matzke: Riminis Räume, S. 113. 43 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 176. 44 Lehmann: Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters), S. 176.

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zieren und zu konditionieren vermag und zwar in der Aktualisierung einer sozialen Beziehung: Der Zuschauer, der sich durch den ‚Einbruch des Realen‘ der Theatersituation bewusst wird, wird auf sich selbst als Kommunikationspartner und in ethischer Perspektive als Zeuge oder auch Mitverantwortlicher aufmerksam.45 In diesem Moment, in dem das Reale die ästhetische Einstellung unterbricht, der Zuschauer sich also seiner eigenen Beziehung zum Spiel gewahr wird, begründet sich nach Lehmann das politische Potenzial des Theaters.46 Es geht demzufolge zurück auf die Irritation, die Enttäuschung von Erwartungen und Gewohnheiten, insbesondere von Wahrnehmungsgewohnheiten. Lehmann konstatiert: „Politik gründet jedoch hier in der Art und Weise der Zeichenverwendung. Politik des Theaters ist Wahrnehmungspolitik.“47 Dezidiert wendet sich Lehmann gegen eine Vorstellung politischen Theaters, die auf politische Inhalte oder politische Intentionen der Theatermacher setzt: „Das Politische kommt im Theater zum Tragen, wenn und nur wenn es gerade auf keine Weise übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik, Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklich-

45 Vgl. zum ‚Dabeisein‘ des Zuschauers als Zeugenschaft Hans-Thies Lehmann: Prädramatische und postdramatische Theater-Stimmen. Zur Erfahrung der Stimme in der Live-Performance, in: Doris Kolesch, Jenny Schrödl (Hg.): Kunst-Stimmen, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen, 21), S. 40-66, bes. S. 44-51. Außerdem geht Lehmann hier differenzierend auf die Rolle des Zuschauers als „Ko-Produzenten“ ein, indem er etwa auf dessen Funktion als Beobachter und zugleich Beobachtetem, als „MitSprechenden“ und zugleich „Mit-Hörenden“ eingeht. Zur „Mitverantwortung“ des Zuschauers vgl. Hans-Thies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002 (Theater der Zeit, Recherchen, 12), S. 11-21, S. 19. 46 „Es nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene, nur ein Theater, das das Theater als Schaustellung unterbricht“ (Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 19). 47 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 469.

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keit.“48 Lehmanns definitorische Schlussfolgerung und die aus ihr abgeleitete produktive Bestimmung, „dass das Politische des Theaters gerade nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken sein muss“49, relativieren Arbeiten aus der Theaterpraxis, denen Lehmann postdramatische Merkmale zuspricht: Dass auch unter postdramatischen Vorzeichen sozialkritische Themen, durchaus mit Bezug zu tagespolitischen Debatten, Bestandteil oder doch Ausgangspunkt des theatralen Spiels werden können, zeigen die politischen Aktionen von Christoph Schlingensief, die kapitalismuskritischen Produktionen von René Pollesch und die (frühen) sozialkritischen Theatertexte von Sarah Kane, um nur diese zu nennen. Der Bezug zur außertheatralen Wirklichkeit ist im postdramatischen Theater demnach weniger inhaltsästhetischer als vielmehr formalästhetischer Natur. Sind es die Art und Weise des Wahrnehmens und des Zuschreibens von Bedeutung, die, wie Lehmann postuliert, vornehmlich das Politische im theatralen Spiel evozieren, so profilieren sich diese vor dem Hintergrund von Rezeptionsmodi, die jenseits des Theaters, allen voran in den Massenmedien und der Massenkultur, auftreten. Nach Lehmann korreliert die Entwicklung postdramatischer Ästhetik mit einer zunehmenden „Verbreitung und dann Allgegenwart der Medien im Alltagsleben seit den 1970er Jahren“50. Im Zeitalter des Internets gewinnen Körper, Sprache und mit ihnen die Erfahrung von Raum und Zeit eine veränderte Qualität sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. In Anbetracht derjenigen Prozesse, die als Globalisierung beschrieben werden, bewegt sich ein Theater, das sich – oft auch gerade unter Zuhilfenahme fortgeschrittener Medientechnik – mit Formen und Modi der Simultaneität und Beschleunigung auseinandersetzt, auf dem schmalen Grat zwischen Affirmation und Kritik. Lehmann beobachtet 1997 diesbezüglich optimistisch: In den besten Beispielen der neuen Theaterästhetik der Beschleunigung wird die Zeitvernichtung in den elektronischen Medien nicht kopiert, sondern ein Bemerklichwerden des Verrinnens von Zeit, ein Sich-Einsenken in den Zeitverlauf

48 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater, S. 17. Lehmann verweist darauf, dass seine Aussagen zur Bestimmung des Politischen im Theater ausschließlich die Verhältnisse in Westeuropa antizipieren. 49 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater, S. 17. 50 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22.

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als solchen oder ein schockartiger „Fall“ aus der Zeit angestrebt. Es dürfte kein Zufall sein, daß Techniken des Stillstands, des Einfrierens von Zeit durch Statik und Repetition gegenüber Versuchen zur Adaption der Beschleunigung bei weitem überwiegen […]. Die Zeitdramaturgie des postdramatischen Theaters ist weithin Widerstand gegen das, was Paul Virilio als destruktive „Telepräsenz“ bezeichnet und von der Gegenwart des mit den Sinnen erlebten Jetzt unterscheidet (in ÄFluchtgeschwindigkeit‘). Widerstand, der nicht naiv das untergehende Dispositiv kontinuierlicher Raumzeit auszuspielen versucht gegen Nullzeit, telematische Informationen und scheinhafte Allpräsenz, sondern die Veränderungen unserer Wahrnehmung mit den Mitteln des Theaters reflektiert [sic!].51

Mit der kritischen Reflexion auf die Dimensionen von Raum und Zeit geht die anthropologisch konnotierte Fokussierung des Theaters auf sich selbst als physisches Erlebnis, auf seine atmosphärische und leibliche Dimension einher. Die forciert intensive Auseinandersetzung mit dem Körper und mit Körperlichkeit kann dabei mit den in der Gegenwart herrschenden Diskursen der ‚Entkörperlichung‘ und der zeiträumlichen Entgrenzung in Zusammenhang gebracht werden. Sie scheint dazu geeignet und zugleich davon motiviert, gegen die „allerorten“ vorherrschenden entsinnlichten Körperbilder zu opponieren52; sie ließe sich, wie Dagmar Jaeger ausführt, durchaus als „Widerstand gegen den herrschenden Trend der Medien […], der die Wirklichkeit durch das Abbild ersetzt“53, verstehen. Darüber hinaus hinterfragen postdramatische Theaterformen, wie Lehmann ausführt, die Wahrnehmung und Durchsetzung von ‚Normalität‘, indem sie auch den kranken, den behinderten, den entstellten Körper zeigen, der „‚unmoralische‘ Faszina-

51 Hans-Thies Lehmann: Zeitstrukturen/Zeitskulpturen. Zu einigen Theaterformen am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Theaterschrift (1997) Nr. 12: Zeit/Temps/Tijd/Time, S. 28-47, S. 40-42. 52 „Ein tieferer Grund für dieses Bestreben, den Akzent von der Abstraktion zur Attraktion zu verschieben, dürfte in der Absicht zu finden sein, mit theatraler Körperlichkeit der Entkörperlichung entgegenzuwirken, die allerorten zu beobachten ist und auf dem Umweg über die oberflächliche totale Sexualisierung den Körper vom Begehren und vom Eros trennt“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 364). 53 Dagmar Jaeger: Theater im Medienzeitalter. Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller, Bielefeld 2007, S. 110.

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tion, Unbehagen oder Angst“ auszulösen vermag.54 In Anschlag gebracht wird demzufolge eine Steigerung von Sensibilität gegenüber Prozessen der Exklusion und Normierung. Allerdings sind gegen eine Sicht, die vor allem das kritische Potenzial einer postdramatischen Konfrontation mit dem Körper hervorhebt, auch Einwände zu formulieren. Denn in der postdramatischen Verhandlung von Körperlichkeit gewinnt der Aspekt der Sinnlichkeit auf Kosten des Sinns an Gewicht und schließlich auch die Überhand: „Eine eigentümliche Tatsache des Theaters tritt nun in ihre Rechte: in ihm gilt die Formel Sinnlichkeit unterläuft Sinn.“55 Vor die Bedeutung in Form einer verkörperten Figur tritt die „sinnfreie Anmut des verkörpernden Körpers“56, dramatische Spannung wird durch die „sinnfreie Eigenrealität der körperlichen Spannungen“57 ersetzt und die „‚Mitteilung‘ des stummen Körpers emanzipiert sich […] vom verbalen Diskurs“58. Und auch die für das dramatische Theater konstitutive Darstellungsfunktion der Sprache weicht dem „Prinzip der Ausstellung“: Die Sprache büßt „durch Techniken der wiederholenden Variation, der Entkoppelung von unmittelbar einleuchtenden semantischen Verknüpfungen, durch Privilegierung formaler Arrangements nach syntaktischen oder musikalischen Prinzipien (Klangähnlichkeit, Alliteration, rhythmische Analogien) die immanente teleologische Sinnrichtung und Zeitlichkeit“ ein und wird einem „ausgestellten Objekt“ ähnlich.59 Das Gesprochene verliert gegenüber dem Akt und der Weise des Sprechens, gegenüber der Stimme, an Bedeutung. Wo aber nicht mehr Worte Soziabilität herstellen, sondern maßgeblich und ausschließlich Körper diese hervorbringen, werden Konflikte von der Gefahr des physischen Gewaltausbruchs begleitet. Lehmanns Verweis auf das Theater Eugenio Barbas, das auf die Präsenz des Schauspielerkörpers fokussiert ist60, kommentiert Birgit Haas in diesem Sinne kritisch: „Mentale Konflikte erscheinen als körperliche Gewalt. Aus dieser Selbstreduktion zu einem konditionierten Tier oh-

54 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 163. 55 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 365. 56 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 365. 57 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 371. 58 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 384. 59 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 266; Hervorhebung getilgt, C.B. 60 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 367f.

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ne Sprache resultiert eine Selbstbeschränkung, die nicht die Befreiung des Menschen, sondern die Unterwerfung unter nicht erklärte physikalische Gesetze zugrunde legt.“61 In den Blick kommt zudem die Unterscheidung zwischen Menschenkörpern und Ding-Objekten, zwischen dem Individuum als handlungsmächtiges Subjekt und dem Individuum als ‚bloßes‘ „Erscheinen eines besonderen, bestimmten, realen einzelnen Menschen“62 – eine Grenze, die bisweilen zugunsten des Letzteren überschritten wird. Basierend auf dem Vorrang der Physis spielt postdramatisches Theater mit der Anthropomorphisierung von Dingen und der Verdinglichung des Menschen. Birgit Haas betont mit Nachdruck die Gefahren „[p]ostdramatische[r] Entmenschlichung“63, in deren Fluchtlinie ein Theater ohne Menschen64 steht und ein Theater aufscheint, „das letztlich einer faschistoiden Herrschaft der mechanisierten ‚Mensch-Objekte‘ das Wort redet“65. Ihre Kritik zielt auf die Entmündigung des Subjekts, das sich nur noch „als Objekt, als Opfer der es durchströmenden Impulse, nicht in personaler Identität“66 erfahren soll und das damit um jegliche Differenzerfahrung gegenüber ‚herrschenden Strukturen‘, zum Preis seiner (politischen) Widerständigkeit, gebracht wird.67 Gewalt und „Entmenschlichung“ wären zwei der problematischen Aspekte der Verabsolutierung68 des Körperlichen. Eine weiterer Kritikpunkt, der im Kontext dieser Arbeit von besonderem Interesse ist,

61 Haas: Plädoyer für eine dramatisches Drama, S. 32. 62 „Der Impuls des postdramatischen Theaters, intensivierte Präsenz (‚Epiphanien‘) des menschlichen Körpers zu realisieren, ist ein Bestreben nach Anthropophanie“ (beide Zitate: Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 369; Hervorhebung getilgt, C.B.). 63 Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 31; Hervorhebung getilgt, C.B. 64 Für Lehmann ist das „[p]ost-anthropozentrische[...] Theater“ eine Variante postdramatischer Praxis (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 137; Hervorhebung getilgt, C.B.). 65 Haas: Plädoyer für eine dramatisches Drama, S. 35. 66 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 279. 67 Vgl. Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 32. 68 „Indem postdramatisches Theater von mentaler, intelligibler Struktur fortstrebt zur Exposition intensiver Körperlichkeit, wird der Körper absolutiert“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 164).

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lässt sich an Lehmanns Postulat festmachen, das besagt, dass sich der postdramatische Prozess im Gegensatz zum dramatischen gerade nicht „zwischen den Körpern“, sondern „am Körper“ manifestiere.69 Die Thematisierung des individualisierten Körpers, der sich allein auf sich selbst bezieht, der „in einer Auto-Deixis nur auf seine Präsenz weist“70, bedeutet konsequenterweise die Verdrängung oder gar die Tilgung des Sozialen. Mit anderen Worten: Unter den Vorzeichen „autosuffiziente[r] Körperlichkeit“71 scheint die Verhandlung des Zwischenmenschlichen aus dem Bereich des Postdramatischen programmatisch ausgeschlossen. Allerdings verweist Lehmann selbst auf die Hintertüre, durch die das Soziale Eingang in den Raum des Postdramatischen erhält: Von nun an müssen, so scheint es, alle Themen des Sozialen zuerst dieses Nadelöhr passieren, sie müssen die Form eines Körperthemas annehmen. Liebe kommt als sexuelle Präsenz vor, Tod als Aids, Schönheit als Körperperfektion. Das Verhältnis zum Körper wird faszinierte Beschäftigung mit Fitneß [sic!], Gesundheit oder den – je nach dem Standpunkt faszinierenden und unheimlichen – Möglichkeiten des „Technokörpers“.72

Die Behauptung eines Körpers, der seine Zeichenfunktion zurückweist, ist damit nicht mehr uneingeschränkt haltbar. Vielmehr ist auch diesem ein nicht unerhebliches Maß an gesellschaftlicher, vielleicht auch gesellschaftskritischer Bedeutung nicht abzusprechen. Lehmann unternimmt nach eigenen Worten den Versuch, theatrale „Figurationen der Selbstausstreichung von Bedeutung“73 zu beschreiben und zu analysieren. Dabei räumt er allerdings schon zu Beginn seiner Ausführungen in Postdramatisches Theater ein: „Bleibt die geläufige Reduktion des Ästhetischen auf gesellschaftliche Positionen und Aussagen leer, so ist umgekehrt jede theaterästhetische Fragestellung blind, die in der künstlerischen Praxis des Theaters nicht die Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensnormen er-

69 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 367. 70 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 366. 71 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 163; Hervorhebung getilgt, C.B. 72 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 165. 73 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 140.

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kennt.“74 Fungiert das postdramatische Theater also doch auch als Reflexionsmedium gesellschaftlicher Wirklichkeit? Im Epilog von Lehmanns Essay heißt es unter der Überschrift „Drama und Gesellschaft“: Gibt man einen Moment lang der Versuchung nach, allen Bedenken zum Trotz postdramatisches Theater als einen Ausdruck gegenwärtiger sozialer Strukturen anzusehen, so ergibt sich ein düsteres Bild. Der Verdacht ist kaum zu unterdrücken, daß die Gesellschaft sich die komplexe und vertiefte Darstellung zerreißender Konflikte, Darstellungen, die an die Substanz gehen, nicht leisten kann oder will. Sie spielt sich die illusionäre Komödie einer Gesellschaft vor, die solche Konflikte angeblich gar nicht mehr aufweist. Die Theaterästhetik spiegelt auch ungewollt etwas davon wieder [sic!]. Eine gewisse Lähmung des öffentlichen Diskurses über die Grundlagen der Sozietät fällt auf. Keine Tagesfrage, die nicht in endlosen Kommentaren, Sondersendungen, Talk Shows, Befragungen, Interviews bis zum Erbrechen „verbalisiert“ würde – aber kaum Anzeichen dafür, daß die Gesellschaft über die Fähigkeit verfügt, ihre wirklich fundierten Grundfragen und Grundlagen, die doch stark erschüttert sind, auch als ungewiß zu „dramatisieren“. Postdramatisches Theater ist auch Theater in einer Zeit der ausgelassenen Konfliktbilder.75

Demzufolge zeichnet sich auch im Rahmen des Postdramatischen die Auseinandersetzung des Theaters mit Gegenwartsfragen – seien sie sozialen, politischen oder ethischen Ursprungs – als ein Fluchtpunkt theatralen Spiels ab. Postdramatisches Theater lässt sich in diesem Sinne als zeitgenössische Ausdrucksform begreifen, die die Notwendigkeit aufzeigt, tagespolitische Konfliktstoffe, gesellschaftliche Antagonismen und individuelle Ambivalenzen zu thematisieren und ‚zur (Körper-)Sprache‘ zu bringen. Auf ein solches Bedürfnis nach ‚Aussprache‘ scheint auch das in den 1990er Jahren an Zuspruch gewinnende Plädoyer für eine ‚neue‘ Dramatik zu antworten.

74 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 16. 75 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 466.

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2.2 D IE ‚ REALISTISCHE ‘ D RAMATISIERUNG DER W IRKLICHKEIT Etwa zur gleichen Zeit der Diagnose, dass sich das Theater vom dramatischen Text abkehre, am Ende des 20. Jahrhunderts, gewinnen Forderungen nach der Rückkehr des Dramas an Bedeutung. „Alles in allem scheint mir“, konstatiert etwa Heike Müller-Merten, Chefdramaturgin am Staatsschauspiel Dresden, in einer Umfrage 1997, „die Sehnsucht vieler Autoren der 90er Jahre geht zurück zum Drama, das das Schicksal des einzelnen zum Träger von Geschichten macht. Statt Auflösung der Sprache in fragmentarisches Textmaterial ist der Wunsch nach Einbindung in eine Stückstruktur erkennbar.“76 Die Konzentration auf das Individuelle und das Private, die im Zusammenhang mit der Suche nach erzählbaren Stoffen für das Theater zu beobachten ist, lässt sich dabei insbesondere bei einer jungen Generation von Autorinnen und Autoren feststellen, die in den 1990er Jahren ihre Debüts feiern und zunehmend die Spielpläne der professionellen Bühnen erobern. Die Wiederkehr oder besser: Neuakzentuierung des Dramatischen im Theatertext und im Theater ist demnach auch und gerade durch den (subventionierten) Theaterbetrieb und dessen (ökonomische und machtpolitische) Gesetzmäßigkeit bedingt beziehungsweise beide arbeiten sich wechselseitig zu. Mit der Etablierung einer ‚neuen‘ Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern im professionellen Theaterbetrieb, die strukturell durch Festivals, Hausautorschaften, Stückaufträge, Theater- und Autorentage gefördert wird, kommt es seit Ende der 1990er Jahre zu einer Art „Hype“77 in der deutschsprachigen Dramatik. In der wachsenden Zahl von Uraufführungen ist der Versuch des Theaters zu erkennen, seine Auseinandersetzung mit tagespolitischen Themen ‚auf der Höhe der Zeit‘ zu führen und mithin das produktionsbedingte retardierende Moment so weit wie möglich zu nivellieren. Die zeitgenössische Dramatik wird aus dieser Sicht auf ihren Gebrauchswert hin befragt und erlangt bisweilen den Status von Gebrauchsliteratur – ohne allerdings

76 Gibt es eine Dramatik der 90er Jahre? [Umfrage], in: Theater der Zeit 52 (1997) H. März/April, S. 31-32. 77 John von Düffel: Der Hype und seine Möglichkeiten. Eine Erwiderung auf Frank Krolls Überlegungen zum Stellenwert neuer Dramatik, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 23-24, S. 23.

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im Sinne einer Neuen Sachlichkeit notwendig deren Eigenschaften der Nüchternheit und Objektivität vorzuweisen. Die Beobachtung Jürgen Schröders, dass „die jungen Autoren […] nicht mehr gegen das Theater – wie Heiner Müller und Elfriede Jelinek –, sondern für das Theater [schreiben]“78, mag mit Blick auf Autoren wie Lutz Hübner oder Daniel Call zutreffen, mit Referenz auf Theatertexte und programmatische Äußerungen79 beispielsweise von Dea Loher wäre sie bereits zu problematisieren. Dabei bliebe allem voran zu diskutieren, was es im Einzelnen – auf Ebene der Autorenaussage, auf Ebene der Textästhetik et cetera – bedeutet, „gegen das Theater“ zu schreiben. Darüber hinaus scheinen Uraufführungen, im Kontext einer verbreiteten Event- und Festivalkultur betrachtet, vermehrt auch als Werbemittel zu fungieren, das den Theatern mediale Aufmerksamkeit und wirtschaftlichen Gewinn sichert. Die Bewertungen dieser Funktionen von Erstaufführungen variieren dabei ebenso stark wie die zum Status des Autors im Theaterbetrieb. Frank Kroll etwa wendet, im Jahr 2007, aus Sicht des Verlegers kritisch ein, dass die Autoren ökonomisch kaum von dem Uraufführungs- und Premierenboom profitierten, im Gegenteil sich das „bescheidene Niveau der Autorenhonorare wie eine zusätzliche Subventionierung des Theaters“ auswirke.80 Außerdem würden Theatertexte zunehmend und als Antwort auf einen „gestiegene[n] EventBedarf“ als „Tisch-Lesungen“ und in „‚aninszenierten‘ Formen“ präsen-

78 Jürgen Schröder: „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“? Drama und Theater der neunziger Jahre, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2. aktual. u. erw. Aufl., München 2006, S. 1080-1120, S. 1110. 79 In einem Interview von 1998 formuliert Loher die folgende Auffassung: „[...] [M]an muß als Dramatiker zwar das Theater gut kennen, aber man muß auch gegen das Theater schreiben“ (Dea Loher, Franz Wille: „Ich kenne nicht besonders viele glückliche Menschen.“ Ein Gespräch mit Dea Loher über das Leben, das Schreiben und ihre Stücke, in: Theater heute 39 (1998) H. 2, S. 61-65, S. 64). 80 Frank Kroll: Das Ersatztheater boomt. Überlegungen zum Stellenwert neuer Dramatik im aktuellen Theaterbetrieb, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 18-22, S. 20. Krolls These der Theatersubventionierung durch Autoren widerspricht Andreas Beck: Wuppen gilt nicht. Warum die Autorenförderung tatsächlich droht, an Schubkraft zu verlieren, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 24f.

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tiert, die die Texte für weitere ‚echte‘ Inszenierungen unattraktiv machten, da das „Uraufführungssiegel […] abgerissen“ sei.81 Eine Erwiderung auf Krolls Kritik formuliert explizit John von Düffel, der herausstellt, dass auch der Theater-„Markt“ insgesamt dem Prinzip der Selektion der Besten folge, dass dieser Ausleseprozess gegenwärtig immerhin „mehr auf der Bühne als in den Schubladen der Dramaturgen“ stattfinde und dass es für Theater wie auch für Verlage vor allem darum gehen müsse, die Kooperation von „Autoren und Regisseuren, Dramatikern und Dramaturgen“ zu fördern und zu festigen.82 Ohne die Debatte an dieser Stelle weiter auszudifferenzieren, sei als allgemein festzuhaltende Beobachtung angeführt: Ur- und Erstaufführungen zeitigen ein gesteigertes theateröffentliches Interesse an Text und Autor, zumindest relativ zu den Folgeinszenierungen von Stücken noch weniger bekannter Dramatikerinnen und Dramatiker. Einen entscheidenden Anstoß für die Nachfrage nach jungen Autoren und ihren Texten gibt die „Welle kleiner schmutziger HardcoreStücke“83, die im deutschsprachigen Theater zur Mitte der 1990er Jahre aus Großbritannien ankam. Neben strukturellen Veränderungen in der Beziehung zwischen Theater und Autor lösen die ‚Brit-Plays‘ auch ein neues Interesse an sozialkritischen Themen aus. Mit der Rezeption der jungen britischen Dramatik geht die Renaissance einer Dramatik und einer Theaterpraxis einher, die dezidiert an gesellschaftspolitischen Stoffen interessiert und auf das Soziale gerichtet ist. Mit nach-

81 Kroll: Das Ersatztheater boomt, S. 21. 82 Von Düffel: Der Hype und seine Möglichkeiten, S. 23f. 83 Silvia Stammen: Vom verlorenen Posten auf den roten Teppich. Junge Dramatiker sind heiße Ware – zwei Nachwuchsfestivals in München und Augsburg, in: Theater heute 44 (2003) H. 8/9, S. 68-71, S. 68. Stammen konstatiert: „Die Brit-Plays haben den deutschen Markt verändert.“ (Stammen: Vom verlorenen Posten auf den roten Teppich, S. 68). Im Feuilleton ist die Rede von „rüden Bühnenattacken der angelsächsischen Jungdramatiker“ auf die „heimischen Schauspielhäuser“ sowie von den „raschen Skandalerfolgen der drastischen ‚Blut-und-Sperma-Stücke‘ einer Sarah Kane, eines Mark Ravenhill oder des Iren Enda Walsh“, die so manches Debüt deutschsprachiger Autoren befördern beziehungsweise begleiten, etwa das Marius von Mayenburgs. Vgl. Heinz Kirchner: Pack schlägt sich. „Parasiten“ von Marius von Mayenburg am Staatstheater Mainz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 2002, S. 56.

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haltigem Erfolg inszeniert etwa Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der Baracke am Deutschen Theater und ab 1999 an der Berliner Schaubühne, die deutschsprachigen Erstaufführungen von Nicky Silvers Fette Männer im Rock (UA 1988, DE 1996), David Harrowers Messer in Hennen (UA 1995, DE 1997), Mark Ravenhills Shoppen und Ficken (UA 1996, DE 1998) und Sarah Kanes Gier (UA 1998, DE 2000). Als Spiegel der Popularität britischer Gegenwartsdramatik im Allgemeinen, für die vor allem das Royal Court Theatre in London als Talentschmiede Pate steht, und Kane’scher Theatertexte im Besonderen kann auch die Kritikerumfrage von Theater heute gelten, die 199984 Gesäubert und 2000 Gier85 zum jeweils besten ausländischen Stück des Jahres kürt. Den britischen Stücken dieser Zeit, die im Kontext des sogenannten In-yer-face-Theatre86 entstehen, ist gemeinsam, dass sie sich insbesondere den marginalisierten Seiten sozialer Realität widmen und diese in rückhaltloser Drastik vor Augen führen. Ihre Handlungen und Figurenzeichnungen rekurrieren auf „die Sinnlosigkeit des Daseins in einer kapitalistisch enthumanisierten Welt“87, die in fragwürdigen Freundschaften und desolaten Familien, mit archaisch anmutenden Szenen und schmerzvollen Aussprachen zum Ausdruck kommt. Die Texte erzählen von Frauen, die ihre Männer töten, von Männern, die Frauen vergewaltigen, von elfjährigen Kindern, die zu Menschenfressern mutieren. Ausbuchstabiert werden Gewalt, Zerstörung, Verelendung und Armut, wobei stilprägend sprachliche und szenische Mittel der Übertreibung, Verdichtung und Zuspitzung jegliche naturalistische Darstellung konterkarieren und bisweilen hyperreale Effekte hervorbringen, die die Grenze zwischen Spiel und Realität transformieren. Dabei beschreiben die Stücke ein weites formales Spektrum: Es reicht von einer konventionellen Erzähldramaturgie, wie etwa in Ravenhills Shoppen und Ficken, bis zum Überschreiten der dramatischen Form,

84 Mit im Rennen um die Auszeichnung waren auch Enda Walsh und Conor McPherson. 85 Sarah Kane starb im Februar 1999. Ihr Stück Gier erschien posthum. 86 Neben Kane, Ravenhill und Harrower zählen auch Carly Churchill, Martin Crimp, David Greig, Martin McDonagh, Conor McPherson, Patrick Marber, Simon Stephens und Enda Walsh zu dieser Theaterrichtung und zu den viel rezipierten Autoren im deutschsprachigen Raum. 87 Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 49.

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wie etwa in Kanes 4.48 Psychose (UA 2000, DE 2001), das Lehmann als herausragendes „Beispiel postdramatischer écriture“88 einstuft. Entsprechend hält Joachim Fiebach fest: Es geht nicht mehr um den alten Milieu-Nachahmungs-Realismus, um die versessen illusionistische Reproduktion eines „wirklichen Lebens“. Dramaturgische Konstruktionen des Unheimlich-Zugespitzten und Brüche der Zeiträume in den fiktiven Geschehnissen werden als solche inszenatorisch betont, das Theatermachen nicht verborgen, eher, wie in Sarah Kanes programmatischen Texten vorgegeben, ausgestellt.89

Die britischen Impulse verdichten sich in der deutschsprachigen Dramatik um die letzte Jahrhundertwende allem voran in dem ebenso prominenten wie umstrittenen Schlagwort vom ‚Neuen Realismus‘. In dieser Wendung werden innovative und restaurative Bestrebungen in der Auseinandersetzung mit der Tradition dramatischen Schreibens diskursiv verwoben. Besondere Prägekraft übt dabei die Theaterkonzeption der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz unter dem Leitungsteam um Thomas Ostermeier aus. Die Schaubühne wendet sich mit einem ‚neuen‘ Ansatz – à la Avantgarde als Manifest90 verkündet – explizit gegen das, was in ihrer eigenen Terminologie als „Kapitalistischer Realismus“91 bezeichnet wird. In einem Gespräch 1999 führt Thomas Ostermeier aus:

88 Hans-Thies Lehmann: Just a word on a page and there is the drama. Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 26-33, S. 28. 89 Joachim Fiebach: Von den 80ern zur Jahrhundertwende, in: Joachim Fiebach: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Berlin 2003 (Theater der Zeit, Recherchen, 13), S. 343-371, S. 354. 90 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung; sowie Thomas Ostermeier u.a.: „Wir müssen von vorn anfangen“, in: Die Tageszeitung, 20. Januar 2000, S. 15. 91 Im Gegensatz zu der Begriffsverwendung der Schaubühne bezeichnet der Begriff ‚Kapitalistischer Realismus‘ in der Kunstgeschichte eine Stilrichtung der 1960er und frühen 1970er Jahre, die sich in konsum- und gesellschaftskritischer Manier mit alltäglichen Erscheinungen des Kapitalismus

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Bei der Betrachtung dessen, was in den letzten Jahren im deutschsprachigen oder auch internationalen Theater wichtig war, haben wir aus einer Ironie heraus gesagt, das sei eigentlich der Kapitalistische Realismus mit seiner Ästhetik des Anything Goes – wo alles geht, wo alles zu verstehen ist, wo jede Lesart und Interpretation erlaubt ist und ständig darauf hingewiesen wird, daß es den Kern des selbstbestimmten subjektiven Individuums eigentlich nicht mehr gebe, weshalb man alles dekonstruieren könne …92

Die programmatische Losung der Schaubühne wendet sich demzufolge gegen den Anspruch des performancenahen und postdramatischen Theaters auf Deutungsoffenheit und inhaltliche Unverbindlichkeit sowie gegen dessen im postmodernen93 Gestus vollzogene Absage an das handlungsmächtige Subjekt. Sie opponiert gegen eine theatrale Ästhe-

auseinandersetzt. Ein dramengeschichtliches Denkmal wird dieser Kunstrichtung in Botho Strauß’ Trilogie des Wiedersehens gesetzt. Das Stück zeigt eine Ausstellung mit dem Titel Kapitalistischer Realismus. (Vgl. Botho Strauß: Trilogie des Wiedersehens. Theaterstück, in: Botho Strauß: Theaterstücke 1972–1978, 2. Aufl., München 2000 [1993], S. 311-402, S. 366f.) 92 Thomas Ostermeier in Barbara Burckhardt, Michael Merschmeier, Franz Wille: Ob es so oder so oder anders geht! Ein Gespräch mit den (zukünftigen) Theaterleitern Stefan Bachmann, Matthias Hartmann und Thomas Ostermeier über Markt, Macht, Medien, Moden – und wie die Theaterkunst (über)lebt…, in: Theater heute Jahrbuch (1999), S. 64-76, S. 76. 93 Jens Hillje reflektiert den Schaubühnen-Ansatz in eben diesem geistesgeschichtlichen Kontext: „Das, was die Postmoderne einmal war, nämlich berechtigtes Infragestellen der totalitären Formen von moderner Kultur und die durch Subjektverlust und Fragmentarisierung von Welterfahrung forcierte unendliche Ausdehnung von Gegenwart, ist heute zu einem Luxusproblem der achtziger Jahre geworden. Ein Denken, das das Ende der Geschichte behauptet, wird als geistige Haltung verzweifelt weiter aufrechterhalten, bis tief in die neunziger Jahre hinein. Wir leben jetzt aber, spätestens seit 89, in einer Welt, in der die Geschichte auf einmal wieder da ist – und eine extreme Ungewißheit von Zukunft, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt haben.“ (Gerhard Jörder: Sehnsucht nach Welt. Aufbruch mit Tradition: Eine junge Generation von Theatermachern übernimmt die alte Berliner Schaubühne. Ein ZEIT-Gespräch mit vier realistischen Romantikern, in: Die Zeit, 22. April 1999, S. 49).

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tik, in der sie die Maximen des ‚neuen Kapitalismus‘ (Richard Sennett) aufspürt, gegen eine „Ästhetik, die den Menschen ganz und gar als flexibles Wesen begreifen will, das, möglichst geschichtslos, von heute auf morgen seine Vergangenheit, seine Ideale vergessen kann, das seine persönliche Biographie nicht als Last durch den Arbeitsalltag schleppt“94. In Abgrenzung zu der aus ihrer Sicht solcherart vom Zeitgeist bestimmten Ästhetik formuliert die Schaubühne der Jahrtausendwende die Forderung nach einem „im besten Sinne zeitgenössische[n] Theater, das versucht, von den individuell-existentiellen und gesellschaftlich-sozialen Konflikten des Menschen in dieser Welt zu erzählen“95. Der Wahrnehmung einer Welt als eine in ihrer globalen Vernetzung und zeiträumlichen Entgrenzung unfassbare sowie der damit assoziierten Erfahrung von Orientierungslosigkeit und dauerhafter Überforderung soll eine theatrale Position entgegengesetzt werden, die sich durch Subjektivierung und Konkretisierung auszeichnet. In diesem Sinne formuliert Ostermeier das Credo, „sich wieder zu einer Inhaltlichkeit zu bekennen, zu einer Aussage, zu dem Versuch, gesellschaftlich wirksam zu sein“96. Der Schaubühnen-Ansatz zielt auf ein Texttheater, das „den Zuschauern eine Struktur gibt, die sie in ihrer Wirklichkeit nicht haben“97. Mit der Idee eines Gegenentwurfs zu bestehenden Ordnungen öffnet sich der theatrale Raum damit zugleich gegenüber der Sozialkritik. Dieser sucht die Schaubühne insbesondere durch die Wahl der Stoffe und Themen Gestalt zu geben. Zum einen wird ein Schwerpunkt im Zeitgenössischen gesetzt und zum anderen mit Arbeitsformen wie Hausautorschaft, Diskussionsforen („Streitraum“) und internationalen Autorenfestivals operiert. Das sozialkritische Engagement gewinnt dabei in der Selbstdarstellung der Schaubühnen-Protagonisten wie auch in den Schaubühnen-Inszenierungen durchaus moralisierende und didaktisierende Züge. So kritisiert Evelyn

94 Thomas Ostermeier in Jörder: Sehnsucht nach Welt, S. 49. 95 Thomas Ostermeier u.a.: „Wir müssen von vorn anfangen“, in: Die Tageszeitung, 20. Januar 2000, S. 15. 96 Thomas Ostermeier, Barbara Engelhardt: Die Angst vor dem Stillstand. [Ein Gespräch], in: Harald Müller, Jürgen Schitthelm (Hg.): 40 Jahre Schaubühne Berlin, Berlin 2002, S. 45-61, S. 50. (Das Gespräch wurde 2001 geführt). 97 Thomas Ostermeier in Burckhardt, Merschmeier, Wille: Ob es so oder so oder anders geht!, S. 76.

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Annuß nachdrücklich, dass eine „Neuerfindung des Prekariats auf der Bühne“, wie sie an der Schaubühne unter Ostermeier proklamiert wird, allein als „Spielmaterial für deren PR-trächtige Selbststilisierung“ funktionalisiert werde.98 Das Bedürfnis nach der theatralen Darstellung von Inhalten, wie es sich zum Ausgang des 20. Jahrhunderts auf der Bühne prononciert artikuliert, geht – nicht nur in der Diktion der Schaubühne – zum einen mit einer Fokussierung auf den Autor und zum anderen mit einer Wiederentdeckung des dramatischen Geschichtenerzählens einher. Die sich an Schreibtischen und in Theaterräumen formierende Erneuerung des Dramas als konstitutiver Bestandteil des szenischen Spiels fußt in entscheidender Weise in der Anrufung des Autors als desjenigen, der „die Verbindung des Theaters zur Welt“99 herstellt, der „eine Nabelschnur zur Wirklichkeit“100 legt. Er figuriert demnach als die Instanz, die für die Mitteilung von Aussagen und damit für eine Haltung zur Wirklichkeit bürgt. In ihrem essayistischen Plädoyer für eine dramatische Ästhetik führt die Dramaturgin Dagmar Borrmann in diesem Sinne aus: Dramatisierung heißt auch, den Text als ästhetisches Phänomen, als etwas Gemachtes zu behaupten. Autorschaft zu bezeugen im Sinne einer Verantwortlichkeit für eine bestimmte Erzählhaltung, eine Erzählstruktur und eine eigenständige Sprache. Eine subjektive Sicht zu formulieren als Reibungsfläche für einen Diskurs, statt sich scheinbar objektiv zu verstecken hinter der Fülle der Optionen.101

Borrmanns Fürsprache betont den Aspekt des Erzählens als Funktion dramatischer Darstellung und avisiert darin den vom Autor zu gewährleistenden Modus der Formgebung und der Welterschließung. Mit dem Erzählen ist dabei eine Größe benannt, die, wie Gabriele Brandstetter

98

Evelyn Annuß: Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 23-38, S. 113.

99

Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 12.

100 John von Düffel, Franziska Schößler: Interview. 25. März 2003 am Thalia Theater Hamburg, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 315-324, S. 316. 101 Borrmann: Mehr Drama!, S. 35.

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festhält, im Theater und auch in der Performance der 1990er Jahre „omnipräsent“102 ist – die allerdings keineswegs zwangsläufig mit dem Vorhandensein einer Fabel oder einer Handlung gleichzusetzen ist. So beobachtet Brandstetter eine theatrale Art des Geschichtenerzählens, die nicht auf den Plot, sondern auf einen „narrativen ‚Spot‘“ setzt und in der die erzählte Geschichte nicht als Fabel, sondern in selbstreflexiver Volte als „Erzähl-Akt“ selbst erscheint.103 Festzustellen sei, wie Brandstetter im Anschluss an den New Historicism formuliert, eine theatrale Form des anekdotischen Erzählens.104 Darüber hinaus lässt sich die Tendenz zum Erzählen, die sich in der deutschsprachigen Theaterlandschaft seit Mitte der 1990er Jahre abzeichnet, in den Kontext der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur stellen. Denn nicht nur in der Dramatik, sondern auch in der Prosa ist neben dem „Faible für eine aus Welt- und Sprachfragmenten bestehende Ausdrucksweise“ der „Wunsch nach sinnlich nachvollziehbaren Erzählstrukturen“105 zu erkennen. Zum Ausgang des 20. Jahrhunderts ist aus den Feuilletons vermehrt die Forderung nach ‚lesefreundlicherer‘ Literatur zu vernehmen, was meint: „Es soll wieder erzählt werden.“106 In Rückkoppelung mit dieser Erwartungshaltung bildet

102 Gabriele Brandstetter: Geschichte(n) Erzählen im Performance/Theater der neunziger Jahre, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999 (Theater der Zeit, Recherchen, 2), S. 27-42, S. 27. 103 Brandstetter: Geschichte(n) Erzählen, S. 29. 104 Vgl. Brandstetter: Geschichte(n) Erzählen, bes. S. 29-31; des Weiteren vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 20. 105 Thomas Kraft: The show must go on. Zur literarischen Situation der neunziger Jahre, in: Thomas Kraft (Hg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er, München 2000, S. 9-22, S. 15. 106 Vgl. Norbert Niemann, Eberhard Rathgeb: Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003, München, Wien 2003, S. 302. Dabei lassen sich in der – wissenschaftlichen und feuilletonistischen – Rezeption der Prosaliteratur ähnliche Assoziationsmuster und ästhetische Urteile antreffen wie in der Auseinandersetzung mit Theatertexten: Konstatiert werden allenthalben eine Vernachlässigung der ästhetischen Differenzqualität des Literarischen respektive des Theatralen, ein Verzicht auf eine forcierte Gesellschaftskritik und, daraus schlussfolgernd, eine Angepasstheit an den Imperativ des Marktes, der leicht konsumierbare und unterhaltende Literatur

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sich ein Schriftstellertypus heraus, der in einer von Spezialisten, Experten und Beratern bevölkerten Öffentlichkeit in der Rolle des „Experten fürs Geschichtenerzählen“107 auftritt. Es sei mithin explizit festgehalten, dass die Rückkehr zum Erzählen und zur Darstellung von Geschichten, wie sie in der Dramatik respektive im Theater ein Hochzeit erlebt, weder als gattungsspezifisches Phänomen aufzufassen noch allein als restaurative Reaktion auf die Verbreitung postdramatischer Ästhetik im Theater zu verstehen ist. Das Erzählen im Theater des neuen Realismus bedingt zum einen die Reaktivierung konventioneller Dramaturgien, die sich auf Figuren im Sinne individueller Charaktere und eine erzählbare Geschichte stützen, und zum anderen die Entwicklung einer „zeitgemäße[n]“108 Erzählweise. Im Rahmen einer von Handlung, Figuren und Konflikten getragenen Erzählstruktur stehen das Schicksal Einzelner und „die Tragödie des gewöhnlichen Lebens“109 im Vordergrund. Die Suche richtet sich, wie Ostermeier in einem Gespräch formuliert, auf „eine Leidensbiographie, die ich bis in die Sprache spüre, eine authentische Wut, Trauer über Verluste, ein radikales Statement gegenüber der Wirklichkeit“110. Das Interesse für extreme Gefühlslagen und für das Individuum bezeugt eine eigenwillige Affinität des Realismusansatzes zum Genre der Tragödie. Als wiederkehrende Beschreibungskategorie der neuen Dramatik, insbesondere der englischsprachigen, zeichnet

fordert. Für die Prosa werden etwa Beispiele der sogenannten Popliteratur ins Feld geführt. (Vgl. Clemens Kammler: Deutschsprachige Literatur seit 1989/90. Ein Rückblick, in: Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg 2004, S. 13-35, S. 24f.) 107 Niemann, Rathgeb: Inventur, S. 304. 108 Vgl. Thomas Ostermeier u.a.: „Wir müssen von vorn anfangen“, S. 15. 109 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 13. 110 Ostermeier in Jörder: Sehnsucht nach Welt, S. 49. In diesem Interview formuliert Ostermeier seine Haltung gegenüber dem Tragischen in folgenden Worten: „Tragische Welterfahrung – diesem Begriff fühle ich mich sehr verpflichtet. Die Unauflösbarkeit von Widersprüchen. Der Punkt, wo’s kein richtig und kein falsch mehr gibt, wo alle Entscheidungen in die Katastrophe führen können“ (Jörder: Sehnsucht nach Welt, S. 49).

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sich das Moment des Leidens ab, das sich im Wechselspiel von Glücksversprechen und existenziellen Ängsten abzeichnet. In der Koalition von Leidenserfahrung und Handlungsdramaturgie sieht Nikolaus Frei in seiner gleichnamigen Studie zur Dramatik des ausgehenden 20. Jahrhunderts – im Gegensatz zu Thomas Ostermeier111 – die Möglichkeit einer „Rückkehr der Helden“. Dabei profilierten sich, so Frei, „[d]ie Präferenz der Tragödie und der damit verbundene ‚Wille zur Ernsthaftigkeit‘ […] als Gegenentwurf zu ironischen oder ‚trashigen‘ Haltungen […], die ‚postdramatisches Theater‘ ausgezeichnet [haben]“112. Frei postuliert somit zum einen die Korrelation von Tragödie und dramatischem Texttheater und zum anderen deren Opposition zu Formen postdramatischer Theaterästhetik. Diese Gegenüberstellung lässt sich, wie bereits Franziska Schößler113 einwendet, kaum halten. Am Beispiel von Theatertexten Dea Lohers, Sarah Kanes und Anja Hillings geht Schößler dem Ineinandergreifen von Tragödie und einem postdramatischen Formenrepertoire nach. Sie bestimmt die Texte der drei Dramatikerinnen als Tragödien, die im Anschluss an die Tradition des Genres „das Verhältnis von Schmerz und Beobachtung, von Leiden und Sprache“114 befragen. Durch eine „Poetik der Überschreitung, der Unterbrechung und durch einen sprachlichen Minimalismus, der den Raum des Gestisch-Körperlichen eröffnet“115, stehen, so Schößler, gerade die postdramatisch gestalteten Theatertexte den klassischen Pathosformeln der Tragödie nahe.

111 Ostermeier hält fest: „Die neuen Protagonisten dieser Stücke sind keine Helden, sie kämpfen ohne jeden Sinn für das Tragische des eigenen Schicksals. […] Ihr Scheitern ist ohne Anklage, sie sind ihre eigenen Opfer und sind deshalb keine“ (Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 14). 112 Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 64. Der Ausdruck „Wille zur Ernsthaftigkeit“ ist zitiert aus Silvia Stammen: Vom verlorenen Posten auf den roten Teppich, S. 70. 113 Franziska Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Tragödie bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher, in: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin, New York 2010, S. 319-338. 114 Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik, S. 2. 115 Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik, S. 17.

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Aus Sicht postdramatischer Ästhetik diskutiert darüber hinaus Hans-Thies Lehmann die Möglichkeit der Tragödie jenseits des Dramas, was mit der Prämisse einhergeht, dass dramatisches Theater nur „eine Spielart von Theater“ ist.116 Der Frage nach der Tragödie und dem Tragischen in der Gegenwart sucht er unter Zuhilfenahme zweier Modelle zu begegnen: Mit dem „Konfliktmodell“ erfasst er die Vorstellung vom Tragischen „als Qualifizierung einer bestimmten Art von Konflikten bzw. ihrer Erfahrung“117. Hier kommen traditionelle Themen und Motive des Tragischen in den Blick, wobei vor allem der Konflikt „zwischen der Autonomie der Person mit dem Nomos des Sozialen oder des historischen Verlaufs“ als „Basis-Figuration“ variiert wird.118 Eine zweite Denklinie verfolgt das von Lehmann so bezeichnete „Überschreitungsmodell“: Zu begreifen ist „das Tragische als exemplarische Manifestation einer innerlichen und/oder äußerlichen Gewalt und Energie des Bruchs, der Überschreitung, der Maßlosigkeit, sofern damit eine immanente Selbstgefährdung und vollzogene oder drohende Vernichtung verknüpft sind“119. Sowohl mit Bezug auf das erste Modell als auch anhand des zweiten Modells lässt sich von der Gegenwart der Tragödie sprechen. Während Ersteres allerdings mit den Grenzen des Dramas konform geht, macht Letzteres das Tragische als Theater jenseits des Dramatischen denkbar.120 Lehmann formuliert die These der Möglichkeit einer „‚Tragödie des Spiels‘“121, die nicht dem Nur-Vorgespielten verhaftet bleibt, sondern die „als rein ästhetische, spektatorische Gegebenheit“122 die Grenze zwischen Spiel und Praxis nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar verunsichert und aufhebt.123 An diesem Punkt lässt sich, so scheint es, die Brücke vom Tragischen zum Politischen des (postdramatischen) Theaters schlagen.

116 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, in: Bettine Menke, Christoph Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin 2007 (Theater der Zeit, Recherchen, 38), S. 213-227, S. 218. 117 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 214. 118 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 214. 119 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 214f. 120 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 217. 121 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 220. 122 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, S. 224. 123 Lehmann: Tragödie und postdramatisches Theater, bes. S. 222 u. S. 224.

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Im Rahmen des neuen Realismus bleibt die Vorstellung vom Tragischen eng mit der Ästhetik des Dramatischen, insbesondere des Geschichtenerzählens verknüpft. Allerdings stellt das Plädoyer für Text und Autor, das sich mit einer Verpflichtung gegenüber der zeitgenössischen Lebenswelt, ihren Konflikten und Schicksalen, verbindet, auch die Notwendigkeit einer Transformation der konventionellen Formen in Rechnung. Demnach geben auch, wie Ostermeier in seinem Essay Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung darlegt, in dieser Konzeption von Theater die Medien die wirkungsästhetische „Vorlage, hinter die man nicht ungestraft zurückfallen darf“124. Mit anderen Worten, die formalen Anforderungen, die an den Text als Ausgangsmaterial der Inszenierung gestellt werden – und die umgekehrt der Text an die theatrale Erzähl- und Spielweise richtet – haben sich an den durch den Medienkonsum geprägten Wahrnehmungsgewohnheiten zu orientieren: Das filmische Erzählen, die Montage und die Ellipse, müssen sich für das Theater sogar noch radikalisieren – so zum Beispiel durch eine willkürliche Dramaturgie völlig unerwarteter Wendungen in rascher Folge und rasanter Auf- und Abtritte, von Figuren ohne Vorgeschichte, die sich nicht erklären, von Typen, die sich über ein Vorwissen der Genres der Populärkultur und der Großstadttypologie erschließen und genießen lassen.125

Wie im postdramatischen Theater lassen sich auch im Ansatz des neuen Realismus Konsequenzen aus der Allgegenwart digitaler Systeme ablesen. Bei beidem kann in den schlechtesten Beispielen der Eindruck einer ‚affirmativen‘ Ästhetik entstehen, die die Mittel des Theaters nicht nur in ihrer eigenen zeiträumlichen Ordnung behauptet, sondern den von Fernsehen, Film, Videoclip und Internet geprägten Wahrnehmungsweisen anzupassen sucht. Hier wie da lassen sich allerdings auch produktive und bisweilen kritische Auseinandersetzungen mit den Phänomenen der Beschleunigung, der Simultaneität und der zeiträumlichen Entgrenzung finden. Es ist als Ausprägung eines ebenso konstruktiven wie andauernden Distinktionskampfes126 im Feld des

124 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 13. 125 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 13. 126 Von „Distinktionskämpfen innerhalb der Theaterszene“ um 1995 spricht Franziska Schößler: „Es sind nicht an erster Stelle ‚kritische‘ Ereignisse

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Theaters zu verstehen, dass jede der beiden ‚Seiten‘, die Befürworter eines dramatischen Theaters einerseits und die Vertreter einer postdramatischen Ästhetik andererseits, der anderen die Affirmation an bestehende, marktkonforme Wahrnehmungsweisen zum Vorwurf macht und als Fehlleistung auslegt. Während hier die Anpassung an eine postmoderne Fragmentierung der Erlebenswelt als ermüdende Überforderung angeklagt wird, steht dort die „(trügerische) Harmonie mit dem Publikum“ und der Rückzug „auf ein formal kommensurables Theater“127 im Fokus der Kritik. Dabei dürfte mit einem Blick auf das Spektrum der als ‚postdramatisch‘ oder ‚realistisch-dramatisch‘ attributierten Theaterereignisse und Theatertexte unversehens ins Auge fallen, dass eine polarisierende Beschreibung der Heterogenität der Formen, die das Verhältnis von ästhetischem Spiel und Wirklichkeit gestalten, keineswegs befriedigend ausfallen kann. Die beobachtete und zuweilen befürchtete128 Rückkehr des literarischen Textes auf die Theaterbühne bedeutet nicht notwendig die Verfechtung der Werktreue. Tatsächlich entstehen Theatertexte, die sich auf die Ästhetik des Postdramatischen einlassen und diese mitrealisieren, wie etwa das viel zitierte Beispiel Sarah Kane’scher Dramatik zeigt. Es ist mit Hans-Peter Bayerdörfer als Tatsache anzuerkennen und festzuhalten, „dass die literarischen Autoren nach wie vor in der Theaterentwicklung ein entscheidendes Wort mitsprechen und – in Schrittmacherrollen wie als Korrektiv – sich selbst den drän-

oder gesellschaftliche Entwicklungen, die die neue Theateravantgarde auf den Plan rufen, sondern Konflikte innerhalb des literarischen Feldes, Konflikte zwischen poetologischen Konzepten, die beispielsweise die neue Signatur einer sozialen Dramatik entstehen lassen und den Blick für ‚Wirklichkeiten‘ schärfen, genauer: Wirklichkeit neu definieren“ (Franziska Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 379-396, S. 380). 127 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 15. 128 Joachim Fiebach fürchtet, in Anbetracht von zunehmender dramatischer Literatur auf der Bühne, um die Zukunft des „künftigen kreativen Theaters“, die er vor allem im „Regietheater“ aufgehoben weiß. (Vgl. Fiebach: Von den 80er zur Jahrhundertwende, S. 352-355.)

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genden Impulsen der Bühne aussetzen und die ästhetischen Dilemmata der Gegenwart mit austragen“129.

129 Hans-Peter Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 1-14, S. 14.

3. Arbeit und Familie in der Tradition des sozialen Dramas

In einer Umfrage der Fachzeitschrift Theater der Zeit aus dem Jahr 1997 zum Thema „Gibt es eine Dramatik der 90er Jahre?“ stellt der Verleger und Lektor Karlheinz Braun die folgende Beobachtung an: Bei Durchsicht der neuen Stücke fällt auf, daß die Autoren durchaus wieder eine Geschichte erzählen wollen, daß sie auf experimentelle Formen eher verzichten zugunsten der traditionellen Dramaturgie eines mehraktigen Stückes, wobei hier alle möglichen Genres, vom Volksstück über das Konversationsstück, dem Stationendrama bis zur Groteske und der Farce benutzt werden. So wenig innovativ auch diese Formen sein mögen (vergessen wir nicht die Invasion der Monodramen), so auffällig ist die Tendenz der Autoren zu einem unterhaltsamen Theater, wobei der fehlende Zeigefinger durchaus ersetzt wird durch einen moralischen, mag er noch so verdeckt erscheinen.1

Diese Betrachtung legt den Umkehrschluss nahe, dass die Reflexion auf die Traditionen dramatischen Schreibens mehr oder weniger einhergeht mit der Rückkehr zum Geschichtenerzählen. Jedoch ist festzuhalten, dass auch Theatertexte, die einen eher kritischen Umgang mit der dramatischen Form aufweisen und demnach keiner „traditionellen Dramaturgie“ verpflichtet sind, auf den Fundus konventioneller Genres der Dramengeschichte zurückgreifen, etwa indem sie diese in ihren Figurationen oder Sujets zitieren. Insbesondere die im Gegenwartstheater geführte Auseinandersetzung mit Themen des Sozialen,

1

Gibt es eine Dramatik der 90er Jahre? [Umfrage], in: Theater der Zeit 52 (1997) H. März/April, S. 31-33, S. 33.

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allem voran die von tagespolitischen Debatten und zeitdiagnostischen Befunden begleitete Diskussion um die sozialen Felder Arbeit und Familie sowie ihr Zusammenwirken, zeigt sich an das Wechselspiel von traditioneller Bindung und Innovation, von Genrebezug und individueller Stilbildung gekoppelt. Die Theatertexte greifen seit den 1990er Jahren auf Genretraditionen als Repertoire von Formen und Stilmitteln zurück, mit denen sich Texte individuell gestalten lassen. Die in der vorliegenden Untersuchung analysierten zeitgenössischen Theatertexte lassen sich gemäß dem thematischen Auswahlkriterium, Arbeit und Familie, der Gattung des sozialen Dramas zuordnen. Während diejenige Dramatik, in der die Familie Zentrum des dramatischen Konflikts ist, konventioneller Weise auch dem Genre des Familiendramas zugeordnet wird, hat sich im literaturwissenschaftlichen Diskurs für Theatertexte, die sich dem Bereich der Arbeit widmen, kein entsprechendes eigenes Genre herausgebildet. Die Rede vom Arbeits- oder auch Wirtschaftsdrama findet erst seit wenigen Jahren Eingang in die Forschungsliteratur, verstärkt nach 1996, dem Uraufführungsjahr von Urs Widmers erfolgreichem „Königsdrama der Wirtschaft“2, Top Dogs. Zumeist erfasst der Begriff dann Theatertexte der jüngeren und jüngsten Vergangenheit. Nur sehr selten wird er auf Dramen aus der Zeit vor Beginn des 20. Jahrhunderts angewandt. Tatsächlich werden die Theatertexte, die sich mit dem Handlungsfeld der Arbeit oder Berufstätigkeit auseinandersetzen, entweder mit der sozialistischen Dramatik in Zusammenhang gebracht, die einen ideologischen und klassenkämpferischen Standpunkt propagiert, oder aber der Gattung des sozialen Dramas zugeordnet. Die in dieser Untersuchung analysierten Theatertexte zum Thema Arbeit werden analog zum Begriff des Familiendramas auch Arbeitsdrama3 genannt. Die Gemeinsamkeiten der unter dem Gattungsnamen ‚soziales Drama‘ subsumierten Texte zu destillieren und daraus eine Definition des Genres zu fügen, erweist sich als schwieriges Unterfangen. Zum

2

Gerhard Jörder: Die Globalisierung frißt ihre Kinder. Preisrede auf „Top Dogs“ beim Berliner Theatertreffen, in: Theater heute Jahrbuch (1997), S. 113-117, S. 114.

3

Der Begriff ‚Arbeitsdrama‘ wird dem Begriff ‚Wirtschaftsdrama‘ vorgezogen, da der Akzent der ausgewählten Theatertexte stärker auf der Arbeit als Handlung liegt und weniger auf den Strukturen oder dem System der Wirtschaft.

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einen lässt sich ins Feld führen, dass ‚soziale‘ Fragen oder Konflikte per se ein zentrales Gattungsmerkmal des Dramas darstellen und die Formulierung ‚soziales Drama‘ damit tautologischen Charakter hat. Zum anderen lassen sich pragmatisch anmutende Empfehlungen anführen, wie etwa diejenige, derzufolge der Begriff ‚soziales Drama‘ ausschließlich auf die Dramatik der „Zeit nach dem bürgerl[ichen] Trauerspiel u[nd] vor dem Auftreten dezidiert sozialist[ischer] Dramatik etwa seit der Jahrhundertwende“ und damit konzentriert auf die Epoche des Naturalismus angewandt werden sollte.4 Allerdings bedeutet diese Bestimmung die Gleichsetzung von sozialem Drama mit dem naturalistischen Drama und damit eine übermäßige Verengung des Begriffs. Beide extremen ‚Ansätze‘ für eine Definition des sozialen Dramas haben sich im literaturwissenschaftlichen Diskurs nicht durchgesetzt. In Anbetracht des Spektrums an Theatertexten, die der Begriff zu erfassen sucht, ist daher zu fragen: Welche inhaltlichen und/oder formalen Kongruenzen weisen Theatertexte so unterschiedlicher Autoren wie Jakob Michael Reinhold Lenz, Gerhart Hauptmann, Marieluise Fleißer, Franz Xaver Kroetz und Peter Turrini, um nur einige zu nennen, auf? Eine der jüngeren Monographien zum sozialen Drama, die Studie5 von Theo Elm, verortet die literarische Gattung naheliegenderweise in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sozialgeschichte. Die Untersuchung verschränkt mithin ästhetischen und historischen Diskurs. Von der Sozialgeschichte unterscheidet sich das soziale Drama nach Elm dadurch, dass es in der Reflexion von (Zeit-)Geschichte einen Akzent auf den subjektiven Erlebnishorizont legt, gewissermaßen eine Perspektive ‚von unten‘ ausformuliert und, aus Sicht des Zuschauers, mittels der Vergegenwärtigung von Vergangenem „DaseinsMöglichkeiten“ entwirft.6 Im Inhaltlichen spiegeln sich diese Kriterien, wie Elm ausführt, in der Hinwendung zu „Milieus sozialer Bedürftigkeit“, zu den „kleinen Leuten“ als Antihelden und zu einer „gemeinnützigen Gesinnung“, die wirkungsästhetisch zumeist in einen

4

Günther Mahal: [Artikel] Soziales Drama, in: Günther Schweikle, Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2. überarb. Aufl., Stuttgart 1990 [1984], S. 434; Hervorhebung getilgt, C.B.

5

Theo Elm: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz, Stuttgart 2004.

6

Elm: Das soziale Drama, S. 41-43.

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sozialen Appell mündet.7 Dabei sei trotz oder gerade aufgrund der Parteinahme für die gesellschaftliche Peripherie, für die sozialen Außenseiter und Ausgeschlossenen, und trotz der auf Mitleid und Engagement ausgerichteten Wirkungsabsicht signifikant, dass das soziale Drama, wie Elm herausstellt, „zur U-Kunst, zur populären Gebrauchspoesie, […] zum kritischen Volksstück“ tendiert.8 Getragen wird diese Tendenz, will man Elms Hypothese mitgehen, zum einen durch das vielfach in realistischer Manier vorgetragene Interesse an der Zeitbezogenheit des Dargestellten – die Stücke spielen den vorangestellten Zeitangaben zufolge meist im ‚Heute‘, in ‚unserer Zeit‘, im Entstehungsjahr des Textes – und zum anderen durch die Wahl formaler Darstellungsmittel. Elm identifiziert als charakteristische Formelemente des sozialen Dramas die „Problematisierung des Dialogs“ sowie verschiedene Arten der ästhetischen Verfremdung, nämlich die Karikierung der Figuren, den „Hang zur Groteske“ und die Parodierung überkommener Formen.9 Es wird unmittelbar ersichtlich, dass diese formästhetische Bestimmung, die sich auffällig an der Klotz’schen Kategorie des ‚offenen Dramas‘10 orientiert, vor allem die ästhetische Heterogenität der unter dem Gattungsnamen ‚soziales Drama‘ versammelten Theatertexte hervorhebt. Demgegenüber scheint eine inhaltliche Festlegung der Gattung auf den ersten Blick weitaus homogeneren Merkmalen zu folgen. In erster Linie konzentriert sich eine inhaltliche Bestimmung auf das Vorhandensein unterprivilegierter Figuren und Konfliktstoffe, die der Sozialgeschichte des Bürgertums zu entnehmen sind. Von Bedeutung sind mithin die figurativ repräsentierten Oppositionen von Bürger und Adel sowie von Bürger und Arbeiter. Den Akzent auf die (Selbst-)Thematisierung des Bürgertums im sozialen Drama zu setzen, heißt umgekehrt und konsequentermaßen bereits das bürgerliche Trauerspiel ex-

7

Elm: Das soziale Drama, S. 16; vgl. auch Franziska Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003, S. 7-9; außerdem grundlegend: Elise Dosenheimer: Das deutsche soziale Drama von Lessing bis Sternheim, Reprint der Ausgabe von 1949, Darmstadt 1967.

8

Elm: Das soziale Drama, S. 17.

9

Elm: Das soziale Drama, S. 25-29.

10 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, 14. Aufl., München 1999 [1960].

3. A RBEIT

UND

F AMILIE IN

DER

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plizit in die Gattungsgeschichte des sozialen Dramas einzubeziehen, wie es nach der Studie Elise Dosenheimers von 1949 in jüngster Zeit Franziska Schößlers Einführung11 in das Genre unternimmt. Eine integrative Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Trauerspiel und dem sozialen Drama begründet sich konkret in dem gemeinsamen Sujet der Familie sowie darüber hinaus in der hier wie dort verhandelten Frage nach dem sozialen Aufstieg, die den Blick unwillkürlich auf die Sphäre der Erwerbstätigkeit lenkt. Es ist das bürgerliche Trauerspiel, in dem die Themen ‚familiale Rollenverteilung‘, ‚Trennung von Arbeit und Familie‘ sowie ‚Öffentlichkeit und Privatheit‘ ins Zentrum der dramatischen Verhandlungen rücken. Der im Folgenden gegebene Überblick zur Darstellung von Familie und Arbeit in der Dramengeschichte setzt mit dem Genre des bürgerlichen Trauerspiels ein und führt bis in den Zeitraum der zur eingehenden Analyse ausgewählten Theatertexte, also bis um die Jahrtausendwende. Die Übersicht schließt notwendigerweise vielfältige Variationen der dramatischen Repräsentation von Arbeit und Familie aus und auch von den gattungsgeschichtlich zentralen, das meint in der Regel: kanonisierten, Theatertexten können nicht alle, auch nicht die meisten, Erwähnung finden. Herausgegriffen werden für den Zeitraum bis 1990 markante Genres und historische Formationen, die anhand einzelner Texte exemplarisch beleuchtet werden. Die Selektion wurde in erster Linie mit Blick auf die für den Analyseteil dieser Arbeit ausgewählten Theatertexte vorgenommen. Die gesetzten Schlaglichter markieren den dramengeschichtlichen Raum in der Art, dass sich traditionale und innovative Elemente der Auseinandersetzung mit Arbeit und Familie, wie sie die im Zentrum dieser Studie stehenden zeitgenössischen Theatertexte leisten, benennen und für die Textanalyse fruchtbar machen lassen. Von Interesse sind dabei zunächst das Ensemble der Figuren sowie deren dramaturgische Konstellation, des Weiteren die räumliche und zeitliche Verortung des Geschehens, sodann die Frage, im Hinblick auf welche Aspekte die zentralen Themen Arbeit und Familie diskutiert und unter Umständen kritisch reflektiert werden, und schließlich die bedeutendsten Merkmale der wirkungsäs-

11 Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33). Elm konzentriert seine Studie auf soziale Dramen seit Lenz. (Vgl. Elm: Das soziale Drama.)

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thetischen Ausgestaltung der Familien- und Arbeitsproblematik. Im abschließenden Abschnitt des Kapitels, „Arbeit und Familie in der Dramatik seit den 1990er Jahren“, liegt der Akzent nicht auf den Genres, sondern soll das Spektrum der Familien- und der Arbeitsdramatik anhand zentraler Themenstellungen wie ‚Inzest‘, ‚deutschdeutsche Zeitgeschichte‘, ‚Konkurrenz um Arbeit‘ oder ‚Arbeitslosigkeit‘ aufgefächert werden.

3.1 B ÜRGERLICHES T RAUERSPIEL Das bürgerliche Trauerspiel gilt aus Sicht der neueren deutschen Literaturgeschichte als der dramenhistorische Ort, an dem die Familie erstmals im Zentrum dramaturgischer Überlegungen steht. Das sich zur Zeit der Aufklärung herausbildende Genre fokussiert Konflikte, die ihren Grund maßgeblich in den sozialen Beziehungen innerhalb der Familie sowie zwischen der Familie und deren Außenwelt, genauer: der Welt des Adels, haben. Im Anschluss an das weinerliche Lustspiel und die Tragikomödie einerseits und in Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Empfindsamkeit12 andererseits konzentriert sich das bürgerliche Trauerspiel auf die ethischen und emotionalen Seiten familiärer und allgemein privater Beziehungen.13 Für deren Darstellung erschließt es in gattungskonstitutiver Weise den Raum des Häuslichen und Privaten, der zumeist dem öffentlichen Raum des Höfischen entgegengesetzt wird. Das tragische Subjekt präsentiert sich dementsprechend nicht mehr als der heroische Held und das bewunderungswürdi-

12 Die enge Bindung von Lessings Theorie an die Empfindsamkeitsdoktrin betont Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 32. 13 Festzuhalten ist auch die Prägung der thematischen und wirkungsästhetischen Konzeption des bürgerlichen Trauerspiels durch das englische Drama, den englischen Roman und den Sensualismus, wie sich am Beispiel der Miss Sara Sampson und ihren intertextuellen Referenzen auf George Lillos The London Merchant und Samuel Richardsons Clarrisa zeigen lässt. (Vgl. dazu Irmela von der Lühe: Das bürgerliche Trauerspiel, in: Werner Frick (Hg.): Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, hg. zs. mit Gesa von Essen u. Fabian Lampart, Göttingen 2003, S. 202-217, S. 203f.)

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ge Vorbild, nicht als der König und als einer der Großen der Welt, sondern tritt als der von bürgerlichen Tugenden geleitete Jedermann auf. In den Blick rückt der Einzelne als Privatmensch, der sich als ‚gemischter Charakter‘ dem Zuschauer zur Identifikation anbietet und auf dessen Empathie zielt. Nach Lessings Trauerspielkonzeption sind es das Mitleid und die Furcht als „das auf uns selbst bezogene Mitleid“14, auf die eine im Alltäglichen und Bürgerlichen gründende Tragik in erster Linie zielt.15 Dabei verweist das Attribut im Kompositum ‚bürgerliches Trauerspiel‘ nicht primär auf die Standeszugehörigkeit des Personals und es ist keinesfalls als ausschließlich soziologische Kategorie zu verstehen, wie Peter Michelsen ausführt: Wenn man also die neue Tragödie ‚bürgerlich‘ nennt, so wird damit ohne Frage der Stand angesprochen – alle theoretischen Äußerungen beziehen sich deutlich auf das im Verhältnis zur großen Tragödie niedere gesellschaftliche Personal, das in den Dramen selbst auch auftritt –; aber ihren Grund hat die Bevorzugung der mittleren Stände als der eigentlich tragödienwürdigen darin, daß bei ihnen die als Barrieren zum ‚Mensch‘-sein angesehenen Repräsentationselemente für verhältnismäßig gering erachtet wurden. [...] [F]estzuhalten ist, daß die Bürgerlichkeit des neuen Trauerspiels sich im Entscheidenden nicht

14 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 6: Werke 1767–1769, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt/Main 1985, S. 181-694, S. 557 [75. Stück]. 15 In Lessings Brief an Nicolai im November 1756 heißt es: „Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 3: Werke 1754–1757, hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung v. Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel, Frankfurt/Main 2003, S. 662-736, S. 671.)

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so sehr an der Zugehörigkeit der Personen zum Bürgertum erweist als vielmehr daran, daß es gleichgültig ist, welchem Stand die Personen angehören.16

Lessings Trauerspieltheorie sucht die Standeszugehörigkeit in ihrer einstigen Bedeutung für den tragischen Konflikt zu eliminieren und betont die allgemein menschliche Fähigkeit des Mitleidens, die im theatralen Ereignis insbesondere dadurch zum Tragen kommt, dass der gemischte Held in seiner Innerlichkeit, seiner Emotionalität und Individualität vorgestellt wird. Die Lessing’sche Trauerspieldramaturgie und die ihr eingeschriebene Mitleidsethik lässt sich darin als Gegenentwurf zu der von der Individualisierung17 vorangetriebenen „Isolation der bürgerlichen Subjekte“ lesen.18 Die Gegenbewegung zur sozialen Isolierung ist auf inhaltlicher Ebene in der Konzentration auf den Kreis der Familie zu fassen.19 Die genretypischen Figurationen und Ereignisse des bürgerlichen Trauerspiels lassen sich in enger Wechselbeziehung mit dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, das sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildet20, lesen. Das Bild der bürgerlichen Familie, die sich von einer Zweck- in eine Gefühls-

16 Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Würzburg 1990, S. 172. 17 Die Individualisierung als Merkmal des Bürgertums im ausgehenden 18. Jahrhundert ist assoziiert mit dessen sozialer Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich seine Position in der gesellschaftlichen Ordnung selbst erarbeiten musste. Vgl. aus familiensoziologischer Sicht Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, 6. Aufl., Frankfurt/Main 1993 [1982], S. 272-274. 18 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 32. 19 Wie Rosenbaum festhält, lässt sich der Rückzug des entstehenden Bürgertums auf den „engen Familienkreis“ mit dessen unvollständiger Integration in die ständische Ordnung begründen: „Die Konzentration auf die Familie und ihre Stilisierung zur gefühlvollen und wahrhaft menschlichen Lebensform wurden also durch die sozialstrukturelle Situation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zumindest nahegelegt, aus der sozialen Not eine Tugend gemacht“ (Rosenbaum: Formen der Familie, S. 275.) 20 Vgl. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 263-284.

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gemeinschaft verwandelt und damit einem veränderten Bestreben nach Individualität Ausdruck verleiht, wird im bürgerlichen Trauerspiel dabei ebenso (re-)produziert wie kritisch reflektiert, wie sich hinsichtlich der Korrelationen von Moral, Geschlecht und Gefühlskultur beobachten lässt. Die in den Trauerspielen vorgeführte Familienordnung folgt der an der Separierung von Erwerbs- und Privatsphäre ausgerichteten geschlechtlichen Ausdifferenzierung der Rollen und Funktionen der einzelnen Familienmitglieder, von denen ausgehend wiederum die Fähigkeiten und Charaktereigenschaften von Frauen und Männern als angeborene und naturgegebene postuliert werden.21 Der Lehre der ‚natürlichen Geschlechtscharaktere‘ entsprechend kommen im bürgerlichen Trauerspiel mit dem privaten Raum als Schauplatz das Handlungsfeld der Frau und die Familie als empfindsame Gefühlsgemeinschaft in den Blick. Allerdings werden nicht die Mütter als Vertreterinnen des familialen Normen- und Wertesystems gezeigt, sondern die Väter. Sie treten nicht nur als Familienautorität nach außen auf, sondern fungieren auch ‚im Haus‘ als Ordnungshüter und Erzieher.22 Die Marginalisierung und Abwertung der Mutter, die entweder wie in Miß Sara Sampson23 (1755) schon vor Stückauftakt gestorben ist, oder wie Claudia in Emilia Galotti24 (1772) und wie Millers namenlose Frau in Kabale

21 Zur Theorie der Geschlechtscharaktere vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976 (Industrielle Welt, 21), S. 363-393. 22 Vgl. Ursula Hassel: Familie als Drama. Studien zu einer Thematik im bürgerlichen Trauerspiel, Wiener Volkstheater und kritischen Volksstück, Bielefeld 2002, S. 44. 23 Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 3: Werke 1754–1757, hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung v. Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel, Frankfurt/Main 2003, S. 431-526. 24 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt/Main 2000, S. 291-372.

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und Liebe25 (1784) negativ als Saboteurin und Verräterin der bürgerlichen Moralkodices gezeichnet ist, korrespondieren in den Familienkonstellationen der bürgerlichen Trauerspiele mit der Konzentration auf den Vater und dessen Beziehung zur Tochter.26 Die Bindung zwischen Vater und Tochter, in der Tugendanspruch und Gefühlsneigung in nuce zusammengeführt werden, bildet einen konstitutiven Bestandteil der Konfliktentwicklung im bürgerlichen Trauerspiel. Mit ihr werden das Verhältnis von Paarliebe und Familienliebe, von Tugendforderungen und individueller Gefühlsneigung wie auch die ökonomische Dimension der Familiengemeinschaft problematisiert. Als ein konfliktauslösendes Moment wird in den drei genannten, die Gattungsnormen prägenden Trauerspielen von Lessing und Schiller – die an dieser Stelle exemplarisch für das Genre angeführt werden – die Verbindung der Tochter mit einem Liebhaber inszeniert.27 Die Liebesbeziehung der Tochter besitzt, besonders wenn sie nicht ausdrücklich die Zustimmung des Vaters findet, das Potenzial, die patriarchale Ordnung der Herkunftsfamilie und damit die Macht des Vaters zu erschüttern. Denn der Vater ist als patriarchales Oberhaupt nicht nur ökonomischer Versorger und sozialer Beschützer seiner Frau und seiner Kinder, sondern er sieht sich auch in der Rolle eines Wächters über die Tugend und Sexualität der Tochter. Die Sexualität der Tochter wird zur „Bedrohung des väterlichen Machtgefüges“, insofern sie andere Männer mit dem Vater in Konkurrenz treten lässt28, und zwar sowohl hinsichtlich der mit Besitzansprüchen gekoppelten patriarchalen Verfügungsgewalt als auch in Bezug auf die Liebe der Tochter und

25 Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Harro Hilzinger u.a., Bd. 2: Dramen 1, hg. v. Gerhard Kluge, Frankfurt/Main 1988, S. 561-677. 26 Vgl. Inge Stephan: „So ist die Tugend ein Gespenst“. Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller, in: Lessing Yearbook (1985) Bd. XVII, S. 1-20, S. 14. Ein anderes Bild der Gattung ergibt sich mit dem Blick auf Trauerspiele, die von Autorinnen verfasst wurden, wie etwa Irmela von der Lühe: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 215f. betont. 27 Vgl. von der Lühe: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 209. 28 Stephan: „So ist die Tugend ein Gespenst“, S. 15.

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der Tochter als Frau.29 Im bürgerlichen Trauerspiel stellt sich dieser Wettstreit als einer um das bürgerliche Werte- und Tugendsystem insgesamt dar, in dem Familiarität nicht zuletzt über die (väterliche) Beherrschung von Emotionen und Sinnlichkeit bestimmt wird. In Lessings Miß Sara Sampson tritt Sir William ganz im Sinne der Empfindsamkeit als zärtlicher und im wörtlichen Sinne in Tränen30 aufgelöster Vater in Erscheinung.31 Er ist bereit, seiner Tochter, die mit ihrem Geliebten Mellefont auf der Flucht vor ihm und der vorenthaltenen väterlichen Einwilligung ist, zu verzeihen. Allerdings zeigt sich diese Geste nicht frei von eigennützigen Motiven32, denn Saras Vater fordert mit seiner Geste der Vergebung eine töchterliche Pflicht ein, auf deren Erfüllung er Anspruch erhebt: „Ich kann sie länger nicht entbehren; sie ist die Stütze meines Alters, und wenn sie nicht den traurigen Rest meines Lebens versüßen hilft, wer soll es denn tun?“33 In den Worten Sir Williams steht zunächst das emotionale Bedürfnis im Vordergrund. Dies unterstreicht etwa auch seine Gewichtung des gegen die bürgerliche Moral verstoßenden töchterlichen Verhaltens, wenn er die Liebe schwerer als die sexuelle Unschuld wiegen lässt: „Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt sein wollen.“34 Saras Vater bemisst die Tugendhaftigkeit seiner

29 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 45f. 30 Irmela von der Lühe hält zur Figur des weinenden Vaters fest: „Die Beglaubigung und Steigerung des Gefühls im Tränenfluß, und zwar auch der Männer und insbesondere der patriarchalen Väter, gehört zu den auffälligsten Merkmalen der neuen Gattung, sie verbindet Theater und Publikum zu einer ganz neuen Gemeinschaft der empfindsamen, von ihrer emotionalen Produktivität selbst überraschten, in ihr sich gänzlich identifizierenden Gemeinschaft“ (Lühe: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 209.) 31 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 48. 32 Vgl. u.a. Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986 (Germanistische Abhandlungen, 57), S. 51-55; außerdem: Karin A. Wurst: Familiale Gewalt ist die ‚wahre Gewalt‘. Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings dramatischem Werk, Amsterdam 1988 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 75), S. 111-113. 33 Lessing: Miß Sara Sampson, S. 434 (I, 1). 34 Lessing: Miß Sara Sampson, S. 434 (I, 1).

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Tochter demnach weniger nach Moralgesetzen als vielmehr mit „Vertrauen auf die innere Integrität der Tochter, die in der Integrität der Vater-Tochter-Beziehung ihr Fundament hat“35. Die Vaterliebe Sir Williams begründet allerdings nicht allein die Bereitschaft zur Vergebung, sondern auch einen emotionalen Besitzanspruch auf die Tochter, der, wie der Hinweis auf ihre Fürsorgepflicht belegt, auch eine ökonomisch kalkulierende Komponente enthält. Weniger vom Vokabular der Empfindsamkeit verdeckt kommt diese Verquickung in Schillers Kabale und Liebe zur Sprache, wenn der Musikus Miller seine Tochter Luise, die mit dem exzentrisch liebenden Prinzen Ferdinand liiert ist, zur Rede stellt: Höre Louise [sic!], wenn du noch Platz für das Gefühl eines Vaters hast – Du warst mein Alles. Jetzt vertust du nicht mehr von deinem Eigentum. Auch Ich [sic!] hab alles zu verlieren. Du siehst, mein Haar fängt an grau zu werden. Die Zeit meldet sich allgemach bei mir, wo uns Vätern die Kapitale zu statten kommen, die wir im Herzen unsrer Kinder anlegten – Wirst du mich darum betrügen, Louise [sic!]? Wirst du dich mit dem Hab und Gut deines Vaters auf und davon machen?36

Luise wird es nicht tun, denn sie weiß darum, dass sie einen Vater hat, „der kein Vermögen hat, als diese einzige Tochter“37. So stellt sich Vaterliebe als eine emotionale Investition38 in eine ökonomisch abgesicherte Zukunft dar. Die Tochter hat demnach den Status eines Eigentums und einer Ware, die durch die töchterliche Tugend ihren Wert erhält und dem Vater vom Liebhaber streitig gemacht wird.39

35 Von der Lühe: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 210. 36 Schiller: Kabale und Liebe, S. 655 (V, 1). 37 Schiller: Kabale und Liebe, S. 622 (III, 4). 38 Gegenüber Ferdinand gesteht Miller, er habe seine „ganze Barschaft von Liebe an der Tochter schon zugesetzt“ (Schiller: Kabale und Liebe, S. 663 [V, 3]). Und Ferdinand bedenkt vor seiner Mordtat, dass er Miller, „einem Bettler“, mit Luise „den letzten Notpfennig“ rauben werde (Schiller: Kabale und Liebe, S. 663 [V, 4]). 39 Von der Frau als ‚Ware‘ spricht explizit der Kammerdiener Marinelli in Bezug auf Emilia Galotti, wenn er dem Prinzen, Hettore Gonzaga, empfiehlt: „[…] Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann,

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Der Besitzanspruch des Vaters auf die Tochter und damit zugleich dessen Konkurrenzsituation mit dem Liebhaber sind darüber hinaus sexuell konnotiert. Die Gespräche zwischen Vätern und Töchtern im Trauerspiel, insbesondere diejenigen, die um das Thema der Liebe kreisen, lassen aufgrund ihrer intensiven Emotionalität bisweilen eher auf eine Paarbeziehung denn auf eine Eltern-Kind-Beziehung schließen40 und erwecken damit den Anschein des Inzestuösen. So bedrängt Miller seine Tochter Luise, die ihm gerade ihren Selbstmordentschluss offenbart hat, mit dem von Eifersucht und Verlustangst gleichermaßen genährten Ausruf: „Wenn die Küsse deines Majors heißer brennen als die Tränen deines Vaters – stirb!“41 Luise reagiert auf die libidinös aufgeladene Aufforderung des Vaters wie auf einen stürmisch vorgebrachten Heiratsantrag42: „Vater! Hier ist meine Hand! Ich will – […].“43 Die Sinnlichkeit und erotische Liebe, die der bürgerliche Tugendbegriff tabuisiert und denen vor allem die Töchter zu entsagen haben, unterlaufen in diesen emphatisch vorgetragenen Worten und Gesten den aufklärerischen Anspruch ‚beherrschter‘ Empfindsamkeit.

kauft man aus der zweiten: – und solche Waren nicht selten aus der zweiten um so viel wohlfeiler“ (Lessing: Emilia Galotti, S. 304-305 [I, 6]). 40 Stephan hält für Miß Sara Sampson fest: „Sir William Sampson klagt über den Verlust seiner Tochter wie ein verlassener Liebhaber. […] Sara erwidert die Liebe ihres Vaters mit gleicher Intensität. Sie fühlt sich zwischen der Liebe zu ihrem Vater und zu Mellefont hin- und hergerissen“ (Stephan: Frauenbild und Tugendbegriff, S. 12). Und für Kabale und Liebe konstatiert sie: „[…] [I]n der Liebe zur Tochter holt Miller offensichtlich all die Gefühle nach, die er in der Ehe nicht hat ausleben können. Er träumt von einem gemeinsamen Leben mit der Tochter, in dem die Mutter gar nicht vorkommt“ (Stephan: Frauenbild und Tugendbegriff, S. 14). 41 Schiller: Kabale und Liebe, S. 657 (V, 1). 42 Schößler spricht von einem „Bündnis zwischen Vater und Tochter, das einer Ehe in nichts nachsteht“, und verweist, um die Entsprechung der Ansprüche von Miller und Ferdinand aufzuzeigen, auf die „identische Metaphorik ihrer Liebeselogen: Wie für Ferdinand ist Luise auch für den Vater der Inbegriff des Himmels […]“ (Franziska Schößler: Gewalt in der bürgerlichen Kleinfamilie. Zum bürgerlichen Trauerspiel und zur Dramatik der Gegenwart, in: Freiburger Frauenstudien (2006) Bd. 18: Elternschaft, S. 213-229, S. 219). 43 Schiller: Kabale und Liebe, S. 657 (V, 1).

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Das mögliche Umkippen von Emotionalität in Erotik, von Gefühl in Leidenschaft bedroht die Familie als Gefühlsgemeinschaft und wird, so zeigen es die bürgerlichen Trauerspiele, nur durch ein engmaschiges Netz aus internalisierten Geboten und Verboten, aus Drohungen und Sanktionen, mithin aus der Verbindung von Zärtlichkeit und Gewalt regulierbar und kontrollierbar. Luise verbalisiert diesen Zusammenhang, wenn sie dem zudringlichen Bitten des Vaters, von dem Geliebten abzulassen, nicht mehr standhalten kann: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt als Tyrannenwut!“44 Zwischen Vater und Geliebtem zu wählen wird das tragische Los der Töchter, das sie zuletzt in den Tod treibt. Den Moralkodex, den ihre Väter zur Konsolidierung der Familie nach außen, zur Etablierung bürgerlicher Lebensart vor allem gegenüber der Vorherrschaft des Adels sowie zur Sicherung ihres eigenen familiären Machtbereichs mehr oder weniger rigoros durchzusetzen suchen, haben die Töchter so weit verinnerlicht, dass sie dafür ihr Leben zu opfern bereit sind. Der das bürgerliche Familienideal mitkonstituierende Antagonismus zwischen Tugend und Laster geht mit den repressiven Kräften, die sich insbesondere vor dem Hintergrund der bürgerlichen Sexualmoral abzeichnen, eine allem voran für die Töchter verhängnisvolle Liaison ein. Ohne mütterlichen Beistand unterstehen die Töchter der väterlichen Autorität, die vor allem die Integrität und Ehre der bürgerlichen Kleinfamilie im Blick hat und darüber das individuelle Glück des Einzelnen vergessen macht. An die Problematik kleinbürgerlich-pedantischer Moral und deren Folgen schließt, in einer weiteren Phase des bürgerlichen Trauerspiels, prominent Friedrich Hebbels Theatertext Maria Magdalena (UA 1846) an, mit dem seinerseits Franz Xaver Kroetzens Maria Magdalena, eine „Komödie in drei Akten nach Hebbel“ (UA 1973), eine intertextuelle Beziehung eingeht. Als eine Neuerung in der Gattungsgeschichte gilt in Hebbels Familienstück die Ausarbeitung des Vater-Sohn-Konflikts45, der wie in den Dramen des Sturm und Drang sowie gemäß der

44 Schiller: Kabale und Liebe, S. 657 (V, 1). 45 Vgl. Hartmut Reinhardt: Friedrich Hebbel: Maria Magdalena, in: Harro Müller-Michaels (Hg.): Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Bd. 1: Von Lessing bis Grillparzer, Königstein/Taunus 1981, S. 170-194, S. 191.

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geschlechtsspezifischen Rollenverteilung die Diskussion gesellschaftspolitischer Verhältnisse begründet.46

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Das sozialkritische Potenzial des Familiensujets schöpfen im 18. Jahrhundert allem voran die Dramatiker des Sturm und Drang aus. Die Kindermörderin (UA 1777) von Heinrich Leopold Wagner, Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774, UA 1778) und Die Soldaten (1776, UA 1863) von Jakob Michael Reinhold Lenz spitzen einzelne Problemstellungen aus dem Bereich der Familie – Sexualverhalten, Erziehung, Generationenverhältnis – in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung zu. Es sind diese Stücke des Sturm und Drang, die vielfach als früheste Exempel des sozialen Dramas angeführt werden. Signifikanterweise thematisieren sie nicht mehr, wie das bürgerliche Trauerspiel, ‚nur‘ das Schicksal bürgerlicher Töchter, sondern interessieren sich für gesellschaftliche Zusammenhänge, die über den Kreis der Familie hinaus auch in das Feld der Öffentlichkeit und spezifischer der Berufstätigkeit reichen. In den Blick kommt die öffentliche Sphäre als ein sowohl von adeligen als auch von bürgerlichen Interessen und Normen geprägter Handlungsraum. Spielte in Lessings bürgerlichen Trauerspielen die Erwerbstätigkeit nur eine untergeordnete Rolle, wird diese in Die Kindermörderin und, wie bereits angesprochen, in Kabale und Liebe zu einem wichtigen Aspekt des sozialen Status, über den die dramatischen Figurenentwürfe zunehmend ausdifferenziert werden.47 In Lenzens Dramen, die keine Helden präsentieren, sondern von den sozialen Verhältnissen geprägte Charaktere vorstellen, gewinnt das Moment der berufsständischen Identifikation als grundlegendes Element der Figuren- und Konfliktentwicklung zentrale Bedeutung, wie den beiden genannten Theatertexttiteln zu entnehmen ist. Um die spezifischen Ausprägungen der Repräsentation von Arbeit und Familie in der historischen Formation des Sturm und Drang detaillierter zu erfas-

46 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“ Autorität und Familie im deutschen Drama, Frankfurt/ Main u.a. 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 1506), S. 105. 47 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 207.

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sen, kommen im Folgenden exemplarisch Wagners Die Kindermörderin und Lenzens Der Hofmeister als charakteristische Vertreter des Familiendramas und sozialen Dramas in den Blick. Im Zentrum von Lenzens Drama Der Hofmeister steht das zur Zeit der Aufklärung hochaktuelle Thema der Erziehung, bei dessen Diskussion familiäre Privatheit und gesellschaftliche Öffentlichkeit par excellence aufeinandertreffen. Das Stück nimmt die Familie, die hier zentral von der vierköpfigen Adelsfamilie des Majors von Berg repräsentiert wird, demnach vor allem unter dem Gesichtspunkt der Sozialisation in Augenschein. Um das kritische Potenzial der Erziehungsthematik zu aktivieren, besteht ein wichtiger dramaturgischer Schritt darin, die einzelnen Familienpositionen zu vervielfachen und darüber die Möglichkeit zu widerstreitenden Standpunkten und zum Vergleich zu schaffen. So werden der Vater-Sohn-Beziehung Fritz von Berg/Geheimer Rat von Berg die Paare Läuffer/„der alte Läuffer“ sowie Pätus/„der alte Pätus“ zur Seite gestellt. Die Vater-Tochter-Beziehung zwischen Major und Gustchen spiegelt sich in der Paarung Herr Rehaar/Jungfer Rehaar, so wie sich die Mutter-Tochter-Beziehung in den Doppeln Majorin/Gustchen und Frau Hamster/Jungfer Hamster realisiert. Der Multiplikation einzelner familialer Beziehungskonstellationen korreliert das breite Spektrum an Repräsentanten des Bildungssystems. In Lenzens Drama treten neben dem titelgebenden Hofmeister der Schulmeister Wenzeslaus und die Studenten Pätus und Bollwerk auf. Zudem lassen sich auch der Stadtprediger, Läuffers Vater, sowie in weiter gefasstem Sinne der Lautist Rehaar zur Gruppe der Erzieher rechnen. Bereits diese knappe Zusammenschau des Dramenpersonals macht deutlich, dass Erziehung nicht allein als Aufgabe der Familie, sondern als gesellschaftspolitische Obliegenheit zur Verhandlung steht. Dramaturgisch gestützt wird diese Perspektive durch die insgesamt hohe Zahl der dramatis personae – das Personenverzeichnis zählt 23 Namen –, durch die häufigen Ortswechsel – die Handlung spielt an neun verschiedenen Orten – sowie durch die Dauer der Handlung über drei Jahre. Die Darstellungsmittel verweisen entsprechend auf eine an Shakespeares Dramen geschulte Theaterästhetik, die dem in den Regelpoetiken der Zeit ausformulierten Anspruch auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit entgegenarbeitet. Es entsteht ein Gesellschaftspanorama, ein in zugleich tragischen und komischen Strichen gezeichnetes „Gemälde der

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menschlichen Gesellschaft“48, wie es Lenz programmatisch als Gegenstand der Komödie – als eine solche ist Der Hofmeister untertitelt49 – anstrebt. Wie der Dramentitel ankündigt, nimmt Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung das aristokratische Privileg der Privaterziehung ins sozialkritische Visier. Vorgestellt wird der Beruf des Hofmeisters vornehmlich durch den Pastorensohn und Theologiestudenten Läuffer, der bei der Familie des Majors von Berg angestellt ist, um deren Sohn Leopold und deren Tochter Gustchen zu unterrichten. Der sprechende Name des Protagonisten lässt bereits sowohl den Aspekt des Dienens als auch die Assoziation des Flüchtens anklingen, verweist demnach auf das für die Sturm-und-Drang-Dramatik typische getriebene Individuum.50 Die Tätigkeit des Hofmeisters qualifiziert der Geheime Rat von Berg, adeliger Vorsteher der Stadtschule, in entsprechendem Sinne als erniedrigend und gar als ‚selbstmörderisch‘51 ab. In einer Gesprächsszene mit dem Pastor Läuffer, mit der sich nach Arendt „die Geschichte dieses konflikthaften Berufs seit dem Mittelalter aufzeigen [ließe]“52, bestätigt er die Auffassung des Adels vom Hofmeister als „Domestiken“, spart aber auch nicht mit Kritik an sei-

48 Jakob Michael Reinhold Lenz: Rezension des neuen Menoza, in: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus, Prosadichtungen, Theoretische Schriften, Frankfurt/Main 2005, S. 699-704, S. 703. 49 Vgl. zur Forschungsdiskussion um die Gattungszugehörigkeit des Hofmeister den Überblick bei Dieter Arendt: J.M.R. Lenz: „Der Hofmeister“ oder Der kastrierte ‚pädagogische Bezug‘, in: Lenz-Jahrbuch 2 (1992), S. 4277, S. 43-48. 50 Vgl. Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen, Stuttgart 2006, S. 276. 51 „[…] [E]in Mensch der sich der Freiheit begibt, vergiftet die edelsten Geister seines Bluts, erstickt seine süßesten Freuden des Lebens in der Blüte und ermordet sich selbst“ (Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie, in: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Bd. 1: Dramen, Dramatische Fragmente, Übersetzungen Shakespeares, Frankfurt/ Main 2005, S. 41-110, S. 55 [II, 1]). 52 Arendt: J.M.R. Lenz: „Der Hofmeister“ oder Der kastrierte ‚pädagogische Bezug‘, S. 48.

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nem eigenen Stand. Er spricht von dem Verlust der Freiheit auf Selbstbestimmung und verweist darauf, dass der Hofmeister nicht nur die Unterrichtsstunden, sondern auch „die übrigen Stunden, die der Erhaltung seines Lebens, den Speisen und dem Schlaf geheiligt sind, an einer Slavenkette verseufzen“ muss.53 Zugleich ist der Geheime Rat der Überzeugung, dass Läuffer seine erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten vergeudet, wenn er sie für wenig Geld allein in den Dienst einer Privatperson und nicht der öffentlichen Schule und damit dem Staat zur Verfügung stellt.54 Der Geheime Rat, der seinen Sohn Fritz auf eine öffentliche Schule schickt, steht demgemäß für ein pädagogisches Reformprogramm ein, das die Aufhebung der Trennung zwischen adeliger und bürgerlicher Erziehung vorsieht, und bringt damit den Zusammenhang von Standeszugehörigkeit und Bildung zur Sprache. Dabei schreibt er signifikanterweise den Hofmeistern die Schuld dafür zu, dass der Adel lieber in die Privaterziehung als in eine allgemein zugängliche Ausbildung investiert. Gegenüber Läuffers Vater formuliert er den Vorwurf: […] Würde der Edelmann nicht von euch in der Grille gestärkt, einen kleinen Hof anzulegen […], so würd er seine Jungen in die öffentliche Schule tun müssen; er würde das Geld, von dem er jetzt seinen Sohn zum hochadlichen Dummkopf aufzieht, zum Fonds der Schule schlagen: davon könnten denn gescheite Leute salariert werden und alles würde seinen guten Gang gehn […].55

Herauszuhören aus der Rede des Geheimen Rates ist demnach auch der „geschäftstüchtige Eiferer“, der im Hofmeister „nichts als Konkurrenz“ sieht.56 Und dass reformerisches Reden einerseits und Handeln andererseits durchaus divergieren können, offenbart sich, wenn der Geheime Rat Läuffer als Lehrer bei der Stadtschule zurückweist. „[E]r sieht mich vermutlich nicht für voll an“, konstatiert der über seine Lage nachdenkende Protagonist zum Stückauftakt.57 Ob allerdings die Argumente des Geheimen Rates gegen den Hofmeisterstand ‚ernst‘

53 Lenz: Der Hofmeister, S. 55 (II, 1). 54 Lenz: Der Hofmeister, S. 55f. (II, 1). 55 Lenz: Der Hofmeister, S. 58 (II, 1). 56 Vgl. Arendt: J.M.R. Lenz: „Der Hofmeister“ oder Der kastrierte ‚pädagogische Bezug‘, S. 50. 57 Lenz: Der Hofmeister, S. 42 (I, 1).

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genommen werden können, dies erfragt wenigstens die auf das Komische zielende Gegenüberstellung mit der theologisch-resignativen Position des Pastors Läuffer und wird in der Forschung viel diskutiert.58 Rühmt der Geheime Rat die Vorteile der öffentlichen Erziehung und erweisen sich seine Vorbehalte angesichts der Demütigungen, die Läuffer sowohl im sozialen Umgang mit der adeligen Familie als auch in Bezug auf seine Entlohnung erdulden muss, als durchaus begründet, so ist seiner Sicht auf den Hofmeisterstand dramaturgisch die Perspektive des an der Dorfschule unterrichtenden Lehrers Wenzeslaus gegenübergestellt. Für diesen stellt sich die Situation der Erzieher gerade im umgekehrten Verhältnis dar: Er, der selbst ein enthaltsames und karges Leben führt, sieht im Hofmeister einen Bonvivant, der nichts zu entbehren hat: „Man ißt, trinkt, schläft, hat für nichts zu sorgen; sein gut Glas Wein gewiß, seinen Braten täglich, alle Morgen seinen Kaffee, Tee, Schokolade, oder was man trinkt und das geht denn immer so fort“59. Allerdings bevorzugt Wenzeslaus seine eigenen Arbeitsumstände, denn, und darin stimmt er mit dem Geheimen Rat überein, er ist in seiner Anstellung „[s]ein eigener Herr“ und muss sich von keinem „schikanieren“ lassen.60 Lenz – der selbst als Hofmeister tätig war – ist es in seinem Drama also um die soziale Misere der Hofmeister zu tun, deren intellektuelle Leistung in der Gesellschaft weder mit ökonomischem noch mit symbolischem Kapital entlohnt wird. Sowohl die Selbst- als auch die Fremdcharakterisierung weisen den Hofmeister als abhängig und unterwürfig, fremdbestimmt und mittellos, in den Worten des Majors: als „ein ganz artiges Männichen“61 aus. Um „des bloßen wirtschaftlichen Überlebens willen“ passt sich der Hofmeister, der Privaterzieher an Adelshöfen, den feudalen Strukturen an und gibt seine persönliche Freiheit auf.62 Dass Läuffers devo-

58 Vgl. Arendt: J.M.R. Lenz: „Der Hofmeister“ oder Der kastrierte ‚pädagogische Bezug‘, S. 50f. 59 Lenz: Der Hofmeister, S. 78 (III, 2). 60 Lenz: Der Hofmeister, S. 84 (III, 4). 61 Lenz: Der Hofmeister, S. 42 (I, 2). 62 Vgl. Manfred Durzak: „Der Hofmeister“ oder Die Selbstkasteiung des bürgerlichen Intellektuellen. Lenz’ Stück im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels, in: David Hill (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994, S. 110-119, S. 112.

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tes Verhalten auch eine familiäre, und zwar väterliche Dimension besitzt, zeigt sich, wenn er den Auftaktmonolog mit den Worten „Mein Vater sagt: […]“63 eröffnet und er am Ende, in seiner letzten Replik im Stück, darauf verweist, dass die Einwilligung von Lisens Vater zur gemeinsamen Ehe die Voraussetzung zu seinem vollkommenen Glück darstelle.64 Als Gegenentwurf zu Läuffer lässt sich in dieser Hinsicht der ebenfalls bürgerliche Student Pätus auffassen, der gegenüber seinem Vater wie auch seinen Freunden und den Frauen als Opportunist und Draufgänger auftritt. Allerdings findet auch er – nach komödischer Art: durch Zufall in Form eines Lotteriegewinns – in die Ordnung der Väter zurück. Als ebenso drastisches wie groteskes Zeichen der Ergebenheit in die von Standesunterschieden geprägten Verhältnisse setzt Lenz die Selbstkastration des Hofmeisters, die allerdings handlungsdramaturgisch ohne weitere Folgen bleibt. Der Lehrer Wenzeslaus, der in kleinbürgerlicher Manier für Triebverzicht plädiert, kommentiert sie groteskerweise, das tragische Moment unterlaufend, als eine Heldentat: „Wa – Kastrier – Da mach ich Euch meinen herzlichen Glückwunsch drüber, vortrefflicher, junger Mann, zweiter Orige nes!“65 Zu der selbstermächtigenden und zugleich entmannenden Tat kommt es, weil sich Läuffer auf ein Liebesverhältnis mit seiner Schülerin, Gustchen von Berg, eingelassen hat. Er bringt der adeligen Tochter damit die Schmach einer nichtehelichen Schwangerschaft bei – wobei in der Forschung Uneinigkeit darüber besteht, ob Läuffer angesichts der Zeitstruktur des Dramas tatsächlich der Vater sein kann.66 Läuffer wie auch Gustchen fliehen nach der Entdeckung der Schwangerschaft aus dem Haus der Bergs, er zu dem Lehrer Wenzeslaus und sie zu einer alten Frau, Marthe, in eine „Bettlerhütte im Walde“67, wo sie das Kind zur Welt bringt. Ebenso folgenlos wie die Kastration für Läuffer, der

63 Lenz: Der Hofmeister, S. 42 (I, 1). 64 „Komm zu deinem Vater, Lise! Seine Einwilligung noch und ich bin der glücklichste Mensch auf dem Erdboden!“ (Lenz: Der Hofmeister, S. 118 [V, 10]). 65 Lenz: Der Hofmeister, S. 103 (V, 3). 66 Vgl. Claus O. Lappe: „Wer hat Gustchens Kind gezeugt?“ Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ „Der Hofmeister“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 14-46. 67 Lenz: Der Hofmeister, S. 88 (IV, 2).

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mit der Bauerstochter Lise eine Ehefrau findet, die auf Kinder verzichten mag, bleibt für Gustchen, die der Vater vor dem Selbstmord rettet, der Umstand, Mutter eines unehelichen Kindes zu sein. In parodistischer Wendung der Trauerspieldramaturgie, in der die Verführte – oder hier die Verführerin?68 – ihr lasterhaftes Vergehen mit dem Leben bezahlt, weiß sich Gustchen nicht nur eines liebenden Vaters, sondern in ihrem einstigen Geliebten, Fritz, auch eines Ehemanns sicher. Ist in diesen beiden glücklichen Paarungen bereits ein für die Komödie charakteristisches Happy End angedeutet, so wird dieses durch die Versöhnung zwischen dem Studenten Pätus und seinem Vater wie auch durch die Verbindung zwischen Pätus und der Jungfer Rehaar potenziert und ins Groteske verzerrt. Und während im Schlussbild mit Gustchen, Fritz und dem Kind ein Loblied auf das Ideal der Heiligen Familie angestimmt wird, klingt Fritzens letzte Replik, in der er verspricht, seinen Jungen „nie durch Hofmeister erziehen [zu] lassen“69, als Abgesang auf einen gesellschaftlich gering geachteten Berufsstand. Am Schicksal von Lenzens Hofmeister zeigt sich, im Kontext der Erziehungsthematik, die für das Individuum verhängnisvolle Verquickung von sexuellen Repressionen und ständisch bedingten Abhängigkeitsverhältnissen, die nicht auf den Raum der Familie beschränkt sind, sondern das Feld der Öffentlichkeit strukturieren. Der von Lenz ins Komische verschobene ‚Fall‘ Gustchens als Problematik unterdrückter Sexualität und bürgerlicher Moralvorstellungen kehrt in Wagners Drama Die Kindermörderin70 unter verschärfenden Vorzeichen wieder. Wagner unternimmt einen zuspitzenden Zugriff auf die Familienthematik, indem er die literarische Auseinandersetzung mit den moralisch, juristisch und medizinisch brisanten Fragen der verbotenen Sexualität und der verheimlichten Schwangerschaft sucht.71 Bei dem Mord an einem neugeborenen Kind, wie ihn das Stück mit seinen Bedingungen und Folgen problematisiert – und zur

68 Gustchen ist von ihrem Geliebten, Fritz, durch dessen Studium in der Ferne, getrennt und hegt Argwohn gegen seine Treue. In einem Zwiegespräch auf ihrem Zimmer – sie „liegt auf dem Bette“ und Läuffer „sitzt am Bette“ – spricht sie Läuffer als „Romeo“ an (Lenz: Der Hofmeister, S. 67f. [II, 5]). 69 Lenz: Der Hofmeister, S. 123 (V, 12). 70 Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1996. 71 Luserke: Sturm und Drang, S. 233.

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Provokation des Publikums auch auf offener Bühne zeigt72 –, handelt es sich um ein skandalumwittertes Thema, das in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vielfach aufgegriffen wurde.73 Dabei kommt Wagner nach Theo Elm das Verdienst zu, der Einzige seiner Zeit zu sein, „der es mit der Motivvielfalt seines Stücks so in die gängigen Diskurse der Zeit einflocht, dass man nicht nur vom Kindesmord erfährt, sondern auch vom Kontext, aus dem heraus er erst als soziales Zeitphänomen verständlich wird“74. Kindesmord galt als „Affront gegen die bürgerliche Aufklärung, gegen das Naturrecht und die ‚Menschenrechte‘“ wie ebenso seine Sanktionierung durch die Todesstrafe als unmenschlich erachtet wurde.75 Im Fokus der Strafrechtspraxis des 18. Jahrhunderts, die für die Kindestötung und auch schon allein für die Verheimlichung einer Schwangerschaft die Todesstrafe vorsah, standen dabei ausschließlich die Frauen.76 Die Frau alleine, nicht der Mann wurde aus Gründen „moralische[r] Schwachheit“77 für die Schwangerschaft verantwortlich gemacht und war von Schande und Strafe betroffen, die, wenn nicht den physischen Tod, so den gesellschaftlichen Ausschluss zur Folge hatten, insofern es den Frauen untersagt blieb zu heiraten und damit auch ihre wirtschaftliche Absicherung zu erlangen.78 Vor diesem sozialhistorischen Hintergrund zeichnet sich die Katastrophe ab, die Wagners Kindermörderin im kleinbürgerlichen Handwerkermilieu situiert und sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachästhetischer Ebene mit „gleichsam naturalistischen Züge[n]“79 nachzeichnet. Zur Kindesmörderin wird in Wagners Drama, das bemerkenswerterweise nicht die klassischen fünf, sondern sechs Akte und den viel

72 Wagner: Die Kindermörderin, S. 80 (VI.). 73 Zu den Intertexten zählen etwa Schillers Gedicht Die Kindesmörderin, Höltys Schauerballade Die Nonne, Goethes Ballade Der untreue Knabe und am bekanntesten: Goethes Gretchentragödie in Faust I. Vgl. zu diesen und weiteren Intertexten Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung, 2. aktual. Aufl., München 2007 [2000], S. 114f. 74 Elm: Das soziale Drama, S. 74. 75 Elm: Das soziale Drama, S. 73. 76 Vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 119. 77 Luserke: Sturm und Drang, S. 224f. 78 Vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 119. 79 Karthaus: Sturm und Drang, S. 121.

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sagenden Zeitraum von „neun Monat [sic!]“80 umfasst, die Tochter des Metzgermeisters Humbrecht, Evchen. Wie in Schillers Kabale und Liebe ist es auch hier die Verführung der Tochter durch einen adeligen Liebhaber, die die bürgerliche Familienordnung ins Wanken bringt und in Verbindung mit den väterlichen Tugendforderungen zur Katastrophe führt. Metzger Humbrecht zeigt sich wie Musikus Miller als ein autoritärer Haustyrann, dessen Handeln und Urteilen von strengem Tugendrigorismus und einem unnachgiebigen bürgerlichen Ehrbegriff geprägt ist. Als Humbrecht, da er „just in [s]einem Beruf ausgeritten war“, von dem heimlichen Besuch der Tochter und der Mutter bei dem Ball erfährt, belehrt er seine „der neuen Mode zu leben“ zugewandte Frau, dass sich dies „für Bürgersleut“ nicht gehöre.81 Dem Beschwichtigungsversuch seines Vetters, des Theologen Magister Humbrecht, dass auch andere „rechtschaffene Mütter, brave Weiber, die so gar [sic!] Personen vom Stande sind“82, zum Ball gingen, hält Humbrecht entgegen: Was scheeren mich die mit samt ihrem Stand? – ich hab auch einen Stand, und jeder bleib bey dem Seinigen! […] Handwerksweiber, Bürgertöchter sollen die Nas davon [vom Ballgehn, C.B.] lassen; […] – – Wenn denn vollends ein zuckersüßes Bürschchen in der Uniform, oder ein Barönchen, des sich Gott erbarm! ein Mädchen vom Mittelstand an solche Örter hinführt, so ist zehn gegen eins zu verwetten, daß er sie nicht wieder nach Hause bringt, wie er sie abgeholt hat.83

Aus dem ausgeprägten Standes- und Selbstbewusstsein Humbrechts, so führt der Theatertext vor, erwächst das Misstrauen gegenüber der Tochter. Dieses wird durch eine Spirale von Schuldzuweisungen – wie sie im Kindesmorddiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts begegnen und vor allem auf die Frau zielen – katalytisch angetrieben. Tatsächlich ist der Argwohn Humbrechts, der um die sexuelle Unschuld der Tochter fürchtet und zugleich ihre Tugend wie auch die familiäre Ehre gefährdet sieht, auf drastischere Weise als etwa Odoardos Misstrauen in Lessings Emilia Galotti begründet. Wagner geht in seinem Fami-

80 Wagner: Die Kindermörderin, S. 4. 81 Wagner: Die Kindermörderin, S. 20 (II.). 82 Wagner: Die Kindermörderin, S. 21 (II.). 83 Wagner: Die Kindermörderin, S. 21f. (II.).

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liendrama einen Schritt weiter als Lessing, wenn er die Verführung zu einer physischen Vergewaltigung zuspitzt und darüber hinaus, einen Skandal provozierend, den Zuschauer in die Rolle des ‚Lauschers an der Wand‘ versetzt, indem er die Tat im Off als „Getös“ hörbar macht.84 Das Wagner’sche Drama überblendet damit die moralische Dimension weiblicher Sexualität, wie sie in den vorausgehenden bürgerlichen Trauerspielen bevorzugt verhandelt wird, mit dem Aspekt der Körperlichkeit – und zwar nicht nur auf binnenfiktionaler Ebene, sondern auch im äußeren Kommunikationssystem des Theaters, indem über die Verführung respektive Vergewaltigung nicht nur – etwa in Form eines Botenberichts wie ihn Emilia Galotti ihrer Mutter gibt – gesprochen wird, sondern das Ereignis selbst Bühnenpräsenz gewinnt. Nichtsahnend wird Evchen von Leutnant von Gröningseck im Anschluss an den Maskenball in ein Bordell geführt, wo dieser die Mutter, die als einfältige, eitle und – ähnlich wie Emilias Mutter, Claudia – nach sozialem Aufstieg strebende Frau gezeichnet wird, mit einem Schlaftrunk betäubt und Evchen schwängert. Die Sorgen der jungen Frau, die der internalisierten väterlichen Moral geschuldet sind und die Standesehre der Familie antizipieren, soll ein Eheversprechen beseitigen, das die verbotene außereheliche Sexualität in den Rahmen einer Konvenienzbeziehung fügt. Jedoch lässt sich das Versprechen erst einlösen, wenn der Offizier Major geworden ist. Die nachfolgende Abwesenheit des Liebhabers und die Intrige seines Regimentskameraden von Hasenpoth, der durch eine vorgebliche Lossagung in des Freundes Namen diesen vor dem Verlust der Standesehre bewahren will, stürzen Evchen zunächst in den unheilvollen seelischen Zustand der Melancholie, der von Todesahnungen begleitet wird, und bewegen sie schließlich zur Flucht aus dem Elternhaus. Unterschlupf findet sie bei Frau Marthan, einer Lohnwäscherin, wo sie mit ihrem Kind für einige Zeit in Armut lebt. Zum Verhängnis wird Evchen nicht ein Umstand allein, sondern das komplexe Zusammenspiel verschiedener sozialer Konditionen, die zum einen familiären Charakter tragen – die moralische Rigidität ihres Vaters, die hilflose Unbedarftheit ihrer Mutter, die eigene Internalisierung der bürgerlichen Moral – und zum anderen durch weitere gesellschaftliche Statusgruppen und Instanzen vorgegeben werden – das militärische Eheverbot für von Gröningseck, die aristokratische Eitelkeit

84 Wagner: Die Kindermörderin, S. 16 (I.).

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von Hasenpoths sowie, in gewisser Weise, die Armut von Frau Marthan, bei der Evchen mit ihrem Kind Zuflucht sucht. Nicht zuletzt aber ist es auch die Macht der Justiz, die im Verbund mit der Kirche das Schicksal Evchens als Kindesmörderin beschließt. Mittels Verboten wirkt sie auf den Umgang mit weiblicher Sexualität und Tugend ebenso ein wie auf die ‚Ausübung‘ männlicher Ehre und die Besitzstandswahrung: „[A]lle Quartal [werden]“, so trägt der Theologe vor, „die Verordnungen von der Kanzel gelesen, die unsre Könige wegen den Duellen, dem Hausdiebstahl und dem Kindermord gemacht haben“85. Offensichtlich wird in Wagners Drama, dass es nicht allein die konkreten Sanktionen der Familie beziehungsweise des Vaters sind, die Evchen fürchtet. Auf dessen unbarmherzige Reaktion lässt der harsche Umgang mit der unverheirateten, schwangeren Mieterin, die Humbrecht mit indirektem Bezug auf seine Tochter des Hauses verweist86, schließen. Zudem droht der Vater mit roher Gewalt, als er vom Kind seiner Tochter erfährt: „[W]enns wahr ist, wie er mirs da vorgelesen hat, so kommt mir das Mensch nicht mehr ganz zur Stub hinaus – die Rippen im Leib tret ich ihr entzwey, und ihrem Bastert dazu!“87 Humbrecht entzieht sich bei der sich anbahnenden Katastrophe der eigenen Verantwortung und weist die Schuld seiner Frau und, damit in einem, seiner Tochter zu, die – dem Geschlechterdiskurs zum Ausgang des 18. Jahrhunderts entsprechend – zu schwach gewesen seien, dem Versprechen des sozialen Aufstiegs und der sexuellen Verführung zu widerstehen.88 Neben der konkret drohenden Bestrafung durch den Vater sind Evchens Verzweiflung und ihr Stillschweigen auch in den anonymen Folgen des rigiden Normensystems, in dessen Gebots- und Verbotsmechanismen, begründet. Evchen Humbrecht ist, wie HorstenkampStrake unterstreicht, „einer Moral ausgeliefert, die das Abweichen von

85 Wagner: Die Kindermörderin, S. 57 (V.). 86 „Meine eigne Tochter litt ich keine Stund mehr im Haus, wenn sie sich so weit vergieng.“ (Wagner: Die Kindermörderin, S. 31 [II.].) 87 Wagner: Die Kindermörderin, S. 62 (V.). 88 „Gottlob, daß ich mir keine Vorwürfe machen darf; ich hab euch oft genug von Tugend und Ordnung vorgepredigt!“ (Wagner: Die Kindermörderin, S. 66; [V.].)

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der Norm bestraft, ohne nach persönlicher Schuld zu fragen“89. Der Kindesmord erscheint aus dieser Perspektive als eine Tat aus schlechtem Gewissen. Er resultiert demnach aus der Verinnerlichung verbindlich ausgegebener Moral- und Sittengesetze, nach denen einem Hurenkind und seiner Mutter gesellschaftliche Diskriminierung droht. Das Moment der Verinnerlichung spiegelt sich dabei im Gestus des Verheimlichens, der in Wagners Drama wirkungsvoll ausgereizt wird: Wie Evchens Mitwelt weiß auch der Zuschauer lange Zeit nichts von der Schwangerschaft, er kann diese nur ahnen und nach und nach etwa aus dem bedrückten Verhalten der Protagonistin oder den Kommentaren der anderen Figuren schließen.90 Diesbezüglich gewinnt Die Kindermörderin – in Korrespondenz mit der Frage nach der Kriminalisierung weiblicher Sexualität – den Charakter eines analytischen Dramas. In den Blick rücken damit auch die psychologisierende Frage nach der Motivation der mordenden Mutter und das subjektivistische Moment der Kindestötung. Wagners Drama, so die These Elms, markiert diesbezüglich eine Lücke, die im zeitgenössischen nichtliterarischen Diskurs klafft: Dieser kenne nur die Tat, nicht aber die Täterin.91 Mag der Theatertext, der Titel zeigt dies ebenfalls an, primär an der Kindermörderin und nicht am Kindesmord interessiert sein, so verhindert die Komplexität der Handlungsdramaturgie eine eindeutige Schuldzuweisung, wie sie von einzelnen Figuren des Stücks vorgenommen wird. Mit Dieter Kafitz lässt sich davon sprechen, dass die Aufmerksamkeit „von der personalen auf die soziale Schuld, die die Selbstverantwortung einschränkt“, gelenkt wird.92 Entsprechend bleibt am Ende offen, ob Evchens Verhaftung in die tödliche Bestrafung mündet oder ob die Fürsprache von Gröningecks ihre Begnadigung bewirken kann. Der Kommentar des Fiskals, dass „freilich! […] vieles auf die Umstände an[kommt]!“, weckt die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang und

89 Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“, S. 88. 90 Theo Elm spricht von einer „Methode der Indirektheit“, die mit „der Nacht- und Dämmerungssymbolik um Evchen und der durchgehenden Gerichts- und Todesmetaphorik“ sowie mit der Dramaturgie von „Spiegelhandlungen“ einhergeht. (Vgl. Elm: Das soziale Drama, S. 78.) 91 Elm: Das soziale Drama, S. 81. 92 Vgl. Dieter Kafitz: Grundzüge einer Geschichte des deutschen Dramas von Lessing bis zum Naturalismus, Bd. 1, Königstein/Taunus 1982, S. 100.

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markiert nochmals abschließend die unhintergehbare Interdependenz zwischen individuellem Handeln und den in gesellschaftlichen Strukturen begründeten „Umständen“. Wagners Drama legt offen, dass Letztere in Form der kleinbürgerlichen Moral- und Verhaltenskonventionen nicht nur zu ständischer und familiärer Sozialisation und Identifikation dienen, im Rahmen derer das Individuum Orientierung und Halt findet, sondern für den Einzelnen zum Zwang und Handlungskorsett werden können. Die Perspektive auf das Gesellschaftliche, die das Kindesmordthema eröffnet, plausibilisiert und realisiert der Wagner’sche Theatertext sowohl mittels des Figurenensembles als auch mittels der sprachästhetischen Gestaltung. So geht Die Kindermörderin über den für das bürgerliche Trauerspiel konstitutiven Konflikt zwischen Bürgertum und Adel hinaus, indem es den Bürger auch in seiner Beziehung zu den Unterschichten der Gesellschaft zeigt, die hier nicht mehr nur als Dienerschaft auftreten. Zu der Personnage des Stücks zählt neben der Figur des Fausthammers, also eines Gerichtsknechts, die zusammen mit der Figur des Fiskus die juristische Instanz repräsentiert, auch die Figur der Lohnwäscherin Frau Marthan. In einer für die Entstehungszeit des Dramas untypischen Weise setzt Wagner den Sprachgebrauch der Figuren ein, um deren sozialen Status zu markieren: Der gelehrte Theologe hat ein anderes Vokabular als Metzger Humbrecht, der adelige Offizier von Gröningseck bedient sich bisweilen französischer Redewendungen während die Redeweise des Fausthammers und der Lohnwäscherin vom Dialekt geprägt ist.93 Wagner nutzt die dramatische Rede, um seine Figurenentwürfe im Sinne einer sozialkritischen Rezeption auszudifferenzieren. Mit hinein spielt dabei auch die Auswahl der Handlungsorte, die die bürgerliche „Wohnstube im Humbrechtischen Haus“ ebenso wie „[e]in schlechtes Zimmer im Wirthshaus zum gelben Kreutz“, in dem sich ein Bordell befindet, und das kärglich eingerichtete Zimmer der Frau Marthan umfasst.94 Wagners Die Kindermörderin weist mit diesen theatralen Gestaltungsmitteln ebenso wie mit der Wahl eines gesellschaftlich unliebsamen Themas auf die Ästhetik und Programmatik des naturalistischen Dramas voraus. Dabei richtet sich Wagners Anklage nicht allein und nicht primär gegen ‚die Verhältnisse‘, sondern bleibt im Anschluss an die Tradition

93 Vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 120. 94 Wagner: Die Kindermörderin, S. 19 (II.), S. 5 (I.) u. S. 71 (VI.).

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des bürgerlichen Trauerspiels einer Dramaturgie des Mitleids verpflichtet, die sich an den Privatmenschen in seiner öffentlichen Verantwortung richtet.

3.3 D RAMA DES N ATURALISMUS Das Drama des Naturalismus widmet sich sozialen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen der Zeit und dies mit dem Ziel einer größtmöglichen Annäherung an die vorzufindende Wirklichkeit. In der Auseinandersetzung und der Konkurrenz mit den neuesten Erkenntnissen und Methoden der Natur- und Sozialwissenschaften entwerfen das Drama und allgemein die Kunst des Naturalismus, die ebenso wie die Wissenschaft „Zeitanalyse“95 betreiben sollen, ein Bild vom Menschen, das diesen als sozial und biologisch determiniertes, von inneren und äußeren Zwängen bewegtes Subjekt zeigt. Mit der Fokussierung auf die Fremdbestimmtheit des Individuums und seine Einbindung in soziale und ökonomische Milieus schreiben die Naturalisten eine thematische Tradition fort, die bereits in Georg Büchners Sozialdrama Woyzeck begegnet.96 Das Individuum wird nicht als autonom handelndes in Szene gesetzt, sondern als ein an den herrschenden Verhältnissen leidendes. Dabei findet eine gattungsgemäße Unterscheidung, wie sie etwa Jakob Michael Reinhold Lenz vornimmt, wenn er in seiner Programmschrift Anmerkungen übers Theater aus dem Jahr 1774 der Tragödie den schöpferischen, individuellen Charakter und der Komödie das determinierte und den Begebenheiten ausgelieferte Subjekt zuordnet97, in der Dramenpoetik des Naturalismus nicht statt. In den sozialen Dramen und Familienstücken des Naturalismus finden sich glei-

95 Helmut Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, in: Interpretationen. Dramen des Naturalismus, Stuttgart 2005, S. 67-106, S. 94. 96 Büchner als Vorbild der naturalistischen Dramatik sehen u.a. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 67, und Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“, S. 151. 97 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 34f.

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chermaßen komödische wie tragische Elemente98, Gerhart Hauptmanns spätes Drama Die Ratten (UA 1911) wird im Untertitel explizit als Berliner Tragikomödie bezeichnet.99 Die Darstellung des Menschen als Produkt sozialer Prozesse und biologischer Zusammenhänge, wie sie das naturalistische Drama im Anschluss an den zeitgenössischen Empirismus anstrebt100, geht mit der Wahl neuer Themen einher, die in der dramatischen Tradition als das Hässliche und Niedrige abgelehnt wurden. Zum Gegenstand des szenischen Spiels werden Alkoholismus, Krankheit und Armut, die als konstitutive Elemente von ‚Normalität‘ und ‚Alltag‘ vorgestellt und mit der Klasse des Proletariats in Verbindung gebracht werden. „Auffällig ist allerdings“, so ist mit Franziska Schößler festzuhalten, „dass eine Vielzahl der Dramen weiterhin im bürgerlichen Milieu, nicht aber im plebejischen angesiedelt ist“.101 Als Ausnahme von der Regel, die von den Dramen wie Die Familie Selicke (UA 1890) oder Vor Sonnenaufgang (UA 1889) abzuleiten wäre, kann Gerhart Hauptmanns Theatertext Die Weber (UA 1893) gelten.102 Dieser akzentuiert signifi-

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Dem Genre der Komödie entliehen sind die typisierende Figurenzeichnung und die oft sprechenden Figurennamen. Dem Genre der Tragödie entsprechen die schicksalhaften Züge in der Handlung und der Figurenzeichnung sowie das häufig mit einem Todesfall besiegelte Handlungsende.

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Gerhart Hauptmann: Die Ratten, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. II: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1965, S. 731-831, S. 731.

100 Vgl. zum Beispiel die Programmschrift von Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik von 1887. (Auszüge sind abgedruckt in Theo Meyer (Hg.): Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1997, S. 128-137). 101 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 68. Scheuer begründet die Präferenz des bürgerlichen Milieus mit Verweis auf die Notwendigkeit auf Seiten der Autoren, die Detailgenauigkeit durch persönliche Erfahrungen absichern zu können. (Vgl. Helmut Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, in: Interpretationen. Dramen des Naturalismus, Stuttgart 2005, S. 67-106, S. 75.) 102 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 68.

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kanterweise weniger das Sujet der Familie, das etwa die frühen Dramen Hauptmanns in die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels stellt103, als vielmehr die Lebenswirklichkeit des erwerbstätigen Menschen. Begegnen in der Familiendramatik Ehemänner und Familienväter, die als Ingenieure (Vor Sonnenaufgang, UA 1889), Ärzte (Das Friedensfest, UA 1890), Künstler (Michael Kramer, UA 1900) oder Wissenschaftler (Einsame Menschen, UA 1891) tätig sind, so ist die proletarische Familie nur ausnahmsweise anzutreffen. Von dem Problem der Armut, die im Zuge der Industrialisierung ein neues Ausmaß erlangt, handeln die sozialen Dramen, bei unterschiedlicher Gewichtung, unabhängig vom Berufsstand ihrer Protagonisten. Das Postulat einer möglichst exakten Darstellung der Lebensverhältnisse schlägt sich allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch in der formalästhetischen Gestaltung der Theatertexte nieder. Kennzeichnend für die dramatische Formgebung sind äußerst detaillierte, zu epischer Breite104 tendierende Bühnenanweisungen, in denen Figuren, Handlungsorte und Geschehensabfolgen zu einem milieugetreuen sozialen Tableau arrangiert werden. Die Akribie, mit der das naturalistische Drama auf eine exakte Wiedergabe des wirklichen Lebens hinarbeitet, lässt es „als eine besonders ausgeprägte Form des illusionistischen Theaters [erscheinen]“105. Dabei geht es den Autoren, die dem Vorbild des Empirikers folgen, „nicht um eine Gesamtschau, um einen großen Entwurf, sondern um die Genauigkeit im Detail“106. In Haupt-

103 Vgl. Jürgen Jacobs: Zur Nachgeschichte des Bürgerlichen Trauerspiel im 20. Jahrhundert, in: Hans Dietrich Irmscher, Werner Keller (Hg.): Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck, Göttingen 1983, S. 294-307, S. 296. 104 Die Problematik der Episierung kommt etwa in Heinrich Harts Bedenken gegenüber dem Stück Die Familie Selicke zur Sprache, das er „eine novellistische Skizze in Dialogform“ nennt und dem er attestiert, ein Drama „ohne dramatische Seele“ zu sein. (Heinrich Hart: Gesammelte Werke, Bd. 4: Aufsätze, Reisebilder, Vom Theater, Berlin 1907, S. 328.) 105 Alain Muzelle: Naturalistisches Theater, in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. vollst. überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992 [1986], S. 655-658, S. 656. 106 Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 71.

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manns Theatertext Die Weber107, der sich mit dem Aufstand der schlesischen Weber von 1844 auseinandersetzt und dabei – wie der Zensurskandal zeigt – historische und zeitgenössische Perspektive wirkungsvoll überblendet108, fügen sich die präzise ausgearbeiteten Raumentwürfe in Verbindung mit der aufmerksamen Beschreibung des physiognomischen Erscheinens und Auftretens der Figuren zu einer Szenerie, die nicht nur über visuell fassbare Gegebenheiten Auskunft gibt, sondern die auch auf den psychischen Zustand der Protagonisten und ihre Lebenssituation verweist. Das ästhetische Streben nach Milieutreue lässt dabei Räume, Requisiten und die Physiognomie der Akteure zeichenhaft werden109, so dass sich Hauptmanns Drama „zwischen naturwissenschaftlicher Genauigkeit und überhöhender Symbolik“110 bewegt. Die Dramenhandlung der Weber ist in „den vierziger Jahren in Kaschbach im Eulengebirge sowie in Peterswaldau und Langebielau am Fuße des Eulengebirges“111 verortet. Der von Akt zu Akt vollzogene Ortswechsel, der zu einer episierenden Gesamtwirkung beiträgt, eröffnet die Einsicht in verschiedene Milieus beziehungsweise in die Handlungsräume der widerstreitenden Protagonisten. Dabei entsprechen sich, wie Jürgen Lehmann herausstellt112, die Akte I und IV sowie die Akte II und V, insofern erstere die Räumlichkeiten des Parchentfabrikanten Dreißiger und letztere die „Stübchen“ der Weber zeigen. Das jeweilige ‚Raumpaar‘ lässt sich, wiederum mit Lehmann, nach dem Prinzip der Ausweitung binnendifferenzieren: Der erste Akt

107 Gerhart Hauptmann: De Waber/Die Weber. Schauspiel in den vierziger Jahren, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. 1: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 319-480. 108 Hauptmann reiht sich in eine lange Tradition der literarischen und bildkünstlerischen, aber auch wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Weberaufstand ein. Vgl. etwa die Studie von Christina von Hodenberg: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos, Bonn 1997. 109 Vgl. Jürgen Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, in: Interpretationen. Dramen des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 306-328, S. 313. 110 Schößler: Einführung in das bürgerlicher Trauerspiel und das soziale Drama, S. 113. 111 Hauptmann: Die Weber, S. 323. 112 Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 314.

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zeigt den Anlieferungsraum in Dreißigers Haus, in dem die Weber ihre Waren abgeben und ihren Lohn erhalten, als „Ort der ökonomisch bedingten Auseinandersetzung“113. Diese dehnt sich im vierten Akt, der in Dreißigers „im frostigen Geschmack der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts luxuriös ausgestattete[n]“114 Privatzimmer spielt, zum auch politisch und weltanschaulichen Konflikt aus, wie die Figurenkonstellation von Webern einerseits und Dreißiger (Wirtschaft), Pastor Kittelhaus (Kirche) und Polizeiverwalter (politische Exekutive) andererseits darstellt. Im zweiten Akt macht die Enge der Weberstube die bedrückende Lage der Weber und ihre „Beschränktheit“ deutlich, während im fünften Akt die dramaturgischen Mittel des Botenberichts und der Teichoskopie den Raum öffnen und den Versuch markieren, den Zustand der Fremdbestimmtheit zu überwinden.115 Räumlich und strukturell ‚isoliert‘ beziehungsweise hervorgehoben wird der dritte Akt, in dem die Weber in einem Wirtshaus mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zusammentreffen. Es zeigt sich an diesem Ort entgegen der gängigen Assoziationen von geselligem Beisammensein und Vergemeinschaftung die soziale Isolation der Weber, denen „nicht allein die Fabrikanten, sondern auch sozial benachbarte Schichten wie Bauern und Handwerker […] distanziert oder sogar feindlich gegenüber[stehen]“116. Die Lage der Weber erhält damit den Charakter eines gesellschaftlichen Einzelfalls, der gleichwohl als Massenphänomen in Erscheinung tritt und als solcher seine Bedeutung erhält. Das Verhältnis von Einzelnem und Masse wird mit einem weiteren Aspekt der oppositionell organisierten Raumstruktur des Dramas zum Thema. Einander gegenübergestellt werden die Handlungsorte auch in Bezug auf die Trennung von Arbeits- und Privatraum auf Seiten des Fabrikanten und die Einheit von Wohn- und Arbeitsraum im ‚Stübchen‘ auf Seiten der Weber. Die (fehlende) funktionale Ausdifferenzierung des Raumes ist eng assoziiert mit der Frage der Individualisierung: Dreißiger ist im Stück der einzige in Erscheinung tretende Repräsentant der Fabrikbesitzer, wohingegen die Weber zwar als Einzel-

113 Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 314. 114 Hauptmann: Die Weber, S. 415 (IV.). 115 Vgl. Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 314. 116 Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 315.

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ne, aber doch stets zugleich als Teil eines Kollektivs117 auftreten und wahrgenommen werden. Auch dort, wo persönliche Schicksale und individualisiertes Handeln sichtbar werden, dominiert der Kontext gleichförmiger und ritualisierter Abläufe, wie im ersten Akt bei der Abgabe der Waren gegen Lohn. Die Monotonie der alltäglichen Verrichtungen betont zudem die typenhaften Züge des Einzelnen, die vor allem das unter seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Abhängigkeit leidende Arbeitssubjekt profilieren. Diesem widmet sich Hauptmanns Drama nicht in Person eines Einzelprotagonisten, sondern in Form der Masse der Weber. Es inszeniert das „Volk selbst als Helden“118. Die dramaturgische Verknüpfung der Darstellung des Weber-Kollektivs mit der Begrenzung des Raumes, die vor allem durch die für den Naturalismus typische Beschränkung auf Innenräume hergestellt wird, evoziert eine Spannung, die die Brisanz der Webernot und damit zugleich das sozialkritische Potenzial des Dramas akzentuiert. Um allerdings auch die angestrebte Wirklichkeitsillusion wahren zu können, steuern dieser Spannung auch verschiedene dramaturgische Verfahren gegen. Mit dem mikroskopischen Blick auf das Soziale im naturalistischen Drama, der in Die Weber nicht zuletzt zahlreiche Details wirtschaftlicher Zusammenhänge – den von Schutzzöllen erschwerten Handel mit Webwaren oder die Lehnsabhängigkeit der Weber – erfasst119, korreliert die Notwendigkeit der Selektion und der Beschränkung. Es dominiert eine „Dramaturgie des Ausschnitthaften“120, aus deren Perspektive sich die Familie, die traditionellerweise sowohl personell überschaubar als auch dem begrenzten häuslichen Raum zugeordnet ist, als ideales Sujet naturalistischer Dramatik empfiehlt. Die Intimität des voyeuristischen Blickes durchs sprichwörtliche Schlüsselloch, den die naturalistische Theaterästhetik der Vierten Wand verspricht, scheint hier durch die Vertrautheit und Nähe des betrachteten Gegenstandes, der familiären Privatsphäre, in besonderem Maße ge-

117 Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1984, S. 83. 118 Sprengel: Gerhart Hauptmann, S. 83. 119 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 113f. 120 Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 152.

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deckt. In Hauptmanns sozialem Drama Die Weber stellt sich vor allem das Problem der Darstellung der Masse. Zu deren Vergegenwärtigung auf der Bühne dient maßgeblich, wie Franziska Schößler ausführt, die Strategie der „illusionistische[n] Öffnung des Raumes“121. Umgesetzt wird sie mittels Requisiten in Form von Glastüren und offenstehenden Fenstern, mit dramaturgischen Mitteln wie der Teichoskopie und mit theatralen Mitteln wie einer akustischen Kulisse, in der Lärm und chorisches Sprechen metonymisch auf die Masse verweisen.122 Wie der Raum so fungieren auch Sprache und Sprechen sowohl als Indikatoren der Milieuzugehörigkeit als auch als Medien der Kollektivität. Neben dem Dialektgebrauch, der die Weber insbesondere vom Fabrikanten abgrenzt, sind es, wie Lehmann feststellt, die Sprechakte des Erzählens und Fragens, die die Rede der Weber prägen und den erfolglosen Versuch darstellen, die eigene Lage zu ergründen und kritisch zu reflektieren.123 Auf das Unvermögen der Weber, ihre Situation sprachlich zu erfassen, verweist nach Lehmann auch das „Lied vom Blutgericht“, das sich die Masse als „fremde Rede“ aneignet und das diese „zunächst in innere und dann in äußere Bewegung“ versetzt.124 Dabei bringt das Lied vor allem auch eine emotionale und psychische Verfasstheit zum Ausdruck und erfüllt damit eine ähnliche wirkungsästhetische Funktion wie die, für das naturalistische Drama insgesamt prägende, minutiöse Nachahmung mündlichen Sprechens. Die charakteristische Wiedergabe von Stottern, Verstummen, elliptischem Sprechen und grammatikalischen Fehlern sowie wortloser Gebärdensprache verweist nicht allein auf den sozialen Status des Individuums, auf das Milieu, sondern lässt auch auf seine psychische und emotionale Verfasstheit, auf sein Bewusstsein, schließen.125 Dass sich die Emotionalität der Weber zwar zum Aufruhr verdichten kann, dieser jedoch

121 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 118. 122 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 118f. 123 Vgl. Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 316. 124 Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 318. 125 Günter Mahal schlägt in Bezug auf die Individualisierung der Figurenrede im naturalistischen Drama vor, in Ergänzung zu Soziolekt und Dialekt auch von „Psycholekt“ zu sprechen. (Günther Mahal: Naturalismus, München 1975, S. 99f.)

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ohne Folgen für die von materieller Not geprägte Lage der Weber bleiben wird, lässt die leitmotivische Wiederkehr des Liedes schlussfolgern.126 Ebenso wie sich in der naturalistischen Dramatik die ökonomischen Verhältnisse als unveränderbare und naturgegebene darstellen, genauso rückt die Familie nicht mehr als Gefühlsgemeinschaft in den Blick, sondern, gemäß einem der Determinismuslehre verschriebenen Menschenbild, „als übermächtige, geradezu schicksalhafte Instanz“127. Vorherrschend in der Dramaturgie der Familienstücke wird allem voran die Erfahrung des Leidens, miteinander und aneinander, die wiederkehrend im Tod eines Familienmitglieds ihren Höhepunkt findet.128 Das 1890 uraufgeführte Stück Die Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf eröffnet entsprechend programmatisch mit einem Seufzer und im weiteren Stückverlauf durchziehen kontinuierlich klagende und jammernde Ausrufe, das „Ach Gott ja!“ und „Ach nein, so ein Leben!“ der Mutter129, die Figurenrede. Durch die Verbalisierung oder besser: Verlautbarung des Leids werden vorzugsweise die Mutterfiguren charakterisiert. Sie vor allem hadern mit ihrem unerfüllten Dasein und beklagen ihr Schicksal.130 Ihnen vor Augen steht das Ideal der kleinbürgerlichen Familie, in dessen Zentrum das Gebot der gegenseitigen Liebe und Aufopferung steht und das zudem mit dem Aspekt finanzieller Absicherung assoziiert ist. Dass es sich bei dem harmonischen Familienleben um ein Trugbild handelt, in dessen Schatten das emanzipatorische Bestreben des Individuums, vor allem der Kinder, zum Scheitern verurteilt ist, führt Die Familie Selicke ebenso vor wie Hauptmanns Das Friedensfest oder Michael Kramer.

126 Vgl. Lehmann: Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, S. 318. 127 Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 199. 128 In Vor Sonnenaufgang nimmt sich Helene das Leben, in Die Familie Selicke stirbt das kleinste der Kinder, Linchen, in Michael Kramer begeht Arnold Selbstmord, in Einsame Menschen tötet sich Johannes selbst, um nur einige Beispiele zu nennen. 129 Arno Holz, Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen, mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart 2008, z.B. S. 5, 8, 11 (alle I.) usw. 130 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 199.

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An dem Eindruck von persönlichem Leid, den die oft von Resignation und hoffnungslosem Aufbegehren geprägte Rede der Figuren vermittelt, haben in den Familienstücken die Enge der Innenräume und die zeitliche Begrenzung des Geschehens erheblichen Anteil. Sie verdichten sich, wie etwa in Die Familie Selicke, zu einer bedrückenden und traurigen „Stimmungseinheit“131. Hier spielen alle Szenen im Wohnzimmer, dem prototypischen Ort bürgerlicher Beschaulichkeit, und, symbolträchtig, zur Nachtzeit. Signifikanterweise wird dabei nicht irgendeine Nacht, sondern – wie in dem mit „Eine Familienkatastrophe“ untertitelten Drama Das Friedensfest von Hauptmann – der Heiligabend als Zeitpunkt des Geschehens gewählt. Gerahmt ist das dramatische Geschehen mithin durch das Fest der Liebe, das Fest der ‚heilen‘ bürgerlichen Familie, das, nach Ingeborg Weber-Kellermann, mit seinen „geheiligten, kultivierten und tabuierten Verhaltensnormen im Dienste der Stabilisierung eines patriarchalischen Familienideals“132 steht. Vor dem Hintergrund der institutionalisierten idealen Familienharmonie, auf die auch der auf das „‚selige‘ Paar“ verweisende Name der Familie anspielt133, zeichnet sich die sowohl in materieller als auch emotionaler Hinsicht desolate und hoffnungslose Situation der Selickes umso schärfer ab. Weder verbringt die Familie den Abend gemeinsam, noch gibt die Geburt eines Kindes Anlass zur Freude, sondern ganz im Gegenteil stirbt Linchen, das jüngste der Kinder. Dass weder die Mutter noch der Vater sich ausreichend um das kranke Kind gesorgt hatten und ihre Trauer um das tote Kind vor allem von Selbstmitleid getragen ist134, macht das Scheitern der Eltern, die ihre Rollen weder funktional noch emotional ausfüllen können, offenkundig. Der Vater der Familie Selicke zeigt sich unfähig, sich sein Versagen einzugestehen, und fordert uneingeschränkt Autorität und Gehorsam ein – ein Anspruch, dem die Kinder zwar, jedoch nicht kritik-

131 Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 80. 132 Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, 4. Aufl., Frankfurt/Main 1978 [1974], S. 226. 133 Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 83. 134 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 158.

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los135, Folge leisten, den aber das väterliche Verhalten selbst nachhaltig untergräbt: Aus der finanziellen Not der Familie flieht das Familienoberhaupt in den Alkohol, der seinerseits die Misere der Familie weiter vergrößert. Mit der Figur des Herrn Selicke wird jener Zusammenhang von Geldverdienen und Autorität thematisch, den Max Horkheimer in seinem Aufsatz Autorität und Familie von 1936 ausführt: „Wenn er [der Mann, C.B.] aufhört, Geld zu verdienen oder zu besitzen, wenn er seine soziale Position verliert, kommt auch sein Prestige in der Familie in Gefahr.“136 Der Vater verliert mithin „Achtung und Liebe“, wenn er den Lebensstandard seiner Familie nicht mehr sichern kann.137 Die fehlende oder fehlgeleitete Autorität des Vaters als Signum zerrütteter Familienverhältnisse ist ein zentraler Befund der naturalistischen Familienstücke. Dabei zerstört nicht nur der Alkoholismus die familialen Bindungen, sondern es entziehen sich die Väter auch ihrer Verantwortung, indem sie etwa wie Herr Scholz in Das Friedensfest von der Familie getrennt leben oder wie Johannes Vockerat in Einsame Menschen ihre berufliche Selbstverwirklichung über das Familienglück stellen. Allerdings präsentieren sich die Väter trotz oder gerade wegen ihres drohenden Machtverlustes zugleich als despotische Familienoberhäupter, die nicht nur von ihren Kindern Gehorsam verlangen, sondern auch bedingungslosen Rückhalt und Verständnis von ihren Frauen einfordern. „Wir leiden auch alle unter Vater!“138, hält Frau Kramer trotzig und zugleich resigniert dagegen – und dürfte damit den meisten Ehegattinnen und Müttern der naturalis-

135 Toni rät ihrer Mutter in durchaus kritischem Ton: „[…] Laß ihn schimpfen, Augen rollen, Fäuste machen. Du mußt es gar nicht beachten! Schließlich tut er ja doch nichts! … Siehst du, du mußt mich nicht falsch verstehn! aber ich glaube, du hast ihn von Anfang an nicht recht zu behandeln gewusst, Mutterchen!“ (Holz, Schlaf: Die Familie Selicke, S. 21f.) 136 Vgl. Max Horkheimer: Autorität und Familie, in: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, 13.-14. Tsd., Frankfurt/ Main 1995 [1992], S. 123-204, S. 199. 137 Vgl. Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 95. 138 Gerhart Hauptmann: Michael Kramer, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 1111-1172, S. 1116 (I.). Die Tochter Michaline entgegnet der Mutter, den Vater in Schutz nehmend: „Ich verehre Vater, das weißt du ganz gut!“.

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tischen Familienstücke im wahrsten Sinne des Wortes aus der Seele139 sprechen. Dass die Vorstellung von der Familie als Gefühlsgemeinschaft nur Schein und Sentimentalitäten140 hervorbringen kann, wird auch mit Bezug auf die eheliche Paarbeziehung kenntlich. Das Bemühen der beiden Eheleute, wie in Die Familie Selicke, „den Schein bürgerlicher Lebensart aufrechtzuerhalten“,141 verliert sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen und Verletzungen. Das am Liebesgebot ausgerichtete empfindsame Familienideal bleibt dabei bloß Maßstab und in unerreichbarer Ferne. Frau Selicke gesteht: „Ich hab auch nich’n bißchen Liebe mehr zu ihm! Aber auch nich’n bißchen! ... Für mich is er so gut wie tot!“142 Die Familie Selicke konstituiert sich aus Vereinzelten, die alle nach Liebe verlangen, dieses Verlangen aber weder für andere noch für sich befriedigen können: „Ich habe dich lieb gehabt“, lässt der betrunkene Vater seine Tochter wissen, „aber du hast mich nicht lieb gehabt“143. Hier klingt das im bürgerlichen Trauerspiel aufgetretene Motiv der Konkurrenz um die Liebe der Tochter an, die das Potenzial hat, den familiären Bannkreis der patriarchalen Autorität zu durchbrechen. Dass es Toni am Ende nicht gelingt, die beengenden und leidvollen Verhältnisse der Familie zu verlassen, dass sie sich gegen die Heirat mit dem Theologiekandidaten Wendt und ein gemeinsames Leben auf dem Land entscheidet, unterstreicht die Hoffnungslosigkeit der Familiensituation. Und obgleich ihre Entscheidung den tragischen Charakter einer Selbstaufopferung gewinnt, lässt sich diese im Unterschied zu dem Schicksal der Töchter im bürgerlichen Trauerspiel nicht zum Vorbild stilisieren.144 Dass dem Familiengefängnis nicht zu ent-

139 Vgl. den Begriff des „Seelendramas“, der in der Rezeption der naturalistischen Familienstücke kursiert. In der Forschung wird deren Nähe zum Rührstück diskutiert. Vgl. dazu Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 88-91. 140 Müller-Salget spricht von „sentimentale[r] Ideologie“ (Klaus MüllerSalget: Autorität und Familie im naturalistischen Drama, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984) H. 4, S. 502-519, S. 512). 141 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 154. 142 Holz, Schlaf: Die Familie Selicke, S. 41 (II.). 143 Holz, Schlaf: Die Familie Selicke, S. 49 (II.). 144 Vgl. Scheuer: Arno Holz/Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, S. 101.

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kommen und das persönliche Glücksstreben nicht zu erfüllen ist, ist ein Schicksal, das Toni mit Kindern aus anderen Dramenfamilien teilt, etwa mit der Tochter des Bauerngutsbesitzers Krause, Helene, die von ihrem Geliebten, Loth, verlassen wird und sich daraufhin das Leben nimmt. Die repressiven Züge der Familienbeziehungen, die sich im bürgerlichen Trauerspiel bereits abzeichnen, hier allerdings vorwiegend mit der väterlichen Autorität in Verbindung gesetzt werden, gewinnen vor dem Hintergrund eines deterministischen Menschenbildes dahingehend eine veränderte Dynamik, als dass die Familienverhältnisse als unveränderliches Schicksal dargestellt werden. Auf den Charakter des Zustandhaften und Statischen verweisen die handlungsarme Dramaturgie, die einen Ausschnitt von Wirklichkeit fokussiert, wie zugleich auch die auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen gestreuten Anspielungen auf erbbiologische und physiologisch-deterministische Facetten der Charaktere. In Das Friedensfest heißt es in einer dem Personenverzeichnis beigefügten Regieanweisung: „Soweit möglich, muß in den Masken Familienähnlichkeit zum Ausdruck kommen“145, oder in Vor Sonnenuntergang verkündet Loth: „Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied“146. Die Sicht der naturalistischen Dramatik auf das Individuum und damit die Familie blendet, indem zeitgenössische Theoreme wie (Sozial-)Darwinismus, Vererbungstheorie und Physiologie Eingang in die Darstellungen finden147, eine historische Dimension der Problematik tendenziell aus.148 Die Akzentuierung des Unausweichlichen und Unveränderlichen stellt die Dramen in die Tradition der Schicksalstragödie, „[t]raditionelle Tragödienelemente werden“, wie Franziska Schößler am Beispiel von Hauptmanns Dramen darlegt, „mit sozialen

145 Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 99-165. 146 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 9-98, S. 35. 147 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 70. 148 Vgl. in Bezug auf Hauptmanns Friedensfest Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 179.

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Themen verknüpft“.149 Die ausweglose Situation der Familie gründet dabei in latent schwelenden Konflikten – in Alkoholmissbrauch, in inzestuösen Beziehungen, in finanzieller Not und gleichzeitiger Sehnsucht nach sozialem Aufstieg –, die bezeichnenderweise erst durch den Kontakt mit Außenstehenden, etwa dem Liebhaber, dem Freund der Familie oder dem Untermieter, aufbrechen und zur Katastrophe führen. In dieser Verantwortung sehen sich in Hauptmanns Das Friedensfest Mutter und Tochter Buchner, die die Probleme der Familie Scholz, in die die Tochter einheiraten will, zu lösen versuchen, indem sie auf eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn, Robert und Wilhelm Scholz, drängen. Am Ende muss die Mutter, Marie Buchner, einsehen: „Mit einem festen, frohen Glauben kam ich hierher. Ich schäme mich förmlich. Was habe ich mir zugetraut! Solche Naturen wollte ich lenken, ich schwache, einfältige Person! – Nun wankt alles.“150 Gegen die ‚Natur‘ gibt es kein Ankommen, allerdings bahnt sich deutlich der Widerstand gegenüber dem ‚natürlichen‘ Machtanspruch des Vaters seinen Weg. Allem voran ist dies der Widerstand der Söhne, der die zentrale Problematik des Familienstücks auf die Achse der Generationen verschiebt. In der Dramatik des Expressionismus findet diese Dimension des familialen Konflikts, nicht zuletzt vor dem sozialpolitischen Hintergrund der Kriegsjahre, herausragende Beachtung.

3.4 D RAMA DES E XPRESSIONISMUS Schildern die Familienstücke des Naturalismus den Verfall der Familie, so konturieren sie diesen erkennbar auf der kontrastiven Folie bürgerlicher Familienideologie, die wiederholt als Gegenstand des Verlustes, als Objekt der Sehnsucht oder als Orientierungspunkt aufgerufen wird. Für die Vatermorddramen des Expressionismus ist ein solcher „Rückbezug“, wie Jürgen Jacobs konstatiert, „undenkbar geworden“.151 Die in den expressionistischen Theaterstücken zum Ausdruck kommende Abkehr von der bürgerlichen Werte- und Normenwelt, die

149 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 71. 150 Hauptmann: Das Friedensfest, S. 155 (III.). 151 Jacobs: Zur Nachgeschichte des Bürgerlichen Trauerspiels im 20. Jahrhundert, S. 297.

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eng mit einer materialistischen und kommerziellen Weltsicht assoziiert wird, ist radikal und im wörtlichen Sinne ‚mörderisch‘. Dennoch kann mit Blick auf Arnolt Bronnens Skandalstück Vatermord (UA 1922) festgehalten werden, dass auch die fortgeschrittene Radikalisierung der Auseinandersetzung mit der Kleinbürgerfamilie deren normsetzende Bedeutung nicht vollständig tilgen kann. Im Unterschied zu dem zweiten prominenten Vatermorddrama des Expressionismus, Walter Hasenclevers Der Sohn (UA 1916), lässt sich Bronnen bei aller gewaltvollen Drastik der Darstellung auf eine durchaus sozialkritisch ambitionierte Auseinandersetzung mit dem Familienmodell ein, wie der bisweilen noch naturalistisch gefärbte Sprachduktus in Form von Alltagssprache, die realistische Milieuschilderung und die psychologisierte Handlungsdramaturgie belegen können.152 Bei aller Differenz bezüglich ihrer theatralen Ästhetik haben beide expressionistischen Varianten des Familiendramas die Konzentration auf die Vater-SohnBeziehung gemeinsam, in der sich die Frage patriarchaler Macht innerhalb und außerhalb der Familie als Problematik individueller Selbstbestimmung zuspitzt. Mit der Vater-Sohn-Beziehung rückt der Fokus der Familienproblematik auf die Auseinandersetzung zwischen den Generationen. In Walter Hasenclevers Theatertext Der Sohn wird der repräsentative Charakter der Figuration vor allem in Form einer ausgeprägten Typisierung der Protagonisten greifbar, die stärker als Sprachrohre für Ideale und Ideen denn als individualisierte Figuren auftreten. Der auf das epochentypische Protagonistendrama verweisende Titel153 deutet ebenso wie die Figurennamen – „der Sohn“ und „der Vater“ – darauf hin, dass Vater und Sohn als Stellvertreter ihrer Generation fungieren und repräsentativ deren jeweilige Auffassung deklamieren. Die jugendliche Revolte gegen den Vater steht dabei sowohl für die Emanzipation von unmittelbaren familiären Einflüssen auf die Lebensführung als auch generell für die pathetisch geforderte Befreiung des Menschen von fremden Zwängen. Im Zentrum der expressionistischen Suche nach dem sogenannten ‚neuen Menschen‘ steht eine Reformulierung

152 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 216. Horstenkamp-Strake führt darüber hinaus die „Einheit von Ort, Raum und Zeit“ ins Feld. 153 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 209.

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des Dualismus von Ich und Welt, die das emanzipatorische Individuum fokussiert. Nicht umsonst stellt Hasenclevers Dramentitel den Sohn und nicht den Vater ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Der Sohn weicht die naturalistische Ästhetik positivistisch geschulter Sozialkritik einer Ästhetik der Subjektivität und des Menschheitspathos, wie sie für expressionistische Literatur kennzeichnend ist: „Die Gestaltung der Welt aus dem Inneren des Subjekts und nicht die Darstellung von Welt in ihrer alltäglichen Banalität soll die Vision von einem anderen Leben thematisieren.“154 Die künstlerisch darzustellende Wirklichkeit ist demnach keine mit Anspruch auf Objektivität, sondern gründet im eigenen Erleben und Empfinden. „[M]an lebt ja nur in der Ekstase; die Wirklichkeit würde einen verlegen machen“155, gibt sich der Sohn in Hasenclevers Stück überzeugt. Das Bekenntnis zur Expressivität kommt eindrücklich in einem theatralen Sprachgebrauch zum Tragen, der in Abgrenzung zur Alltagssprache die lautliche Dimension des Gesprochenen und damit die Momente des Exstatischen und der Verkündigung hervorhebt.156 Das von einer jungen Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkündete Credo lautet in den Worten einer Dramenfigur in Hasenclevers Der Sohn: „Wir wollen predigen gegen das vierte Gebot!“157 Aufgerufen ist damit die christliche Bedeutungsdimension der bürger-

154 Vgl. Horstenkamp-Strake: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut“, S. 213. 155 Walter Hasenclever: Der Sohn. Ein Drama in fünf Akten, in: Walter Hasenclever: Sämtliche Werke, in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hg. v. Dieter Breuer u. Bernd Witte, Bd. II.1: Stücke bis 1924, bearbeitet v. Annelie Zurhelle u. Christoph Brauer, Mainz 1992, S. 233-322, S. 237. 156 Stilprägend werden der Schrei und die Exklamatio wie außerdem Stilmittel, die mündliches Sprechen nachbilden, allen voran Anakoluth und Ellipse, die allerdings anders als im naturalistischen Drama nicht auf die Darstellung eines figurencharakterisierenden Soziolekts zielen, sondern auf eine intensivierte Ausdruckskraft verweisen. Die Poetisierung der Sprache im Drama korreliert dabei mit einer Abstrahierung der Figurenzeichnung, die sich in besonderem Maße in der zentralen dramaturgischen Konstellation des expressionistischen Dramas, nämlich im VaterSohn-Konflikt spiegelt. 157 Hasenclever: Der Sohn, S. 301.

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lichen Familienideologie und angezeigt ein die bloß gesellschaftlichen Strukturen überschreitender Wille zur Tabula rasa. In Hasenclevers Generationendrama fordert der Freund des Sohnes „[d]ie Tyrannei der Familie zu zerstören“158. Der Kampf gegen den Vater ist der Kampf gegen die Eltern und damit gegen die Institution der Familie, die als Pars pro Toto für die Vorherrschaft der bürgerlichen Ordnung steht. Eine Politisierung des vermeintlich privatistischen Konfliktstoffes sucht der Freund des Sohnes zu forcieren, insbesondere indem er die Öffentlichkeit sucht, wohingegen sich die Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Vater hauptsächlich als eine aus persönlichen Gründen geführte darstellt. Zwar lässt sich der Sohn vom Freund zu einer pathetischen Rede vor dem versammelten Club „Zur Erhaltung der Freuden“ anstiften, in der er zum „Kampf gegen die Väter“ aufruft159, doch wird sein Vortrag bezeichnenderweise als Teichoskopie zweier Voyeure, darunter sein Freund, paraphrasierend und kommentierend wiedergegeben. Als Motiv für das Aufbegehren gegen den Vater werden dessen autoritäre Erziehung, die Gewalttätigkeit gegen den Sohn und die despotische Unterdrückung in den Vordergrund gestellt, wovon sich der Sohn auch mit einem Selbstmordversuch nicht befreien kann. Der Vatermord erscheint aus dieser Perspektive als letzter Ausweg. Die finale Begegnung der beiden männlichen Rivalen spielt Hasenclever als Kampf zwischen Gleichgestellten aus, dem missratenen Sohn wird der missratene Vater gegenübergestellt, der Hundepeitsche des Vaters opponiert der Revolver des Sohnes, dem Sturz des Vaters entspricht das Niedersinken des Sohnes.160 Am Ende bleibt der tote Vater „allein“ zurück und dem Sohn das jubilatorische Schlusswort vorbehalten: „Jetzt höchste Kraft in Menschen zu verkünden, / zur höchsten Freiheit, ist mein Herz erneut!“161

158 Hasenclever: Der Sohn, S. 301. 159 Hasenclever: Der Sohn, S. 274 u. S. 291. 160 Vgl. zu der Schlussszene die psychoanalytisch inspirierte Lesart von Peter von Matt, die vor allem auf das theatrale Spiel der (phallischen) Zeichen eingeht. (Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, 4. Aufl., München 2004 [1997], S. 344-347.) 161 Hasenclever: Der Sohn, S. 322.

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Die für das expressionistische Dramenpersonal charakteristische Sehnsucht nach ‚dem Leben‘, die Hasenclevers Sohn artikuliert, treibt die Figuren ins Jenseits der familiären und also auch bürgerlichen Ordnung. Den Weg hinaus aus der Enge des Alltags sucht der Bankangestellte in Georg Kaisers Stationendrama Von morgens bis mitternachts162 (UA 1917). Kaiser formuliert die Frage nach der Entfaltungsmöglichkeit des Individuums und der Kritik an den herrschenden Verhältnissen jedoch nicht primär aus Sicht der familiären Zusammenhänge, obwohl diese in einer dem kleinbürgerlichen Heim gewidmeten Episode als ein Teil des Alltags vorgestellt werden. Die vorherrschende Perspektive auf das Geschehen vermittelt sich über das Geld als „Medium des Aufbruchs“163 und als Startkapital für ein neues Leben. Der „Kassierer“ – so die typisierende, das Individuum auf die Sozialrolle reduzierende Figurenbezeichnung – ist Repräsentant des neuen Mittelstandes, der sich an der Wende zum 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der städtischen Arbeitswelt profiliert. Er strebt nach dem Glück jenseits des von Monotonie gezeichneten Büroalltags, jenseits des kleinbürgerlichen Familienlebens, jenseits der provinziellen Kleinstadt. Den Befreiungsschlag aus der Enge seiner Tätigkeit, seines Familienkreises und seines Arbeitsplatzes, den er als „Kerker“164 empfindet, unternimmt der Finanzangestellte mit einem Griff in die Kasse, aus der er 60.000 Mark entwendet. Anlass für sein aufbegehrendes Betragen und sein betrügerisches Verhalten gibt eine exotische165 italienische Dame, die allerdings die Avancen des aus seiner wortlosen Lethargie erwachten Bankiers zurückweist. Der erste Ausbruchsversuch scheitert und auch die folgenden unermüdlich und hektisch vorangetriebenen Aufbrüche, die en miniature im Stakkato der Figurenrede widerhallen, verfehlen den ersehnten Zustand erfüllter Zufriedenheit,

162 Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts. Ein Stück in zwei Teilen, in: Georg Kaiser: Werke, hg. v. Walther Huder, Bd. 1: Stücke 1895–1917, Berlin 1971, S. 463-517. 163 Elm: Das soziale Drama, S. 226. 164 Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 486 (II.). 165 Vgl. die Beschreibung des Kassierers: „[…] Italienerin – Pelz – Seide – wo die Orangen blühen. Handgelenke wie geschliffen. Schwarzhaarig – der Teint dunkel. Brillanten. Echt – alles echt […]“ (Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 486 [II.]).

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verfehlen die Einlösung des ‚echten‘ Lebens. Der Weg des Kassierers aus der Kleinstadt W. (Weimar) in die Großstadt B. (Berlin) wird in einer zirkulären und durch Repetitionen gekennzeichneten Handlungsstruktur manifest, die über die Unerreichbarkeit der verfolgten Ziele keinen Zweifel lässt. Das ekstatische Spiel im Sportpalast, die sinnlich-erotische Leidenschaft im Ballhaus und die befreiende Kraft der Buße bei der Heilsarmee bleiben für den Kassierer Episoden des Glücks, auf die wiederkehrend die Ernüchterung folgt. Grundlegend wird für den Kassierer, der die expressionistische Suche nach dem neuen Menschen figuriert, die Erfahrung, dass er trotz seines neu ‚gewonnenen‘ Reichtums keine Erlösung166 aus dem Leiden an seinem Alltag erlangen kann – außer durch den Tod, den er sich schließlich durch einen Pistolenschuss selbst beibringt. „Das Geld“, erkennt er, „verhüllt das Echte – das Geld ist der armseligste Schwindel unter allem Betrug!“167 Der Kassierer kommt damit zu der konsumkritischen Einsicht, dass sich ein glückliches Leben nicht kaufen lässt. In dem Stationendrama Von morgens bis mitternachts wird, wie Markus Moninger festhält, „im Kolorit der zeitgenössischen Großstadt eine umfassende Kritik an der Warengesellschaft“168 entwickelt. Die Szenerie der Handlung ebenso wie die „Technik der Abstraktion“, die weniger die Figuren als Individuen als vielmehr die sozialökonomischen Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund rücken – nicht der Kassierer, sondern das Geld kann mit Moninger als „eigentlicher Protagonist“ gelten –169, deuten auf die gesellschaftskritische Wirkungsabsicht des

166 Die religiöse Konnotation seines Leidensweges begründet zuletzt die Einsicht des Kassierers, dass ihm ein „Fünkchen Erleuchtung“ geholfen hätte, ihm die „Strapazen“ zu ersparen. Sein abschließender Monolog wird immer wieder von „Posaunenstöße[n]“, die das Jüngste Gericht ankündigen, unterbrochen. Im Schlusstableau steht der Kassierer „mit ausgebreiteten Armen gegen das aufgenähte Kreuz des Vorhangs gesunken. Sein Ächzen hüstelt wie eine Ecce – sein Hauchen surrt wie ein Homo“ (Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 517). 167 Kaiser: Von morgens bis mitternachts, S. 515. 168 Vgl. Markus Moninger: Georg Kaiser, in: Alo Allkemper, Norbert Otto Eke (Hg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 138154, S. 149. 169 Vgl. Moninger: Georg Kaiser, S. 148.

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Theatertextes hin.170 Dabei zielen die dramaturgischen und theatralen Mittel, die sich dezidiert von einer illusionistischen Ästhetik ab- und dem epischen Drama zuwenden, in Kaisers Stück nicht auf Identifikation und Einfühlung mit einem Privatmenschen, sondern auf den distanzierten Blick auf die kapitalistisch geprägten Verhältnisse.171

3.5 K RITISCHES V OLKSSTÜCK IM 20. J AHRHUNDERT Das Personal des Volksstücks stellt traditionell die als gesellschaftliche Mehrheit gedachte und mit dem nicht unproblematischen Begriff ‚Volk‘ assoziierte Gruppe der ‚kleinen Leute‘.172 Es ist deren Familien- und Arbeitsalltag, auf den das Volksstück auf ästhetisch und inhaltlich sehr variable Weise rekurriert.173 Im sogenannten erneuerten Volksstück zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind es vor allem die Probleme und Nöte der sozial Unterprivilegierten, die in sozialkritischer Wirkungsabsicht zur Darstellung gebracht werden. Wegweisend für das kritische Volksstück, das die von Nestroy, Anzengruber und Thoma geprägte Genretradition hinterfragt, sind die Theatertexte von Ödön von Horváth, Marieluise Fleißer und auch Bertolt Brecht. Ihnen

170 Moninger: Georg Kaiser, S. 148. 171 Zum Zusammenhang zwischen Kaisers und Brechts Theater vgl. etwa Moninger: Georg Kaiser, S. 148f. 172 „Für die deutschsprachigen Volksstückautoren insgesamt verbleibt angesichts dieser wechselhaften Begriffsgeschichte als durchgängiges Charakteristikum die Verpflichtung auf eine als große Mehrheit imaginierte Bevölkerungsgruppe, der in einem eher vagen Verständnis gesellschaftlicher Stratifikation ein gesellschaftliches ‚Unten‘ in Kontrast zu einem gegenbildlich dazu angelegten ‚Oben‘ zugeordnet wird.“ (Martin Buchwald: Von der Demaskierung des Bewusstseins zum Sprachproblemstellungskommando. Das Volksstück: Horváth – Kroetz – Schwab, in: Benedikt Descourvières, Peter W. Marx, Ralf Rättig (Hg.): Mein Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-Texte im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main u.a. 2006, S. 95-117, S. 97.) 173 Das Volksstück präsentiert sich „als eine in steter Erneuerung begriffene Mischform bereits etablierter Gattungen“ (Buchwaldt: Von der Demaskierung des Bewusstseins zum Sprachproblemstellungskommando, S. 98f.).

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gemein ist die Akzentuierung des kritisch-aufklärerischen Anspruchs der Gattung, der in ihrer Geschichte stets mit der Absicht der Unterhaltung einhergeht und konkurriert. Entsprechend knüpfen die genannten Autoren an das traditionelle Volksstück an, wenn sie seine affirmativen Komponenten, die in Form ‚einfacher‘ Dramaturgien und ‚leicht‘ zu erfassender Themenstellungen zum Tragen kommen, zitieren. Allerdings transformieren sie das Zitierte, indem sie die durch die alten Genreregeln beförderte Illusionsbildung infrage stellen, im Sinne einer Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Modifikationen betreffen insbesondere den dramatischen und theatralen Umgang mit Sprache im Theatertext und auf der Bühne. Gegenstand kritischer Reflexion wird allem voran der fürs Volkstheater typische Gebrauch des Dialekts, den etwa auch schon Ludwig Thoma hinterfragt. Horváth fordert in der Gebrauchsanweisung, die er seinem Theatertext Kasimir und Karoline anfügt: „Es darf kein Wort Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muß hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden.“174 Die Sprache der Figuren ist in der Poetologie der Horváth’schen Volksstücke als eine angeeignete, eine geliehene Sprache zur Kenntlichkeit entstellt. Statt der Vertrautheit und Heimeligkeit, die das dialekthafte Sprechen im alten Volksstück auszulösen vermag, offenbart der stilisierte Sprachgebrauch – durchaus im Anschluss an Sigmund Freuds Rede vom Subjekt, das nicht Herr im eigenen Haus ist175 – eine Art der Selbstentfremdung. Was in der Figurenrede authentisch und ‚natürlich‘ klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinhören als Unfähigkeit der Figuren, ihr Denken und Fühlen in eigenen Worten zum Ausdruck zu bringen. Ihre Sprache ist von Sprichwörtern, Alltagsfloskeln und Zitaten aus Zeitung und Klassikern durchsetzt.176 Das Sprechen in Phrasen und Klischees

174 Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung, in: Ödön von Horváth: Gesammelte Werke, hg. v. Traugott Krischke u. Dieter Hildebrandt, Bd. IV: Fragmente und Varianten, Exposés, Theoretisches, Briefe, Verse, 3. verbesserte Aufl., Frankfurt/Main 1978 [1970], S. 659-665, S. 663. 175 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 79. 176 Vgl. Herbert Herzmann: Tradition und Subversion. Das Volksstück und das epische Theater, Tübingen 1997 (Stauffenburg-Colloquium, 41), S. 157f.

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macht sensibel für das Unvermögen der Figuren, über sich und die Gesellschaft zu reflektieren. Im „Bildungsjargon“177, dessen sich die Horváth’schen dramatis personae bedienen, artikuliert sich der Bruch zwischen der Realität der eigenen sozialen Existenz einerseits und dem Anspruch auf sozialen Aufstieg andererseits. Die Figuren suchen sich im wahrsten Sinne des Wortes ein besseres Leben herbeizureden, indem sie über ihre Situation hinwegerzählen. Der Sprachgebrauch der Figuren markiert mithin die Kluft zwischen „Intendiertem und Vermochtem, zwischen Sprachmaske und sozialer Herkunft“178, in Horváths Diktion die „Synthese zwischen Realismus und Ironie“179. Wie störanfällig die im Bildungsjargon zum Ausdruck kommenden Sprach- und Denkklischees sind, zeigt sich dabei in den kontinuierlich eingestreuten ‚Stillen‘ und dem wiederkehrenden ‚Schweigen‘, in denen sich die Sprachnot der Figuren und ihre Unfähigkeit zur Kommunikation ausdrücken, sowie in den sentimentalisierenden Musikeinlagen, die das realistisch anmutende Bühnengeschehen ironisch distanzieren und brechen.180 Als Grundbewegung des dramatischen Sprachhandelns wird der von Horváth avisierte „Kampf des Bewußtseins gegen das Unterbewußtsein“181 erkennbar. In ihrem bisweilen befremdlich und hilflos anmutenden Sprechen realisieren die Figuren die „Demaskierung des Bewußtseins“182, die es von den Zuschauern zu erkennen gilt. Fußt die sozialkritische Wirkung des Volksstücks, nicht nur des Horváth’schen, damit zum einen auf der Sprachproblematik, so hat zum anderen auch die Referenz auf die Gegebenheiten und Vorkommnisse der zeitgenössischen Realität einen erheblichen Anteil an dem wirkungsästhetischen Potenzial des Genres. Aus Perspektive des Horváth’schen Begriffs von ‚Volk‘, den er in der Gebrauchsanweisung für das Volksstück Kasimir und Karoline

177 Vgl. die Ausführungen bei Kurt Bartsch: Ödön von Horváth, Stuttgart, Weimar 2000, S. 43f. 178 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 80. 179 Horváth: Gebrauchsanweisung, S. 663. 180 Vgl. Hugo Aust, Peter Haida, Jürgen Hein: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, München 1989, S. 293. 181 Horváth: Gebrauchsanweisung, S. 664. 182 Horváth: Gebrauchsanweisung, S. 660.

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(UA 1932) erläutert, ist es in zentraler Weise der Kleinbürger, dessen Geschichte auf der Bühne erzählt wird: „Nun aber besteht Deutschland […] zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern, auf alle Fälle aus Kleinbürgern. Will ich also das Volk schildern, darf ich natürlich nicht nur die zehn Prozent schildern, sondern als treuer Chronist meiner Zeit, die große Masse.“183 Ödön von Horváths Theatertexte rücken mithin den Mittelstand ins Zentrum und reflektieren die ihn betreffenden Fragen der Gegenwart. In den 1920er und 1930er Jahren zeigt sich die Zeitgenossenschaft der Horváth’schen Volksstücke durch den Bezug auf eine gesellschaftliche Situation, die vor allem durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise gekennzeichnet ist, wie etwa das Arbeitslosen- und Liebesdrama Kasimir und Karoline vorführt. Das Stück, das der Szenenangabe zufolge „auf dem Münchener Oktoberfest, und zwar in unserer Zeit [spielt]“184, thematisiert das Problem der grassierenden Arbeitslosigkeit und seine Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen, indem zum einen das Verhältnis verschiedener sozialer Gruppen – Beamte, Angestellte, Kleinkriminelle – zueinander ausgeleuchtet wird und zum anderen die geschlechtliche Codierung von Berufstätigkeit und damit des sozialen Status zur Sprache kommt. In der akustischen und visuellen Kulisse einer Jahrmarktszenerie ereignet sich, in Form einer „‚Karussell‘-Dramaturgie“185 von kurzen und kürzesten bilderbogenartigen Szenen, die Trennung eines Paares, des arbeitslos gewordenen Chauffeurs Kasimir von seiner Braut Karoline. Mit theatralen Mitteln, vor allem der Musik, wird die zur Identifikation einladende Atmosphäre des Volkstümlichen aufgebaut, um sie sogleich, ebenfalls durch den Kommentar der Musik, mit der Realität von Hoffnungslosigkeit und Gewaltbereitschaft, Betrug

183 Horváth: Gebrauchsanweisung, S. 662. 184 Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline [in 117 Szenen], in: Ödön von Horváth: Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit v. Susanna Foral Krischke, Bd. 5, S. 67-138, S. 68. 185 Jürgen Hein: Unbewältigte Realität und Verstummen des Dialogs. Bemerkungen zum Volksstück um 1930, in: Eckehard Czucka, Thomas Althaus, Burkhard Spinnen (Hg.): „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen“. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag, Münster 1991, S. 501-512, S. 509.

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und sexueller Ausbeutung zu kontrastieren.186 Offenkundig wird in dem illusionistischen Rummelplatzgeschehen die Warenförmigkeit des von den Protagonisten angestrebten Glücks. Das Sprechen im Bildungsjargon korreliert mit der Orientierung der Figuren, vor allem der Hauptfigur Karoline, am gehobenen Bildungs- und Besitzbürgertum. So verlässt Karoline ihren Bräutigam, um „[e]ine höhere gesellschaftliche Stufe und so“187 zu erreichen, und entlarvt damit ihre einstige Überzeugung, dass „die allgemeine Krise und das Private [immer]“188 zu trennen seien und dass „[e]ine wertvolle Frau […] höchstens noch mehr an dem Manne [hängt], zu dem sie gehört, wenn es diesem Manne schlecht geht“189, als selbstbetrügerische Suggestion. Karoline, eine Büroangestellte, schöpft ihr weibliches Selbstbewusstsein aus ihrer Berufstätigkeit und ist umgekehrt bereit, ihr Frausein für einen Zugewinn an sozialem Prestige einzusetzen. Ihre Hoffnung auf den sozialen Aufstieg macht der Theatertext jedoch als unrealistische und selbstüberschätzende Wunschvorstellung kenntlich, wie das phrasenhafte Sprechen, das naive Konsumverhalten und die scheinbar fehlende kommunikative Fähigkeit, auf ihren Bräutigam einzugehen, verdeutlichen. Bereits unmittelbar zu Beginn des Stücks wird Karolines Haltung die nüchterne Einsicht Kasimirs voran- und entgegengestellt, der beim Anblick eines über dem Festplatz fahrenden Zeppelins resigniert festhält: Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne und herunten verhungern derweil einige Millionen! […] – – Der Zeppelin, verstehst du mich, das ist ein Luftschiff und wenn einer von uns dieses Luftschiff sieht, dann hat er so ein Gefühl, als tät er auch mitfliegen – – derweil haben wir bloß die schiefen Absätze und das Maul können wir uns an das Tischeck hinhaun.190

186 Ingrid Haag spricht von der für Horváth typischen „Fassaden-Dramaturgie“. (Ingrid Haag: Ödön von Horváth, Fassaden-Dramaturgie. Beschreibung einer theatralischen Form, Frankfurt/Main u.a. 1995 (Literarhistorische Untersuchungen, 26).) 187 Horváth: Kasimir und Karoline, S. 94. 188 Horváth: Kasimir und Karoline, S. 87. 189 Horváth: Kasimir und Karoline, S. 82. 190 Horváth: Kasimir und Karoline, S. 70.

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Scheint Kasimirs Erkenntnis ökonomischer Zusammenhänge, die unverkennbar auf den zeithistorischen Kontext des Theaterstücks anspielen, die Selbsttäuschung in Karolines Verhalten und damit den Grund ihres gemeinsamen Scheiterns zu entlarven, so vermag sie der arbeitslose Chauffeur doch nicht in eine positive Bewältigung seines persönlichen Leids umzusetzen. Auch er gibt sich am Ende wie Karoline der Illusionierung durch die Musik und das Jahrmarktsgeschehen hin. Seine Sprachmächtigkeit bleibt punktuell und führt nicht zur Souveränität eigenmächtigen Handelns, sondern akzentuiert in ihrer Brüchigkeit die Situation sozialer und ökonomischer Abhängigkeit. Die Sprachbehandlung bildet im kritischen Volksstück Horváths, wie ebenso Fleißers und Brechts, den entscheidenden Angelpunkt der Referenz auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit. Sie ist es, an die Autoren in den 1960er und 19070er Jahren sowohl in dramaturgischer als auch in ideologischer Hinsicht mit ihren Volksstücken anknüpfen. Parallel zur Wiederentdeckung Horváths und Fleißers reüssieren Wolfgang Bauer, Franz Xaver Kroetz, Fitzgerald Kusz, Felix Mitterer, Martin Sperr, um nur wenige Namen zu nennen, mit dem sogenannten ‚neuen kritischen Volksstück‘. Zur dramatischen Verhandlung steht auch hier die „konfliktreiche soziale Realität“, die aus der Perspektive „von ‚unten‘ und in modellhaften Konflikten“191 dargeboten wird und in die vor allem der unterprivilegierte ‚kleine Mann‘ verstrickt ist. Der sozialkritische Impuls, den die Volksstücke dieser Zeit setzen wollen, gründet dabei – eine Genretradition fortsetzend – in einer eindeutigen und verständlichen Darstellung der aufzuzeigenden gesellschaftlichen Missstände, wobei insbesondere dem Dialektgebrauch auf formalästhetischer und den im Kleine-Leute-Milieu angesiedelten Themen Arbeit und Familie auf inhaltlicher Ebene das Vermögen zugesprochen wird, eine Nähe zwischen Dargestelltem und Realität des Zuschauers herzustellen.192 Im Zusammenhang mit der

191 Aust, Haider, Hein: Volksstück, S. 319. 192 Nach Auffassung Eva Kormanns reichen Dialekt und Milieu-Darstellung nicht aus, um den Wirkungs- und Adressatenbezug in den neuen Volksstücken sicherzustellen. Dies leisteten vielmehr „eine geschlossene Perspektivstruktur, die belehren will“, sowie „Dialoge, szenische Bilder und ein[...] dramaturgische[r] Aufbau, die alle kein Vorwissen beim Publikum voraussetzen“ (Eva Kormann: Das neue kritische Volksstück. Ein neuer Blick auf eine nicht mehr ganz neue Dramatik, in: Ursula Hassel,

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Fortschreibung des Volksstücks ist für die 1970er Jahre bezeichnenderweise auch vom Aufkommen eines „Neuen Realismus“ die Rede.193 Die Gefahr, die der realistischen Ästhetik des neuen kritischen Volksstücks eingeschrieben ist, liegt darin, die Balance zwischen Unmittelbarkeit und Distanzierung, zwischen Betroffenheit und Reflexion zu verfehlen und damit das kritische Potenzial der Stoffe zu unterlaufen. Ein prominentes Sujet auch im kritischen Volksstück der 1970er Jahre ist die Familie, bei der zunehmend der Aspekt der Zweckhaftigkeit und in immer reduzierterem Ausmaß die Qualität der emotionalen Verbundenheit herausgestellt wird. In den Theatertexten von Franz Xaver Kroetz, der als „Meister des kleinbürgerlichen Sozialdramas“194 gilt, kommt die Familie als Ort der kaum noch moralisch, dafür jedoch ökonomisch begründeten Abhängigkeiten und Machtverhältnisse in den Blick.195 Vor allem in seinen frühen Stücken, in Heimarbeit (1969, UA 1971) oder Stallerhof (1971, UA 1972) erscheint die Familie als Schicksalsgemeinschaft, in die sich die einzelnen Mitglieder ebenso fügen wie in die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt. Kroetz zeigt die Familie in ihrem Bestimmtsein durch entfremdende Arbeits-

Herbert Herzmann (Hg.): Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück, Tübingen 1992 (Stauffenburg-Colloquium, 23), S. 101-106, S. 103). 193 Dieter Kafitz: Bilder der Trostlosigkeit und Zeichen des Mangels. Zum deutschen Drama der Postmoderne, in: Wilfried Floeck (Hg.): Tendenzen des Gegenwartstheaters, Tübingen 1988 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 2), S. 157-176, S. 162. 194 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 89. 195 Kroetzens Vorliebe für das Sujet der Familie wird in Verbindung mit dem Motiv der Technikfeindlichkeit, das sich durch seine Stücke zieht, als Ausdruck einer wertkonservativen Haltung diskutiert. (Vgl. Michael Töteberg: Ein konservativer Autor. Familie, Kind, Technikfeindlichkeit, Heimat: traditionsgebundene Werte in den Dramen von Franz Xaver Kroetz, in: Otto Riewoldt (Hg.): Franz Xaver Kroetz, Frankfurt/Main 1985, S. 284-296.) Thomas Schmitz hält dazu generalisierend fest: „Die Orientierung an konservativen Leitbildern in der kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kann als, wenn nicht konstituierendes, so doch häufiges Element des Volksstücks überhaupt angesehen werden“ (Thomas Schmitz: Das Volksstück, Stuttgart 1990, S. 78).

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bedingungen, ohne diese selbst vorzuführen.196 Die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge, in denen sich das Familienleben entfaltet, bleiben für die Figuren undurchschaubar. Dominiert werden die Theatertexte vom Zustand der Abgestumpftheit und der Aggressivität, auf den die Figuren, unfähig ihre Wünsche, Bedürfnisse und Ängste zu verbalisieren, mit resignierender Kapitulation oder brutaler Gewalt reagieren. Kroetzens Figuren nehmen sich nicht als Handelnde und ebenso wenig als Verantwortliche ihres Handelns wahr, sondern tendieren zur Schicksalsgläubigkeit.197 Kroetz bedient sich in der frühen Dramatik drastischer Darstellungsmittel, um die Ausweglosigkeit der Situation zu markieren, und verweigert dabei jegliche Begründungszusammenhänge oder sozialkritische Appelle. In Heimarbeit bringt Willy, Vater einer vierköpfigen Familie, das uneheliche Kind seiner Frau Martha, die ihn während seines Krankenhausaufenthaltes mit einem anderen Mann betrogen hat, ums Leben, indem er es nachts in einem Waschbottich ertränkt. Die Kindestötung geschieht ohne unmittelbar einsichtige, das heißt dramaturgisch vorbereitete Dringlichkeit, vielmehr ereignet sie sich beiläufig und unaufgeregt und dabei auf befremdende Weise mit kühlem, routiniertem Ordnungssinn.198 Die Mordtat erscheint als Klimax einer in den vorangehenden Bildern aufgebauten Reihe hilfloser Taten: dem Abtreibungsversuch Marthas unter Zuhilfenahme einer Stricknadel oder Marthas Verlassen der Familie. Der Umgang der Eheleute mit dem Tod des Kindes ist von starker Hilflosigkeit und irritierender Unberührtheit geprägt. Davon zeugen die situationsabhängigen widersprüchlichen Aussagen Willys: Einmal sei das Kind an einer „Lungenentzündung“ gestorben, dann wieder sei es von ihm „erwürgt“ worden und wieder ein anderes Mal sei es in einer Situation väterlicher Überforderung („Drei Kinder versorgen ist zuviel für einen Mann ohne Frau“) beim Baden verunglückt.199 Die beinahe wahllos anmutenden Begründungen geben zu erkennen, dass es für die Eheleute ohne Be-

196 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 238. 197 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 184. 198 Franz Xaver Kroetz: Heimarbeit. Ein antidialogisches Stück in 20 Bildern, in: Franz Xaver Kroetz: Heimarbeit. Stallerhof. Geisterbahn. Kapellenspiel von der heiligen Jungfrau. Michis Blut. Stücke 2, 2. Aufl., Hamburg 1999 [1996], S. 7- 34, 30. 199 Kroetz: Heimarbeit, S. 31f.

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deutung ist, das Geschehen zu benennen oder über seine Bedingungen und Konsequenzen zu reflektieren. Es herrscht die resignierende Einsicht vor, die Martha schon angesichts ihrer außerehelichen Schwangerschaft formuliert: „Aber jetzt ist es schon passiert, und da nützt das Reden auch nix mehr.“200 Der Kindesmord stellt sich unter diesen Vorzeichen auch als Konsequenz eines Schweigens und einer Sprachlosigkeit dar, die Verletzungen und Bedürfnisse, nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Tabus, unartikuliert lassen. In Kroetzens Theatertext verweist die Sprachgestaltung, in der vor allem die Dauer des Sprechens und die Pausen aufs Genaueste festgeschrieben sind, auf die Künstlichkeit des Dargestellten. Dennoch hebt die zeitgenössische Kritik vor allem die realistischen Effekte von Heimarbeit hervor.201 Insgesamt sehen sich Kroetzens frühe Stücke dem Vorwurf ausgesetzt, über den Modus der bloßen Zustandsbeschreibung nicht hinauszugehen und damit nur mangelndes sozialkritisches Potenzial zu entfalten. In späteren Stücken, ab Oberösterreich (UA 1972), zeichnen sich, wie Ursula Hassel betont, „Ansätze zur Darstellung positiver Familienrealität“ ab, insofern die Familie als Ort des solidarischen Miteinanders aufgerufen wird – dieses allerdings bezüglich der Dauerhaftigkeit und Solidität zugleich auch in Zweifel gezogen wird.202 Die Darstellung des Familiensujets verändert sich demnach parallel zu dem vielfach für Kroetzens Werk konstatierten „Wechsel vom ‚beschreibenden‘ zum ‚analysierenden‘ Realismus, wenn man so will: von Fleißer und Horváth zu Brecht“203. Mit und nach Oberösterreich findet

200 Kroetz: Heimarbeit, S. 17. 201 Alo Allkemper: Franz Xaver Kroetz, in: Alo Allkemper, Norbert Otto Eke (Hg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 779-804, S. 782f. 202 Ursula Hassel: „MY HOME IS MY CASTLE.“ Zur Familiendarstellung in den Dramen von Franz Xaver Kroetz, in: Ursula Hassel, Herbert Herzmann (Hg.): Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück, Akten des internationalen Symposions University College Dublin, 28. Februar – 2. März 1991, Tübingen 1992 (Stauffenburg-Colloquium, 23), S. 177-192, S. 192. 203 Aust, Haider, Hein: Volksstück, S. 328. Dieser Wechsel „folgt auch aus dem Perspektivenwechsel vom ‚Mitleid‘-Dramatiker zum ins Utopische vorstoßenden ‚Modell‘-Dramatiker, ist nicht allein mit ästhetischen Reflexionen begründet, sondern eine Folge der politischen Entwicklung des

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bei den Figuren eine Entwicklung hin zur bewussten und aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Situation statt und sie erhalten mehr oder weniger Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge. Kennzeichnend für die Weiterentwicklung des frühen dramatischen Modells, das mit von Brutalität und Gewalt geprägtem Sprechen und Handeln eine „Schock- und Schlagzeilen-Dramatik“204 hervorbrachte, ist die Konzentration auf alltäglichere Figuren und Lebenssituationen sowie die Ausstattung der Figuren mit einer gewissen Sprachmächtigkeit.205 Für das dargestellte Familienleben hat dies zur Konsequenz, dass die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern intensiver und intimer werden, wobei Kroetz, wie Ursula Hassel unterstreicht, an den traditionellen Geschlechterrollen festhält: Die Männer finden sich in der Rolle des Ernährers und Familienoberhaupts wieder, die Frauen sorgen für den ausgeglichenen Gefühlshaushalt der Familie. Eine Krisensituation stellt sich, wie schon bei Horváth, auch in Kroetzens Familienstücken dann ein, wenn etwa, wie in Der stramme Max (UA 1980), Arbeitslosigkeit die patriarchale Familien- beziehungsweise Geschlechterordnung gefährdet.206 Die Figur des erwerbslosen Mannes markiert einen Zustand der familiären Krise, die durch die Berufstätigkeit der Frau, wie etwa in Nicht Fisch nicht Fleisch (UA 1981), weiter verschärft wird. Mit dem Thema der Arbeitslosigkeit, das in Furcht und Hoffnung der BRD207 (UA 1984) zum zentralen dramatischen

Dramatikers, der 1972 in die DKP ein- und 1980 wieder austrat.“ (Aust, Haider, Hein: Volksstück, S. 328.) 204 Allkemper: Franz Xaver Kroetz, S. 790. 205 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 188. 206 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 189f. 207 Kroetz benennt das Stück in den 1990er in Furcht und Hoffnung in Deutschland um. In der Publikation von 1997 schickt er voraus: „Als ich das Stück schrieb, hieß es Furcht und Hoffnung in der BRD. Die Zeit war noch nicht reif, dieses an sich schon als verfassungsfeindlich angesehene Kürzel durch das stattliche Deutschland zu ersetzen. / Die Zeit ist reif; ich danke der Wiedervereinigung, dem Herrn Dr. Kohl, den vielen andern. / Endlich macht das große Thema des Stücks nicht mehr vor den widernatürlichen innerdeutschen Grenzen halt: Die Arbeitslosigkeit hat (fast) alle erreicht […]“ (Franz Xaver Kroetz: Furcht und Hoffnung in Deutschland. Nicht Fisch nicht Fleisch. Der Spitzel. Stücke 3, Hamburg 1997, S. 4).

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Gegenstand avanciert, wirft Kroetz zugleich die politisch brisante Frage nach dem Stellenwert der Arbeit im Selbstverständnis einer Gesellschaft, einer Kultur und einer Person auf. Dieser Frage widmet sich die Dramatik zum Ausgang des 20. Jahrhunderts ebenso wie der Frage nach der Bedeutung der Familie für das soziale Zusammenleben in einer durch zunehmende Individualisierung und Globalisierung geprägten Alltagswelt. Das Genre des Volksstücks ebenso wie das bürgerliche Trauerspiel und die Gattung des sozialen Dramas bilden dabei in ästhetischer, dramaturgischer und inhaltlicher Hinsicht Anknüpfungspunkte, die modifizierend aufgegriffen und wirkungsvoll mit Formen postdramatischer Ästhetik verknüpft werden.

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In der Dramatik der 1990er Jahre, die an dieser Stelle notwendig selektiv in den Blick genommen208 und vor allem anhand der Theatertexte der noch kaum im literaturwissenschaftlichen Diskurs etablierten Autorinnen und Autoren vorgestellt wird, steht die Darstellung von Arbeit und Familie im Zeichen der Extreme. Das Außerordentliche verbindet sich vielfach, insbesondere in der Verhandlung familiärer Beziehungen und Identifikationsmuster mit Gewalt, Schrecken und Leid.209 Es ist insbesondere das Genre der Groteske, das in diesem Dezennium eine Hochzeit feiert.210 Dabei ist zu beobachten, dass die dramatische Zu-

208 Der nachfolgende Überblick berücksichtigt die bis Januar 2010 (Abschluss der Promotion) veröffentlichte deutschsprachige Dramatik. 209 Schößler weist auf das Interesse an Gewalt und Exzess in der Dramatik der neunziger Jahre hin, das zum Teil durch die British Brutalist inspiriert sei. (Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 26.) 210 „Man bemüht sich“, so hält Michael Hofmann für die Dramatik der neunziger Jahre fest, „um eine Darstellung hoffnungsloser Zustände und Verhaltensmuster und das Stilmittel der Groteske und die Inszenierung von Gewalttätigkeiten gewinnen eine entscheidende Bedeutung.“ (Michael Hofmann: Rosa Riese, guter König. Dramatische Texte der neunziger Jahre, in: Der Deutschunterricht 51 (1999) H. 4, S. 9-20, S. 9) Vgl. auch die Feststellung des Dramaturgen Oliver Held: „Die deutschen Familienstücke tendieren eher zur Tragikomödie und zur Groteske.“ (Oliver

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spitzung insbesondere eine sinnliche und körperliche Dimension akzentuiert. Es lässt sich darin zum einen eine Reaktion auf das wachsende Interesse seitens des etablierten Theaterbetriebs „an allem, was kein Stück war […]: Tanz, Performance, Live Art“211, mithin an einer postdramatischen Theaterästhetik erkennen. Zum anderen ist die Akzentuierung des Körperlichen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Körperdiskurs zu sehen, in dessen zeitgenössischer Ausprägung Fitness, Schönheit und Gesundheit in den Vordergrund von (geschlechtsspezifischer) Selbst- und Fremdwahrnehmung rücken. Im Bereich des Familiendramas fällt in den 1990er Jahren zunächst die Präferenz für das Motiv des Inzests auf, das aufs Engste mit der Reflexion der Familienverhältnisse als Macht- und Gewaltverhältnisse sowie als Geschlechterverhältnisse verknüpft ist.212 Zu den erfolgreichsten Inzestdramen der Dekade ist Dea Lohers Theatertext Tätowierung213 (UA 1992) zu zählen, der im Spektrum der sogenannten ‚jungen‘ Dramatik in Bezug auf diese Problematik eine Art Vorreiterrolle einnimmt. Das Stück erzählt die Geschichte der kleinbürgerlichen Familie Wucht, in der der Vater, „genannt Ofen-Wolf“, unter den neidischen Blicken der Schwester Lulu und unter den Augen der schwachen, hilflosen Mutter, „genannt Hunde-Jule“, seine ältere Tochter Anita sexuell missbraucht. Anitas Versuch, mit dem Floristen Paul der Familienhölle zu entfliehen, scheitert aufgrund der Angst vor dem autoritären Vater, denn dieser droht, verlassen von der Frau und mit der Schwangerschaft Anitas konfrontiert, mit dem Schlimmsten. Doch der Ausbruchsversuch scheitert auch an Pauls Zweifeln, dass tatsächlich er der Vater von Anitas Kind ist. Ob es zur tödlichen Katastrophe

Held, Franziska Schößler: Interview. 17. Januar 2004 am Stadttheater Freiburg, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 332-337, S. 332.) 211 Franz Wille: Im Kreml brennt noch Licht. Einige Entwicklungen des Theaters der neunziger Jahre, in: Theater heute Jahrbuch (1999), S. 46-62, S. 50. 212 Neben den im Folgenden genannten Theatertexten thematisieren beispielsweise auch Oliver Bukowskis „Hanswursttiade“ Intercity (UA 1993) und Marius von Mayenburgs Das kalte Kind (UA 2002) inzestuöse Familienbeziehungen. 213 Dea Loher: Tätowierung, in: Dea Loher: Olgas Raum. Tätowierung. Leviathan. Drei Stücke, Frankfurt/Main 1994, S. 65-144.

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kommt, wenn Anita ihren Freund mit dem Gewehr bedroht, spart der Theatertext aus. Das Sujet in Tätowierung verweist in Verbindung mit den alltagssprachlichen, dialektgefärbten Wortpartikeln sowie mit der von Störungen und Verstummen bedrohten Kommunikation, die im ‚beschädigten‘ Sprechen die physischen Verletzungen alludiert, auf die Ästhetik des kritischen Volksstücks. Allerdings dominieren die verfremdenden Effekte, die neben einer episierenden Dramaturgie vor allem auf der Musikalität und Künstlichkeit des Sprachgebrauchs beruhen. So werden die Spuren des Missbrauchs in der Verdichtung lyrischen Sprechens hörbar: „Meine Nadel stech ich / dir ins Fleisch / wieder und wieder / eine Tätowierung / die du behältst / mein Zeichen / dein Leben lang / Vatermal / unauslöschlich.“214 Mit der Vermischung der Sprachstile korreliert die Hybridisierung der Genres, indem tragische und komödische Elemente ineinandergreifen, wobei vor allem die distanzierende Wirkung der letzteren den sozialkritischen Impetus des Stücks ins Bewusstsein rückt. Die Inversion der Familie als geschützter Raum der persönlichen Entfaltung, die Verkehrung der Elternliebe, präziser: der Vaterliebe, in sexuelle und verbale Gewaltausübung, das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen zur Unterdrückung und Manipulation werden in Tätowierung aufgezeigt, jedoch nicht mit pauschalisierendem Gestus angeklagt. Während Lohers Tätowierung konsequent die im Inneren des Mikrokosmos Familie wirksamen Abhängigkeitsstrukturen und Gewaltpotenziale ausleuchtet, akzentuiert Thomas Jonigk in seinem Inzestdrama Täter215 (UA 1999), wie auch in den als bitterböse Farcen entworfenen Familiendramen Du sollst mir Enkel schenken216 (UA 1994) und Rottweiler217 (UA 1994), insbesondere die Frage nach der normierenden Ordnung der Geschlechter. Mit der Fokussierung auf das Thema der Sexualität problematisiert Jonigk, insbesondere in seinen frühen Farcen, „diejenige Strategie, die die gesellschaftlichen Hierarchien und Normalisierungsprozesse naturalisiert, also als natürliche, biolo-

214 Loher: Tätowierung, S. 96. 215 Thomas Jonigk: Täter, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 136-209. 216 Thomas Jonigk: Du sollst mir Enkel schenken, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 31-94. 217 Thomas Jonigk: Rottweiler, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 95-133.

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gisch produzierte Ordnungen behauptet“218. In Täter erzählt er die „Geschichte der Figuren“ entsprechend als „Geschichte ihrer sexuellen Sozialisation“.219 Bemerkenswerterweise konzentriert Jonigk den Missbrauchsfall nicht, wie in der Dramentradition zumeist anzutreffen, allein auf die Vater-Tochter-Beziehung, sondern er nimmt auch die Mütter als Täterinnen in den Blick. Indem er im Stil eines Panoptikums Klischees, Rechtfertigungs- und Erklärungsfloskeln akkumuliert, sucht Jonigk „den real existierenden und unglaublichen Argumentationslinien des Sujets auf die Spur zu kommen“220. Den Aspekt des Diskursiven unterstreicht der Theatertext zum einen durch die wissenschaftliche Beschlagenheit der Figuren, die mit „einschlägiger Forschungsliteratur regelrecht vertraut“221 sind, und zum anderen durch den Einsatz der Rede ad spectatores, die zugleich den Gestus des Aufklärens markiert und parodiert. Dabei unterläuft vor allem auch die groteske Überzeichnung der Figuren und ihres Tuns die Tragik des Stoffes und führt, ähnlich wie in Lohers Tätowierung, die „Komik als Kehrseite des Schreckens“222 vor. Eine weitere Facette der Inzestproblematik wird in Marius von Mayenburgs Erfolgsstück Feuergesicht223 (UA 1998) thematisiert. In den dramatischen Blick auf die Familie, die hier vor allem als Ort des Generationenkonflikts aufgerufen wird, rückt nicht der sexuelle Missbrauch durch Vater oder Mutter, sondern die inzestuöse Beziehung zwischen Bruder und Schwester. In einer durch die Dramaturgie des Ausschnitthaften, der Andeutung und der Aussparung verdichteten Folge von nicht weniger als 94 Kurzszenen entfaltet von Mayenburg die Konfrontation zwischen den Eltern, die sich liberal und verständ-

218 Schößler: Augen-Blicke, S. 259. 219 Anja Nioduschewski: Das Unbehagen der Geschlechter. Thomas Jonigk, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 77-80, S. 78. 220 Nioduschewski: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 79. 221 Schößler: Augen-Blicke, S. 263. 222 Andreas Roßmann: Die Wucht-Passion. Dea Lohers „Tätowierung“ in Oberhausen, in: Theater heute 34 (1993) H. 3, S. 37. 223 Marius von Mayenburg: Feuergesicht, in: Marius von Mayenburg: Feuergesicht. Parasiten. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 2000, S. 7-69. Vgl. auch die Ausführungen in der Stückanalyse von Marius von Mayenburgs Familiendrama Turista im Kapitel 6.2 dieser Arbeit.

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nisvoll geben, dabei allerdings auch naiv und hilflos wirken, und dem Geschwisterpaar, das sich mit allen Mitteln gegen die Erwachsenen und das Erwachsenwerden auflehnt. Als Pubertätsstück steht Feuergesicht in der Tradition von Frank Wedekinds Kindertragödie Frühlings Erwachen (UA 1906) und Marieluise Fleißers Volksstück Fegefeuer in Ingolstadt (UA 1926).224 Von Mayenburg spitzt die emanzipatorische Abgrenzung und die Identitätssuche der Jugendlichen, mit Allusionen an das expressionistische Generationendrama, zum existenziellen physischen Gewaltexzess zu, der sich erst gegenüber Einrichtungen des öffentlichen Lebens entlädt und dann in der Ermordung der Eltern sowie der Selbsttötung Kurts gipfelt. Der Akzent des Konflikts verschiebt sich mithin vom Aufbegehren gegen die patriarchale Autorität hin zur tödlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein.225 Die Figur des mordenden Sohnes begegnet auch in Wilfried Happels Familienfarce Mordslust226 (UA 1995), in der mit dem Mittel „rituelle[r] Endlosschleifen“227 die Lust am Exzess in die rituell konstituierte Normalität der Familie integriert wird und sich die „zynischen Familienszenarien […] als selbstreferentielle Bühnencapriccios [entpuppen]“228. Und noch in der jüngeren Dramatik besitzt der amoklaufende Sohn Brisanz, so in dem Familienstück Vaterlos229 (UA 2004) von Claudius Lünstedt, in dem die Suche nach dem Vater, durch das Oku-

224 Vgl. Schröder: „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“?, S. 1113. 225 Achim Geisenhanslüke geht noch einen Schritt weiter, wenn er konstatiert: „Den Konflikt der Kinder mit der Generation der Eltern hat Mayenburg dagegen bewußt ausgeblendet.“ (Achim Geisenhanslüke: Körper – Familie – Gewalt. Bemerkungen zum zeitgenössischen Theater am Beispiel von Dea Loher und Marius von Mayenburg, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes: Zeitgenössisches Theater und Unterricht 48 (2001) H. 3, S. 394-405, S. 400f.) 226 Wilfried Happel: Mordslust, in: Wilfried Happel: Das Schamhaar. Mordslust. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 1996, S. 51-117. 227 Schößler: Augen-Blicke, S. 271. 228 Bodo Blitz: Bürgerliche Rituale: Fressen, Ficken, Morden und Sprechen, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 70-72, S. 71. 229 Claudius Lünstedt: Vaterlos, in: Claudius Lünstedt: Zugluft. Musst boxen. Vaterlos. Drei Stücke, Frankfurt/Main 2004, S. 91-130.

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lar des Mythos vom Sonnengott Sol betrachtet, in einer katastrophischen Mischung aus „Größenphantasie und Rachsucht, Männlichkeitswahn und Todessucht“230 kulminiert. Die Gegenwart von körperlicher Gewalt in der Familie stellt mit am drastischsten Werner Schwab dar. In seiner „Radikalkomödie“ Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos231 (UA 1991), für die der Autor 1992 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, situiert Schwab zwei Familienhöllen – einmal Mutter und Sohn namens Wurm, einmal die dreiköpfige Kleinfamilie Kovacic – in der Wohnkulisse eines Grazer Mietshauses. Der (familiären) Ordnung, die die Figuren mit Komik evozierendem Hang zur Reflexivität232 für ihr Leben reklamieren233, stehen Vergewaltigungs- und Ermordungsphantasien, sexueller Missbrauch und diverse verhinderte und erfolgreiche Mordversuche gegenüber, die den Alltag so lange beherrschen bis Frau Grollfeuer, eine aristokratische alte Dame und Mitbewohnerin des Hauses, dem Chaos bei Kaffee und Geburtstagskuchen ein giftmörderisches Ende bereitet. Die provokative Wirkung der dargestellten extremen Gewalttätigkeiten und inzestuösen Wollust, die allem Realismus enthoben sind, wird noch verstärkt oder gar überboten durch die von Obszönitäten und Brutalitäten durchzogene Kunstsprache, das „Schwabische“. Ein Bezug zum kritischen Volksstück, das zugleich zitiert und gesprengt wird, ist in Volksvernichtung, das im sozialschwachen Milieu angesiedelt ist und gesellschaftliche Außenseiter zeigt, unverkennbar. An die Tradition des Volksstücks, insbesondere des Fleißer’schen, schließen auch die Familiendramen von Kerstin Specht an. Das Wohn-

230 Sabine Westermaier: Ich bin jetzt Krieger. Claudius Lünstedt, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 85-87, S. 85. 231 Werner Schwab: Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos. Eine Radikalkomödie, in: Werner Schwab: Fäkaliendramen, 4. Aufl., Graz, Wien 1996 [1991], S. 121-177. 232 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 248. 233 Vgl. etwa folgende Aussage: „Wo eine Familie ist, da gibt es keine ungeküßten Menschen. Wo eine Familie ist, da gibt es eine Wirtschaft, und wo eine Wirtschaft aufmarschiert, da klettert dann ein Staat empor, und wo ein Staat zuhause ist, da kehrt das Leben heim in eine Ordentlichkeit“ (Schwab: Volksvernichtung, S. 133).

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küchendrama Das glühend Männla234 (UA 1990), dessen dialektgefärbte und zugleich poetisch verdichtete Alltagssprache auf ein Moment des Authentischen abzielt, kreist um das von Frustrationen und Verlustängsten bestimmte Zusammenleben einer familiären Trias aus Großmutter, Mutter und Sohn. Während die Stelle des männlichen Familienoberhaupts aufgrund des Selbstmords des Vaters unbesetzt bleibt, konzentriert sich alle familiäre Macht – in Umkehrung ihrer dramaturgischen Marginalisierung etwa im bürgerlichen Trauerspiel – auf die Mütter.235 Die Mutter des Sohnes leidet gleichwohl unter dem Fehlen des Mannes und Ernährers und kämpft, in Konkurrenz mit der eigenen Mutter, desto unerbittlicher um die Aufmerksamkeit und Liebe des Sohnes. Der Besitzanspruch der Mutter, die in der Freundin des Sohnes ihre Rivalin sieht, trägt dabei erkennbar erotische Züge und artikuliert sich in der aus dem bürgerlichen Trauerspiel bekannten „Mischung von Brutalität und Zärtlichkeit“236. Der Befreiungsschlag des Sohnes aus der erdrückenden ‚Umarmung‘ der Mutter trifft seine Freundin, die er mit dem Messer des Nachbarn aus „Haß und Verachtung alles Weiblichen“ tötet, und missglückt.237 Einen glücklichen Ausgang – wie nur wenige Texte der Familiendramatik um die Jahrtausendwende – nimmt dagegen Spechts späteres „Küchenmärchen“ Die Froschkönigin238 (UA 1998), in dem sich die familiäre Situation nach dem Tod des Ehemanns und Vaters vor allem wirtschaftlich zuspitzt. Bevor es zum Schlimmsten, dem Selbstmord der Mutter, kommen kann, tritt Herr König in der dramaturgischen Rolle des jugendlichen Prinzen auf und befreit die Mittvierzigerin zu einem neuen emanzipierten Leben, von dem im Schlussbild eine Videobotschaft kündet. Der in Spechts „Königinnendrama“239 angedeutete Akt weiblicher Selbstermächtigung, zu dem sich hier die für Spechts Mutterfiguren

234 Kerstin Specht: Das glühend Männla, in: Kerstin Specht: Lila. Das glühend Männla. Amiwiesen. Drei Stücke, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1998 [1990], S. 51-89. 235 Vgl. Hassel: Familie als Drama, S. 330. 236 Hassel: Familie als Drama, S. 333. 237 Hassel: Familie als Drama, S. 336. 238 Kerstin Specht: Die Froschkönigin. Ein Küchenmärchen, in: Kerstin Specht: Königinnendramen, Frankfurt/Main 1998, S. 7-82. 239 Zu Spechts Trilogie der Königinnendramen zählen zudem Die Schneekönigin (UA 1998) sowie Die Herzkönigin (UA 1998).

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charakteristische ‚Macht‘ positiv verdichtet, kommt dabei bezeichnenderweise nicht im Genre des kritischen Volksstücks, sondern in der hybridisierten Form von Komödie und Märchen zur Darstellung. Aus dem Blickwinkel des Themas ‚Mutterschaft‘ beleuchtet auch Marlene Streeruwitz das soziale Gefüge der Familie, wenngleich mit gänzlich anderen ästhetischen Mitteln als Specht. Mit Sloane Square.240 (UA 1992) legt die Autorin ein familiäres Psychodrama vor, das im Medium weiblicher Erinnerung um den Mythos der Mutterschaft und die Tristesse des Familienlebens kreist. Die Begegnung zweier Familien, die in einer Londoner U-Bahn-Station und aufgrund einer unfallbedingten Wartezeit zustande kommt, konzentriert sich in erster Linie in dem Gespräch zwischen den beiden Frauen. Die in Abwesenheit der Männer gehaltenen Dialoge thematisieren Schwangerschaft, Kindheit und Todeswünsche und fördern in einer durch literarische und mythologische Zitate verfremdeten Sprache Vergangenes wie Unbewusstes zutage.241 Die von einem surrealistischen Szenario grundierte Einsicht in die Trostlosigkeit des Familiendaseins bleibt am Ende jedoch ohne Konsequenzen. Ein weiteres erfolgreiches Familiendrama, in dem die Schwangerschaft weniger zum Gesprächs- und (Selbst-)Reflexionsanlass als vielmehr zum geheimen Zentrum des Schweigens wird, hat der im deutschsprachigen Theater, vor allem auch an der Berliner Schaubühne, viel gefeierte norwegische Autor Jon Fosse mit dem Stück Der Name242 (UA 1995, DSE 2000) geschrieben. Als Inversion des biblischen Motivs vom verlorenen Sohn ist es in Fosses Stück die schwangere Tochter, die gemeinsam mit dem Vater ihres Kindes ins Elternhaus zurückkehrt. Die für Fosses Dramatik charakteristische243 Dramaturgie der äußersten Reduktion sowie die durch Pausen evozierte Musikalität der Sprache umkreisen die zur Normalität gewordene namenlose Distanz

240 Marlene Streeruwitz: Sloane Square., in: Marlene Streeruwitz: WaikikiBeach. Sloane Square. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 1992, S. 79-127. 241 Vgl. u.a. die Lektüre von Franziska Schößler: Augen-Blicke, S. 115-127. 242 Jon Fosse: Der Name, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 5, S. 65-79. 243 Vgl. Christine Bähr: Zwischenräume. Bemerkungen zu einer Dimension des Sozialen in Jon Fosses Theatertext „Winter“, in: Ane Kleine, Christian Irsfeld (Hg.): Grenzgängereien. Beiträge der gemeinsamen germanistischen Vortragsreihen in Trier und Prešov 2006/2007, Prešov 2008, S. 67-91, S. 69-74.

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zwischen den Familienmitgliedern, die sich der Zukunft in Form der neu zu gründenden Familie kaum zuzuwenden wagen und dabei von der Vergangenheit, in Gestalt von Bjarne, dem Jugendfreund des Mädchens, eingeholt werden. Ein weiteres zentrales Thema der Familiendramatik der Jahrtausendwende stellt die Auseinandersetzung mit der individuellen und historischen Vergangenheit dar. Roland Schimmelpfennigs Theatertext Die Frau von früher244 (UA 2004) zeigt, mit intertextueller Referenz auf den Medea-Mythos, die unerwartete Konfrontation eines Familienvaters mit seiner ersten großen Liebe, Romy, und seinem Versprechen auf ewige Liebe. Frank befindet sich gerade mit Ehefrau Claudia und Sohn Andreas in den Umzugsvorbereitungen für die, seinerseits berufsbedingte, Auswanderung nach Übersee. Mit der raffinierten Schachtelung der sich wiederholenden, zu Teilen deckungsgleichen, zeitlich immer leicht verschobenen Szenen treibt Schimmelpfennig das zunächst boulevardesk anmutende Liebesdrama in die Tragödie. Die filmische Montage der Ereignisse initiiert, mit Anklängen an eine postdramatische Ästhetik, ein Spiel mit Erinnerung, mit „unsere[m] Hunger nach Kontinuität“245. Die Vergangenheit rückt auch in Schimmelpfennigs jüngerem Stück Besuch bei dem Vater246 (UA 2007) ins Zentrum des Familienalltags. Hier stört die ländliche Eintracht einer fünfköpfigen Familie – Vater, Ehefrau, gemeinsame Tochter, Tochter der Frau aus erster Ehe und Nichte – ein Sohn, von dessen Zeugung der Vater nichts wusste. In Reminiszenz247 an Tschechows Die Möwe,

244 Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher, in: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004, mit einem Vorwort v. Peter Michalzik, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 639-686. 245 Peter Kümmel: Schatz, Medea ist da! Die Antike ist nicht vorbei: Roland Schimmelpfennigs Stück „Die Frau von früher“ am Wiener Burgtheater, in: Die Zeit, 16. September 2004, S. 54. 246 Roland Schimmelpfennig: Besuch bei dem Vater, in: Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tiere. Stücke, mit einem Gespräch mit Roland Schimmelpfennig, Frankfurt/Main 2007, S. 7-86. 247 Gerhard Preußer merkt an: „Schimmelpfennig verweist auf seine Ahnengalerie mit solcher Deutlichkeit, dass eine parodistische Absicht nahe liegt. Für eine parodistische Wirkung aber fehlt der Humor.“ (Gerhart Preußer: Wildmöwe, 2. Teil. Roland Schimmelpfennig „Besuch bei dem Vater“, in: Theater heute 48 (2007) H. 7, S. 46).

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Ibsens Wildente und Hasenclevers Der Sohn inszeniert der Text die Rache des Sohnes, die in den bewaffneten Zweikampf mit dem Vater mündet und mit der Flucht des Sohnes endet. Das Motiv der Rückkehr des ‚verlorenen‘ Sohnes greift auch Albert Ostermaiers Erinnerungsmonolog Vatersprache248 (UA 2002) auf, in dem der Sohn aus dem Ausland nach Deutschland und in die leere Wohnung seines verstorbenen Vaters zurückkommt. Die Auseinandersetzung mit der väterlichen wie mit der deutschen Vergangenheit stellt sich als Anklage dar, die sich allerdings gegen das eigene Leben wendet. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet im Rahmen der Familiendramatik zudem mit Bezug auf die jüngsten Ereignisse deutsch-deutscher Zeitgeschichte statt.249 In seiner „Heimat-Trilogie“, die die Theatertexte Vineta (oderwassersucht)250 (Ring-UA 2001), zeit zu lieben zeit zu sterben251 (UA 2002) und WE ARE CAMERA/jasonmaterial252 (UA 2003) umfasst, erzählt Fritz Kater – ein Pseudonym und nicht zu verwechseln mit dem Regisseur Armin Petras – Familiengeschichten im Zeitraffer. In vereinzelten Schlaglichtern, in filmartig und schnell ‚geschnittenen‘ Szenenfolgen und in einer lakonisch knappen, poetisch dichten Sprache entfalten sich die Lebensgeschichten von Grenzgängern zwischen Ost- und Westdeutschland.253 Das Stück WE ARE CAMERA/jasonmaterial spielt in der Silvesternacht

248 Albert Ostermaier: Vatersprache, Frankfurt/Main 2003. 249 Vgl. die aufschlussreiche Studie von Dag Kemser: Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung. Form – Inhalt – Wirkung, Tübingen 2006. 250 Fritz Kater: Vineta (oderwassersucht), in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 151-202. Für die Inszenierung des Stückes in der Regie von Armin Petras am Thalia Theater Hamburg (Premiere: 15. September 2001) wurde der Titel Fight City. Vineta gewählt. 251 Fritz Kater: zeit zu lieben, zeit zu sterben, in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 205-237. 252 Fritz Kater: WE ARE CAMERA/jasonmaterial, in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 273-306. 253 Vgl. Gabriele Dürbeck: Fremde Heimat. Ost-West/West-Ost-Grenzgänger in der Harvest-Trilogie von Fritz Kater, Manuskript, erscheint in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Intrakulturelle Fremdheit. Inszenierung deutschdeutscher Differenzen in Literatur, Film und Theater nach der Wende, Würzburg.

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1969 in Helsinki und zeigt auf der Folie des Argonauten-Mythos die Flucht einer vierköpfigen Familie aus West- nach Ostdeutschland, die Ernst, Spion der DDR, zunächst ohne Wissen seiner Frau Paula beschließt. Mit dem Verlust der Heimat setzt der sichtliche Zerfall der Familie ein und es beginnt für jeden die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen und politischen Identität. In Vor- und Rückblenden, die von 1939 bis in die Nach-Wendezeit, das Jahr 1992 reichen und in denen die Kindheit des Vaters, das Erwachsenwerden seiner eigenen Kinder Mirco und Sonja, das Leben in der DDR, das Scheitern des Vaters an seinen Utopien und sein Tod sichtbar werden, überlagern sich private Familiengeschichte und politische Geschichte. Dabei setzt die postdramatische Ästhetik des Theatertextes auf die Leerstellen der Geschichte, das Unausgesprochene und die in kollektiven Gedächtnis verankerten ‚Bilder im Kopf‘. Deutsch-deutsche Zeitgeschichte reflektiert auch das an die Dramaturgie des Stationendramas angelehnte Familienstück Musst boxen254 (UA 2004) von Claudius Lünstedt, das zum Stückauftakt in den 1980er Jahren in Mecklenburg spielt. Sven, der Protagonist, flieht vor der Gewalt des Vaters, aus der kleinbürgerlichen Familie, wird selbst mit sechzehn Jahren Vater und hangelt sich von Job zu Job, von Station zu Station. Das Glück, das seine Flucht in den Westen kurz vor der Wende zunächst bedeutet, ist jedoch nicht von Dauer. Vom unheilvollen Wechselspiel zwischen Glücksversprechen und Desillusionierung handelt ebenso die Dramatik des in der DDR geborenen Autors Oliver Bukowski. Sein Theatertext Londn – L.Ä. – Lübbenau255 (UA 1993), ein „Hardcoreschwank in Lausitzer Mundart“ wie es im Untertitel heißt, und die weniger ins Farcenhafte getriebene „Tragödie“ Gäste256 (UA 1999), für die er 1999 den Mülheimer Dramatikerpreis erhält, setzen dabei den Akzent auf das Alltagsleben der

254 Claudius Lünstedt: Musst boxen, in: Claudius Lünstedt: Zugluft. Musst boxen. Vaterlos. Drei Stücke, Frankfurt/Main 2004, S. 47-90. 255 Oliver Bukowski: Londn – L.Ä. – Lübbenau, Berlin 1994, Bühnenmanuskript der Kiepenheuer-Bühnenvertriebs-GmbH. Der Theatertext bildet zusammen mit Die Halbwertzeit der Kanarienvögel (UA 1991) und Intercity (UA 1993) die „Abschiedstrilogie“ (Birgit Haas: Theater der Wende – Wendetheater, Würzburg 2004, S. 103). 256 Oliver Bukowski: Gäste. Tragödie, in: Theater heute 40 (1999) H. 4, S. 61-68.

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‚einfachen kleine Leute‘ in Ostdeutschland, das in der Nach-Wendezeit unter anderem durch die Folgen einer veränderten Wirtschaftsordnung und durch die Erfahrung der Orientierungslosigkeit257 bestimmt wird. Beide Stücke schreiben die Tradition des kritischen Volksstücks fort, indem sie vor allem das trostlose Leben der Unterprivilegierten in Szene setzen und auf eine dialektgefärbte Kunstsprache258 zurückgreifen.259 Das Stück Gäste hat – ähnlich wie Londn – L.Ä. – Lübbenau, in dem das Ehepaar Gretschke in seiner Garage einen Getränkeshop eröffnet – das gastronomische Projekt eines jungen Ehepaares zum Gegenstand: Kathrin und Erich bauen einen Schweinestall zu einem Hotel um. Als Selbständige in der Tourismusbranche wollen sie an den Gewinnen der freien Marktwirtschaft partizipieren. Mit der zweifelhaften Unterstützung der Dorfgemeinschaft erwarten sie den ersten Gast, „Dr.“ Manfred Neugebauer, der sich auf die ins Groteske gesteigerten Zuwendungen und Anbiederungen der Gastgeber einlässt und dabei an der unvermeidlichen Katastrophe nicht unschuldig bleibt. Der „umstandslos[e]“260 Selbstmord Kathrins, die von Neugebauer schwanger ist, die Schändung der Frauenleiche durch die Dorfbewohner sowie schließlich der erfolglose Selbsttötungsversuch Erichs, der sich, seine Frau und das Hotel in Brand stecken will, offenbaren nicht nur persönliche Verzweiflung und resignative Gewalt, sondern auch einen Zustand der Desillusionierung über das politische Versprechen der ‚blühenden Landschaften‘. Mit tragikomischen Mitteln verhandelt Bukowskis Theatertext Gäste die Differenz von (Selbst-)Anspruch und Wirklichkeit im Milieu der gesellschaftlichen Underdogs. Das theatrale Potenzial von Schein und Sein im Arbeitsalltag der Topdogs wiederum ergründet Urs Widmers preisgekröntes261 Stück

257 Vgl. Dag Kemsers Lektüre zu Londn – L.Ä. – Lübbenau in Kemser: Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung, S. 120-126. 258 Im paratextuellen Vermerk zu Gäste heißt es: „Kein Dialekt!, in Rhythmus und Struktureigenart jedoch aus dem Mundartlichen gewonnen. Umkehrproben wären möglich, wenn auch schade“ (Bukowski: Gäste, S. 61). 259 Vgl. zu dieser Einordnung auch Haas: Theater der Wende – Wendetheater, S. 104 u. S. 135. 260 Bukowski: Gäste, S. 68. 261 Die Fachzeitschrift Theater heute wählt 1997 Widmer zum Autor des Jahres und Top Dogs zum besten Stück. Widmer erhält für Top Dogs fer-

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Top Dogs262, das 1996 als Auftragswerk des Theaters am Neumarkt in Zürich zur Uraufführung kommt und 1997 in Gerhard Jörders Preisrede beim Berliner Theatertreffen zum „Königsdrama der Wirtschaft“263 ausgerufen wird. Als eine Art Prototyp264 fungiert Widmers Theatertext, insofern er die scheiternden und arbeitslosen Manager und wirtschaftlichen Führungskräfte in den Personalstand des sozialen Dramas aufnimmt. Den Managern und Spitzenkräften, insbesondere auch den Verlierern unter ihnen, schenken die Theatertexte der folgenden Jahre immer wieder erhöhte Aufmerksamkeit, so etwa Albert Ostermaiers Erreger265 (UA 2000), Moritz Rinkes Republik Vineta266 (UA 2000) oder Falk Richters Unter Eis267 (UA 2004). In Widmers Top Dogs bilden zwei weibliche und sechs männliche Figuren, die, wie es im Personenverzeichnis heißt, in der Uraufführung nach den Schauspielern benannt wurden, den Stab des Outplacement-Büros, in dem die ‚freigestellten‘ Führungspersönlichkeiten eine „optimale Unterstützung bei

ner den Mülheimer Dramatikerpreis 1997 sowie den erstmals vergebenen Theaterpreis von 3sat für „herausragende künstlerische Innovationsleistung“. Das Stück wird in der Inszenierung des Züricher Theater am Neumarkt zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 262 Urs Widmer: Top Dogs, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2000 [1997]. 263 Jörder: Die Globalisierung frißt ihre Kinder, S. 114. Widmer selbst zieht die Parallele zu Shakespeares Königsdramen: „[…] [A]uch die Entthronten von heute stehen – den machtlos gewordenen Königen Shakespeares nicht unähnlich – stundenlang am Fenster, starren in den Nieselregen hinaus und sehen immer deutlicher, immer erschreckender jenen Weg, der früher zum Galgen führte und heute, schmerzlich genug, mit bestürzender Geschwindigkeit in den sozialen Tod führen kann.“ (Urs Widmer: Feldforschung im Lande des Managements, in: Theater Neumarkt Zürich (Hg.): Top Dogs. Entstehung – Hintergründe – Materialien, Zürich 1997, S. 43-54, S. 47.) 264 Vgl. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 93. 265 Albert Ostermaier: Erreger, in: Albert Ostermaier: Erreger. Es ist Zeit. Abriss. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2002, S. 7-44. 266 Moritz Rinke: Republik Vineta, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 153-235. 267 Falk Richter: Unter Eis, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 433-476.

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ihrer Karrierefortsetzung in einem anderen Unternehmen“268 erhalten sollen. Die unternommenen Anstrengungen, die sich als eine Art psychisches und physisches Überlebenstraining darstellen, fördern dabei das paradoxe Verständnis von der Stellensuche als „Full-time-Job“269. Solcherart Codierung der Arbeitssuche als Arbeit unterstreicht den Totalitätsanspruch ökonomischen Denkens, den der Theatertext mit komödiantischem270 Gestus aufruft und zugleich parodistisch offenlegt. Darüber hinaus stellt sich der Arbeitsverlust in der Perspektive des Textes als eine traumatische Erfahrung dar, der mit gruppentherapeutischen Sitzungen und Rollenspielen gegengesteuert werden soll. Dramaturgisch verknüpft werden Szenen ökonomischen Handelns und Verhandelns mit Bildern unausgelebter Rachegelüste und utopischer Träume vom ‚Einfach-Mensch-sein-Dürfen‘271. Die in dokumentarischer272 Manier am Vokabular des Managements geschulte Figurenre-

268 Widmer: Top Dogs, S. 10. 269 Widmer: Top Dogs, S. 13. 270 „[D]as Stück tendiert zur Komödie“, meint auch Franziska Schößler: Augen-Blicke, S. 293. 271 Einer der Träume ist überschrieben mit „Menschliche Beziehungen“ und gründet in der Einsicht, dass „hinter jedem Projekt immer auch ein Mensch steht“ (Widmer: Top Dogs, S. 59). 272 Top Dogs ist eine Auftragsarbeit des Züricher Theater am Neumarkt. Die Arbeit an Stück und Inszenierung versteht sich als „eine Art Feldforschung im Lande des Managements“ (Widmer: Feldforschung im Lande des Managements, S. 48). Autor und Produktionsteam sammeln empirisches Material zum Thema ‚Arbeitslosigkeit bei Managern‘, vor allem in Gesprächen mit Betroffenen und Beratern. – Im Umfeld der Uraufführung führt die durchaus beabsichtigte, keineswegs jedoch ungebrochene Nähe der fiktionalen Darstellung zur Lebensrealität der Spitzenmanager zu Diskussionen nicht nur unter Theaterkritikern. Vielmehr vermag die Inszenierung auch Reaktionen von Vertretern der Wirtschaft beziehungsweise der Wirtschaftspresse zu provozieren. Aus Sicht der Ökonomie, so kommentieren letztere, sei das Stück viel zu einseitig und vernachlässige wichtige Aspekte: Es reproduziere Klischees, frage nicht nach Gründen für Umstrukturierungen oder Entlassungen (vgl. Franz Wille: Vom Saft der autonomen Zitrone. Urs Widmers „Top Dogs“ im Zürcher Neumarkt Theater, in: Theater heute 38 (1997) H. 2, S. 38-41) und zeige weder den „Topmanager“, der Firmengeschichte schreibt, noch

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de zeichnet sich dabei durch einen unbeständigen Wechsel zwischen dramatischen und postdramatischen Formen des Sprechens aus. Monologische, dialogische und chorische Sprechpassagen werden mit der Tendenz zu einer offenen Dramaturgie ineinander montiert und spiegeln somit die Diskontinuitäten von Solidarität und Isolation, die den Kampf273 im Feld der Arbeit und um Arbeit prägen. Das von Konkurrenz und Wettstreit gezeichnete Antlitz der Arbeitswelt beleuchten die am Ökonomischen interessierten Theatertexte der Jahrtausendwende immer wieder von Neuem. Dabei hat es mit Blick auf die Dichte der Uraufführungen zum Thema Arbeit zuweilen den Anschein, dass die Texte eben jenen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Erfolg, den sie als einen der zentralen Aspekte von Erwerbstätigkeit herausstellen, selbst austragen. Als ein solches „kleines schnelles Stück über die Widrigkeiten der Arbeitswelt“274 gilt Roland Schimmelpfennigs Theatertext Push Up 1–3275 (UA 2001), der mit drei Paarungen – Frau/Frau, Frau/Mann, Mann/Mann – die Konkurrenzkämpfe um die besten Jobs in den Führungsetagen und im Ausland austrägt. Im Wechsel von knappen Dialogen und inneren Monologen, die in einem für Schimmelpfennigs Theatertextästhetik eher untypischen, da weniger poetischen als realistischen zeiträumlichen Setting eingelassen sind, arbeiten sich die Figuren verbal und emotional

den innovativen Einzelkämpfer, die ja gerade die erfolgreichen Strategien in Unternehmen und am Markt repräsentierten (vgl. Simon Grand: Der Markt am Neumarkt. Das Theater aus ökonomischer Sicht, in: Theater Neumarkt Zürich (Hg.): Top Dogs. Entstehung – Hintergründe – Materialien, Zürich 1997, S. 81-92, S. 90). Angesichts solcher Rezeptionshaltungen scheint das Diktum von der in der Gegenwart ausbleibenden gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeit des Theaters – zumindest kurzzeitig – ausgesetzt. 273 Vgl. unter anderem das kriegerische Vokabular zum Beispiel in den Szenenüberschriften „Camp“, „Manöverkritik“, „Waffen der Frau“ oder „Exerzierfeld“ (Widmer: Top Dogs, S. 29, S. 41, S. 63 u. S. 76). 274 Tom Mustroph: Der Vielseitige. Roland Schimmelpfennig, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. StückWerk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 133-137, S. 137. 275 Roland Schimmelpfennig: Push Up 1–3, in: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004, mit einem Vorwort v. Peter Michalzik, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 343-397.

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an ihrem jeweiligen Selbstentwurf als attraktive und erfolgreiche Führungskraft ab. Den drei karriereorientierten Pärchen, die sich bevorzugt in der Chefetage oder deren Nähe aufhalten, ist mit ironischem Gestus und symbolträchtig das Wachpersonalpaar Maria und Heinrich gegenübergestellt, das täglich „unten, in der Lobby, in der Zentrale“276 des Hochhauses seiner Arbeit nachgeht. Bezeichnenderweise werden die Wortwechsel der Konkurrentinnen und Konkurrenten durch die einzigen beiden Redebeiträge von Heinrich und Maria, bei denen es sich um zwei Monologe handelt, gerahmt. Den Wettbewerb um die begehrten Arbeitsplätze in den Führungspositionen bestreiten ebenso die Protagonisten in John von Düffels Stück Elite I.1277 (UA 2002) und auch die in Gesine Danckwarts Täglich Brot (UA 2001) versammelten Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer wissen um die Konkurrenz. Dass der Wettbewerb um Arbeit nicht erst im Job stattfindet, sondern insbesondere für die gilt, die (noch) keinen haben, thematisiert bereits Anfang der 1990er Jahre Johann Jakob Wursters Fitzfinger, ab geht er!278, eine, wie es im vorangestellten Paratext heißt, „philosophische Groteske über die Unerschöpflichkeit von Hinderungsgründen“. Das Stück erzählt die Geschichte des erfolgreichen Geschäftsmanns Fitzfinger, der um jeden Preis versucht, bei einem Personalchef Gehör und eine ‚neue Herausforderung‘ zu finden. Dabei schwankt der Bewerber zwischen Souveränität, Verzweiflung, Angriffslust und dem Verdacht, es könne sich bei der wiederholten Abweisung um einen Eignungstest im Krisenverhalten handeln. Der Ringen um den Job gewinnt dabei die Züge eines Kampfes um die eigene Existenz und endet schließlich in der nervlichen Erschöpfung beider Kombattanten. Dass es bei dem Kampf um Arbeit und Erfolg um mehr als die fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse geht, erfährt auch Marius von Mayenburgs Der Häßliche (UA 2007). Der kompetente Ingenieur für elektrische Sicherungssysteme, Herr Lette, muss erkennen, dass

276 Schimmelpfennig: Push Up 1–3, S. 396. 277 John von Düffel: Elite I.1, in: Nils Tabert (Hg.): Playspotting 2. Neue deutsche Stücke. Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann, Tim Staffel, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 265-300. 278 Johann Jakob Wurster: Fitzfinger, ab geht er!, in: Susanne Wolfram, Uwe B. Carstensen (Hg.): Theater Theater. Anthologie, Aktuelle Stücke 8, Frankfurt/Main 1998, S. 435-479.

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Schönheit und Attraktivität für Erfolg und Beliebtheit von entscheidender Bedeutung sind. Um dem Anforderungsprofil des attraktiven Geschäftsmannes Genüge zu leisten, unterzieht er sich einem chirurgischen Eingriff, der ihn im Folgenden nicht nur bei Frauen, sondern auch bei seinem Chef begehrter macht. Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit steigt allerdings der Erwartungsdruck und mit der wachsenden Konkurrenz von Nacheiferern verliert Lettes Individualität signifikanterweise an Marktwert. Die Erfolglosen und diejenigen, denen aufgrund ihres Alters kein Arbeitsplatz mehr eingeräumt wird, sind in der Arbeitsdramatik der Jahrtausendwende mit am häufigsten anzutreffen. Das Stückpersonal rekrutiert sich aus arbeitslos gewordenen Führungskräften, Akademikern, Angestellten, Arbeitern oder auch Handwerkern. In Thomas Jonigks Farce Hörst du mein heimliches Rufen279 (UA 2006) lässt ein erfolgreicher Rüstungsunternehmer, der unerwartet seinen Job verliert und daraufhin Suizid begeht, sein Leben Revue passieren. Das Stück verknüpft die Themen Arbeit und Familie aufs Engste, indem es gleichermaßen die Frage nach einer Ethik der Ökonomie stellt und die Ehe- und Sexualmoral diskutiert. Nicht von der Arbeitslosigkeit als Einzelschicksal, wie sie etwa auch Marius von Mayenburgs Eldorado280 (UA 2004) zeigt, sondern von der Arbeitslosigkeit als Massenphänomen handelt Heiko Buhrs Theatertext Ausstand281 (UA 2000). Das Stück versammelt unter anderem ehemalige Buchhalter, Schlosser, Kraftfahrer und Werftarbeiter in einer Kneipe, die sich in ihrer Not zusammenfinden und auf eine Rettung sinnen. Die doppelte Bedeutung der Arbeitslosigkeit als individuelle Krisensituation und als gesellschaftliche Problematik ruft Moritz Rinkes Café Umberto282 (UA 2005) auf, wenn es als Schauplatz das Arbeitsamt wählt und dort, zwischen den Verwaltungsabläufen, drei Liebesgeschichten ansiedelt.

279 Thomas Jonigk: Hörst Du mein heimliches Rufen. Stückauszug, in: Programmheft. „Hörst du mein heimliches Rufen“ von Thomas Jonigk, Düsseldorfer Schauspielhaus, Nr. 2, 2006/2007, S. 6-10. 280 Marius von Mayenburg: Eldorado, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 7-77. 281 Heiko Buhr: Ausstand. Stück und Materialien, Frankfurt/Main 2001. 282 Moritz Rinke: Café Umberto. Szenen, mit einem Vorwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 21-156.

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Einen Blick auf diejenigen, die mit ihrer Arbeit alt geworden sind, wirft Dea Lohers Theatertext Der dritte Sektor283 (UA 2001), der mit der Thematisierung des Dienstleistungsbereichs an das kritische Volksstück anschließt. Anna, die Schneiderin, und Martha, die Köchin, sind ohne Arbeit, denn ihre Herrin ist verschwunden. Mit ihnen warten Meier Ludwig, der „Schofför“, der gemäß der Regieanweisung von einem Hund dargestellt wird, und die ausländische Putzfrau Xana. Es ist eine Situation der Trostlosigkeit, in der sich Erinnerungen an das vergangene, beim Dienen aufgeopferte Leben Bahn brechen und zu unkalkulierbaren Aggressionen aufstauen. Von ihren Träumen, die in ihre Hasstiraden einfallen, haben die Angestellten bereits Abschied genommen.

283 Dea Loher: Der dritte Sektor, in: Theater heute 42 (2001) H. 5, S. 55-66.

4. Das Individuum und das Soziale in Zeitdiagnosen

Modernisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung, Ästhetisierung – dies sind nur einige der Schlagworte, unter denen kulturelle und soziale Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Allgemeinen zu erfassen gesucht und durch die das Verständnis von Arbeit und Familie im Besonderen geprägt werden. Die genannten Begriffe sind in hohem Maße deutungsoffen, das heißt zum einen sind sie für verschiedenste Forschungsansätze anschlussfähig, zum anderen jedoch bergen sie ein hohes Potenzial, terminologische Unschärfen zu (re-)produzieren und infolgedessen zu Missverständnissen zu führen. Auf Konzepte der Modernisierung, Individualisierung oder Globalisierung Bezug zu nehmen, bedeutet stets, sich im Horizont eines theoriegeschichtlichen Kontextes wie zugleich auch einer öffentlichen Wirkungsgeschichte zu bewegen.1 Die Begriffe sind dementsprechend von unterschiedlichen Abstraktionsniveaus durchzogen. Die Verwendung der Terminologie lässt sich zudem weder durch eine etablierte vereinheitlichende Systematisierung der Konzepte2 noch durch ein unstrittiges empirisches Fundament3 absichern.

1

Zur Individualisierung vgl. Matthias Junge: Individualisierung, Frankfurt/ Main, New York 2002, S. 14f.; zur Globalisierung vgl. Jörg Dürrschmidt: Globalisierung, 2. Aufl., Bielefeld 2004 [2002], S. 5-11.

2

Vgl. zur Individualisierung u.a.: Nicola Ebers: „Individualisierung“. Georg Simmel – Norbert Elias – Ulrich Beck, Würzburg 1995; Flavia Kippele: Was heißt Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker, Opladen 1998; Markus Schroer: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt/Main 2001.

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Wenn im Folgenden Aspekte von Individualisierung und Globalisierung, von Pluralisierung und Ästhetisierung im Hinblick auf Vorstellungen und Darstellungen von Arbeit und Familie in zeitdiagnostischen Untersuchungen diskutiert werden, so geschieht dies unter der Annahme ihrer grundsätzlich diskursiven Qualität. In der Auseinandersetzung mit gegenwartsdiagnostischen Beobachtungen, die vielfach in illustren Begriffen gesellschaftlicher Selbstdeutung wie „Freizeitgesellschaft“ (Horst W. Opaschowski), „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze), „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross), „Single-Gesellschaft“ (Stefan Hradil), „Weltgesellschaft“ (Martin Albrow) und anderen mehr4 kristallisieren, soll es nicht darum gehen, auf Basis sozialund kulturwissenschaftlicher Literatur eine sozioökonomische Geschichte der Familie und der Arbeit nachzuerzählen. Vielmehr sollen einige derjenigen Fäden nichtliterarischer Diskurse aufgenommen werden, die die Phänomene Familie und Arbeit im Entstehungszeitraum der hier zu untersuchenden Theatertexte, also am Beginn des 21. Jahrhunderts, in bedeutender Weise hervorbringen und durchwirken. Dabei werden die wissenschaftlichen Aussagen über Arbeit und Familie in dem Sinne rezipiert und verhandelt, dass sie Teil einer komplexen Geschichte der Deutungen und Repräsentationen von Arbeit und Familie sind, die im vorliegenden Kontext unter dem Vorzeichen einer Tradition westlich-moderner Kultur und Gesellschaft steht und stets in ihrer Konstruiertheit mitzureflektieren ist. Das Verhältnis der Aussagen zu einer gegebenen, empirisch zu erfassenden Realität von Arbeit und Familie bleibt in den folgenden Ausführungen von nachgeordnetem Interesse. Im Vordergrund steht weniger die soziostrukturelle Dimension der Gegebenheiten, als vielmehr die kulturelle Dimension der Zuschreibungen von Arbeit und Familie. Die Frage nach dem Sozialen lässt sich gleichermaßen unter der Perspektive der Globalisierung wie aus dem Blickwinkel der Individualisierung diskutieren. Allerdings eröffnen beide unterschiedliche

3

Vgl. in Bezug auf Individualisierung Junge: Individualisierung, S. 16. Zur Kritik der Individualisierungsthese in der Familiensoziologie vgl. Uwe Schmidt, Marie-Theres Moritz: Familiensoziologie, Bielefeld 2009, S. 46-48.

4

Vgl. unter anderem Armin Pongs: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, 2 Bde., München 1999/2000; sowie Georg Kneer, Armin Nassehi, Markus Schroer (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997.

4. D AS I NDIVIDUUM UND

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Assoziationsräume: Die Rede von der Globalisierung wird mit einer Beschleunigung und zeiträumlichen Entgrenzung im Bereich der Kapital- und Informationsströme in Verbindung gebracht, der Begriff verweist mithin auf Beziehungen, die aus der Alltagsperspektive relativ abstrakt erscheinen. Demgegenüber lässt sich die Rede von der Individualisierung „allein schon wegen des Bezugs auf ‚die Individuen‘“ leichter mit konkreten Phänomenen und dem Alltag in Beziehung setzen.5 In den folgenden Ausführungen wird der letztgenannten Perspektive der Vorrang eingeräumt, wenngleich Aussagen des Globalisierungsdiskurses nicht unberücksichtigt bleiben. Beide Konzepte bieten Anknüpfungspunkte für eine neuhistorisch inspirierte Analyse der Theatertexte zu Arbeit und Familie, allerdings verspricht das stärker personalitätsbezogene Konzept der Individualisierung eine dichtere Beschreibung der Austauschbeziehungen zwischen literarischem und sozialwissenschaftlichem Diskurs. Die Auseinandersetzung mit Thesen der zeitdiagnostischen Forschung, die vor allem, aber nicht ausschließlich Argumentationen und Bedeutungszusammenhänge in der Linie der Individualisierungsthese verfolgt, wird zunächst mit deren historischer Kontextualisierung eingeleitet. Der Zugang zum Feld der Zeitdiagnostik wird über drei historische Positionen zur Individualisierungsthese um 1900 gewählt, die bis in die Diskussionen um die Jahrtausendwende hineinwirken. Es handelt sich dabei um die sozial- und kulturwissenschaftlichen Positionen Emile Durkheims, Max Webers und Georg Simmels, mit denen der Blick auf die Bedingungen und Folgen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, die Bedeutung einer von Rationalisierung gekennzeichneten Lebensführung und die kulturell bedeutsame Syntheseleistung des Individuums fällt. Die Zeitdiagnosen der Jahrtausendwende, bei denen es vor allem um Perspektiven auf die Lebenszusammenhänge von Arbeit und Familie gehen soll, werden dann ihrerseits thematisch gegliedert. Zunächst wird im ersten Abschnitt der Frage nach dem Modus der Lebensführung unter den Vorzeichen der Zweiten Moderne nachgegangen. Dieser zeichnet sich insbesondere durch ein Höchstmaß an individueller Eigenverantwortlichkeit sowie durch die Notwendigkeit aus, den eigenen Lebensalltag jenseits von vorgegebenen

5

Peter A. Berger: Individualisierung als Integration, in: Angelika Poferl, Natan Sznaider (Hg.): Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt, BadenBaden 2004, S. 98-114, S. 98.

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Lebensmodellen zu gestalten. Der darauf folgende Abschnitt widmet sich den Thesen zur Deregulierung zeiträumlicher Strukturen und zu den damit in Zusammenhang stehenden Folgen, die soziale Vorgänge wie auch die individuelle Erfahrung des (Arbeits-)Alltags betreffen. Abschließend richtet sich das Hauptaugenmerk auf eines der zentralen Leitbilder individueller und gemeinschaftlicher Lebensgestaltung um die Jahrtausendwende: den Unternehmer seiner selbst.

4.1 K LASSIKER

DER I NDIVIDUALISIERUNGSTHESE

Im Unterschied zum Begriff der „Globalisierung“, der in den 1990er Jahren zu einer Leitkategorie avanciert, handelt es sich bei dem Konzept der Individualisierung um keines der jüngsten Vergangenheit, gleichwohl die Individualisierungsthese in der Mitte der 1980er Jahre infolge der Arbeiten von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, insbesondere im Anschluss an Becks Publikation Risikogesellschaft (1986)6, eine neue Renaissance erlebt.7 Gemäß einer von Matthias Junge vorgeschlagenen historischen Typologie wirkt gegenwärtig ein vierter Individualisierungsschub8 fort, der bereits in den 1960er Jahren „im Zuge massiver Wohlstandssteigerungen“ seinen Ausgang genommen hat.9 Kennzeichnend für diese vierte Phase ist die Annahme eines grundsätzlich handlungsmächtigen Individuums, das Vergesellschaftungsprozesse vorantreibt und mitgestaltet. Diese Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft steht demnach, mit Junge, der-

6

Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986.

7

Vgl. u.a. Thomas Kron: Individualisierung und soziologische Theorie – Einleitung, in: Thomas Kron (Hg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 7-12. Kron gelten Beck und Beck-Gernsheim als die „Gallionsfiguren der Individualisierungsdiskussion“ (Kron: Individualisierung und soziologische Theorie, S. 7).

8

Junge datiert die Individualisierungsschübe wie folgt: Der erste Individualisierungsschub wird mit der Tradition des Christentums begründet; der zweite lässt sich auf das 13. Jahrhundert datieren; der dritte findet um 1900 statt; der vierte schließlich stellt sich ab den 1960er Jahren ein. (Vgl. Junge: Individualisierung, S. 37-39.)

9

Junge: Individualisierung, S. 39.

4. D AS I NDIVIDUUM UND

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jenigen der vorangehenden dritten Phase der Individualisierung, die um 1900 zu datieren ist, diametral gegenüber, insofern in dieser Phase gerade die Determiniertheit des Individuums durch soziale Prozesse betont wird, das Subjekt als Resultat gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse gilt und „das an der Gesellschaft leidende Individuum“ in den Blick kommt.10 Zu den Anhängern der Individualisierungsthese zählen in der Zeit um 1900 Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel. Alle drei Klassiker sprechen von Individualisierung im Zusammenhang mit Modernisierung, wobei ihre Beurteilungen der Entwicklungen verschiedene, auch gegenläufige Schwerpunkte setzen. Ein Blick auf ihre Fragen und Antworten soll es möglich machen, in den gegenwärtigen Debatten um die kulturelle und soziale Bedeutung des Individuums und damit um die Bedeutung seiner Handlungsweisen und Selbstthematisierungen in Familie und Arbeit Kontinuitäten und neue Qualitäten zu erkennen und zu profilieren. Die Auseinandersetzung mit Durkheims Theorie der Arbeitsteilung und Webers Rationalisierungsthese kann zudem schlaglichtartig die historische Dimension einzelner Aspekte der Globalisierungsthese sichtbar machen.11

10 Junge: Individualisierung, S. 38. 11 Die Aussagekraft solcher Rekonstruktionen einer Denktradition von „Globalisierung“ unterliegt Einschränkungen. So ist beispielsweise zu bedenken, dass Durkheim und Weber ihre Thesen mit Blick auf die Einheit des Nationalstaates formulieren. Unter den Klassikern der Soziologie lassen sich, nach Dürrschmidt, vor allem die Marx’sche Theorie des Kapitals und des kapitalistischen Weltmarktes als „Aspekte einer genuin globalen Sichtweise“ auffinden. (Dürrschmidt: Globalisierung, S. 27) Auf Marx wird im Folgenden aus dem Grund nicht ausführlicher in einem eigenen Abschnitt eingegangen, da seine Arbeiten den Zusammenhang von sozialer Lage und Lebensweise stärker aus sozialstruktureller und politischer denn aus kultureller Perspektive beleuchten. Marx’ Klassenbegriff, der einer streng dichotomen Struktur folgt und viele Klassenpositionen – beispielsweise die des Managers – nicht erfassen kann, findet in Webers Begriff der ständischen Lage seine modifizierte Weiterentwicklung. Für das Konzept der ständischen Lebensführung, das kulturelle Ausdrucksformen und Klassenlage als unabhängig voneinander denkt, sind Kategorien wie das Prestige oder die ständische Ehre von Bedeutung. Mit Junge ist zu resümieren: „In der Gegenüberstellung des Klassenbegriffs von Marx und des Stände-

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Aus der Sicht Emile Durkheims12 steht der Prozess der Individualisierung in unmittelbarem Zusammenhang mit der die moderne Gesellschaft kennzeichnenden Arbeitsteilung: Er ist deren Folge. Zu Beginn seiner Untersuchung Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893) formuliert er die für diesen Nexus grundlegende Fragestellung: „Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein? Denn es ist unwiderlegbar, daß diese beiden Bewegungen, wie gegensätzlich sie auch erscheinen, parallel verlaufen.“13 Nach Durkheim beruht Integration in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr, wie noch in der archaischen, segmentierten Gesellschaft, auf einem starken Kollektivbewusstsein. Vielmehr tritt an die Stelle eines von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilten Repertoires an Glaubensüberzeugungen, Gefühlen und Normen die ebenso ökonomisch wie auch sozial bedeutsame Arbeitsteilung: „Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung.“14 Die Emanzipation des Individuums vom Kollektivbewusstsein, das mit einer „mechanischen Solidarität“15 korrespondiert, befreit dieses nicht von moralischen Verbindlichkeiten. Durkheim erläutert:

konzepts Webers kommt die grundlegende Spannung zwischen Sozialstruktur und Kultur zum Ausdruck“ (Junge: Individualisierung, S. 48). 12 Zu den folgenden Ausführungen zu Durkheim vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, insb. S. 137-184; außerdem auch Hans-Peter Müller: Emile Durkheim (1858–1917), in: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie. Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, 6. überarb. u. aktual. Aufl., München 2006 [1999], S. 151-171. 13 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, mit einer Einleitung von Niklas Luhmann, mit einem Nachwort von Hans-Peter Müller und Michael Schmidt, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1996 [1992], S. 82. 14 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 471; vgl. auch S. 228: „Die Arbeitsteilung übernimmt immer mehr die Rolle, die früher das Kollektivbewußtsein erfüllt hatte.“ 15 Der Terminus ‚mechanisch‘ steht für die geregelte Gleichförmigkeit der in einfachen, archaischen Gesellschaften vorzufindenden Lebensordnungen.

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Zu Unrecht stellt man […] die Gesellschaft, die aus der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens entsteht, der Gesellschaft gegenüber, die auf der Zusammenarbeit beruht, indem man nur der ersten einen moralischen Charakter zubilligt und in der zweiten nur eine wirtschaftliche Gruppierung sieht. In Wirklichkeit hat gerade die Zusammenarbeit ebenfalls ihre eigenständige Moralität.16

Die funktionale Differenzierung generiert demnach ein Netz von individualisierten Einzelteilen und ineinandergreifenden Interdependenzen, das eine „organische Solidarität“17 hervorbringt und auf diese Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet. Dennoch bleibt, in Durkheims pessimistisch gefärbter Perspektive, die soziale Ordnung durch eine zunehmende Individualisierung bedroht. Die Gefährdung stabiler sozialer Verhältnisse illustriere das Leben in den Großstädten par excellence: Hier erfreuten sich „Neuerungen, welche es auch immer seien, eines fast gleichen Prestiges wie vormals die Sitten der Vorfahren“, hier sei alles „von Natur aus auf die Zukunft gerichtet“ und „Glaubensüberzeugungen, Geschmack, Leidenschaften“ wandelten sich „mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit“. 18 Durkheim sieht mithin die Gefahr, dass ein Überstrapazieren der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in den sozialen Grenzzustand der „Anomie“, das heißt in einen Zustand der Regellosigkeit und des Normverlustes, führen könne. Dennoch beurteilt der Soziologe eine mögliche Entwicklung neuerlicher „Entdifferenzierung“ als Rückschritt und als keineswegs erstrebenswert. In späteren Arbeiten (Der Selbstmord, 1897; Der Individualismus und die Intellektuellen, 1898), die sich insgesamt verstärkt kulturellen Fragen zur Struktur und Entwicklung von Wertesystemen zuwenden19, unterscheidet Durkheim nachdrücklich das anzustrebende Ideal eines moralischen Individualismus, der auf den Einzelnen als Mensch zielt, von der in seiner Gegenwart vorherrschenden Realität eines egoistischen beziehungsweise utilitaristischen Individualismus. Letzterer be-

16 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 285. Allerdings, so gibt Durkheim zu bedenken, sei „in unseren heutigen Gesellschaften diese Moralität noch nicht so weit entwickelt […], wie es jetzt schon nötig wäre“ (Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 285). 17 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 183. 18 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 358. 19 Vgl. Müller: Emile Durkheim, S. 163.

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fördere den „egoistischen Kult des Ichs“20 und besitze das Potenzial, jegliche gemeinschaftliche Lebensform zu zerstören. Durkheim betrachtet Individualisierung im Rahmen dieser Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit grundsätzlich als einen irreversiblen Prozess. Daher kann es seiner Auffassung nach nur darum gehen, „den Individualismus zu vervollständigen, zu erweitern und zu organisieren, nicht, ihn zu beschränken und zu bekämpfen. Es dreht sich darum, die Reflexion zu benutzen, nicht darum, ihr Schweigen aufzuerlegen.“21 Insgesamt bleibt Durkheims Optimismus hinsichtlich einer voranschreitenden Individualisierung verhalten und dominiert die Sorge um den Erhalt der sozialen Ordnung. Inwieweit Durkheims Beobachtungen und Einsichten in der Gegenwart des ausgehenden 20. Jahrhunderts fortwirken, gilt es beim Blick auf die Zeitdiagnosen im Auge zu behalten. Zunächst jedoch ist mit Max Weber ein zweiter klassischer Denkansatz zur These der Individualisierung nachzuvollziehen, der, wie Markus Schroer festhält, Durkheims Position „diametral gegenüber[steht]“22. Max Webers23 Überlegungen zum Individualismus gründen in seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursprüngen, Bedingungen und Auswirkungen des modernen Kapitalismus. Seine Studien konzentrieren sich zunächst auf den Protestantismus als Quelle der ideellen Voraussetzungen für den modernen okzidentalen Kapitalismus, um dann zunehmend die Vorstellung eines universalhistorisch wirksamen Prozesses der Rationalisierung zu fokussieren.24 Die ‚Ent-

20 Emile Durkheim: Der Individualismus und die Intellektuellen, in: Hans Bertram (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt/Main 1986, S. 54-70, S. 56. 21 Durkheim: Der Individualismus und die Intellektuellen, S. 68. 22 Markus Schroer: Individualisierte Gesellschaft, in: Georg Kneer, Armin Nassehi, Markus Schroer (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, S. 157-183, S. 159. 23 Zu den folgenden Ausführungen zu Weber vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, insb. S. 15-41; Dirk Kaesler: Max Weber (1864–1920), in: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie. Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, 6. überarb. u. aktual. Aufl., München 2006 [1999], S. 191214. 24 Ob von einer „Theorie der Rationalisierung“ zu sprechen ist, kann als umstritten gelten. Vgl. hierzu Kaesler: Max Weber, S. 199.

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zauberung der Welt‘, also das sukzessive rationale Durchdringen der Welt, scheint evident für die Bereiche der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, des Rechts und Staates nachweisbar. Doch diagnostiziert Weber rationalisierende Vorgänge auch für die Felder der Religion, Ethik, Kunst, Kultur und Sexualität, also für jene Bereiche, die gemeinhin eher als irrational und ungeordnet vorgestellt werden.25 Weber konstatiert mit pessimistischem Gestus die Rationalisierung des Irrationalen, unternimmt es dabei jedoch auch, auf irrationale Momente der Rationalisierung zu verweisen.26 Merkmale des Vernunftwidrigen lassen sich, wie Weber festhält, etwa an einer Lebensführung beobachten, „bei welcher ein Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt“27, das heißt bei der ökonomische Prinzipien und Werte zum zentralen Moment der Lebensgestaltung werden. Des Weiteren gewinne ein Gelderwerb irrationale Züge, der nicht auf Genuss und Glück des Einzelnen zielt, sondern der „rein als Selbstzweck“28 betrieben wird. Seines religiösen Sinns entledigt avanciert der „Geist des Kapitalismus“ – gemeint ist ausschließlich der des modernen, westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus – zur „ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“29, die sich durch das puritanische Ethos der Berufsarbeit, durch Askese und Diesseitsorientierung auszeichnet. Dabei mündet das Ausgreifen der Rationalisierung auf alle Lebensbereiche, so Webers pessimistische These, in Prozesse zunehmender Bürokratisierung, Disziplinierung und Standardisierung, die sich aus Sicht des Individuums zu einem „stahlharte[n] Gehäuse“30 verdichten können. Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf.31

25 Vgl. Kaesler: Max Weber, S. 201. 26 Vgl. Kaesler: Max Weber, S. 202. 27 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 91. 28 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 78. 29 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 77. 30 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 201. 31 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 79.

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Der moderne Kapitalismus erschafft sich mithin, gemäß der Analyse Webers, die Individuen, die „Wirtschaftssubjekte“, derer er bedarf32: Hat das Individuum durch den Bedeutungsverlust der Religion im positiven wie im negativen Sinne eine orientierungsgebende, wertsetzende Instanz verloren, so sieht es seine – dadurch auch neu gewonnenen – Freiräume wiederum durch die schicksalhaft scheinende Rationalisierung und die mit ihr einhergehende Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären bedroht. Wenn Weber die Anforderungen der Gesellschaft und deren für die individuelle Freiheit restriktive Kraft fokussiert, legt er, wie Markus Schroer betont, einen „Grundstein für eine auch heute noch wirksame Theorieanlage“, die „von Weber ausgehend über die kritische Theorie der Frankfurter Schule bis hin zu Michel Foucault“33 verläuft. Weber fragt, wie einerseits „irgendwelche R e s t e einer in irgendeinem Sinne ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“34 seien, und wie andererseits aber das aus traditionalen Sozialbeziehungen entlassene Individuum den Anforderungen an die eigene Lebensführung angesichts der sich entfaltenden Moderne gewachsen sein könne. Diese doppelte Herausforderung an das Individuum, seine Freiräume vor dem Einfluss bürokratischer Macht zu schützen und zugleich den Zuwachs an Eigenverantwortung zu bewältigen, betrachtet Weber von einem zutiefst skeptischen Standpunkt aus. Zeitgenössische Alternativen zur Rationalisierung, wie sie beispielsweise die Ästhetisierung des eigenen Lebens oder an Kategorien von Mystik oder Erotik orientierte Lebensmodelle darstellen, lässt Weber nicht gelten. Allein der leidenschaftliche Dienst an der Sache, der sich in einer methodisch-rationalen Lebensführung35 ausdrückt und der durch kein Sich-Fügen, sondern durch ein selbstverantwortliches Entschließen motiviert ist, scheint ihm zur Ausbildung einer Persönlichkeit zu führen, die allein einer zunehmenden Versachlichung und Bürokratisierung der Lebenszusammenhänge, einer „mächtige[n] Tendenz zur Uniformierung des Le-

32 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 79. 33 Schroer: Individualisierte Gesellschaft, S. 160. 34 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, besorgt v. Johannes Winkelmann, 5. rev. Aufl., 14.-18. Tsd., Studienausgabe, Tübingen 1980 [1921], S. 836. 35 Vgl. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 34.

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bensstils“36 entgegenzutreten vermag. Das Individuum hat sich, nach Weber, mit den konkurrierenden Lebensordnungen auseinanderzusetzen und die Wahl zu treffen, welchen Lebensstil es realisieren möchte. Es ist dies die Forderung nach einem „heroische[n] Individuum“37, die aus der Einsicht resultiert, dass der Prozess der Modernisierung und seine Folgen nicht rückgängig zu machen und nicht aufzuhalten sind. Akzentuieren Webers Gedanken zur Individualisierung derart vor allem das Moment der Bedrohung und Einschränkung des Individuums, stellt Georg Simmel prononciert die Ambivalenz38 der modernen Entwicklungen heraus. Dabei lassen Simmels Analysen durchaus einen kulturkritischen Grundton anklingen. Wie Durkheim betrachtet Georg Simmel39 den modernen Individualismus als Konsequenz gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse, deren zentrale Triebkraft in der Arbeitsteilung liegt. Simmel stellt diesen Zusammenhang mit seinem Konzept der „Kreuzung sozialer

36 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 192. 37 Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 37; Hervorhebung getilgt, C.B. 38 Vgl. Schroer: Individualisierte Gesellschaft, S. 160. Nach Schroer findet Simmels Fokussierung auf das Ambivalente einen nachhaltigen Ausdruck in seiner Unterscheidung zwischen einer ‚quantitativen Individualität‘, die „sich aus dem je einmaligen Rollensetting eines Individuums ergibt“ und die „Produkt einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft“ ist, und einer ‚qualitativen Individualität‘, die „nach einer umfassenden Ausbildung der Persönlichkeit strebt“ und „durch eine zunehmend komplexer werdende Moderne gefährdet wird“. Simmels Ansatz sei demnach doppelt anschlussfähig: einmal in Richtung der Differenztheorie Durkheims, die ihre Spuren bis Niklas Luhmann zieht, und einmal in Richtung der pessimistischen Vorstellung Webers vom an der Unübersichtlichkeit der Moderne leidenden Individuum, die bis in die Kritische Theorie fortwirkt. (Vgl. Schroer: Individualisierte Gesellschaft, S. 161.) 39 Zu den folgenden Ausführungen zu Simmel vgl. Werner Jung: Georg Simmel zur Einführung, Hamburg 1990; außerdem Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, insbes. S. 284-326 u. S. 327-338; sowie Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2. Aufl., Opladen 2000 [1996], bes. S. 44-52 u. S. 69-77.

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Kreise“40 dar, das er in seiner Abhandlung zur Soziologie von 1908 ausformuliert. Das Individuum ist als Schnittpunkt verschiedenster Wechselwirkungen, in die es als soziales Wesen eingebunden ist, zu verstehen und demzufolge – ebenso wie die Gesellschaft – nicht als quasi vorgefertigte, tatsächliche Einheit vorzustellen.41 Seine Individualität zeichnet sich vor dem Hintergrund der heterogenen Rollenzusammenhänge ab, in die es sich angesichts gesellschaftlicher Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung gestellt sieht: Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird […]; wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewußt wird, außerdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Verkehr besitzt,42

so wird an dieser Lebensskizze anschaulich, wie Differenzierung und Individualisierung ineinandergreifen. Simmel fasst zusammen: Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt […] je mehre [sic!] es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, daß

40 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: Georg Simmel: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 11, hg. v. Otthein Rammstedt, 5. Aufl., Frankfurt/Main 2006 [1992], S. 456-511. 41 Der Mensch „ist vielmehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, daß sie zu einer Einheit zusammengehen.“ (Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: Georg Simmel: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 2: Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), hg. v. Heinz-Jürgen Dahme, Frankfurt/Main 1989, S. 109295, S. 127). 42 Simmel: Über sociale Differenzierung, S. 239f.

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noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, daß diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden43.

Die Besonderheit des Individuums, die es tendenziell unverwechselbar und also auch unaustauschbar macht, bildet das Ergebnis der von ihm aufzubringenden Syntheseleistung, nämlich der Vermittlung differierender Rollen, Gruppenzugehörigkeiten und Erwartungen. Diese Kulturaufgabe gewinnt infolge einer im Zuge der Modernisierung wachsenden Rollendifferenzierung und einer zunehmenden Spezialisierung der Tätigkeiten an Komplexität. Aus dem Problem der Integration, das zugleich als das der Identitätsbildung zu beschreiben ist, leitet Simmel die Notwendigkeit ab, sich sein „individuelles Gesetz“44 zu schaffen. Dieses zielt, ausgehend vom Projektcharakter, der das individuelle Leben kennzeichnet, auf die Koordination einer allgemeinen Handlungsmaxime mit den jeweiligen subjektiven Interessen der Person. Das individuelle Gesetz leitet nichts mehr und nichts weniger als die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit an und zeigt nichts anderes als den Konstruktionscharakter jeder Identität auf.45 Die Möglichkeit, seine eigene Individualität zu realisieren, hängt für Simmel davon ab, wie eng oder weit der soziale Kreis ist, dem das Individuum jeweils angehört: Je enger der Kreis ist, desto weniger Spielraum besteht. Allerdings fällt bei dieser Bestimmung vornehmlich die Relation der Kreise untereinander ins Gewicht, wie Simmel am Beispiel der Familie aufzeigt. Diese spielt, in Simmels Worten, eine „soziologische Doppelrolle“46, indem sie die Ausbildung der Individualität fördert und zugleich die sich entwickelnde Individualität vor den Anforderungen und Zugriffen der Allgemeinheit bewahrt: Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch-reale, mit wachsender Kultur mehr und mehr psychologisch-ideale ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitgliede einerseits eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andrerseits einen

43 Simmel: Über sociale Differenzierung, S. 240; vgl. auch S. 244. 44 Georg Simmel: Das individuelle Gesetz [1913], in: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann, Frankfurt/Main 1968, S. 174-230. 45 Vgl. Junge: Individualisierung, S. 78f. 46 Simmel: Soziologie, S. 804.

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Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann, bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig ist. Die Zugehörigkeit zu einer Familie stellt in höheren Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mischung der charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten sozialen Gruppe dar.47

Das Individuum, das in verschiedene Kreise zugleich und somit immer nur partiell eingebunden ist, verliert, nach Simmel, nicht an persönlicher Selbstbestimmtheit. Ganz im Gegenteil: Im Zuge der Ausbreitung des Geldverkehrs wandeln sich die Abhängigkeitsstrukturen, nämlich in der Form, dass weniger persönlich gefärbte und mehr funktional orientierte Interdependenzen entstehen. Das Geld – für Simmel avanciert es zum bedeutendsten Medium der Moderne – versachlicht und anonymisiert ökonomische Transaktionen und soziale Interaktionen überhaupt.48 Es führt damit, in einem negativen Verständnis, zu größerer Verunsicherung und Isolation, bringt allerdings auch, im positiven Sinne, neue Handlungsspielräume und Entwicklungschancen der eigenen Individualität hervor. Simmel betont mithin die Janusköpfigkeit dessen, was als Befreiung im Sinne wachsender Individualisierung ausgegeben wird: „Was wir nämlich als Freiheit empfinden, ist tatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen“49. Dieser Diagnose lässt sich mit Blick auf die zeitgenössischen Debatten ihre Aktualität nicht absprechen. Alle drei vorgestellten klassischen Positionen innerhalb der Individualisierungsdebatte exponieren den Zusammenhang einer zunehmenden Autonomisierung des Individuums mit dem Prozess einer umfassenden Modernisierung, die Einzelprozesse wie Industrialisierung, Bürokratisierung und Urbanisierung einschließt.50 Dabei fokussiert Durkheim

47 Simmel: Soziologie, S. 803. 48 Bereits Karl Marx hat auf die Bedeutung des Geldes hingewiesen, alles mit allem tauschbar zu machen, also auf die durch das Geld bewirkte Verallgemeinerung des Tauschwerts. Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Studienausgabe in 5 Bänden, Bd. II: Politische Ökonomie, hg. v. Iring Fetscher, Berlin 2004, S. 38-135, insb. S. 130-135. 49 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 375. 50 Vgl. Junge: Individualisierung, S. 11.

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vor allem den Aspekt der Solidarität, Weber die strukturellen Effekte zunehmender Rationalisierung und Simmel die Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit, einen individuellen Lebensstil auszubilden.51 Die Autoren loten mithin das Verhältnis von sozialer Ordnung und Individuum aus, indem sie Chancen und Gefahren einer zunehmenden Individualisierung in verschiedenen gesellschaftlichen Problembereichen beleuchten und analysieren. Ihre Überlegungen finden in der Gegenwart des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ihre durch Modifikationen und Transformationen gekennzeichnete Fortsetzung. Eine zunehmende Komplexität von Rollenerwartungen und Rollenspezialisierungen, die die Ausbildung des Individuums nachhaltig prägt, beobachtete bereits Simmel in Lebensweisen um 1900. Die These von der Pluralisierung von Lebensstilen und Lebensformen – das meint nicht zuletzt von Familien- und Arbeitsformen – nährt auch zum Ende des 20. Jahrhunderts die Debatten um das ‚moderne Individuum‘ und seine soziale Integration. Die Vorstellung vom Projektcharakter und von der Heterogenität des individuellen Lebens, die Simmel in seinen Zeitdiagnosen herausarbeitet, findet sich hier ebenso wieder wie auch die von ihm geförderte Aufmerksamkeit gegenüber der Ambivalenz des Phänomens ‚Individualisierung‘ in zeitdiagnostischen Betrachtungen aufzuspüren ist. Die nachstehenden Ausführungen, die sich zeitdiagnostischen Studien des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts widmen, folgen insbesondere dieser Spur des Ambivalenten.

4.2 S IGNATUREN DER I NDIVIDUALISIERUNG UM DIE J AHRTAUSENDWENDE 4.2.1 Kreative Konstruktionen individueller Lebensstile „Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen“52, konstatiert Wolfgang Welsch in seiner Schrift Ästhetisches Denken aus dem Jahr 1990. Die postmodern gefärbte These von der Pluralisierung

51 Vgl. Junge: Individualisierung, S. 23. 52 Welsch: Ästhetisches Denken, S. 171.

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der Lebensformen ist umstritten und gilt vielen, beispielsweise mit Blick auf die Familie, als weder theoretisch noch empirisch hinreichend präzise bestimmbar.53 Obwohl oder gerade weil der Begriff der Pluralisierung polarisiert, bildet er einen anschlussfähigen Bezugspunkt für eine Vielzahl der Zeitdiagnosen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ein Markstein in der Karriere des Begriffs ‚Pluralisierung‘ ist in seiner engen Anbindung an das in der Gegenwart des ausgehenden 20. Jahrhunderts populäre Postulat der Individualisierung zu sehen, wie es allen voran in den Untersuchungen von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim erarbeitet und verbreitet wird. Für die Konzeption der Individualisierung ist die ebenso grundlegende wie ambivalente Annahme der sogenannten „Freisetzung“ des Individuums aus traditional geprägten Lebenskontexten kennzeichnend. So steht Individualisierung auf der einen Seite für die Idee einer Befreiung des Individuums aus familiären, ökonomischen, politischen oder anderen institutionellen Zwängen, also für die Idee einer Zunahme an Handlungsmöglichkeiten und an Autonomie für den Einzelnen. Auf der anderen Seite verweist der Terminus jedoch auch auf die Notwendigkeit selbständiger Entscheidungen und selbstverantwortlichen Handelns, wobei der Eindruck des Unhintergehbaren und Zwangvollen entstehen kann. Beck und Beck-Gernsheim kommentieren diese Ambivalenz der Individualisierung 1994 mit folgenden Worten: Der Mensch wird (im radikalsten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden. Im besten Fall erinnert diese Konstellation an den Baron von Münchhausen, dem gelungen sein soll, was heute zum allgemeinen Problem

53 Vgl. Thomas Mayer: Das ‚Ende der Familie‘. Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen 2002, S. 199-224, S. 208f.; außerdem Rosemarie Nave-Herz: Pluralisierung familialer Lebensformen – ein Konstrukt der Wissenschaft?, in: Laszlo A. Vaskovics (Hg.): Familienleitbilder und Familienrealitäten, Opladen 1997, S. 36-49.

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wird: sich an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpf der (Un)Möglichkeiten zu ziehen.54

Nicht nur darf jeder entscheiden, sondern jeder muss, ungeachtet seiner Voraussetzungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse, eine Entscheidung treffen. Damit wird jeder auch für die Folgen einer etwaigen Nichtentscheidung verantwortlich.55 Jede zukünftige Entwicklung und jedes zukünftige Ereignis kann demnach rückwirkend einer individuellen Entscheidung zugerechnet werden – „[d]arin steckt das Risiko moderner Individualisierung“56. Zur Disposition steht demnach, im positiven wie im negativen Sinne, Individualität als „selbstbestimmte Einzigartigkeit“57. Nicht mehr die Orientierung an überkommenen (Biographie-)Mustern, wie sie in erwerbsbezogenen Normalbiographien, geschlechtsspezifischen Formen der Arbeitsteilung und sozialen Sicherungssystemen manifest wurden, sondern der selbstverantwortliche Zugriff auf ein breites Spektrum von Optionen58 bildet den idealen Anspruch, der an den Lebensentwurf des Einzelnen gestellt wird. Beck konstatiert auf plastische Weise: „Das Rollenmodell des sozialen Lebens, nach dem das eigene Leben als Kopie nach der Vorgabe traditioneller Blaupausen gelebt werden konnte, läuft aus“59. Familienformen, sogenannte Nor-

54 Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1994], S. 10-39, S. 16f. 55 „Selbst dort, wo die Rede von ‚Entscheidungen‘ ein zu hochtrabendes Wort ist, weil weder Bewußtsein noch Alternativen vorhanden sind, wird der einzelne die Konsequenzen aus seinen nicht getroffenen Entscheidungen ‚ausbaden‘ müssen“ (Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986, S. 216f.). 56 Schroer: Individualisierte Gesellschaft, S. 174. 57 Uwe Schimank: Die individualisierte Gesellschaft – differenzierungs- und akteurstheoretisch betrachtet, in: Thomas Kron (Hg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 107-128, S. 107. 58 Vgl. Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994. 59 Ulrich Beck: Das Zeitalter des „eigenen Lebens“. Individualisierung als „paradoxe“ Sozialstruktur und andere offene Fragen, in: Aus Politik und

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mal-Arbeitsverhältnisse, Karriereverläufe, Geschlechterrollen – strukturell gegebene Grundmuster also, die die gesellschaftliche Integration des Einzelnen in der Moderne noch bewerkstelligten, verlieren, so die zeitdiagnostische Annahme, in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zusehends ihren normativen Geltungsanspruch. In der Spätmoderne – auch je nach Auffassung: in der Postmoderne, der Zweiten, modernisierten oder reflexiven Moderne – werden soziale Muster als ‚natürliche‘ Gegebenheiten problematisiert und auf ihre Konstruiertheit hin infrage gestellt. Damit werden zugleich die Begriffe von Individuum, Subjekt und Identität problematisiert.60 In seiner Studie Ambivalenzen postmoderner Identität erörtert der Sozialpsychologe Heiner Keupp zu Beginn der 1990er Jahre die Frage nach den Möglichkeiten und Gefährdungen sozialer Integrationsleistungen. Er fragt: „Hat der Verlust traditioneller Lebenskontexte zu einer Isolation des modernen Individuums geführt? Ist es zur Entstehung eines ‚Eremitenklimas‘ oder einer Gesellschaft von ‚Einsiedlerkrebsen‘ gekommen, wie es Alexander Mitscherlich in den sechziger Jahren prognostizierte?“61 Zur Beantwortung der Frage verweist Keupp auf die gewachsenen Potenziale der Vernetzung, mittels derer das Subjekt zum „Baumeister des Sozialen“ avanciere, allerdings in durchaus doppeldeutiger Weise. Es sei hierzu gleichermaßen ‚freige-

Zeitgeschichte 29 (2001), S. 3-6, S. 4. An dieser Stelle ist nicht Raum weiter darauf zu reflektieren, wie das „eigene“ Leben als „Kopie“ zu entwerfen und vorzustellen überhaupt möglich sei. Hingewiesen sei nur auf Luhmanns Rede von der „copierten Existenz“, die im „Vergleich mit anderen“ gründet, der seinerseits aus der Kontingenzerfahrung des Einzelnen resultiert. (Vgl. Niklas Luhmann: Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1994], S. 191-200.) 60 Vgl. Heiner Keupp, Joachim Hohl (Hg.): Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne, Bielefeld 2006. 61 Heiner Keupp: Ambivalenzen postmoderner Identität, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1994], S. 336352, S. 343. Keupp zitiert hier Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Thesen zur Stadt der Zukunft von 1967.

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stellt‘ und gezwungen.62 In der „Identitätsarbeit heute“63 tritt demzufolge ein Leitsatz zutage, der als das grundlegende Prinzip der sogenannten „reflexiven Moderne“64 – oder auch der „zweiten Moderne“ – gilt: Wirkmächtig ist nicht mehr das Prinzip des Entweder-Oder, sondern dasjenige des Sowohl-als-Auch. Im Unterschied zur Position der Postmoderne, so die These von Wolfgang Bonß und Christoph Lau, werden nicht scheinbar selbstverständliche, unverrückbare Grenzen und Unterscheidungen infrage gestellt oder aufgehoben, sondern bestehen alte Formen neben neuen weiter, „auch wenn ihre Prägekraft vielleicht, aber nicht zwangsläufig schwindet“65. Ins Konkrete gewendet meint dies etwa, dass die bürgerliche Kernfamilie neben neuen Modellen des Zusammenlebens fortbesteht, die klassische Form des fordistischen Unternehmens neben innovativen Versionen der unternehmerischen Netzwerkorganisation weiterexistiert oder auch das konventionelle Arbeitsverhältnis neben flexibilisierten Arbeitsformen weiterhin anzutreffen ist. Eine deutlich skeptischere Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Integration des Individuums formuliert der amerikanische Zeitdiagnostiker Richard Sennett. In seiner populär gewordenen Publikation Der flexible Mensch66 aus dem Jahr 1998 gibt Sennett zu be-

62 Vgl. Keupp: Ambivalenzen postmoderner Identität, S. 342-348. 63 Keupp: Ambivalenzen postmoderner Identität, S. 347. 64 Kritik an Becks Reflexionsbegriff übt Regina Becker-Schmidt: Selbstreflexion als wissenschaftliche Urteilskraft, Reflexivität als soziales Potential. Notizen zu Ansätzen kritischer Theorie, in: Angelika Poferl, Natan Sznaider (Hg.): Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt. Auf dem Weg in eine andere Soziologie, Baden-Baden 2004, S. 53-71. Zum Verhältnis von Individualisierung und Postmoderne vgl. Albert Scherr: Individualisierung – Moderne – Postmoderne. Eine Auseinandersetzung mit dem Individualisierungstheorem in der Perspektive eines kritischen Postmodernismus, in: Thomas Kron (Hg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 185-202. 65 Wolfgang Bonß, Christoph Lau: Reflexive Modernisierung – Theorie und Forschungsprogramm, in: Angelika Poferl, Natan Sznaider (Hg.): Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt. Auf dem Weg in eine andere Soziologie, Baden-Baden 2004, S. 35-52, S. 36f. 66 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 7. Aufl., Berlin 2000 [1998]. Der Originaltitel der Studie, The Corrosion of

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denken, dass der kurzfristig agierende Kapitalismus der Gegenwart eine Kultur befördere, in der Menschen immer weit reichender auf sich alleine gestellt sind und zugleich immer weniger in ihrer Soziabilität gefordert werden.67 Bereits in früheren Studien, unter anderem in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1983, Original: The Fall of Public Man, 1977), entwickelt Sennett die These der mangelnden Konfrontationsbereitschaft und der Rückzugsbestrebungen von Individuen.68 Demnach gefährdet das auf sich selbst bezogene, nach Privatheit und Intimität verlangende Individuum die soziale Ordnung und den Bestand der Gesellschaft und nicht umgekehrt.69 Durkheims Warnung vor einem Überhandnehmen egoistischen Handelns kehrt in diesem Gedankengang wieder.70

Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, lässt stärker als die deutsche Übersetzung Fragen nach Wertewandel und Moral assoziieren. 67 Sennett prognostiziert am Ende seiner Studie: „Ein Regime, daß [sic!] Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich um einander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten“ (Sennett: Der flexible Mensch, S. 203). 68 Vgl. Markus Schroer: Richard Sennett, in: Dirk Kaesler (Hg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne, München 2005, S. 250-266, S. 250f. 69 Sennett schließt mit dieser These an David Riesmans kulturkritische Position in Die einsame Masse (1958) an und steht Christopher Laschs These vom Zeitalter des Narzißmus (1980) nahe. 70 Dabei profiliert sich auch für Sennett – wie schon für Durkheim und Simmel – die Stadt als der prototypische Ort, an dem sich zeittypische soziale Beziehungen untersuchen lassen. Gegen die Selbstbezogenheit des postmodernen Subjekts und gegen die Überschaubarkeit der Gemeinschaft, wie sie Vertreter des Kommunitarismus anstreben, formuliert Sennett das Ideal eines urbanen Lebens, für das eine distanzierte Begegnung zwischen Fremden, das Erfahren von Komplexität und Vielfalt sowie das Austragen von Konflikten konstitutiv ist. (Vgl. Schroer: Richard Sennett, S. 254f.) In Abgrenzung zu wirkmächtigen Traditionen der Kulturkritik spricht sich Sennett, wie Markus Schroer resümiert, „für die Unpersönlichkeit, die Anonymität und die Fremdheit als zentrale Prinzipien des öffentlichen sozialen Verkehrs“ (Schroer: Richard Sennett, S. 252) aus, da diese als die Voraussetzung für öffentliches und politisches Engagement sowie für ge-

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An Sennetts Analysen und Thesen zum „flexiblen Menschen“ anschließend, jedoch mit verschiedener Akzentsetzung bei den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen plädiert Oskar Negt für die Aufrechterhaltung und Stärkung sozialer Bindungen unter dem Vorzeichen von Nähe und Privatheit und im Rahmen der Familie. Negt unterstreicht die Bedeutung von „sozialisationsgeschützte[n] Räume[n]“ und „verläßliche[n] Zeitangaben“71 für die Ausbildung lebensalltäglicher Kontinuitäten, die ihrerseits die Entwicklung „identifikationsfähiger“ Menschen gewährleisteten.72 Seine Absage an den „allseitig verfügbare[n] Mensch[en], der von Job zu Job taumelt und im Wirklichkeitszusammenhang von Produktion keinerlei kontinuierliche Erfahrungsfestigkeit gewinnen kann“73, gründet in der Überzeugung, dass „[k]ein Mensch […] ohne ein gewisses Maß gesellschaftlicher Bindungen leben [kann]“74 und dass die Forderung nach mehr Flexibilität nur von „identitätsfähigen“ Menschen einzulösen ist: Der entsprechende Traditionsbestand von Subjektausstattung, von kollektiven Orientierungen ist noch nicht aufgebraucht und macht als Kraftquelle die Flexibilisierungsstrategie für die Individuen erträglich, manchmal sogar mit neuen Freiheitsillusionen verknüpfbar. Auch was man heute Patchwork-Identität nennt […][,] setzt voraus, dass im Prozess der Primärsozialisation und der Bildung Fundamente für das gelegt worden sind, was Freud einen liebes- und arbeitsfähigen Menschen nennt.75

Negt betont demzufolge, den Befürchtungen Max Webers nahestehend, die Gefährdung des Individuums durch die Ansprüche der Öffentlichkeit, insbesondere durch die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt.

sellschaftliches Leben überhaupt zu verstehen seien. (Vgl. Schroer: Richard Sennett, S. 253.) 71 Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, 2. Aufl., Göttingen 2002 [2001], S. 185. 72 Oskar Negt: Flexibilität und Bindungsvermögen. Grenzen der Funktionalisierung, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 13-25, S. 19. 73 Negt: Flexibilität und Bindungsvermögen, S. 19. 74 Negt: Arbeit und menschliche Würde, S. 193. 75 Negt: Flexibilität und Bindungsvermögen, S. 24.

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Die Frage nach der sozialen Verantwortlichkeit des Individuums gründet in seiner Selbstverantwortlichkeit, wie etwa die Rede vom ‚flexiblen Menschen‘ oder vom ‚Baumeister des Sozialen‘ anzeigen. Den Modus moderner Lebensführung bestimmt, in der Sicht zeitdiagnostischer Forschung, dabei nicht reproduzierendes Kopieren eines mindestens schablonenhaft Vorgegebenen, sondern kreatives und innovatives Gestalten. Dabei reicht das Verständnis dieses Tuns von der Vorstellung einer freizeitlichen Beschäftigung bis hin zu der einer „Lebensführung als Arbeit“76. Im Kontext des Beck’schen Individualisierungsansatzes etabliert sich gar die metaphorische Rede von der „Bastelexistenz“. Ronald Hitzler und Anne Honer77 erfassen mit dieser Formulierung „eine sozusagen reflexive Form des individualisierten Lebensvollzugs“78. Die im Fehlen allgemein verbindlicher Deutungsmuster und Handlungsschemata begründete Desintegration sozialer Zugehörigkeit sei durch selbst zu verantwortende Entscheidungen zu kompensieren, die wiederum immer von Neuem zur Disposition stünden. Fortdauernd mit dem Wechsel von Gruppenorientierungen und sozialen Rollen – der eigenen wie ebenso der anderer – konfrontiert, werde der individualisierte Mensch, so Hitzler und Honer in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss’ Konzept der „Bricolage“79, zum kreativen „Sinnbastler“80, der sein eigenes Leben unter Rückgriff auf bestehende Deutungs- und Sinnangebote arrangiere: „Er gestaltet, sub-

76 Vgl. Gerd-Günter Voß: Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft, Stuttgart 1991 (Soziologische Gegenwartsfragen, 51). 77 Ronald Hitzler, Anne Honer: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995, S. 307-315. Peter Groß sprach bereits 1985 von der „Bastelmentalität“, die sich angesichts von Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten auspräge. (Vgl. Peter Groß: Bastelmentalität: ein ‚postmoderner‘ Schwebezustand?, in: Thomas Schmid (Hg.): Das pfeifende Schwein. Über weitergehende Interessen der Linken, Berlin 1985, S. 63-84.) 78 Hitzler, Honer: Bastelexistenz, S. 311. 79 Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, 12. Aufl., Frankfurt/Main 2004 [1973], insb. S. 29-48. 80 Hitzler, Honer: Bastelexistenz, S. 310.

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jektiv hinlänglich, aus heterogen symbolischen Äußerungsformen seine Existenz. Er stückelt seine Tage aus ‚Zeit-Blöcken‘ oder ‚ZeitTeilen‘ zusammen. Er montiert sein Leben – nicht nur, aber vor allem – als Teilhaber an verschiedenen sozialen Teilzeit-Aktivitäten.“81 Es entstehen auf diese Weise biographische Modellierungen des Selbst, die vor allem pragmatisch motiviert sind. So unterscheiden Hitzler und Honer den „Sinnbastler“ vom „Sinn-Konstrukteur“: Der Sinnbastler handelt in aller Regel (bei weitem) nicht so systematisch, so reflektiert, so konzeptionell wie ein professioneller Sinn-Konstrukteur, d.h. wie ein Erzeuger, Bewahrer, Verteidiger großer symbolischer Sinnwelten. Aber er weiß typischerweise z.B. über die je aktuellen Lebenssinn- und Lebensstil-Angebote – insbesondere qua Medien – im großen und ganzen Bescheid; gut genug jedenfalls, um tun zu können, wozu er ohnehin gezwungen ist: zwischen den Angeboten zu wählen, sich sein individuelles (was, wie gesagt, keineswegs heißt: sein besonders originelles) Lebensstil-Paket zusammenzustellen bzw. sich zwischen den vor- und zuhandenen Alternativen (stets: bis auf weiteres) zugunsten einer Sinn-Heimat zu entscheiden.82

Aus der Perspektive des Sinnbastlers werden Lebensführung und Lebenslauf auf ihre Prozessualität hin transparent und gewinnen reflexiven Charakter. Selbstreflexivität als zentrales Moment moderner Identitätskonstruktion schließt, wie etwa Anthony Giddens in seiner sozialwissenschaftlichen Studie Modernity and Self-identity (1991) festhält, auf nachhaltige Weise den Körper mit ein.83 Gegenstand individuellen Gestaltens kann der eigene Körper insofern werden, als dass ihn, mit den Worten des Sportsoziologen Karl-Heinrich Bette, seine „physisch greifbare und beobachtbare Präsenz“ zu Ort und Medium werden lässt, der eigenen Individualität „symbolisch-expressiv Ausdruck zu verleihen“.84 Die nicht zuletzt distinktiv wirksame Verfügbarkeit des eige-

81 Hitzler, Honer: Bastelexistenz, S. 311; Hervorhebung im Original. 82 Hitzler, Honer: Bastelexistenz, S. 311. 83 Anthony Giddens: Modernity and Self-identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991. 84 Karl-Heinrich Bette: Körper, Sport und Individualisierung, in: Gero von Randow (Hg.): Wie viel Körper braucht der Mensch? Standpunkte zur Debatte, Hamburg 2001, S. 88-100, S. 94; vgl. auch Roland Hitzler: Der

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nen Körpers, die zunehmend reflexiv wahrgenommen wird, erscheint als konstitutives Moment der Identitätsbildung. Dem Kult um den Körper, der in der Gegenwart vielfach beobachtet wird85, korrespondiert die Angst vor dessen Verschwinden in den digitalen Welten. Die Paradoxie von Körperaufwertung und Körperverdrängung, die als „konstitutiver Bestandteil der Moderne“86 aufgefasst werden kann, gewinnt in kulturwissenschaftlichen Diskussionen des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Diese lässt sich mit der Soziologin Gabriele Klein wie folgt benennen: Die Rede vom Verschwinden des Körpers in der Nachmoderne beschreibt eher die Dekonstruktion eines Diskurses, nämlich den jenes humanen Körpers, wie er für die Moderne konstitutiv war. Der humane Körper ist in neue Bedeutungskontexte gestellt. Die nachmodernen Denkfiguren beschreiben ihn als Sensation und als Show, als eine Projektionsfläche für die Visionen von Kultur und Geschlecht oder der Bio- und Gentechnologien.87

Als kulturelle Konstruktion markiert und hinterfragt verliert der Körper das Attribut des Schicksalhaften und wird selbst zur Option88 – die wiederum der Entscheidungskompetenz des Einzelnen zufällt. Mit Gabriele Klein ist deshalb weiter davon auszugehen, dass es in der jüngsten Geschichte des Körpers „nicht um ein Weniger oder Mehr an Körper geht […], sondern um die moralisch-ethischen, politischen, ästhetischen, medizinisch-technologischen und sozialen Legitimationskontexte, die den Rahmen für die Entscheidung bilden, was ein

Körper als Gegenstand der Gestaltung. Über physische Konsequenzen der Bastelexistenz, in: Kornelia Hahn, Michael Meuser (Hg.): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, Konstanz 2002, S. 71-85. 85 Vgl. etwa Silvia Bovenschen: Soviel Körper war nie. Der Traum ist aus, denn wir sind alle Cyborgs. Die Marginalisierung des Leibes und seine Wiederkehr als Konstrukt der Medien, in: Die Zeit, 14. November 1997, S. 63-64. 86 Gabriele Klein: Der Körper als Erfindung, in: Gero von Randow (Hg.): Wie viel Körper braucht der Mensch? Standpunkte zur Debatte, Hamburg 2001, S. 54-62, S. 54. 87 Klein: Der Körper als Erfindung, S. 58. 88 Vgl. Klein: Der Körper als Erfindung, S. 57.

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humaner Körper ist“89. Diese Diskussion um den Körper schließt Fragen nach der Ästhetisierung des eigenen Körpers, nach Aspekten der Selbstinszenierung und der Präsentation eines sozialen Habitus ein, auf die insbesondere im Zuge der in den Theatertexten geleisteten Auseinandersetzung mit den Thesen zum ‚flexiblen Menschen‘ und dem ‚unternehmerischen Selbst‘ zurückzukommen sein wird. Die zuvor benannten Vorstellungen von der „Bastelexistenz“ des Menschen und vom Patchworkcharakter90 individualisierter Lebensformen zeichnen sich vor dem Hintergrund des soziostrukturellen Wandels von Familie und Arbeit ab. Die Transformationen, denen das traditionsreiche Lebensmodell Familie unterliegt, stellen sich im Kontext der Individualisierungstheorie, mit Elisabeth Beck-Gernsheim, weder als massive Umbrüche noch als Auflösungsprozess hin zu einem letztgültigen „Ende der Familie“ dar.91 Vielmehr ist von einer neuen historischen Gestalt der Familie zu sprechen, die sich insbesondere durch eine veränderte Flexibilität und Pluralität von Einzelbiographien geprägt zeigt.92 Für die neu entstehenden Formen der Familie, die sie unter dem Oberbegriff der „postfamilialen Familie“ verhandelt, hält

89 Klein: Der Körper als Erfindung, S. 62. 90 Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999. 91 Elisabeth Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie – Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995, S. 115-138. Die Diskussion um das ‚Ende der Familie‘ ist ein vor allem für die Familienforschung der Vereinigten Staaten typisches Deutungsmodell, wohingegen in Deutschland die Familie vorrangig als Fallbeispiel allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen dient – so die Beobachtung von Paul B. Hill, Johannes Kopp: Familiensoziologie. Grundlagen und theoretische Perspektiven, 2. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2002 [1995], S. 305; vgl. weiter auch Rosemarie Nave-Herz: Die These über den Zerfall der Familie, in: Jürgen Friedrichs, Rainer M. Lepsius, Karl Ulrich Mayer (Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Opladen 1998, S. 286-315. 92 Aus Sicht der Beck’schen Individualisierungsthese kommt Individualisierung nicht als Vereinzelung oder Verlust des Sozialen in den Blick, vielmehr geht es um die Transformation sozialer Beziehungen. Vgl. hierzu Schroer: Individualisierte Gesellschaft, S. 176.

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Beck-Gernsheim in Abgrenzung zu früheren Familienmodellen sentenzhaft fest: „Aus der Notgemeinschaft wird Wahlgemeinschaft.“93 Verstand sich die vorindustrielle Familie vor allem als Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, so löst sich diese wechselseitige, insbesondere ökonomisch begründete Abhängigkeitsstruktur im Zuge der Industrialisierung und der mit ihr einhergehenden Arbeitsteilung zunehmend auf. Mit dem Bedeutungszuwachs der (Arbeits-)Leistung des Einzelnen sowie der Entwicklung des Sozialstaates, die sich erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, dann vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollziehen, verändern sich die Entstehungsbedingungen und Funktionen der Familie. Wo konventionell solide Kontexte, namentlich vor allem der Arbeitsmarkt, ihre ebenso restringierenden wie stützenden Verbindlichkeiten verlieren, stehen eine Reihe von Elementen des (familialen) Lebensalltags neu zur Disposition, etwa die lokale und zeitliche Organisation des Familienalltags, die Entscheidung für oder gegen Kinder, die Berufstätigkeit der Frau oder auch bereits die Partnerwahl.94 Das Modell der (bürgerlichen) Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind(-ern), verliert die Deutungshoheit über das, was für familiale Beziehungen als ‚normal‘ angenommen wird. Neben der ‚Normalfamilie‘, die in den 1950er und frühen 1960er Jahren ihren Höhepunkt erlebte,95 gewinnen andere und neuartige private Lebensformen an Gewicht und Akzeptanz, die insbesondere mit bestimmten Lebensphasen zu korrespondieren scheinen. Die Realität heterogenisierter Lebensformen umfasst das SingleDasein – der Soziologe Stefan Hradil formuliert zugespitzt die These von der „Single-Gesellschaft“96 –, die Ehe, die nichteheliche Lebens-

93 94

Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie, S. 116. Bereits 1975 spricht Edward Shorter von der Durchsetzung der „postmodernen Familie“, die er – psychologisch konnotiert – mit der Instabilität der Paarbeziehung sowie der Abgabe der elterlichen Erziehungsrolle in die Hände öffentlicher Institutionen erklärt. (Vgl. Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie, deutsch von Gustav Kilpper, Reinbek bei Hamburg 1977 [engl. Original von 1975].)

95

Vgl. Schmidt, Moritz: Familiensoziologie, S. 44.

96

Stefan Hradil: Die „Single-Gesellschaft“, München 1995 (Perspektiven und Orientierungen, 17). Demgegenüber spricht Rosemarie Nave-Herz von der „Paargesellschaft“. Vgl. Rosemarie Nave-Herz: Pluralisierung familialer Lebensformen – ein Konstrukt der Wissenschaft?, in: Laszlo

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gemeinschaft sowie Familien in unterschiedlichsten Rollenzusammensetzungen. In der Patchworkfamilie, deren Entstehen mitunter auf die Lebenssituation von geschiedenen Lebenspartnern und von Kindern aus geschiedenen Ehen zurückzuführen ist, entscheiden nicht mehr allein (biologische) Abstammung und Heirat über die Zusammengehörigkeit als Familie. Vielmehr greifen hier neuwertige Solidaritäts- und Loyalitätsregeln: Was in anderen Familienkonstellationen der Moderne ansatzweise sich zeigt, tritt hier ganz deutlich hervor: Das Aufrechterhalten der Beziehung ist kein selbstverständlicher Akt mehr, sondern eine freiwillige Handlung […]. Wo man früher auf eingespielte Regeln und Rituale zurückgreifen konnte, beginnt heute eine Inszenierung des Alltags, eine Akrobatik des Abstimmens und Ausbalancierens.97

Es verändert sich die Qualität der Bindungen, insofern sie eine größere Anzahl und Reichweite, zugleich jedoch auch einen kurzlebigeren und weniger verpflichtenden Charakter erlangen. Aus einer solchen Perspektive gewinnt das lebensstilprägende Moment der Flexibilität an Bedeutung. Die Notwendigkeit und der Anspruch auf flexible Bindungen finden sich darüber hinaus auch in der Konstellation der Zweierbeziehung, wenn die Ehe ihre Monopolstellung als das einzige soziale System, das sich, nach Luhmann, auf „emotionale Bedürfnislagen“ spezialisiert hat,98 einbüßt und in funktionaler Hinsicht der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zunehmend gleichgestellt wird.99 Sich für die Ehe als Lebensform zu entscheiden, hängt dabei, wie die Familienforscherin Rosemarie Nave-Herz unterstreicht, insbesondere von emotionalen Bedürfnissen und vom Kinderwunsch ab. Die Entscheidung für die Ehe bedeutet mithin die Fortführung der Vorstellung von der Familie als Gefühls- und Generationengemeinschaft.100

A. Vaskovics (Hg.): Familienleitbilder und Familienrealitäten, Opladen 1997, S. 36-49, S. 40. 97

Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie, S. 133f.

98

Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität,

99

Vgl. Nave-Herz: Die These über den Zerfall der Familie, S. 304.

5. Aufl., Frankfurt/Main 1999 [1994]. 100 Vgl. Nave-Herz: Die These über den Zerfall der Familie, S. 304.

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Mit der Diskussion um die Pluralisierung der Lebensformen ist, so nimmt es den Anschein, stets die Auseinandersetzung mit dem ‚klassischen‘ Familienmodell verbunden. Dabei ist jedoch mit Nave-Herz festzuhalten: „Den Diskurs über die Familie kann man mit einem Diskurs über die Krise oder den Zerfall der Familie gleichsetzen.“101 Als zentrale Momente des Krisendiskurses um die Jahrtausendwende können die Erosion des Modells vom männlichen Familienernährer zugunsten der Etablierung des Zwei-Verdiener-Haushaltes sowie der Umstand der Kinderlosigkeit gelten. Familiale Krisenszenarien werden zudem mit Bezug auf die zeiträumliche Entgrenzung des Familienalltags entworfen. Unter dem Vorzeichen der Individualisierung unterliegen tägliche Abläufe, markiert etwa durch Arbeits-, Kindergartenoder Essenszeiten, einer zunehmenden Deregulierung und der wachsenden Notwendigkeit, durch Aushandlungen strukturiert und koordiniert zu werden. 4.2.2 Der flexible Mensch in Zeit und Raum Bewegungen der Ent- und Begrenzung vollziehen sich aus Sicht der Gegenwartsdiagnosen nicht allein im Hinblick auf Lebensformen oder Geschlechterrollen in den Feldern der Arbeit und der Familie, sondern sie beschreiben auch die Wahrnehmungen und das Erleben von Zeit und Raum. Insbesondere unter dem Begriff der Globalisierung, der nicht nur für „einen Rang unter den großen Entwicklungsbegriffen“102 tauglich scheint, sondern auch als Epochenbezeichnung diskutiert wird103, werden in der Gegenwart Beobachtungen und Erfahrungen subsumiert, die die Relationen von Nähe und Ferne, von Lokalem und Globalem, von Partikularem und Universalem betreffen. Wendungen und Phrasen wie die ‚Welt als Dorf‘ oder ‚Global City‘ bringen in nu-

101 Nave-Herz: Die These über den Zerfall der Familie, S. 286. 102 Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, 3. Aufl., München 2006 [2003], S. 9. 103 Martin Albrow spricht vom Beginn eines „globalen Zeitalters“. Die beiden Historiker Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sprechen von mehreren „Globalisierungsschüben“ und konstatieren: „Der Globalisierungsschub der 1980er und 1990er Jahre traf auf eine Welt, für die Globalität bereits seit langem nichts Besonderes mehr war“ (Osterhammel, Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 109).

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ce die Vorstellung der Entgrenzung zum Ausdruck. Im Globalisierungsdiskurs der Jahrtausendwende verbindet sich diese mit dem Ideal der Gleichzeitigkeit und der Idee eines beschleunigten Lebens. „[D]er Typus großstädtischer Individualität“, so schreibt Georg Simmel 1903 in seinem einflussreichen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, beruht auf der „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“104. Dabei lassen sich die Bewegtheit und Dynamisierung des Lebens – als Signum der Moderne – nach Simmel auf die Ausbreitung der modernen Geldwirtschaft zurückführen, und umgekehrt. Die Vermehrung und Beschleunigung wirtschaftlicher Transaktionen werden durch das Geld erst möglich. Zugleich kommt es durch den Geldumlauf zur Mobilisierung aller sozialen Interaktionen: Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumulieren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen […] und so – wie es auch in der von ihm dargestellten Wertform liegt – das Mannigfaltigste in den kleinsten Umfang zu konzentrieren – diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens, das heißt also sein Tempo zu steigern.105

In seiner Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsform richtet Simmel den Blick auf den Aspekt der Beschleunigung und stellt dessen Bedeutung für Lebensstil und Lebensweise des Individuums heraus. Die moderne Lebensform zeichnet sich ihm zufolge durch ein gesteigertes Lebenstempo aus, wovon nach seiner Ansicht „Reisemanie“, eine „wilde Jagd nach Konkurrenz“ und „die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen“106 ein eindrückliches Zeugnis abgeben.

104 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903], in: Georg Simmel: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 7.1: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1995, S. 116-131, S. 116f.; Hervorhebung im Original. 105 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 706f. 106 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 675.

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Gibt es für Simmel „kein deutlicheres Symbol als das Geld“, um den „absoluten Bewegungscharakter der Welt“ darzustellen107, so ist es am Übergang zum 21. Jahrhundert das Internet, das den Rhythmus des Lebenstempos, die Mobilität der Menschen und die Verflechtungen ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Beziehungen und Interaktionen symbolisiert. Das Internet, das seit Mitte der 1990er Jahre privat und zentrumslos organisiert wird, steht metaphorisch für eine weltweite Vernetzung durch Datenverarbeitung und elektronische Medien. „Die sinnbildliche Verdichtung des ‚Globalisierungszeitalters‘“, so schreibt Hartmut Rosa, „ist das ortlose, ‚u-topische‘ Internet, in dem alle Ereignisse weltweit gleichzeitig stattfinden“108. Das Internet leistet einer „gleichsam intergesellschaftlichen, interkontinentalen Synchronisierung“ Vorschub und besitzt ein Transaktionstempo, angesichts dessen die Geschwindigkeit und Koordination der Aktionen von Individuen – und auch Nationalstaaten – neu bemessen werden.109 Als Ursache globaler Beziehungsgeflechte kann das Internet allerdings, im Anschluss an Manuel Castells110, ebenso wenig gelten, wie es alles und jeden miteinander vernetzt.111 Gleichwohl lässt sich festhalten, dass Menschen, Waren und Informationen immer leichter, häufiger und schneller immer größere Distanzen zurücklegen können. Nicht also das ‚Das‘, sondern das ‚Wie‘ von deren Austausch und Bewegungen, „die Geschwindigkeit und Widerstandslosigkeit, mit der sich solche Prozesse heute vollziehen können“112, scheint, wie Hartmut Rosa betont, das charakteristisch ‚Neue‘ an den Prozessen zu sein, die als Globalisierung bezeichnet werden. Mit den durch die Technik des

107 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 714. 108 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005, S. 48. 109 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 48. 110 Manuel Castells: Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2005. Das englische Original erschien bereits 2001 unter dem Titel The Internet Galaxy. Reflections on Internet, Business and Society. 111 Vgl. zum Beispiel die Studie von Nicole Zillien: Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2006. 112 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005, S. 339.

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Internets erreichten Aktionsmöglichkeiten zeichnen sich nachhaltig Veränderungen sowohl im Umgang als auch in der Erfahrung von Raum und Zeit ab. „Im Internet“, so führt Hartmut Rosa aus, wird zwar noch die Zeit, aber nicht mehr der Ort des Einspeisens und Abfragens von Daten registriert – Letzterer ist für viele Vorgänge bedeutungslos geworden, während Zeitangaben für die Koordination und Synchronisation globaler Handlungsketten weiter an Relevanz gewinnen. Immer mehr soziale Ereignisse werden auf diese Weise im Zeitalter der Globalisierung gleichsam ‚ortlos‘.113

Aus der „Beschleunigung der Fortbewegung“ wie auch aus der „Beschleunigung der Informationsübermittlung“ lässt sich nach Rosa die „Umkehrung des Vorrangs des Raumes in einen Vorrang der Zeit“ ableiten.114 Zum Bedeutungsverlust des Raumes formuliert Anthony Giddens die These einer „Time-Space-Distanciation“, einer raumzeitlichen Abstandsvergrößerung. Diese meint, dass es mittels Technologie und geringer werdender – finanzieller oder zeitlicher – Widerstände möglich wird, soziale Interaktionen und Vorgänge über immer größere Distanzen hinweg zu organisieren und zu koordinieren. Die zunehmende Irrelevanz räumlicher Distanzen führt nach Giddens zu einem Prozess der „Entbettung“, zum „‚Herausheben‘ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen“ sowie zur „unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende[n] Umstrukturierung“ der Sozialbeziehungen.115 Mit anderen Worten, Entbettungsvorgänge lösen Ereignisse und Erfahrungen aus ihren unmittelbaren lokalen Kontexten und können daher die Auflösung von Alltagsstrukturen wie auch eine Fragmentierung von Alltagserfahrung bedingen.116 In engem Zusammenhang mit dieser Form der „Entstrukturierung“ ist schließ-

113 Rosa: Beschleunigung, S. 166. 114 Rosa: Beschleunigung, S. 126. 115 Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, übers. v. Joachim Schulte, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1997 [1995], S. 28. Das englische Original erschien 1990 unter dem Titel The Consequences of Modernity. Giddens spricht sich dezidiert gegen die Verwendung der Begriffe ‚Differenzierung‘ und ‚funktionale Spezialisierung‘ aus. Vgl. Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 34. 116 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 341.

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lich die „permanente[...] Verfügbarkeit von Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten“ zu sehen.117 Anthony Giddens verbindet, jenseits von materiell-räumlichen Zuständen, den Begriff der ‚Globalisierung‘ mit dem Gedanken einer durch die Ausdehnungstendenzen der westlich-modernen Institutionen vorangetriebenen Vernetzung118: Globalisierung sei zu verstehen als „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“119. Die Idee des Netzwerkes ist, vor allem aus der Perspektive der Globalisierungsdebatten, zentral für die Organisation und Gestaltung wirtschaftlicher, kultureller und lebensalltäglicher Beziehungen. Das Netzwerk gilt Manuel Castells als die Organisationsform des neu anbrechenden „Informationszeitalters“, insofern es für ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bürgt.120 Ebendiese Eigenschaften fordern die neuen Formen der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation ein, wie sie der sogenannte „flexible Kapitalismus“ hervorbringt. Namentlich Richard Sennett mit seiner Studie Der flexible Mensch etabliert den Begriff der Flexibilisierung in den aktuellen Gegenwartsdiagnosen. Flexibilität erscheint in Sennetts Lebensstilanalyse als die den Spielregeln des „neuen Kapitalismus“ (Sennett) entsprechende und zentrale Strategie, die sich derjenige zu eigen machen muss, der sozial wie ökonomisch erfolgreich sein will: „Die Betonung liegt auf der Flexibilität. Starre Formen der Bürokratie stehen unter Beschuß, ebenso die Übel blinder Routine. Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden.“121 In einer auf globale Märkte ausgerichteten gesellschaftlichen und kulturellen Lebensordnung ist demnach die Bereitschaft gefordert, sich kurzfristigen Organisationsstrukturen anzupassen und sich immer wieder auf neue Aufgaben einzulassen. Sennett erarbeitet in seiner Zeitdiagnose anhand soziologischer Fallstudien,

117 Rosa: Beschleunigung, S. 234. 118 Vgl. Dürrschmidt: Globalisierung, S. 14. 119 Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 85. 120 Castells: Die Internet-Galaxie, S. 9. 121 Sennett: Der flexible Mensch, S. 10.

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welche Fragen und Konsequenzen flexible Arbeitsverhältnisse für den Einzelnen aufwerfen und nach sich ziehen. Er problematisiert diese mit dem Begriff des „Drift“, des ‚Dahintreibens‘: Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln? Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befördern vielmehr eine Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet.122

Die Lebensweise des flexiblen Menschen, die unter den Vorzeichen der Kurzfristigkeit und des Unterwegsseins steht, ist mit der Erfahrung der Unbeständigkeit und Diskontinuität verbunden, die nach Sennett ebenso das Herausbilden einer Identität wie auch die soziale Beziehungsfähigkeit des Individuums gefährdet. Der Sennett’sche Begriff des ‚Drift‘ lässt sich als Kehrseite, als Gegenbegriff zum neoliberal gefärbten Begriff des ‚Flow‘ auffassen: „Das Erleben des kreativen flow, auf den das postmoderne Arbeitssubjekt abzielt, richtet sich nicht allein auf das individuelle Werk, sondern auch auf den kollektiven Zusammenhang des Projektteams, auf die ‚Arbeitsatmosphäre‘ […].“123 Das Erlebnis des Flow lässt sich als Grundmodus einer postbürokratischen Arbeitspraxis beschreiben, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Leben zunehmend verwischen. 4.2.3 Die unternehmerische Erschaffung des Selbst Eine der für den hier gegebenen Untersuchungskontext bedeutendsten Thesen der zeitdiagnostischen Forschung besteht in der Annahme, dass die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Handlungsraum, deren weit reichende Etablierung als eine der Errungenschaften der bürgerlichen Moderne gilt, zunehmend verschwimmen. Die Diffusion von öffentlicher Anonymität und privater Intimität gilt als eines

122 Sennett: Der flexible Mensch, S. 31. 123 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 515.

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der Kennzeichen derjenigen Arbeits- und Lebenswelt, in deren Mittelpunkt der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) oder auch der sogenannte „proteische Mensch“ (Robert J. Lifton)124 steht. Dieser verfügt, gleich seinem mythologischen Vorbild Proteus, über das Vermögen, je nach Bedarf und Situation in verschiedenste Rollen zu schlüpfen und verschiedenste Haltungen einzunehmen. Die Wandlungsfähigkeit als Potenzial für das Spiel mit der eigenen Identität ist als zentrales Merkmal des (post-)modernen Arbeitssubjekts zu identifizieren. Die in Bezug auf den Umgang mit Zeit, Raum und dem eigenen Körper formulierten Forderungen nach Flexibilität und Anpassungsfähigkeit korrelieren bedeutenderweise mit einem Begriff von Arbeit, der nicht mehr in erster Linie auf Warenproduktion und Eigentum zielt, sondern Arbeit zum gestaltenden Medium von Alltag in einem weit umfassenderen Sinne erhebt: Arbeit wird Lifestyle.125 Die in der Moderne verbreitete klassenübergreifende Verpflichtung zur Arbeit und die Identitätsbildung durch Arbeit gewinnen damit zum Ausgang des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Mit weit reichender Wirkung manifestiert sich der Bedeutungswandel von Arbeit im zeithistorischen Phänomen der New Economy, welches zum ausgehenden 20. Jahrhundert, ebenso kurzfristig wie nachhaltig, „in den Medien und der Öffentlichkeit nicht nur als Symbol einer neuen Ökonomie, sondern vielmehr für ein gesellschaftliches Projekt der Erneuerung und des Aufbruchs gehandelt“126 wird. Das der New Economy verliehene Etikett des Zukünftigen geht auf die Grundlegung der neuen Ökonomie in jungen Unternehmen der Zukunftsbranchen wie Kommunikations-, Informations- und Biotechnologie zurück. In Opposition zu konventionellen Formen der industriellen Marktwirtschaft, der sogenannten Old Economy, und auf Basis der innovativen Digitalisierung von Arbeitsprozessen forcierte die New Economy die Aufhebung der konventionellen Trennung von Arbeit und Freizeit. Dem Aufkommen neuer Arbeitsformen war das Bestre-

124 Robert J. Lifton: The Protean Self. Human Resilience in an Age of Fragmentation, New York 1993. 125 Vgl. Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003. 126 Alexander Meschnig: Unternehme Dich selbst! Anmerkungen zum proteischen Charakter, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 26-43, S. 28.

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ben inhärent, die Ansprüche und Erwartungen der Erlebnis- und Spaßgesellschaft mit dem bislang wirksamen bürgerlichen Leistungsethos zu vereinbaren.127 Das geforderte individuelle Engagement für die Arbeit sollte mit den Möglichkeiten unbeschränkter Selbstverwirklichung und lustvoller Selbstinszenierung gekoppelt werden. Diese wurden damit ihrerseits – in ökonomischer Diktion: als Selbstorganisation – in den Anforderungskatalog der neuen Arbeitsformationen aufgenommen. In der Zeit der boomenden New Economy wurde Arbeit zum Event stilisiert und „gewissermaßen theatralisiert“128, indem sich – im Spiegel der medialen Öffentlichkeit wie auch der wissenschaftlichen Reflexion – „der Arbeitstag zur szenischen Aufführung mit unterschiedlich besetzten Spielern“129 wandelte. Das in dieser Darstellung alludierte Theatralitätsmodell, wie auch in dessen Folge das Konzept der (Selbst-)Inszenierung und (Selbst-)Performance, besitzt in der theoretischen Beschreibung sozialer Zusammenhänge spätestens seit Erving Goffmans Studie The Presentation of Self in Everyday Life (1959)130 Tradition. Goffman stellt die begründete Überlegung an, dass direkte Interaktion zwischen Personen stets insofern etwas Theatrales anhafte, als dass Akteure nicht auf ein vorgefertigtes ‚Skript‘ zurückgreifen könnten und jedem immer wieder aufs Neue selbst obliege, erkennen zu geben und zu erkennen, was ‚eigentlich‘ vorgehe. In dieser Situation sind Art und Weise etwa des Sprechens, der Körpersprache, des äußeren Erscheinens und des Kleidungsstils von weit reichender Bedeutung. Im Bourdieu’schen Wortlaut formuliert heißt dies: Zum Tragen kommt der Habitus der Person als deren sowohl subjektiv geprägtes als auch objektiv determiniertes Auftreten und Verhalten. Goffmans Postulat „Wir alle spielen Theater“ wird unter dem Vorzeichen der New Economy zur selbstreflexiven Maxime der erwerbstätigen Alltagspraxis ausgeweitet. In den Vordergrund des Arbeitslebens rückt die, wie Alexander Meschnig formuliert, „Notwendigkeit einer Vermarktung und Theatralisierung der eigenen Individualität in be-

127 Vgl. Meschnig: Unternehme Dich selbst!, S. 28f. 128 Meschnig: Unternehme Dich selbst!, S. 29. 129 Meschnig: Unternehme Dich selbst!, S. 29. 130 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Amerikanischen v. Peter Weber-Schäfer, mit einem Vorwort v. Lord Ralf Dahrendorf, 5. Aufl., München, Zürich 2007 [2003].

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triebswirtschaftlicher Perspektive“131. Auf dem Markt der Möglichkeiten wird der Mensch als eine Arbeitskraft gehandelt, die ihren Marktwert selbst zu gestalten und zu verwalten hat. Relevant ist nicht, eine persönliche biographische Identität zu konstituieren. Vielmehr geht es darum, ein Selbstmarketing zu entwickeln, das die eigene Persönlichkeit und Individualität im Sinne des Self-Brandings als Marke formt und, unter Zuhilfenahme der Methoden und analog zu den Prozessen des Produkt- und Markenmanagements, auf ihre Marktfähigkeit hin konditioniert. Ziel ist es mithin, das eigene „Profil nach Maßgabe des Marktes an Arbeitskräften zu optimieren und seine Arbeitsbiografie in kalkulatorischen Akten der Wahl zu modellieren“132. Als entscheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Selbststilisierung gelten aus der Perspektive postbürokratischer Arbeitskultur Kreativität und Innovativität. Zum Vorbild des unternehmerischen Arbeitssubjekts wird der Künstler.133 Das ermöglichte und gleichzeitig geforderte Spiel mit der Identität präsentiert sich maßgeblich als Spiel um die Glaubwürdigkeit der Selbstinszenierung. Erfolgversprechend ist dabei die Kreation eines eigenen Images, das dauerhaft anpassungsfähig und flexibel zu handhaben ist. Es deutet sich darin eine paradoxe Situation des Arbeitssubjekts an: Einerseits hat es zum Zwecke der Orientierung den Markt aus einer gewissen Distanz zu beobachten, andererseits hat es seine Interessen an ökonomischem und symbolischem Kapital durch eine aktive Teilnahme am Marktgeschehen zu wahren. Der arbeitende Mensch, so ließe sich formulieren, tritt in der Rolle des teilnehmenden Beobachters oder, aus umgekehrter Perspektive, als selbstreflexiver Erwerbstätiger auf die Bühne des Wirtschaftsmarktes. Wie weit reichend die Bedeutung einer konstitutiven Interdependenz zwischen Selbstverantwortung und Arbeitsform ist, davon geben Wortschöpfungen wie das Nonsens-Kompositum134 ‚Ich-AG‘ und die

131 Meschnig: Unternehme Dich selbst!, S. 32. 132 Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 500. 133 Zum Zusammenhang von ‚Künstlerideal‘ und postbürokratischer Arbeitskultur vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen übers. v. Michael Tillmann, mit einem Nachwort v. Franz Schultheis, Konstanz 2006. 134 Vgl. Thomas Gesterkamp: Riskiere dich selbst! Die gar nicht so erstaunliche Erfolgsgeschichte des Nonsens-Wortes „Ich-AG“, in: Karin Gott-

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Bezeichnung ‚Ich-Aktionär‘ beredt Ausdruck. Sie werden auf den Alleindienstleister angewandt, dessen zentrale Herausforderung darin besteht, Risiko und Absicherung seiner sowohl erwerbstätigen als auch privaten Existenz in überlebensfähiger Balance zu halten: Der Begriff der Work-Life-Balance ist nicht nur ein populäres Schlagwort, sondern steht für ein Konzept der Unternehmenspraxis. Indem das im Privatleben akkumulierte soziale und ökonomische Kapital für die Erfolge der Erwerbstätigkeit bürgt, verwischt die Grenze zwischen privat und öffentlich, ohne dass damit zugleich der Status einer ‚Person der Öffentlichkeit‘, eines Politikers oder eines Künstlers erreicht wird. Die vielerorts festgestellten Veränderungen im Bereich der Erwerbstätigkeit, die sich als Zunahme flexibilisierter Arbeits- und Beschäftigungsformen und als Abbau institutioneller Regelungen der Arbeitsmärkte fassen lassen, zeitigen Konsequenzen für die „Ware Arbeitskraft“135. Dabei ist mit Gerd-Günter Voß und Hans J. Pongratz festzuhalten, dass „in den 90er Jahren […] wenige wirklich neue Konzepte hinzugekommen [sind], aber die Dynamik und Reichweite der auf erweiterte Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Arbeitenden abhebenden betrieblichen Reorganisationsmaßnahmen […] erheblich zugenommen“136 haben. Die „Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung“, die „systematisch erweiterte Selbst-Kontrolle der Arbeitenden“ und der „Zwang zur forcierten Ökonomisierung ihrer Arbeitsfähigkeiten“ zählen zu jenem Ensemble von Merkmalen, für welches Voß und Pongratz die Typenbezeichnung „Arbeitskraftunternehmer“ prägen.137 Der Arbeitskraftunternehmer ergänze, so die These

schall, Gerd-Günter Voß (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München, Mering 2003, S. 185-202. 135 Gerd-Günter Voß, Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998) H. 1, S. 131-158, S. 132. 136 Voß, Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer, S. 134. Konzepte der kooperativen Führung, der erweiterten Verantwortung der Beschäftigten, der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsformen sowie der Führung durch Zielvereinbarungen seien, so weisen Voß und Pongratz hin, bereits in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt worden. (Vgl. Voß, Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer, S. 134.) 137 Voß, Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer, S. 132.

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der beiden Soziologen, die bislang vorherrschende Form des „verberuflichte[n] Arbeitnehmer[s]“138. Neben diesem soziologischen Ansatz, der das semantische Feld des ‚Unternehmers‘ fachwissenschaftlich weiter ausdifferenziert, lässt sich zudem die Tendenz zur Metaphorisierung und Popularisierung des Wortfeldes ‚Unternehmer‘ beobachten.139 So formuliert Alexander Meschnig seine Zeitdiagnose zur modernen Lebensführung in folgenden Worten: „Heute sind wir zunehmend aufgefordert, ‚VentureKapitalisten‘ unseres eigenen Lebens zu sein. Gefragt ist der Lebensunternehmer und Entrepeneur, der die Tugenden des Unternehmertums zu seinem eigenen Credo machen muss.“140 Prägt dieser Darstellung zufolge unternehmerisches Denken Leben und Lebensführung im Allgemeinen, kann auch ein Blick auf den Lebensalltag die Assoziation des Unternehmerischen nahelegen, wie Elisabeth Beck-Gernsheims Ausführungen zum Familienalltag zeigen. In Anbetracht räumlich und zeitlich auseinanderstrebender Tagesabläufe verlange der familiale Alltag nach Abstimmung und Koordination. „Es sind in der Regel die Frauen, die diese Leistung erbringen, unter erheblichem physischen [sic!] und psychischen [sic!] Aufwand, oft unter Einsatz ganzer Netze von Mithelferinnen (Oma, Au-pair-Mädchen, Tagesmutter usw.). So wird in wachsendem Maß Planen, Organisieren, Delegieren gefordert, Familie wird zum Kleinunternehmen.“141 Solcherart Verknüpfungen von Familie und Unternehmen, oder Leben und Unternehmen – wobei jeweils die ökonomisch-institutionelle Bedeutung von ‚Unternehmen‘ aktualisiert wird – lassen sich als (sprachliche) Manifestationen einer Entgrenzung ökonomischer Prinzipien und Inhalte lesen. Es handelt

138 Voß, Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer, S. 132. 139 Zu Beginn der 1990er Jahre etabliert sich in der britischen Gesellschaft die politische Rede von der „unternehmerischen Kultur“. (Vgl. Peter Wagner: Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt/Main 1995 (Theorie und Gesellschaft, 33), S. 241-245.) Peter Wagner spricht auch vom „unternehmerischen Selbst“ (Wagner: Soziologie der Moderne, S. 243). 140 Alexander Meschnig, Mathias Stuhr: Vorwort, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 7-12, S. 8. 141 Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie, S. 125.

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sich um konkretisierende Ausdeutungen und damit eine historische Ausprägung der diskursiven Rede vom Homo oeconomicus. Weiter noch nutzt Ulrich Bröckling142 den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ zur Bezeichnung einer Subjektivierungsform. Im Anschluss an die Arbeitkraftunternehmer-These geht auch Bröckling davon aus, dass das Selbstverhältnis der Individuen wie auch das Verhältnis zwischen Individuen untereinander vom Leitgedanken des Unternehmertums geprägt sind. Allerdings interessiert sich Bröckling stärker dafür, wie die „Theorien und Programme unternehmerischer (Selbst-)Mobilisierung in die unterschiedlichsten Bereiche des Sozialen diffundieren“143. Begriffe wie Projektarbeit, Kreativitätsimperativ und Empowerment beschreiben nicht mehr nur Arbeitsformen, sondern auch Maximen individueller Lebensgestaltung in den Zeiten einer postbürokratischen Arbeitskultur. Dabei ist mit Bröckling festzuhalten, dass das „Regime des unternehmerischen Selbst […] mit dem Typus des smarten Selbstoptimierers zugleich sein Gegenüber: das unzulängliche Individuum“ produziert.144 Das Scheitern an den unternehmerischen Zielen permanenter Selbstoptimierung und kreativer Selbststilisierung ist ebenso wenig vorgesehen wie es in den als unabschließbar gedachten Anforderungen bereits genuin enthalten ist. Weiter noch: Für das unternehmerische Selbst ist die Überforderung konstitutiv.145 Die Projekte des ‚Sich-selbst-Vermarktens‘ und des ‚Sich-selbstUnternehmens‘146 stellen unter ökonomischem Vorzeichen das reflexive Moment der Moderne in Rechnung und sich selbst in eine Reihe mit Projekten der Selbstkontrolle, Selbstrationalisierung, Selbstorganisation, Selbstbildung und vielen weiteren individuell zu füllenden Funktionen.147 In besonderem Maße ‚sichtbar‘ werden die Anforde-

142 Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/Main 2007. 143 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 50. 144 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 289. 145 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 289. 146 Vgl. Meschnigs Aufsatztitel „Unternehme Dich selbst!“. 147 Vgl. Karin Gottschall, Gerd-Günter Voß: Entgrenzung von Arbeit und Leben: Zur Einleitung, in: Karin Gottschall, Gerd-Günter Voß (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München, Mering 2003, S. 11-33, S. 15.

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rungen des Selbstentwurfs im Umgang mit dem eigenen Körper, der die Ideale von Schönheit und Sympathie, Erfolg und Macht zu Markte trägt: „Der Körper der Macht ist schlank und durchtrainiert“148. Als Leitbild der körperlichen Selbstregierung fungiert das „Subjektmodell der ‚Fitness‘“, das auf einen Zustand geistiger und körperlicher Ausgeglichenheit und Gesundheit sowie auf die aus unternehmerischer Sicht notwendige Fähigkeit souveräner Selbststeuerung verweist.149 Das sich vervielfältigende und potenzierende Auf-sich-selbst-bezogen-Sein des Einzelnen führt zu Verunsicherungen und fördert die Nachfrage nach Orientierungs- und Entscheidungshilfen – um nicht zu sagen nach Sinn. Das entsprechende Angebot formiert sich im Dienstleistungssektor, der Spezialisten für Beratung jeder Art hervorbringt. So lässt sich im Jahr 2004 aus sozialwissenschaftlicher Perspektive diagnostizieren: Die moderne Gesellschaft ist von einem feinmaschigen Netz von Beratungen durchdrungen, von der Politik- über die Organisations- und Unternehmensberatung, die Finanzberatung und Rechtsberatung, die Arbeits- und Berufsberatung, die Familien-, Ehe- und Erziehungsberatung, die Verbraucher- und LifeStyle-Beratung, von Formen der Supervision und des Coachings bis schließlich zu Beratungen über die angemessene Beratung. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich, kaum eine organisatorische Entscheidung und kaum eine individuelle Wahlentscheidung, die sich nicht mit Beratungsangeboten konfrontiert sieht oder auf Beratungen zurückgreift.150

An die Stelle der durch Tradition, Routine, Autorität oder Sitte vorgegebenen Entscheidung tritt in der modernen Gesellschaft der Gegenwart ein Spektrum von Entscheidungsalternativen. Entscheidungen sind demzufolge zu begründen und selbstverantwortlich zu vertreten.

148 Klein: Der Körper als Erfindung, S. 61. 149 Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 571f. 150 Rainer Schützeichel: Skizzen zu einer Soziologie der Beratung, in: Rainer Schützeichel, Thomas Brüsemeister (Hg.): Die beratene Gesellschaft. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung, Wiesbaden 2004, S. 273-285, S. 273. Bereits 1995 stellt Peter Wagner fest, dass „[d]as Marktangebot an Expertisen zum Umgang mit jeder erdenklichen Situation, in die man geraten mag, […] im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte sichtlich gestiegen [ist]“ (Wagner: Soziologie der Moderne, S. 243).

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Beratungen konstituieren mithin den Einzelnen (oder eine Organisation) als Entscheidungsträger und bringen ein hohes Maß an Selbstreflexion hervor, indem sie Entscheidungsprozesse auf ihre Rationalität und ihre Kontingenz, ihre Differenzierungs- und ihre Integrationspotenziale hin transparent machen.151 In der Kommunikationssituation der Beratung ist die reflexive Selbstdarstellung des Ratsuchenden und seiner Problemlage von zentraler Bedeutung. Die Erzählung der eigenen Situation und Geschichte gilt als Voraussetzung dafür, dass das vom Berater offerierte Rezeptwissen in ein Orientierungswissen überführt werden kann, das schließlich zur Entscheidung befähigen soll. Die Beratungssituation stellt Selbstreflexivität mithin in zweifacher Weise in Rechnung: einmal im Hinblick auf das Moment des Entscheidens zwischen Möglichkeiten und einmal hinsichtlich der eigenen Identität als konstruierte. Beratung fungiert mithin als eine bedeutende Variante des Sich-selbst-Inszenierens. ‚Sei kreativ!‘, ‚Sei innovativ!‘, ‚Sei unverwechselbar!‘ – So lauten die Aufforderungen der postbürokratischen Arbeitskultur an das unternehmerische Subjekt, die vor allem auf eines ausgerichtet sind: auf Wettbewerb. Um in diesem bestehen zu können, bedarf es der Bereitschaft, die Grenzen zwischen Arbeit und Leben, die Grenzen zwischen Arbeit und Familie als flexible und damit stets neu zu verhandelnde anzuerkennen. In einen solchen Verhandlungsprozess schreiben sich auch die im Folgenden analysierten Theatertexte zu Arbeit und Familie ein.

151 Vgl. Schützeichel: Skizzen zu einer Soziologie der Beratung, S. 284.

5. Arbeit im Theatertext

Die im Folgenden analysierten Theatertexte der Jahrtausendwende stellen Arbeit und Familie mit der Wahl der Figuren, der Themen in der Figurenrede sowie, wo gegeben, des dramatischen Konflikts ins Zentrum der ästhetischen Auseinandersetzung. Gemäß der Themenstellung der vorliegenden Studie sind die Textanalysen in die beiden thematischen Abschnitte „Arbeit im Theatertext“ und „Familie im Theatertext“ gegliedert. Gegenstand der Lektüren, die der Methode des Close Reading folgen, wird zum einen die formal- und wirkungsästhetische Gestalt der Texte. Diskutiert werden Aspekte der Produktion und der Rezeption und damit auch die Frage nach der theater(-text-) ästhetischen Position der Autorin beziehungsweise des Autors. Es liegt mithin auch im Fragehorizont der Analysen, wie sich die Texte zu einer postdramatischen Theaterästhetik verhalten und welchen Umgang mit der dramatischen Form sie realisieren. Ohne dass eine Typologie zugrunde gelegt werden soll, wie sie etwa Gerda Poschmann in ihrer Arbeit zum „nicht mehr dramatischen Theatertext“ entwickelt1, beschreibt die Reihenfolge der Analysen innerhalb der beiden thematischen Gruppierungen ein Spektrum der Möglichkeiten vom dramatischen bis hin zum nicht mehr dramatischen beziehungsweise postdramatischen Theatertext. Zum anderen untersuchen die folgenden Textlektüren die Darstellungen von Arbeit und Familie im Hinblick auf ihre intertextuellen Verknüpfungen mit zeitdiagnostischen Postulaten, insbesondere aus

1

Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997 (Theatron, 22).

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dem Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung. Als übergreifende Kategorien, unter denen wissenschaftliche Aussagen der Zeitdiagnostik mit dramaturgischen wie inhaltlichen Formationen und Aussagen der Theatertexte zusammengeführt werden, dienen die Erfahrens- und Erlebensgrößen Zeit, Raum und Körper. Diese werden in Abhängigkeit von der Spezifik des jeweiligen Theatertextes unterschiedlich ausführlich ausgeführt. Herausgearbeitet werden sollen sowohl semantische als auch strukturelle Berührungspunkte zwischen zeitdiagnostischen und theaterästhetischen Darstellungsweisen von Arbeit und Familie.

5.1 A RBEIT ALS S PIEL : M ORITZ R INKES R EPUBLIK V INETA Kennzeichnend für Moritz Rinkes Theatertext Republik Vineta2, der 2001 in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Theater heute zum Stück des Jahres gewählt wurde3, ist die spezifische Verknüpfung einer tagespolitischen Thematik, dem Thema Arbeit4, mit Elementen

2

Moritz Rinke: Republik Vineta, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 153-235. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚RV‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

3

Vgl. Stücke, Inszenierungen und Spieler des Jahres, in: Theater heute

4

Diesem Lektüreansatz steht die Auffassung von Jürgen Schröder gegen-

Jahrbuch (2001), S. 134-144, S. 137. über, dass Rinkes „Stück kein Beitrag zum Thema ‚Arbeitswelt‘ wie Top Dogs oder die Stücke von Bukowski, Dea Lohers Sektor Drei [sic!], Gesine Danckwarts Täglich Brot, René Polleschs Heidi-Hoh-Serie oder Roland Schimmelpfennigs Push Up 1–3 [ist]. Denn Rinke, der seine ahnungslosen Figuren in ein abgelegenes, baufälliges Schloß-Sanatorium schickt, um angeblich ihren ‚Aufprall auf die Realität‘ zu dämpfen, benutzt diese Konstruktion nur, um seine Figuren mitleidlos vorzuführen und – man erinnert sich an Dürrenmatts Modelle – katastrophal scheitern zu lassen.“ (Jürgen Schröder: „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“? Drama und Theater der neunziger Jahre, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2. aktual. u. erw. Aufl., München 2006 [1994], S. 1080-1120, S. 1118). Diese Begründung wird

5. A RBEIT

IM

T HEATERTEXT

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des Komischen, insbesondere mit dem für die Komödie typischen metatheatralen Mittel des Spiels-im-Spiel. Die Aufnahme des Stücks bei Regie5 und Theaterkritik6, die der von Stephan Kimmig verantworteten Uraufführung im Jahr 2000 folgt, konzentriert sich in auffälliger Weise auf die komischen Momente des Textes und fokussiert auf eine Lesart als Komödie.7 Das Stück zählt demnach zu den um die Jahrtausendwende seltenen Theatertexten, die das Sujet ‚Arbeit‘ mit dem Genre der Komödie in stilbildender Weise verknüpfen.8 Dabei verheißt der

sich vor dem Hintergrund der nachfolgenden Analyse als wenig tragfähig erweisen. 5

Beispielsweise attestiert die Kritikerin Silvia Stammen dem Regisseur der Nürnberger Inszenierung, Klaus Kusenberg, „Rinkes zuweilen recht luftig gehäkelte Charaktere mit handfestem komödiantischem Knowhow […] bis in die allenfalls bedingt vorhandenen Seelentiefen auszuloten“ (Silvia Stammen: Die den Zonk ziehen. Moritz Rinkes „Republik Vineta“, in: Theater heute 43 (2002) H. 6, S. 43).

6

Vgl. u.a. Ronald Meyer-Arlt: Kaffee mit Peter Handke. Moritz Rinke „Republik Vineta“, in: Theater heute 42 (2001) H. 11, S. 45. Oder auch Stefan Grund: „Rinke hat mit seiner Komödie zur Jahrtausendwende einen Abgesang auf das schwer missratene 20. Jahrhundert erklingen lassen und zugleich dem 21. Jahrhundert einen Schluss-Chor in Form einer Ouvertüre vorangestellt, bevor es überhaupt richtig begonnen hat.“ (Stefan Grund: Im Himmel auf Erden hängt einer tot am Kronleuchter. Moritz Rinkes „Republik Vineta“ im Hamburger Thalia Theater: Ein Abgesang auf das missratene 20. Jahrhundert, unter: http://www.welt.de/print-welt/article535034/ Im_Himmel_auf_Erden_haengt_einer_tot_am_Kronleuchter.html, Artikel vom 20. September 2000, Stand: August 2008.)

7

Der auf Rinkes Theatertext basierende Kinofilm Vineta von Franziska Stünkel (2006) setzt weniger auf das Komische: Er erzählt die Geschichte vom „Vineta-Projekt“ als Thriller.

8

Eine explizite Verknüpfung von Wirtschaftsthematik und Komödie nimmt etwa Jelinek mit ihrem 2009 uraufgeführten Stück Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie vor. (Vgl. Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie, in: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 207-348.) Mit der Feststellung ist nicht gesagt, dass die Darstellung von Arbeitswelt im zeitgenössischen Theater Mittel des Komödischen oder Komischen gänzlich ausspart.

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Titel nichts weniger als eine Komödie mit glücklichem Ausgang, enthält er doch den Namen „Vineta“, der die Sage einer versunkenen Stadt in der Ostsee9 und damit verbunden die Utopie einer besseren Welt und deren Untergang assoziieren lässt. Mit dem titelgebenden Motiv der versunkenen Insel schreibt sich Republik Vineta in die kulturgeschichtliche Tradition des Mythos von Atlantis ein, von der an dieser Stelle mit den sozialutopischen Schriften von Thomas Morus, Utopia (1516), und Francis Bacon, Nova Atlantis (1627), nur zwei der bekannteren Exponenten genannt seien. Auf die Frage hin, warum er sich „nicht für Atlantis entschieden“ habe, antwortet Rinke, den die Rezeption steuernden und damit kommerziellen Aspekt des Titels im Blick: Im Stück geht es eigentlich gar nicht um die Sage, sondern der Name – verbunden mit etwas Verheißungsvollem, Schönem – wird als utopischer Begriff von den Figuren wie ein Werbeslogan benutzt. Atlantis konnte man nicht nehmen, das war schon zu besetzt. Utopia geht auch nicht, das ist wohl zu platt. Also Vineta. Ist auch im Theater noch nie vorgekommen, glaub’ ich.10

Tatsächlich geht es in Rinkes Stück auf den ersten Blick „gar nicht um die Sage“, erzählt es doch nicht die Geschichte einer wohlhabenden, im Meer versunkenen Stadt, wie es etwa in Jura Soyfers Bühnenbearbeitung des Sagenstoffes, Vineta. Die versunkene Stadt (UA 1937)11, geschieht, die den Ort Vineta und das Leben der Bürger als Erinnerung eines alten Matrosen vergegenwärtigt. Zugleich aber abstrahiert der Rinke’sche Text das Motiv der untergegangenen Stadt auch nicht in dem Maße, wie es in Fritz Katers Theatertext Vineta (oderwasser-

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Klaus Goldmann, Günter Wermusch: Vineta. Die Wiederentdeckung einer versunkenen Stadt, Bergisch Gladbach 1999; siehe insb. das Kapitel „Die Sage“, S. 39-48.

10 Moritz Rinke [, Stefan Grund]: Wer in der Luft Tomatensaft trinkt, der ist gut im Geschäft. Interview mit Moritz Rinke, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 268-271. [Erstveröffentlicht in: Die Welt, 22. September 2000; auch veröffentlicht in: Spectaculum 73. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2002, S. 277279.] 11 Jura Soyfer: Vineta. Die versunkene Stadt, in: Jura Soyfer: Das Gesamtwerk, hg. v. Horst Jarka, Wien, München, Zürich 1980, S. 628-447.

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sucht) (Ring-UA 2001)12 geschieht. Ebenda steht „Vineta“ metaphorisch für die Suche nach der Heimat.13 Rinkes Republik Vineta aktualisiert dagegen die Idee einer Insel, auf der ein ideales Gemeinwesen mit glücklichen und wohlhabenden Menschen existiert, und den vermeintlichen Verlust eben dieses utopischen Ortes14 mit Bezug zur zeitgenössischen Arbeitswelt und Konsumgesellschaft.15 „Vineta“ lautet in Rinkes Theatertext der „Arbeitstitel“ für eine „Insel“ (RV 178), auf der ein kleines Team von ausgewählten Experten eine Stadt planen und aufbauen soll. Wie sich im Fortlauf der Handlung zeigt, besitzt das Städtebauprojekt nur sehr bedingt realen Charakter: Verschiedene Spezialisten aus den Bereichen Bauwesen, Logistik, Architektur, Arbeitsvermittlung, Projektmanagement und Politik werden zu einem Planungsstab zusammengeschlossen, der vom

12 Fritz Kater: Vineta (oderwassersucht), in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 151-202. Für die Inszenierung des Stücks in der Regie von Armin Petras – dem inszenierenden Alter Ego von Fritz Kater – am Thalia Theater Hamburg (Premiere: 15. September 2001) wurde der Titel Fight City. Vineta gewählt. 13 „Trainer warum bist du zurückgekommen / Steve weil ich etwas suche / Trainer und hast du es gefunden / Steve es ist nicht leicht zu finden, ich habe es noch nie gesehen / Trainer was ist es / Steve meine heimat“ (Kater: Vineta (oderwassersucht), S. 156). 14 „Als Name für einen Ort, an dem man viele wunderbare Dinge antrifft, deutet das Wort [‚Utopia‘] damit zugleich an, daß es diesen Ort nirgends gibt.“ (Lucian Hölscher: Utopie, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6: St–Vert, Studienausgabe, Stuttgart 2004, S. 733-788, S. 752.) 15 Gleichwohl wird im letzten Akt eine populäre Bearbeitung der Sage, Selma Lagerlöfs Kinderbuch Nils Holgersson (1906), als Intertext in die Figurenrede integriert: „Montag: […] gerade lese ich „Nils Holgersson und die Wildgänse“, und da landet er mit den Wildgänsen an einem Strand, und dann ist da eine Stadt, eine herrliche Stadt, aber fünf Minuten später ist sie plötzlich wieder weg, einfach weg. Ihre Bewohner, die waren einmal herrlich reich, aber dann, dann wurden sie habgierig und verschwenderisch und lebten in Saus und Braus – und zur Strafe, da wurde alles von einer fürchterlichen Sturmflut … Ja und nun raten Sie mal, wie diese Stadt … […]“ (RV 232f.).

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Festland aus, genauer: von einer entlegenen alten Villa „bei Gotha“ (RV 201) aus, auf einer Insel im Bottnischen Meerbusen den Bau einer Stadt koordinieren soll. Allerdings handelt es sich bei der Villa um ein ehemaliges Sanatorium, bei dem vermeintlichen Projektleiter Robert Leonhard um einen forschungsfreudigen Arzt und bei dem Gesamtprojekt um eine gruppentherapeutische Maßnahme, die, in den Worten des Arztes, die „Simulation einer realen Arbeitswelt“ (RV 217) vorsieht, um die am Übergang in die Arbeitslosigkeit beziehungsweise in den Vorruhestand stehenden Führungskräfte für den „Aufprall auf die Realität“ (RV 216) vorzubereiten. Die arbeitsorganisatorische Methode der Realitätssimulation, die vielfach im Rahmen von AssessmentCentern zur Anwendung kommt, markiert hier nicht den Beginn oder Fortschritt, sondern das Ende eines erfolgreichen Arbeitslebens. Die therapeutisch motivierte Planungsarbeit an einem „alten, großen Traum“ (RV 221), der eine ideale Stadt der Zukunft vorstellt, wird von Rinke dramaturgisch mit dem realen Albtraum der Arbeitslosigkeit und der frühzeitigen Pensionierung verschränkt. Die in Republik Vineta am Beispiel der Arbeit vollzogene Verknüpfung einer Thematik, die sich aufgrund wiedererkennbarer Figurationen und Semantiken an zeitgenössische gesellschaftliche Debatten anbinden lässt16, mit einer irreal anmutenden Welt des Erwünschten und Erhofften, des Ungewissen und Unmöglichen17 kann allgemein für

16 „Das Stück spielt heute“ (RV 154) lautet die paratextuelle Zeitangabe. In einem Interview führt Rinke zum Zeitbezug von Republik Vineta aus: „Ich habe einen Riesenordner zu Vineta gemacht, zum Thema ‚Ende der Arbeit‘, diese These von Rifkin. Das Stück wird ja eher aktueller, als dass es verjährt; dass wir uns den Rändern dieses Systems nähern, zeichnet sich ab. Die Hürde derjenigen, die dort in den fiktiven Ruhestand geschickt werden, wird ja immer niedriger – also die Leute werden ja immer jünger. […] Ich habe aus verschiedensten Bereichen Material gesammelt, um das auch wirklich zu beglaubigen.“ (Moritz Rinke, Rudolf Denk, Klaus Hoggenmüller: Von süchtigen Männern. Ein Interview im Mai 2003 im Freiburger Stadttheater, in: Peter Bekes, Heinz Reichling (Hg.): Moritz Rinke. Republik Vineta. Ein Stück in vier Akten, Braunschweig 2005, S. 108-110, S. 110.) 17 Reinhard Wilczek spricht bei Rinke, die Stückproduktion bis Die Optimisten im Blick, von einem „utopische[n] Grundgestus seines bisherigen Theaterschaffens“, allerdings ohne eine nähere Bestimmung des Utopie-

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Rinkes dramatisches Schreiben als eines der charakteristischen Merkmale festgehalten werden. Der Kritiker Thomas Irmer spricht bei Rinkes Theatertexten von einer „Ungleichzeitigkeit von Welten […], die dem Ganzen dann mit einer Energie zusetzt, dass die Klaviatur von tiefer Melancholie bis purem Witz einer eingängigen Melodie zu folgen scheint“18. Die Konfrontation von (vermeintlich) Realem mit (vermeintlich) Irrealem kann mithin nicht nur für Republik Vineta als konstitutives dramaturgisches Element bestimmt werden, sondern zeichnet, bei unterschiedlicher Akzentuierung und Umsetzung, auch andere Stücke des Autors aus, etwa seinen Erstling Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte (UA 1999), die Faust-Variation Männer und Frauen (UA 1999) oder auch die Globalisierungsfarce Die Optimisten (UA 2003). Im vorliegenden Theatertext realisiert sich das Zusammenspiel von Möglichkeit und Tatsache, von Fiktion und Faktum zentral in der metatheatralen Form des Spiels-im-Spiel: Die Realität, an der die Expertengruppe im Rahmen des Vineta-Projektes teilhat, entpuppt sich als eine therapeutisch motivierte Erfindung zur Bewältigung der ‚eigentlichen‘ Realität, die als Realität der Arbeitslosigkeit und des Ruhestandes bestimmt wird. Der Ausschluss aus der ‚normalen‘ Arbeitswelt stellt zugleich den Ausgangs- wie auch den Zielpunkt der konkreten Arbeit am Projekt Vineta dar, wobei das involvierte Personal der Betroffenen – wie auch zunächst noch der Rezipient – von diesem Umstand keine Kenntnis hat. Dass das VinetaProjekt als eine Art Rite de Passage (Arnold van Gennep) angelegt ist, der die allein auf Arbeit fokussierten Führungskräfte in den gesellschaftlichen Status von Menschen ohne Arbeit überführen soll, wird erst mit dem Scheitern des Projektes offensichtlich. Die buchstäbliche Enttäuschung der gedoubelten Arbeitswelt fällt mit der Erfahrung des Arbeitsplatzverlustes zusammen, macht Realität und Scheinwelt aus Sicht der Städteplaner mithin ununterscheidbar. Die Grenzüberschrei-

Begriffs. (Reinhard Wilczek: „Negative Energie in eine positive Gegenkraft verwandeln“. Über den utopischen Grundzug in den Theaterstücken Moritz Rinkes, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 70-80, S. 80.) 18 Thomas Irmer: Möglichkeitsmenschen und Wirklichkeitsspiel, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. StückWerk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 124-127, S. 124.

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tung auf die Seite des Wahnsinns und des Todes scheint nur noch ein kleiner Schritt, wie ein zweiter Schluss am Ende des vierten Aktes nahelegt. Dramaturgisch plausibel gemacht wird, wie die folgende Lektüre zeigen wird, das Spiel um Sein und Schein in besonderem Maße mittels der Wahl der Schauplätze. Die Situierung des Planungsstabes an einem entlegenen Ort sowie die räumliche Distanz zwischen eben diesem und dem Ort der Verwirklichung des Projektes, der Insel, bilden die Prämisse für die dramatische Wendung in der Darstellung der Arbeitswelt, die zunehmend groteske und tragische Züge trägt. In den Fokus der Untersuchung rückt die Selbstinszenierung der Führungskräfte, die ausschließlich durch männliche Figuren repräsentiert werden, als ‚Männer mit Visionen‘, für die Teamarbeit zum einen ein effizientes Werkzeug des Projektmanagements darstellt, zum anderen jedoch die Situation permanenter Konkurrenz bedeutet. Herausgearbeitet werden Elemente der Selbststilisierung wie auch ihre Dekonstruktion durch die Mittel des Komischen. Die Lektüre von Republik Vineta verfolgt mithin den Zusammenhang zwischen Repräsentationen von Arbeitswelt, Raumentwürfen und dramatischer Form.19 Sie setzt ein mit Bemerkungen zu Rinkes Poetik des Komischen, die die Rezeption seiner Texte fürs Theater maßgeblich prägt. 5.1.1 Poetik des Komischen Bei der Auseinandersetzung mit Rinkes Dramatik das Augenmerk zunächst auf das Moment des Komischen zu richten, scheint mit Blick auf die Rezeption der Stücke Rinkes weniger originell als naheliegend.20 Von der Theaterkritik werden wiederkehrend die Bezüge sei-

19 Vgl. Nikolaus Frei: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994–2001), Tübingen 2006 (Forum Modernes Theater, 35), S. 154f.: „Das Stück hält die Balance zwischen verschiedenen Spielarten sowohl der Komödie wie der Tragödie, wobei dramatische Elemente vom Vaudeville über die Farce bis hin zu Momenten existenzieller Erschütterung für die Figuren auszumachen sind.“ 20 Damit geht nicht notwendig einher, von Rinkes Theatertexten sogleich als Komödien zu sprechen, gilt das Komische zwar als eine wichtige Komponente, aber nicht als unablässiges Konstituens dieser literarischen Gattung. (Vgl. Beate Müller: Komik und Komiktheorien, in: Ansgar Nünning (Hg.):

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ner Theatertexte zur literarischen Gattung der Komödie, das Groteske der Szenen, das „Rinketypische[...] pointensichere[...] Gerede“21 und der geistreiche Witz seiner Figuren hervorgehoben. Im Fall seines Theatertextes Republik Vineta ist Franz Willes Vergleich mit dem Dramatiker George Bernard Shaw aussagekräftig: „Republik Vineta“ tritt als hochkonventionelles Stück auf mit fein zurechtgeschliffenen Dialogen in vier Akten nebst zitierfähigem Aphorismenmaterial. Als wäre George Bernard Shaw aus dem Grab gestiegen, wird kommagenau mit angemessener Leichtigkeit am Problembestand entlangparliert. Suspense liefert (gleich dreimal) eins der verstaubtesten Requisiten des 19. Jahrhunderts, die Duellpistole (handgespannt, angeblich von Napoleon). Die Handlung ist weitgehend nebensächlich, das übliche Platzhirschgehabe um Alpha-Position und Sekretärinnengunst.22

Der Vergleich mit Shaw stellt Rinkes Text in eine Reihe mit einer Spielart der Komödie, die dem Komischen unterhaltende und gesellschaftskritische Töne abhört und dabei auch Gattungskonventionen des Konversationsstücks aufgreift. Der in der Kürze liegende und auf den Verstand abzielende Witz der Dialoge und seine komische Wirkung, die für die dramatischen Figuren des Theaterautors und Feuille-

Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2008 [1998], S. 363-364; sowie Ulrich Profitlich: Komödien-Konzepte ohne das Element ‚Komik‘, in: Ralf Simon (Hg.): Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, S. 13-30.) Die Begriffe des Komischen und des Lachens sind jedoch zentrale Begriffe des Komödien-Diskurses. (Vgl. Gérard Schneilin: Komödie, in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. vollst. überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992 [1986], S. 511-515, S. 511.) 21 Barbara Burckhardt: Luxus Vacui. Menschen im Hotel: Moritz Rinkes „Die Optimisten“, von Matthias Hartmann in Bochum vergrößert gesehen, in: Theater heute 45 (2004) H. 1, S. 40-41, S. 41. 22 Franz Wille: Ein Schiff muss kommen. In Hamburg starten Ulrich Khuon und Tom Stromberg an Thalia Theater und Deutschem Schauspielhaus, in: Theater heute 41 (2000) H. 11, S. 14-20, S. 16.

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tonisten23 Rinke charakteristisch sind24, können anhand der ersten Szene von Republik Vineta exemplarisch erörtert werden. Die Regieanweisungen sehen vor, dass die Assistentin Nina Seiler mit Materialen bepackt die Treppe hinunter- und Hans Montag ihr hinterherläuft: MONTAG: Wissen Sie, es ist so schwer auszudrücken, aber durch Sie, da bekomme ich diese Bilder. Also, das sind so Erinnerungen, die ich eigentlich gar nicht haben kann, unmöglich haben kann. Hab ich aber! Es ist vielleicht ein Zauber, ich versuche es auszudrücken! NINA: (bleibt stehen) Lieber Hans Montag. Ich bin etwas in Eile, wenn Sie’s einfach in einem Satz sagen könnten. MONTAG: Gut, hier der Satz: Ich spreche gerade mit einer Frau, die kurze Zeit später meine Mutter wird! Nina läuft weiter die Treppe herunter. MONTAG: Erschrecken Sie nicht! Ich sagte doch: Es ist Zauber! Wenn ich Sie da jetzt zum Beispiel so langlaufen sehe, dann habe ich das Gefühl, ich wäre mein eigener Vater auf einem Schwarzweißfoto und Sie … NINA: Herr Montag, bitte! Ich trage einfach nur einen Stuhl die Treppe hinunter. Ich weiß nicht, was das mit Ihrer Mutter zu tun haben soll. Das ist vielleicht ein Job hier! Sagen Sie mir lieber, was eine „FA“ ist? Hagemann wirft mit Begriffen um sich, die versteht doch kein Mensch! Hier, die Milch! MONTAG: Sie sind eine zeitlose Frau. In Ihnen vereinigen sich Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Schließe ich die Augen, sehe ich Sie aus der Haustür meiner Kindheit gehen. Öffne ich sie: Stehen Sie da in heutiger Farbe. Nur das wollte ich sagen. Eine FA ist eine Fehleranalyse. Danke. (Geht oben auf der Galerie ab) (RV 155f.)

23 Gesammelt und publiziert sind einige von Rinkes Kolumnen, Reportagen und Essays in Moritz Rinke: Der Blauwal im Kirschgarten. Erinnerungen an die Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 2001 [2001]. 24 Die differierende Wirkung und Funktion von Rinkes Pointen in seinen Essays einerseits und in seinen Stücken andererseits reflektiert kritisch Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42, S. 34.

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Die Komik dieser Szene wird zunächst dadurch hervorgerufen, dass in der Begegnung zwischen dem „Träumer“ Hans Montag (RV 165), einer Führungskraft im Sektor der Internationalen Arbeitsvermittlung (RV 171), und der „Seele des Hauses“ Nina Seiler (RV 159) zwei verschiedene Kommunikationsebenen betreten werden. Während Montag im persönlichen und intimen Tonfall die Annäherung an die einzige Frau im Projektteam sucht, bleibt diese distanziert sachlich und in ihrer Rede dem Praktisch-Notwendigen verpflichtet. Montags umständliche und groteske Ausführungen kontert sie mit einer Mahnung zur Kürze, die implizit die Angemessenheit seiner Äußerungen hinterfragt. Ninas prägnanter Satz – „… wenn Sie’s einfach in einem Satz sagen könnten“ –, der als ein Formzitat der Pointe folgt, bleibt jedoch ohne geistreichen und klärenden Effekt. Die Forderung nach Kürze und Verständlichkeit wird durch Ninas Frage sodann in das aus ihrer Sicht relevante Sachfeld transponiert: „Sagen Sie mir lieber, was eine ‚FA‘ ist? Hagemann wirft mit Begriffen um sich, die versteht doch kein Mensch!“ Mit dieser Aussage werden assoziativ zwei inkongruente Kontexte verknüpft, nämlich die ausschweifende romantische Poetisierung einer Geschlechterbeziehung und die verkürzende funktionelle Versprachlichung eines Arbeitsprozesses. Als Schnittpunkt zwischen Liebesrede und Fachsprache wird die Frage nach der Angemessenheit der jeweiligen Rede in Bezug auf ihre soziale Funktion problematisiert. Mit seiner knapp gehaltenen Erläuterung „Eine FA ist eine Fehleranalyse.“ weist sich Montag als kompetenter Ansprechpartner in Spezialistenfragen des Projektmanagements aus, während er zuvor an der Vermittlung seines persönlichen Anliegens scheitert. Seine Fehlleistung im Bereich des Privaten und Intimen, die durch die unmittelbare Kompensation noch deutlicher hervortritt, kann zum Anlass des Lachens werden. Darüber hinaus ist das Stichwort „Fehleranalyse“, das die Mitarbeiterin gibt, als ein ironischer Kommentar zu Montags vorangegangenen, in ihrer Absicht fehlschlagenden Ausführungen zu lesen. An einer späteren Textstelle zeigt sich die Assistentin als durchaus versiert im Umgang mit der projektbezogenen Fachsprache (vgl. RV 175), so dass ihre Frage nachträglich auch als strategischer Einwurf der um die Therapiesituation Wissenden verstanden werden kann. Neben dem privaten und dem arbeitssachlichen werden die Figuren zudem in einem dritten Kontext gezeigt, der sich in den DialogPartikeln „Hier, die Milch!“ und „Danke“ manifestiert und als Diskurs der Alltagspraxis bezeichnet werden kann. In der Verschachtelung und

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der parallelisierten Abfolge der drei Kommunikationsebenen in den letzten beiden Repliken ist dabei eine weitere rhetorische Strategie zu sehen, eine komische Wirkung des Dialogs zu erzielen, insofern, als dass damit eine Vervielfältigung der Spiel- und also der Realitätsebenen einhergeht, die Distanz zum Geschehen und damit eine Prämisse des Lachens schafft.25 In der zitierten Eröffnungsszene wird ersichtlich, dass der Theatertext Republik Vineta nicht allein durch das rhetorische Mittel der Pointe auf eine komische Wirkung auf der Bühne abzielt, sondern dieses Ziel auch mit der impliziten Inszenierung, die in den ausgiebig eingestreuten Regieanweisungen manifest wird, verfolgt. Insbesondere in den Aktionen der Figuren lässt sich die komödientypische Tendenz zum sich verselbständigenden freien Spiel26 ablesen. Im Verlauf der insgesamt vier Akte, die einen Zeitraum von „etwa fünf Wochen“ umspannen (RV 154) und an drei Orten (Plenarsaal: I, II.2, IV; freies Feld: II.1; Speisesaal: III) spielen, herrscht ein ständiges27 Kommen und Gehen, für das das naturalistische Bühnenbild28 neben Ab- und Auftritten auch mittels des Bauelementes einer klassizistischen Marmortreppe (im „Plenarsaal“) zusätzlichen Raum gibt. Die durchgängig häufigen, bisweilen auch temporeichen29 Gänge der Figuren tragen in

25 Zu Bedingungen des Lachens vgl. Klaus Schwind: Komisch, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in fünf Bänden, Bd. 3: Harmonie – Material, Stuttgart, Weimar 2001, S. 332-384. 26 Gérard Schneilin spricht von der „Tendenz der K[omödie], alle Normen und Regeln zu zerstören im Sinne einer totalen Freiheit des Spiels, was die Versuche einer einfachen Wesensbestimmung fast unmöglich macht“ (Schneilin: Komödie, S. 514). 27 Die Wiederholung nennt Henri Bergson „eine der gebräuchlichsten Verfahrensweisen der klassischen Komödie.“ (Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, aus dem Französischen übers. v. Roswitha Plancherel-Walter, mit einem Nachwort v. Karten Witte, Darmstadt 1988, S. 52). 28 Vgl. Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 157. 29 „Klaus Hagemann und Lutz Born kommen mit Tempo herein“ (RV 168); „Feldmann-See rennt raus“ (RV 173); Hagemann „[g]eht flott ab“ (RV 176); Nina „[r]ennt raus“ (RV 179); Behrens „[g]eht schnell wieder rein“ (RV 197); „Alle rennen raus“ (RV 214); Frau Feldmann-See „rennt in den

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Verbindung mit einer Choreographie des Beinahe-Zusammenstoßens und Hinterherlaufens auch slapstickhafte Züge (RV 156, 166). Zudem ergeben sich aus dem wiederkehrenden, innerszenisch unmotivierten Auf- und Abtreten von Figuren – insbesondere der beiden Schwestern Rosa und Rosana Seligmann – neben Überraschungsmomenten auch Effekte der Stilisierung und des Mechanischen30, die im Anschluss an Henri Bergson31 eine komische Wirkung entfalten und das Versagen der Figuren vorführen, dem gesellschaftlichen Postulat der Flexibilität gerecht zu werden. Des Weiteren kommt es zu grotesken Szenen, wenn gemäß der Textvorlage die Simulation eines Schiffuntergangs durchgeführt wird, indem eine Reihe von Brausen und Wasserhähnen „auf Hochdruck“ gestellt werden und es „spritzt und rauscht“ (RV 219), oder wenn zwei ältere Damen aus Amerika, die Seligmanns, einem deus ex machina ähnlich, erscheinen, sich als ehemalige, dem sprechenden Namen nach schon als verstorben zu wähnende Bewohnerinnen der Villa vorstellen und „mit einem großen Hammer“ (RV 212) die ohnehin „poröse[n] Wände“ (RV 205) einschlagen. Auf ein Lachen hin entworfen ist auch, um noch ein letztes Beispiel zu geben, die Szene, in der sich die Mitglieder des Projektteams zu einem musikalischen Ensemble formieren: LEONHARD: Herr Born, verteilen Sie die Musikinstrumente! (Zu Färber) Es wird Sie vielleicht etwas wundern, aber ich möchte, dass meine Mitarbeiter lernen zusammenzuspielen und nicht gegeneinander. Born gibt Hagemann und Behrens eine Flöte, Montag eine Trommel und Feldmann-See ein Zupfinstrument. Er selbst nimmt auch eine Flöte. LEONHARD: Also: Eins, zwei, drei …

Plenarsaal“ (RV 221); „Nina rennt zu Born“ (RV 221); Montag „[r]ennt zur Seite“ (RV 233) u.a.m. 30 Auf den Zusammenhang von Stilisierung und Mechanisierung im Sinne Bergsons macht David Roesner in seinem aufschlussreichen Aufsatz: Zweideutigkeit als komisches Erfolgsrezept. Komik und Kommerz in der Commedia dell’arte und den Silent Slapstick Comedies, in: Hilde HaiderPregler u.a. (Hg.): Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, Wien, Köln, Weimar 2006 (Maske und Kothurn, 51.4), S. 479-489, aufmerksam. 31 „Komisch sind Haltungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers genau in dem Maß, wie uns dieser Körper an einen gewöhnlichen Mechanismus erinnert“ (Bergson: Das Lachen, S. 28).

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Sie spielen erkennbar eine Melodie. Hagemann und Born mit unterdrückter Wut und daher großen Konzentrationsschwächen. Montag hingegen mit zunehmender Freude und einem Harmoniebemühen. Behrens flötet sich in den Vordergrund, Feldmann-See zupft am Instrument ganz für sich. Dann: Nina stürzt herein mit einem Schreiben. NINA: Entschuldigung! LEONHARD: Frau Seiler, wir sind mitten im Plenum! (RV 172)

Die Performativität des Spiels, hier genauer: des musikalischen Spiels, wird in der Figurenrede des Projektleiters Robert Leonhard, der den Neuankömmling im Team, Sebastian Färber, in die Gruppenrituale einführt, explizit reflektiert. Mit Bezug auf Bernhard Greiners Charakterisierung der Komödie, bei der „das dionysisch-karnevalistische Moment und das Moment der literarisch-dramatischen Zeichenordnung nicht sicher verbunden bzw. vermittelt sind“ und also „[i]mmer neu […] die dramatische Zeichenordnung, die erreichte und errichtete Gesetzlichkeit der Form, unterminiert oder doch ‚gebrochen‘ [wird] vom Ereignishaften, Grenzensprengenden des theatralischen Geschehens“32, lässt sich in dieser Szene beobachten, wie ein dionysisches Spielelement auftaucht und durch die Ordnung des dramatischen Dialogs kontrolliert wird. Darüber hinaus stellt sich die Szene als Parodie auf arbeitsorganisatorische Maßnahmen dar, die beispielsweise im Rahmen von Konzepten des Projektmanagements oder von Assessment-Centern zur Gruppen- und Teambildung eingesetzt werden. Signifikant aus der Perspektive der Geschlechterforschung ist es, dass die einzige Frau im Team diesen als künstlerische Praxis metaphorisierten Prozess der männlichen Verbündung stört, und damit ihren Nachnamen, „Seiler“, der sie auf die soziale Funktion der Vermittlung festlegt, gegen den Strich bürstet. Hierin steht sie erkennbar den männlichen Protagonisten entgegen, deren sprechende Namen auf eher affirmative Figurentypisierungen verweisen: Feldmann-See heißt der standhafte Hamburger Kapitän, Färber der idealistische Architekt aus Berlin, Montag der bürokratisch-akribische Leiter einer Arbeitsvermittlung und Leonhard der dominante Projektleiter, der in den Worten

32 Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation, 2. aktual. u. ergänzte Aufl., Tübingen, Basel 2006 [1992], S. 25.

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Montags „wie ein König“ auftritt (RV 164). Dass die Namen den zuschauenden Rezipienten des Theatertextes bekannt werden, wird dramaturgisch durch eine Vorstellungsrunde bei der Zusammenkunft des Planungsstabes erreicht. Den Anlass hierzu und auch zu einer detaillierten Erläuterung, was es mit dem Projekt Vineta auf sich hat, gibt die Ankunft des Architekten Färber, mit der das Stück einsetzt. Der Beginn des Theatertextes fällt zusammen mit dem Beginn des Spiels-im-Spiel, welches damit für den Rezipienten noch nicht als solches identifizierbar ist. Mit der folgenden Diskussion der Spiel-imSpiel-Struktur in Republik Vineta soll eine letzte, das Komische evozierende Textstrategie zur Sprache kommen. Das Spiel-im-Spiel kann im Anschluss an Bernhard Greiner als komödienaffine Darstellungskomponente thematisiert werden, die mit dem Moment der Selbstreflexion einhergeht.33 Mit dem Spiel-im-Spiel kommt die von Greiner bestimmte Doppelbewegung der Komödie, die in den vorangehenden Ausführungen bereits punktuell angesprochen wurde, in nuce zum Ausdruck, indem es zum einen die grenzüberschreitende, auf das Theatralische gerichtete und zum anderen die formgebende, auf das Dramatische gerichtete Tendenz der Komödie zum Vorschein bringt.34 Das in die Dramaturgie von Republik Vineta eingelassene Spielim-Spiel, das die Grenzen zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktionalität durchlässig werden lässt, ist im Theatertext, also binnenfiktional als therapeutische Maßnahme ausgewiesen. Darsteller des Spiels-im-Spiel sind die insgesamt acht Mitglieder des VinetaProjektteams, wobei zwei von ihnen, nämlich der Projektleiter und Arzt Robert Leonhard sowie seine Assistentin Nina Seiler, zugleich die Rolle der Akteure und der Zuschauer einnehmen. Diese beiden fiktiven Zuschauer, die um den Simulationsmodus des Vineta-Projektes

33 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 7. Greiner weist darauf hin, dass sich die Selbstreflexion nicht auf das Theaterspiel, sondern auf die Komödienhandlung bezieht. Ralf Simon spricht in Bezug auf das komödische Moment der Selbstreflexion und in Entsprechung zur tragödienaffinen Metasprache von der „Metahandlung der Komödie“ (Ralf Simon: Theorie der Komödie, in: Ralf Simon (Hg.): Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, S. 47-66, S. 53). 34 Bernhard Greiner spricht im Sinne Bachtins von der „Karnevalisierung der Komödie“ und der „Formung des Karnevalistischen in der Komödie“ (Greiner: Die Komödie, S. 9).

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wissen, besitzen zunächst auch gegenüber dem realen Rezipienten einen Informationsvorsprung und stellen ihn diesbezüglich also auf eine Stufe mit den sechs Experten des Projektteams. Weder die sechs Städteplaner noch die drei unterschiedlich in das Projektgeschehen involvierten Frauen, Ursula Feldmann-See und die beiden Schwestern Rosa und Rosana Seligmann, durchschauen die Scheinhaftigkeit der Realität des Vineta-Projektes. Dem realen Publikum wird die binnenfiktionale Tatsache, dass es sich bei allen Arbeiten der Planungsgruppe, die auf die Bebauung und Besiedlung der Insel Vineta zielen, lediglich um die Simulation realer Arbeitsprozesse handelt, sukzessive mittels einer Dramaturgie der Störung, der Irritation und der retardierenden Momente vor Augen geführt. Während in der konventionell ausgeführten Exposition der Arbeitsalltag in der alten Villa und das zukunftsweisende Städtebauprojekt skizziert und ausgemalt werden, bekommt das illusionistisch eingefärbte Bild des avancierten Projektes, das für den Rezipienten ein hohes identifikatorisches Potenzial bereitstellt, bereits im zweiten Akt Risse. Mit dem Verlassen der Innenräume der Villa zu Beginn des zweiten Aktes und dem Zusammentreffen von vier der sechs Führungskräfte „auf einem freien Feld“ (RV 184) zeichnet sich räumlich metaphorisiert die Doppelbödigkeit der Projektrealität ab. Dabei wird im Verlauf des Aktes die Ambiguität des buchstäblich inszenierten Arbeitsalltags dadurch potenziert, dass eine zweite Perspektive auf das Projekt eröffnet wird: Nachdem die Arbeitssituation in derVilla zunächst durch die Projektmitarbeiter selbst, also aus einer Innenperspektive reflektiert wurde (II.1, RV 184194), beleuchtet das überraschende Erscheinen von Frau FeldmannSee in der Villa das Geschehen aus der Perspektive einer Außenstehenden (II.2, RV 194-204). Die Planungen für den Aufbau von Vineta werden zunächst dadurch relativiert, dass die beteiligten Experten von einem ihnen bislang unbekannten Plan des Projektleiters erfahren. Dessen Entdeckung führt die virulenten Konkurrenzkämpfe in der Gruppe zu einem Höhepunkt, indem sich das angestaute Aggressionspotenzial, das latent den Erfolg des gesamten Projektes gefährdet, in einem Aufbegehren gegen einen gemeinsamen Gegner, einen – mit René Girards35 Begriff – Sündenbock entlädt: „Färber muss weg. Er hat hier keinen Platz.“ (RV 187)

35 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, 4.-5. Tsd., Frankfurt/Main 1994 [1992].

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Färber ist derjenige, der zuletzt zur Gruppe dazugestoßen ist und dessen architektonische Vorstellungen einer „Gegenmoderne“ (RV 158) im Gegensatz zu den bis dahin diskutierten und umgesetzten Konzepten stehen. HAGEMANN: […] Mittendrin lassen die diesen Typen auftreten, Leonhard wirft mal eben den ganzen urbanen Bebauungsplan über den Haufen, und wir, wir sitzen hier rum! Seit 15 Tagen! Der 10. November ist die Deadline für die Fundamentlegung. Schauen Sie mal auf Ihre Uhr. Wir verlassen die Pufferzeit! Aber Färber sitzt in seinem Zimmer und malt seit 15 Tagen „Die Häuser der Neuen Rückbesinnung“. Herr Montag, ich bin gleich wieder da. (Geht los in Richtung Morgendämmerung) MONTAG: Wo wollen Sie denn hin? HAGEMANN: Ich werfe nur eben meinen Projektstrukturplan in den See. MONTAG: Sie müssen sich beruhigen. HAGEMANN: (außer sich) Nein! Ich beruhige mich nicht! Morgen geht uns hier die Arbeit aus! Dann können wir Murmeln spielen! Und zwar so lange, bis der da fertig ist! (Läuft auf und ab in der Morgendämmerung) (RV 184f.)

Hagemanns Sorge um das Zeitmanagement und seine Angst um seine Arbeit nehmen allerdings nicht allein einen Gegner ins Visier. Seine feindliche Gesinnung zielt auch auf die Führungsposition des Projektteams, die Leonhard innehat und an die er sich selbst setzen will: „Wir machen das so: Ich übernehme den Vorsitz in der Planungsgruppe“ (RV 188), um dann auch seinen Widersacher Feldmann-See zu entfernen (RV 188). Zusammen mit dem Ingenieur Born stiftet Hagemann eine Verschwörung gegen die Projektleitung an, für die sich allerdings nur Behrens gewinnen lässt, der um jeden Preis der zukünftige „Spitzenkandidat“ (RV 188) für den Posten des Stadtdirektors in Vineta werden will (RV 174). Montag dagegen, der in den Augen des opportunistisch agierenden Behrens ein „Träumer“ ist (RV 165), bleibt auf Distanz zu den umstürzlerischen Ambitionen der drei Revolutionäre und drängt zu überlegtem Handeln im Sinne des Gesamtprojektes (RV 188-193). Als Montag sich dem Verrat an Leonhard zu entziehen versucht, wird er mit Gewalt zur Beihilfe gezwungen: „Born schlägt ihn nieder. […] (Tritt nach) […] Montag hält sich den blutenden Mund“ (RV 193). Zum Motor – nicht zum Auslöser – für die Akkumulation des Widerstandspotenzials werden dabei die von Born und Hagemann entwendeten „Tagebücher“ Leonhards, die als „Entstehungsdokument

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der Republik Vineta“ (RV 189) angelegt sind. Die laut verlesenen Schriftstücke geben Aufschluss darüber, dass Leonhard einzelne Mitglieder des Teams gegeneinander ausspielt, um die Arbeitskräfte zu seinen eigenen Zwecken zu funktionalisieren und seine Machtposition zu festigen: MONTAG: – (liest) „18. September. Behrens, dieser Volltrottel, will mir ein Konzept zu ‚Ökologie und Demokratie‘ erstellen. Kann er ja machen. Die Zeit haben wir noch. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Die Schiffe habe ich erneut auf die Reise geschickt. Allerdings musste sehr viel in Hamburg umgeladen werden. Die Stahlträger runter und dafür jetzt verstärkt toskanische Säulen. (Färber-Effekt!) Hagemann tanzt natürlich im Kreis und Born sowieso, weil er ja weiß, dass sich seine Benn-Bau-Gruppe längst fragen wird, warum ihr eigener Mann plötzlich nicht mehr mit Stahl arbeitet, sondern mit toskanischen Säulen, die sie gar nicht liefern können. Lasse ich aber über Färber woanders bestellen.“ (Bricht wieder ab. Schaut auf und muss lächeln) (RV 189)

Anhand der Tagebuchnotizen wird eine Sicht auf die Ereignisse eröffnet, die diese für die Figuren wie für den Rezipienten in ein verändertes Licht setzen. Aus Sicht der männlichen Projektmitarbeiter spielt Leonhard ein doppeltes Spiel mit ihnen, indem hinter den offen diskutierten Planungen ein umfassenderer, abgeschlossener Plan zutage tritt. Leonhards eigenmächtiges Vorgehen und dessen Entlarvung wecken binnenfiktional allerdings keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Vineta-Projektes, sondern werden als Momente des Machtkampfes in die laufenden Arbeitsprozesse integriert. Darüber, dass Vineta entstehen soll, herrscht mithin bei allen Konkurrenten Einigkeit. Ob das Tagebuch allerdings „als einzige ‚Quelle‘ das Projekt aufrichtig wiedergibt“, wie Nikolaus Frei in seiner Textlektüre von Republik Vineta feststellt, muss als fraglich gelten. Denn in den vorgelesenen Passagen ist weder explizit vom Therapiestatus des Projektes noch von dessen, später von Leonhard eingeräumten, „Nicht-Existenz“ (RV 216) die Rede, vage Äußerungen in diese Richtung bleiben mehrdeutig (RV 190) und dem durch die Notizen begründeten Anschein nach verfolgt Leonhard tatsächlich eine Realisierung der Vineta-Idee, wenn er Schiffsladungen managt (RV 189) und mit Pathos notiert: „20. September: Der Themenpark ist meine heimliche Liebe: Lenin, den ich von Bergungsmannschaften retten ließ, hat die Insel an einem Hubschrauber hängend erreicht. Ist das nicht eine irrsinnige Vorstellung?“

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(RV 190) Für den Rezipienten können die in dieser Szene qua der Dokumente eingeführten Informationen – in Verbindung beispielsweise mit dem vorangehenden Dialog zwischen Hagemann und Montag über ihre Albträume von Misserfolg und Arbeitslosigkeit (RV 184-187) – die Frage aufwerfen: Was wird hier gespielt und wer bestimmt die Regeln des Spiels? Diese Frage forciert auch der unvermittelte Auftritt von Ursula Feldmann-See (RV 200-204), die als Frau des Kapitäns nur indirekt in die Vorgänge in der Villa bei Gotha involviert ist und demnach auch nur mittelbar an dem therapeutischen Rollenspiel teilhat. Ihre Informationen über die Umstände der Arbeit vor Ort bezieht sie zum einen aus den Briefen ihres Mannes (RV 201, 214), zum anderen aus dem öffentlichen Umfeld außerhalb der Villa. Der Umstand, dass ihr Mann „in eine Art Früh-Rente“ (RV 201) geschickt wurde, wird ihr nicht, wie von Leonhard unterstellt, durch den Arbeitgeber ihres Mannes (RV 214), sondern bei einem Zusammentreffen mit Kapitän Lundt bekannt, von dem sie ihrem Mann berichtet: URSULA FELDMANN-SEE: […] Er sagte: „Na, Frau Feldmann-See, wie sind die ersten Wochen in der Pension?“ Ich sage: „In welcher Pension?“ „Na, in der Pension von Ihrem Mann!“, sagt Lundt. Ich sage: „Wir haben gar keine Pension.“ FELDMANN-SEE: Was redest du denn da? URSULA FELDMANN-SEE: „Warum soll’n wir denn plötzlich Fremdenzimmer haben?“ FELDMANN-SEE: Nicht so laut! Du weckst ja das ganze Haus auf. URSULA FELDMANN-SEE: Und dann, weißt du was dann passiert ist? Lundt schreit quer durch das Teegeschäft: „Mein Gott, ich frage, wie gefällt es Ihrem Mann in der Pensionierung!?“ (RV 201)

Das Unverständnis, das sich in dem mehr tragisch als komisch wirkenden Missverständnis artikuliert, weicht bei der zum Idealtypus der sorgenden und resoluten Ehefrau stilisierten Ursula Feldmann-See Zweifeln, die sie zu weiter reichenden Nachforschungen veranlassen. Als sie die von ihrem Mann manövrierte „Star-Cross“, die nach seinen Angaben „auf dem Weg zum Geheimstandort gesunken ist“ (RV 201), in Rotterdam ausfindig macht, setzt sie alles daran, ihren Mann nach Hause zu holen: „Da stimmt was nicht! Fritz, hol deine Tasche! Der Wagen steht vor der Tür!“ (RV 200) Dieser lässt sich jedoch von der neuen Sicht auf seine Arbeitssituation nicht irritieren und verkündet

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weiter voller Überzeugung seine Unabkömmlichkeit. In der Folge sind es vor allem die hartnäckigen Recherchen der zurückgewiesenen Ehefrau, die katalytisch auf den von Leonhard stufenweise eingeleiteten Einbruch der Realität in die simulierte Arbeitswelt einwirken. Die geplante Intrige gegen Leonhard wie auch die geschlechtlich codierte Meinungsverschiedenheit zwischen den Eheleuten führen zum einen zu einer ansteigenden Spannung der Handlung, zum anderen zu einer figurengebundenen Multiperspektive, welche die Frage nach der Deutungshoheit über das Vineta-Projekt, über dessen Wirklichkeitsgehalt aufwirft. Arbeits- und Privatdiskurs treiben mithin dramaturgisch verquickt die Spiel-im-Spiel-Struktur hervor. Gewissheit darüber, dass die Realität des Vineta-Projektes einer primären Realität, nämlich der Realität der Arbeitslosigkeit und der Pensionierung von Spitzenkräften, nach- beziehungsweise untergeordnet ist, erlangt der Rezipient in dem Augenblick, in dem sich der Projektleiter als Arzt zu erkennen gibt. Vom rigiden Vorgehen der Frau Feldmann-See, die ihren Mann mit Filmaufnahmen von der vermeintlich gesunkenen „Star-Cross“ in ihre Wirklichkeit zurückholen will (RV 211-213), in die Enge getrieben, klärt Leonhard die Ehefrau über die ‚wahren‘ Verhältnisse auf. Er tut dies allerdings nicht, ohne zuvor alle Anwesenden erfolgreich aus dem Raum zu anderen Aufgaben zu schicken (RV 213), so dass die Außenstehende die alleinige Adressatin seines „Vortrag[s]“ (RV 216) bleibt. Mit stolzgeschwellter Brust erläutert der Arzt die von ihm entwickelte „neue Methode“ (RV 215), die helfen soll, den Schock über die eigene Arbeitslosigkeit oder den eigenen Ruhestand abzufedern und zu bewältigen. Er ist überzeugt: „Die Nicht-Existenz des Projektes, Frau Feldmann-See, ist doch im Vergleich zur Verabschiedung Ihres Mannes aus den Lloyd-Werken ein verhältnismäßig geringfügiger Schock.“ (RV 216) Entgegen dieser Erwartung bleiben im Folgenden bei allen Führungskräften die anvisierten heilvollen Effekte der Einsicht, dass das Scheitern des VinetaProjektes das Scheitern einer nur fingierten Versuchsanordnung war, aus. Ob der Kapitän den Verlust seiner Flotte, die es nie gegeben hat, überwindet, lässt der Theatertext offen; die letzten Worte FeldmannSees, die nur noch als Stimme vernehmbar sind und damit der Welt entrückt scheinen, lassen dies kaum hoffen: „Scheiße! Seid ihr noch da?! – Hello?? Harrison? Mein Gott, warum hilft mir denn niemand? (Man hört, wie er weint.) Meine Schiffe, meine Schiffe. (Nur noch Weinen)“ (RV 220). Dass sich der Projektmanager und Rädelsführer

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Hagemann mit der Situation des Ruhestandes nicht abfinden kann und seine Bemerkung, dem Altenheim durch Selbstmord entkommen zu wollen (RV 170), nicht nur eine Floskel war, das stellen die Regieanweisungen zu Beginn des vierten Aktes dagegen eindeutig dar: „Hagemann hängt mit einem Strick am Kronleuchter“ (RV 223). Mit der Offenlegung der Spiel-im-Spiel-Struktur hat Republik Vineta zum Ende des dritten Aktes, wenn das Vineta-Projekt als ein psychologisch-medizinisches Täuschungsmanöver enttarnt ist und der Arzt und die Assistentin mit dem Verlassen der Villa performativ das Scheitern des Projektes erklärt haben (RV 221f.), seinen dramaturgischen Höhepunkt und dem ersten Anschein nach auch seinen tragikomischen Schluss erreicht. Doch die vier verbleibenden Städteplaner nehmen die Enttäuschung nicht zum Anlass, das „‚sinkende Schiff ‘ […], als das die schließlich zerfallende Villa in ihrer zivilisatorischen Abgeschiedenheit allegorisch immer wieder erscheint“36, zu verlassen und damit die simulierte Arbeitswelt aufzugeben. Der vierte Akt zeigt, in der Art einer Coda37, die unumkehrbare wahnhafte Zuflucht der arbeitslosen Experten zu den Plänen von Vineta. Die Workaholics kommen bei einem gemeinsamen Cappuccino38 und in einer großen Versöhnungsszene (RV 227) zu vereinten Kräften, mit denen sie dem doppelten Verlust ihrer Arbeit trotzen und die Projektrealität als die für sie einzig verbindliche restituieren. Je deutlicher sich der Verfall an

36 Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 156. 37 Vgl. Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 160. 38 Das Kaffeetrinken als eine kommunikative und Gemeinschaft befördernde Aktivität wird auch in Rinkes Arbeitslosendrama Café Umberto zu einem Leitmotiv. (Vgl. Moritz Rinke: Café Umberto. Szenen, mit einem Vorwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 21-156.) Helga Manthey, die zu Emotionen und Management forscht, weist auf die „Inszenierung einer ‚Kaffeekultur‘“ im Kontext von Arbeitsbeziehungen hin: Als „unternehmenskulturelle“ Aktivität diene das Kaffeetrinken dazu, „Enstpannung mit (auf Arbeit bezogene) Anregung, Freizeit mit Arbeit sowie Privatsphäre mit Beruf zu verbinden und auch zu ‚versöhnen‘“ (Helga Manthey: Menschliche Organisationen und verorganisierte Menschen. Zur Emotionalisierung von Arbeitsbeziehungen, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 109-133, S. 117.) Mit dem repetitiven Akt des Kaffeetrinkens zitiert Rinke mithin eine Strategie der Entgrenzung von Privat- und Arbeitswelt.

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der Architektur der Villa (RV 230, 232, 234) und an den Körpern einzelner noch Anwesender (RV 225, 227, 230, 234) ablesen lässt, desto mehr steigern sich die Ideen für die Inselstadt und das Verhalten der Figuren ins Rauschhafte. Die Euphorie über eine zukünftige Welt kulminiert im Tanz zur Musik der Beatles und in einer Vergemeinschaftung, die nicht mehr wie noch im Flötenspiel regulierenden Anweisungen folgt. Das Spiel, das nun im Zeichen des Wahnsinns und damit einer der Wirklichkeit entrückten Ordnung steht, trägt dionysische Züge und drängt die formgebende, dialogische Ordnung zurück, die nur noch „sinngemäß“ und auf Zuruf eingehalten wird: Färber im Sessel schwingt zeichnend seinen Bleistift im Takt. Montag tanzt die Treppe herunter auf Behrens zu. Born geht die Treppe rauf und ab. Färber wirft beschwingt eine fertige Zeichnung in die Luft. Montag und Behrens werfen ihre Jacken weg und tanzen. FÄRBER: (ruft sinngemäß) Die werden sich noch alle wundern! Alle werden die tanzen! Im Tanzsaal! Im Club! Hier! (Wirft die Zeichnung in die Luft) Montag?! MONTAG: (ruft auch sinngemäß) Behrens! Die Beatles! BEHRENS: (ruft) Montag! Die werden alle tanzen! MONTAG: Behrens! Die ganze Welt wird tanzen! – Färber?! Sie haben Recht! Das Leben, das ist heller geworden! – Ja! Kommen Sie! (Tanzt auf Färber zu) – Ich nehme Ihre Hand, mein Freund! – Kommen Sie! – (Streckt ihm die Hände entgegen) Ein Schuss. (RV 233f.)

Einhalt geboten wird dem beinahe orgiastischen Zustand durch den Einsatz eines Requisits, das, in der Dramaturgie des Theatertextes leitmotivisch eingesetzt, die Rivalität der um die besten Ideen und die einzige Frau im Team konkurrierenden Experten symbolisiert: die Pistole Napoleons. Der Schuss, mit dem der gescheiterte Aufrührer Born seinen Widersacher Montag tödlich trifft, löst eine melancholische Stille aus und leitet das poetisch verklärte endgültige Theatertextende ein. Nach einem stummen Spiel, bei dem Montag tot zusammenbricht, Born abgeht und Färber zeichnend und im Sessel sitzend zurückbleibt, spricht der passionierte Redner Behrens, der bereits mehrmals in sein Zimmer abgegangen und zurückgekommen ist, die letzten Worte des Stücks: „Meine Damen und Herren, liebe Beatles …“ (RV 234) Bezeichnenderweise schließt die Figurenrede mit Worten, die eine An-

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sprache eröffnen und im Austin’schen Sinne performativen Charakter besitzen. Da niemand außer Färber noch sein Zuhörer sein kann, lässt sich in der Figurenrede auch eine potenzielle Ansprache ad spectatores erkennen, die konventionell der Grenzüberschreitung von Theaterspiel und Wirklichkeit dient. Das Schlussbild von Republik Vineta präsentiert kein komödientypisches Happy End, doch entbehrt auch der vierte Akt nicht komischer Züge. Dass die Figuren in der Misere ausharren, die das doppelte Scheitern bedeutet, und sie nach der Täuschung durch andere die Selbsttäuschung wählen, indem sie das als Fiktion ausgewiesene Arbeitsprojekt fortsetzen, kann als unverständliches, gar als wahnhaftes Verhalten distanziert und derart beim Rezipienten zum Objekt des Lachens werden.39 Einem solchermaßen befreienden Auflachen kann jedoch zugleich die Wahrnehmung von Parallelitäten zwischen der als Spiel-im-Spiel inszenierten und einer realen Arbeitswelt entgegenstehen. Diese Ambivalenz des Komischen kommt noch einmal in nuce durch die Schlusspointe zur Geltung, wenn der geschwächte Architekt Färber in den Ruinen der Villa zurückbleibt und weiter „in seinem Sessel [sitzt] und zeichnet“, während „[e]s schneit und schneit“ (RV 235). Dass sein Tun den Versuch der Selbstrettung bedeutet und zugleich nichts weniger dient als eben dieser, darin besteht das Paradoxon, auf das auch die Spiel-imSpiel-Dramaturgie gründet. Ersichtlich wird das kritische Potenzial des Rinke’schen Theatertextes, das der Kritiker Peter Iden – mit Bezug auf Friedrich Dürrenmatt, dessen Komödie Die Physiker sich mit Rinkes Republik Vineta assoziieren lässt40 – wie folgt beschreibt: […] [E]s geht in dem geschlossenen System nur eingebildeter Herausforderungen so realistisch zu wie in der Praxis außerhalb: die gleichen Rivalitäten, Intrigen, Führungskämpfe. Rinkes Stück ist eine Spiegelung wahnhafter Zustän-

39 Bergson führt aus: „Der Komik liegt eine Versteifung zugrunde, die bewirkt, daß jemand stur seinen Weg verfolgt, auf niemanden hört und nichts hören will. […] Der Eigensinnige bringt es fertig, die Dinge seiner Vorstellung unterzuordnen, statt daß er seine Vorstellung nach den Dingen richtet. Jede komische Gestalt bewegt sich also auf dem schon beschriebenen Weg der Täuschung, und Don Quijote ist der Prototyp der komischen Absurdität.“ (Bergson: Das Lachen, S. 118.) 40 Auf Parallelen zu Dürrenmatts Dramatik und dramentheoretischen Überlegungen verweist Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 156 u. S. 158.

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de als Realität – aber ebenso eine kritische Reflexion realistischer Verhältnisse als Wahn. Wo läuft die Trennlinie zwischen dem Virtuellen und dem Wirklichen? Wieviel ist schließlich immer Einbildung an der Bedeutung der Funktionen, die einer wahrnimmt? Was ist geworden aus der Utopie und wie leben wir in diesem Gemenge? Das sind hier die Fragen. Sie entziehen die Komödie dem bloß Scherzhaften, als das sich das Treiben der Planungsgruppe bald darstellt. Der Witz ist, dass wir alle gemeint sind und jederzeit mitspielen. Seit Dürrenmatt hat keiner so wie Rinke die Farce als Wahrheit und die Wahrheit als Farce erfasst – und das Theater verstanden als das Medium, in dem die Illusion und deren Widerruf einander ständig bedingen.41

Es ist die letztgenannte Kippfigur von Fiktion und Wirklichkeit, die spielerische Konfrontation der beiden Zustände, die Rinkes Theatertext seinen durch die Wahl zum Stück des Jahres dokumentierten Reiz gibt – mag sie auch im Hinblick auf eine Poetik des Theatertextes in den Worten Peter Michalziks „etwas Schlichtes“ haben, insofern erst „die Wirklichkeit in Gänze“ aufgehoben und „sofort eine andere Wirklichkeit als die verbindliche“ etabliert wird.42 Die Wirklichkeit, die Rinkes Republik Vineta mit Mitteln des Komischen, wie dargelegt, ins Auge fasst, definiert sich über die Dichotomie von Arbeit und Arbeitslosigkeit, die als Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit, zwischen Wahnsinn und Normalität verhandelt wird. Der Theatertext steht in dieser Verknüpfung von Arbeit/Arbeitslosigkeit und Wahnsinn/Normalität Albert Ostermaiers Monologdrama Erreger und Kathrin Rögglas Stück Wir schlafen nicht nahe. Im Unterschied zu diesen Texten jedoch folgt die Gratwanderung zwischen Wahn und Wirklichkeit, die Republik Vineta vorstellt, tendenziell einer Linie, die nicht auf ein Moment von Introversion zuläuft, sondern vielmehr auf ein Moment von Extroversion zielt. Bei Rinkes Darstellung der Arbeitswelt ließe sich auch auf ein Begriffspaar von Gilles Deleuze und Félix Guattari43 zurückgreifen und von einem Vor-

41 Peter Iden: Die Wirklichkeit ist auch nur ein Wahn. Moritz Rinkes „Republik Vineta“ in der Uraufführung Stephan Kimmigs am Thalia-Theater, in: Frankfurter Rundschau, 25. September 2000, S. 11. 42 Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. 2008, S. 34. 43 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, aus dem Französischen übers. v. Gabriele Ricke und Roland Voullié, 5. Aufl., Berlin 2002 [1997], bes. S. 663-669 (Das Modell des

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herrschen des ,gekerbten Raumes‘ sprechen, der im Unterschied zum ,glatten Raum‘ – und in stetiger Wechselbeziehung und Überlagerung mit diesem – ein Raum der Extension, der Maßeinheiten und der optischen Wahrnehmung ist, wobei die Stadt „der eingekerbte Raum par excellence“44 ist. In der Besiedlung einer brachliegenden Landfläche auf einer Insel, in der kulturellen Erschließung eines neuen städtischen Lebensraums und mithin in dem Aufbau eines neuen Gemeinwesens besteht, neben der Funktion der Simulation, die grundlegende Idee des Vineta-Projektes, das unter Anleitung von Experten umgesetzt wird, deren Ausrüstung sich aus Zahlen, Statistiken, Zeitplänen und Karten zusammensetzt. Dabei kontrastiert die raumgreifende Bewegung der Planungen und Projektschritte für Vineta mit der Enge und Geschlossenheit des Ortes, an dem der Planungsstab seiner Arbeit nachgeht. Diese räumlichen Polaritäten von Weite/Enge und Ferne/Nähe prägen die Ästhetik des Spiels-im-Spiel, insofern, als dass sich dieses zentral über die Distanzen zwischen der Villa bei Gotha, den Heimatorten ihrer Bewohner und der Insel etabliert. Die räumlichen Kontrastierungen vervielfachen, verstärken und verwischen zudem die Dualismen, die die Darstellung der Protagonisten in der Situation der Projektarbeit durchziehen. Diesen Zusammenhang detailliert auszuführen, ist Gegenstand des Folgenden. 5.1.2 Auserwählte Führungskräfte Wie der Theaterkritiker Georg Diez anlässlich der Uraufführung von Republik Vineta beobachtet, sind Rinkes Stücke „meistens bevölkert von solchen sanften Widerständlern, Weltentwerfern, Wohlfühlmenschen: Freigänger einer anderen Realität, Visionäre einer besseren Wirklichkeit. Utopisten, Phantasten, Unverstandene“45. In der „Globalisierungsfarce“, wie der Rezensent Republik Vineta tituliert, treten sie in der Gestalt ausgemusterter Führungskräfte in Erscheinung. Dabei

Meeres). Dabei geht es Deleuze und Guattari nicht um den „einfache[n] Gegensatz ‚glatt-gekerbt‘“, sondern um die „dissymmetrische[n] Bewegungen“, die sich mit dem Begriffspaar beschreiben lassen. 44 Deleuze, Guattari: Tausend Plateaus, S. 667. 45 Georg Diez: Kalt ist das Abendland. Thalia Theater I: Stephan Kimmig inszeniert die Uraufführung von Moritz Rinkes Globalisierungsfarce „Republik Vineta“, in: Süddeutsche Zeitung, 25. September 2000, S. 18.

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kommt es zu der Ambivalenz, dass die Figuren als ehemalige Führungskräfte Repräsentanten einer elitären Personengruppe mit überdurchschnittlich hohem symbolischem Kapital darstellen, wohingegen sie als Arbeitslose Teil einer breiten Masse mit geringem ökonomischem Kapital sind. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung, auf deren Basis der Theatertext die Spiel-im-Spiel-Struktur etabliert, ist es sowohl aus figurenpsychologischer als auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive relevant, ob eine Führungskraft in ihrer Berufsausübung, beispielsweise als Projektmanager oder Politiker, oder aber ob eine arbeitslose Führungskraft die Vision einer idealen Stadt der Zukunft verfolgt: In ersterem Fall überwiegen eher positive, in letzterem Fall eher negative Konnotationen bezüglich der Realisierbarkeit. Innerhalb der simulierten Arbeitswelt stellt sich das Vineta-Projekt als ambitioniertes „Jahrtausendprojekt“ (RV 163) ehrgeiziger Spitzenkräfte dar. Wird das Projekt allerdings unter dem Vorzeichen einer Realität nach der Berufstätigkeit besehen, so treten die illusorischen und wahnhaften Züge des Unternehmens sowie die Besessenheit und Erfolgssucht der Akteure in den Vordergrund. Mit der Kreuzung beider Dimensionen des Vineta-Projektes – also Arbeitsrealität und therapeutische Maßnahme, Genialität und Wahnsinn – berührt der Theatertext Republik Vineta einen neuralgischen Punkt des Arbeitsdiskurses um die Jahrtausendwende, der Verausgabung zugleich als Leistungsprinzip und als Krankheitszustand (Burnout) verhandelt, dies vielfach orientiert an der Differenzierung von Old und New Economy.46 Als Repräsentanten der zeitgenössischen Arbeitswelt – der Paratext gibt als Zeit des Geschehens „heute“ an (RV 154) – wählt Rinke nicht wie bisweilen verallgemeinernd behauptet Manager47, sondern, wie in der Figurenrede explizit aufgeführt, Spezialisten aus verschiedenen Arbeitsfeldern mit zum Teil „leitender Funktion“ oder aber mit einem hohen Grad an Reputation: „Sebastian Färber von Scheffel & Partner, einem der größten Architekturbüros in Berlin“, „Hans Montag, Leiter der Zentralstelle Internationale Arbeitsvermittlung, Nürn-

46 Vgl. Manfred Modaschl, Gerd-Günter Voß: „Reportagen aus der subjektivierten Arbeitswelt“, in: Manfred Modaschl, Gerd-Günter Voß (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, 2. Aufl., München, Mering 2003 [2002] (Arbeit, Innovation und Nachhaltigkeit, 2), S. 295-335. 47 Vgl. Wilczek: Über den utopischen Grundzug in den Theaterstücken Rinkes, S. 72.

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berg“, „Fritz Feldmann-See, Leitender Kapitän der Reederei Lloyd Frachtverkehr, Hamburg“, „Johann Behrens, Bürgermeister der Stadt Weinheim“, „Lutz Born, Ingenieur der Benn-Bau-Gruppe Berlin“, „Klaus Hagemann von Kaufmann Consulting Art, Projektmanagement Düsseldorf“ (RV 171), der auch bereits einmal „General Motors beraten“ hat (RV 168). Es ist im hier gegebenen Rahmen der Analyse von Theatertexten zum Thema Arbeit wenig ertragreich, auch von einem Bürgermeister, einem Architekten oder einem Arzt (Leonhard) als einem Manager zu sprechen. Vielmehr ist gerade auf die Differenz hinzuweisen, um den inkludierenden Effekt des Projektes zu markieren: Innerhalb der simulierten Arbeitswelt und also vor dem Hintergrund der Projektstruktur48 wird jeder der Fachleute als eine unternehmerisch, nach den Prinzipien des Managements handelnde Führungskraft wahrnehmbar. Mit der Heterogenität der beruflichen Provenienz als Kontrastfolie markiert der Theatertext die alle Arbeitsbereiche durchdringende Qualität, die dem Diktum unternehmerischer Qualifikation beispielsweise in der Rede vom „unternehmerischen Selbst“49 zugeschrieben wird. Innerhalb des Großprojektes hat der Arzt Leonhard die Position des Projektmanagers und haben alle weiteren fünf Experten jeweils eine Teilprojektleitung inne. Als Projekt im Sinne des Projektmanagements ist die Arbeit des Theatertextpersonals klassifizierbar, insofern es sich um ein Vorhaben auf Zeit handelt, ein Ziel definiert ist, ein Projektstrukturplan existiert sowie Projektteile abgesteckt und einzelnen Verantwortlichen zugeordnet sind. Die Planungen werden in der Fachsprache des Projektmanagements dargelegt, wobei diese wiederholt, entweder implizit oder explizit, übersetzt und dabei in ihrer Verständlichkeit und Zweckorientiertheit reflektiert wird, insbesondere wenn Kürzel wie FA für Fehleranalyse (RV 156, 168), ZD für Zieldefinition, KM für Korrekturmaßnahme (RV 168) oder der parodistische Neologismus „PZ-AX-YZ-Technik“ (RV 176, wobei PZ für Pufferzeit steht) fallen. Zudem sind sogenannte Feedbackschleifen installiert, in-

48 Zum Projektmanagement vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/Main 2007, bes. S. 267-278; weiter auch Jürg Kuster u.a.: Handbuch Projektmanagement, 2. überarb. Aufl., Berlin, Heidelberg 2008 [2006]; sowie Markus Meier: Projektmanagement, Stuttgart 2007 (Handelsblatt Mittelstands-Bibliothek, 5). 49 Bröckling: Das unternehmerische Selbst.

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dem sich der Planungsstab in regelmäßigen Abständen zu Plenumssitzungen in einem „große[n] Raum“ der Villa, dem mit „Konferenztafel“ sowie einer „riesige[n] Pinnwand mit Plänen, Skizzen, Seekarten, Zahlen“ (RV 155) ausgestatteten Plenarsaal zu Meetings zusammenfindet. Dabei bemüht sich der Projektleiter um die Förderung der Gruppenbildung, mithin um die Herstellung von Teamgeist und einer Corporate Identity, indem er beispielsweise das Ritual des gemeinsamen Musizierens einführt (RV 173). Auf diese Weise finden die Routinen, die aufgrund des Status der Außerordentlichkeit des VinetaProjektes weniger gefragt sind als kreative und innovative Lösungswege, quasi durch die Hintertür wieder Einlass in den Arbeitsalltag: Sie werden in ein anderes, nämlich künstlerisches Medium transformiert und damit gezielt rehabilitiert. Dass es bei der Zusammenarbeit an dem Projekt nicht allein um den „Kampf der besten Ideen“ (RV 221) und um das, „was wir am Ende verkaufen wollen“ (RV 161), geht, sondern auch um die Etablierung eines „Vineta-Gefühl[s]“ (RV 162), wird anschaulich, wenn der Arbeitsvermittler Montag zum Beschluss des Begrünungskonzeptes an alle Teammitglieder Sonnenblumen verteilt (RV 162). Der Stärkung des Projektgeistes, der Förderung des Wir-Gefühls und der Herausforderung der Leistungs- und Leidensbereitschaft jedes Einzelnen sollen, nach Leonhards Auskunft, zudem die Abgeschiedenheit und auch der marode Zustand des Arbeitsumfeldes, der sich unter anderem darin zeigt, dass es bei Regen durch die Decke tropft, dienen: BEHRENS: (versucht zu lachen) Im Prinzip grotesk. Wir arbeiten hier an einem Jahrtausendprojekt. Die Fachpresse verfolgt uns demnächst auf Schritt und Tritt, aber hier müssen wir einen Eimer unterstellen, weil es … LEONHARD: Herr Behrens, solch ein Projektplanungsstab wie wir, ja?, der braucht einen abgeschiedenen Ort, wo man denken kann. Denken, Herr Behrens! So was können Sie nicht in irgendeinem Maritim-Hotel machen. BEHRENS: Natürlich, Herr Dr. Leonhard, das war ja auch keine Kritik, die Delta AG hat sich schließlich dabei etwas gedacht. – Ich bin heute Morgen mit Born durch die Sonnenblumenfelder gejoggt. Herrliche Gegend. Bergland mitten im Osten. Inspirierend! Hier könnte man sogar eine Kurstätte aufmachen. (RV 163f.)

Stehen der Verfallszustand der Villa auf der einen Seite und die Fortschrittlichkeit des Projektes auf der anderen Seite in deutlichem Kontrast zueinander, so beschreibt gerade diese Unangemessenheit den

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Ort, der in früherer Zeit tatsächlich „mal ein relativ bekanntes Sanatorium“ (RV 217) gewesen sein soll, als einen Ort jenseits einer leistungs- und gewinnorientierten Arbeit. Sowohl in der Stilisierung zum ‚akademischen Elfenbeinturm‘ als auch in der Exotisierung zum naturnahen Erholungsort „mitten im Osten“ kommt das Moment des Außerordentlichen, des Sich-außerhalb-der-Ordnung-Befindens zum Ausdruck, das als eine zentrale Kategorie der Darstellung der Arbeitswelt in Republik Vineta gelten kann. Der Status des Außergewöhnlichen wird dem Handlungsort zugesprochen, indem seine vermeintlich nachteiligen Eigenschaften zu positiven Distinktionsmerkmalen umgedeutet werden: Sowohl seine empirische Beschaffenheit – in den Augen der ehemaligen Bewohnerinnen, Rosa und Rosana Seligmann, ist die Villa zu einer „Bruchbude“ verkommen (RV 212) – als auch seine geographische Lage – von Gotha liegt er „nur noch ein halbes Stündchen mit dem Taxi“ entfernt (RV 157) – qualifizieren ihn für das elitäre Projekt, das noch nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen soll. Um die Bedeutsamkeit des Ortes hervorzuheben, wird zudem sein (kunst-)historisch gewichtiges Interieur in Anschlag gebracht: eine klassizistische Marmortreppe (RV 158), ein Kaminsessel, in dem Napoleon 1812 sein „Konzept für die Russlandinvasion“ erarbeitet hat (RV 157) sowie ein in die Wand eingemauerter „Tischbein“ (RV 212). Die Arbeit an dem Projekt einer Stadt der Zukunft soll mithin von der Aura der stummen Zeugen einer längst vergangenen Zeit, von der Atmosphäre des (vermeintlich) historisch „bedeutende[n] Ort[es]“ (RV 157) geadelt werden. Von dieser atmosphärischen Liaison der Zeiten zeugt die Aussage des Bürgermeisters Behrens, der gegen den Wunsch seiner Frau, doch „lieber nach Hause zu kommen“ (RV 165), vorbringt: „Es ist eine Sondermission. Wenn ich wiederkomme, Schatzi, bin ich Geschichte!“ (RV 166) Das Moment des Außergewöhnlichen, das dem Ort und dem Arbeitsauftrag anhaftet, gibt auch Anlass für eine mystifizierende Lesart, die bei Frau Feldmann-See dominiert, wenn sie von einem „Geheimstandort“ (RV 201) spricht. Bemerkenswert ist, dass es gerade die betonte Überdeterminiertheit des Ortes ist, die den Kollaps des Vineta-Projektes mitherbeiführt: Frau FeldmannSee wird der Verbleib ihres Mannes unheimlich (RV 200, 217) und das Geschwisterpaar Rosa und Rosana Seligmann suchen die letzten Schätze der Villa, allem voran den Tischbein und die Treppe, vor dem endgültigen Ruin sicherzustellen (RV 212, 229). Das Scheitern der therapeutischen Versuchsanordnung und damit die Entdeckung des

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Spiels-im-Spiel lässt sich auch daran ablesen, dass die Vielheit der Räume am selben Ort50 zuletzt auf einen verbleibenden Raum reduziert wird: eine baufällige Villa, die als eine Art Kurort diente und deren Kaufwert mit den „volle[n] Pflegesätze[n]“ für „16 Wochen“ in einem rentablen Verhältnis steht (RV 217). Ihrer „Berufung“ (RV 157) folgen die auserwählten Spitzenkräfte jedoch nicht allein aus idealistischen Motiven oder Gründen der Eitelkeit. Auch die monetäre Honorierung ihres Einsatzes durch „satte Prämien von der Delta AG“ (RV 166) setzt den Anreiz, seinen alten Arbeitsplatz zu verlassen und einer Vertretung anzuvertrauen – was für einige eine Überwindung bedeutet, die im Fall des Arbeitsvermittlers Montag Albträume hervorruft: MONTAG: Manchmal, wenn wir nicht so gut vorangekommen sind, dann liege ich im Bett und denke: Was hättest du heute in deinem Referat alles erledigen können? Wissen Sie, hier [im Laptop, C.B.], da habe ich sie alle drin: Siebzehntausendachthundertundsieben! Ich kann sie mit nach Hause nehmen, ich kann mit ihnen auf die Reise gehen, aber seit ich hier bin, laufen mir nachts Gestalten hinterher. Gestalten, die keine Augen haben, keine Münder, nicht einmal Nasen, Herr Hagemann, nur weiße Flächen, die können aber trotzdem sprechen: „Montag! Da stapeln sich unsere Anträge auf Ihrem Tisch! Wie lange sollen wir denn hier noch …“ […] MONTAG: (steht aufgeregt auf dem Baumstumpf) Ich lasse mir sofort im Traum einen Kaffee bringen und sichte das Material: Gross nach Garbmann, Garbmann vor Grossmann, ich erstelle die neuen Bewerberprofile, aber plötzlich geht die Tür auf: Krüger kommt rein. Zieht den Stecker aus der Dose. Schraubt die Tastatur ab und rennt mit meiner Festplatte den Korridor entlang … […] MONTAG: (noch aufgeregter) Ich laufe hinterher. Krüger biegt ab in den neuen Kundenbereich. Ich biege auch ab, und schon sehe ich, wie Krüger meine Festplatte auf den Tisch von Lorenz stellt und sagt: „Als Erstes, Herr Lorenz, neh-

50 Aus Sicht eines relationalen Raumbegriffs können an ein und demselben Ort verschiedene Räume entstehen, beispielsweise abhängig von Personengruppen; vgl. hierzu Martina Löw: Raumsoziologie, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2005 [2001], bes. S. 254-262 (Exemplarische Analysen: Städtische Räume).

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men Sie jetzt mal Herrn Montag in Ihre Kartei auf! Montag vor Müller und nach Meier!“ (Er schließt die Augen.) (RV 186f.).

Fungiert diese Erzählung in der Dramaturgie des Theatertextes als Vorausdeutung auf die tatsächlich eingetretene Arbeitslosigkeit, so thematisiert sie auf der Ebene der Figurenpsychologie den Zustand eines Workaholics, der sich bei keiner oder nicht erfolgreich verlaufender Arbeit in Entzugserscheinungen, hier Albträumen, äußert. Montags Traum verweist auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Erfolgs- und Konkurrenzdruck einerseits und der Annahme, an allen Orten und zu jeder Zeit über die eigene Arbeit verfügen zu können, andererseits. Der Verlust der Verfügungsmacht über Arbeitsbiographien, der in dem Traum technologisch codiert ist, lässt die Abhängigkeiten, in denen die eigene Arbeitssituation steht, sichtbar werden. Pointiert zeigen sich in der Traumsequenz die beiden Seiten der Inklusion in den Arbeitsdiskurs insofern, als dass ein und dieselbe Person als Subjekt – im Fall von Montag: als Datenverwalter – und als Objekt – als Datenmaterial – in Arbeitsprozesse involviert sein kann, wobei die Grenzen fließende sind. Mittels der Traum-Erzählung im Partiellen und der Spiel-im-SpielStruktur im Ganzen des Theatertextes hinterfragt Republik Vineta die Beziehung des Einzelnen zu seiner Arbeit, wobei sich die Momente des Krankhaften als eine zentrale Kategorie herausbilden. Die Besessenheit des Projektpersonals von seiner Arbeit wird in einer Reihe von Szenen augenfällig, die das körperliche Selbstverhältnis der Protagonisten reflektieren. In Form komischer Intermezzi beispielsweise wird die unerwartet aufwändige Beschaffung von Kaffee, einem gemeinhin alltäglichen Aufputschmittel, thematisiert – und zwar in solchen Situationen, in denen es gleichzeitig der Konzentration auf die Arbeit und der atmosphärischen Entspannung im Team bedarf (RV 168-170, 224). Weniger unter dem Vorzeichen der Normalität wie beim Kaffeekonsum steht die Einnahme von „Pillen“, was sich im Theatertext daran zeigt, dass sie ein Verbot darstellt: Der Projektmanager Hagemann konsumiert wiederholt Pillen (RV 169, 175) bis Leonhard sie ihm „beiläufig“, ohne ein Wort zu verlieren, wegnimmt (RV 176). Einem Tabu scheint darüber hinaus das Eingeständnis körperlicher Schwäche zu unterliegen, wie der Widerspruch zwischen dem offensichtlichen Leiden Färbers, der sich wiederholt „krümmt“ und „sein Herz [fasst]“, und dessen öffentlichem Abstreiten, „geht gleich wieder“, nahelegt

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(RV 177, 225, 230). Innerhalb der simulierten Arbeitswelt wird die den eigenen Körper betreffende Gesundheit in der Figurenrede nur marginal verhandelt, im Horizont des szenischen Spiels dagegen gewinnt sie in Form von handgreiflichen Auseinandersetzungen, zu denen sich die Konkurrenzkämpfe innerhalb der Gruppe von Männern zuspitzen, an äußerster Virulenz (RV 193f.). So selten die körperliche Befindlichkeit der Führungskräfte zum Gesprächsthema wird, so drastisch wird sie mit dem Gebrauch der napoleonischen Pistole (RV 198f., 220, 234) und der Spitzhacke (RV 220) performativ zur zum Teil lebensgefährlichen Disposition gestellt. Mit dem deutlichen Kontrast zwischen dem Abstrakten der planerischen Projektarbeit und der emotionalen Betroffenheit, die sich bis hin zu physischen Gewaltexzessen steigert, wird der Anspruch an Projekte hinterfragt, der historisch im Umfeld der New Economy formuliert wurde und systematisch etwa von Ulrich Bröckling wie folgt beschrieben wird: Projekte zeichnen sich demnach durch „ganzheitliche, den Einklang von Arbeit und Leben, von wirtschaftlichem Erfolg und persönlicher Entwicklung verheißende Rollenangebote“51 aus. Dass die Vermittlung zwischen privaten Bedürfnissen und arbeitsbedingten Interessen weder durch noch innerhalb von Projektarbeit zu leisten ist, führt der Theatertext vor allem aus zeitdiagnostischem Blickwinkel anspielungsreich vor Augen. Dabei rückt auch die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter unter den Vorzeichen der Projektarbeit und damit der neukapitalistisch geprägten Arbeitsformen ins Sichtfeld. Das Projektteam besteht in den leitenden Positionen, die mit maßgeblicher Entscheidungskompetenz und Verantwortung assoziiert werden, ausschließlich aus Männern; Rinke installiert den Planungsstab respektive die Therapiegruppe – anders als Urs Widmer in seinem Stück Top Dogs – als, in seinen Worten, „eine wirkliche Männer-IchAG“52. Alle auftretenden Frauenfiguren sind der eigentlichen Projektarbeit nachgeordnet, wobei dies außer bei der Assistentin Nina Seiler vor allem durch die räumliche Distanz zur Villa und in der Besetzung des Außenraums durch die Frauen markiert wird. Mit der Geschlossenheit der männlichen Gesellschaft korreliert mithin die Umkehrung der den Geschlechtscharakteren nach typischen Zuordnung der Frau zum Innen- und des Mannes zum Außenraum. Damit geht einher, dass

51 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 257. 52 Rinke, Denk, Hoggenmüller: Von süchtigen Männern, S. 109.

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die Villa nicht als Ort des Privaten, sondern als Arbeitsplatz genutzt wird. Die Assistentin nimmt bezüglich der räumlichen Dichotomie einen Zwitterstatus ein, sie fungiert als Grenzgängerin: NINA: [...] Leonhard wollte jemanden aus der Gegend haben, also jemanden, der sich unten im Dorf auskennt, wenn wir hier irgendetwas brauchen. Ich habe im Fotogeschäft gearbeitet, Schule hab ich geschmissen, aber ich war in Berlin, in Mitte, egal. Also vor drei Monaten kam Leonhard zu uns, um die Fotos von Vineta abzuholen. Ich habe gesagt: „Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nie eine so schöne Insel gesehen. Wohnen da eigentlich Menschen?“ Und dann hat er gesagt: „Können Sie Schreibmaschine schreiben und, wenn nötig, zwölf Dinge gleichzeitig tun?“ „Klar, kann ich“, habe ich gesagt. Dann hat er mich gleich mitgenommen. (RV 179)

Angetrieben von der Sehnsucht, „endlich in eine richtige Stadt“ zu ziehen (RV 179), folgt Nina Seiler der Werbung Leonhards, der ihre Rolle eindeutig durch eine dienende Funktion und All-Verfügbarkeit definiert. Die Assistentin wird zum Appendix des führenden Mannes: Er hat sie „gleich mitgenommen“. Vor dem Hintergrund seiner therapeutischen Ambitionen legt der projektleitende Arzt Ninas Anwesenheit in der Villa zudem darauf fest, dass sie die „Aktivierung des Nahraums […], also der Privatgefühle“ (RV 215) zum Zweck hat. Die Funktionalisierung der Frau als soziale Vermittlerin und als Objekt sexueller Begierden tritt damit als zentrales Konstituens von intakten, das ist Erfolg versprechenden Arbeitsstrukturen und Arbeitsprozessen in Erscheinung. Dass die Stimulation und gezielte Kontrolle von Emotionen bei den Führungskräften den Übergang von der Sphäre der Arbeit in den Bereich des Häuslich-Privaten vorbereiten soll, konterkarieren die Rivalitäten zwischen den männlichen Adressaten der kollektivistisch angelegten Therapieform, insofern sich diese nicht allein an der Frage des Erfolgs, sondern auch im Kampf um die Gunst der einzigen Frau im Projektteam entzünden. Komödienkonform entwickeln sich Gerüchte (RV 166) und Gegnerschaften, die in dem Versuch einer Vergewaltigung (RV 197f.) und einer Art Duell der Konkurrenten (RV 199) kulminiert. Wenn der leonhardtreue Montag die Pistole auf den Aufrührer Born richtet, der sich auf der Marmortreppe unzweideutig Nina genähert hat, und verkündet: „Nicht wegen einer Frau knall ich Sie jetzt ab, sondern wegen der neuen Welt! Hab ich ja schon gesagt. (Zielt auf Borns Herz) – Ich werde Sie jetzt mit einem

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Schusseisen von Napoleon niederstrecken!“ (RV 199) – was er jedoch nicht tut –, so wird die grundsätzlich ambivalente Codiertheit von Konkurrenz als Geschlechter- und Karrierekonkurrenz auch und gerade im Feld der Arbeit evident. Montag und Born sind nicht nur konkurrierende Arbeitskollegen, sondern auch Rivalen um die Gunst einer Frau. Als eine zentrale Voraussetzung der Teilhabe an Arbeit verhandelt der Theatertext Republik Vineta die Verpflichtung zum Erfolg, die es um jeden Preis zu erfüllen gilt. Angetrieben von der Angst vor dem Scheitern, das Richard Sennett als „das große moderne Tabu“53 bezeichnet, gehen die Führungskräfte komödienwirksam über Leichen. Bezeichnenderweise ist es ein Architekt, der sich der sogenannten „‚Gegenmoderne‘“ verschrieben hat. Bei der Betrachtung der klassizistischen Marmortreppe werden ihm die – den Begriff der ‚Karriereleiter‘ konnotierenden – Worte in den Mund gelegt, die allegorisch die zentrale Frage des Theatertextes nach den Bedingungen und Folgen eines Primats der Arbeit fassen: „Wenn ich aber heute neue Gebäude betrete, dann stehe ich keinen Treppen mehr gegenüber, sondern, ich würde sagen: Leitern! Weil, die Schrittlänge, die geht ja praktisch gegen null, also senkrecht. Natürlich kommen Sie mit so einer Konstruktion im Prinzip früher nach oben. Aber wie?!“ (RV 158) Der Architekt fragt nach der Verhältnismäßigkeit von Effizienz und Lebensweise. Die in Rinkes Theatertext versammelten Protagonisten, die sich mit Haut und Haar ihrer Arbeit verschrieben haben, verausgaben sich an einem Projekt, das einen Ort jenseits der Arbeit erschaffen soll und das als solches zwischen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Interessen und Bedürfnissen zu vermitteln hat. In dem Vineta-Projekt figurieren die Fachleute als „Baumeister des Sozialen“54, als Architekten und Konstrukteure eines idealen Gemeinwesens. Wie der Name des Projektes verspricht, soll dieses seinen Platz auf einer Insel finden.

53 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 7. Aufl., Berlin 2000 [1998], S. 159. 54 Keupp prägt den Ausdruck in Bezug auf die Organisation des eigenen Lebens. (Vgl. Heiner Keupp: Ambivalenzen postmoderner Identität, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1994], S. 336-352, S. 342-348.)

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5.1.3 Vineta – Insel und Projekt Der Theatertext Republik Vineta stellt den Mythos der versunkenen Inselstadt als Intertext in Rechnung, indem er dessen sozialutopischen Entwurf einer besseren Welt mit dem freizeitökonomischen Projekt der Besiedlung einer Insel verschränkt, auf der man „Ferien machen“ und „auch leben können soll“ (RV 179). Republik Vineta diskutiert mithin wie die sozialwissenschaftliche Forschung die Freizeitwirtschaft als „Leitökonomie der Zukunft“55. In der theaterästhetischen Darstellung wird die Affinität von Utopie und Projekt, die sich in der Ausrichtung auf ein zukünftiges Ziel begründet, über den Topos der Insel vermittelt, der den Aspekt der Begrenztheit akzentuiert: „Der limitierte Raum der Insel verheißt die Möglichkeit, komplexe Phänomene zu isolieren, überschaubar und beherrschbar zu machen. Die Insel erscheint als ideales Experimentierfeld“, so hält Christian Moser mit Blick auf die Tradition von Gesellschaftsutopien von Thomas Morus bis Aldous Huxley fest.56 Dabei verweist Moser darauf, dass sich „[d]ie Vorstellung der insularen Begrenztheit […] als ein kulturelles Konstrukt erweist“, denn bei der Insel als abgeschlossene Einheit handele es sich zwar um die im okzidentalen Diskurs favorisierte, keineswegs aber einzige Konzeption des Insularen; einen Gegenpol bilde die „Figuration der offenen, beweglichen und hybriden Insel“57. Ebenso wie die Idee der Geschlossenheit und der Isolation prägt auch die Vorstellung der Vernetzung, beispielsweise im Fall von Archipelen, die kulturelle Begegnung mit dem Insularen. Diese Dualität von Limitierung und Entgrenzung akzentuiert der Rinke’sche Theatertext in seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Arbeitswelt, wenn er die

55 Vgl. Horst W. Opaschowski (Hg.): Freizeitwirtschaft – die Leitökonomie der Zukunft, Hamburg 2006 (Zukunft, Bildung, Lebensqualität, 2). 56 Christian Moser: Archipele der Erinnerung. Die Insel als Topos der Kulturisation, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien, 27), S. 408-432, S. 410. 57 Moser: Archipele der Erinnerung, S. 413. Als Beispiele der Insel als „schwankendes Gebilde“, „ohne stabile Form und ohne festen Ort“ verweist Moser auf Vorstellungen aus der Antike bis zur Frühen Neuzeit, unter anderem bei Homer, Ovid und C. Plinius Secundus (Moser: Archipele der Erinnerung, S. 412).

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Insel zum Gegenstand einer Projektarbeit macht und das durchführende Projektteam selbst an einem inselähnlichen Ort lokalisiert. Konstitutiv für die Aufgabenbewältigung innerhalb des VinetaProjektes ist die Überwindung räumlicher Distanzen. Inhaltlich problematisiert werden diese, wenn die Figuren reflektieren, dass sie nicht „vor Ort“ – die Phrase durchzieht leitmotivisch die Planungsgespräche (RV 160, 162, 168, 171 u.a.) – agieren, sondern lediglich „Anweisungen von hier“ geben können (RV 168) und demzufolge keinen unmittelbaren Zugriff auf das Geschehen auf der Insel haben. Alle Informationen werden durch den Projektleiter Leonhard selektiert, der den Kontakt zur sozialen Außenwelt kontrolliert. Die steuernde Funktion des Projektleiters wird in der Teamkonstellation in Republik Vineta vor allem in Bezug auf die Informationsvergabe und den Einsatz von Kommunikationstechniken evident. Leonhard verfügt über den Gebrauch von Telefonen, Fax- und Funkgeräten (RV 176), wobei die Vermitteltheit des Zugangs zu Kommunikationskanälen an theatraler Präsenz gewinnt, wenn die Assistentin wiederkehrend den „Hörer“ bringt, überreicht und wegträgt (RV 174, 177, 219). Die Isolierung des Projektteams – dieses erhält den Charakter einer Sartre’schen ‚Huis clos‘ – wird jedoch nicht allein als Resultat machtstrategischen Handelns vorgeführt, sondern erscheint auch als technisch begründet: BEHRENS: Gestern war das Zentraltelefon schon wieder den ganzen Tag abgeschlossen. Dem Hagemann hat er jetzt das dritte Mobiltelefon auch noch weggenommen. Das war sein letztes. Ich weiß ja nicht, was der für Frequenzen hatte, aber ich lebe hier sowieso im totalen Funkloch. Meins ist im Schuhschrank versteckt. Ich versuche seit Tagen, nach Weinheim zu telefonieren, bei offenem Fenster, oben auf dem Dachboden, aber ich habe überhaupt keinen Empfang. (RV 164f.)

Der Hinweis auf das „Funkloch“ potenziert das Moment des – je nach Perspektive – Ein- beziehungsweise Ausschlusses, das die geographisch entlegene Standortposition des Planungsstabes kennzeichnet. Zu der räumlichen tritt eine kommunikationstechnische Separierung des Projektteams, die komödisch effektvoll auch mit dem Erscheinen der Frau Feldmann-See, einer Repräsentantin der abgeschotteten Außenwelt, in Szene gesetzt wird. Um ihren Ehemann, den Kapitän, von der zweifelhaften Seriosität des Vineta-Projektes zu überzeugen, will sie das den vermeintlich höchsten Authentizitätsgrad garantieren-

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de Medium des Films nutzen. Dabei kommt es bezeichnenderweise darauf an zu belegen, dass sie sich zeitgleich mit einem vermeintlich gesunkenen Schiff an einem bestimmten Ort aufgehalten hat. Im Zuge der Inbetriebnahme des eigens mitgebrachten „Filmvorführgerätes“ wird Frau Feldmann-See jedoch mit technischen Hindernissen konfrontiert: „Wo ist denn hier die Steckdose? Läuft mit der Schnur umher“ (RV 211). Buchstäblich soll die „Schnur“ die beiden Wirklichkeiten des Projektes miteinander verbinden. Wenn der Projektleiter die Vernetzung mit physischem Einsatz unterbindet, indem er „den Stecker raus[zieht]“ (RV 213), zeigt sich, so lässt sich deuten, welches Machtpotenzial der medialen und sozialen Vernetzung im Hinblick auf die Deutung und Verfügbarkeit von Wirklichkeit zukommt. Dieser Konnex offenbart sich auch in einer weiteren Szene, in der ein „leuchtendes Notebook“ und ein „Handy“ zum gegenständlichen und körperlich umkämpften Zentrum des projektinternen Widerstands werden, insofern ihre Verkabelung den Informationsfluss in die projektexterne Öffentlichkeit lanciert und damit die Deutungshoheit über das Projekt verschiebt (RV 184, 192f.). Die in den genannten Szenen aufscheinenden krisenhaften Momente thematisieren die Brisanz kommunikativer Vernetzung, die eine tragende Säule globaler und flexibler Arbeitsund Organisationsstrukturen bildet: Bezeichnenderweise das Bild der Insel bemühend hält Sennett diesbezüglich fest: „Der Archipel ist ein treffendes Bild für die Kommunikation innerhalb von Netzwerken, eine Kommunikation wie die Reise zwischen Inseln – aber dank der modernen Technologie mit Lichtgeschwindigkeit.“58 Die Irritationen und Störungen, die der Theatertext im Zusammenhang mit Medien und Kommunikationstechniken inszeniert – und in denen er mitunter auch sein komisches Potenzial begründet –, lenken die Aufmerksamkeit auf das Moment der Vernetzung, welches einen zentralen Aspekt von Projektarbeit darstellt. Im Anschluss an Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Studie Der neue Geist des Kapitalismus und die darin entwickelte These von der „projektbasierten Polis“59 lässt sich die Teilhabe an Netzwerken als Gradmesser dafür heranziehen, wie aktiv und damit auch wie erfolgreich der Einzelne im Feld

58 Sennett: Der flexible Mensch, S. 27. 59 Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen übers. v. Michael Tillmann, mit einem Nachwort v. Franz Schultheis, Konstanz 2006, bes. S. 147-210.

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der Arbeit und generell in seinem Leben agiert. Wer sich in einem an Projekten orientierten Gemeinwesen60 engagiert, der ist bestrebt, „dass man sich in Netze eingliedert und sie erkundet, um so seine Isolation zu durchbrechen und Chancen zu haben, persönliche Kontakte zu knüpfen bzw. sich mit Gegenstandsbereichen zu befassen, durch deren Verbindung sich ein Projekt anregen lässt“61. Die Mittlertätigkeit, die darin besteht, Kontakte herzustellen und Netze auszubilden, erlangt, nach Boltanski und Chiapello, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einen neuen Status, indem sie „identifiziert und als eigenständiger Wert anerkannt“ wird.62 In Rinkes Theatertext lautet die dementsprechende Diagnose: „‚Wir leben in einer Zeit der Totalfusion! Man kommt mit Leuten zusammen, die man früher nie getroffen hätte.‘“ (RV 178) An anderer Stelle werden die verkehrs- und kommunikationstechnische Dimension der sozial prägenden Netzstruktur mit folgenden, an Castells Diagnosen zur „Netzwerkgesellschaft“63 erinnernden Worten erläutert: „Straßen, Luftwege, Schienen, Pipelines und Kabel bilden das arterielle System unserer Gesellschaft. Klar. Da habe ich doch gar nichts dagegen! Fax, Computer, Internet, Fernsehen, okay, das müssen wir auch alles haben in der Akademie.“ (RV 226) Rinkes Republik Vineta spürt dem Zusammenhang der beiden für das zeitgenössische Verständnis von Arbeit zentralen Begriffe ‚Projekt‘64

60 Boltanski und Chiapello stellen heraus, dass „das Netz an sich […] nicht als Träger einer Polis dienen [kann]“. Das Verhältnis von Netz und Projekt beschreiben sie wie folgt: „Der Begriff ‚Projekt‘ kann – so wie er hier gefasst wurde – als eine Kompromissbildung zwischen Normen verstanden werden, die sich im Grunde antagonistisch zueinander verhalten: Auf der einen Seite den Erfordernissen, die sich aus der Netz-Konzeption ergeben, und auf der anderen Seite den Erfordernissen, Urteile zu fällen und legitime Ordnungen zu schaffen. Auf dem nahtlosen Netz-Geflecht beschreiben die Projekte nämlich unzählige, kleine Berechnungsräume, in denen Ordnungen erzeugt und legitimiert werden können.“ (Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 151.) 61 Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 156. 62 Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 153. 63 Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Stuttgart 2003. 64 Bröckling konstatiert: „’Projekt‘ erweist sich […] als ein Basiselement zeitgenössischer Gouvernementalität, Regieren als Projektmanagement im

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und ‚Netz‘65 nach, wobei sich die theatrale Inszenierung der Vernetzungsrhetorik in bedeutendem Maße über die Kommunikation von Raumentwürfen und über Strategien der Verräumlichung erschließt, die nicht ausschließlich, aber dominierend durch die diskursive Ortsbestimmung der Insel geprägt sind. Mit dem Topos der Insel werden aus okzidentaler Perspektive traditionell vor allem zwei Oppositionen verhandelt: zum einen diejenige zwischen „dem kontinentalen Festland und der randständigen Insel“, zum anderen diejenige „zwischen Land und Meer, zwischen dem Festen und dem Flüssigen, dem Formlosen und der klar definierten Gestalt“.66 In Szene gesetzt werden diese Polaritäten im vorliegenden Theatertext insbesondere anhand des Handlungsgeschehens, das um Fragen der Logistik und des Verkehrs kreist. Die zuständigen Teilprojektleiter problematisieren in dramaturgisch zu Krisen verdichteten Momenten die von unkalkulierbaren Naturereignissen abhängige Navigation der Transportschiffe, sie diskutieren den Bau eines Flughafens auf der Insel (RV 174) und sie entwickeln Visionen über zukünftige Verkehrswege: BEHRENS: […] Ich habe zum Beispiel schon mal nachgedacht über einen Tunnel. Stellen Sie sich vor: Wir bauen den größten europäischen Tunnel! Er verbindet Vineta mit dem Festland, wie Frankreich mit Großbritannien! Wir befördern die Menschen nicht nur im Luftraum. Wir befördern sie nicht nur auf dem Seeweg. Sondern, Herr Dr. Leonhard, unterirdisch, vor allem: Unterirdisch! Schauen Sie: Drei Ebenen der simultanen Beförderung: Erste Ebene: Luft. Zweite Ebene: Wasser. Dritte Ebene: … LEONHARD: Herr Behrens, ich spreche hier von der Gegenmoderne, und Sie kommen mir mit simultaner Beförderung. Auf Vineta steht noch nicht einmal ein einziges Verkehrsschild! (RV 161)

doppelten Sinn: governing projects und governing by projects zugleich.“ (Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 251f.) 65 Vgl. beispielsweise die Verwendung des Netz-Begriffs bei dem Soziologen Manuel Castells, dem dieser zur Beschreibung vielzähliger Veränderungen in kapitalistischen Ländern zum Ende des 20. Jahrhunderts dient. (Vgl. Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Stuttgart 2003.) 66 Moser: Archipele der Erinnerung, S. 408f.

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Bei dieser Tunnel-Vision handelt es sich um ein Verkehrsprojekt mit vergleichsweise wenig Innovationsgeist und Science-Fiction-Potenzial, insbesondere wenn ein Seitenblick auf verwandte literarische, raumrevolutionäre Entwürfe, etwa das Atlantik-Tunnel-Projekt in Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel67 (1913), fällt. Diese Einordnung legt nicht nur der explizite binnenfiktionale Verweis auf einen bereits bestehenden Tunnel nahe, der in dokumentarischer Manier zudem auf einen real existierenden Tunnel, nämlich den 1994 eröffneten Euro-Tunnel zwischen der Britischen Insel und dem französischen Festland rekurriert. Auch das Wissen darum, dass es sich bei dem Projektentwurf lediglich um eine Variation des für die Gemeinde Weinheim entwickelten und gescheiterten Bauprojektes handelt (RV 167f.), reduziert das Unternehmerisch-Visionäre der Idee auf die Momente des Dilettantischen und des Unangemessenen. Bei Behrens, der im Kreis der Teilprojektleiter den berufsmäßigen Politiker repräsentiert und sich selbst zum erfolgreichen Mediator par excellence stilisiert (RV 226), zeigt sich mithin ein Hang zum Provinziellen. Dies wird auch in seiner Herangehensweise anschaulich, die fern gelegene Insel aus der Perspektive des Heimatortes zu vermessen, und in seinem Plan, sie sich als eigenes politisches Wirkungsterrain zu erschließen: BEHRENS: […] In Weinheim werde ich in zwei Jahren alles erreicht haben, und dann müssen neue Herausforderungen her. […] Das heißt: Wenn Vineta steht, werde ich vor Ort sein, wenn man dann will. (Kommt unten [an der Treppe, C.B.] an) Kurz: Ich kandidiere! […] (RV 160) […] BEHRENS: Weinheim hat genau die Größe von Vineta! 50 Komma 8 Quadratkilometer! Ich meine das kann doch kein Zufall sein? […] (RV 161)

Die mit der realen Bezugsgröße einer deutschen Kleinstadt bestimmte Überschaubarkeit der Insel Vineta setzt dem utopischen Entwurf einer „neuen Welt“ geographische Grenzen und lässt durch die Metaphorik

67 Vgl. Thorsten Hahns auf den Konnex zwischen Geopolitik und Literatur fokussierte, systemtheoretische Lektüre des Romans in Thorsten Hahn: Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs. Populäre Kommunikation in der modernen Raumrevolution, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005, S. 479-500.

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des Globalen, die die Figurenrede prägt, das Manifeste des Lokalen durchscheinen. Dem Tunnel-Projekt liegt ebenso wie auch dem Themenpark-Projekt „Die untergegangenen Träume“ (RV 178) die Idee der Vermittlung zwischen dem Entlegenen und dem Nahen zugrunde: Der Tunnel verbindet die Insel mit dem Festland, der Themenpark sucht die Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft zu bewahren. Beide Projektideen und damit das Projekt Vineta insgesamt tragen utilitaristische, in gewissem Sinne auch kolonialistische Züge, insofern die Aspekte der Aneignung und des wirtschaftlichen Nutzens eines brachliegenden Landstücks im Vordergrund stehen. Die Insel, die die „Delta AG […] von einem Baron gekauft“ hat, erscheint als ein Ort des Natürlichen und des Ursprünglichen, dem mit seiner dünnen Besiedlung in Form von „fünf Fischerhütten und ein[em] Leuchtturm“ die Verbundenheit mit dem Meer eingeschrieben ist (RV 178). An diesem Ort soll eine kulturell und wirtschaftlich reizvolle Stadt entstehen, die gemäß den konkurrierenden Visionen der Projektplaner entweder eine Weltmetropole, ein Freizeitparadies, eine mediterrane Altstadt oder eine griechische Polis vorstellt. Dabei nimmt die Insel, wie Bilder dokumentieren sollen, selbst den Anschein eines landschaftlich hybriden Gebildes, das zugleich an die Bretagne, Italien und Schottland erinnert (RV 178). Neben der räumlichen Vernetzung der Insel, die diese Charakterisierung der Insel und auch das Tunnel-Teilprojekt visionieren, gewinnt auch die Vernetzung mit und von historischen Ereignissen Bedeutung. Die Vision von der Zukunft, für die das Projekt Vineta einsteht, setzt der Themenpark in Relation zu der Geschichte „vergangene[r] Träume“, wie sie von Städten „in der ganzen Welt“ beigesteuert werden sollen (RV 178): „[A]us Sankt Petersburg haben wir diese riesige Lenin-Figur bekommen, 7 Meter hoch, massiv Bronze“ (RV 179), die die Insel aber nie erreichen wird. Im Festhalten an explizit „verlorenen“ Träumen, in dieser traditionalistischen Geste, zeichnet sich das Scheitern des Projektes ab, das dieses selbst im Namen trägt. Während der Tunnelbau mit dem Konzept einer „simultanen Beförderung“ begründet wird, zeugt die Errichtung eines Themenparks von dem musealen Bestreben, anhand ausgewählter Kulturgüter und räumlich verdichtet Weltgeschichte zu präsentieren. Beiden Orten, Tunnel und Themenpark, wohnt die Idee der Gleichzeitigkeit68 inne,

68 Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt als Signum der Spätmoderne. Von der „Illusion der Gleichzeitigkeit“ spricht

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wie sie im Globalisierungsdiskurs zur Beschreibung eines durch neue Transport- und Kommunikationstechnologien veränderten sozialen Zeit-Raum-Regimes herangezogen wird. Dieses zeichnet sich, so resümiert Hartmut Rosa, „räumlich durch die Ersetzung stabiler Fixierungen durch permanent in Bewegung befindliche ‚flows‘ und zeitlich durch die Auflösung stabiler Rhythmen und Sequenzen infolge der ubiquitären Vergleichzeitigung noch des Ungleichzeitigsten“69 aus. In diesem Sinne symbolisieren der Tunnel als Transitraum die Vorstellung der dauerhaft fließenden Bewegung und der Themenpark die Kopräsenz des Ungleichzeitigen. Der „Umschlag in der Zeitwahrnehmung von sequenziellen Mustern zu Formen der Simultaneität“ korreliert, nach Rosa, mit der „Beschleunigung zahlreicher Prozesse in der Gegenwart“.70 Das Phänomen der sozialen Beschleunigung lässt sich unter anderem an der Beschleunigung des Lebenstempos festmachen, die sich, noch einmal mit Rosa, „als Steigerung der Handlungs-

Helga Nowotny in Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1993]. 69 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005, S. 342. Rosa weist auf die Konvergenzen der Globalisierungs- und der Postmodernisierungsdiagnosen in Bezug auf die These der Vergleichzeitigung hin. Die sozialen Phänomene, die unter diesem Stichwort geführt werden, sieht er „durch die Logik der sozialen Akzeleration in ihren drei Gestalten der technischen Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Steigerung des Lebenstempos bestimmt“, deren Analyse sich seine Studie widmet. (Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 346.) 70 Rosa: Beschleunigung, S. 348. Rosa sucht „aufzuzeigen, dass das ‚Neue‘ des gegenwärtigen Zeitalters darin besteht, dass das Tempo des sozialen Wandels eine kritische Schwelle – nämlich diejenige der Geschwindigkeit der Generationenfolge – überschritten hat und daher ein Muster der Zeitwahrnehmung und -verarbeitung erzwingt, das als Verzeitlichung der Zeit selbst und deshalb als Entzeitlichung des Lebens, der Geschichte und der Gesellschaft beschrieben werden kann. Mithilfe dieser Konzeption der beschleunigungsinduzierten Transformation der individuellen und kulturellen Zeitperspektive, so werde ich zeigen, lassen sich die temporalstrukturellen Bedingungen des Dominantwerdens jener Vorstellungen einer ‚zeitlosen Zeit‘, des Endes der Geschichte und der statisch-dynamischen Gleichzeitigkeit nahezu mühelos rekonstruieren.“ (Rosa: Beschleunigung, S. 348.)

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und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit infolge einer Verknappung von Zeitressourcen“71 bestimmen lässt. In Rinkes Theatertext wird das Thema „Tempo“ in doppelter Weise zum szenischen Gegenstand, nämlich einmal indem sich, wie oben bereits ausgeführt, die Figuren ständig „mit Tempo“ (RV 168) durch den Raum bewegen und einmal indem sie dieses Tun verbalisieren. Namentlich ist es der Projektmanager Hagemann, der ein Plädoyer für Tempo und Bewegung hält: „Ich hab Ihnen schon hundertmal gesagt, dass ich diese Rumsteherei ablehne. Bewegungen erzeugen Tempo. Tempo fordert prägnante Setzungen. Sein ist Tun. Tun ist Tempo. Formulieren Sie ein Ziel in einer Minute, und Sie erreichen es! Schluss mit diesem stundenlangen Es-wäre-schön-wenn!“ (RV 168) Sowohl die körperliche Performanz als auch die geistige Haltung eines Akteurs wird an der Forderung nach ständiger Bewegung, nach Mobilität und Flexibilität gemessen. Die Kategorie des ‚Flow‘ wird zur Leitkategorie einer ‚neuen‘ Lebensform erhoben: HAGEMANN: (nimmt eine Pille) Ich darf gar nicht daran denken. Schiffe, die zehn Tage bewegungslos herumliegen, das ist grundsätzlich so was von absurd! Schauen Sie, kleiner Exkurs: (An der Pinnwand) Wenn Sie zwei Punkte haben, A und B, dann wird der Sinn immer mehr die Bewegung dazwischen sein. Hier in A abfahren, um dort in B anzukommen, das interessiert bald niemanden mehr! Allenfalls um von dort sofort wieder nach hier zu fahren oder gleich nach C oder D! Die neue Gesellschaft wird eine mobile Gesellschaft zwischen allen Punkten sein! […] (RV 169).

Bedeutung kommt demnach weniger den Orten als den Räumen zwischen den Orten, den Knotenpunkten des Netzwerkes, zu. Auf einen Einwand des Bürgermeisters, was in Anbetracht dessen mit den Städten geschehe, entgegnet der Projektmanager: „Sie müssen jetzt einfach mal umdenken und überlegen, wie Sie den Lebensraum eben genau dazwischen gestalten: Zwischen A, B oder C, da, wo ich jetzt das Ausrufezeichen hinsetze, da wird die Zukunft liegen!“ (RV 169) In welchen Diskurs sich diese Anschauung einschreibt, wird expressis verbis

71 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 198.

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kommentiert: „Herr Hagemann, ich halte das für eine Globalisierungsfalle.“ (RV 169)72 Das zeitdokumentarische Attribut „mobil“ zur Beschreibung einer Gesellschaftsform diskutiert der Theatertext am konkreten Beispiel des Verkehrs- und Transportwesens, aber auch im Hinblick auf die Städtearchitektur. Die Visionen der Projektplaner zur Gestaltung und Nutzung von Räumen werden signifikanterweise graphisch fixiert oder greifen auf visualisierte Topographien zurück, sei es in Form von Stadt- und Architekturplänen, Seekarten oder Netzwerkplänen. Das Aufzeichnen von Raumvorstellungen und das Lesen73 von Raumdarstellungen bilden den roten Faden, der sich durch die handlungskonstitutive Projektarbeit zieht. Disparate Wahrnehmungen von Räumen kristallisieren sich im Augenblick der Verständigung, zu denen die Pläne und Karten Anlass geben. Beispielsweise nutzt der Projektmanager Hagemann zur Illustration seiner These von einer „mobilen Gesellschaft“ das Aufzeichnungssystem eines Projektstrukturplans, wobei er mit seinen Skizzen an der Pinnwand zugleich und mehrfach die Seekarten des Kapitäns Feldmann-See überschreibt (RV 170, 176). Die Konkurrenz zwischen den beiden Führungskräften, die über die binäre Opposition fortschrittlich/rückständig ausformuliert wird74, spiegelt sich in der Diskrepanz zweier Notationssysteme, die unterschiedliche Strategien der Verräumlichung repräsentieren und mithin eine verschieden akzentu-

72 Der Begriff ‚Globalisierungsfalle‘ zitiert den 1996 publizierten BestsellerTitel Die Globalisierungsfalle. (Vgl. Hans-Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, Reinbek bei Hamburg 1996.) 73 Damit ist an dieser Stelle auch die Transformation in körperliche Bewegung gemeint, wie sie der Theatertext wiederholt vorführt: Färber ‚liest‘ die stadtarchitektonischen Entwürfe, indem er dem Innenraum der Villa die aufgezeichneten Orte zuschreibt und die Strecken zwischen ihnen abgeht (RV 181). Behrens vollzieht Hagemanns These zur „mobilen Gesellschaft“ nach, indem er dessen am Kronleuchter hängenden Leichnam zwischen zwei auf Papier gezeichneten Punkten A und B hin und her pendeln lässt (RV 223). 74 Feldmann-See schildert seine Sturmerfahrungen „auf See“, woraufhin Behrens feststellt: „Was ist das für ein Mensch!? Wie aus einem anderen Jahrhundert. Manchmal glaube ich, der denkt, der ist hier auf’m Schiff“ (RV 167).

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ierte „Lese-Kompetenz“75 einfordern. Wo die Seekarte die Bewegung im Naturraum vorzeichnet und nachvollzieht76, präformiert und erfasst der Netzwerkplan die zeitlichen und arbeitsteiligen Abläufe von Projekten.77 Bemerkenswerterweise finden sich in der Managementliteratur raummetaphorische Projektbeschreibungen, in denen die Überlagerung der beiden Topographien, wie sie die Theatertextszene entwirft, als Analogiebildung zum Tragen kommt: „Man kann ein Projekt mit einem Territorium vergleichen, in dem man sich zurechtfinden muss und die Karte dabei die verschiedenen Aspekte des ‚unbekannten Geländes‘ verdeutlicht. Die Landkarte ist nicht das Territorium selbst, sie gliedert bzw. ordnet es nur. Denn ein Projekt besteht nicht aus Phasen, eine Einteilung in Phasen dient vielmehr zur Orientierung.“78 Die Gliederung der Projektdurchführung, die dem „Prinzip des Zerlegens und Neuzusammensetzens“79 folgt, dient mithin dazu, die „diffuse

75 Vgl. Hartmut Böhmes Ausführungen: „Topographien erfordern seitens des Subjekts eine doppelte Lese-Kompetenz: man muß ‚Karten‘ (aller Art) lesen können, d.h. sich ein räumliches Vorstellungsbild der zweidimensional-graphischen oder sprachlichen Topographie machen können; und man muß im Realraum (einer Landschaft, einer Stadt) die verzeichneten Orte und Bahnen ‚wieder-erkennen‘ können. Und drittens muß die kartographische Information in die leibliche Richtungsräumlichkeit übersetzt werden, um die Bewegung zielführend in Praxis umzusetzen.“ (Hartmut Böhme: Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005, S. IX-XXIII, S. XIX.) 76 „Topographien sind Darstellungen, im Doppelsinn von ‚darstellen‘. Sie sind Darstellung von etwas, das ist, und das als solches in der Darstellung erst hervorgebracht wird. Darin liegt die sowohl repräsentierende wie performative Dimension aller Topographien.“ (Böhme: Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, S. XIX.) 77 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 272. 78 Hans-D. Litke: Projektmanagement. Methoden, Techniken, Verhaltensweisen, Evolutionäres Projektmanagement, 5. erw. Aufl., München 2007, S. 262. Bröckling schreibt das Zitat, wohl versehentlich, Günter Altrogge: Netzplantechnik, München, Wien 1994, S. 262 zu. Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 272, Fußnote 55. 79 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 270.

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Einheit ‚Projekt‘“80 überschaubar zu machen, sie zu einer in Bezug auf alle Ressourcen begrenzten ‚Insel‘ zu machen. Bei der Realisierung wie der Repräsentation der Projektarbeit spielen aus der Perspektive der Verräumlichung neben den Seekarten und Netzplänen auch die Aufzeichnungen der Stadtarchitektur von Vineta eine bedeutende Rolle. Von dramaturgischer Relevanz erweist sich hierbei die Gegenüberstellung zweier Stadtkonzepte, deren Differenz über wenigstens drei Kategorien im Theatertext verhandelt wird: die Kategorie erstens der materiellen Substanz, zweitens der Geometrie und drittens der funktionalen Bestimmung. Das eine Konzept, das von der Benn-Bau-Gruppe entwickelt (RV 181) und zunächst von der Mehrheit des Projektteams getragen wird, verfolgt den Bau einer modernen Planstadt mit „zweiundzwanzigstöckige[n] Gebäudekomplexen“ (RV 180) aus Beton. Der Grundriss dieses Stadttyps findet sein Vorbild in der sogenannten Quadratestadt Mannheim, wie es explizit heißt (RV 180), und zeichnet sich dadurch aus, dass Straßen und Häuser nach einer gitterförmigen Netzstruktur angelegt sind. Es gibt demzufolge „nirgendwo ein Zentrum, nirgendwo ein Herz“ (RV 180). Geplant ist demnach ein Ort der kurzen Wege und der effizienten Raumnutzung, der vor allem den Konsumenten von Komfort und Luxus adressiert. Die Raumplanung selbst folgt ökonomischen Überlegungen (RV 182) und dem Motto: „Seit 15 Jahren gelten überall auf der Welt die Konzepte der Vollversorgung! Club Méditerrané [sic!]! Cinemaxx! Wellenbäder! Die Menschen haben Ferien und wollen sich wohl fühlen!“ (RV 186) Gegen diesen Entwurf lanciert die Dramaturgie des Theatertextes das Städtebaukonzept, das in der Figur des Architekten Färber personifiziert wird. Der Architekt fungiert als Repräsentant einer Bewegung der „Gegenmoderne“: „Die Gegenmoderne ist der Kampf gegen das rein zweckhafte Denken. Sie ist ihrem Wesen nach eine Revolution der Neuen Rückbesinnung.“ (RV 158) Das der Tradition verpflichtete Stadtkonzept bezieht sich grundlegend auf die Idee der griechischen Polis, der das Leitbild der Ganzheit und die Ausrichtung auf ein Zentrum zugrunde liegt.81 Dem von zweckrationalen Fragen geleiteten Bauplan wird ein Modell gegenübergestellt, das im humanistischen

80 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 269. 81 Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main 2006, S. 236.

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Sinne den Menschen, seine Bedürfnisse und Fähigkeiten buchstäblich in den Mittelpunkt stellt. Die Rede ist von Treppen, bei denen „die Menschen auch während des Steigens wieder an etwas anderes denken als an das: Wie lange noch?“ (RV 159), von Wohnräumen, in denen „jeder, der dort leben wird, mindestens 30 Sekunden mit ausgebreiteten Armen durch die Wohnung laufen kann“ (RV 196), und von einer Stadt mit „Piazza“, „zwei Cafés, einem Bäcker und Kunsthändlern“ und mit einem in der Mitte freigelassenen „Stück mit diesem schönen gelben Sand“ (RV 196). Der architektonische Entwurf, der in ästhetisierender Manier „‚leichte, fließende Baustoffe‘“ (RV 185) einfordert, folgt „dem Anspruch, die Zeit durch eine große Idee zu überdauern, nicht durch Edelstahl rostfrei“ (RV 197). Dieses Ideal der ewigen Dauer wird mit der Vorstellung einer Stadt korreliert, die ein Ort für „Künstler, Wissenschaftler und Philosophen“ „aus aller Welt“ ist (RV 225) und die für „jede Bewegung des Geistes einen eigenen Ort“ bereithält (RV 229). Die Idee einer „Art Akademie als ganzes Stadtviertel“ (RV 225) schließt dabei an die abendländische Tradition der Res publica litteraria, der Gelehrtenrepublik82, an. Außerdem schlägt der Architekt vor: „Wir könnten auch noch Politiker, Ärzte, Unternehmer dazu nehmen!“ (RV 230). Vor dem Hintergrund der Therapiesituation, an der ein Arzt und ehemalige Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft teilhaben, erhält dieser Vorschlag eine ironische Färbung und findet das Spiel-im-Spiel seine nicht mehr unter unternehmerischen, sondern unter akademischen Vorzeichen entworfene Dublette. Mit den beiden Stadtkonzeptionen werden der Leitgedanke des Gewinnstrebens und des Konsums auf der einen Seite und der Glaube an die Kunst und den wissenschaftlichen Fortschritt auf der anderen Seite einander gegenübergestellt. In dem städtebaulichen Wettstreit, aus dem der Theatertext nicht zuletzt sein dramatisches Konfliktpotenzial schöpft, wird die Opposition von ökonomischer Rationalität und emotionaler Sozialität repräsentiert und zugleich als eine im wörtlichen Sinne inszenierte und scheinhafte vorgeführt. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als der Gegenstand eines zu Zwecken der Therapie

82 Ein für den gegebenen Zusammenhang interessanter Intertext ist Arno Schmidts Roman Die Gelehrtenrepublik von 1957. Dieser handelt von den potenziellen Folgen eines dritten atomaren Weltkrieges und einer künstlichen Insel IRAS (International Republic for Artists and Scientists), die ein hybrides Gebilde zwischen Insel und Schiff darstellt.

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durchgeführten Planspiels. Auf den spielerischen Charakter des Projektes Vineta verweist, mit dem Zug dramatischer Ironie, die Aussage einer der Figuren: HAGEMANN: Scheiße, ich muss gerade an den Sohn meiner Freundin denken. Der hat sie nicht mehr alle, der spielt den ganzen Tag so ein Spiel, da stellt man imaginäre Arbeiter ein und baut Städte im Geiste. Ich kann nach Hause kommen, wann ich will, wenn ich die Tür aufmache, dann sitzt da dieses Kind mit seinen imaginären Arbeitern. (RV 186)

So setzt der Theatertext Republik Vineta, der sich konsequent, sowohl im szenischen als auch im sprachlichen Spiel, die distanzierenden Mittel des Komischen zu eigen macht, den Akzent seiner zeitdiagnostischen Darstellung der Arbeitswelt weniger auf ein sozialkritisches Verurteilen als auf ein komödisches Durchdeklinieren der sich im zeitgenössischen Verständnis von Arbeit offenbarenden Widersprüche und Absurditäten. Mit deutlich sozialkritischem Impetus verfolgt demgegenüber Falk Richters Unter Eis die dramatische und theatrale Auseinandersetzung mit dem Thema.

5.2 A RBEIT ALS Z USTAND : F ALK R ICHTERS U NTER E IS Das Prinzip der Serie wird in der Theatertextproduktion seit den 1990er Jahren auf unterschiedlichste Weise realisiert. TheaterstückSerien schreiben Dea Loher mit Magazin des Glücks83, Fritz Kater mit

83 Dea Loher: Magazin des Glücks, in: Dea Loher: Magazin des Glücks. Licht, Hände, Deponie, Hund, Sanka, Samurai, Futuresong, Berliner Geschichte, Schere, War Zone, Frankfurt/Main 2002, S. 9-143. Dea Lohers Stückfolge umfasst sieben Titel und ist als Theaterprojekt entstanden: „Ich habe den Titel als Über-Schrift für eine Reihe von Texten, die Andreas Kriegenburg in der Spielzeit 2001/02 am Hamburger Thalia-Theater inszenierte, geklaut [von Horváth, der das unter diesem Titel projektierte Stück nie geschrieben hat, C.B.]. Das gemeinsame Vorhaben hieß, ungefähr alle sechs Wochen einen Text zu haben, der innerhalb kurzer Zeit geprobt wird, nur wenige Abende zu sehen ist, um dann mit einem anderen, neuen Stück weiterzumachen.“ (Dea Loher: Nachwort, in: Dea Loher: Magazin des

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der Harvest-Trilogie84, Roland Schimmelpfennig mit Trilogie der Tiere85, Ulrike Syha mit Fremdenzimmer I–III86 oder René Pollesch, für dessen Theaterarbeiten dieses Gestaltungsprinzip sogar den Charakter eines Markenzeichens gewinnt. Auch der in Eigenregie im April 2004 uraufgeführte Theatertext Unter Eis87 des Autors und Regisseurs Falk Richter ist Teil einer Stückfolge. Diese wird in der Spielzeit 2003/2004 an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin als ein „Ausprobieren und Suchen einer neuen Form des politischen Theaters, eine neue Form des Forschens und Herausfindenwollens“88 inszeniert und nimmt sich gemäß dem Reihentitel nichts weniger vor, als DAS SYSTEM zu befragen.89 Als work in progress90 sowie mit Installationen und Veran-

Glücks. Licht, Hände, Deponie, Hund, Sanka, Samurai, Futuresong, Berliner Geschichte, Schere, War Zone, Frankfurt/Main 2002, S. 187-188, S. 187f.) 84 Die Trilogie bilden die Stücke Vineta (oderwassersucht) (UA 2001; in der Inszenierung am Hamburger Thalia Theater umbenannt in Fight City. Vineta), zeit zu lieben zeit zu sterben (UA 2002) und WE ARE CAMERA/jasonmaterial (UA 2003). Alle drei Theatertexte sind abgedruckt in Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4). 85 Zu der Trilogie zählen die Theatertexte Besuch bei dem Vater (UA 2007), Das Reich der Tiere (UA 2007) und Ende und Anfang (UA 2006). Alle drei Stücke sind abgedruckt in Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tiere. Stücke, mit einem Gespräch mit Roland Schimmelpfennig, Frankfurt/ Main 2007. 86 Die drei Teile der Stückfolge wurden in den Jahren 2002 (I.) und 2003 (II. und III.) uraufgeführt. 87 Falk Richter: Unter Eis, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 433-476. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚UE‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. 88 Falk Richter: DAS SYSTEM, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 371-432, S. 395. 89 Zu einer weiteren Stückfolge, zur sogenannten Kult-Trilogie fügen sich Falk Richters frühe Theatertexte Portrait. Image. Konzept (Teil 1), Sektion (Teil 2) und Kult – eine ultimative Show (Teil 3), die 1996 uraufgeführt wurden. 90 „DAS SYSTEM ist ein Arbeitsprozess, ein Stück, das sich schreibt, während des Produktionsprozesses, alle Abende sind für sich stehende Abende, alle sind Teil der Frage nach dem System […] einige der Abende laufen

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staltungen, die die Inszenierungen begleiten91, wird der Anspruch auf größtmögliche Aktualität und Alltagsnähe verbunden. „Die Theateraufführungen wollten“, so formuliert es der Theaterkritiker Peter Laudenbach, „als Bestandteil eines politischen Reflexions- und Diskussionszusammenhangs verstanden werden“92. Der Herstellungsprozess von Theatertext und Theater soll demnach im Prozess öffentlicher Meinungsbildung aufgehen, das Theater – ganz im Sinne der Schaubühnen-Programmatik – als gesellschaftspolitisches Forum bespielt werden. Dabei geht es Falk Richter ebenso nachdrücklich wie offensichtlich ums Ganze, wie die in Majuskeln gedruckte und mit bestimmtem Artikel versehene Titel-Vokabel „System“ nahelegt.93 Abgehoben wird auf ein Moment der All-Inklusion, in dem sich partikulare Ansichten, Interessen und Standpunkte bündeln. Mit anderen Worten die Inszenierungsreihe DAS SYSTEM versammelt disparate Perspektiven auf spezifische gesellschaftliche Themen und Verhältnis-

ein- bis zweimal, andere bis zu fünfmal, aber der GESAMTPROZESS, das heißt, alle Abende zusammen, sollten als das angesehen werden, was wir DAS SYSTEM nennen.“ (Richter: DAS SYSTEM, S. 372; Hervorhebung getilgt, C.B.) Dokumentiert sind einzelne Stadien des Prozesses in dem Materialband von Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004. 91 Es handelt sich dabei um „Film, Video, Musik, Text, bildende Kunst, Vortrag, Streitgespräch, inszeniertes Streitgespräch, Dokumentartheater“ (Richter: DAS SYSTEM, S. 395). 92 Peter Laudenbach: „Die radikale Geste! Die radikale Geste! Die radikale Geste!“ DAS SYSTEM. Über Falk Richters „Unsere Art zu leben“, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 12-22, S. 12. 93 Der Schaubühnen-Dramaturg Jens Hillje kommentiert: „Den Begriff ‚System‘ zu benutzen und davor noch ein ‚Das‘ zu setzen, ist natürlich erst einmal ein ironischer Rekurs auf ’68 und den marxistisch inspirierten Glauben des 20. Jahrhunderts, tatsächlich technokratisch die Funktionsweise unserer Gesellschaft so weit zu verstehen, dass man sie dann auch radikal umbauen kann, wie eine Maschine, um das ‚Schweinesystem‘ zu beseitigen.“ (Jens Hillje, Anja Dürrschmidt: Effizienz ist ja eigentlich was Schönes, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 114-118, S. 114.)

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se und behauptet dabei die Unmöglichkeit einer distanzierten Position der Kritik: Kritik und Protest sind immer schon Teil des Systems. Ein Standpunkt außerhalb ist, im Anschluss an Niklas Luhmann, dessen systemtheoretische Reflexionen einen augenfälligen Referenzrahmen des Theaterprojektes bilden94, nicht denkbar. Entsprechend treten in dem Stückezyklus gleichermaßen Künstler und Globalisierungskritiker, Medienmacher und Manager als dramatis personae in Erscheinung. Die von den Figuren repräsentierten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Sicht- und Redeweisen fusioniert der Untertitel des Zyklus zu einem kollektiven Aussagesubjekt. Zitiert wird die politisch virulente Wendung „Unsere Art zu leben“: Gerhard Schröder, der zur Entstehungszeit der Inszenierungsfolge amtierende Bundeskanzler, hatte 2001 den Kampfeinsatz der Alliierten in Afghanistan auch als eine Art der Verteidigung „unserer Art zu leben“ verstanden wissen wollen.95 Die Konzeption des SYSTEM-Projektes96 sucht diese Formel auszubuchstabieren, indem sie danach fragt, wer und was dieses „Wir“ und diese „Art zu leben“ ausmachen, und hierfür den Blick auf die westliche Konsumgesellschaft richtet. Zu Themen in den vier Stücken des Projektzyklus, für die und deren Inszenierung in der Mehrzahl Falk Richter verantwortlich zeichnet97, werden der Irak-Krieg und seine journalistische Aufbereitung und Vermittlung (Hotel Palestine), die Omnipräsenz der Gewalt und die permanente Erschütterung der als selbstverständlich erscheinenden Sicherheit im Alltag (Amok/Weniger

94 Vgl. Laudenbach: „Die radikale Geste! Die radikale Geste! Die radikale Geste!“, S. 13. 95 Vgl. Laudenbach: „Die radikale Geste! Die radikale Geste! Die radikale Geste!“, S. 13. 96 Falk Richter: „DAS SYSTEM“. Ein Konzept, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 36-49. 97 Amok/Weniger Notfälle ist von Martin Crimp verfasst. Für die Inszenierung von Electronic City übernahm Tom Kühnel die Regie. Für eine Nachinszenierung von DAS SYSTEM empfiehlt der Verlag die Kombination der Stücke von Falk Richter: System 1: Electronic City, System 2: Unter Eis, System 3: Sieben Sekunden und Der Angriff, System 4: Hotel Palestine. (Vgl. Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 508.)

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Notfälle von Martin Crimp)98, eine Liebesgeschichte in Zeiten einer globalisierten Arbeitswelt und ihre mediale Inszenierung (Electronic City) sowie die Consulting Industry und ihre Präsenz im gesellschaftlichen und individuellen Leben (Unter Eis).99 Mit der gegenwartsbezogenen und multimedialen Darbietungsweise des theatralen Gesamtprojektes, das Theater mit Film, Wort mit Bild und Musik verbindet, korrespondiert auf Seiten des Textmaterials eine thematische Aktualität, die sich aus dem tagespolitischen Geschehen und dessen medialer Repräsentation und Inszenierung speist. Es lässt sich mithin jener Begriff von politischem Theater auf Falk Richters SYSTEM-Stücke anwenden, nach dem „Theater Themen aufgreift, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden oder die es selbst in die Diskussion wirft und auf diese Weise (mindestens) aufklärend wirkt“100. Der Theaterkritik gilt Falk Richter in diesem Sinne als „Aufklärer[...], der ideologische Verblendungen sichtbar machen will“101, und erkennt in seinen Theatertexten die, bisweilen mit erhobenem Zeigefinger vorgetragene, „zeitgemäße Kommentierung des Zeitgeistes“102. In der fol-

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Vgl. zu Martin Crimps Szenencollage und ihrer Inszenierung an der Schaubühne die Beschreibung von Laudenbach: „Die radikale Geste! Die radikale Geste! Die radikale Geste!“, S. 18-20.

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Die drei Theatertexte von Falk Richter sind publiziert in der Stückesammlung Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005.

100 Hans-Thies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002 (Theater der Zeit, Recherchen, 12), S. 11-21, S. 12. 101 Peter Michalzik: Theater der Transparenz. „Electronic Citv“ und „Sieben Sekunden“. Neues von Falk Richter in Bochum und Zürich, nebst einer Schimmelpfennig-Uraufführung, in: Frankfurter Rundschau, 6. Oktober 2003, S. 12. 102 Eva Behrendt: Leben online. Demontage des Medienkunstmilieus. Falk Richters „Gott ist ein DJ“ am Mainzer Staatstheater uraufgeführt, in: Die Tageszeitung, 15. März 1999, S. 15. In Szene gesetzt werden etwa in frühen Stücken wie Gott ist ein DJ (UA 1999) die Frage nach der popkulturellen Omnipräsenz der Medien im Alltag, nach der damit verbundenen Problematik der Authentizität, in folgenden Stücken wie PEACE (UA 2000), das auf den Kosovo-Krieg reagiert, oder das mit Roland Schimmelpfennigs Für eine bessere Welt als Doppelinszenierung urauf-

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genden Lektüre spielt allerdings weniger die Frage nach dem Erfolg der Richter’schen Ideologiekritik eine Rolle als vielmehr die Frage nach der im Stück thematisierten Selbstdarstellung der Berater als Repräsentanten eines leitbildgebenden Berufsstandes. Untersucht wird das Zusammenspiel von dokumentarischem Material und sprachästhetischer Formgebung, in dem das Verhältnis von fremden Erwartungshaltungen und individueller Erfahrung anklingt. Der Zustand der Stillstellung und Erschöpfung, in dem sich Richters Protagonist Paul Niemand befindet und der ihn aus der Welt der unerschöpflichen Leistungssteigerung und Selbstoptimierung ausgrenzt, findet in der Metapher des Eises seine prägnante Signatur. 5.2.1 Dramaturgie der Gegenstimme Der multimedialen Verbreitung von Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht vergleichbar wird auch Falk Richters dokumentarisch angelegter Theatertext Unter Eis in verschiedene Medien transponiert: Er wird 2005 als Hörspiel103 produziert und 2007 in der Komposition von Jörn Arnecke als Oper104 uraufgeführt. Einmal die Suspendierung des – theaterspezifischen – Visuellen im Hörspiel und einmal die Akzentuierung der Affinität zur Musik in der Oper radikalisieren die akustische Qualität des Textes, die dieser vornehmlich durch seinen Umgang mit Sprache erlangt. Das in sprachlicher Hinsicht auffälligste Charakteristikum von Unter Eis stellt die Verknüpfung von Fachjargon und poetisch-lyrischer Sprache dar, die im Verlauf des Stücks kontrastiv gegeneinandergestellt und zugleich ineinander gespiegelt werden. Dabei entwirft das Stück durch den Sprachgebrauch einen akustischen Raum, der durch den Kontrast von Anonymität und Intimität geprägt ist. Zwar ist das dramatische Geschehen in einem „große[n], anonyme[n] Konferenzraum“ (UE 434) verortet und spielt das

geführte In god we trust (UA 2003), das auf den Golf-Krieg reagiert, die Frage nach der massenmedialen Auseinandersetzung mit kriegerischer Gewalt. 103 Die Ursendung der Hörspielproduktion des Norddeutschen Rundfunks fand in der Regie von Ulrich Lampen am 1. Mai 2005 statt. 104 Die Uraufführung fand am 28. September 2007 bei der Ruhr Triennale statt. Regie führte Falk Richter, die musikalische Leitung hatte Johannes Debus.

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Stück in der Welt der Unternehmensberatung, doch verweisen die geringe Personenzahl, die für das Kammerspiel typisch ist, wie auch der im Paratext angewiesene Einsatz von Mikrophonen (UE 434), der eine Variation der Lautstärke beim Sprechen bis hin zum Flüstern möglich macht, auch auf eine Atmosphäre vertrauter Nähe. Richters Theatertext Unter Eis evoziert Musikalität, ohne Musik wie in vorangehenden Stücken des Autors selbst zum Thema zu machen.105 Mit ihr setzt das Stück einen Kontrapunkt zu der vermeintlichen Rationalität des dargestellten Arbeitsalltags in der Beraterbranche, die im dokumentarischen Gestus der Fachsprache nachgezeichnet und durch die Beraterfiguren repräsentiert wird. Das Wissen und die Erfahrungen im Feld der Consulting Industry bilden den zentralen Gegenstand der Figurenrede, die sich auf insgesamt vier Sprecher, nämlich drei Berater und einen Jungen, verteilt. Die dominierende Perspektive, aus der die Mechanismen und Strukturen dieses Arbeitsfeldes thematisiert werden, ist die eines Verlierers: Das Versagen eines Beraters konturiert die branchentypischen Normen und Erwartungen. Richters Unter Eis konzentriert sich damit, anders etwa als Urs Widmers Top Dogs oder Moritz Rinkes Republik Vineta, auf einen Einzelfall und exponiert damit ähnlich wie Albert Ostermaiers Monodrama Erreger106, das einen in Quarantäne befindlichen Trader vorstellt, die Position eines vereinzelten gescheiterten Insiders. Im Zentrum von Unter Eis steht der Berater Paul Niemand, ein ‚kleiner‘ Jedermann seiner Branche, der angesichts seiner Lebenssituation entfernt an Arthur Millers Handlungsreisenden Willy Loman erinnert. Nach Jahren des Erfolgs, in denen Entlassungen zum Zweck der Leistungsoptimierung selbstverständlicher Bestandteil seiner Arbeit waren, wird Paul Niemand, in einem Alter zwischen 40 und 50 Jahren – „zu

105 In seinen Stücken PEACE und Gott ist ein DJ treten DJs auf, die auch über ihre Musik referieren. Außerdem spielt Musik eine bedeutende Rolle in den medienbetonten Inszenierungen des Regisseurs Richter. Zudem zählt Richter zu den wenigen jüngeren Regisseuren, die auch Opern inszenieren. (Vgl. Anja Dürrschmidt: Falk Richter. Zwischen Kammerspiel und Multimedia, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): WerkStück. Regisseure im Porträt, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Arbeitsbuch), S. 138-143, bes. S. 142f.) 106 Albert Ostermaier: Erreger, in: Albert Ostermaier: Erreger. Es ist Zeit. Abriss. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2002, S. 7-44.

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alt für einen Neuanfang, zu jung, um sich schon aufzugeben“ (UE 439) –, selbst zum Objekt effizienzsteigernder Maßnahmen. Als Katalysator der Figurenrede, die in kein durchgängiges Handlungsgeschehen eingebettet ist, fungiert der Abgleich zwischen Realität und Anspruch des Beraterdaseins, der sowohl zum Thema der Selbstbefragungen Paul Niemands als auch zum Gegenstand der Meetings mit jüngeren Kollegen wird. Die Auseinandersetzung mit dem Anforderungsprofil des Beraters gewinnt Textgestalt, indem monologische und dialogische Szenen ineinander montiert werden. Dabei unterläuft das Prinzip der Montage die realistische Szenerie, die durch die dokumentarische Ästhetik des Fachjargons entworfen wird.107 Die Redeform des Monologs ist sowohl quantitativ – zehn von vierzehn Szenen sind Monologe – als auch wirkungsästhetisch dominant. Dadurch ist die Szene weniger durch die Bewegung einer Handlung bestimmt als vielmehr durch die Statik von Zustandsbeschreibungen. Die Makrostruktur des Textes läuft damit einer Ästhetik der Dynamik entgegen, wie sie dem zeitdiagnostischen Postulat eines flexiblen und kreativen Arbeitssubjekts eingeschrieben ist. So hält Andreas Reckwitz für die postbürokratische Arbeitswelt fest: „[D]as kreative, unternehmerische Subjekt wird zum Modell natürlicher Dynamik und lebendiger Aktivität universalisiert.“108 Die Tendenz zur monologischen Reflexivität in Richters Unter Eis konterkariert dieses Modell. Besitzt der Monolog eine starke Affinität zu statischen Sprechsituationen auf der Bühne, so spiegelt sich in diesem strukturellen Element des Textes auch die ‚unbewegliche‘ Leitmetapher des Eises. Mit der Tendenz zum Monologischen unterläuft Richters Theatertext Unter Eis darüber hinaus die Anforderung kommunikativer Vernetzung, der das unternehmerische Selbst, in der Gestalt der Berater, Genüge zu leisten hat, um als erfolgreich zu gelten. Entsprechend bleibt die Rede der Figuren vielfach in den Rahmen eines Selbstge-

107 Von einer „nicht-realistische[n] Ästhetik“ spricht auch David Barnett: Bühnenbusiness. Mensch, Markt und Management in drei neueren deutschen Theaterstücken, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen JürsMunby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 56-70, S. 57. 108 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 500.

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sprächs oder eines Vortrags eingefasst und lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Sprechakt und die Selbstperformance der Sprecher. Die Wechselrede insbesondere zwischen den Beratern Aurelius Glasenapp und Karl Sonnenschein ist weniger dramatischer Dialog als vielmehr Formzitat desselben. Ihre Repliken dienen ebenso wenig der Individualisierung der Sprecher wie sie ein Gegenüber adressieren, von dem sie sich eine Antwort erwarten. Ihre Rede ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch in ganzer Konsequenz die Rede ‚Gleichgesinnter‘ und transportiert damit ein zentrales Moment des Ethos der Beraterbranche. Dieses wird in Materialbändern zu Marc Bauders Dokumentarfilm grow or go – Die Architekten des global village von 2003, der anhand von vier Fallbeispielen den Einstieg in die Unternehmensberatung beleuchtet und den Falk Richter explizit als Inspirations- und Materialquelle für die Beratergespräche und die Fachsprache der Figuren in Unter Eis angibt109, mit folgenden Worten umrissen: Sie finden überall tolle Leute, nur in der Dichte und mit so ähnlicher Denke und mit so ähnlicher, ja, Wellenlänge, würde ich fast sagen, in der Häufigkeit um sich rum, wie bei ’ner großen Consulting Company, das ist schon verdammt selten. Und dieses Menscheln untereinander und das sich mit Gleichgesinnten-Treffen, das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.110

109 Vgl. Falk Richter, Anja Dürrschmidt: Das System wird gestartet, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 50-63, S. 60-62. Dag Kemser spricht von „[c]irca ein[em] Viertel des Textes von Unter Eis“, der sich „aus dokumentarischem Material speist“, wobei sich dieses im Einzelnen „nur schwer aus[...]machen“ ließe (Dag Kemser: Neues Interesse an dokumentarischen Formen: „Unter Eis“ von Falk Richter und „wir schlafen nicht“ von Kathrin Röggla, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn DeutschSchreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 95-102, S. 98.) 110 „grow or go“. Aus den Materialbändern zu Marc Bauders Dokumentarfilm, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 83-95, S. 84.

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Den so verstandenen Teamgeist, der auf Ähnlichkeiten und Harmonie setzt, bringt die ‚gleich klingende‘ Rede der Beraterfiguren Glasenapp und Sonnenschein zu Gehör. Dabei bleibt die den Beraterdiskurs repräsentierende Rede im Theatertext bedeutsamer Weise ohne unmittelbare Resonanz, weil entweder das Gegenüber wie im „ersten Beratergespräch“ nicht zu Wort kommt (UE 447f.) oder aber die Rede dramaturgisch in keine szenisch markierte, dialogische Gesprächssituation eingebettet ist (UE 449-453). In Unter Eis treten die Berater nicht in der Situation eines Kundengesprächs auf, sondern befinden sich in Insiderkreisen: Berater sprechen vor beziehungsweise punktuell auch mit Beratern. Der Theatertext spitzt mit dieser personellen Reduktion das exkludierende Moment, das der Fachsprache der Berater wie jeder Fachsprache per se eigen ist, dramaturgisch zu. Ähnlich wie in Widmers Top Dogs, Rinkes Republik Vineta oder auch Rögglas wir schlafen nicht bleiben die Experten des Managements unter sich. Dass sich Paul Niemand in einer liminalen Situation befindet, wenn er kurz vor seiner altersbedingten Entlassung steht, darauf verweist sein wiederholtes Paraphrasieren und ‚Übersetzen‘ des Fachjargons. So erläutert er zu Beginn seiner Ausführungen zu einem Assessment-CenterProjekt: Bei OUTSOURCE UNLIMITED, der ersten Firma, bei der ich mich bewarb, gab es in der BOOTCAMP Phase – also der Trainingseinheit für die neuen Rekruten, den so genannten „Newies“ – nach einer Anzahl von Interviews, Case Studies und Outdooractivities […] ein großes Abschlussessen mit allen Mitarbeitern der Firma und den einzelnen Kohorten der „Newies“ […]. (UE 444)

Das Gespräch unter den ‚gleich gesinnten‘ Spezialisten Glasenapp und Sonnenschein folgt hörbar anderen Regeln, als es die programmatisch auf Integration und Interaktion ausgerichteten Kommunikationsstrategien der Unternehmensberatung im Kontakt mit dem Kunden fordern. Wenn etwa eine der Beraterregeln lautet: „Seien Sie kreativ, strukturieren Sie Ihre Sätze so, dass der Kunde wissen will, wie die Story weitergeht“ (UE 443), so wendet sich diese Maxime in der Rede der beiden Berater ins Gegenteil. Ihre Repliken verdichten sich zu einem „reißende[n] Strom von Geschäftsjargon und Beratersprech“111, der

111 Barnett: Bühnenbusiness, S. 58.

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weder einer Spannungsdramaturgie folgt noch Strukturen einer Geschichte hervorbringt. In deklamatorischem Stil und mit dem Vokabular des Managements tragen die beiden Berater, die mit der Haltung des Unter-sich-Sprechens mit dem Kunden im inneren Kommunikationssystem des Theatertextes auch den Rezipienten im äußeren Kommunikationssystem tendenziell ausschließen, „‚die reine Lehre‘“ (UE 452) vor. Im intertextuellen Off klingt die „Die Schlacht der Wörter“112 der „Top Dogs“ aus Urs Widmers „Königsdrama der Wirtschaft“113 an, wenn Glasenapp und Sonnenschein ihre „Core Values“ (UE 442), wie es in der Szenenüberschrift heißt, verkünden: KARL SONNENSCHEIN: Risiko akzeptieren AURELIUS GLASENAPP: Möglichkeiten schaffen KARL SONNENSCHEIN: Kreatives Denken zur Verfügung stellen AURELIUS GLASENAPP: Chancen, die der Markt bietet, zu Kapital machen KARL SONNENSCHEIN: Mit einer Vision für die Zukunft die anderen inspirieren AURELIUS GLASENAPP: Motivation demonstrieren, neue Aufgaben übernehmen, neue Fähigkeiten erlernen […] AURELIUS GLASENAPP: Offen sein für neue Informationen KARL SONNENSCHEIN: Offen sein für neue Aufgaben (UE 442f.)

Ebenso wie in Widmers Wortgefecht, in dem acht Sprecher, in extremer Zuspitzung der Stichomythie, einzelne Schlagworte ausrufen114, geht auch in der Überzeugungsrede von Glasenapp und Sonnenschein der antagonistische Charakter der rhetorischen Figur verloren und kumulieren die Aussagen zu einer großen Suada der „ökonomische[n] Logik“ (UE 452). Die Aufzählungen, Analogismen und Wiederholungen als

112 Urs Widmer: Top Dogs, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2000 [1997], S. 24-29 (Szene 3). 113 Gerhard Jörder: Die Globalisierung frißt ihre Kinder. Preisrede auf „Top Dogs“ beim Berliner Theatertreffen, in: Theater heute Jahrbuch (1997), S. 113-117, S. 114. 114 Die Repliken werden zudem nahezu gleichzeitig gesprochen, wie die Regieanweisung „Alle“ anzeigt – ‚nahezu‘ deshalb, weil die Verteilung der Schlagworte auf jeweils eine Sprecherinstanz – mit einer Ausnahme – nahe legt, dass überlappend gesprochen wird (Widmer: Top Dogs, S. 114).

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Strukturprinzipien der Beraterrede bringen musikalische Effekte hervor, die sich zum Eindruck chorischen Sprechens verdichten können. Sie intensivieren zudem die vor allem durch das elliptische Sprechen evozierte Wirkung, die auf die Eingängigkeit und die Instruktionskraft der proklamierten Leitsätze zielt. Die Reden von Glasenapp und Sonnenschein vergegenwärtigen die Maximen der Unternehmensberatung, mit denen das kreative und dynamische Arbeitssubjekt angerufen wird und die zugleich dessen Gegenpart, das „‚erschöpfte[...] Selbst‘“115, das den Anforderungen nur unzureichend nachkommt, hervorbringen. „Das Regime des unternehmerischen Selbst produziert“, so konstatiert Ulrich Bröckling, „mit dem Typus des smarten Selbstoptimierers zugleich sein Gegenüber: das unzulängliche Individuum“.116 Dieses tritt in Richters Unter Eis mit der vor dem beruflichen Aus stehenden Figur des Paul Niemand in Erscheinung. In Abgrenzung zu den Reden der beiden Berater Glasenapp und Sonnenschein, die um Persönlichkeits- und Leistungsanforderungen kreisen, thematisiert Paul Niemands Sprechen, das sich in der Art eines stream of consciousness Bahn bricht, vergangene Ereignisse und Erlebnisse seiner Kindheit und seines Arbeitsalltags. Die Äußerungen des ältesten der drei Berater antizipieren ein Moment von Privatheit und Innerlichkeit. Während die Repräsentanten der jüngeren Beratergeneration – Sonnenschein ist „etwa 35 Jahre“ und Glasenapp „etwa 28 Jahre alt“ (UE 434) – als austauschbare Typen gezeichnet sind, wird die Figur des Paul Niemand über das Erzählen einer persönlichen Lebensgeschichte individualisiert und gewinnt die Züge eines psychologischen Charakters. Paul Niemands Reflexionen fungieren dramaturgisch als Kontrapunkt zu den anonymisierenden und generalisierenden Statements der beiden Berater wie der Zwischenruf in der zweiten Szene in nuce zeigt. Das litaneihafte Rekapitulieren der unternehmerischen „Core Values“ durch Sonnenschein und Glasenapp wird durch die folgende Replik Niemands unterbrochen: PAUL NIEMAND: Wir hatten diesen Wertekatalog, den klebte meine Mutter zu Hause an den Kühlschrank, und jedes Mal, wenn ich mir da was rausholen wollte, musste ich einmal laut und deutlich diese Werte runterbeten –

115 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 289. 116 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 289.

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die gehen da jetzt nicht mehr raus, die sind da drin und immer, wenn ich irgendwo auf dieser Welt in irgendeiner Wohnung in irgendeinem Hotelzimmer den Kühlschrank aufmache, denke ich KARL SONNENSCHEIN: Machen Sie den Kunden zum Helden seiner ganz persönlichen Erfolgsstory (UE 442f.)

Der Einwurf Niemands liefert mit dem Stichwort „Wertekatalog“, die Szenenüberschrift paraphrasierend, den Überbegriff zu den zahlreichen Anweisungen und Aufforderungen der Berater. Auf diese Weise werden ökonomischer und privater Diskurs semantisch kurzgeschlossen. Darüber hinaus werden die Aussagen auch syntaktisch verbunden, indem das Anakoluth zum Ende von Niemands Replik mit der folgenden Replik Sonnenscheins über die Inquit-Formel „denke ich“ zu einem Gedankengang verknüpft wird. An die Stelle der familiären Werteordnung treten die Werte des Unternehmertums, wodurch der Eindruck einer Kontinuität und Entwicklung der Wertewelten evoziert wird. Die Koppelung von persönlichem Kindheitserlebnis und unternehmerischer Verhaltensregel verweist auf die Familie als Sozialisationsinstanz, mit deren Hilfe die Basis für die Ausbildung eines unternehmerischen Selbst gelegt wird. Die Familie steht in Unter Eis nicht für den Ort der Geborgenheit und des Schutzes vor der Gesellschaft, sondern wird mit denselben Attributen versehen wie die Welt der Unternehmer. Die individuellen Identifikationshorizonte Familie und Arbeit sind beide, wie der verdichtende Eröffnungsmonolog Paul Niemands zeigt (UE 435-442), durch Gefühlsleere und Isolation charakterisiert. Zur Darstellung der Familie wie auch der Arbeitswelt rekurriert der Theatertext auf die Metapher des Eises und die Wortfelder der Kälte. Zudem besitzt bei beiden, darauf wird zurückzukommen sein, das Bewegungsbild des Fallens eine prädikative Funktion. Die Parallelisierung und Kreuzung von Arbeits- und Familiendiskurs vollzieht sich in Unter Eis vor allem über den Sprachgebrauch der Figuren. Das zentrale Charakteristikum des Theatertextes besteht in der Rhythmisierung, die durch den Wechsel von intim-privatem und ökonomisch-sachlichem Ton evoziert und dramentechnisch durch das Mittel der Montage, das Gedanken und (Selbst-)Gesprächsausschnitte ineinander verzahnt, fundiert wird. Im Neben- und Gegeneinander der figurengebundenen Sprachstile werden Ähnlichkeiten hörbar, die eine Grenzziehung zwischen den Lebensbereichen Arbeit und Familie nachhaltig infrage stellen. Sowohl die poetisch-lyrische Sprache Paul

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Niemands, in der sich die Psyche eines individuellen Charakters andeutet, als auch die Fachsprache der Berater Sonnenschein und Glasenapp, die generalisierende Züge besitzt, weist ein hohes Maß an Wiederholungen, Ellipsen, Neologismen und Metaphern auf. Gilt es als Eigenschaft von Fachsprachen, Phänomene und Sachverhalte ebenso knapp wie präzise zu erfassen, so unterläuft der Sprachgebrauch von Glasenapp und Sonnenschein diese Erwartung, indem er auffällig von Redundanzen und Interjektionen geprägt ist.117 In einem Feedback an Paul Niemand erläutert Sonnenschein wortreich: KARL SONNENSCHEIN: Ähm auf der analytischen Dimension hast du mir eine zu geringe Struktur aufgesetzt. Im Gegensatz zum Lebenslauf fehlt in dem Fall die gewisse Struktur, und dadurch bist du auch ins Schwimmen geraten. […] Den einzigen Punkt … den ich da so hab, ich hab den Biss vermisst, den Angriff, dass du so richtig durchgehst durch das Thema. Das wäre auch letztlich die Dimension, die ich da hab auf dem Personality Fit, du bist mir ein bisschen zu solide, aber nicht im Angriffsmode so richtig bissig. […] (UE 447)

Auch der Gebrauch von Anglizismen weist in die Richtung der Ineffizienz und zudem auf die Gefahr der Unverständlichkeit hin, wenn deutschsprachige Begriffe verdoppelt („Was mir fehlte, war die letzte Curiosity, die Neugier“, UE 447) oder mit englischen Worten zu Hybriden und Neologismen verbunden werden („Risikoaversness“, UE 448; „High Speed Jump Started Durchsetzungsding“, UE 454). Der von Glasenapp verkündete, sprachreflexive Leitsatz zum Redevermögen eines Beraters: „Sätze so strukturieren, dass beim Gegenüber Begeisterung aufflammt“ (UE 442), wird dadurch auf ironische Weise als Leerformel entlarvt. Heißt, mit den Worten des Dramaturgen Jens Hillje, effizient zu sein: „mit möglichst wenig Aufwand viel schaffen“118, dann kann der Redeaufwand der Berater, wie er sich unter anderem in den Beratungsgesprächen darstellt (Szene 4 und 11), durchaus als ineffizient

117 Vgl. Steffen Richter: Berater reden. Zur Sprache in Falk Richters „Unter Eis“, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 191-195, S. 192. 118 Hillje, Dürrschmidt: Effizienz ist ja eigentlich was Schönes, S. 115.

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bezeichnet werden.119 Die Anhäufung von Variationen der immer gleichen Imperative nivelliert die Prägnanz der Maximen und dies nicht zuletzt dadurch, dass zum einen die formelhaften und schlagwortartigen Repetitionen und zum anderen das Sprechen in Bildern und Vergleichen Widersprüchlichkeiten hervortreiben: KARL SONNENSCHEIN: Vergessen Sie nie: Der Kunde ist Patient, Sie sind der Arzt, wenn Sie keine Lösung wissen, sagen Sie etwas, das nach Lösung klingt, legen Sie sich ein zwei Standardkonzepte zurecht, die immer greifen, bleiben Sie spontan. […] KARL SONNENSCHEIN: Den Markt als engsten Partner und Vertrauten lieben lernen AURELIUS GLASENAPP: Du musst das, was dich kaputtmacht, letztlich als Partner begreifen, es hilft dir KARL SONNENSCHEIN: Es hilft dir, dich zurechtzufinden in einem System, das du ohnehin niemals begreifen wirst […] AURELIUS GLASENAPP: Niemals stehen bleiben, niemals zurückschauen, sich freimachen von Werten, die sich nicht den Anforderungen des Marktes anpassen können. (UE 443f.)

In versteckten Widerspruch treten hier einerseits das unternehmerische Plädoyer für das Neue und für Innovation und andererseits die Einsicht in die Notwendigkeit des Bewährten. Dabei steht der Rückgriff auf Vertrautes, das in der Form von „Standardkonzepten“ und in der Idee partnerschaftlicher Beziehungen wiederkehrt, im Zeichen des Unkontrollierbaren und Unübersichtlichen, mithin im Zeichen der Gefahr des Scheiterns. Spontaneität, so legen es die angeführten Empfehlungen nahe, wird erst möglich durch eine mittels Erfahrung und Kontinuität abgesicherte Handlungskompetenz. Nicht ohne Grund werden mit dem Arzt-Patienten-Verhältnis und dem Partnerschaftsverhältnis soziale Beziehungsmuster aufgerufen, in denen die Momente der Erfahrung und des Vertrauens einen zentralen Aspekt der Interaktion bilden. Der den angestellten Vergleichen subtil inhärente Gedanke, dass Kontinuitäten die Grundlage für Flexibilität und Mobilität bilden, begegnet in Zeitdiagnosen kritischer Beobachter der neukapitalistischen Arbeits-

119 Vgl. Richter: Berater reden, S. 192.

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formen, beispielsweise bei Richard Sennett oder auch bei Oskar Negt. Letzterer gibt mit Blick auf das Verhältnis von Mensch und Markt und auf den Prozess der Identitätsbildung zu bedenken: Die gegenwärtigen Flexibilisierungsstrategien zehren davon, dass es heute noch sozialisationsgeschützte Räume gibt, in denen identitätsfähige Menschen sich bilden können. Denn der flexible Mensch, der seine kreativen Potentiale gesellschaftlich einbringen kann, bedarf der Unflexiblen, absolut verlässlichen und von Betriebszeiten unberührten Orte und Zeiten.120

Aus dem Blickwinkel dieser Überlegung lassen sich die Redundanzen im Sprachgebrauch der beiden Beraterfiguren als Ausdruck eines Prozesses der ständigen Selbstvergewisserung verstehen. Das haltlose Reden, das sich weniger auffällig als in den Tiraden von Polleschs „Subjekte[n] der Globalisierung“121, aber im Duktus atemlosen Sprechens durchaus mit diesen vergleichbar, in Schleifen und Loops entfaltet, bringt den Konstitutionsprozess der ‚Berater‘-Identität zu Gehör. Und wo in den Sprechakten von Glasenapp und Sonnenschein vornehmlich das Rationale und Allgemeine den prozessualen Selbstentwurf als unternehmerisches Ich anleitet, ist es in den Gedankenströmen und Selbstgesprächen Paul Niemands das Emotionale und Individuelle, das die um das eigene Selbst kreisende Reflexion und Erinnerung prägt. Dabei treten die Wiederholungen in der lyrischen Selbstperformance von Paul Niemand, die sich auch im Schriftbild, vor allem in den Monologen, deutlich von den Beratertexten absetzt, ungleich radikaler und dominanter in Erscheinung. Im Eröffnungsmonolog erinnert sich Niemand an ein Kindheitserlebnis, bei dem die Momente der Rastlosigkeit, der Isolation und des Scheiterns zusammenklingen: […] [U]nd die anderen hörten mich nicht, hörten nicht, wie ich durchs Haus lief, nachts,

120 Oskar Negt: Flexibilität und Bindungsvermögen. Grenzen der Funktionalisierung, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 13-25, S. 18. 121 Als solche sind die Figuren in Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr bezeichnet. (Vgl. René Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, in: René Pollesch: www-slums, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 29-100, S. 31.)

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die Treppen rauf- und runterlief, immer wieder, rauf und runter, bis ich zusammenbrach, wieder aufstand, weiterlief, rauf und runter, immer lauter, stolperte, fiel, mich auf die Küchenfliesen warf, den Kopf gegen den Boden schlug, stundenlang, das hörten die nicht, das wollten die nicht hören, HÖRT IHR MICH HÖRT MICH DENN HIER KEINER alles schlief, alles schlief, die wollten mich nicht hören […] (UE 438f.)

Niemands Redestrom erreicht eine Dichte und emotionale Intensität, die den Eindruck des Existenziellen und des Authentischen evoziert. Doch wo mit dem Redefluss der Berater die Vorstellung permanenter Selbstoptimierung und Fortentwicklung der eigenen Fähigkeiten assoziiert ist, verbindet sich mit Paul Niemands atemlosem Sprechen das Bild des Sturzes. Dem Anspruch auf ständige Bewegung, der in einer Replik Glasenapps mit der Metapher des unentwegt fließenden Flusses verknüpft wird, kann Niemand nicht entsprechen. „Der Fluss fließt weiter, und ich muss mich einfach weiter mitbewegen, sonst falle ich hinter die Entwicklung, auch den Fortschritt in der Welt einfach zurück.“ (UE 449) Das horizontal gedachte Zurückfallen, das das berufliche Scheitern meint, wird in Richters Theatertext in die vertikale Bewegung des Niederfallens transponiert. Das Bild des Falls stellt neben der Metapher des Eises das zweite zentrale Leitmotiv des Textes dar. In Unter Eis, so lässt sich für die sprachliche Form des Theatertextes resümieren, werden die Sprache ökonomischer Rationalität und die Sprache emotionaler Soziabilität einander gegenübergestellt, vor allem indem sie als Sprachstile verschiedenen Figuren zugeordnet werden. Allerdings liegt der Akzent dieser Entgegensetzung weniger auf der

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Separierung als vielmehr auf dem Aspekt gegenseitiger Spiegelung. Es ist Steffen Richter zuzustimmen, wenn er zur Sprache der Berater in Richters Theatertext konstatiert, dass sie „nur wenig zur Denunziation des Berufsstandes“ taugt, da „ihre Bestandteile doch ebenso gut in konventionelle oder populäre Kommunikationszusammenhänge“ gehören.122 Allerdings lassen sich karikierende Effekte kaum leugnen, die weniger allein in den einzelnen (linguistischen) Elementen der Beraterrede gründen, als in deren Kombination mit dem zum Monologisieren und ‚Herunterbeten‘ tendierenden Redestil von Glasenapp und Sonnenschein. Deren Vorliebe für den auf Dringlichkeit und Überzeugung zielenden Vortrag, der allein auf die Leitsätze des Managements fokussiert ist, kontrastiert in diesem Sinne mit der Sprechnot des Beraters Paul Niemand. Auch er redet ohne Unterlass, allerdings nicht mehr aus beruflicher Überzeugung und zum Zweck unternehmerischer Selbstperformance, sondern aus bedrängender Verzweiflung und im Zustand distanzloser Zerrüttung. Niemands Situation ist als tragisch zu bezeichnen, insofern er sich der Präsenz der regulierenden Instanzen – sei es die der Familie oder die des Marktes – weder erfolgreich entziehen noch den Anspruch auf Selbstoptimierung befriedigend erfüllen kann. 5.2.2 Die Omnipräsenz der Arbeit Der Theatertext Unter Eis thematisiert mit dem Feld der Unternehmensberatung einen Bereich der gegenwärtigen Arbeitswelt, der vor allem in der Produktion und Vermarktung von immateriellen Gütern, von Dienstleistungen gründet. In der Diktion von Vertretern der Branche, die in Bauders Dokumentarfilm grow or go zu Wort kommen, lässt sich ihre Tätigkeit wie folgt beschreiben: „Beratung ist ein Überzeugungsgeschäft“, sie vermittelt die „reine Lehre“ und basiert wesentlich auf „Zahlen, Daten, Fakten, keine[n] Opinions“.123 In Richters Theatertext wird die auf Kommunikation zentrierte Beratertätigkeit in einem Konferenzraum angesiedelt. Im Vergleich etwa mit Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht, in dem die Berater in einer Messehalle anzutreffen sind, handelt es sich dabei auf den ersten Blick um einen verhältnismäßig überschaubaren Innenraum. Die durch den

122 Richter: Berater reden, S. 192. 123 „grow or go“, Zitate S. 91, S. 89 u. S. 85.

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Konferenzraum vorgegebenen Umrisse einer realistischen Szenerie werden jedoch vor allem für atmosphärische Räume durchlässig, die in ihrer Anbindung an konkrete Orte divergieren: Der theatrale Raum des Theatertextes oszilliert zwischen Konferenzraum, Flughafenhalle124, Lebensraum, Gedankenwelt und einer Science-Fiction-Welt unter Eis. Der Theatertext spielt dabei zum einem mit der in Falk Richters Stücken immer wieder thematisierten Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Authentizität und Imagination. Zum anderen ruft die dramaturgische Strategie der räumlichen Diffusion, die die Theatralität des Textes maßgeblich bestimmt, das zeitdiagnostische Postulat zur raumzeitlichen Entgrenzung von alltäglichen Lebensbereichen auf. Der Befund, dass unter dem Vorzeichen der Globalisierung Zeit- und Raumstrukturen einem Prozess der Entdifferenzierung und damit auch einer veränderten Erfahrung und Wahrnehmung unterliegen, hebt insbesondere die paratextuelle Charakterisierung des Bühnenraumes als „Lebensraum“ hervor. Die Raumangabe zu Beginn des Stücks lautet wie folgt: Ein großer, anonymer Konferenzsaal. Die Figuren sitzen hinter einem großen, langen Tisch an Mikrophonen wie bei einer Pressekonferenz oder bei einem Team-Meeting. Alles erweckt den Eindruck, als sei dies ihr Lebensraum, sie kommen hier nicht heraus, sie haben sich hier permanent eingerichtet. (UE 434)

124 Einen Anhaltspunkt zum Aufenthaltsort des Protagonisten gibt jenseits des Bühnenraums der einmal in Versalien gedruckte und einmal mittels Spiegelstrichen abgesetzte Text, der in Niemands Eröffnungsmonolog eingestreut ist und als implizite Regieanweisung für eine realistische Szenerie aufgefasst werden kann. Hörbar wird entsprechend eine Lautsprecherstimme in einer Flughafenhalle, die die Gedankenströme Paul Niemands unterbricht (UE 440-442). Dass diese Zwischenrufe, die nach der Identität Paul Niemands fragen (z.B. „CALLING PAUL NIEMAND“) und unbeantwortet bleiben, allerdings auch im Beratergespräch (UE 541), in dem sich Niemand in seine Erinnerungen verliert, hörbar werden, spricht dafür, sie als dialogischen Anteil eines inneren Monologs zu verstehen. Sie verweisen damit nicht zwangsläufig auf ein im Hier und Jetzt wahrgenommenes Szenario, sondern können auch erinnerte Erlebnisse betreffen.

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Der Raumentwurf repräsentiert demgemäß weniger eine realistische Umgebung der Arbeitswelt als vielmehr einen individuellen und einen gesellschaftlichen Zustand, der durch die Ausdehnung der ökonomischen Sphäre bestimmt ist. Arbeitsraum und Lebensraum werden metonymisch aufeinander bezogen und sind austauschbar. Mit der Vorstellung vom gegenseitigen Durchdringen der traditionell, das heißt im Rahmen der Industriegesellschaft als getrennt gedachten Lebensbereiche – Arbeit und Freizeit, Arbeit und Familie – nimmt der Theatertext Unter Eis einen Leitgedanken der Arbeitskultur des neuen projektförmigen Kapitalismus auf, die auf den ganzen Menschen zielt und insbesondere mit einer „Emotionalisierung von Arbeitsbeziehungen“125 einhergeht. Dabei legt die paratextuelle Anmerkung den Akzent auf die Ausweglosigkeit und Dauerhaftigkeit der sozialen (Raum-)Konstellation und erinnert darin an Max Webers pessimistische Beschreibung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als „faktisch unabänderliches Gehäuse“126. Was es bedeutet, den ‚ganzen‘ Menschen in die sozialen Strukturen der Arbeitsbeziehungen einzubeziehen – in der Diktion der Branche: ‚Human Resources‘ zu erschließen –, verdeutlichen die Ausführungen von Aurelius Glasenapp zum Stellenwert von Kreativität und Kultur aus unternehmerischer Perspektive. Falk Richter lässt seine Beraterfigur eine „Trainingseinheit“ zum Thema „‚Zwischenmenschliche Beziehungen‘“ (UE 463) vorstellen, in der es darum geht, mittels sportlicher oder künstlerischer Aktivitäten die Fähigkeiten und Leistungspotenziale des Einzelnen zu fördern und für den Einzelnen wie auch für das Team nutzbar zu machen: „Ich brauche ein Konzept, ein Programm“, so Glasenapp, „wie ich das, was ich erlebe, sofort in einen Reifeprozess eingliedern kann, der auch von außen wahrgenommen wird. Menschliche Beziehungen können mir nur dann nützlich sein, wenn ich sie auch nutzbar mache.“ (UE 464) Ein solches Konzept liefert die Consulting Industry beispielsweise mit dem Interventionsinstrument des sogenannten Unternehmenstheaters. Dessen Funktion be-

125 Helga Manthey: Menschliche Organisationen und verorganisierte Menschen. Zur Emotionalisierung von Arbeitsbeziehungen, in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 109-133. 126 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 79. Vgl. dazu Kapitel 4.1 in dieser Arbeit.

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steht nach einer allgemeinen Formulierung des Unternehmers Markus Berg darin, „den Menschen nachhaltig und schnell [zu] erreichen und zu einer selbstbestimmten Verhaltensänderung [zu] bewegen, die den Interessen der Organisation entspricht“127. Dabei variiert die Erscheinungsform des Unternehmenstheaters mit den Interventionszielen des Unternehmens, etwa in Bezug auf die Informationsrecherche, den Wirkungsschwerpunkt, den Partizipationsgrad der Teilnehmer oder den Professionalisierungsgrad der Darsteller.128 Richters Theatertext reflektiert mithin die Implementierung einer künstlerischen Praxis, hier des Theaterspiels, in die Unternehmenspraxis und ruft damit die arbeitssoziologische These auf, derzufolge die Arbeitswelt zunehmend am Imperativ der Kreativität ausgerichtet ist und Künstler etwa „als Pioniere der New Economy“129 und allgemeiner als Leitbild beziehungsweise Inbegriff130 des unternehmerischen Arbeitssubjekts fungieren.131 Der Theatertext thematisiert das Unternehmenstheater und da-

127 Markus Berg: Unternehmenstheater, in: Michael Mohe (Hg.): Innovative Beratungskonzepte. Ansätze, Fallbeispiele, Reflexionen, Leonberg 2005, S. 251-283, S. 252f. 128 Vgl. Berg: Unternehmenstheater, S. 257. 129 Einen kritischen Kommentar zu dieser These, der insbesondere die Folgen für das Verständnis von Künsten und Kultur berücksichtigt und die am Moment der Individualisierung ausgerichtete Allianz von Kunst und Wirtschaft in ihrer politischen Dimension reflektiert, formuliert Angela McRobbie: „Jeder ist kreativ“. Künstler als Pioniere der New Economy?, in: Mandakranta Bose, Jörg Huber (Hg.): Singularitäten – Allianzen. Interventionen, Zürich, Wien, New York 2002 (Interventionen, 11), S. 37-60. 130 „[S]eit den 1970/80er Jahren [verschiebt sich] der Bedeutungsgehalt des Unternehmerischen wie des Kreativen so, das das eine dem anderen sinnhaft übergestülpt werden kann und beides gemeinsam den Code des Bewegt-Dynamischen konkretisiert: Der Unternehmer ist kreativ, und der Kreative ist Unternehmer.“ (Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 516f.) 131 Axel Haunschild beleuchtet die Umkehrseite, wenn er nach dem Zusammenhang von Kunst und Arbeit aus Perspektive des Theaterspiels beziehungsweise des Theaterkünstlers fragt. Er hält fest: „Insbesondere die Entwicklung der Medien- und Filmindustrie hat dazu beigetragen, dass heute die Cultural Industries (im weiteren Sinne die Creative Industries) einen wachsenden Wirtschaftsfaktor darstellen und von Regierungen entsprechend als zukunftsträchtige Industrien mit Modellcharakter heraus-

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mit das unter ökonomische Vorzeichen gestellte Medium seiner eigenen impliziten Realisation. Bei dem von Richters Beraterfigur skizzierten Theaterprojekt handelt es sich um ein Musical, das nach einer „dreimonatige[n] firmenweite[n] Researchphase“ die Wünsche und Vorstellungen der „Belegschaft“ kompiliert und aus diesen die Geschichte einer „verloren gegangene[n] Robbe“ entwickelt (UE 463f.). Das fünfaktige Stück wird, „getanzt in weinroter Farbgebung“, mit „Musik aus dem Bereich der Popmusik“ auf die Bühne gebracht (UE 464). Glasenapps Projektdarstellung gipfelt in der grotesken Quintessenz, in der Fiktion und Maximen unternehmerischen Handelns verschränkt werden: „Sie [die Robbe, C.B.] hat ihre Reise genutzt, um Mensch zu werden, und bringt dies nun auch sehr gut rüber.“ (UE 465)132 Richters Unter Eis zitiert Interventionstechniken, die kreative und künstlerische Prozesse für die Umsetzung und Weiterentwicklung unternehmerischer Ziele funktionalisieren, im Gestus der Überzeichnung und Ironisierung. Ähnliche Parodien auf den Einsatz künstlerischer Praktiken im Unternehmenskontext bilden auch der Bericht Paul Niemands über seine Mitwirkung in dem Musical „König der Löwen“ (Szene 3), das als Bestandteil eines Assessment-Centers durchgeführt wird, und Karl Sonnenscheins Gedichtvortrag (Szene 10). Der Theatertext treibt die ‚Entdeckung‘ künstlerischer Kreativität für ökonomische Zwecke beziehungsweise die Koppelung von Kunst und Wirtschaft in die Groteske. Während Sonnenschein, vor dem Hintergrund des Vortrags von Glasenapp über die Nützlichkeit und Profitabilität kulturellen Engagements (Szene 9), mit seinem Gedichtvortrag „Abenteuer Kultur“ (UE 465) karikaturistische bis lächerliche Züge erhält, markiert Paul Niemand seine Distanz zum kulturellen Aktionismus im Dienste unternehmerischer Ziele. Die

gestellt, gefördert und beforscht werden […]. Künstler werden unter diesen Bedingungen zunehmend zu Kulturarbeitern beziehungsweise Culturepreneurs, die Kunst und Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden suchen und sich dadurch vom Idealtypus des noch nicht erfolgreichen, bewusst von der Arbeitswelt entkoppelten Bohemiens unterscheiden.“ (Axel Haunschild: Ist Theaterspielen Arbeit?, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 141-156, S. 144.) 132 Die Schlusspointe sowie die Personifikation von Tieren verweisen erkennbar auf das Genre der (Tier-)Fabel.

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Darstellung seiner Teilnahme im Musical „König der Löwen“ legt die objektiven Zwangs- und Sanktionsmechanismen offen, denen das subjektive Gefühl der peinlichen Bloßstellung133 entspricht: Wer im wörtlichen Sinne nicht mitspielt, bekommt „als Nächstes ein Projekt, das qualitativ unter dem steht, was du eigentlich erhofft hattest, als Strafe sozusagen, als Vorwarnung, heißt, du wirst dann nach Dresden oder Dortmund geschickt, obwohl du eigentlich für London oder Tokio vorgesehen warst –“ (UE 445). Das künstlerische Engagement wird damit zur Voraussetzung ökonomischen Erfolgs. Mit Bezug auf das Profil des unternehmerischen Arbeitssubjekts bedeutet dies: Wer sich der ‚Kreativarbeit‘ entzieht, die eine „zentrales Element der Selbststilisierung“134 ist, zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt als nicht wettbewerbsfähig. Den „Mehrwert von Kultur“ erkennt Glasenapp darin, dass sie „uns auf andere Gedanken“ bringt und einen „Ausgleich“ schafft, womit sie „einen ähnlich guten Zweck wie Sport“ erfülle (UE 465). Ob es sich jedoch tatsächlich um ‚andere‘ Gedanken und um einen ‚Ausgleich‘ im Sinne einer Ausbalancierung handelt, hinterfragt Richters Unter Eis, indem es vor allem die zeiträumliche Entdifferenzierung von Produktion und Reproduktion diskutiert: Die Figuren haben sich im Konferenzraum „permanent eingerichtet“. Der Text reflektiert die unmittelbaren Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen des Arbeitssubjekts, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Arbeitskollegen tendenziell an die Stelle eines privaten Umfeldes treten.135 Pointiert kommt diese Thematik im zweiten Beratergespräch zur Sprache, an dessen Ende Karl Sonnenschein vorschlägt: „Wollen wir noch alle zum Squash heute?“ (UE 468) Es folgt die einzige in der Regieanweisung ausgewiesene „Kurze Pause“ des Stücks, die den Moment der Grenzüberschreitung akustisch unterstreicht. Die zögerlichen und ausweichenden Reaktionen seiner beiden Kollegen Glasenapp und Niemand kontert Karl Sonnenschein wortreich im Gestus des Überzeugens:

133 „Ich wollte nicht, / ich wollte das nicht, / mir war das peinlich […]“ (UE 444), lautet Paul Niemands Bekenntnis, das graphisch von dem übrigen Erinnerungsbericht abgehoben ist: Im Schriftbild gelingt die Distanzierung. 134 Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 500. 135 Vgl. Meschnig: Unternehme Dich selbst!, S. 29.

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Na, los, zwei, drei Stunden Squash, anschließend noch n bisschen Wasserski und Parashute Gliding, dabei können wir doch noch ganz schön den Debrief auswerten, anschließend noch ne Runde Bowlen und dann nochmal Parashute Gliding und noch ne Runde Extrem Inline Skating und dann nochmal den Debrief auswerten und noch ne Runde Squash und noch einmal den Fluss raufund runterschwimmen und dann noch n Rafting-Wochenende dranhängen und dann schon mal die Listen für den nächsten Tag durchgehen und immer wieder Parashute Gliding […] und das Feedback unaufgefordert weiterleiten und die Sätze so strukturieren, dass Begeisterung aufflammt, und dann immer wieder richtig schön Parashute Gliding und noch n paar Gedichte schreiben […] und mit verbundenen Augen ein tragbares Office in einer Flughafenlounge aufbauen und schon mal die Listen für den nächsten Tag durchgehen und die FAZ Korrektur lesen und dann nochmal Walken Klettern Singen Tanzen Squash Inline Skaten und Parashute Gliding und den Flieger nicht verpassen und im Taxi noch ne Runde Schlittschuhlaufen und anschließend mit dem Taxifahrer noch den Debrief auswerten und dabei noch ne Runde Bowlen und die ExcelStatistiken gegenchecken. (UE 468f.)

In Sonnenscheins Replik wird die Aufhebung der Begrenzungen von Arbeit und Freizeit sowohl auf inhaltlicher als auch auf syntaktischer Ebene anschaulich. Die Rede, deren parataktisch organisierter und beinahe interpunktionsloser Sprachfluss auf ein gehetztes und atemloses Sprechtempo verweist, umschreibt Arbeitsverhältnisse, die auf ein Maximum an Integrationsleistung und Effizienz setzen. Die Akkumulation der beruflichen und freizeitlichen Tätigkeiten, der unternehmerischen Leitsätze und Assessment-Center-Aufgaben überführt den neukapitalistischen Anspruch, „Arbeit als Lebensstil“136 zu begreifen, in ein groteskes Szenario, das vor allem durch die Redundanzen der Tätigkeiten sowie durch die Formulierungen „und dann“, „und noch“ und „nochmal“ die Unabschließbarkeit der Anstrengungen und die Unerfüllbarkeit der Anforderungen aufzeigt. Die durch ein ausdauerndes und schnelles Sprechen gekennzeichnete Performance der Figur, die auf das leistungsstarke, kreative und sportliche Arbeitssubjekt referiert, steigert die programmatisch geforderte Verausgabung ins Hysterische und fördert durch das Mittel der Übertreibung das dem entworfenen Arbeitsverständnis eigene Suchtpotenzial zutage. Die Selbstper-

136 Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003.

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formance Sonnenscheins reflektiert kritisch das Phänomen der Omnipräsenz von Arbeit, indem die Bewegung der zeiträumlichen Entgrenzung der Arbeit als Überforderung und Maßlosigkeit vorgeführt wird. Die Aufmerksamkeit wird an dieser Stelle wie insgesamt in Richters Theatertext auf die Zumutungen verallgemeinerter unternehmerischer (Selbst-)Mobilisierung gelenkt. Wo sie bei der Figur des Karl Sonnenschein in den Zügen des Workaholics nachgezeichnet werden, gewinnen sie bei der Figur des Paul Niemand als erschöpftes und gescheitertes Arbeitssubjekt Kontur. 5.2.3 Der Fall des überflüssigen Ichs „Es geht immer darum, einen Schritt weiterzugehen, und Stillstand ist Rückschritt, weil die anderen bleiben ja nicht unbedingt still stehen, sondern die anderen bewegen sich ja auch weiter“ (UE 449), so lautet eine der Überzeugungen, die der Berater Karl Sonnenschein verkündet. Die Einsicht in das Erfordernis ununterbrochener Bewegung ist kennzeichnend für das unternehmerische Subjekt, das im projektförmigen Kapitalismus „zum Modell natürlicher Dynamik und lebendiger Aktivität universalisiert“137 wird. Die Semantik von dauerhafter Mobilität und Rastlosigkeit bündelt sich in Richters Theatertext Unter Eis vor allem in der Metapher des Wassers. Die Bewegung des Fließens kristallisiert sich dabei als das zentrale Prinzip ökonomischer Prozesse heraus: Über die Wassermetaphorik werden im Verlauf des Stücks die Vorstellung vom „Fluss“ des technologischen Fortschritts (UE 449), vom „Geldstrom“ (UE 472) sowie vom „Fluss der Waren“ (UE 475) verknüpft. Demgegenüber ist der Zustand des Stillstands in der Titelmetapher des Eises aufgehoben, von der aus der Text die Semantik der Kälte entfaltet und die von der letzten Szene, einem Monolog mit dem Titel „Aurelius Glasenapp – Seltsam hier unter Eis“ (UE 474) im Sinne einer Rahmung eingeholt wird. Neben Worten wie „kalt“ und „Eis“ ziehen sich Komposita wie „Tiefkühlkost“ und „Tiefkühltruhe“ durch die Figurenrede Paul Niemands, wobei wiederholt sprachspielerische Elemente auftreten, etwa der Art: „Kälteschock / Kaltgefroren Tiefgefroren Tiehkühlkost kalt kalt“ (UE 437) oder „Tütensuppen, Tütenexistenz, Tütendepp, ich bin ein Tütendepp, der Tiefkühltrottel, ich will erfrieren“ (UE 461). Insbesondere im Eröffnungsmonolog, in dem

137 Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 500.

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sich Niemand an seine Kindheit und seine Eltern erinnert, verdichten sich die Bilder der Kälte und der eisigen Starre. Die Szenen, die das Verhältnis des Sohnes zu seinen Eltern illustrieren, sind von einer Atmosphäre der Gefühlskälte, der Trostlosigkeit und der Einsamkeit bestimmt: [U]nd diese wirre Mutter und dieser wirre Vater, diese ängstlichen, einsamen Menschen, diese wirren, unsicheren Menschen, die durch ihr Leben irren, unsicher, kraftlos, fallen, wieder aufstehen, fallen, wieder aufstehen, sich nicht weiterbewegen, die sehen mich nicht, die hören mich nicht, die sind festgefroren UNTER EIS die haben nur einen Sohn geboren, weil man das halt so macht, die lieben mich nicht, und deshalb werde ich immer rennen und laufen und suchen und schauen und stürzen und fallen und zerbrechen und schreien. Ich erinnere mich an lange Spaziergänge durch den tiefgefrorenen Wald […] Ich fiel zurück, wollte alleine gehen, ich genoss den Moment, wo meine Eltern am Horizont verschwanden, ich war allein, endlich […]. (UE 437f.)

Die Familie wird hier als Instanz der Sozialisation adressiert, die an ihrer sozialen Aufgabe, dem Kind Schutz zu gewähren und Orientierung zu geben, gescheitert ist. Die Eltern werden, aus der Sicht des narzisstisch-gekränkten Nachkommen, als Antivorbilder erinnert, von denen es sich wie von einer Last zu befreien gilt, weil sie ihrem Sohn ihre Aufmerksamkeit und Liebe vorenthalten. In ihrem Desinteresse und ihrer Schwäche, so will es die Dramaturgie des Theatertextes, gründet das Scheitern Paul Niemands. Auf die Parallelität zwischen dem Schicksal der Eltern und dem des Sohnes verweist die mit dem Motiv der Kälte eng verbundene Semantik des Fallens respektive des Sturzes. Wenn man auf der einen Seite das am Stückauftakt stehende Bild vom Sturz des Himmels gegen den Horizont und von Paul Niemands Anrufung der Sonne heranzieht sowie auf der anderen Seite den Flughafen als dem Haus der Eltern benachbarter Ort und als Aufenthaltsort im Arbeitsalltag Paul Niemands ins Auge fasst, so ist mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn der Ovid’sche Mythos von Dädalus und Ikarus beziehungsweise dessen negative Verkehrung zu assoziie-

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ren: Der Vater, der als Fluglotse „der Schlechteste“ ist (UE 436), ist keine Autorität, die den Sohn in die Freiheit führen will und gegen die der Sohn aufbegehrt. Dennoch ‚fällt‘ der Sohn und erweist sich darin als tragische Gestalt. Der tragische ‚Fall‘ des Protagonisten, den der Text mit dem beruflichen Ausscheiden gleichsetzt, wird im zentralen Bild des Theatertextes, in dem Sturz und Kälte zusammengeführt werden und das den Fenstersturz einer Katze zeigt, vorweggenommen. Auf dem nächtlichen Nachhauseweg von der Musical-Veranstaltung und in Begleitung seiner stark angetrunkenen Kollegin Betty aus der Buchhaltung beobachtet Paul Niemand, wie aus einem Fenster, hinter dem ein heftiger Streit zwischen Mann und Frau zu hören ist, eine Katze in den Kanal geworfen wird: [D]ie Katze streckt alle viere von sich, Angst in ihrem Gesicht, versucht, sich abzufangen, aber findet keinen Halt, keinen Halt im freien Fall, es ist so kalt draußen, es schneit, es friert, alles verlangsamt sich, die Katze schaut mich an, als suche sie Hilfe, ich schaue zurück, ich kann dir nicht helfen, mit gehts doch genauso, und sie fliegt panisch in Richtung der langsam zufrierenden Wasseroberfläche des Kanals, schlägt auf und friert wenige Zentimeter unter der Oberfläche mit dem Ausdruck größten Entsetzens, der panischsten Angst und Verzweiflung ein und bleibt liegen, zuckt noch ein paar Minuten oder Stunden, ich weiß es nicht, und stirbt […]. (UE 445f.)

Die Einfühlung in ein Tier, die ihm im Rahmen der Musicalinszenierung „König der Löwen“ mit der Darstellung eines Rhinozeros als Beleg für seine Professionalität in Fragen unternehmerischer Selbstoptimierung abverlangt wurde, gewinnt in einer anderen Situation albtraumhaften und pathologischen Charakter. In dem Schlussmonolog Paul Niemands, der mit „Delirium“ überschrieben ist, kommt es in Augenblicken panischer Entlassungsangst zur Identifikation des Protagonisten mit der stürzenden Katze: London – Berlin – Budapest – Bremen – Bremerhaven – Kiel, mein Enthusiasmus lässt nach, meine Energie, ich spüre, wie ich langsam im Flug aus dem zwanzigsten Stockwerk unseres Bürogebäudes zu Eis gefror, alle viere von mir gestreckt, panischer Gesichtsaus-

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druck, wirre Panik, so flog ich Richtung Eis und kam neben den anderen Katzen auf dem Kanal zum Liegen, festgefroren, unter Eis, da lagen wir starr und starrten einander in die Augen, niemand sprach, auch hier hoffte jeder, er würde es noch irgendwie schaffen […]. Eine letzte Erinnerung, während ich langsam in Zeitlupe erfror: Der Flur nachts. Ich gehe als Letzter. Die Räume atmen leise vor sich hin, alles wartet auf den nächsten Tag. Der Geldstrom fließt weiter, ich höre das Rauschen, es ist ein leeres schnelles Rauschen, es ist eine schnelle Einsamkeit in diesen Räumen. (UE 472)

Im Bild der stürzenden und erfrierenden Katze ist die Angst vor der Entlassung gebannt, die sich durch den – bezeichnenderweise räumlich abzulesenden –‚graduellen Abbau‘ ankündigt.138 Die Arbeitslosigkeit, die das Individuum in einer sich über Arbeit definierenden Gesellschaft zum Außenseiter und sozial Ausgeschlossenen macht, wird hier imaginiert als Kältetod. Dass diese Erfahrung in eine neue Form der Kollektivität münden kann, wird in dem ironischen Verweis auf die „anderen Katzen“ angedeutet, im Theatertext insgesamt als etwaige Utopie jedoch nicht weiter verfolgt. Dominierend bleibt die Aussage vom Ausschluss eines gescheiterten Einzelnen, der aus der Gruppe der ‚gleich gesinnten‘ Berater ausscheidet. Dass dieser Prozess der Exklusion Teil der Arbeitsbeziehungen und -strukturen ist, legen Sonnenscheins Ausführungen zum Personalmanagement offen (Szene 6). Sein Unternehmen hat einen „ganz ausgefeilten Bewertungs- und Beurteilungs- und Feedbackprozess“ installiert, innerhalb dessen jedem Berater vier beratende Mentoren und zwei „verdeckte Agenten“ zugeteilt sind, wobei eben diese selbst auch als Berater in Projekten tätig sind und ebenfalls beraten und überwacht werden:

138 „[W]ir schmeißen ältere Mitarbeiter nicht sofort raus, sondern bauen die graduell ab, das heißt ganz konkret, wir lassen denen immer weniger Verantwortung zukommen und stellen die in immer kleineren Projekten auf, das heißt, sie sind in ihrer Hochphase in New York stationiert und pendeln gleichzeitig noch zwischen Tokio und Paris, und dann baut sich das eben graduell ab, London – Berlin – Budapest – Bremen – Münster – Oldenburg – Fürstenfeldbruck – Husum – das wäre so humane Sterbehilfe, sag ich mal, also, ein Abgang in Würde […].“ (UE 455f.)

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[D]as Netz der Mentoren und Agenten ist so komplex mittlerweile verteilt, dass ich denke, dass wir sagen können, fast jeder Mitarbeiter ist auch noch als verdeckter Agent tätig, wobei selbstverständlich absolutes Stillschweigen darüber herrschen muss, welchen Mitarbeiter er überwacht, das kann über eine Zeitspanne von sechs Wochen sein, manchmal aber auch über mehrere Jahre gehen. (UE 453f.)

Das Verfahren der gegenseitigen Beobachtung und Beurteilung steht dem im Unternehmensmanagement angewandten Instrument des sogenannten Panoramic Feedback nahe, „bei dem die berufliche Performance von Mitarbeitern aller Ebenen durch parallele Befragung von Kollegen, Untergebenen, Vorgesetzten, eines Supervisors sowie durch Selbsteinschätzung bewertet und dem Betreffenden in Form eines individuellen Leistungsprofils übermittelt wird“139. Mit der 360-GradBeurteilung wird, folgt man Ulrich Bröckling, ein „demokratisierte[r] Panoptismus“140 etabliert, der an Jeremy Benthams Kontrollarchitektur in Form des Panopticons141 erinnert. ‚Demokratisch‘ funktioniert das System der Leistungsbeurteilung, das eine an schrankenloser Sichtbarkeit und an Kontaktmöglichkeiten interessierte „Architektur des Postfordismus“ errichtet, insofern es zu einer Aufhebung der panoptischen Asymmetrie zwischen Sehen und Gesehen-Werden tendiert.142 Paul Niemand wird zum Objekt der Beobachtung, da er sein Leistungspensum nur unzureichend erfüllt (Szene 4: „Beratergespräch 1 – klarer Reject“) und er aufgrund seines Alters zu jener Gruppe von Mitarbeitern gehört, die zum Kreis der verdächtigten Leistungsschwachen zählen und täglich mit ihrem „Abbau“ zu rechnen haben. Sonnenschein stellt klar:

139 Ulrich Bröckling: Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des „unternehmerischen Selbst“, in: Ulrich Bröckling, Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002 (Literatur und Anthropologie, 15), S. 157-173, S. 164f. 140 Bröckling: Diktat des Komparativs, S. 165. 141 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, 11. Aufl., Frankfurt/Main 1995 [1977], S. 256-292. 142 Sven Opitz: Gouvernementalität im Postfordismus. Macht, Wissen und Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität, Hamburg 2004, S. 127f.

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[…] [W]enn ich merke, da macht sich etwas in mir breit, Müdigkeit will ich das jetzt mal nennen, der Wunsch vermehrt auftritt, zur Ruhe zu kommen, dann eben auch selbstständig die Konsequenz zu ziehen und zu sagen, ja, gut, ich seh mich jetzt nach nem anderen Betätigungsfeld um, das ist oft ab vierzig, dass da auch mal vermehrt der Wunsch auftritt, jetzt will ich mal meine Frau länger als zwei Stunden am Wochenende sehen, jetzt will ich meinen Sohn auch mal am Nachmittag zum Fußball fahren, das merkt man dann schon, da sollte man dann sofort gehen und sich nicht unnötig zum Ballast für den Betrieb machen […]. (UE 454)

Mit der Infragestellung seiner Person im Namen von ökonomischen Werten, Prinzipien und Strategien geht zugleich die Selbstbefragung Paul Niemands einher. Der institutionalisierten Metareflexion, die jeden Berater zum Subjekt und zum Objekt der Kontrolle macht, korrespondiert die Selbstreflexion, die Züge internalisierter Selbstkontrolle erkennen lässt. Dramaturgisch werden damit zwei Perspektiven auf das Verhältnis von Individuum und Marktwirtschaft, von Mensch und Ökonomie eröffnet, welches als zentrales Thema des Textes bestimmt werden kann. Die vor allem psychische Erschöpfung, die dem Zustand des Burnout gleicht und die im Zusammenhang mit den wirren Gedanken und Wahrnehmungen das Stürzen des Protagonisten auch als medizinischen ‚Fall‘ lesbar macht, mündet in einen Akt der Ersetzung. In der strukturellen Mitte des Theatertextes, in den Szenen 7 und 8 (UE 459462), wird die Figur des ‚alten‘ Paul Niemand durch die Figur des Kindes abgelöst. Diese betritt, wie der Nebentext ankündigt, als „Kind/Mr-Nobody-Kopie“ den Bühnenraum. „[D]as Kind kommt langsam in den Raum und blättert vorsichtig in den Akten der Männer, es flüstert Zahlenreihen und Aktiendotierungen ins Mikrophon […]“ (UE 459): LONDON Aberdeen Global AMSTERDAM ABN Amro Investment Management TOKIO ACM Offshore Funds NEW YORK Activest Investment GmbH HONGKONG Adig Investment Lux FRANKFURT SA ALSA AEB Asset Management PARIS Allianz Invest KAG ROM Axa Rosenberg Management ZUERICH Baring Fund Managers SEATLLE Baring International […]

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3U 31 DE 0005167902 UUU 8,25 +114,3 9,25 3,66 75,2 65,97 68,00 1,1 0,20 0,76 0,87 11 9 0,7 14 (12) ADVA OPTICAL 26 DE000513006 ADV 3,10 +152,0 3,95 0,50 102,7 88,06 93,00 […] ARTICON ATOSS AUGUSTA BAADER CANCOM CENTROTEC CONDOMI CONNECT CONSTANTIN DATA MODUL DEAG DIALOG EALG ZERO FREENET GESCO HEILER INIT INFOR INTERSHOP LAMBDA PHYSIK LPKF LYCOS EUROPE […] (UE 459)

Das Kind, das in Aktiendotierungen und Zahlenkolonnen spricht, das den „reinen ökonomischen Code“ wiedergibt, repräsentiert in seinem Auftreten die nachfolgende Beratergeneration und tritt mithin als Figuration der Zukunft in Erscheinung. Sein Sprechen bildet – flüsternd – den akustischen Hintergrund für den folgenden Erinnerungsmonolog Paul Niemands, denn beide, so sieht es die Regieanweisung der achten Szene vor (UE 460), sprechen gleichzeitig. Es entsteht eine chorische Sprechersituation, in der zum einen die Ununterscheidbarkeit und damit Austauschbarkeit von Original und Kopie thematisch wird. Zum anderen gewinnen im kindlichen Sprechen, nämlich genauer: im Phänomen der kindlichen Stimme, die Kindheitserinnerungen Paul Niemands physische Präsenz. Die Figur des Kindes ist in dieser Doppelszene demnach als eine zweifach codierte zu lesen: Sie bedeutet die individuelle Vergangenheit und zugleich die Zukunft des Ökonomischen. Die Reflexion der Bedeutung von Zeit, die das Kind aufruft, gewinnt in seinen letzten Worten zum Ende des Theatertextes pessimistische oder gar lethargisch zu nennende Züge: Ich klage nicht an ich halte durch Ich habe nichts mehr zu erwarten Mein Weg ist schon verplant Mich erwartet nichts mehr Ich habe kein Leben mehr vor mir Das Leben das vor mir liegt wurde schon tausendmal gelebt (UE 474)

Die Ersetzung des Paul Niemand durch das Kind, das im zweiten Beratergespräch (Szene 11) an seiner statt zum „Objekt der Auswertung“ (UE 466) wird, ist unter betriebswirtschaftlichem Aspekt als Aufstieg des Nachwuchses in der Beraterbranche und als die – dramaturgisch extrem verkürzte – Entlassungsprozedur eines älteren Mitarbeiters zu lesen. Dabei klingt in den kindlichen Worten das Ende des selbstbe-

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stimmten Spiels mit der unternehmerischen Selbststilisierung und Selbstoptimierung an. In der Figurendoppelung scheint mithin das für Falk Richters Theatertext sowohl dramaturgisch als auch inhaltlich zentrale Moment des Stillstands auf. Die statische Eiseskälte und das Überflüssig-Werden des Einzelnen werden im Schlussmonolog von Unter Eis in einer letzten Wendung auf die Menschheit ausgeweitet. Die letzte Szene stellt die Frage nach der Existenzberechtigung des Menschen in einer durch Warenkonsum und Technik zunehmend perfekt rhythmisierten und strukturierten Welt. Aurelius Glasenapp befindet sich „hier unter Eis“ (UE 474) und beobachtet, wie die Dinge, die der Mensch geschaffen hat, an dessen Stelle treten und ‚leben‘.143 Richter lässt seinen Theatertext Unter Eis mit einem Zukunftsszenario enden, in dem er die These einer Entindividualisierung durch die neukapitalistischen Arbeitsanforderungen mit der These einer Enthumanisierung durch das Primat der ökonomischen Logik kurzschließt. Weniger der Zukunft als der Gegenwart verpflichtet zeigt sich die in John von Düffels Elite I.1 geführte Auseinandersetzung mit der im Zeichen des Selbstunternehmertums stehenden Vorstellung von Individualität.

5.3 ARBEITSBEZIEHUNGEN IN AUSSCHNITTEN : J OHN VON D ÜFFELS E LITE I.1 Mit seinem Theatertext Elite I.1144 beleuchtet John von Düffel einen Ausschnitt der Arbeitswelt, in dem eine gesellschaftliche Minderheit

143 Das Szenario spielt auf Thesen der Netzwerk-Aktanten-Theorie nach Bruno Latour an, der zufolge nicht zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren zu unterscheiden sei, also auch Dingen Handlungsfähigkeit zukomme. Das Soziale ist gemäß dieses theoretischen Ansatzes ebenso wenig wie Natur und Technik als ‚gegeben‘ zu betrachten. Das Soziale sei ebenso konstruiert und erklärungsbedürftig. Vgl. dazu Timothy Simms: Soziologie der Hybridisierung: Bruno Latour, in: Peter Moebius (Hg.): Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz 2004, S. 379-393. 144 John von Düffel: Elite I.1, in: Nils Tabert (Hg.): Playspotting 2. Neue deutsche Stücke. Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann, Tim Staffel, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 265-300. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚EL‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

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im Mittelpunkt steht: Das dramaturgische Okular fokussiert, wie der Titel im Gestus der Überbietung verspricht, die Besten der Besten (der Besten). Dabei akzentuiert die vom Autor gewählte Bezeichnung dieser Personengruppe, dass deren Status, eine Spitzenposition innezuhaben, durchaus ambivalent ist, denn die Konnotation des Wortes „Elite“ ist im zeitgenössischen Sprachgebrauch nicht ausschließlich positiv. So stellt der Schriftsteller Burkhard Spinnen in seinen sprachkritischen Reflexionen auf die Wirtschaftssprache zu Beginn des 21. Jahrhunderts fest: Das Wort Elite trägt offenbar einen Januskopf. Im Bereich des Sports wird allgemein hingenommen, dass es Eliten, also Bessere und Beste gibt, während es in anderen Lebensbereichen schon fast verpönt ist, diesen Umstand nur zu erwähnen, geschweige denn die Besseren und Besten so zu bezeichnen (oder gar zu fördern). […] Ich glaube, das alles rührt von einem Missverständnis. Ich fürchte, wer heute mit so viel Abscheu das Wort Elite ausspricht, meint eigentlich etwas vollkommen anderes. Er meint ‚Privilegierte‘. Zwei Wörter lateinischen Ursprungs, die offenbar einander zum Verwechseln ähnlich geworden sind.145

Das dergestalt im öffentlichen Diskurs verankerte Changieren zwischen An- und Aberkennung von Leistung und Erfolg und damit auch die Wertigkeit von Erfolg diskutiert John von Düffels Theatertext Elite I.1. Dazu lenkt er den Blick auf den Alltag von sechs Einzelkämpfern, deren Denken und Handeln sich an ihrer Arbeit und der damit verbundenen Selbstperformance orientieren. Die Zeitgenossenschaft des Textes, der im Jahr 2002 uraufgeführt wurde, weist sich mithin nicht, wie der Titel auch assoziieren ließe, über die Nähe zur Bildungsdebatte aus, die im Anschluss an die PISA-Studien aus dem Jahr 2000 aufkommt146, sondern zeigt sich vornehmlich in der Auseinandersetzung mit der Entwicklung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und der Rolle des ökonomischen Subjekts.

145 Burkhard Spinnen: Gut aufgestellt. Kleiner Phrasenführer durch die Wirtschaftssprache, Freiburg/Breisgau 2008, S. 94-95, S. 94. 146 Das Thema Bildung greifen dagegen von Düffels Theatertexte Solingen und Rinderwahnsinn auf. Vgl. dazu Schößler: Augen-Blicke, S. 275 u. S. 278.

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Den Bezug zu aktuellen Konfliktstoffen der Gegenwart teilt der Theatertext Elite I.1 mit einem Großteil der ihm werkgeschichtlich vorausgehenden Dramatik von Düffels. Frühe Stücke des Autors konfrontieren das Publikum mit den Themen Rechtsradikalismus (Oi, Solingen, beide UA 1995) und Terrorismus (Born in the RAF, UA 2001) und greifen wiederholt auf das Genre des kritischen Volksstücks zurück, namentlich indem Szenarien der Aggression und Gewalt in den Rahmen des Familiären eingelassen werden. Insbesondere diese einem sozialkritischen Impetus folgenden Theatertexte lassen sich dem Genre des Zeitstücks zuordnen.147 Das in den frühen Stücken dokumentierte Theaterverständnis lässt, so Franziska Schößler, zudem die Referenz auf Augusto Boals Forumtheater erkennen.148 In der Diskussion um die Gegenwart und Zukunft des Theaters positioniert sich von Düffel, wie er programmatisch in seinem im Jahr 2000 publizierten Essay Neue Texte braucht das Land ausformuliert, auf der Seite derjenigen, die sich dem Versuch verschreiben, „die veränderte Wirklichkeit für das Theater erzählbar zu machen“149 und zwar in Form der Geschichte.150 Der Dramatiker konstatiert, dass sich das Theater „mehr denn je […] an seinem Wirklichkeitsgehalt messen lassen“151 müsse, worauf „Formspielereien und ästhetische Experimente allein“152 nicht hinwirken könnten. In Abgrenzung zu dem an der Berliner Schaubühne unter Thomas Ostermeier proklamierten „neuen Realismus“, der den Fokus vorzugsweise auf soziale Randgruppen und Milieus lenkt, ist von Düffel jedoch der Überzeugung, „dass das Epizentrum der Geschichten,

147 Vgl. Nicola Schnell: Theater, Tatort der Tatenlosigkeit – John von Düffel, in: Frank Hörnigk (Hg.): Stück-Werk. Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre. Porträts, Beschreibungen, Gespräche, Berlin 1997 (Theater der Zeit, Arbeitsbuch 2), S. 32-35, S. 33. 148 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 275. 149 John von Düffel: Neue Texte braucht das Land. Programmlosigkeit und Perspektiven – zur Lage der neuen deutschen Dramatik, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 10, S. 16-18, S. 17. 150 Vgl. auch das Interview: John von Düffel, Franziska Schößler: Interview. 25. März 2003 am Thalia Theater Hamburg, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 315-324. 151 Düffel: Neue Texte braucht das Land, S. 17. 152 Düffel: Neue Texte braucht das Land, S. 17.

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die heute erzählt werden müssen – auf welche Art und Weise auch immer –, in der Mitte liegt, soweit man im Moment ihrer Atomisierung überhaupt noch von ‚Mitte‘ sprechen kann“153. Es gelte, „neue Geschichten und eventuell neue Formen zu finden für die Grenzgänger und Außenseiter im Innern der Gesellschaft“154. Welche „Form“ der im Theatertext Elite I.1 dargestellte Kampf um die Spitzenposition auf dem Arbeitsmarkt annimmt, ist ein zentraler Aspekt der nachfolgenden Lektüre. Von Düffels Dramatik zeugt nicht allein von einem Interesse an gesellschaftspolitischen und sozialen Themen, sondern steht auch im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Theater und Theatertext. In einer seiner frühen programmatischen Stellungnahmen, die sein Theaterschreiben begleiten und die aus der Perspektive eines auch als Dramaturg tätigen Autors155 verfasst sind, verkündet von Düffel ein Credo, das sich gegen die Rede einer Theatralisierung von Theater richtet: Ein Text, der das Theater verändern will, muß ein neues Theater in Totalität sein wollen, nicht ein benutzbares Dialogelement im Rahmen des alten. Er muß den Willen haben, sein ganz eigenes Theater zu werden. Der Anspruch eines Theaterautors – eine in Vergessenheit geratene Selbstverständlichkeit – sollte sein, Theater zu schreiben. Keinen Teil von Theater, sondern Theater in Gänze. Autor und Urheber im eigentlichen Sinne ist er nur dann, wenn er über den reinen Sprechtext hinaus Bilder anvisiert, Bilder, die so weit übergreifen in das Schauspielerische und Optische des Theaters, daß sich Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner dazu neu verhalten müssen.156

153 Düffel: Neue Texte braucht das Land, S. 18. 154 Düffel: Neue Texte braucht das Land, S. 18. 155 Vgl. Isabell Jannack: Der Autordramaturgdozent. John von Düffel, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 46-54, S. 46f.; außerdem John von Düffel: Definieren Sie Dramaturgie!, in: John von Düffel: Wasser und andere Welten. Geschichten vom Schwimmen und Schreiben, Köln 2002, S. 71-74. 156 John von Düffel: Der Text ist das Theater. Eine Autorenermutigung, in: John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön, 2. Aufl., Gifkendorf 2001 [1997], S. 5-8, S. 7.

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Von Düffels Plädoyer rekurriert auf die Vorstellung einer dem Text eigenen ‚impliziten Inszenierung‘157 beziehungsweise auf die Annahme einer dem Theatertext eigenen Theatralität.158 Seine Auffassung vom Theatertext steht damit der theaterwissenschaftlichen Position Gerda Poschmanns nahe, die in der These gründet, dass „auch der schriftliche Text die für das zeitgenössische Theater spezifische Theatralität konstituieren und eben dadurch das Drama kritisieren oder überwinden kann“159. Der Theatertext besitzt nach von Düffel mithin das, was Poschmann „Texttheatralität“ nennt, nämlich „diejenigen Qualitäten eines Textes […], die […] szenische Theatralität entweder implizieren oder durch Eigenarten sprachlicher Gestaltung nachempfinden“160. Wenn von Düffel fordert, der Theatertext habe „Theater in

157 Als „implizite Inszenierung“ beziehungsweise „implizite Aufführung“ bestimmt Andreas Höfele „das Ensemble von Anweisungen, die das Drama für den Fall seiner Inszenierung bereithält: dem Dramentext eingeschriebener Verweis auf den zu erstellenden ‚Text‘ der Aufführung, jedoch nicht dieser selbst; vielmehr das Dazwischen, der ‚Inter-Text‘.“ (Andreas Höfele: Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses, in: Forum Modernes Theater (1991) H. 1, S. 3-23, S. 18f.) 158 Nach traditionellem Verständnis bezieht sich Theatralität dagegen gerade „auf den gesamten Inszenierungstext minus den dramatischen oder sonstigen vorgegebenen linguistischen Text“ (Hans-Thies Lehmann: Theatralität, in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. vollst. überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992 [1986], S. 1032-1033, S. 1032f.). 159 Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 21. Poschmann führt aus: „Der Theatertext stellt theatrale Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung, die er selbst nicht besitzt. Damit verfügt er aber im Medium der Sprache über die Spezifität theatraler Signifikantenpraxis, über Theatralität.“ (Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 42.) 160 Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 43. Als „szenische Theatralität“ definiert Poschmann „spezifische Eigenschaften des theatralen Kunstwerks […], die auf Grundprinzipien theatraler Kommunikation zurückführbar, wenn auch in ihrer konkreten Ausbildung historisch veränderbar sind“ (Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 43).

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Gänze“ zu sein, so ist damit eben diese enge Koppelung von Text und theatralem Ereignis angesprochen. Der Reflexion der theatralen Potenziale von Sprache und Text zeigt sich die kontinuierliche Variation, der sowohl Genre als auch Sprachstil in von Düffels Dramatik unterliegen, verpflichtet. Seien es der Einsatz von Masken und die extreme Künstlichkeit von Sprache (Oi), sei es die Thematisierung des Theaterbetriebs (Das schlechteste Theaterstück der Welt, UA 1996) oder sei es das In-eins-Setzen von Regieanweisungen und Figurenrede (Die Unbekannte mit dem Fön, UA 1999), in von Düffels Stücken stellt sich wiederkehrend ein metatheatraler Gestus ein, ein Umgang mit Sprache und Form, der wechselweise Konventionen des Dramas wie des Theaters außer Kraft setzt und infrage stellt.161 Der Theatertext Elite I.1 offeriert sechs Innenansichten eines gewöhnlichen Arbeitstags, wobei sich das Handlungsgeschehen als Vexierspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung entfaltet. Gewählt ist hierfür die Form eines aus Monologen zusammengefügten Textgeflechts, in das nur punktuell und äußerst sporadisch die nach klassischen Definitionen für den dramatischen Text konstitutive dialogische Rede eingewoben ist. „Man redet frenetisch vor sich hin und aneinander vorbei“, konstatiert Barbara Burckhardt in ihrer Kritik zur Uraufführungsinszenierung und nimmt „eine rasante Flut innerer Monologe, meist ohne Adressat“ wahr.162 In ungleichmäßiger Frequenz werden zum Teil mikroskopisch vergrößerte Momentaufnahmen aneinandergereiht, die den Blick auf die Arbeitssubjekte, deren Wahrnehmungen

161 John von Düffel geht es, wie gezeigt, ausdrücklich um die Präsenz gesellschaftlicher Wirklichkeit auf der Bühne, weshalb sich seine Theatertexte dem in den 1990er Jahren forcierten Realismus-Programm zuordnen lassen. (Vgl. Franziska Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde. Soziales Engagement und Aktionskunst nach 1995, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 379-396, S. 383.) Seine Dramatik verhandelt allerdings ebenso dringlich die Frage nach der (theater-)ästhetischen Form. 162 Barbara Burckhardt: Stellenmarkt der Eitelkeiten. Neue Stücke aus der neuen Ökonomie von John von Düffel, Albert Ostermaier und Igor Bauersima, uraufgeführt in Hamburg, München und Düsseldorf, in: Theater heute 43 (2002) H. 7, S. 42-46, S. 44.

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und Gedanken freigeben und auf diese Weise schlaglichtartig soziale Prozesse und Strukturen des modernen Arbeitsalltags sichtbar machen. Zur Sprache kommen das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit wie auch die Beziehung der Geschlechter. Zudem werden im Wechsel der sechs Stimmen neoliberalistisch gefärbte „Maximen der Selbsterhaltung“163 verkündet. Im Brennpunkt der Reflexionen und Beobachtungen, die den Tagesrhythmus, die Mobilität und Interaktionen der sechs Individuen einfangen, steht dabei der Körper: sinnlich, sportlich und attraktiv, aber auch alternd, krank und süchtig. Er ist der Fluchtpunkt, in dem sich Zeit- und Raumerfahrungen der Protagonisten wiederkehrend kreuzen. Insbesondere mit der Wahl der sprachlichen und dramaturgischen Mittel akzentuiert Elite I.1 die dialektische Verschränktheit eines in der und durch die Sprache repräsentierten Körpers mit Erfahrungen von Leiblichkeit und tangiert damit einen zentralen Aspekt theatraler Praxis. Von Düffels Elite I.1 reflektiert den Körper als Medium der Selbstperformance und -vergewisserung und spürt darin der auch aus (theater-)ästhetischer Perspektive diskutierten Verquickung von Körper- und Arbeitsdiskurs nach. Der Theatertext thematisiert den Körper als Garant für Anerkennung und beruflichen Erfolg, womit er diesen zu seiner sozialen und machtpolitischen Bedeutung befragt. Die nachfolgende Lektüre geht der Profilierung des Arbeitssubjekts nach, wie sie von Düffels Text im Ineinanderblenden von Selbst- und Fremdwahrnehmung als performativen Prozess ausstellt. Eine besondere Stellung kommt hierbei, wie sich zeigen wird, dem Aspekt des Partikularen zu, der sowohl mit der Vereinzelung von Individuen als auch mit der umkämpften Individualität, die den einen vor dem anderen als ‚Besten‘ auszeichnet, assoziiert wird. Wie bereits der paratextuelle Hinweis des Stücktitels deutlich macht, spürt Elite I.1 dem Prozess der Auslese nach. Dieser präsentiert sich gleichermaßen als sozialer Prozess und als zentrale Textstrategie. 5.3.1 Dramaturgie des Ausschnitts In einer Art dramaturgischer Mimikry verfolgt John von Düffels Theatertext Elite I.1 jenes Verfahren der Auswahl, das er als eines der dominierenden Prinzipien im zeitgenössischen Arbeitsdiskurs mit dem

163 Burckhardt: Stellenmarkt der Eitelkeiten, S. 44.

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Begriff der „Elite“ identifiziert und anhand der Geschichten der Figuren ausstellt. Die im Text forcierte Ästhetik des Ausschnitthaften lässt sich entsprechend als Reflexion von Medien und Modi eines auf den Arbeitsalltag und das Arbeitssubjekt bezogenen Selektionsprozesses lesen. Das in Elite I.1 dominierende strukturelle Mittel des inneren Monologs, um den es von Düffel „auch als ein ästhetisches Problem“164 geht, kann diesem Deutungsansatz als ein erster Anhaltspunkt dienen. Die Tendenz zum monologischen Sprechen ist bemerkenswerterweise bereits in einem frühen Prätext, nämlich in von Düffels Stück Die Unbekannte mit dem Fön165, ausgeprägt. In diesem Theatertext sind die Sprachäußerungen der Figuren über ihre Wahrnehmungen, Befindlichkeiten und Gedanken im distanzierenden Modus des Berichts verfasst und zitieren damit die deskriptive Form der Regieanweisungen. Der Text spielt mithin mit der gattungskonstitutiven Unterscheidung von Haupt- und Nebentext beziehungsweise von Figurenrede und Regieanweisungen. Dabei lässt sich das „Stück in Regieanweisungen“, wie der Untertitel lautet, auch in der Tradition von Theatertexten ohne Worte lesen, die etwa Samuel Becketts Acte sans paroles (Akt ohne Worte; I: UA 1957, II: UA 1959) oder Peter Handkes Das Mündel will Vormund sein (UA 1969) mitbegründen. Die zugleich dramenkritische und sprachkritische Implikation des vor allem partizipial geprägten Sprachgebrauchs in von Düffels Stück macht die folgende Passage, die eine bei einem Mondscheinspaziergang stattfindende Begegnung zwischen „Er“ und „Sie“ wiedergibt, hörbar: ER: Zu dem Schluß kommend, daß nichts so schwierig sei, wie ein Paar zu bilden SIE: Anderer Ansicht ER: Dies mit dem weiblichen Widerspruchsgeist erklärend und geduldig seinen Paar-Begriff erörternd

164 John von Düffel, Nils Tabert: Gespräch, in: Nils Tabert (Hg.): Playspotting 2. Neue deutsche Stücke. Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann, Tim Staffel, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 249-264, S. 254. 165 John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön. Ein Stück in Regieanweisungen, in: John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön, 2. Aufl., Gifkendorf 2001 [1997], S. 9-68. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚UF‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

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SIE: Mit Zeit genug versehen, sich eine Antwort zurechtzulegen, weiß bereits schon, daß sie die Schwierigkeiten des Paare-Bildens auf seinen Paar-Begriff zurückführen wird, muß allerdings seine Begriffsdefinition erst zu Ende anhören, endlich ER: Wohlwissend, daß sie ihn nicht verstehen will, dennoch den Paar-Begriff durch seinen Partnerschaftsbegriff verdeutlichend SIE: Sich insgeheim fragend, ob sie es mit einem Homosexuellen, Asexuellen oder Intellektuellen zu tun habe ER: Die Verlagerung der Diskussion unter die Gürtellinie zutiefst missbilligend SIE: Entschlossen, sich nur noch per Körpersprache mit ihm zu verständigen ER: Nichts überstürzen wollend SIE: Es andererseits nicht nötig habend ER: Entschuldigend SIE: Ihre Visitenkarte auf seine Lippen drückend, ab (UF 50f.)

Im Unterschied zu den Protagonisten in Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht eignen sich die Figuren nicht gesprochene fremde Rede an, die in Form des Konjunktivgebrauchs markiert wird.166 Vielmehr bemächtigen sie sich der auktorialen Regieanweisungen167 des konventionellerweise in der Aufführung nichtsprachlich zu realisierenden Textes, der die Handlung, in diesem Fall vor allem Sprechhandlung, beschreibt und kommentiert.168 Von Düffels Figuren treten mithin in der Rolle der Beobachter ihrer selbst auf, sie identifizieren ihren Blick mit dem Blick des anderen. Ihre Rede richtet sich nicht an das in der Situation unmittelbar präsente Gegenüber, sondern an einen außenstehenden Dritten, der zur imaginären Identifikationsfigur des Rezipienten wird. Sie arbeitet dementsprechend auf eine antiillusionistische Wirkung hin. Die in von Düffels Die Unbekannte mit dem Fön auftretenden Figuren agieren als Erzähler ihrer selbst und stehen darin, im Sinne einer Episierung des Theaters, dem Schauspieler nahe, der im Anschluss an Brechts Verfremdungstechnik der Divergenz von eigener

166 Vgl. hierzu detailliert Kapitel 5.4 in dieser Arbeit. 167 Vgl. zum auktorialen Nebentext Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, 9. Aufl., München 1997 [1977], S. 107. 168 Dass der im Duktus der Regieanweisungen verfasste Text sprachlich zu realisieren ist, indiziert die Notation der letzten Replik: „Die Frau mit dem Fön: (tritt auf, eine furchtbare Erscheinung, und sagt den ersten Satz in direkter Rede) / ‚Komm jetzt endlich!‘“ (UF 68).

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Person und Rolle nachspürt. Der Theatertext Die Unbekannte mit dem Fön hinterfragt demnach das einer dramatischen Illusionsästhetik eigene Hic et Nunc, indem er die direkte Rede zwischen den Figuren in der Beschreibung der Rede aufhebt, ohne dabei allerdings das Dialogische als strukturgebendes Prinzip des Textarrangements fallen zu lassen.169 Zudem öffnet sich in der Darstellung des Dialogs als solchem eine Innenperspektive auf die Figuren, insofern ihre Gedanken, Gefühle und Motivationen transparent werden. Die Rede in Regieanweisungen steht damit den monologischen Redeformen des Beiseitesprechens oder des Reflexionsmonologs nahe, die im theatralen Raum eine Sphäre der Nähe und Intimität evozieren. Die Frage nach dem Moment von Unmittelbarkeit im Theatertext nimmt der drei Jahre später, 2002, uraufgeführte Text Elite I.1 auf, wenn er den Rezipienten zum Zuhörer innerer Monologe macht. Bemerkenswerterweise findet sich der innere Monolog als zentrales Darstellungsmittel auch in Prosatexten von Düffels, die dem Theaterstück in der Werkchronologie vorangehen, namentlich im Roman Zeit des Verschwindens aus dem Jahr 2000 sowie im 2001 veröffentlichten Roman EGO. In der Darstellung seines Werdegangs als Autor verweist von Düffel – diese Aussage wird nicht als Beleg, sondern als Paratext zitiert – auf seine Krise, in die er mit seinem dramatischen Schreiben geraten sei, und aus der er „[e]rst über den inneren Monolog […] von Ego wieder zum Drama, zu Elite I.1“170 gefunden habe. Dabei erschöpft sich der transtextuelle Bezug zu den beiden ‚Vorläufer-Texten‘ nicht allein und nicht primär im formalästhetischen Moment des Monologischen, sondern betrifft spezifischer die Verschränkung der Darstellungsform mit der Reflexion auf das vereinzelte Individuum,

169 Pfister bestimmt im Anschluss an Jan MukaĜovský (Zwei Studien über den Dialog, 1937) den „idealtypischen ‚dialoghaften Dialog‘ als eine störungsfreie Zwei- oder Mehrwegkommunikation zwischen zwei oder mehreren Figuren, die zueinander in einem Verhältnis der Polarität und Spannung stehen, in ihren Repliken ständig aufeinander Bezug nehmen und aufgrund prinzipieller Gleichberechtigung einander jederzeit unterbrechen können, so daß sich eine ausgewogene quantitative Relation ihrer Repliken ergibt“ (Pfister: Das Drama, S. 182). 170 Düffel, Schößler: Interview, S. 322.

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das als mehr oder weniger „schadhafte Ich-Monade[...]“171 vorgestellt wird. In seinem Theateressay Neue Texte braucht das Land hält von Düffel mit Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft und mit Bezug auf seinen Romantitel Zeit des Verschwindens pointiert fest: „Die vollends entfesselte Individualisierung schlägt um in die Auflösung von Individualität. Die Hochzeit des Ichs wird zur Zeit seines Verschwindens.“172 Die „Auflösung von Individualität“ problematisiert der Theatertext Elite I.1, wenn er die populär in der Beraterliteratur verbreiteten Anforderungen an das Arbeitssubjekt reflektiert, das seine Marktförmigkeit zugleich durch Anpassung, etwa in Form von Teamarbeit, und Abgrenzung, etwa mit Hinsicht auf innovative Ideen und Strategien, unter Beweis stellen muss. In dem Roman Zeit des Verschwindens173, in dem die Monologe zweier Figuren, Mann und Frau, kapitelweise alternierend gegeneinander montiert werden, konzentriert sich die Darstellung der Ich-Welt auf die Verlusterfahrung, die einmal auf den Tod der Schwester und einmal auf die berufsbedingte Abwesenheit von Ehefrau und Sohn zurückgeht. Die Korrelation zwischen einer problematisch gewordenen Beziehung zum anderen und dem Rückzug auf und in sich selbst steht in dem „Doppel-Monolog“174 Zeit des Verschwindens hauptsächlich unter dem Vorzeichen der Familie, dem mit bedeutendsten Thema der Literatur John von Düffels.175 Demgegenüber stellt der Roman EGO176

171 Ernes Wicher: Zwei ungeschickte Untergeher. John von Düffels Roman „Zeit des Verschwindens“, in: Frankfurter Rundschau, 19. August 2000, S. 18. 172 Düffel: Neue Texte braucht das Land, S. 18. 173 John von Düffel: Zeit des Verschwindens. Roman, 3. Aufl., München 2008 [2002]. 174 Willi Winkler: Weg von hier. John von Düffels Doppel-Monolog „Zeit des Verschwindens“, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2000, S. ROM 4. 175 „Die Bindungs- und Zerstörungskräfte der Familie oder auch die Überbleibsel familiärer Strukturen, ihre fragmentalen Schwundformen, ihre ersehnte Komplettierung oder völlige Auflösung, das ist es, was John von Düffel interessiert. Ob in seinen Romanen Vom Wasser und Houwelandt oder in der Dramatisierung der Buddenbrooks, ob in seinen Stücken Rinderwahnsinn und Born in the RAF oder in seinen Essays, überall scheint diese Szenerie auf.“ (Ulrich Khuon: Das ‚Wir‘ der Verwandtschaft. Laudatio anlässlich der Verleihung des Nicolas Born Preises an John von

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den Lebensbereich der Arbeit ins Zentrum und mit diesem Philipp, einen jungen aufstrebenden Unternehmensberater. Dabei bleibt das Sujet der Familie mit handlungsbestimmend, wie nicht zuletzt die Gleichnamigkeit der beiden Protagonisten in den genannten Romanen unterstreicht. Neben dem gefürchteten Kinderwunsch der Freundin177 sind es die vom Familiären geprägten Geschäftsbeziehungen, die der männlichen Führungskraft als Hypotheken auf seinen beruflichen Erfolg angerechnet werden. Philipps Karriere steht im Dienste des (Schwieger-)Sohnseins178 und des Vaterseins. Der letzte von der schwangeren und beruflich erfolgreicheren Freundin gesprochene Satz des Romans besiegelt die Liaison von beruflichem Erfolg und Familie: „Du mußt schließlich eine Familie ernähren.“179 Das emanzipatorische Bild von der berufstätigen Mutter wird zuletzt mit der konservativen Vorstellung vom Vater als Ernährer der Familie kurzgeschlossen. Die soziale Frage, wie Arbeit und Familie zu vermitteln seien, zeigt sich in EGO dominierend durch die Perspektive auf das ökonomische Subjekt bestimmt. Vorgeführt wird der Balanceakt des modernen Arbeitssubjekts zwischen der Befriedigung individueller (körperlicher) Bedürfnisse und der Anpassung an kollektive Ansprüche, dessen Erfolg, metaphorisch prägnant, mit der in sportlichem Training regulierten Tiefe des Bauchnabels180 ausgelotet wird. Die Nabelschau als

Düffel. Hildesheim, 17. Oktober 2006, unter: http://www.thalia-theater. de/module/news/index.php?LANG=1&CID=2&RID=119, Stand: Oktober 2008). 176 John von Düffel: EGO. Roman, München 2003. 177 Vgl. u.a. Düffel: EGO, S. 69f. 178 „,… und deswegen, mein Junge, weil es die Hölle auf Erden sein wird, will ich von dir nur ein einziges Wort hören: Ja oder Nein?‘ […] Doch ich kann mich nicht dazu durchringen, Stickroth und seinen Töchtern mein Ja-Wort zu geben.“ (Düffel: EGO, S. 142) „Stickroth klopft mir ein letztes Mal auf den hinteren Teil meines Deltamuskels. Für einen Augenblick sind wir wie Vater und Sohn. Dann verabschiede ich mich. Mein Auftritt war ein voller Erfolg“ (Düffel: EGO, S. 248). 179 Düffel: EGO, S. 254. 180 Einen luziden Lektüreansatz zum Motiv des Nabels und insgesamt zu EGO präsentiert Achim Stricker: „Wir kehren immer zum Wasser zurück“. – Erinnern, Wiederholen und Verdrängen in John von Düffels

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Fixpunkt der Alltagshandlungen thematisiert den Zusammenhang von Arbeitswelt und Körperkultur181, wie er in der postindustriellen Leistungsgesellschaft zu beobachten ist: Angesichts einer liberalisierten und globalisierten Ökonomie werden Erwerbstätige, so stellt der Soziologe Hans J. Pongratz fest, „[m]it neuen Organisationsstrategien zur Verstärkung der Markt- und Ergebnisorientierung […] zunehmend auf Erfolg verpflichtet; von ihnen wird der Nachweis der Wirksamkeit ihrer Leistungen für vorgegebene betriebliche Zwecke erwartet.“182 Permanent mit der konkurrenzschaffenden Forderung nach Erfolg183 konfrontiert bleibt das Arbeitssubjekt auf sich selbst und das heißt auf seine Bereitschaft und Fähigkeit zum Selbstmanagement verwiesen, das sich in besonderem Maße auf den Körper konzentriert. Die Arbeit am Erfolg geht in der Arbeit am Körper auf, wie John von Düffels Roman EGO am Beispiel eines fitnessbesessenen Aufsteigers zeigt. Die Modellierung eines perfekten Körpers verhandelt EGO als ambivalenten Prozess des Selbstentwurfs, der am Ziel augenfälliger Individualität ausgerichtet ist und doch zugleich sichtbar den vorherrschenden Idealen von Fitness, Gesundheit und Schönheit verschrieben bleibt: „Seinen Körper hat Philipp gemäß seinem Grundsatz ‚Schönheit ist relativ‘ nach der aktuellen Körpermode geformt: schlank, mus-

Romanen „Ego“ und „Vom Wasser“, in: Robert André (Hg.): Paradoxien der Wiederholung, Heidelberg 2003, S. 137-156. 181 Vgl. die für diesen Zusammenhang aufschlussreiche EGO-Lektüre von Anne Fleig: Nabelschau – Fitness als Selbstmanagement in John von Düffels Romansatire „EGO“, in: Paula-Irene Villa (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 67-84. 182 Hans J. Pongratz: Legitimation durch Erfolg. Zum Wandel der normativen Grundlagen der Leistungsgesellschaft, in: Jutta Allmendinger (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Teil 2, Opladen 2003, S. 818-829, S. 818. 183 „Im Unterschied zum Leistungsprinzip sperrt sich die Erfolgsmaxime gegen Egalisierungsforderungen: Wenn alle Erfolg haben, ist es keiner mehr.“ (Pongratz: Legitimation durch Erfolg, S. 827.)

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kulös und von möglichst glatter, straffer Haut bedeckt.“184 Die in EGO mit satirischem Gestus vorgetragene Frage nach Bedeutungszusammenhängen zwischen Schönheit und Erfolg, Körper und Arbeit greift der Theatertext Elite I.1 wieder auf, wobei signifikanterweise mit dem Themenkomplex auch das Prinzip des Monologischen wiederkehrt. Elite I.1 präsentiert sich als ein Patchwork aus Monologen, die formalästhetisch in der von Peter Szondi am Beispiel Eugene O’Neills diskutierten Tradition des „Monologue intérieur“, der „inwendigen Selbstgespräche“185 zu lesen sind und wirkungsästhetisch einen epischen Grundton etablieren. Augenfällig ist die quantitative Dominanz der monologischen Rede über die nur fragmentarisch vorhandene dialogische Rede, die oft nur aus dem Wechsel von wenigen einzeiligen Repliken zwischen zwei Sprechern besteht. Die Monologe der sechs Figuren schieben sich erratisch ineinander, ohne dass als Nebentext notierte Regieanweisungen die Sprechhandlung szenisch kontextualisieren oder eine explizite Szenenfolge den Redefluss gliedert. Eine figurenunabhängige, also auktoriale Kommunikationsebene wird dennoch etabliert, wie das Schriftbild des Theatertextes zu erkennen gibt: Neben dem kursivierten dramatischen Dialog und den in StandardSchriftschnitt formatierten Monologen markieren in Versalien gedruckte und insbesondere zu Textbeginn stehende Phrasen und Sätze einen dritten Aussagemodus. In diesem tritt der Diskurs der Beratungs- und (Selbst-)Managementliteratur in theatrale Erscheinung. Die Verzahnung der drei Redeweisen präsentiert sich zu Beginn des Stücks in der ersten Replik von Thomas wie folgt: THOMAS: Klaus-Peter ist schon bei der zweiten, und Nils sitzt so dicht daneben, dass er praktisch die Hälfte davon abbekommt, die neue Sekretärin drei Tische weiter spielt seit Ewigkeiten mit ihrem Feuerzeug, ich wünschte, sie würde endlich rauchen […] [,] ich betaste die Notfall-Packung in meiner Jackentasche, das Zellophan, seine Kühle, feucht und glitschig von den Ausdünstungen meiner Hände, meine Finger zittern vor Gier […] [,] ich möchte unbedingt in irgendetwas hineinbeißen, einen Stock, ein Streichholz, meine Hand,

184 Fleig: Nabelschau, S. 94. Fleig liest EGO hinsichtlich des Zusammenhangs von Individualität und Austauschbarkeit als „Parodie des Bildungs- und Entwicklungsromans“ (Fleig: Nabelschau, S. 94). 185 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), 23. Aufl., Frankfurt/Main 1999 [1963], S. 135-139.

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die wahrscheinlich nach Nikotin schmeckt, nach altem ausgeschwitztem Restnikotin, aber selbst das wäre, von mir aus, dieser leicht pelzige, müde gewordene Teer-Geschmack, oder Schmerz, wenn ich mir irgendeinen Schmerz zufügen könnte, um auf andere Gedanken zu kommen, vielleicht ENTDECKEN SIE DIE LIEBE IHRES LEBENS könnte ich mir etwas Kleingeld unter die Fingernägel schieben, das würde mich sicher ablenken BEGINNEN SIE EINE LIEBESGESCHICHTE MIT SICH SELBST wenn ich jetzt schwach werde, waren die Entbehrungen der letzten Stunden völlig umsonst, völlig könnte ich vielleicht kurz ein Fenster öffnen sinnlos, ich bin drauf und dran, einfach wegzurennen […] (EL 267f.)

Elliptisches und zum Teil paraphrasierendes Sprechen sowie eine punktlose Notation indizieren ein gesteigertes Sprechtempo und prägen diesen Ausschnitt eines inneren Monologs. Die Beobachtungen des sozialen Umfeldes am Arbeitsplatz, die als implizite Regieanweisungen fungieren, betten Thomas’ Rede in eine objektivierbare Handlungssequenz ein. Sie konturieren sein situationsgebundenes SelbstErleben. Im Verlauf der Rede verengt sich der Blickwinkel des Betrachtenden, dem technischen Verfahren des Zoomens und damit einer filmischen Ästhetik vergleichbar, vom personalen Gegenüber („KlausPeter“, „Nils“, „Sekretärin“) auf den handlichen Gegenstand („Feuerzeug“) bis zu dem Punkt hin, an dem die Blickrichtung umschlägt: Die Wahrnehmung und Beschreibung der Außenwelt geht in die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und in Selbstreflexion über („ich wünschte […]“). Die relativ zu Beginn stehende Replik fungiert als Exposition, indem sie die Figur Thomas in einer Alltagssituation, nämlich am Arbeitsplatz, vorstellt und in die zentral verhandelte Frage nach der Selektivität von Wahrnehmung einführt. Das für den Theatertext insgesamt charakteristische Changieren zwischen der Sicht auf den anderen und auf sich selbst akzentuiert das Moment der Ausschnitthaftigkeit der in Elite I.1 vorgestellten Wirklichkeit. In von Düffels Theatertext prägt der Gestus der Innerlichkeit die Darstellung des Arbeitsalltags, wobei die (dramatische) Interaktion tendenziell durch die (episch oder lyrisch anmutende) Introspektion unterlaufen und ersetzt wird. Bedeutsamerweise werden die Selbstreflexionen der Figuren durch eine Art von Einsagungen unterbrochen. In ihrem appellativen Duktus sind diese Zwischenrufe, die auf die Selbstkonstitution der Subjekte gerichtet und darin den Einsagern von Handkes Kaspar nicht unähn-

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lich sind. Bei den Einsagungen handelt es sich nicht um Aussagen einer oder mehrerer der sechs Figuren. Dies wird daran deutlich, dass die Äußerungen keinem der durch Namen individualisierten Sprecher zugeordnet sind. Zudem sind die imperativischen Aussagen typographisch von der Figurenrede abgesetzt und evozieren den Eindruck von ‚Spruchbändern‘: SIE SIND WIE FÜR SICH GESCHAFFEN, GEBEN SIE SICH MIT NIEMAND GERINGEREM ZUFRIEDEN, BLEIBEN SIE ANSPRUCHSVOLL! (EL 269) WENN SIE IHR LEBEN VERÄNDERN WOLLEN, MÜSSEN SIE IHREN KÖRPER VERÄNDERN. WENN SIE IHREN KÖRPER VERÄNDERN, VERÄNDERN SIE SICH SELBST (EL 269) FRAGEN SIE SICH BEI ALLEM, WAS SIE TUN, MACHT MICH DAS STÄRKER ODER SCHWÄCHER. UND ENTSCHEIDEN SIE SICH FÜR DAS, WAS SIE STÄRKER MACHT (EL 272)

Die Prägnanz der Formulierungen, die durch einfache Syntax, Wiederholungen und Alliterationen hergestellt wird, sichert ihre Einprägsamkeit und intensiviert ihre Verbindlichkeit. Als ein möglicher ‚Urheber‘ der Aufforderungen lässt sich binnenfiktional ein, wie es im Text heißt, „‚Lifestyle-Guru‘“ (EL 273) ermitteln, dessen Buch mit dem viel sagenden Titel „WOLLEN IST MÜSSEN“ (EL 273, 299) in den Medien gefeiert wird. Es fällt auf, dass die Zwischenrufe verstummen, sobald Thomas, der in seiner Funktion als Fernsehredakteur und Kommentator an einem Exposé zu der Neuerscheinung des Bestsellers arbeitet, den Titel das erste Mal explizit erwähnt. Die Zwischenrufe sind mithin auf den ersten Teil des Theatertextes beschränkt, der, ohne scharfe Abgrenzung allerdings, die Exposition bildet: Jede der Figuren kam vor dem Verstummen der Einsagungen mindestens einmal zu Wort. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass sich sowohl Thomas als auch die Moderatorin Sibylle, die sich beide aus beruflichen Gründen mit der erfolgreichen Publikation beschäftigen, deren Titel nicht merken können: „Wollen, Müssen, warum kann ich mir das nicht merken“ (EL 300, vgl. auch EL 273). Der Eindringlichkeit, die den Einsagungen eigen ist, solange sie keinem Aussagesubjekt, hier einem anonymen Buchautor, zugeordnet werden können, kontrastiert die Geste der Distanzierung, die im Vergessen zum Ausdruck kommt.

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Bei den in Majuskeln notierten Phrasen handelt es sich um Ausschnitte aus einem ‚Lifestyle-Guide‘, der im Theatertext weder in Bezug auf die Zielgruppe noch hinsichtlich spezifischer Anwendungsgebiete noch durch einen namentlich genannten Autor näher bestimmt wird und der damit einen idealtypischen Charakter gewinnt. Die Aufforderungen zielen pauschal auf das Vermögen der Selbstreflexion und die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen und adressieren das an Leistungssteigerung und Erfolg orientierte Individuum. Erkennbar spiegelt sich in den Formulierungen der Duktus zeitgenössischer Berater- und Ratgeberliteratur und werden mithin Effekte des Dokumentarischen hervorgerufen, die zu dem in den Monologen hergestellten Moment der Innerlichkeit in wirkungsvolle Spannung treten. Mittels der höflich-distanzierenden „Sie“-Anrede der Appelle werden dem Raum der Intimität, wie ihn die Ich-Aussagen der sechs Protagonisten evozieren, die Sphäre der Öffentlichkeit und der Fremde entgegengestellt. Als retardierendes Einsprengsel in den monologischen Redefluss einer Figur und als Einschub zwischen zwei Repliken bilden die suggestiven Aufforderungen zum Selbstmanagement einen Subtext der Selbstwahrnehmungen und -darstellungen. Darauf deutet mitunter auch die relativ zum Ende des Stücks stehende Aussage des Protagonisten Thomas hin: „Entweder ändere ich mich jetzt oder nie, Wollen ist Müssen, schon klar, und ich bin bereit, auf meine innere Stimme zu hören, obwohl ich diesen Lebenshilfe-Guru-in-Gänsefüßchen nur zu gerne fragen würde, auf welche“ (EL 298). Die Maximen, die einen überzeugenden und erfolgreichen Selbstentwurf der Subjekte einfordern, können im Foucault’schen Sinne als verinnerlichte Ansprüche der postindustriellen Leistungsgesellschaft verstanden werden, die den Einzelnen zum Unternehmer seiner selbst (Ulrich Bröckling) formieren. Die hier und im Folgenden für den Theatertext entwickelte Deutungsrichtung findet einen paratextuellen Anhaltspunkt in einer Anmerkung John von Düffels, die aus einem der Publikation von Elite I.1 beigefügten Interview stammt. Die Vorstellung vom (Arbeits-)Subjekt als unternehmerisches Selbst klingt in der folgenden Überlegung des Autors an: „Der Versuch einer Wirklichkeitsbeschreibung in Elite I.1 war, zu zeigen, wie stark wir in unseren Köpfen damit angefangen haben, zu Ein-Mann/Frau-Unternehmen zu werden. Wir sind unser Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einer Person geworden.“186 Von

186 Düffel, Tabert: Gespräch, S. 255.

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Düffel verweist allerdings nicht auf Namen und Aussagen des sozialwissenschaftlichen Diskurses, sondern rekurriert auf René Polleschs www-slums sowie auf seine für den Roman EGO durchgeführten Recherchen im Feld der Unternehmensberatung.187 Mit den Intertexten wird die diskursive Verknüpfung von Arbeit(-ssubjekt) und Theater auf der Ebene der theater- und textästhetischen Produktionsweisen akzentuiert. Aufgerufen wird ein dezidiert wissenschaftsorientiertes Theater, das, in den Worten Polleschs, „Alltag mit Theorie zu bearbeiten“188 sucht, sowie eine Herstellungsweise von literarischen Texten, die dem Bild vom Autor als Empiriker189 entspricht. Dem Theatertext Elite I.1 ist demzufolge die Auseinandersetzung mit Theorie und mit persönlichen Berichten über Alltagspraktiken eingeschrieben. Die eingeschobenen, in der Diktion von (Selbst-)Managementliteratur gehaltenen Phrasen sind in diesem Sinne als dokumentarisches Material aufzufassen, das mit dem produktionsästhetischen Verfahren der Montage die in inneren Monologen und fragmentierten Dialogen dargestellten subjektiven Äußerungen auf ein Moment allgemeiner Verbindlichkeit hin öffnet. Die auf diese Weise gestaltete Verzahnung von Perspektiven thematisiert das Wechselspiel vom Streben nach größtmöglicher Individualität einerseits und Orientierung an einer allgemein verbindlichen Normalität andererseits als grundlegend für die Konstitution des (Arbeits-)Subjekts. Die Anerkennung der Elite begründet sich, nach allgemeinem Verständnis, in dem Streben, nicht nur anders zu sein als andere, sondern besser zu sein. Die in John von Düffels Theatertext versammelten Figuren befinden sich qua ihrer – über den Stücktitel auktorial lancierten – Statuszuschreibung im Zustand eines andauernden und allgegenwär-

187 Düffel, Tabert: Gespräch, S. 255. Zu seinen Recherchen zum Thema Fitness und Körperkult vgl. John von Düffel: Körper lügen nicht. Oder wie ich versuchte, undercover ins Fitness-Studio zu gehen, in: John von Düffel: Wasser und andere Welten. Geschichten vom Schwimmen und Schreiben, Köln 2002, S. 75-83. 188 René Pollesch, Frank-M. Raddatz: Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags, in: Frank-M. Raddatz (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 195-213, S. 200. 189 Vgl. Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, S. 384.

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tigen Konkurrenzkampfes, der vor dem Hintergrund einer „Ökonomisierung des Sozialen“190 als Paradigma auch der Selbst- und Fremdwahrnehmung angenommen werden kann, wie Elite I.1 vor Augen führt. Die Konflikte, die von Düffels Protagonisten austragen, sind geprägt durch das in den Programmen der Selbstmanagementliteratur ausformulierte „Diktat des Komparativs“191, das mit der Einsicht korreliert, „dass es ein Genug – an Qualität, Flexibilität, Motivation, persönlichem Wachstum – nicht geben kann“192. In der Verfolgung ihres Ziels, das dementsprechend nicht nur erfüllt, sondern überboten sein will, werden sich die in Elite I.1 vorgestellten Einzelkämpfer auffällig ähnlich – in ihrer Sicht auf andere und auf sich selbst wie ebenso in ihrem Umgang mit sich und anderen. Welche Aussagen über die Konstitution von Arbeitssubjekten sich herauskristallisieren und welche Attribute den Ausschnitt sozialer Wirklichkeit, der mittels der beschriebenen Strukturierung des Textes im Zeichen des „radikal Subjektive[n]“193 steht, charakterisieren, haben die folgenden Ausführungen zum Gegenstand. 5.3.2 Raum- und Zeiterfahrungen der mobilen Elite Der Titel des vorliegenden Theatertextes lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass nicht das Panorama, sondern der scharf umrissene Ausschnitt den idealen Blickwinkel für die Darstellung sozialer Wirklichkeit beschreibt. Im Mittelpunkt steht nicht die ‚Masse‘, sondern stehen, wie zuvorderst der innere Monolog indiziert, Vereinzelte. Es ist nicht vermeintlich schlicht die Elite, um die es dem Theatertext zu tun ist, sondern es ist die „Elite I.1“, also die Elite der Elite der Elite. Mit dem rhetorischen Mittel der Klimax reflektiert der Stücktitel den Imperativ der Überbietung, an dem sich Denken und Handeln der Pro-

190 Vgl. Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2007 [2000]. 191 Ulrich Bröckling: Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des „unternehmerischen Selbst“, in: Ulrich Bröckling, Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002 (Literatur und Anthropologie, 15), S. 157-173. 192 Bröckling: Diktat des Komparativs, S. 173. 193 Düffel, Schößler: Interview, S. 322.

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tagonisten orientieren, und ordnet die folgenden Selbstdarstellungen der Erwerbstätigen unter das Vorzeichen der Übertreibung und der Hybris ein. Will man den programmatischen Äußerungen des Autors194 folgen, handelt es sich bei den Spitzenkräften pars pro toto um Repräsentanten der von ihm anvisierten „Mitte“ der Gesellschaft. Bereits in dem Elite I.1 vorangehenden Theatertext Balkonszenen195 geht die Dramaturgie des Ausschnitts mit der Idee der Stellvertreterfunktion der Figuren einher. In Balkonszenen führt der Kunstgriff der räumlichen Begrenzung die Gruppierung repräsentativer Figuren herbei: Schauplatz ist „[e]ine Fassade. Fenster. Ein Balkon“ (BS 65), auf dem sich in wechselnden Konstellationen – in einer Art Karussell-Dramaturgie – Gäste einer Party einfinden, um sich im Small Talk, im Geschäfts- oder Beziehungsgespräch zu begegnen. Beide Theatertexte setzen auf das Verfahren der Selektion, um eine Sphäre der Intimität zu schaffen.196 In Balkonszenen kommt es durch die Exponiertheit des Außenraumes, die in Form des Haus-‚Vorsprungs‘ realisiert wird, zum ‚Ausschluss‘ der Partygesellschaft, die Öffentlichkeitscharakter trägt. Dem entspricht in Elite I.1 die Konzentration auf die Verborgenheit des Kopf-Innenraumes. Dabei stellen beide Verortungen des dramatischen Handlungsgeschehens über die Opposition öffentlich/privat die Theatralität des Textes in Rechnung, indem sie den Rezipienten zugleich in die Rolle des Voyeurs manövrieren und zum lauschenden Zuhörer machen. Werden in Elite I.1 in dramaturgisch dominierender Weise die inneren Stimmen der Figuren vernehmbar, so heißt es in Balkonszenen bei den Angaben zu den „Figuren“ (nicht „Personen“, diese sind separat aufgeführt): „Die Figuren begegnen einem zunächst als Stimme. Einige dieser Stimmen kehren wieder, andere nicht. Manche hat man vielleicht schon einmal gehört, aber sie scheinen verwandelt. Kaum zu sagen, ob sie sich nur verändert haben oder gänzlich andere geworden

194 Vgl. u.a. Düffel: Neue Texte braucht das Land. 195 John von Düffel: Balkonszenen, in: Theater der Zeit 56 (2001) H. 1, S. 65-79. 196 Zum Zusammenhang von Intimität und Wahl des Schauplatzes in den Balkonszenen vgl. Johannes Birgfeld: Nur das Leben eben? Tendenzen im deutschen Drama der Gegenwart oder Anmerkungen zu Texten von Düffel, Reffert, Loher und Hensel, in: Deutsche Bücher 33 (2003) H. 1, S. 91-114, S. 97.

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sind.“197 Beide Theatertexte lenken die Aufmerksamkeit mithin auf das performative Phänomen der Stimme, die Verkörperungscharakter besitzt oder in den Worten von Doris Kolesch und Sybille Krämer: „Spur unseres individuellen wie auch sozialen Körpers“ und „gleichermaßen Index der Singularität einer Person wie der Kultur“198 ist. Elite I.1 inszeniert derart das Changieren zwischen Individualität und Sozialität nicht allein mit dem dramaturgischen Mittel der Sprachform (Monolog, Dialog, diskursive Rede), sondern auch mit den theatralen Mitteln der Stimme und des (Klang-)Körpers. Mit der extremen Fokussierung auf eine soziale Gruppe geht in Elite I.1 die Konzentration auf die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren einher. Die in beiden Prozessen beschriebene Bewegung der Verengung korreliert mit einer Zuspitzung, die sowohl eine inhaltsbezogene als auch formalästhetische Dimension besitzt: die Zuspitzung zu einem Zeitpunkt hin, dem „Jetzt“. Ausgewiesen wird sie in den konventionellen, dem Figurentext vorangestellten Angaben, die das Ineins-Setzen von Raum und Zeit postulieren. Es heißt dort: „Zeit / JETZT // Ort / JETZT“ (EL 266). Weder ist bei der Zeitangabe ein mit einer größeren Dauer assoziierter Ausdruck wie ‚heute‘ oder ‚Gegenwart‘ gewählt, der – zum Beispiel im Rahmen eines Zeitstücks – tendenziell auf einen historisch fixierbaren Kontext anspielt, noch ist bei der Ortsangabe das Lokaladverb ‚hier‘ gewählt, das hinsichtlich der ‚Punktgenauigkeit‘ mit dem Zeitadverb ‚jetzt‘ korrespondieren würde. Das für das Medium des Theaters spezifische Hic et Nunc wird ausdrücklich um seine räumliche Komponente gebracht. Im Horizont der Gegenwartsanalysen ruft die Fokussierung auf das „Jetzt“ Vorstellungen von Gleichzeitigkeit und Synchronie auf, die im Zeitalter zunehmend digitalisierter Informations- und Kommunikationstechnologie als Parameter von Wahrnehmungsmustern bestimmt werden kann.199 Zugleich wird mit der Akzentuierung des Zeitaspekts

197 Düffel: Balkonszenen, S. 65. 198 Doris Kolesch, Sybille Krämer: Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt/Main 2006, S. 7-15, S. 11. 199 Rosa hält in seiner Diskussion zum Verhältnis von Gleichzeitigkeit und Beschleunigung fest: „In jüngster Zeit haben einige Autoren […] den Einwand geltend gemacht, in der Spätmoderne sei die prägende zeitliche Erfahrung nicht mehr die der Beschleunigung, sondern die Gleichzeitig-

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auch der in den klassischen Modernisierungstheorien ebenso wie in den zeitgenössischen Globalisierungsdebatten diskutierte Topos vom Bedeutungsverlust beziehungsweise vom Verschwinden des Raumes thematisch. In der Identifizierung von Raum und Zeit zugunsten des „Jetzt“, wie sie die dem Figurentext vorangestellte Regieanweisung vorgibt, ist eine Anspielung auf die im sozialwissenschaftlichen Diskurs verankerte These von der „Schrumpfung des Raumes“ (Peter Dicken)200 und von der „Zeit-Raum-Kompression“ (David Harvey)201 zu erkennen.202 Die Annahme, dass der Raum seine Bedeutung verliere beziehungsweise im Verschwinden begriffen sei, wird insbesondere zur Entwicklung der Transport- und Kommunikationstechnologien in Beziehung gesetzt. So verändert sich das Verhältnis des Menschen zum Raum und transformiert sich das sogenannte soziale Raum-ZeitRegime mit der Erfindung und Verbreitung etwa der Eisenbahn oder des Dampfschiffs, des Automobils oder des Flugzeugs.203 Mit der Zunahme der Fortbewegungsgeschwindigkeit – und „mindestens ebenso sehr“ mit der Beschleunigung der Informationsübermittlung – geht der Vorrang des Raumes sukzessive in einen „Vorrang der Zeit“ über.204 In der Gegenwart steht das Internet für diesen Transformationsprozess wie unter anderem Hartmut Rosa festhält. Der Ort, so führt Rosa aus, „ist für viele Vorgänge bedeutungslos geworden, während Zeitangaben für die Koordination und Synchronisation globaler Handlungsketten weiter an Relevanz gewinnen. Immer mehr soziale Ereignisse werden auf diese Weise im Zeitalter der Globalisierung gleichsam ‚ortlos‘.“205

keit von höchst heterogenen Ereignissen und Prozessen“. Rosa nennt hier Hanns-Georg Brose („gedehnte Gegenwart“) und Helga Nowotny („erstreckte Gegenwart“). (Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 51.) 200 Peter Dicken: Global Shift. Industrial Change in a Turbulant World, London 1986. 201 David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the origins of Cultural Change, Oxford, Cambridge 1989. 202 Vgl. auch Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main 2006, S. 161-163. 203 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 163-168. 204 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 126. 205 Rosa: Beschleunigung, S. 166. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.2 in dieser Arbeit.

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Diese „Ortlosigkeit“ postuliert der Theatertext Elite I.1 für das Handlungsgeschehen, das nicht hier spielt, sondern „jetzt“. An die zeitdiagnostisch verhandelte Vorstellung der Ortlosigkeit von Interaktionen und Informationstransfer, die in Elite I.1 auf der Ebene der auktorialen Informationsvergabe mit der Bestimmung des Ortes als „Jetzt“ aufgegriffen wird, knüpft der Autor John von Düffel explizit in einem Kommentar zu seinem Stück an: Theater ist auf einen Raum oder, grob gesagt, Schauplätze festgelegt. Viele Konflikte aber, die wir heute haben, sind ortlose, raumlose Konflikte, Konflikte einer mobilen Gesellschaft. […] Man muss für die Ortloswerdung oder Heimatlosigkeit der Konflikte, die einen heute so umtreiben, auf dem Theater eine Übersetzung finden. Da gibt es natürlich die Option eines abstrakten Raums, aber auch das ist schwierig. Meine Hoffnung ist, dass es vielleicht mittels Sprache möglich ist, diese Ortlosigkeit, diese innere Mobilität zu erzeugen, denn die ist ja ‚ubiquitär‘. Wir sind ‚world wide‘, selbst wenn wir drei Tage an einem einzigen Fleck sind.206

Von Düffels Überlegung betont zum einen die Zeitgenossenschaft des Theatertextes – nicht zuletzt mit Rekurs auf das wirkungsästhetische Moment der Identifikation –, zum anderen problematisiert sie die Frage nach der Repräsentierbarkeit von Raumerfahrungen im Medium des Theaters respektive des Theatertextes. Ein ebenso vielfach wie prominent (zum Beispiel bei Shakespeare) eingesetztes Mittel, um auf der Bühne Räume herzustellen, findet sich in der Form der impliziten Regieanweisung oder der Wortkulisse. Ihnen kommt in von Düffels Elite I.1 insbesondere in Anbetracht der ‚ortlosen‘ Ortsangabe einige Bedeutung zu. Die Anweisung der „Ortlosigkeit“ wie auch die Markierung eines Innenraumes, bei der der innere Monolog eingesetzt wird, um einen Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der sechs Protagonisten zu legen, erfahren eine Relativierung. Sowohl in der monologischen als auch in der dialogischen Rede werden intersubjektiv zugängige und gestaltbare Räume entworfen, mit anderen Worten: soziale Räume. Die Figuren bewegen sich an und zwischen Orten, wobei eben diese Bewegungen die ‚realen‘ Konturen eines Arbeitsalltags sichtbar werden lassen: Die Moderatorin Sibylle und ihr Mann Hendrik, von Beruf

206 Düffel, Tabert: Gespräch, S. 258.

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Schönheitschirurg, sitzen am Morgen gemeinsam am Frühstückstisch. Thomas begibt sich von seinem Arbeitsplatz in der Redaktion aus auf den Weg an den Flughafen, wo er sein Flugzeug versäumt und infolgedessen erst ins Taxi und dann auf den Zug umsteigen muss. Der Exanwalt und Exsportler Benjamin steht kurz vor seinem Abflug nach New York in der Sicherheitskontrolle. Eben diesen Flug will auch die Unternehmensberaterin Isabell erreichen, als sie sich mit dem Taxi auf den Weg macht. Benjamin und Isabell begegnen sich nach Ankunft des Fluges am Taxistand und sie nimmt ihn mit auf ihr Hotelzimmer (EL 294-300). Angelika schließlich, „eine ehrgeizige junge Kollegin“ von Thomas (EL 265), ist zu Fuß unterwegs zu Thomas’ Privatadresse, „Hermannstraße 14“ (EL 281). Da sie ihn nicht antrifft, kehrt sie, wiederum zu Fuß, in die Redaktion zurück. In Anbetracht der Vielzahl von Orten, aber auch Wegen und Transportmitteln, die zum äußeren Anlass und Gegenstand der Wahrnehmungen und Reflexionen der Protagonisten werden, ist unter dem Blickwinkel der für den Theatertext zentralen Raumerfahrung nicht allein von einer „inneren Mobilität“ (von Düffel), sondern gerade auch von einer physischen und geographischen Mobilität207 zu sprechen. Das heißt, die Figuren reflektieren sich und andere in besonderem Maße als Menschen, die ‚unterwegs‘ sind, auf Dienstwegen oder Geschäftsreisen, auf der Straße oder in der Luft, „immer auf dem Sprung zum nächsten Projekt, zur nächsten Schnell-schnell-Begegnung“208. Entgegen dem Moment der Isolierung, das der dramaturgischen Form des inneren Monologs implizit ist, verweist die räumliche Mobilität der Figuren auf deren ‚Verknüpfungsfähigkeit‘, mit Hilfe derer soziale

207 Der Begriff ‚Mobilität‘ besitzt ein weites Spektrum an Bedeutungen, die in der Regel durch ein beigestelltes Attribut spezifiziert werden. Für die hier gemeinte ‚Mobilität‘ käme auch der Ausdruck ‚räumliche Mobilität‘ infrage. Das Lexikon zur Soziologie verweist bei diesem Terminus allerdings auf den Begriff ‚Migration‘, der für den hier gegebenen Kontext zu weit gefasst wäre. (Vgl. Werner Fuchs-Heinritz u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, 4. grundlegend überarb. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 437.) 208 Barbara Burckhardt: Stellenmarkt der Eitelkeiten. Neue Stücke aus der neuen Ökonomie von John von Düffel, Albert Ostermaier und Igor Bauersima, uraufgeführt in Hamburg, München und Düsseldorf, in: Theater heute 43 (2002) H. 7, S. 42-46, S. 44.

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Räume konstituiert werden. Die Soziologin Martina Löw hält zu diesem Zusammenhang fest: Menschen reisen heute mit hohen Geschwindigkeiten und in einer Häufigkeit, die zwei Generationen früher undenkbar gewesen wäre, durch die Welt. Die Geschwindigkeit eines Flugzeuges oder eines Autos auf der Autobahn läßt auch Erwachsene den Raum als verinselten erfahren. Es existiert eine Vielzahl von Orten, welche durch ein Netz von Straßen und Fluglinien verbunden sind. […] Als Fußgänger oder Radfahrerin mag man den Weg, den man zurücklegt, als homogenen Raum erleben, im Auto, Bus oder in der U-Bahn werden die einzelnen Orte nur über die Prothese ‚Verkehrsmittel‘ verbunden. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine Überwindung von Raum, sondern Raum konstituiert sich in dem Prozeß durch die Herstellung von Verknüpfungen.209

Es ist vermutlich dieses sozialen Raum generierende Potenzial der Verknüpfung, das in einer Rezension zu Elite I.1 angesprochen wird, wenn es dort heißt: Von Düffel „klebt zwar inneren Monolog an inneren Monolog, sechsmal innere Wüste, Medienmenschen, Wirtschaftsmenschen, Schönheitschirurg, Aussteiger – aber das alles nicht ohne szenische Inspiration.“210 Neben der Fortbewegung und den Ortswechseln der Protagonisten, die in der Figurenrede thematisiert werden, kommt der Aspekt der Mobilität auch in einem metapoetischen Kommentar zur Sprache: Thomas, der Fernsehredakteur, projektiert ein „Menschen-im-VerkehrFeature“ (EL 289). Der Gegenstand des Features ist zugleich der Gegenstand des Theatertextes, indem dieser Subjekte beim Spazierengehen und Taxi fahren, im Zug und im Flugzeug zeigt – beziehungsweise Subjekte, die sich bei eben diesen Fortbewegungen reflektieren. Die Subjekte nehmen sich darin selbst als Bewegte und SichBewegende wahr. Ihre Denkbewegung, die der Theatertext formalästhetisch nachzeichnet, erschließt nicht allein (subjektive) Innenräume, sondern auch (intersubjektive) Außenräume. In emphatischen Worten verkündet beispielsweise Thomas, als er allen Hindernissen zum Trotz zu der Erfolg versprechenden Begegnung mit dem „‚großen Meister‘“

209 Martina Löw: Raumsoziologie, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2005 [2001], S. 113f. 210 Ralph Hammerthaler: Mobbingkompott. John von Düffels Stück „Elite I.1“ in Hamburg uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitung, 21. Mai 2002, S. 18.

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(EL 272) der Lifestyle-Branche unterwegs ist: „[…] [D]er Zug fährt ab und ich mit ihm, Bewegung, Leben, Raumgewinn, ich werde mein Ziel erreichen und noch einmal Fernsehgeschichte schreiben, spät, aber trotz allem, das ist jetzt klar“ (EL 287). Dass Thomas ein weniger fortschrittliches Verkehrsmittel als etwa das Flugzeug und zudem eine weniger individuelle Fortbewegungsart als etwa das Autofahren oder das Zufußgehen wählt, kann als Vorausdeutung seines Scheiterns gelesen werden. Aus der Zeitung, die ein benachbarter Fahrgast liest, erfährt er, dass das Thema seines geplanten Features, die Publikation „WOLLEN IST MÜSSEN“, bereits in einem „Talk mit Sibylle Thelen“ (EL 299) gesendet wird. Thomas kann mit dem Tempo des medialen Marktes nicht mithalten und verliert in der Konkurrenz mit einer jüngeren Kollegin. Die mit der Form des Monologs verbundene Ich-Bezogenheit der Figuren ist also mit der, nicht zuletzt verkehrstechnisch bedingten, Interaktion im sozialen Umfeld auf das Engste verwoben. Mit der Verflechtung der Selbst- und Fremdbeobachtungen wird deutlich, wie insbesondere die anderen und die – nicht zuletzt durch die Beraterliteratur vermittelten – Ansprüche der Arbeitswelt als Spiegel des Ichs fungieren. Die junge aufstrebende Fernsehredakteurin Angelika zeigt sich überzeugt: Es ist ja so wahr, dass einem die Leute so begegnen, wie man auf sie zugeht, ich kann das nur jedem empfehlen, öfter mal rauszugehen an die frische Luft, um sich davon zu überzeugen, dass es keine kalte, grausame, feindliche Welt gibt da draußen, sondern nur einen Spiegel, die Welt ist ein Spiegel, wenn du hineinlächelst, lächelt sie zurück, zu neunzig Prozent, und im Lächeln bin ich gut, mein Lächeln ist von Natur aus ansteckend, es macht ganz im Vorbeigehen Menschen glücklich, Fremde, die ich noch nie gesehen habe und nie wieder sehen werde, drehen sich um und fühlen sich durch die Art, wie ich lächle, gemeint […] (EL 271)

Angelika skizziert eine Art Eroberung der Welt und des Fremden, als deren probate Waffe sie das Lächeln einsetzt. Dieses ist in ihrer Aussage mehrfach codiert: als persönliche Begabung, als natürliche Gabe der Frau, als Medium sozialer Begegnung sowie als rational einsetzbares Mittel zum Zweck der Selbstvermarktung. Signifikanterweise bildet das Lächeln ein Leitmotiv der Figurencharakterisierung und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der sogenannten „Emotions-

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arbeit“211, die insbesondere im Bereich der Dienstleistung212 soziale und ökonomische Relevanz besitzt – wie auch beispielsweise in René Polleschs Theatertext Insourcing des Zuhause. Menschen in ScheissHotels (UA 2001) vor Augen geführt wird. Insofern Lächeln immer auch als ‚von oben‘ verordnete Arbeit oder als zu ökonomischen Zwecken eingesetztes Mittel gedacht werden kann und es daher nicht notwendigerweise persönlich motiviert sein muss, kann ein Lächeln auch ein Moment der Verunsicherung oder gar der Skepsis und des Misstrauens schaffen. In von Düffels Text sind die Reaktionen auf ein Lächeln entsprechend vom Verdacht der Inszeniertheit und vom Vorwurf fehlender Authentizität besetzt. Thomas unterstellt seiner Sekretärin, die er der Sabotage verdächtigt, dass sie „viel sagend“ lächelt (EL 273); Benjamin „gelingt“ bei der Personenkontrolle am Flughafen „ein Lächeln“, obgleich er weiß, dass ihn der Nagel in der Hüfte und die Metallplatte im Knie als potenziellen Terroristen brandmarken werden (EL 273); Isabell spricht vom „Durchlächeln des Zolls“ (EL 286) und regt sich bei ihrem Flug zugleich über „diese Kellnerinnen der Lüfte mit ihrem blasierten Lächeln und der Leck-mich-am-Arsch-Freundlichkeit“ auf (EL 280).213 Mit dem Lächeln ist in den zitierten Hand-

211 Vgl. Arlie Russell Hochschild: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, mit einem aktuellen Vorwort v. Arlie Russell Hochschild und einer Einleitung v. Sighard Neckel, erw. Neuausgabe, Frankfurt/Main, New York 2006. Hochschild, deren Arbeiten den Begriff der ‚Emotionsarbeit‘ maßgeblich prägen, unterscheidet ‚emotional labor‘ am Arbeitsplatz von ‚emotional work‘ im Privaten. Auch Hochschild beschäftigt sich in ihrer Arbeit dem Lächeln von Stewardessen. 212 Vgl. die Studie von Daniela Rastetter: Zum Lächeln verpflichtet. Emotionsarbeit im Dienstleistungsbereich, Frankfurt/Main, New York 2008. 213 Auch René Pollesch zitiert in seiner Stückeserie world wide web-slums die Stewardess als Prototyp der freundlichen Dienstleisterin, setzt den Akzent allerdings noch dezidierter auf die Korrelation von Geschlecht und Selbstvermarktung: „CATRIN: […] Alle Frauen sind irgendwie Stewardessen. […] CAROLINE: Und die Nasa oder Lufthansa können sich eine soziale Dimension vorstellen in deinem Gesicht. In diesem Display. Dein FREUNDLICHES GETUE bezahlt das Kerosin da oben in der Luft, und diese soziale Dimension nimmt da irgendwie Warencharakter an“ (René Pollesch: world wide web-slums 1–7, in: René Pollesch:

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lungsmomenten weniger ein Zustand der Freude markiert als ein Verhältnis der verdeckten Rivalität und Konkurrenz. Das Lächeln mimt ein aggressives Zähnefletschen im Kampf um ein erfolgreiches Vorwärtskommen – im wörtlichen wie im übertragenen, auf die Karriere bezogenen Sinne. Zugleich wird das Lächeln als Zeichen der Überlegenheit lesbar: Benjamin triumphiert gegenüber der Sicherheitsbeamtin, als er ihr „lächelnd“ seinen Gesundheitspass überreicht (EL 274); Angelika möchte ihrem Kollegen beim Überreichen der Kündigung „in die Augen sehen und lächeln“ (EL 275); Thomas verlässt den Flughafen trotz verpassten Fluges „mit einem echten Gewinnerlächeln“ (EL 282). Die Anhäufung lächelnder Gesichter verkörpert das Credo ‚Lächeln führt zum Erfolg‘, wie es insbesondere im Bereich der Dienstleistungen und hier vor allem bei den von Frauen ausgeübten Tätigkeiten Maßstäbe setzt. Abgerufen in diesem Feld der Arbeit wird nicht allein die fachliche Kompetenz der Erwerbstätigen, sondern diese wird an den persönlichen Einsatz von Emotionen zum Zweck der Kundenbindung und damit des unternehmerischen Erfolgs rückgekoppelt. Allerdings verkündet der Theatertext Elite I.1 das Versprechen erfolgreichen Lächelns nicht unhinterfragt. In einer Situation der Selbstzweifel, ausgelöst durch das „Gefühl […], dass ich zu nett bin“ (EL 290), fragt sich Angelika, ob nicht „Lächeln auf Dauer die falsche Strategie“ sei (EL 290). Der Theatertext lässt die Frage danach offen. Allerdings koppelt er das Motiv des Lächelns an ein weiteres Leitmotiv, nämlich das der Spiegelung. Als Angelika ihrem älteren Redakteurskollegen das Kündigungsschreiben persönlich überbringen möchte, steht sie selbstbewusst und in greifbarer Nähe ihres Zieles vor der Eingangstür: ANGELIKA: […] [I]ch spiegele mich in den Glasflächen der blank polierten Eingangstür, mein Lächeln sitzt perfekt […] ich drücke den Klingelknopf und sehe, wie gut es ist, dass ich unterwegs so viel Licht getankt habe, ich strahle wirklich, Glanz und Helligkeit, meine Augen der reine Wahnsinn […] mein Lächeln sitzt unverändert, ich klingele ein zweites Mal und sehe mich an, wenn ich so lächele, habe ich schon gewonnen, ich warte und behalte genau dieses Lächeln im Gesicht, ohne dass es in irgendeiner Form strapaziert aussieht, hat

www-slums, hg. v. Corinna Brocher, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 103328, S. 306).

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er vielleicht eine Kamera oder einen Spion installiert, irgendwo, […] nicht dass ich mich danach umschauen würde, das wäre zu defensiv, stattdessen vertiefe ich mich in mein Spiegelbild und verwerfe sofort wieder den Gedanken, er könnte vielleicht tatsächlich nicht zu Hause sein, weil mein Lächeln darunter leidet und meine ganze Ausstrahlung nach innen knickt […] (EL 285)

Im Spiegelbild Angelikas zeigt sich die erfolgreiche Karrierefrau, mit Hilfe derer sich Angelika über ihre Verunsicherung, den Kollegen eventuell falsch eingeschätzt haben zu können – „diese Adresse passt gar nicht zu ihm“ (EL 285) –, hinwegzuretten versucht. Angesichts eines Scheiterns droht die souveräne Selbstpräsentation, die es um jeden Preis aufrechtzuerhalten gilt, „nach innen wegzuknicken“. Problematisiert wird die Idee der Deckung des ‚äußeren‘ Auftretens durch eine ‚innere‘ Motivation und Überzeugung, aufgeworfen wird die Frage nach der Authentizität. Der Verlust des Erfolgs oder bereits das Zweifeln an selbigem lässt die fragile Konstitution des Ichs anschaulich werden. Wer scheitert, so lässt sich die in Elite I.1 entwickelte Spiegel-Metaphorik lesen, verliert diejenige Identität, die ihn in der Arbeitswelt sichtbar macht beziehungsweise die diese selbst herstellt: Von der Konkurrenzsituation am Arbeitsplatz in den Verfolgungswahn und vom Platz des erfolgreichen Redakteurs getrieben wird Thomas in diesem Sinne „durchsichtig“: THOMAS: Ich könnte genauso gut nicht aussteigen, aber ich tue es, ich könnte genauso gut nicht durch diese Straßen gehen, wunschlos vor erleuchteten Schaufenstern, gehe aber, ohne aufzuhören, in den Scheiben Umrisse, kein Spiegelbild, ich sehe durch mich hindurch, irgendwo vor einem Fernsehgeschäft ein Anflug von dem, was ich mal war […] (EL 300)

Wie in Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht wird auch in von Düffels Text über das zeitgenössische Arbeitssubjekt die Figur des Vampirs, des Untoten aufgerufen, und damit das Moment der Scheinhaftigkeit der Selbstperformanz akzentuiert. Allerdings signalisiert das Untotsein bei von Düffel, anders als bei Röggla, den Misserfolg. Auf charakteristische Weise ist die ‚Lebendigkeit‘ der nach Erfolg strebenden Protagonisten in Elite I.1 zum einen durch deren Mobilität – im Sinne von Ortswechseln – und zum anderen durch ihr Verhältnis zur Zeit dargestellt. Wie bereits ausgeführt ist mit den paratextuellen Angaben als primärer Maßstab allen Handelns das „Jetzt“ vorgeschrie-

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ben. Diesem wird durch die Dramaturgie des Theatertextes in der Weise Rechnung getragen, dass viele der Selbstgespräche in demselben Zeitraum stattfinden, wenn auch die Gleichzeitigkeit nicht explizit angegeben, sondern allein inhaltlich zu rekonstruieren ist. Aufs Ganze des Textes gesehen umfassen die in der Figurenrede referierten Geschehensabläufe und Handlungen in etwa einen Tag. Einer Vereinzelung der Monologe wirkt mithin entgegen, dass diesen die Matrix eines ‚normalen‘ Tagesablaufs zugrunde gelegt ist. Das Thema der zeitgenössischen Arbeitswelt in Verknüpfung mit diesem dramaturgischen Kunstgriff setzt von Düffels Elite I.1 in ein intertextuelles Verhältnis mit Gesine Danckwarts Theatertext Täglich Brot (UA 2001), der seinerseits den gleichförmigen Ablauf des Alltags von insgesamt fünf Arbeitnehmern und Arbeitslosen verhandelt.214 Im Unterschied zu Täglich Brot bündelt darüber hinaus jedoch nicht ein Ort – dort das Haus – die Geschichten der Figuren, sondern es sind sowohl die privaten und beruflichen Beziehungen als auch die zufälligen Begegnungen im öffentlichen Raum, die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen stiften. Hendrik, der Schönheitschirurg, und Sibylle, die Moderatorin, sind privat ein Paar, wobei sie zugleich schon seine Patientin war. Sibylle arbeitet in derselben Fernsehredaktion wie Angelika und Thomas. Die Unternehmensberaterin von McKinsey, Isabell, steht mit der Redaktion in Kontakt, namentlich mit Thomas (EL 271f.) und Angelika (EL 289). Nach ihrer Ankunft in New York trifft die Projektmanagerin zufällig auf Benjamin, den Exanwalt und Exleistungssportler. Das jeweilige Aufeinandertreffen der Figuren passt sich in verschiedene Zeitraster ein, die sich einmal nach der Arbeitszeit und einmal nach Fahrplänen richten. Demgemäß durchzieht ein kontinuierlicher Faden von Zeitangaben das Gewebe von Gedanken und Wahrnehmungen in der Figurenrede. Die Wahrnehmung von Zeit oszilliert dabei zwischen den Polen der übermäßigen Dehnung und der extremen Raffung, die sechs Protagonisten befinden sich entsprechend entweder in großer Eile (Isabell: EL 271, 294, 297; Thomas: EL 275, 277, 281, 287) oder legen die Uhr im wörtlichen Sinne beiseite (EL 288). Prägend für den Rhythmus des Theatertextes ist der Wechsel zwischen einem forcierten Zeitmanagement und einem Umgang mit Zeit in der Art des Laisser-faire. Signifikanterweise führt der Theatertext Zeitknappheit und Zeitüberfluss gleichermaßen als Statussymbole vor, wie

214 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 303-308.

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exemplarisch am Zeitmanagement von Isabell und Angelika nachzuvollziehen ist. Die Projektmanagerin Isabell sucht ihren Tag optimal auszunutzen: Sie pocht im Rahmen ihrer beruflichen Aufgaben auf die Einhaltung von „exakte[n] Fristen“ (EL 269). Das Nichteinhalten von Terminen führt sie entsprechend auf einen „Mangel an Belastbarkeit“ (EL 270) zurück. Dabei ist das Zu-spät-Sein aus ihrer Sicht ebenso wenig akzeptabel und mit Prestigeverlust verbunden wie das Zu-frühSein (EL 275). Ihr Insistieren auf Pünktlichkeit steht auffälligerweise der verbreiteten zeitgenössischen Rede vom Zeitfenster, das „[i]m Gegensatz zum Termin […] eine Ausdehnung [hat]“215, entgegen und bricht mit der neukapitalistischen Forderung nach Flexibilität. Die Irritation hält allerdings nur in diesem Punkt vor, denn dominierend für die Figur der Isabell bleibt die affirmative Haltung gegenüber dem Diktat der Effizienz, das insbesondere mit dem Handlungsmodus der Beschleunigung und der Gleichzeitigkeit korreliert. Isabell macht sich nicht auf den Weg zur Arbeit, sondern sie erledigt ihre Arbeit auf dem Weg, zum Beispiel zwischen Flughafen und Flughafen: „[…] [S]chon von der Gangway bis zur Immigration kann ich drei Viertel von dem abarbeiten, was sich auf meinem Triband gestaut hat, bevor ich Europa definitiv hinter mir lasse und hier loslege, wo die Geschwindigkeit wohnt, das motiviert, mit der aufgehenden Sonne fliegen und Tag haben, 24 Stunden lang“ (EL 286). Die Arbeit gewinnt hier Omnipräsenz, indem sie zum einen von einem spezifischen Ort entkoppelt und zum anderen zur im wörtlichen Sinne taglangen Tätigkeit wird. In dem technischen Gegenstand des Tribands, das zur Nutzung des Handys nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten befähigt, konkretisiert sich der Anspruch der Unternehmerin, global zu agieren, ganz gemäß der von Manuel Castells formulierten Pointe: „Eliten sind kosmopolitisch, die Leute sind lokal.“216 Definiert Isabell ihr Aktionsfeld ‚worldwide‘, so entspricht

215 Spinnen: Gut aufgestellt, S. 46. 216 Manuel Castells: Space of Flows – Raum der Ströme. Eine Theorie des Raumes in der Informationsgesellschaft, in: Peter Noller, Walter Prigge, Klaus Ronneberger (Hg.): Stadt-Welt. Über die Globalisierung städtischer Milieus, Frankfurt/Main, New York 1994 (Die Zukunft des Städtischen, 6), S. 120-134, S. 130. Der Raum der Elite rund um den Globus konstituiert sich nach Castells durch „Verknüpfungslinien des Raums der Ströme: […] Wartehallen für VIPs in Flughäfen, die dazu bestimmt sind,

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dem ihre Vorliebe für den Rausch der Geschwindigkeit, der „Endorphinschübe“ auslöst. Sie genießt das Tempo, „besonders in dieser Stadt, wo die Zeit so knapp ist wie nirgendwo sonst auf diesem Planeten und jeder Mensch froh, wenn du ihn nicht weiter aufhältst“ (EL 286). Dieser Gedankengang spielt auf die Vorstellung von Urbanität an, die, wie etwa Simmel oder Sennett in ihren Zeitdiagnosen festhalten, mit Schnelllebigkeit und Anonymität gekoppelt ist. Beides prägt bei Isabell nicht nur das öffentliche Auftreten, sondern wirkt auch in den Bereich des Privaten hinein. Der strenge Zeitplan, dem Isabell folgt, erstreckt sich nicht allein auf ihr Arbeits-, sondern auch auf ihr Intimleben. Ihr Tagesablauf ist erkennbar geprägt durch die in der zeitgenössischen Forschung217 zu Arbeits- und Lebensformen diskutierte zeiträumliche Entgrenzung von Arbeits- und Privatsphäre. So darf die Begegnung mit Benjamin im Hotelzimmer, wo „es passiert, einfach so, wortlos“ (EL 296), „nicht mehr als eine halbe Stunde“ in Anspruch nehmen; auch hier gilt das Prinzip der Zeiteffizienz: „[A]lles unter fünfundzwanzig Minuten wäre natürlich ideal“ (EL 294). Zeitknappheit wird bei Isabell zum dominierenden Parameter ihres alltäglichen Erlebens und zur zentralen Größe ihres Selbstverständnisses als erfolgreiche Geschäftsfrau. Den unternehmerischen Imperativ zur Selbstoptimierung insbesondere in Bezug auf ein ideales Zeitmanagement hat sie vollständig internalisiert. Von Isabells Einstellung gegenüber der Zeit hebt sich Angelikas Zeitplanung ab. Dies wird bereits mit Blick auf die Fortbewegungsarten der beiden Frauen kenntlich. Während Isabell mit Taxi und Flugzeug unterwegs ist, geht die Redakteurin den Weg durch die Stadt zu

genügend Abstand gegenüber einer Gesellschaft in den verstopften Highways des Raums der Ströme zu gewährleisten; beständiger Zugriff auf Telekommunikationsnetzwerke, so daß der Reisende nie verloren geht […]“ (Castells: Space of Flows, S. 131). 217 Vgl. u.a. Heiner Minssen (Hg.): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000; Karin Gottschall, Gerd-Günter Voß (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München, Mering 2003 (Arbeit und Leben im Umbruch, 5); Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 7-12; sowie Pauline Boudry, Brigitta Kuster, Renate Lorenz (Hg.): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause, Berlin 1999.

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Fuß. In der Hektik des Alltags gönnt sie sich den Luxus der Langsamkeit – ein Luxus, der „in der Frühmoderne temporaler Alltag und in der ‚klassischen Moderne‘ ein Zeichen von Armut und Rückständigkeit war“218: „[E]ine Sache langsam zu machen und das zu genießen, auch wenn die Uhren in der Redaktion weiterticken und meinem Schedule die Zeit wegläuft, ich hetze nicht, sondern gönne mir diesen Augenblick, auf den ich so lange hingearbeitet habe“ (EL 275). Was sich Angelika am Tag der Kündigung von Thomas einrichtet, wenn sie sich dem sie umgebenden Lebenstempo entzieht, nennen Zeitforscher „Entschleunigungsoase“219. Für Angelika gibt es keine ‚verlorene‘ Zeit, ganz im Gegenteil nimmt sie arbeitsfreie Zeit unter der Perspektive körperlicher Pflege und Fitness (EL 288) sowie seelischen Wohlergehens wahr. Sie investiert ihre freie Zeit mithin in die Regeneration ihrer physischen und psychischen Arbeitskraft. Angelika vertritt die Auffassung: „[W]er lichtarm lebt, wird auf Dauer glanzlos, verliert seine innere Helligkeit, das Strahlen“ (EL 270). Doch wie bei Isabell kommt auch bei ihr das Moment des disziplinierenden Selbstmanagements zum Tragen, wenn sie für eine „gezielte Dosis Tageslicht“ plädiert: „[M]an muss wissen, wann Schluss ist“ (EL 270). Angelikas Wahrnehmung von Zeit und ihr Umgang damit korrelieren insgesamt mit einem Körperbewusstsein, das an den Kategorien von Schönheit, Gesundheit und Fitness orientiert ist und damit dem zeitgenössischen Anforderungsprofil der Selbstvermarktung entspricht. In vergleichbarer Weise sind aus Sibylles Sicht „die wenigen Stunden, die ich für mich habe“ (EL 277f.), mit dem Aspekt der ‚Wellness‘ assoziiert. Das Verhältnis der Figuren zu ihrem Körper und zu den Körpern anderer steht im Zeichen der Wahrnehmung von Zeit und damit nicht zuletzt auch im Zeichen des Alters. Ein Spektrum, das verzeichnet, welche Zeiterfahrungen die Protagonisten im Verlauf des Tages machen, lässt sich weder nur auf den Status ihrer Berufstätigkeit noch auf das Geschlecht oder Alter beziehen. Es ist demzufolge festzustellen, dass der Faktor Zeit in Elite I.1 eine bedeutende Rolle für die Konstitution der Figuren als Arbeitssubjekte spielt, die Modi der Integration in das Selbstmanagement allerdings variieren. So kann Zeit-Haben doppelt codiert sein: als Luxus und als Privileg, über Zeit frei zu verfügen, wie im Falle von Angelika,

218 Rosa: Beschleunigung, S. 253. 219 Rosa: Beschleunigung, S. 143.

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oder als Resultat der Arbeitslosigkeit, wie bei Hendrik. Entsprechend zweideutig wird die Situation, keine Zeit zu haben, konnotiert: Zeitdruck kann auf Erfolgsdruck zurückzuführen sein, wie bei Thomas, oder kann Ausdruck des bereits erreichten Erfolgs sein, wie bei Isabell. Mit ihrer jeweiligen Wahrnehmung und Gestaltung von Zeit stehen die sechs Repräsentanten der „Verkehrselite“, trotz einiger punktueller Parallelen, relativ vereinzelt. 5.3.3 Körper im Zeichen des (Nicht-)Erfolgs Bei dem von Thomas geplanten „Menschen-im-Verkehr-Feature“ soll es sich nach seinen Worten um „ein kleines Feature über die emotionale Verarmung der Verkehrseliten“ (EL 287) handeln. Diese thematisch spezifizierende Umschreibung des Features sowie das im Kompositum wiederkehrende Titelwort „Elite“, das sonst an keiner weiteren Textstelle gebraucht wird, lassen es schlüssig scheinen, die sechs Figuren aus Elite I.1 als Vertreter der im Feature behandelten sozialen Gruppe zu identifizieren. Ob den sechs Protagonisten allerdings die Diagnose „emotional verarmt“ gestellt werden kann, wäre, insbesondere aus psychologischer Perspektive, zu diskutieren. Dies soll hier nicht geschehen. Erwähnt seien nur einige wenige ‚Symptome‘, die sich in diese Richtung deuten ließen: Sibylles Reaktion auf die Offenbarung ihres Mannes, dass er „beurlaubt“ wurde, erschöpft sich in einem nüchternen „Sag bloß“ (EL 292). Angelikas Überlegung, dass Thomas nach seiner Kündigung nicht mehr den gewohnten Lebensstandard weiterführen könne, schließt mit einem bloß rhetorischen „tut mir Leid“ (EL 285). Und um ein letztes Beispiel zu geben: Als nach dem gemeinsamen sexuellen Abenteuer Benjamin von Isabell verabschiedet wird und auf ihre unbedeutende Frage „Und, was hast du noch so vor“ antwortet „Sterben“, konstatiert sie: „Na, dann eilt es ja nicht“ (EL 300). Nicht primär die Frage nach der psychischen Disposition der Figuren soll im Weiteren verfolgt werden, sondern die Diskussion zu den Distinktionsmerkmalen der „Elite“ wird weiter ausdifferenziert. Mittels welcher Beurteilungen und Praktiken, so ist zu fragen, streben die im Stück versammelten Repräsentanten der Wirtschaft, der Medien, der Jurisprudenz und des Sports ihrem Ziel der Erfolgsmaximierung zu? Wie konsolidieren sie ihre Zugehörigkeit zu den Besten der Besten? Neben den bereits angesprochenen Aspekten der Selbst- und Fremdcharakterisierungen, das sind: die physische Mobilität, die non-

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verbale Kommunikation in Form des Lächelns und der Umgang mit Zeit, spielen auch die Beziehung zum eigenen Körper und dem Körper anderer, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und das Lebensalter in die Bestimmung und Abgrenzung des eigenen Status hinein. Namentlich bildet ein markanter Angelpunkt der Selbstdarstellung der Figuren das „Schönheitshandeln“, das Nina Degele wie folgt definiert: Schönheitshandeln bedeutet, sich über das Aussehen und die äußere Erscheinungsweise sozial zu positionieren, d.h. zu wissen, wo und von wem man anerkannt werden möchte und von wem man sich abzugrenzen hat. Genau in diesem Sinn ist Schönheitshandeln Normalitätshandeln, nämlich ein Handeln, das auf Anerkennung durch die jeweils relevante Bezugsgruppe zielt, seien es Peers, Konkurrenten/innen, Partner/in, Kollegen/innen oder andere. 220

Formen und Wirkungen des Schönheitshandelns diskutiert von Düffels Theatertext Elite I.1 explizit über die Wahl seines Figurenensembles, indem er einen Schönheitschirurgen und eine operierte Frau, signifikanterweise ein Ehepaar, in Szene setzt. Zudem wird personenübergreifend der Konnex von Erfolg und Attraktivität verhandelt, der sich mitunter in einer tendenziell misanthropischen Sicht auf die Mitmenschen manifestiert. Diese Zusammenhänge von Schönheit und Anerkennung sind etwa in der Situation, in der Thomas auf die Idee zu einem „Menschen-im-Verkehr-Feature“ kommt, dargelegt. Der Fernsehredakteur trifft, wie es in seiner Replik heißt, „mit wehendem Mantel“ am Bahnhof ein, zielstrebig das schlecht gekleidete Gewimmel durchschreitend, in dem keiner weiß, wer ich bin, lauter Leute, die nicht mehr mithalten können und höchstens im Weg stehen, Alte, Kranke, Kinderreiche, eigentlich ganz normales Volk, das mir seit Jahren nur noch auf zweierlei Weise begegnet, entweder als Zu-

220 Nina Degele: Normale Exklusivitäten – Schönheitshandeln, Schmerznormalisieren, Körper inszenieren, in: Paula-Irene Villa (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 67-84, S. 71; vgl. auch Nina Degele: „Schön mache ich mich für mich.“ Schönheitshandeln als erfolgsorientiertes Handeln, in: Jutta Allmendinger (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Teil 2, Opladen 2003, S. 802-817.

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schauer oder als Hindernis, doch heute forciere ich nicht den Unterschied, sondern mische mich freudig unter das Mobilitätsproletariat, das zu unbedeutend ist, um namentlich kontrolliert zu werden, mein Gott, wann war ich das letzte Mal mit der Bahn unterwegs, nostalgische Anwandlungen aus Studententagen und das längst vergessene Gefühl, ein guter Demokrat zu sein, im Slalom tänzele ich treppabwärts und stelle mich mit klopfendem Herzen zu den gebückten Gestalten am Gleis, die geistlos wartend vor sich hin starren, mir ist mit einem Mal so empathisch zumute, Brudergefühle, sogar für mich selbst, ich empfinde mich seit langer Zeit mal wieder als ein Teil von etwas, vielleicht drehe ich demnächst ein kleines Feature über die emotionale Verarmung der Verkehrseliten […] (EL 287)

Die Zeichnung der „Leute“, von denen sich Thomas als Person der Medienöffentlichkeit abgrenzt, besitzt naturalistische Züge, und erinnert, nicht zuletzt aufgrund des Ausdrucks „Proletariat“, an Gerhart Hauptmanns Die Weber. Dabei wirkt die rhetorisch kunstvolle Beschreibung, die sich insbesondere der lautmalerischen Alliteration bedient, im Sinne einer Ästhetisierung des von Thomas beobachteten ‚Elends‘. In der Wortfolge von „gebückten“ – „Gestalten“ – „Gleis“ – „geistlos“ wird der ‚harte‘ diffamierende Kurzschluss, der zwischen körperlicher und geistiger Verfasstheit gezogen wird, durch den harmonischen Gleichklang tendenziell nivelliert und damit überhörbar. Insgesamt zieht der Protagonist ein breites Register an Vorurteilen gegenüber der ihn umgebenden Menschenmenge. Ihren Habitus kennzeichnet er durch schlechten Geschmack und eine gekrümmte Körperhaltung, mangelnde Leistung und defizitäre Bildung, er nimmt sie als passiv, anonym und uninteressiert wahr. Die Position des Sprechers ist die des Sich-überlegen-Fühlenden: Im leichten, „tänzelnden“ Gang verkörpert sich die Unbeschwertheit und Attraktivität seines Status, der mittels des Attributs „tänzelnd“ assoziativ in die Nähe des Künstlers rückt. „Heute“ kann er es sich leisten, nicht auf den, im Bourdieu’schen Sinne, feinen „Unterschied“ zu bestehen, sondern sich mit dem „normalen Volk“, mit den „Alten“, „Kranken“ und „Kinderreichen“ gemein zu machen. Thomas reanimiert den „guten Demokraten“ in sich, der sich dem Demos zuwendet, und mehr noch: anschließt, und das Prinzip der Gleichheit praktiziert. Der Kontakt mit den Bahnreisenden weckt bei dem Einzelgänger, zu dessen Familienstand der Rezipient signifikanterweise keine eindeutige Information erhält, „Brudergefühle“ und angesichts von reisenden Frauen mit Kindern „ein

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Gefühl von geradezu familiärer Geborgenheit“ (EL 288). Die Projektion der Familie auf fremde Mitreisende im öffentlichen Raum bedeutet dessen Intimisierung und damit die tendenzielle Diffusion der Grenze von privater und öffentlicher Gemeinschaft. Allerdings bleiben die physische Nähe wie auch die positive Haltung nur punktuell und vorübergehend wirksam. Es dominiert der Habitus der Distanzierung und Abgrenzung, der sich räumlich im Rückzug in ein leeres Zugabteil (EL 289) und sprachlich in der Wahl der Worte für die Mitreisenden manifestiert. Der räumlichen Distanzierung entspricht die Distanzierung im Sozialen. Bei der Schilderung der für ihn fremden Umgebung greift Thomas auf Klischees und Stereotype zurück: Die Kinder der Frauen sind „schwer erziehbar“ (EL 288), die Unterhaltungen der Mütter sind „basarartige[s] Gezeter“ (EL 288) und der zusteigende „Vertretertyp“ ist ein „Modernisierungsverlierer um die Fünfzig mit Headset im Ohr“ (EL 296). Die Erfahrung des karrierebedachten, anonymen Einzelgängers, kurzfristig in die heterogene und diffuse Menge der Mitmenschen einzutauchen, und zugleich das Bestreben, sich als eigenständig abzugrenzen, teilt der von Düffel’sche Protagonist mit Konkurrenten anderer zeitgenössischer Theatertexte, etwa mit Gesine Danckwarts Figur Nelke aus Täglich Brot, die die Form der kurzzeitigen Vergemeinschaftung insbesondere als Bewegungsablauf schildert: „Laufen. Weiter. Rennen. Immer weiter. Schnell. Weg hier. Nichts wieder erkennen. Gehen. Dieser Weg zur U-Bahn. Ein Rhythmus. Ich gehe in diesem Rhythmus mit. Habe dabei aber auch einen eigenen. Meinen. Boden absuchen. Kopf nie in den Nacken.“221 Im zeitgenössischen Theatertext prägt die Idee der Isolation und Abgrenzung im Sinne einer forcierten Selbstbezüglichkeit die Darstellung eines erfolgsorientierten Arbeitssubjekts. Ex negativo charakterisiert von Düffels Medienmacher die Elite, zu der er sich selbst zählt, als jung und gesund, kinderlos und von unauffälligem Auftreten. Dass Thomas mit seinen „achtundvierzig ernüchternden Lebensjahren“ (EL 275) und seiner Nikotinsucht die Eigenschaften der Elite kaum noch erfüllt, fällt ihm nicht auf beziehungsweise bleibt von ihm unerwähnt. Im Gegensatz zu seinem Selbstbild identifiziert Angelika Thomas als „traurige Gestalt“ (EL 285) und sie „weiß mit absoluter Sicherheit, dass er seine freien Tage ausnahms-

221 Gesine Danckwart: Täglich Brot, in: Theater heute 42 (2001) H. 6, S. 5660, S. 56.

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los rauchend im Bett verbringt und die Wohnung so gut wie nie verlässt“ (EL 285f). Doch auch ihre Sicht wird relativiert. Die Tatsache, dass ihr Kollege nicht zuhause anzutreffen ist, lässt bei ihr Zweifel aufkommen: „[W]urde mir das gar nicht wirklich erzählt, und ich habe es selbst in der Redaktion gestreut[?]“ (EL 286) Die bei Thomas anklingende Altersproblematik, die bei ihm in die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit und den Karrierechancen auf dem Arbeitsmarkt mithineinspielt, gewinnt bei Isabell an Virulenz. Während ihres Fluges nach New York kreisen ihre Gedanken um die im Altersunterschied abzulesende Konkurrenzsituation: „[G]laubt nicht“, beschimpft sie stumm die Stewardessen, „ihr könnt mich so einfach in die Schublade stecken, nur weil ihr zehn, zwölf Jahre jünger seid, wenn ich wollte, hätte ich euch längst meinen Business-ClassCappuccino über die Kälberknie geschüttet, nur um zu hören, wie ihr euch bei mir entschuldigt, aber dafür ist er viel zu kalt“ (EL 280f.). Im Bewusstsein um die Vorteile der Jugend legt die 35-jährige Isabell, wie die erste Begegnung mit dem zwei Jahre jüngeren Benjamin offenbart, Wert auf ein jugendliches Äußeres: Sie ist „ganz zufrieden mit dem Aufwärtsdrall [ihres ‚Pos‘, C.B.], der jugendlich munter wirkt und auch nach sechseinhalb Stunden Flug gar nichts Durchgesessenes hat“ (EL 291). Die Geschäftsfrau lässt sich auf eine sexuelle Beziehung mit Benjamin ein, weil sie sich selbst attraktiv fühlt und auch von ihrem Gegenüber als attraktiv empfunden wird. Anerkennend stellt sie fest, dass der zu dem bandagierten Arm „dazugehörige Körper eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit sich selbst verrät, was keine Voraussetzung ist, aber doch vieles leichter macht“ (EL 291). In durchaus narzisstischer Manier ist ihr hauptsächliches Interesse und Verlangen jedoch darauf gerichtet, „wie ich mich selbst anfühle“ (EL 291). Die Sorge um sich selbst zeigt sich hier vor allem als Sorge um das eigene Erscheinungsbild. Dieses dominiert entsprechend die Begegnung mit dem anderen. Wie Isabell bedauernd konstatiert, geht das sexuelle Zwischenspiel auf Kosten der Regeneration ihrer durch die Klimaanlage beanspruchten Augen. „[V]ielleicht“, so phantasiert sie, „finde ich ein bisschen Dunkel hinter seinem Ohr“ (EL 294). Auffällig bei solcherlei Überlegungen, wie sie Isabell umtreiben, ist die partikulare Wahrnehmung des eigenen Körpers und auch des Körpers des anderen, die das Subjekt als dissoziiertes thematisiert. Zudem wird der Blick auf den Körper in seiner normierenden Prägung kenntlich, die sich allem voran an dem Ideal der jugendlichen Schönheit orientiert.

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Eine in Jugendlichkeit begründete Attraktivität ist auch das Körperideal, dem Sibylle huldigt. Sie unterzieht sich selbst einer strengen Nahrungskontrolle und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie, wenn nicht an Anorexie erkrankt, so doch gefährdet ist, magersüchtig zu werden (EL 276f.). Wie beim erfolgsorientierten Unternehmensberater Philipp in von Düffels Roman EGO erregt auch bei ihr alles mit Essen in Zusammenhang Stehende Ekel. Allem voran findet sie ihren frühstückenden Ehemann Hendrik, der unter ihrem sezierenden Blick Züge des Tierhaften und Triebhaften erhält, abstoßend: SIBYLLE: Er kaut so laut, mein Gott, dieser Mund, verformt sich mein Mund auch so, wenn ich esse, seine Lippen wälzen sich wie zwei fette, fettglänzende Würmer übereinander, er schmatzt nicht, er kaut so laut, […] Schall tritt ungehindert aus sämtlichen Poren, wo Bartstoppel die Haut durchstoßen, Essgeräusche, Kaugeräusche, er könnte genauso gut als anatomisches Anschauungsobjekt mit abgezogener Gesichtshaut weiteressen, […] warum reißt er nicht gleich den Mund auf und lässt alle Welt teilhaben an dem Geschlechtsverkehr seiner Esswerkzeuge […] (EL 267)

Die Sinnlichkeit, die durch die assoziationsreiche und lautmalerische Beschreibung des Kauvorgangs evoziert wird, steht zu dem Diktum der Selbstdisziplin in Widerspruch, das den Diskurs der Schönheit und Fitness durchzieht. In der Gegenüberstellung der Gedankenwelten von Sibylle und Hendrik wird nicht nur das Moment der Selbstkontrolle, sondern auch die Situation der gegenseitigen Überwachung thematisch. Sibylles beobachtendem Blick begegnet unbemerkt der Blick Hendriks, der an der Moderatorin bereits in der realen Begegnung etwas von „dieser Fernseh-Sterilität“ (EL 270) entdeckt. Bewundernd erkennt er an: „[W]irklich verblüffend, ihre Treue zum Fernsehoriginal, ich bin stolz auf mich, ich liebe das, diese makellose Zweidimensionalität bei fortlaufend gefühlsneutralem Text“ (EL 270f.). Pygmaliongleich tritt der Schönheitschirurg als Schöpfer auf. Die schöne Frau figuriert unter seinen Blicken und denen der medialen Öffentlichkeit als Objekt seiner medizinischen Kunst. Wenn Hendrik am Gesicht seiner Frau „minimale Korrekturen“ durchführt, um „ihre Ähnlichkeit mit sich selbst zu erhalten“ (EL 270), allerdings auch zugestehen muss, dass „Straffheit“ zwar zu „simulieren“, gegen „Materialmüdigkeit“ jedoch nur schwer anzukommen ist, dann kommt als eine zentrale Kategorie der

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Selbstperformance die Dichotomie von Authentizität und Inszeniertheit zur Sprache. Ebenso wie sie den Habitus der Arbeitssubjekte prägt, wie das Beispiel des Lächelns gezeigt hat, bestimmt sie den Blick auf den Körper. Sibylle strebt nach einem jungen und „makellosen“ Körper, wobei sie sich ganz im Sinne Cornelia Koppetschs um Attraktivität als „Eindruck der authentischen Verkörperung des schönen Selbst“222 bemüht. Ihre Abscheu ihrem Mann gegenüber lässt dabei den Versuch erkennen, sich von dem künstlichen Eingriff des Chirurgen zu emanzipieren. Die Koppelung von im wörtlichen Sinne strahlender Schönheit und beruflichem Erfolg, von Physiognomie und Ökonomie, findet in der Figur der Sibylle ihre strukturelle Verdichtung, sie zieht sich jedoch auch leitmotivisch durch die Wahrnehmungen aller Elite I.1-Protagonisten, die in dieser Hinsicht mit dem schönheitsoperierten Ingenieur Lette, dem Titelhelden aus Marius von Mayenburgs Der Häßliche (UA 2007) verwandt sind. Zur Disposition gestellt sind die Konkurrenzfähigkeit und der Marktwert eines ausreichend individuellen und zugleich allgemeinen Schönheitsidealen angepassten körperlichen Erscheinungsbildes, das, wie von Düffels Theatertext nahelegt, maßgeblich soziale Kontakte und Interaktionen fundiert. Diese sind in Elite I.1 vor allem durch das Prinzip der Vereinzelung geprägt, das sowohl inhaltlich als auch formalästhetisch durchdekliniert wird. Bemerkenswerterweise verhandelt von Düffels Arbeitsdrama das Thema der Selektion der Besten, das den Zustand der ununterbrochenen Konkurrenz und den unermüdlichen Kampf des ‚jeder gegen jeden‘ umfasst, als Wechselspiel von kühler Distanzierung und sinnlicher (Selbst-)Annäherung. Zentrale wirkungsästhetische Bedeutung hat die Dramaturgie der inneren Monologe, die auf die Abstraktheit der Gedankenwelt abhebt und zugleich den Schwerpunkt der Rezeption im Theater vom Optischen in den Bereich des Aktustischen verschiebt. Die Darstellung der Figuren konzentriert sich auf deren Präsenz als Stimmen. Zugleich sind die Selbstreflexionen der Protagonisten eng mit sinnlichen Eindrücken verwoben. Der Ekel vor dem anderen, der sich bei Sibylle vor allem über den Hörsinn begründet, stellt sich beim Exsportler Benjamin angesichts eines seiner Ansicht nach fettleibigen

222 Cornelia Koppetsch: Die Verkörperung des schönen Selbst. Zur Statusrelevanz von Attraktivität, in: Cornelia Koppetsch (Hg.): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz 2000, S. 99-124, S. 106.

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Fluggastes ein, der „für einen Flug in der Economy-Class viel zu fett ist und seine Existenzberechtigung erst noch erhungern müsste“ (EL 279). Insgesamt kennzeichnet eine mikroskopische Detailliertheit die Vergegenwärtigung von Körpern, die synästhetische Ausdrücke und Vergleiche wiedergeben: Zu sehen sind „Poren“ und „Härchen“ (EL 279), zu hören ist ein „Rascheln wie von ausgedörrtem Laub“ (EL 277), zu schmecken ist ein „leicht pelzige[r], müde gewordene[r] TeerGeschmack“ (EL 257) und zu riechen eine „samtig warme[...] Körperwolke“ (EL 291). Die Aufmerksamkeit für die Sinnlichkeit des Körpers lanciert der Theatertext, indem er im filmästhetischen Duktus die Mittel der Nahaufnahme und der akustischen Verstärkung einsetzt. Die dem Theatertext Elite I.1 eigene Theatralität antizipiert mithin die technischen Möglichkeiten zeitgenössischer Inszenierungspraxis und stellt die etwa durch Video oder Microport realisierbaren optischen und akustischen Effekte der durch Sprache evozierten Phantasie des Zuschauers und Zuhörers anheim. In Elite I.1 verleiht die Differenziertheit der Wahrnehmungen und Empfindungen den Körpern der Figuren eine Präsenz, die sowohl mit dem dramatischen Darstellungsmittel des inneren Monologs als auch mit der Konkretisierung durch die Stimmen der Sprecherinnen und Sprecher ein spannungsgeladenes und wirkungsvolles Verhältnis eingeht. Die Figuren, von denen bis auf wenige Ausnahmen nur innere Stimmen zu vernehmen sind, gewinnen ein hohes Maß an Plastizität. Und obgleich diese Körperlichkeit allem voran indirekt hergestellt wird und eine durch Sprache vermittelte bleibt, besitzt sie das Potenzial, ein gewichtiger Gegenpol zu den im wörtlichen Sinne kopfgeborenen Entwürfen vom Selbst zu sein. Von Düffels Theatertext Elite I.1 setzt das zeitgenössische Arbeitssubjekt in Szene, indem er das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ausleuchtet und die in der Individualisierung angelegte Tendenz zur Vereinzelung im Moment synästhetischer Nähe aufhebt. Das derart problematisierte Verhältnis zwischen dem Ich und dem anderen sowie zwischen idealem Anspruch und Wirklichkeit begegnet auch in Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht, der im Folgenden untersucht wird.

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5.4 A RBEIT ALS S ELBSTPERFORMANCE : K ATHRIN R ÖGGLAS WIR SCHLAFEN NICHT Nicht allein als Theatertext, sondern auch als Roman, Hörbuch und Hörspiel findet die von der österreichischen Autorin Kathrin Röggla unter dem Titel wir schlafen nicht geführte ästhetische Auseinandersetzung mit der Frage, wie es um die Gegenwart der Arbeitswelt und ihre sprachliche Repräsentation bestellt sei, Eingang in das literarische Feld.223 Während am 24. März 2004 der Prosatext224 in den Buchhandel kommt, wird der Theatertext225 als Stück des Monats März 2004 in der Fachzeitschrift Theater heute abgedruckt und erlebt am 7. April 2004 seine Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Bereits am 16. Februar 2004 erfolgt die Ursendung des Hörspiels226 im Bayerischen Rundfunk, ein Umstand, der in der feuilletonistischen Rezeption des Romans wie auch des Theatertextes nur eine marginale Rolle spielt. Das Hörbuch227 schließlich, das die Autorin und Hanns Zischler lesen, kommt im September 2004 auf den Markt. In Anbetracht der medial differenzierten Varianten des unter demselben Titel geführten Sujets ist mit Eva Kormann treffend von einem „wir schlafen nicht-Komplex“228 zu sprechen, der Fragen nach Strate-

223 Eine Vorstudie zu der nachfolgenden Analyse findet sich in Christine Bähr: Atemlos. Arbeit und Zeit in Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 225-244. 224 Der Text wird im Folgenden zitiert nach: Kathrin Röggla: wir schlafen nicht. roman, Frankfurt/Main 2006. 225 Kathrin Röggla: wir schlafen nicht, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 5967. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚WSN‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. Außerdem erschien der Text in einer Publikation des Düsseldorfer Schauspielhauses in der Spielzeit 2003/2004. 226 Kathrin Röggla: wir schlafen nicht. Regie: Barbara Schäfer, Bayerischer Rundfunk 2004. 227 Kathrin Röggla: wir schlafen nicht. roman. Gelesen von Kathrin Röggla und Hanns Zischler, Regie: Christian Brückner, Berlin 2004. 228 Eva Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel. Zu Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“, in: Ilse Nagelschmidt, Lea Müller-Dannhausen, Sandy Feldbacher (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Lite-

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gien und Effekten der Hybridisierung von Genres und Medien aufwirft229 und in dem sich in nuce die Vielfalt der auf mediale Schnittstellen ausgerichteten Arbeiten Rögglas zeigt.230 Den intermedialen beziehungsweise im Sinne Gérard Genettes architextuellen Bezügen zwischen Roman, Theatertext, Hörspiel und Hörbuch im Fall von wir schlafen nicht geht Eva Kormann in ihrem Aufsatz Jelineks Tochter und das Medienspiel. Zu Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ nach: In allen medialen Varianten, die in ihrer „wechselseitige[n] Reibung“ Gattungsnormen dekonstruierten, zeigten sich, so Kormanns These, „menschliche Selbstreflexionen als Reflex sprachlicher Vorgaben und Sprachmuster infolge von Ökonomisierung“231. Die Frage nach dem Medialen wird im Weiteren in der Weise aufgenommen, dass der für die Bühne verfasste Text wir schlafen nicht auf seine Ästhetik des Theatralen hin untersucht wird, wobei insbesondere auf die Vorstellungen von Zeit und Zeitlichkeit sowie Körper und Körperlichkeit eingegangen wird.232 Betrachtet wird der Text als ein literarisches Dokument zum Phänomen der New Economy und dessen Folgen für das Arbeitssubjekt, die sich auch in der Wahrnehmung von Zeit und dem Umgang mit dem (eigenen) Körper manifestieren. Der Theatertext wir schlafen nicht verhandelt mit (gesellschafts-)kritischem Gestus Phänomene und Wahrnehmungen einer

ratur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 229-245, S. 244. 229 Zum Interesse der Autorin an der „Hybridisierung von Genres und auf eine Weise auch Medien“ vgl. Kathrin Röggla, Alexander Böhnke, Céline Kaiser: Die gouvernementalen Strukturen. Kathrin Röggla im Gespräch mit Alexander Böhnke und Céline Kaiser, in: navigationen (2004) H. 1/2, S. 171-184, S. 178. 230 Vgl. Eva Behrendt: Die Sprachverschieberin. Unterwegs im ConsultantMilieu. Die Autorin Kathrin Röggla und ihr neues Stück „wir schlafen nicht“, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 56-58, S. 58. 231 Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel, S. 244. 232 Eine Vorstudie dieser Analyse findet sich in Christine Bähr: Atemlos. Arbeit und Zeit in Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 225-244.

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neoliberalistisch geprägten Arbeitswelt233, indem sich Formen des Sprachspiels mit einer Ästhetik des Dokumentarischen verbinden – eine Verbindung wie sie für Rögglas Schreiben von weiter reichender Bedeutung ist. Ausgehend von Überlegungen zu Strategien und Verfahren, die Effekte des Dokumentarischen im Theatertext wir schlafen nicht einerseits hervorbringen und andererseits brechen, gilt die Aufmerksamkeit der Darstellung der „Welt des Managements, genauer: der Unternehmensberater und verwandter Leitberufe der Wirtschaft“234 als einer zeitdiagnostischen Reflexion auf globalisierte Arbeitsverhältnisse und deren Korrelationen zu einem Verständnis von Zeit und von Körper. 5.4.1 Ästhetik des Dokumentarischen Den Theatertext wir schlafen nicht kennzeichnet, was für die Theatertexte Kathrin Rögglas insgesamt charakteristisch ist: das Wechselspiel zwischen dokumentarischem Material und ästhetischer Gestaltung, das mit den Grenzen zwischen literarischem und nichtliterarischem Genre spielt. In den Feuilletons und Theaterkritiken wird die Autorin mit Titeln wie „die Volksbefragerin unter den jungen deutschsprachigen Autoren“235, „die Monteurin“236 und „die Sprachverschieberin“237 bedacht. Den Besprechungen vor allem ihrer Theatertexte beziehungsweise der Inszenierungen derselben fehlt selten der Verweis auf das auf „umfassende Recherchen“238 gestützte Arbeitsverfahren der Auto-

233 Vgl. u.a. Alexander Haas: Ein Leben unter Zombies, in: Die Tageszeitung Online-Ausgabe, 17. März 2004, unter: http://www.taz.de/index. php?id=archivseite&dig=2004/03/17/a0191, Stand: Mai 2008. 234 Haas: Ein Leben unter Zombies. 235 Thomas Thieringer: Und sie bewegt sich noch. „Draußen tobt die Dunkelziffer“ von Kathrin Röggla in Wien, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2005, S. 14. 236 Christopher Schmidt: Senken wir doch einfach die inneren Kosten. Kathrin Rögglas „junk space“ und „Nach dem glücklichen Tag“ von Gerhild Steinbuch beim Steirischen Herbst, in: Süddeutsche Zeitung, 3. November 2004, S. 13. 237 Behrendt: Die Sprachverschieberin, S. 56-58. 238 Anne Fritsch: Vom Kaufrausch in die Schuldenfalle, in: Süddeutsche Zeitung, SZ Extra, 6. Oktober 2005, S. 4.

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rin im Allgemeinen, auf deren zeitdokumentarische Textsammlung really ground zero. 11. september und folgendes oder den „DokuRoman“239 wir schlafen nicht im Besonderen. Dabei sind es in erster Linie verschiedene Paratexte der Prosa-Publikationen sowie Selbstaussagen Rögglas, die Auskunft über ein im engeren Sinne dokumentarisches Verfahren im Zuge des Schreibprozesses geben. Ihre literarische Bearbeitung des gesammelten Materials erläutert die Autorin, indem sie sich auf Alexander Kluge bezieht, den sie vor allem auch in Essays immer wieder zitiert240: Ich arbeite mit dokumentarischen Mitteln. Aber wir bewegen uns auf einem ästhetischen Feld. Man versteht unter dokumentarisch ja oft 1:1, und das ist eben nicht der Fall. Da gefällt mir ein Text von Alexander Kluge sehr gut: „Die schärfste Ideologie: dass sich die Realität auf ihren realistischen Charakter beruft.“ […] Was ich produziere, hat Rhythmus, hat Bildlichkeit, hat Gestik, ist immer Zuspitzung und Antwort auf das, was ich wahrnehme.241

Mit dem Verweis auf das Artifizielle ihrer Arbeitsprodukte verwahrt sich Röggla gegen das Bild vom Autor als Empiriker242. Wirkmächtiger allerdings als die von der Autorin in diesem Sinne eingeführte Genrebezeichnung „Gespensterroman“ für wir schlafen nicht und von einschlägiger Relevanz für die Rezeption des gleichnamigen Theatertextes ist folgende Anmerkung, die dem Prosatext vorangeht: „diesem text liegen gespräche / mit consultants, coaches / key account managerinnen, / programmierern, praktikanten usw. / zugrunde. / ich möchte mich hiermit bei all / jenen gesprächspartnern bedanken, / die mir ihre zeit und erfahrung / zur verfügung gestellt haben. / kathrin röggla“243. Nicht allein sachkundige Informationen oder Wissen, sondern „Zeit

239 Schmidt: Senken wir doch einfach die inneren Kosten, S. 13. 240 Vgl. zum Beispiel Kathrin Röggla: Eine Stimme mit Eigensinn, in: Die Tageszeitung, 14. Februar 2002, S. 5. 241 Kathrin Röggla, Eva Behrendt: „Ich will niemanden abhalten, Schulden zu machen.“ Die Autorin Kathrin Röggla über ihr neues Stück „draußen tobt die dunkelziffer“, über gewollte Verschuldung, „Heuschreckenkapitalismus“ und dokumentarische Mittel als ästhetische Instrumente, in: Theater heute 46 (2005) H. 7, S. 40-43, S. 42. 242 Vgl. Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, S. 384. 243 Röggla: wir schlafen nicht, S. 4.

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und Erfahrung“ sind demnach das gefragte Gut der Gewährsleute, das in die literarische Verhandlung des Arbeitssujets eingeht. Fehlt dem Theatertext eine vergleichbare explizite Kommentierung, so setzen hier Gestaltungsprinzipien der Figurenrede den wirkungsästhetischen Anreiz, nach einem Dokumentationsanspruch des Dargestellten zu fragen. Zum Ersten finden sich in der Figurenrede Formulierungen, die in An- und Abführungszeichen gesetzt, mithin als Zitate, beispielsweise von O-Tönen, zu lesen (!) sind. Zum Zweiten sprechen die Figuren weitestgehend244 im Konjunktiv und in der dritten Person Singular. Hierdurch wird auf eine zweite Instanz als Urheber des Gesprochenen verwiesen, die jedoch konsequent ausgespart bleibt, indem Formeln wie „sie sagte“ oder „sie sagten“ fehlen. Das im Modus des Indirekten Gesprochene fällt damit auf die Figuren zurück und wird mit diesen identifizierbar. Beide Sprachformen, zitierte Rede und Rede im Konjunktiv, finden sich, dies sei hier knapp erwähnt, auch im Roman, erfüllen dort jedoch, mindestens mit Blick auf die Differenz der medialen Vermittlung, notwendigerweise andere rezeptionsästhetische Funktionen als in dem zu inszenierenden Text.245 Zum Dritten schließlich eröffnet der Theatertext mit einem monologischen Prolog, der mit dem Satz „das sei doch nicht interessant“ beginnt und mit den Worten schließt: „das muß einen doch interessieren so als journalistin. ach, keine journalistin? was dann?“ (WSN 59) Mit dem Prolog wird kurzzeitig ein Gesprächsausschnitt eingeblendet, der eine Interviewsituation imaginieren lässt. Diese Assoziation verbindet sich mit dem Auftakt des ersten Bildes, indem in einer metakommunikativen Geste nach dem auslösenden Moment des folgenden Sprechens gefragt und hierzu, denkbar konkret, auf ein Aufnahmegerät hingewiesen wird:

244 Ausnahmen bilden vor allem die als Zitat markierten Einschübe. 245 Vgl. zu Rögglas Roman wir schlafen nicht und spezieller auch zum dortigen Gebrauch des Konjunktivs den aufschlussreichen Aufsatz von Karin Krauthausen: Gespräche mit Untoten. Das konjunktivische Interview in Kathrin Rögglas Roman „wir schlafen nicht“, in: Kultur & Gespenster (2006) H. 2, S. 118-135. Zu dem genreabhängigen Wirkungspotenzial des Konjunktiv vgl. auch Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel.

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DIE KEY:

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was? geht’s schon los?

DER IT: läuft

das ding?

DIE PRAKTIKANTIN: kann DIE ONLINE:

man schon reden?

also das reden sei schnell gelernt, „das haste hier ziemlich schnell

drauf!“ da sei ja schließlich nichts außergewöhnliches dran, fast hätte sie gesagt „unmenschliches“ – DIE KEY: DER IT:

nein, man kann ja noch gar nicht reden

doch doch, die sache läuft

DIE PRAKTIKANTIN: glaub DIE ONLINE:

ich nicht

nein, mit dem reden habe sie auch nicht probleme gehabt, d.h. am

anfang schon […] (WSN 59)

Im weiteren Verlauf der Gespräche finden sich darüber hinaus immer wieder vereinzelte Äußerungen, die auf eine Interviewsituation hindeuten (z.B. „der partner“, WSN 65). Die drei benannten formalen und dramaturgischen Merkmale des Theatertextes etablieren eine Rhetorik, die auf Leerstellen setzt. Gewissheiten über die Sprechersubjekte oder über die Sprechsituation sind nicht endgültig zu gewinnen. Es nimmt den Anschein, als antworteten die Figuren auf Fragen im Rahmen eines Interviews, die im Verlauf des Stücks jedoch nicht explizit gestellt werden. Zugleich vermitteln die Dialoge in Verbindung mit dem szenischen Setting den Eindruck eines Gesprächs unter Kollegen an einem Messestand. Ob die Figuren über sich oder andere, zu anderen oder zu sich sprechen, bleibt, wenn überhaupt, allein über den Kontext der einzelnen Äußerung zu erschließen und mithin vielfach im Vagen.246 Der dokumentarische Gestus des Theatertextes, der durch die genannten dramaturgischen Textmomente auf Gesprächsprotokolle, Interviewte und Interviewer hinweist, wird durch eben diese formalen und strukturellen Unbestimmtheiten unterlaufen. Das kunstvolle Changieren zwischen

246 Die Theatersituation legt es nahe, das Gesprochene auf die Identität der Sprecher zu beziehen. Markiert die Form des Konjunktivs dieses als Gesagtes über sich selbst als einen anderen, so erinnert dies an Helmuth Plessners These von der Abständigkeit des Menschen von sich selbst. In einer poststrukturalistisch angelegten Lektüre wäre der Konjunktivgebrauch als Zeichen für die diskursive Herstellung von Identität und für ein immer schon zitathaftes Sprechen zu deuten.

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Dokumentation und Fiktion247 prägt formal die theatrale Ästhetik des Textes und inhaltlich die Lektüre der dargestellten Arbeitswelt. Der Theatertext wir schlafen nicht setzt gegen das ‚Reale‘ des dokumentarischen Ausgangsmaterials die Künstlichkeit der Form. Die Organisation des Textes erfolgt, mit zitathafter Anspielung auf das klassische Fünf-Akt-Schema, in fünf „Bildern“, die durch einen Prolog und einen Epilog gerahmt werden und von denen jedes genau drei Szenen umfasst. Die szenische Gliederung erinnert in Verbindung mit dem Konjunktiv-Gebrauch in der Figurenrede an Ernst Jandls 1979 im Rahmen des Steirischen Herbstes uraufgeführtes Drama Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, dessen Komposition streng an der Zahl Drei orientiert ist, indem es unter anderem durchgängig aus dreizeiligen Strophen besteht. In Jandls Text heißt es mit selbstreferenziellem Gestus und zugleich, als handele es sich um einen Kommentar zur „Sprachverschiebung“ in Rögglas wir schlafen nicht: 94 wobei konjunktiv ebenso wie dritte person ein gleiches erreichten 95 nämlich objektivierung relativierung und zerbrechen der illusion […] 103 der konjunktiv nun bewirke daß dieses erzählen 104 nicht ein erzählen von etwas geschehnem sei

247 Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen von Karin Krauthausen in Krauthausen: Gespräche mit Untoten, S. 121-126.

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105 sondern daß es das erzählen von etwas erzähltem sei 106 die eigentliche spannung aber werde bewirkt durch ein direktes sichtbares zeigen248

Jandl thematisiert die Ungleichzeitigkeit des Sprechens im Konjunktiv, das eine identifizierende Beziehung zwischen Sprecher und Gesprochenem verhindert. Bertolt Brecht nutzte das verfremdende Verfahren des konjunktivischen Sprechens im Zuge der Probenarbeit, um die Schauspieler eine Distanz zu ihren Figuren erfahren zu lassen, die es in der Geste an das Publikum zu vermitteln galt. Bei Röggla bleibt die Distanzierung zwischen Text und Sprecher als grammatikalische „Verschiebung“ in der Aufführung präsent, das Gesprochene wird demzufolge nicht durch das kommentierende gestische Spiel verfremdet, sondern bleibt im Akt des Sprechens fremd. Die Figuren sprechen das Gesprochene anderer, deklamieren, durch den Konjunktiv zur Kenntlichkeit entstellt, fremden Text und werden damit in zweideutiger Weise als Sprechersubjekte wahrnehmbar: als sprechende Menschen und als stumme Personen. Der Konjunktiv evoziert eine Spannung der individualisierenden Bezüglichkeit von Stimme und gesprochenem Text. Sprache wird hier im Sinne postdramatischer Ästhetik zum „ausgestellten Objekt“249 und evoziert, wie Hans-Thies Lehmann zu Jandls Sprechoper feststellt, „als dauernde Wahrnehmung die von den Sprechenden getrennte Wirklichkeit der Sprache“250. Das kritische Potenzial des Konjunktivgebrauchs bezieht sich mithin auf die Sprache selbst, indem in der theatralen Realisation ihre Verfügbarkeit, Authentizität und identitätsstiftende Funktion erfragt werden. Das konjunkti-

248 Ernst Jandl: Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, in: Ernst Jandl: poetische werke, hg. v. Klaus Siblewski, Bd. 10: peter und die kuh. die humanisten. Aus der Fremde, München 1997, S. 177-258, S. 222f. 249 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999, S. 266; Hervorhebung getilgt, C.B. 250 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 268; Hervorhebung getilgt, C.B.

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vische Sprechen umkreist spielerisch die Foucault’sche Frage „,Was liegt daran, wer spricht?‘“251. Der an die Ästhetik der Wiener Gruppe anschließende252 sprachkritische Umgang mit dem Material, das sich aus journalistisch recherchierten Quellen ebenso wie aus zeitdiagnostischen und theoretischen Fachtexten speist, gewährleistet die Distanz zur Tradition des Dokumentartheaters im Sinne Rolf Hochhuths, beispielsweise zu dessen im selben Jahr wie wir schlafen nicht uraufgeführten Wirtschaftsdrama McKinsey kommt253 (UA 2004). Die in wir schlafen nicht ebenso wie in weiteren Theatertexten Rögglas realisierte Verschränkung von Fachsprache und poetischer Sprache mündet in einer greifbaren inhaltlichen Nähe zu Fachdiskursen einerseits und in einer zu Teilen avantgardistisch inspirierten, in Form der konsequenten Kleinschreibung

251 Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Michel Foucault: Schriften zur Literatur, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt/Main 2003, S. 234-270, S. 234. 252 Vgl. zur Einordnung von Rögglas Literatur in die Tradition der Wiener Gruppe und der österreichischen Literatur beispielsweise Thomas Rothschild: Eine Salzburgerin in Berlin. Die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla, in: Michael Ritter (Hg.): praesent. Das literarische Geschehen in Österreich von Jänner 2000 bis Juni 2001, Wien 2001, S. 5357. 253 Rolf Hochhuth: McKinsey kommt, in: Rolf Hochhuth: McKinsey kommt. Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke, mit einem Essay v. Gert Ueding, 3. Aufl., München 2004 [2003], S. 7-79. In einer der Theaterkritiken, die in dem Stück „ein Kompendium gängiger Stammtisch-Vereinfachungen“ erkennt, wird folgende, in dem hier gegebenen Zusammenhang interessante Beobachtung gemacht: „Die Reaktionen der Banker/Berater werfen Fragen auf. Es scheint, als habe Hochhuth nicht mit der Veröffentlichung, sondern erst durch die Ankündigung, ‚McKinsey kommt‘ werde aufgeführt, Unruhe ausgelöst. Welche Macht schreiben die im Text als Täter Angesprochenen dem auf der Bühne erhobenen Wort zu? Offenbar mehr als eingefleischte Theatergänger.“ (Nikolaus Merck: Fragen über Fragen. Rolf Hochhuths „McKinsey kommt“ bewegt nur Banker und Berater, in: Theater der Zeit 59 (2004) H. 4, S. 27) Es wäre in diesem Zusammenhang die Frage zu diskutieren, wie das Verhältnis von Sachinformation und Ästhetik in Relation zu Wissen und Rezeptionshaltung des Zuschauers steht.

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offensichtlich gemachten Behauptung der ästhetischen, sprachkünstlerischen Reflexion andererseits. Bildet ein dokumentarisches Vorgehen einen Teil des Schreibprozesses, so lassen sich dokumentarische Effekte des Textes, wie angeführt, auf ästhetische Strategien der Sprach- und Textgestaltung zurückführen und, wie im Folgenden detaillierter nachvollzogen werden soll, auch an Textinhalten festmachen.254 5.4.2 Die „peer group“ der Unternehmensberater In wir schlafen nicht wird die Arbeitswelt des ausgehenden 20. Jahrhunderts an der Branche der Unternehmensberatung exemplifiziert. Mit anderen Worten, der Text konzentriert sich nicht, wie auch Karin Krauthausen für den gleichnamigen Roman anmerkt, auf einen „eingrenzbaren wirtschaftlichen Bereich“, sondern fokussiert „ein gesamtgesellschaftliches Phänomen“.255 Zur szenischen Verhandlung steht die Vorstellung des Arbeitnehmers als „Unternehmer seiner selbst“256. Der Text nimmt Sprache und Rhetorik wie auch den in Habitus und Lebensstil geprägten Alltag der Unternehmensberatung als Paradigma zeitgenössischer Arbeitswelt257 in den Blick. Er problematisiert mithin nicht Sachthemen und Fachfragen, sondern Modi von Wahrnehmungen und Lebensäußerungen des in einer globalisierten Wirtschaft arbeitenden Menschen. Das Primat der Unternehmensberatung, das heißt, dass diese „tonangebend für die Gesellschaft“258 sei und als „eine art peer group im

254 Es ist an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass die folgenden Überlegungen zur Darstellung der Arbeitswelt zwar den Roman betreffende Beobachtungen zu Teilen mitreflektieren, sie allerdings ausschließlich auf den gedruckten Theatertext hin formuliert werden, der nicht allein aufgrund des geringeren Umfangs einen in etlichen Details verschiedenen Inhalt, sondern auch eine andere Dramaturgie aufweist. 255 Krauthausen: Gespräche mit Untoten, S. 120. 256 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst. 257 Krauthausen spricht im Zusammenhang ihrer Romanlektüre weiter ausgreifend vom „,Unternehmen‘ als Leitparadigma zeitgenössischer westlicher Gesellschaft“ (Krauthausen: Gespräche mit Untoten, S. 119). 258 Röggla, Böhnke, Kaiser: Die gouvernementalen Strukturen, S. 173.

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gesamtgesellschaftlichen rahmen“259 fungiere, führt Röggla auf die von ihr zur Verfügung gestellten Selbsttechniken zurück, die alle Lebensbereiche und Lebensäußerungen im Sinne neoliberaler Ökonomie durchdringen. Die Autorin knüpft mit dieser Sicht an Michel Foucault und dessen Begriff der Gouvernementalität an, den dieser unter anderem in Auseinandersetzung mit der Geschichte des Liberalismus entwickelte.260 Die Aufmerksamkeit richtet sich bei Foucault auf diejenigen Verfahren und Techniken, mittels derer Subjektivität entsteht und zwar geprägt durch spezifische Machtinteressen und als Folge bestimmter Formen des Regierens. So zielt die Ausbildung des Subjekts gemäß der Logik des Neoliberalismus auf dessen Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität, die im Feld der Ökonomie zum Einsatz kommen können. Röggla hält fest: Es ist diese Vervielfachung der Unternehmensform innerhalb des Gesellschaftskörpers, die, glaube ich, den Einsatz der neoliberalen Politik darstellt. Es geht darum, aus dem Markt, dem Wettbewerb und folglich dem Unternehmen etwas zu machen, das man die informierende Kraft der Gesellschaft nennen könnte.261

Das Unternehmen fungiert als Maßgabe nicht nur der Gesellschaft, sondern gerade auch der individuellen Lebensgestaltung. Das Unternehmertum zeigt sich als rationale Größe, die Denken und Handeln lenkt, aber auch als eine Maxime, die sich in den Körpern realisiert. In Rögglas wir schlafen nicht wird das aus- und eingreifende ökonomische Denken Gegenstand einer sprachkritischen Zuspitzung, indem Repräsentanten der Consulting Industry in einer Situation und einem

259 Kathrin Röggla: von topüberzeugern und selbstungläubigen, in: Friedbert Aspetsberger, Gerda E. Moser (Hg.): Leiden … Genießen. Zu Lebensformen und -kulissen in der Gegenwartsliteratur, Innsbruck 2005, S. 248261, S. 252. 260 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, hg. v. Michel Sennelart, aus dem Französischen übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2006. Den Bezug zu Foucaults Begriff der Gouvernementalität erörtert auch Krauthausen: Gespräche mit Untoten. 261 Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 210f.

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Zustand gezeigt werden, die zwischen wiedererkennbarer Realität und distanzierender Künstlichkeit und Fremdheit oszillieren. Alltagsnähe evoziert der Text, insbesondere für den in Wirtschaftsfragen versierten Rezipienten, zunächst in Form des versammelten Personals, das sich aus Repräsentanten der unterschiedlichen Branchensegmente der Unternehmensberatung zusammensetzt; dessen Betitelung folgt der branchenüblichen neudeutschen Nomenklatur: „senior associate“ und „partner“ aus dem Bereich der Strategieberatung, „key account managerin“ aus der Großkundenbetreuung und „itsupporter“ aus dem Computersektor, die beiden Letzteren als Mitarbeiter der konkreten Umsetzung, das heißt der Implementierung von Strategien und Konzepten in das auftraggebende Unternehmen. Darüber hinaus treten eine „ehemalige tv-redakteurin, jetzt onlineredakteurin“ (WSN 59), die an mehr interessiert ist als „an einer simplen unternehmensdarstellung“ (WSN 62), sowie eine „praktikantin“ auf, die die Stelle auf der Messe angenommen hat, „obwohl das ja nur mehr so ein unbezahlter organisationsjob sei – saftholen, standorganisation und so kram“ (WSN 59). Gemäß den Regieanweisungen ist der nichtbezahlte Job die einzige konkrete Tätigkeit, die auf der Bühne und zwar in Form von Kaffee-Ausschenken, Papiere-Verteilen und Handygespräche-Weiterreichen stattfindet. Erscheint die Praktikantin allein qua dieser Zuschreibungen bereits als typisierte Vertreterin der nicht weniger typisierten „Generation Praktikum“262, besitzen die Figuren insgesamt Stellvertreterstatus. Darauf deuten die reduzierten Funktionsbezeichnungen – „die online“, „die key“, „der it“ et cetera – hin, die die nur vereinzelt in der Figurenrede aufgegriffenen Eigennamen zurückdrängen und vor die individualisierte Person das austauschbare Arbeitssubjekt ins Blickfeld rücken. Auffällig bei einem Blick ins Personenverzeichnis ist die Gruppierung der Figuren263: „Der „partner“ als der Älteste und „die praktikan-

262 Gegen „gängige und schubladengriffige Generationstypologien über Jugendliche“ argumentiert Wilfried Ferchhoff: Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden 2007 [Neufassung u. vollst. überarb. 3. Aufl. des Vorgängertitels: Jugend an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert], S. 114. 263 Hierin unterscheidet sich der Theatertext entscheidend vom Roman wir schlafen nicht: In dessen Personenverzeichnis ist den Figuren jeweils ein

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tin“ als die Jüngste, wie die etwaigen Altersangaben in der Figurenbeschreibung Auskunft geben, bilden die sogenannten „exterritoriale[n] figuren“. Ihnen sind die „gruppenfiguren“ gegenübergestellt, die wiederum unterteilt sind in die „stärkere[n] figuren“, nämlich „die key“ und den „senior“ einerseits und die „schwächere[n] figuren“, das sind „der it“ und „die online“ andererseits (WSN 59). Alter und Geschlecht als distinkte Figurenmerkmale, die sich im Einzelnen an faktischen und stereotypen Vorgaben aus dem Berateralltag orientieren – „der partner“, aber „die praktikantin“ –, werden demnach durch ein weiteres Charakteristikum ergänzt, das die Position und den Status innerhalb des Feldes der Consulting-Branche erfasst und das vor allem durch die Figurengruppierung Evidenz gewinnt. So markieren „die praktikantin“ und „der partner“, bei je verschiedenem Prestige und Status, die Grenzbereiche einer Beraterkarriere: Er steht für die Führungsspitze des Unternehmens, sie verkörpert den Neuling, eine Art Grenzgänger, der nur auf Zeit Teil des Unternehmens ist. Die Position jeder der beiden Figuren ist mit einem Beobachterstatus assoziierbar, der sich im dramatischen Text derart manifestiert, dass „der partner“ den Prolog und „die praktikantin“ den Epilog spricht. Die „exterritoriale“ Verortung der Figuren spiegelt sich mithin in der durch Prolog und Epilog gesetzten strukturellen Rahmung. Diese macht traditionellerweise die episierende Erweiterung des dramatischen Geschehens durch Rückschau und Ausblick, – für die Diskussion einer Ästhetik des Dokumentarischen besonders bedeutsam: – die Verbindung von Wirklichkeit und Spiel sowie die Kommentierung des dargebotenen Geschehens möglich. Indem „der partner“, als Vertreter der älteren Generation von Unternehmensberatern, auf Fragen der internationalen Politik hinweist und „konfliktbeauftragte in sachen israel-palästina“ und „diplomaten“, „waffeninspekteure“ und „menschen, die den atomwaffenhandel organisieren“, als die viel interessanteren Interviewpartner weiterempfiehlt, relativiert er die Bedeutung und Reichweite des nachfolgend vorgestellten Arbeitsalltags der Unternehmensberatung (WSN 59). Mit der Frage, wer „aber in wirklichkeit die fäden zöge[...]“, in der sich die poetologische Aussage des Theatertextes in nuce erkennen lässt, lenkt der Prolog die Aufmerksamkeit auf einen über das ökonomische Feld hinausgehenden Horizont. Demgegenüber

präzises Alter zugeschrieben und es findet keine Gruppierung der Figuren statt.

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schrumpft im Epilog der „praktikantin“, die die zukünftige Beratergeneration repräsentiert, der Blickwinkel auf die Dimensionen einer individuellen Lebensgestaltung, die sich an den Erfordernissen der wirtschaftlichen Verhältnisse ausrichtet, zusammen: man hört oder sieht die praktikantin im hintergrund. sie scheint es anderen zu erzählen als uns. sie habe in london gelebt, sie habe in paris gelebt, sie habe in san diego gelebt. sie könne es sich gut vorstellen, in london zu leben. unter umständen paris. zu deutschland habe sie eigentlich wenig affinität, aber als wirtschaftsraum sei es interessant (WSN 67).

Die abschließende Rede der „praktikantin“, die neuerlich das Credo einer neoliberalistisch orientierten Wirtschaftspraxis paraphrasiert, adressiert nicht mehr, wie in den vorangehenden Szenen durch verschiedene Figuren wiederholt geschehen, mit einem Sprechen „nach vorne“, ad spectatores, die Zeugen der Gespräche. Nachdem bereits die Worte des „partners“ zu Beginn des fünften Bildes, in dem eine Atmosphäre des Unheimlichen weiter Raum greift, auf „keinen adressaten mehr“ stießen, da es „vorne […] nicht mehr zu geben [scheint]“ (WSN 65), richtet sich „die praktikantin“ konsequenterweise an „andere“ und wird ihr Monolog zum Hintergrundgeräusch mit ebenso ortlosem wie ubiquitärem Charakter. Die Allgegenwart der Arbeit als Richtlinie für Lebens- und Selbstentwürfe zeigt sich zunächst in der im Personenverzeichnis angeführten Figurenbeschreibung. Wie die Paarung von „praktikantin“ und „partner“ lässt sich auch die Unterscheidung von „schwächeren“ und „stärkeren“ Figuren an der Art der Integration und Identifikation mit der Branche der Unternehmensberatung und allgemeiner einem globalisierten Wirtschaftsdenken festmachen. Während der „online“ als „ehemalige[r] tv-redakteurin“ und dem „it“, der lieber „nicht it-supporter“ sein will (WSN 59), Brüche in ihrer beruflichen Laufbahn und Identität zugeschrieben werden, zeigen sich „die key“ und „der senior“ in maximal möglicher Übereinstimmung mit den Anforderungen ihres Berufsfeldes. Doch trotz unterschiedlicher persönlicher Perspektiven besitzen die Alltagserfahrungen, die sich die Figuren mit der geliehenen Rede aneignen, einen gemeinsamen Fluchtpunkt, nämlich die Betrachtung der Arbeit als Lebensmittelpunkt. Der „partner“ stellt dies wie folgt dar:

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„ja, aber der herr gehringer, der arbeitet nur noch. den sieht man immer im büro. kommt man morgens rein, ist er der erste, der dasitzt, geht man abends, ist er der letzte. man weiß eigentlich nicht, geht der überhaupt noch nach hause?“ das fragten die sich schon, weil die kriegten so was ja schon mit. daß er tatsächlich nicht nach hause gehe. warum? weil er zuhause nichts verloren habe, sondern da, auf seinem arbeitsplatz (WSN 63f.).

In den Gesprächen zwischen den hierarchisch unterschiedlich gestellten Arbeitskräften werden Selbst- und Fremdbilder ausgehandelt, aber auch die Situation der Wirtschaft und besonders der Consulting Industry diskutiert. Es handelt sich um Beobachtungen und Einschätzungen von Arbeitsbedingungen und -verhältnissen mit Akzentuierung des Heute, die in Verbindung gebracht werden mit Ereignissen und Entwicklungen in der Vergangenheit. Eine Prognose für eine Zukunft, im Sinne einer Utopie etwa, kommt bei keiner Figur weder in individueller noch gesamtgesellschaftlicher Perspektive zur Sprache. Dem entspricht die Dramaturgie des Theatertextes, spätestens mit dem fünften Bild „panik und gespenster“, indem sukzessive die Berichte aus dem Berateralltag in ein traumähnliches Szenario überführt werden. Mit diesem dramaturgischen Kunstgriff wird das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit eingelöst, das der Titel wir schlafen nicht aufruft, insofern er als Aussagesubjekt gleichermaßen an Workaholics und Untote denken lässt. Als ein Katalysator des Übergangs, der sich jenseits des klassischen dramatischen Spannungsbogens des Fünf-Akt-Schemas vollzieht, lassen sich – ebenso lapidar, wie ästhetisch und inhaltlich relevant – die in der Figurenrede thematisierten Erfahrungen und Vorstellungen von Zeit ausmachen. Rhythmus und Tempo prägen nicht allein den dargestellten Arbeitsalltag, sondern auch die Rhetorik der Rede sowie das Sprechen und Wahrnehmen der Figuren, wie im Folgenden dargelegt werden soll. 5.4.3 Das Zeitmanagement von Arbeitsjunkies und seine Folgen Der Theatertext wir schlafen nicht stellt Vertreter der Beraterbranche vor, die gleichermaßen mit Blick auf ihre Jobkarriere wie in Anbetracht ihres Arbeitsalltags mit der Frage nach dem angemessenen Zeitmanagement konfrontiert werden. „Angemessen“ meint im darge-

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stellten Zusammenhang, dies legen die Dialoge rasch offen, die Konformität mit den Maximen eines neoliberalen Wirtschaftsdenkens, wie sie unter anderem Richard Sennett unter den Schlagworten „der flexible Mensch“ und „der neue Kapitalismus“ verhandelt und mit dem Befund eines „neue[n] Regime[s] der kurzfristigen Zeit“264 verbindet. Insbesondere im Umgang mit Zeit kristallisieren sich in Rögglas Theatertext Phänomene und Wahrnehmungen der Arbeitswelt heraus. Bezieht sich die Aussage des Titels, „wir schlafen nicht“, semantisch auf das Diktum der Kurzfristigkeit, so changiert sie rhetorisch unentscheidbar zwischen der Paraphrase eines ideologischen Anspruchs und der Redefigur einer ironisierenden Übertreibung. Der Titel stellt die Forderung nach dauernder physischer Präsenz und mentaler Handlungsbereitschaft auf, woran sich die im Theatertext versammelten Vertreter der Unternehmensberatung in ihrem beruflichen Alltag kontinuierlich abarbeiten – und immer wieder auch scheitern. Mittels der innerszenischen Verortung des Geschehens auf einer Messe, also in einem „Kommunikationsraum par excellence“265, sowie der Andeutung einer Interviewsituation gewinnt das Gebot zur Selbstdisziplinierung an dramaturgischer Virulenz. Denn die Messe ist ein Ort der Präsentation, der „selbstdarstellung“, wie sie explizit in der ersten Bildüberschrift angekündigt wird (WSN 59). Zur Selbstinszenierung zählen ununterbrochene Aufmerksamkeit und Ansprechbarkeit, die in einer entsprechenden körperlichen Performanz zum Ausdruck gelangen. Hierauf weist „der partner“ gegenüber der Messestandbesetzung nachdrücklich hin: „als er an diesen stand gekommen sei, habe er nur rücken gesehen, man müsse sich vorstellen. nur rücken. das sei ja das schlimmste, was man auf einer messe sehen könne: rücken!“ (WSN 62) Mit der körperlichen Disziplin korrespondieren, der Erwartung gemäß, rationales Handeln und emotional zurückgenommenes Verhalten – „schließlich sind hier auch immer die medien anwesend“, analysiert die Online-Redakteurin die Situation, „und dann noch die kunden, ‚da kannst du deinen emotionen nicht freien lauf lassen. nur keine medienanstalten machen‘, sage sie sich, ‚ja nur keine medienanstalten machen!‘“ (WSN 63) Die Messesituation etabliert

264 Sennett: Der flexible Mensch, S. 26. 265 Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel, S. 229.

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den fiktionalen Ort mithin als Ort der Inszenierung266 – als Ort des theatralen Hier und Jetzt, der über die Wirk- und Überzeugungskraft ebenso der professionellen Unternehmenspräsentation wie der individuellen Selbstdarstellung der Branchenvertreter entscheidet. Im Duktus einer impliziten Regieanweisung und lesbar als reflexives Sprachspiel mit der Theatersituation lautet dementsprechend der vollständige erste Bildtitel: „das spiel beginnt: die selbstdarstellung“ (WSN 59). Die Selbstdarstellung der am Messestand versammelten Personen konzentriert sich auf deren Selbstverständnis, das sie aus ihrem Beruf und ihrer täglichen Arbeit ableiten. Dabei bildet die Erfahrung von Zeit einen wichtigen Parameter der Selbst- und Fremdwahrnehmung, worauf zum einen die Themen der in hohem Grade reflektierten Äußerungen und zum anderen die markante Redeperformanz der Figuren hindeuten. Immer wieder kreisen die Selbstpräsentationen um arbeitsbiographische Details, also um Arbeitserfahrungen der Vergangenheit, um das Verhältnis von Arbeits- und Freizeit oder auch, denkbar basal, um Uhrzeiten und Tagesabläufe. In den Aussagen und Kommentaren zu ihrer individuellen Arbeitsökonomie wird Zeit als gestaltende wie auch zu gestaltende Größe greifbar. Es lassen sich vor allem drei Perspektiven festhalten, die die Vorstellungen von Zeit durchziehen: diejenige des Körper, diejenige der Organisation von Arbeit und diejenige der (Diskurs-)Geschichte der Arbeit. Kontrapunkte zu den individuellen Berichten über das persönlich praktizierte oder in der Branche typische beziehungsweise erwartete Zeitmanagement bilden die Exkurse zu einzelnen wirtschaftshistorischen Ereignissen der Jahrtausendwende wie der „kirchpleite“ (2002), der „holzmann“-Affäre (2002) oder dem Wirtschaftsskandal von „enron“ (2001) (WSN 60), deren prägende Präsenz im kollektiven Gedächtnis der Text durch kumulative rhetorische Mittel, die Wiederholung und den Parallelismus, ausstellt: DIE ONLINE:

nach einer weile wieder: auch sie erinnere das an die kirchpleite,

ja, ja. DER IT: wer

denkt nicht an die kirchpleite?

DIE ONLINE: wer DER IT: wer

denkt nicht an die kirchpleite?

denkt nicht an die kirchpleite?

266 Vgl. Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel, S. 230: „Inszenierung ist die Botschaft eines Messeauftritts.“

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DIE ONLINE: das DIE KEY: oder DER IT: ach

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deutsche enron –

landesbank berlin

du meine güte, der bankenskandal!

DIE ONLINE: oder DER IT:

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holzmann. nee, also wirklich nicht!

nach einer weile wieder: „es ergibt sich einfach immer dasselbe bild!“

(WSN 60)

Die Verweise auf die Wirtschaftsereignisse der Vergangenheit erlauben es, den dokumentarischen Gestus des Textes in Rechnung stellend, die Gegenwart der fiktiven Gespräche mit der Entstehungszeit des Theatertextes 2004 zu identifizieren. Dem Text ist demnach daran gelegen, sich explizit in und zu der Chronik des zeitgenössischen Kapitalismus zu positionieren. Auch binnenfiktional zeigen sich die Figuren entsprechend um eine solche Standortbestimmung bemüht, wenn „der senior“, ein Mann um die dreißig, in Bezug auf seine Arbeitshaltung erläutert: die devise „schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, würde er jetzt nicht so direkt adaptieren, das habe man ja eher früher gesagt, „so mitte der neunziger war das die devise schlechthin“, zumindest in seiner generation. das müsse man sich mal vorstellen, was da in kürzester zeit an wissen akkumuliert worden sei und an erfahrung. ja, was mittzwanziger sich da schon reingezogen hätten an erfahrungswerten. die seien jetzt natürlich angeschlagen, aber wenn die sich erst einmal wieder erholt hätten, dann könnten die auf ganz anderem niveau loslegen (WSN 60)

In seiner Selbstdarstellung knüpft „der senior“ an die Identifikation mit einer Generation, der Generation der New Economy, an und stellt hierbei insbesondere die „in kürzester Zeit“ angesammelten Erfahrungen heraus, die sich, so die Stoßrichtung seiner versuchten Analyse, im Sinne einer Wertsteigerung für die Arbeitskraft im Einzelnen wie auch für den Markt im Gesamten veranschlagen ließen. Einer dem kapitalistischen Credo der Kurzfristigkeit verschriebenen Gegenwart wird damit der ökonomische Stellenwert der Erfahrung, die eine langfristige Dimension eröffnet, entgegengehalten. Der Theatertext lässt sich somit als ein Beitrag zur Diskussion um den Stellenwert von Erfahrungen in einer flexibilisierten Arbeitswelt lesen, zu der Sennett 2001 pointiert die These formulierte: „Eine mögliche Zusammenfassung des Konflikts zwischen Kurzfristigkeit und deregulierter Zeit einerseits und

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dem Lebenslauf der Menschen andererseits könnte lauten: Mit dem Anwachsen der Erfahrung im Beruf nimmt ihr ökonomischer Wert ab.“267 Dieser Einschätzung widerspricht „der senior“ mit seiner These explizit. Weniger konzentriert auf eine historisierende Sicht auf den Arbeitsmarkt als vielmehr auf den persönlichen Lebensplan konstatiert „die praktikantin“ im Fortlauf der Gespräche wiederholt, dass für den Berufseinstieg und für die Karriere Erfahrungen unerlässlich seien. Die Frau Anfang zwanzig, die „noch gar nicht drinnen“ ist (WSN 63) in einem Unternehmen, in dem Sinne, dass sie für ihre Leistungen materiell entlohnt wird, sucht – so nimmt es zunächst den Anschein – nach einer Kontinuität in ihrem Lebenslauf, die kalkulierbar auf einen Arbeitsplatz zuläuft. Sie spielt damit auf eine Vorstellung von einem „Arbeitsleben im Sinne einer Karriere“ an, das nach Sennett mit den Maximen der Kurzfristigkeit und Flexibilität nicht vereinbar scheint.268 sie wäre expotauglich, habe man ihr vor drei jahren gesagt, sie solle auf die expo gehen. sie sei aber nicht auf die expo gegangen, sie sei ja nach amerika, was vielleicht ein fehler gewesen sei. denn jetzt renne sie die ganze zeit mit ihrer amerikavergangenheit herum, wo sie die doch nicht brauchen könne, weil praktikumsstellen würden für eine amerikavergangenheit nicht ausgeschrieben, ja, jetzt würde nur eine agenturvergangenheit was zählen oder zumindest eine unspezifische medienvergangenheit, d.h. eine unspezifische medienvergangenheit wäre auch zu wenig, denn heute brauche man schon spezielle skills, nicht nur sogenannte „soft skills“, nein, spezifische und dazu konkrete erfahrungswerte (WSN 59)

Suggeriert diese Stellungnahme auf den ersten Blick eine anachronistische Erwartungshaltung, so bildet sie im Kontext der nachfolgenden Äußerungen der „praktikantin“ einen kohärenten Bestandteil eines versuchten Selbstentwurfs als zeitgemäßes flexibles Arbeitssubjekt. Denn der Blick auf die Vergangenheit lässt sich auch als Einsicht in die notwendig am ökonomischen Wert der Effizienz orientierten Lebensplanung lesen. Zudem wird die anklingende Überzeugung, dass es

267 Richard Sennett: Die Arbeit und ihre Erzählung, in: Daniel Libeskind u.a.: Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend?, hg. v. Stefanie Carp, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 11-36, S. 13f. 268 Vgl. Sennett: Der flexible Mensch, S. 165.

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eine Logik der ‚richtigen‘ Vergangenheit für einen beruflichen Einund Aufstieg zu verfolgen gelte, die allein in der Entscheidungsmacht des Einzelnen liege, infrage gestellt. Das Arbeitsethos, nach dem Karriere von der individuellen Arbeitsleistung abhängt, wird in der Perspektive der „praktikantin“ selbst relativiert, indem sie auf die Familie und also die Sozialisation als Voraussetzungen für Erfolgschancen auf dem Arbeitsmarkt hinweist. So habe sie, „die praktikantin“, „eben keine eltern. zumindest in dem sinn, also keine steuerberater-, keine wirtschaftsprüfer- und unternehmensberatereltern. oder gar zahnarzteltern. kleinbürgereltern, das ja, das könne man schon sagen, also praktisch nicht existierende, zumindest, was ihre berufliche situation betreffe“ (WSN 62). Die sprachkünstlerisch ins Groteske gesteigerte Frage nach den Eltern spielt nicht auf eine Nutzen bringende Tradition von Erfahrungen und Kenntnissen an, die durch eine familiäre Generationenfolge verbürgt sind, und ebenso wenig auf die Orientierung gebenden Identifikationspotenziale der Familie. Vielmehr zielt die zwischen Resignation und Trotz oszillierende Feststellung der „praktikantin“ auf den Aspekt der Vernetzung, der die Bedeutung persönlicher Kontakte für ein berufliches Weiterkommen erfasst. Mit dem Thema des sozialen Netzwerkes, das die „praktikantin“ in ihrer Selbstdarstellung anspricht, greift sie ein zentrales Moment von Arbeitsorganisation auf, das sich unter den Vorzeichen des neuen Kapitalismus im Schlagwort der ‚Teamfähigkeit‘ verdichtet. Die Bedeutung des Zusammenhangs von sozialer Vernetzung und Erfolgschancen im Arbeitsleben demonstriert auch der Schlagabtausch zwischen „der online“ und „der key“. Persönliche Kontakte werden zwischen den beiden Konkurrentinnen als Ausweis von Prestige und Professionalität verhandelt: DIE ONLINE:

[…] aber jetzt mal im ernst: „das ist doch nicht wahr, daß die so

superprofessionell ist, wie sie immer tut, so als quereinsteigerin? wo sie doch rausgeflogen ist aus ihrem früheren job“ – DIE KEY: woher

sie das habe? ja, auch sie habe ihre beziehungen – beziehungen

zu roland berger beispielsweise oder beziehungen auch zu ihrem verein. DIE ONLINE: ja, so DIE KEY: ja,

DIE ONLINE: also DIE KEY:

was kriegt man über beziehungen mit.

wer hat nicht einen freund beim handelsblatt – ich habe eigentlich überall freunde sitzen

man kennt sich doch quer durch die branche – (sie unterbricht sich)

(WSN 63)

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Während die Arbeit in Netzwerken, wie sie für flexibilisierte Arbeitsstrukturen kennzeichnend ist, mit hohem symbolischen Kapital belegt ist, besitzt die den Flexibilitätsansprüchen geschuldete Arbeitsbiographie, die Quereinstiege fördert, einen weniger guten Ruf. Hier zeigen sich Brüche in der Akzeptanz neokapitalistischen Ökonomiedenkens, die das einzelne Arbeitssubjekt in seiner Selbstperformanz zu vermitteln hat. Das Risiko, daran zu scheitern, ist in den Gesprächen allgegenwärtig – und teilt sich, wie hier, immer wieder als ein Sichselbst-Unterbrechen mit. Das Ineinandergreifen von privaten und beruflichen Beziehungen im Dienste ökonomischen Nutzens kehrt als Thema auch in der Rede der „praktikantin“ wieder, bevor diese „mundtot gemacht“ (WSN 63) wird. Rhetorisch eindringlich komprimiert wird dem Glauben an globale Zusammenhänge bis hin zu sozialen Beziehungen eine Absage erteilt: und sie höre sich auch sicher nicht mehr an, wie sie einem dauernd sagten, was einem juristen nicht fremd sei, und was einem kaufmann nicht fern stehe und einem wirtschaftsprüfer nicht unvertraut. eben wie diese ganzen verwandtschaften und unverwandtschaften ausgesprochen würden. sie sehe sich nicht mehr an, wie ein verwandtschaftsgrad in den dingen schlummere und plötzlich ausbreche und alles überziehe. ja, verwandtschaften würden ausgesprochen, zu denen sie keinen zutritt habe, und verwandtschaftsgeschichten würden immer dazugepackt, kleine anekdoten, ziel-anekdoten, würde sie sagen, deren einziger sinn und zweck sei zu beweisen, wie sehr man schon in dieser verwandtschaft parke (WSN 63)

Die Rede der „praktikantin“ problematisiert mithin Inklusions- und Exklusionsmechanismen einer am flexiblen Kapitalismus ausgerichteten Arbeitsorganisation, indem Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, damit auch Insiderwissen, als Resultate narrativer Strategien ausgewiesen werden. Teilhabe an Arbeit jenseits des „testmodus“ (WSN 63), dies thematisiert der Theatertext, basiert auf einem Wissen von Sprachregelungen, -codes und -formeln und dessen ritualähnlicher Aktualisierung. Das Reden zu beherrschen, ist nach Aussage der „online“ unerlässlich, um sich in der Branche zu etablieren. Dabei besteht die Gefahr, wie der „senior“ festhält, dass er manchmal „gar nicht mehr [merke], in welchem fachjargon er wieder einmal rede und was für vokabular er wieder rauslasse“ – eine Art Berufsrisiko (WSN 59). Wie

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im und durch das Sprechen „unprofessionalität“ verdeckt (WSN 59) oder gerade umgekehrt Professionalität ausgewiesen wird, entpuppt sich als diejenige Frage, an der die sprachliche Performanz jedes Repräsentanten der Beraterbranche bemessen wird. Als Parameter der Professionalität fungiert hierbei das Verhältnis von (individueller) Erfahrung und (kollektiver) Erwartung: Erfahrungen und Erwartungen liefern Gesprächsstoff und legen die Basis für die soziale und ökonomische Vernetzung. Zwar werden Machtpositionen innerhalb von Arbeitsbeziehungen und darüber hinaus über ein spezifisches Fachvokabular und Spezialistenwissen etabliert und gesichert, doch wirkt dies, so der assoziative Gedankengang in der „gruppenszene“, beispielsweise im Fall von Unternehmenspleiten und Bankenskandalen geradezu „oberabsurd“, wenn „sie ausgerechnet die typen wieder ran[holen], die es vorher verbockt haben, weil sich sonst niemand auskennen würde mit den verträgen“ (WSN 60). Zudem stellen die – vermeintlichen? – Experten die Bedeutung von Fachwissen dadurch infrage, dass es seiner Zeitlichkeit überführt wird. Dies geschieht ironischerweise durch den „partner“, der auf die anhaltende Notwendigkeit eines spezialisierten Grundwissens insistiert: „ach so ein grundkurs in bwl muß immer wieder absolviert werden. der verliert sonst seine gültigkeit“ (WSN 61). Inwieweit geschultes Wissen außerdem durch Erfahrung relativiert wird, stellt „der senior“ in seiner Sicht auf die Branchenkonkurrenz McKinsey heraus: „hochausgebildete idioten mit dauerdiplom in der tasche und null lebenserfahrung und null erfahrung mit realen betrieblichen strukturen, die nur mit einem zusammenarbeiten, um ideen abzuziehen“ (WSN 61). Dabei spiegelt die rhetorische Demontage des Konkurrenten, die als Beitrag zum Distinktionskampf auf dem Feld der Unternehmensberatung zu verstehen ist, die Reichweite der eigenen „oberste[n] beraterweisheit“, wie sie „der senior“ proklamiert. Mit ironisierendem Gestus kommentiert „die key“: „brrrt, der mckinsey-king geht wieder einmal über die flure, brrt“, da schüttele es sie, „das spüre man doch gleich, der macht aus allen fluren gleich mckinseyflure, schneller, als man schauen kann“, seien sie alle in dem mckinsey-ding drin. alle stünden sie da und schüttelten sich bis sie an der reihe wären, man könnte direkt vermuten, sie stellten sich darum an. kaninchen vor der schlange, sage sie mal, heute wieder ein beliebtes modell (WSN 61).

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Und wenngleich es „heute wieder ein beliebtes modell“ ist, so ist die Zeit, wie „die key“ bemerkt, in der vom „mckinsey-king“ die Rede war, doch abgelaufen (WSN 61). Nicht nur der Inhalt des Fachwissens per se erweist sich als vergänglich, sondern auch seine Qualität, als Alleinstellungsmerkmal und damit als Machtgarant zu fungieren, besitzt eine Halbwertzeit. Die in dem Theatertext wir schlafen nicht versammelten Experten der Consulting Industry betonen in den Berichten zu ihrem Arbeitsalltag den Stellenwert von Erfahrungen mindestens in dem Punkt, dass sie die aktuelle Situation – sei es die ihrer beruflichen Tätigkeit oder die der wirtschaftlichen Verhältnisse im Rahmen der Gesamtgesellschaft – in Relation zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von Traditionen und Innovationen setzen: „am anfang habe sie den eindruck gehabt, sie werde nie ihre schüchternheit überwinden“, meint „die key“ (WSN 59) und „der senior“ offenbart: „anfangs sei er da ja mehr rangegangen mit der haltung – ‚sozusagen‘ – das sei ja nicht er, der den job mache. er spiele vielmehr eine rolle, er spiele vielmehr mit und schaue sich das sozusagen an“ (WSN 59). Neben den Anzeichen der Distanzierung, die der Konjunktivgebrauch setzt, reflektieren die Figuren mithin expressis verbis auf die Identifikation mit ihrer beruflichen Tätigkeit und hinterfragen deren Bedingungen und Folgen. In der Wiederholung einzelner Erfahrungen und Geschichten, beispielsweise der bereits allen bekannten „pornohotelgeschichte“ der „key“ – auch „er könne die schon auswendig erzählen“, bekundet „der it“ (WSN 64) – ,werden Momente der Arbeitsbiographie fixiert, die als Gegenpole zu einer Gefahr des „Driftens“ (Richard Sennett) zu lesen sind. Allerdings bilden die Selbstäußerungen eher Themenblöcke als Erzählstränge heraus, die unter Schlagworten in den Bild- und Szenenüberschriften gruppiert werden – „der betrieb“ (1.2, WSN 59), „privatleben“ (2.2, WSN 61), „runterkommen“ (3.3, WSN 63) und weitere. Das dialogische Arrangement der Figurenstimmen gleicht einem von Assoziationen vorangetriebenen Redefluss, der durch wiederkehrende Unterbrechungen und Einmischungen, „kurze pausen“ und „peinliche stillen“ rhythmisiert wird. Dabei zeigt sich eine Tendenz zum monologischen Sprechen, das sich aus dramaturgischer Sicht insbesondere in der episch-distanzierenden Form der Rede ad spectatores manifestiert. Die Selbstdarstellung gewinnt damit deutliche Züge der Selbstbehauptung im Wettbewerb um Präsenz und Aufmerksamkeit. Das wiederkehrende Ins-Wort-Fallen wie auch die ständigen

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Abtritte von der Bühne verweisen auf Distinktionskämpfe zwischen den Figuren, ohne dass diese mit Blick auf deren spezialisierte Tätigkeiten und hierarchische Positionen unmittelbar plausibel wären. Sinnfällig werden sie jedoch als Kampf ums Rederecht und damit als Kampf um die performative Präsenz, die Möglichkeit des Wahrgenommenwerdens. Es ist das Spiel um An- und Abwesenheit, das der Titel wir schlafen nicht indiziert. Zum Ausdruck gelangt es im Sprechen und in dessen Komplementen – dem Schweigen und der Stille – sowie in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Kennzeichnend für das Sprechen der Figuren ist von Beginn an eine „hektische Atemlosigkeit“269. Die wiederkehrenden Unterbrechungen machen für das Sprechtempo sensibel, das sich darüber hinaus auch in den, die mündliche Rede charakterisierenden, Füllwörtern und Interjektionen, in einem elliptischen Sprechen, in einem Wechsel von monologischen und polylogischen Passagen sowie in der Bildung und kumulativen Variation von Komposita vermittelt. Die Hektik des Sprechens kontrastiert mit einem Fehlen von „messestreß“ (WSN 62) und mit einer Situation des Wartens, die aus Sicht der „key“ „ein wenig lang“ andauert (WSN 63) – wobei für den Rezipienten zu keinem Zeitpunkt transparent wird, worauf das Warten eigentlich gerichtet ist, außer vielleicht, so wäre zu vermuten, auf Kunden und Kollegen. Die Wahrnehmung des Stillstands als Fremdheit, Bedrohung und Unerträglichkeit, der es sich offenkundig mittels des Sprechens zu erwehren gilt, kommt in den als Regieanweisung notierten „stillen“, die als „peinliche stille“ (WSN 59 u.a.) bezeichnet werden, zum Ausdruck. Stillstand wird in einer Alltagswelt, in der die Arbeit den Lebensstil auf „short-sleeping“ und „quick-eating“, auf „hotelgeschlafe“, „business-class-gefliege“ und „first-class-gewohne“ hin trimmt (WSN 67), gleichbedeutend mit einem Eingeständnis in das eigene Scheitern. Die Zustimmung zu einer Pause, einer Atempause, kommt einer Bestätigung gleich, für das Unternehmen überflüssig zu sein.270 So ge-

269 Vgl. Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel, S. 237. Kormann formuliert diese Beobachtung allerdings mit Blick auf den Roman. 270 Auch in Gesine Danckwarts Täglich Brot ist die Atempause mit dem Zustand des Überflüssigseins und der Arbeitslosigkeit semantisiert. Nelke äußert sich zu ihrer Arbeitslosigkeit wie folgt: „Was ich mache. Bitte, was ich mache, oh, ich, ich mache, gleich weiter, weiter. Ich bin gerade in einer Atempause, ich bin gerade auf dem Weg zum neuen Sprungbrett,

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steht „der partner“, nicht ohne Stolz, dass er „tatsächlich nicht nach hause gehe. warum? weil er zuhause nichts verloren habe, sondern da, auf seinem arbeitsplatz“, von dem er sich auch nicht „langsam aufs altenteil hieven“ lasse (WSN 64). Die Führungskraft insistiert auf einen selbstbestimmten Arbeits- und Lebensrhythmus: „also bitte, er wolle noch selber entscheiden dürfen, wann er hier pause mache und wann nicht. er wolle selber entscheiden dürfen, wann er hier gehe oder nicht, ‚wann schluß ist‘, oder?“ (WSN 65) Und auch „der senior“ trotzt fremder Einsagungen: „ja, runterkommen runterkommen, das sagen sie alle andauernd. andauernd werde einem gesagt, daß man runterkommen soll. er komme aber gar nicht runter, er denke gar nicht dran“ (WSN 63). Das Thema der Eigenmächtigkeit und Verfügbarkeit des Arbeitssubjekts, wie es in diesen Statements anklingt, verhandeln die Gespräche ausführlich unter dem Stichwort der „arbeitssucht“ (WSN 63). Dabei kommen zum einen die Phänomene, die auf eine ‚Sucht‘ schließen lassen, und zum anderen die Implikationen, die einer Adressierung als Süchtiger eigen sein können, in den Blick: „warum nennen sie einen arbeitssüchtig und wann tun sie das?“ (WSN 63) Die Unmöglichkeit „runter[zu]kommen“ zeigt sich bei den Figuren auf sehr unterschiedliche Weise: „die key“ muss „literweise wasser“ trinken, „als wäre ihr körper völlig dehydriert“ (WSN 63), „die online“ muss „dann dauernd mit freunden reden, sie stünde dann einfach unter redezwang“ (WSN 63) und „der senior“ fährt „einmal im monat […] mit sicherheit sein auto kaputt“, denn: das sei ähnlich wie bei einem alkoholiker. er brauche wahrscheinlich einen bestimmten pegel. er brauche eben ständig etwas adrenalin im blut. er meine, „wer ist schon nicht auf adrenalin heutzutage?“ alle, alle seien sie auf adrenalin. man müsse sich diese runde mal ansehen. ob man da jemanden sehen könne, der nicht auf adrenalin sei? (WSN 63)

Die Figuren beschreiben Erfahrungen und Routinen aus ihrem Alltag, die sie zum einen selbstreflexiv mit Suchtprofilen beispielsweise des Alkoholismus in Verbindung bringen, zum anderen jedoch nicht als Symptome einer Sucht anerkennen. Der „senior“ setzt sich gegen der-

ich bin gerade in einer Umorientierung. […]“ (Danckwart: Täglich Brot, S. 57).

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gleichen Diagnosen seiner Arbeitsexistenz zur Wehr, da sie mit dem Stigma des Kranken belegt sind: und dann werde arbeitssucht behauptet, da nennten sie einen einfach krank, dabei stimmte das ja gar nicht. er würde zumindest keine arbeitssucht bei sich feststellen können, bzw. sei er ja kein junkie, zumindest nicht im herkömmlichen sinn. er litte nicht unter entzugserscheinungen, würde er keine arbeit haben. das nehme er zumindest an, denn, wenn er es so recht überlege, sei immer arbeit da (WSN 63).

Die Arbeitssituation mit ihren Leistungsanforderungen als Dauerzustand prägt das Leben der Figuren nachhaltig, insofern sie ihren Sichtweisen und Wahrnehmungen einen bestimmten, am ökonomischen Denken orientierten Begriff der Normalität zugrunde legen. „arbeitssucht“ entlarven die Figuren als ausgrenzende Zuschreibung: „arbeitssüchtig nennt man nur den, bei dem etwas schiefläuft, bei dem die projekte nicht klappen“ (WSN 63). Gemessen werden Menschen dagegen unhinterfragt an ihrer Fähigkeit zur Selbstüberwindung (vgl. WSN 63) und an ihrer Bereitschaft zu „spitzenleistungen“ (WSN 60). Der Theatertext verhandelt mithin das Changieren zwischen Pathologisierung und Ideologisierung, denen sich die Existenzweisen und Persönlichkeiten der Arbeitssubjekte im Wirtschaftsdiskurs ausgesetzt sehen können. Die Vorstellung von einer konsequenten Trennung von Arbeitsund Freizeit beurteilt „der partner“ als „seltsam“ und „so ziemlich absurd“ (WSN 63) und schließt sich also der vielfach formulierten These einer „räumliche[n] und zeitliche[n] Ent-Differenzierung von Arbeit und ‚Leben‘ bzw. Freizeit“271 in der postindustriellen Gegenwartsgesellschaft an. Eine Begrenzung der Arbeit findet sich, wie die Darstellungen der „adrenalinjunkies“ vielfach belegen, gerade in zeitlicher Hinsicht nicht. Uhrzeiten als Reglementierungen von Arbeitsrhythmen oder Maßeinheit von Arbeitsleistung gelten als obsolet, das zeigt der ins Leere laufende Hinweis der „key“: „,es ist 16.30‘ das werde man noch aussprechen dürfen – nein? dürfe man nicht?“ (WSN 59) Mit der geforderten Bereitschaft zur größtmöglichen Mobilität, die notwendig für eine „fernbeziehung“ und gegen ein „normales familienleben“ spreche, wie „der senior“ feststellt, oder zumindest erforderlich macht,

271 Rosa: Beschleunigung, S. 269.

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dass einem, wie im Fall des „partners“, „die frau […] den rücken frei[hält]“ (WSN 61), geht die Erwartung zeitlicher Flexibilität einher. Tagesarbeitszeiten von „locker 14 stunden, wenn nicht gar 16 und mehr“ (WSN 60), der Verzicht auf das Wochenende als Regenerationsphase (WSN 60) oder die Kurzfristigkeit von Arbeitsaufenthalten an verschiedenen Orten (WSN 60) skizzieren den Erwartungshorizont, vor dem sich die individuelle Arbeitsleistung und -haltung der Figuren abzeichnet. Während für „den it“ am Wochenende „erstmal akkulöschen angesagt“ ist (WSN 61), würde „die praktikantin“ durchaus ihr „privatleben“ gegen „ein ordentliches berufsleben“ eintauschen (WSN 61). Zur Diskussion gestellt werden demnach die Wertigkeit von Zeit und die daran gebundene Diskrepanz zwischen Einsichten und Handhabungen, ohne dass sich jedoch die verschiedenen Auffassungen der Figuren zu einem dramatischen Konflikt verdichten würden. müsse er zugeben: ein wenig geistesgestört seien die arbeitszeiten schon, das sei ihm klar, wenn einem die arbeit nicht über alles gehe, dann könne man das auch nicht machen. das verstünde sich von selbst. […] diese letzte stunde freizeit, die sie einem wegnähmen, die sei einfach die teuerste. müsse er zugeben: die wenigsten könnten so was auf dauer aushalten. […] das wundere ihn nicht: daß er mehrere tage durcharbeiten könne, das sei nicht interessant (WSN 60).

Die Ökonomisierung von Zeit, wie sie hier in der Aussage des „senior“ thematisiert wird, findet ihre Grenzen im Körperlich-Machbaren. Diese Erkenntnis konzentriert sich im titelgebenden Bild vom Schlaf, der als ein menschliches Grundbedürfnis um keinen Preis zu ersetzen oder zu manipulieren ist und der für die Arbeitsjunkies daher eine Art „genetischer defekt“ darstellt (WSN 59). Die Aussage des Titels, „wir schlafen nicht“, wird ihrer Absurdität überführt, wenn von Beginn der Gespräche an die Einsicht im Raum steht, dass „der körper […] schlaf nicht [speichere], er speichere alles mögliche, aber schlaf, das schaffe er nicht“ (WSN 59). Um die zeitliche Investition in die unumgängliche Regeneration möglichst gering und möglichst unerkannt zu halten, schlafen die Arbeitsjunkies „in geparkten autos“, „in tiefgaragen, in parkhäusern“ und am „bürotisch“ oder holen sich „beim fliegen eine stunde killerschlaf“ (WSN 59). Der Wunsch nach Eliminierung des Schlafes kulminiert denn auch in der folgenden Phantasie des „it“:

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[…] wenn man das entwickeln könnte, die fähigkeit, schlaf zu speichern. da wären die meisten doch nicht mehr zu halten. ganze kindheiten würden da investiert, nur, um genügend schlaf für später zusammenzukratzen. oder wenn man schlaf übertragen könnte: so von einem menschen zum anderen, das wäre es doch, ganze schlafbanken würden da angelegt (WSN 59).

In dieser zugespitzten Projektion, die Schlaf als mit biographischer Lebenszeit aufzuwiegendes Kapital und als Handelsgut imaginiert, gewinnt die Anpassungsbereitschaft an die Maximen einer allumfassenden Ökonomisierung des Lebens, die, wie der Theatertext vorführt, in abgeschwächtem Maße bereits Alltagspraxis ist, Züge des Grotesken. Dabei begründet die Vorstellung einer Selbstoptimierung im Dienste von Arbeitsleistung und Selbstperformance insbesondere Eingriffe in den Körper. Mit dem Einsatz von Aufputschmitteln aller Art, von „amphetamine[n]“ über „alkohol“, „kaffee“ und „red bull“ bis hin zu „gesicht waschen“ und „frischluft“, suchen die Workaholics einem etwaigen „,kreislaufzusammenbruch‘“ oder „,nervenzusammenbruch‘“ vorzubeugen (WSN 65). Allerdings werden sich die Figuren der Anpassungsfähigkeit durchaus als einer zwiespältigen Fähigkeit gewahr: An ihrem Körper stellen sie fest, dass dieser „völlig auf messebetrieb umgeschaltet“ hat, und in Anbetracht der Messesituation stellen sie die Vermutung an, dass „man nicht mehr von psychisch ungestörten menschen ausgehen“ könne (WSN 64). Das Moment der Störung, der Irritation buchstabiert der Theatertext wir schlafen nicht nicht allein in der selbstreflexiven Haltung der Figuren aus, sondern nutzt es als dramaturgisches Mittel. Anhand des titelgebenden Leitmotivs der Schlaflosigkeit, zu dem sich die am Beispiel der Beraterbranche ausgestalteten Facetten des Arbeitsalltags – nämlich Selbstinszenierung, Allgegenwart der Arbeit, Leistungs- und Zeitdruck – verdichten, wird ein Zugang zum Bereich des Irrealen gelegt, der die Figuren sukzessive als „unheimlichkeit“ (WSN 64) einholt. Die alltäglich gewordenen Wahrnehmungsirritationen, die zunächst vor allem auf die Wahrnehmung von Zeit bezogen waren, wenn für „die online“ beispielsweise „tageszeiten verschwinden“ (WSN 60), verschieben sich nach und nach auf die Figuren selbst. Während sich das realistische Szenario der Messesituation in einen Ausnahmezustand verwandelt, in dem es aus nicht bekannt werdenden Gründen zur Räumung der Halle kommt, beobachten die Figuren an sich im wörtli-

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chen Sinne gespenstische Veränderungen. So entdeckt „die key“ „ängstlich“ den Verlust ihrer Stimme und stellt fest: „[…] diese tonlage habe sie von sich nicht gekannt, das sei ja ein fremder gewesen, der sich durch sie durchgesprochen habe“ (WSN 65).272 Was von den Figuren Besitz ergreift, ist ein Bewusstsein von den Grenzen ihres temporeichen Lebensstils, eine Einsicht, „daß immer nur ‚power-powerpower!‘ auch nicht zum erfolg führen wird“ (WSN 66). In einen dem Burn-out nicht unähnlichen Zustand der Entschleunigung versetzt, der für die eigene „unlebendigkeit“, für „das gespenst in einem“ feinsinnig macht, kommen „gedächtnis und erinnerung“ (5.2, WSN 66) auf. Gegen den anfänglichen Widerstand geben sich die Figuren nach und nach der Heimsuchung durch die Vergangenheit hin, die insbesondere mit einer Differenzierung und Konzentration der sinnlichen Wahrnehmungen einhergeht. Durch die Hektik des Arbeitsalltags diffundieren Details der Umgebung, die in synästhetischer Raffung und zeitlupenartiger Dehnung Gegenstand der Wahrnehmung werden.273 Erinnernd an Robert Musils Erzählung Das Fliegenpapier heißt es: und während der anrufbeantworter so am laufen war, hatte auch die fliege am fenster begonnen, sich zu bewegen, sie hatte sich sozusagen in gang gesetzt. ja, er erinnert sich an die fliege am fenster und an deren zahlreiche wege, die sie genommen hat. eine vielzahl hektischer schlingen, eine vielzahl abrupter richtungswechsel, das verwirrende muster eines labyrinths, das nicht zu sehen und dessen ausgang nicht zu verstehen war. und dann hat es plötzlich in dem leeren büroraum zu riechen begonnen, ja, er erinnert sich, wie es in diesem beinahe leeren bürozimmer plötzlich nach kunststoffteppichen gerochen hat und nach den geräten, so wie es in diesen neuen bürozimmern eben immer riecht. nach dem drucker, dem bildschirm, der ablage und all dem büromöbelholz, nur diesmal ist es deutlicher gewesen, um nicht zu sagen lauter. ja selbst das büro-

272 Das Motiv der fremden Stimme, die Besitz von den Workaholics ergreift, findet sich auch in John von Düffels Theatertext Balkonszenen. Hier ist es die Stimme einer toten Ehefrau, die am Ende des Stückes zwischen den Geschäftsleuten und Politikern „wild von einem zum anderen“ (Düffel: Balkonszenen, S. 79) springt. Bemerkenswerterweise ist auch bei von Düffel der Konnex zum Reich der Toten gegeben. 273 Vgl. Kormanns Analyse des Prosatextes, der die Gespenstergeschichte insgesamt mit verschiedenen anderen Details ausformuliert (Kormann: Jelineks Tochter und das Medienspiel, S. 237-239).

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möbelholz schien geräusche zu fabrizieren, die vorher nicht zu vernehmen gewesen waren (WSN 66f.).

Im Wechsel der Perspektive von der Gegenwart auf die Vergangenheit kommt eine Widerständigkeit zum Ausdruck, die sich gegen den suchtgleichen Rausch und die Hektik des Arbeitsalltags richtet. Mit dem Memoria-Diskurs, der die letzten Szenen durchzieht, korreliert das Postulat einer Humanität, die sich in einer auf das Lebendige zielenden Sinnlichkeit (vgl. WSN 66f.) und einem Besinnen auf die eigene Vergänglichkeit, im Vanitas-Gedanken (vgl. WSN 66), zeigt. Ist es nach Richard Sennett das im neuen Kapitalismus verbreitete Schlagwort der Flexibilität, das als „Gegenbegriff zu Starre und Leblosigkeit“274 fungiert, so formuliert der Theatertext wir schlafen nicht einen demgegenüber verschiedenen Konnotationszusammenhang: Eine Lebendigkeit des flexiblen Menschen, die über das Jetzt und Hier eines an Effizienz und Kurzfristigkeit ausgerichteten Arbeitsalltags hinausreicht, ist nur gespenstischer Schein.275

5.5 ARBEITSSUBJEKTE IM THEORETISCHEN T HEATERTEXT : R ENÉ P OLLESCHS I NSOURCING DES Z UHAUSE . M ENSCHEN IN S CHEISS -H OTELS Von den in der vorliegenden Studie bearbeiteten Theatertexten, die sich dem Thema Arbeit widmen, hebt sich Polleschs Stück Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels dadurch ab, dass es am konsequentesten eine am klassischen Drama ausgerichtete Theaterästhetik infrage stellt. In Polleschs ästhetischem Entwurf für das Theater gehen die künstlerische Arbeit am und mit dem Theatertext einerseits und die Verhandlung von zeitgenössischen Arbeitsformen und -strukturen im

274 Sennett: Der flexible Mensch, S. 58. 275 Kleidet der Theatertext den Widersacher des neuen Kapitalismus in die Gestalt eines Gespenstes, so erinnert dies an Jacques Derridas Versuch über den Kommunismus in Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/ Main 2004.

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Theatertext andererseits eine stilbildende Verbindung ein. Die im theatralen Spiel präsente, mehrdimensionale Verflochtenheit von Text und Arbeit gründet im Verfahren einer Theatralisierung von Theorie, das eine Affinität zu epischen, dokumentarischen und postdramatischen Theaterformen vielfach erkennen lässt, sich jedoch ebenso deutlich von diesen abgrenzt. Der Aspekt der Arbeit wird im Folgenden als Fixpunkt gewählt, anhand dessen sich ein in Polleschs Theater verankertes forciertes Spiel mit und um Zeitgenossenschaft exemplarisch nachvollziehen lässt. Stellt der Theatertext die für den Dienstleistungssektor relevante sogenannte „Emotionsarbeit“276 ins Zentrum seiner Rede, so kommen Fragen nach der Entgrenzung von Privatraum und Arbeitsplatz, nach geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und nach dem, den ‚ganzen Menschen‘277 fordernden, unternehmerischen Selbst als Modell des flexiblen und kreativen Arbeitnehmers in den Blick. 5.5.1 Polleschs Antitheatertexte Wie viele von René Polleschs Stücken ist auch Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels278 Teil einer Serie, hier: der PraterTrilogie, die neben dem genannten auch die Stücke Stadt als Beute und SEX. Nach Mae West umfasst.279 Wie vergleichsweise wenige von Pol-

276 Vgl. Hochschild: Das gekaufte Herz. Hochschild, deren Studien den Begriff der Emotionsarbeit maßgeblich prägen, unterscheidet ‚emotional labor‘ am Arbeitsplatz von ‚emotional work‘ im Privaten. 277 Bei Voß/Pongratz ist in Bezug auf den Arbeitskraftunternehmer entsprechend vom Einbezug der ‚ganzen Person‘ die Rede. (Vgl. Gerd-Günter Voß, Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998) H.1, S. 131-158.) 278 René Pollesch: Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels. Nach Lorenz, Kuster, Boudry, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 43-80. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚IZ‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. 279 In der Regie des Autors hatten die Stücke – in der genannten Reihenfolge – jeweils Premiere am 27. Oktober 2001, am 26. September 2001 und am 30. Januar 2002 im Prater der Volksbühne in Berlin. René Pollesch: Stadt als Beute. Nach spaceLab, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001– 2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 5-41. Der Text wird im Fol-

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leschs Stücken hingegen ist Insourcing des Zuhause als ein in Buchform publizierter Theatertext verfügbar; alle drei genannten Stücke sind in der Prater-Dokumentation der Spielzeit 2001/2002 mit dem Titel Wohnfront 2001–2002280 abgedruckt. Insourcing des Zuhause rückt damit unversehens in die viel diskutierte Position, nicht nur als Theaterereignis, sondern auch als Theaterliteratur rezipiert werden zu können. Zur Relation von Text und Theater betont Pollesch mit explizitem Bezug auf seine Person, dass er „auf keinen Fall das Bild des individuellen Textproduzenten vermitteln [will], der am Schreibtisch geniale Texte produziert“281, und er äußert die „Hoffnung, dass man noch weiter weg kommt von diesem literaturgeprägten Theaterbegriff“282. Diese und vergleichbare Selbstaussagen283, die hier nicht ohne Verweis auf deren mögliche Funktion als Selbststilisierung zitiert werden sollen, oder auch die zunächst rigide, mittlerweile auch mit Ausnahmen versehene Verfügung des Autors, dass seine Texte nicht nachgespielt werden dürfen, akzentuieren die Einmaligkeit der Verschränkung von Text und Spiel sowie die Unwiederholbarkeit des theatralen Textereignisses: „Gibt es den Text als Endprodukt, steckt darin auch die Probenarbeit. Das ist von niemandem einholbar.“284 Wiederholungen einer

genden mit der Sigle ‚SB‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. René Pollesch: SEX. Nach Mae West, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 131-159. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚SEX‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. 280 Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002. 281 René Pollesch, Jürgen Berger: Ich bin ein Supermarkt. Subjekt zu verkaufen. René Pollesch über sein rasendes Theater der Selbstausbeutung, in: Süddeutsche Zeitung, 4. Mai 2002, S. 17. 282 Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina, S. 201. 283 Zu Status und Rezeption von Polleschs Statements im Verhältnis zu seinen Stücktexten vgl. den aufschlussreichen Aufsatz von Stefanie Diekmann: Doing Statements. Notizen zum Verhältnis von Interview und inszenierter Rede am Beispiel René Polleschs, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen, 17), S. 175-182. 284 Pollesch, Berger: Ich bin ein Supermarkt, S. 17.

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zu einem früheren Zeitpunkt oder an einem anderen Theaterort gezeigten Pollesch-Produktion werden entsprechend selbstironisch als „Raubkopie“ tituliert285. Bereits vor Polleschs Prater-Zeit – die Leitung der Berliner Volksbühnen-Spielstätte übernimmt er 2001 – kommentiert das Feuilleton seine Theaterästhetik mit der Anmerkung: Der Autor als „bekennender ‚Postdramatiker‘“ habe „damit zu kämpfen, dass seine Texte als literarische Stücke missverstanden werden könnten“.286 Die Rezeption von Polleschs Theater zeigt sich vielfach von dem Eindruck geprägt, dass seine Texte „[a]ls pures Lektüreerlebnis“ nur „wenig nachhaltig [scheinen]“ und „erst wenn das Lesen die Erinnerung an die (zumeist vom Autor selbst inszenierte) Aufführung aufruft, […] ihre ganz eigene Qualität [gewinnen]“.287 Die angeführten Selbstkommentierungen, Beobachtungen und Einschätzungen begründen das Verständnis von Polleschs Texten als im eigentlichen Sinne Produkte eines kollektiven theatralen Spiels, in dem „jeder Darsteller zum Mitautor wird“288. Diesen Produkten steht der Befund gegenüber, den die gedruckten Publikationen ausgewählter Stücke289 implizieren und den Andrzej Wirth, Polleschs akademischer Lehrer am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, wie folgt formuliert: „Obwohl als Bühnensprache erfunden und teilweise im Pro-

285 Vgl. die „Raubkopien“ zu Heidi Hoh im Oktober 2001 am Prater, beispielsweise Raubkopien: Heidi Hoh 3 als Produktion des Podewil mit dem Mousonturm Frankfurt/Main. 286 Jürgen Berger: Bekenntnis zur Postdramatik. Schneller Brüter. René Pollesch, künftiger Hausautor am Hamburger Schauspielhaus, schreibt popmoderne Highspeed-Stücke, in: Süddeutsche Zeitung, 22. Februar 2000, S. 18. 287 Bettina Brandl-Risi: Verzweiflung sieht nur live wirklich gut aus, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 117-120, S. 117. 288 Barbara Burckhardt: Freiheit, die ich meine. Eine Reise durchs OffTheater, in: Theater heute 41 (2000) H. 11, S. 28-33, S. 30. 289 Weitere Texte sind in folgenden Sammelbänden veröffentlicht: René Pollesch: www-slums, hg. v. Corinna Brocher, Reinbek bei Hamburg 2003; René Pollesch: ZELTSAGA. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. v. Leonore Blievernicht, Berlin 2004; René Pollesch: PRATER-SAGA, hg. v. Aenne Quiñones, Berlin 2005; René Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews, Reinbek bei Hamburg 2009.

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benprozess entwickelt, ist Polleschs Sprache eine eigenartige Dichtung, die verdient, als literarischer Text analysiert zu werden.“290 Diese Perspektive auf Polleschs Theatertexte legt auch die bislang zweimalige Verleihung des prominenten Mülheimer Dramatiker(!)preises im Jahr 2001 für world wide web-slums und 2006 für Cappuccetto Rosso nahe, die – der theateröffentlichen Wahrnehmung des Preises gemäß – nicht zuvorderst die Anerkennung eines unverwechselbaren Regiestils, sondern vielmehr die Auszeichnung eines Theatertextes und seines Autors bekundet.291 Die Ehrung des Dramatikers mehr als die des Regisseurs Pollesch vollzieht auch die Wahl der Prater-Trilogie in der Kritikerumfrage von Theater heute zum besten „deutschsprachigen Stück des Jahres“ 2002.292 Indem sich in der Preisverleihung und der Ehrung sowohl symbolisches als auch ökonomisches Kapital verbinden, wird deutlich, dass dem Autor als Textproduzenten eine zentrale Stelle innerhalb des Theatersystems zukommt, die nicht unabhängig von bedeutungsgenerierenden Zuschreibungen und Funktionalisierungen betrachtet werden kann. In einem kritischen Kommentar zum Usus des Stückabdrucks konstatiert Pollesch entsprechend die Diskrepanz zwischen seinem eigenen Anspruch und dem des Theaterbetriebs: „Der Text ohne die Arbeit der Schauspieler hat keine Berechtigung. Die Zuschauer müssen sich den Text in der Aufführung abholen und nicht vorher. Was das betrifft, kann man sich aber auch oft schwer durchsetzen, vor allem an Theatern, die darauf angewiesen sind, in den Feuilletons aufzutauchen, und die deshalb die Leute, die Theater besprechen, mit Vorlagen bedienen.“293 Das Konventionelle des von Pollesch abgelehnten Repräsentationsthea-

290 Andrzej Wirth: René Pollesch. Generationsagitpoptheater für Stadtindianer, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): Werk-Stück. Regisseure im Porträt. Arbeitsbuch, Berlin 2003, S. 126-131, S. 127. 291 Die Frage, wofür der Mülheimer Dramatikerpreis verliehen wird, wurde auch in der Debatte um die Verleihung des Preises an Rimini Protokoll für Karl Marx: Das Kapital, Erster Band im Jahr 2007 virulent, in der unter anderem das Kriterium der ‚Nachspielbarkeit‘ des Textes als Eigenschaft eines Theaterstücks diskutiert wurde. 292 Über den besten Regisseur des Jahres wird in der Theater-heute-Umfrage in einer eigenen Kategorie entschieden. 293 René Pollesch, Harald Müller: Zorn, Einsicht und Verzweiflung. Vier Fragen von Harald Müller an René Pollesch, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 12, S. 63.

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ters zeigt sich mithin nicht allein im Umgang mit dem Text auf der Bühne, sondern auch in der ökonomischen Funktion des Theatertextes innerhalb der Theaterbranche, die neben dem Theaterhaus auch Verlage und Fachpresse einschließt. Gleichwohl oder gerade weil Pollesch im Ruf steht, „kein Stückeschreiber im herkömmlichen Sinne“294, vielmehr ein „programmatische[r] Antidramatiker“295 zu sein, prägen seine Stücke die Debatten um das Genre der (Gegenwarts-)Dramatik. Ohne Mühe lässt er sich in die Reihe jener Exponenten der deutschsprachigen Dramengeschichte stellen, deren Namen als Etiketten für eine, je verschiedene, Ästhetik des Anti-(aristotelischen-)Theaters einstehen: „Unter veränderten Verhältnissen schreibt hier einer“, stellt Andrzej Wirth fest, „in der Fortführung von Brechts Lehrstücken und Handkes Sprechstücken. Das marxistische Lehrstück wird zum agit-pop der Antiglobalisten (battle in Seattle), Handkes Sprechstücke werden entformalisiert und als Werkzeug der Sozialkritik angewandt“.296 Es ist die spezifische Verschränkung von Arbeitsweise, Formgebung und Thematik in Polleschs Theater(-text-)produktionen, die einerseits Referenzen auf theatrale Traditionen zutage fördert; so wurden bereits wiederholt die Bezüge zu Brecht297 exploriert. Im Horizont der zeitgenössischen Theaterland-

294 Wirth: René Pollesch, S. 127. 295 Wirth: René Pollesch, S. 128. 296 Wirth: René Pollesch, S. 126. Zum Verhältnis zwischen Polleschs Theater und Brechts Lehrstücken vgl. auch: Alexander Karschnia: Stadttheater als Beute. René Pollesch Resistenz-POP. Spoken Words, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen, 17), S. 183-191, S. 190. Zu BrechtBezügen vgl. darüber hinaus: Evelyn Annuß: Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 23-38, S. 30-32. 297 Raddatz ermittelt im Gespräch mit Pollesch mögliche Affinitäten hinsichtlich der Vorstellungen von einem aktiven Publikum, das Herkömmliches infrage stellt, oder von Strategien der Verfremdung und der Montage (vgl. Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina). Patrick Primavesi zeigt Parallelen bei Themen („Zuspitzung politischer Konflikte auf dem Feld des Konsums“, Diskussion der „Stadt als dem Schauplatz eines grenzenund gnadenlosen Kapitalismus“) und Arbeitsweise („Prinzip der Serie

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schaft profilieren Polleschs Arbeiten andererseits eine Art „Marke“298 und eine innovativ wirkende „Spezialisierung“, die sich, wie die Soziologin Tanja Bogusz darlegt, auf eine „feldbedingte Öffnung zu einer Anerkennung der performativen Wende“ stützen kann und die in der Institution der Berliner Volksbühne einen entsprechenden „Aktionsraum“ findet.299 Wenn Pollesch als „lebende Textmaschine“300, „Meister des zeitgeistbeflügelten Theorietrashs“301 oder auch als „emsige[r] Kapitalismuskritiker, Soap-Süchtiger und Spezialist für die interkulturelle Travestie von Unterhaltungsmechanismen“302 bezeichnet wird, so verweisen diese Apostrophierungen zugleich auf charakteristische Merkmale seiner Theater(-text-)arbeit und Theater(-text-)ästhetik. Den Blickwinkel, unter dem diese in der nachfolgenden Untersuchung von Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels – notwendig selektiv und versuchsweise in Grundzügen – thematisiert werden, zeichnet die Frage nach der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Arbeitswelten als raum-zeitliche Matrizes sozialer Beziehungen vor. Fokussiert werden dabei zum einen, aus formalästheti-

und der Fortschreibung“, Verarbeitung von „populären Songs oder Filmen“) auf; Primavesi liest die Prater-Trilogie „als großangelegte[n] Kommentar und Fortschreibung zu [sic!] Brechts Mahagonny“ (Patrick Primavesi: Beute-Stadt, nach Brecht: Heterotopien des Theaters bei René Pollesch, in: The Brecht Yearbook/Das Brecht Jahrbuch 29 (2004), S. 367-376, S. 369-371). 298 René Pollesch, Jenny Hoch: Neue Regeln braucht die Kunst. René Pollesch fordert in den Kammerspielen: „Schändet eure neoliberalen Biografien!“, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Oktober 2005, S. 53. 299 Tanja Bogusz: Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne, Bielefeld 2007, S. 230. 300 Nikola Duric: 100 Pointen/min. In sieben Folgen am Schauspielhaus: René Polleschs Soap „world wide web-slums“, in: Die Tageszeitung, Hamburg lokal, 8. November 2000, S. 23. 301 Silvia Stammen: Lob der Verschwendung, in: Theater heute 46 (2005) H. 12, S. 50-52, S. 51. 302 Till Briegleb: Glorreiche Diven im Hotel Ausnahmezustand. René Polleschs „Hallo Hotel …!“ und zwei Flughafen-Projekte von Rimini Protokoll bei Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 2004, S. 13.

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scher Sicht, die Bearbeitung theoretisch vorformulierter Gedanken und Aussagen im Theatertext, wobei zum Zwecke der Differenzierung auch weitere Theatertexte Polleschs, insbesondere die beiden anderen Prater-Trilogie-Stücke berücksichtigt werden. Zum anderen steht, aus inhaltlicher Sicht, das Verhältnis zwischen den geschlechtlich und sozial codierten Lebensbereichen Arbeit und Privatleben im Zentrum der Ausführungen. 5.5.2 Die Theatralisierung von Theorie im Text Auf die Frage, ob und wie eine kritische Beschäftigung mit dem Thema Arbeitswelten auf dem Theater möglich sei, antwortet der Theatermacher und Autor René Pollesch in einem Interview von 2001: „Bei uns geht es zunächst mal um uns, um die Immanenz, um die SchauspielerInnen und wie die sich mit dem Text über ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse orientieren.“303 Entsprechend attestiert Pollesch jener zeitgenössischen sozialen Dramatik, die sich auf die figurative und plotgestützte Darstellung von Milieus und Arbeitsweltmechanismen konzentriert, „die falsche Anforderung ans Publikum“ zu formulieren, denn diese Texte forderten, das im Theaterraum Gezeigte zu „transzendieren“.304 Die Pollesch’sche Theaterästhetik erteilt dem konventionellen Ansatz, Alltag über eine Vereinbarung des Als-über Ob und die darin begründete Abbildung des anderen305 zu verhandeln, eine Absage. Als Zentrum und Ziel der Theaterarbeit bestimmt Pollesch die Frage ‚Was hat das mit mir zu tun?‘, also ein forciertes Moment der Selbstbezüglichkeit. Damit spielt er, wie die Volksbühnen-Dramaturgin Aenne Quiñones anmerkt, ein Privileg des Theaters aus, denn die Thematisierung der eigenen Lebenssituation sei „eben nicht für alle machbar in ihren jeweiligen Arbeitszusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen“306. Darüber hinaus wird die an den Einzelnen

303 René Pollesch, Anja Dürrschmidt, Thomas Irmer: Verkaufe dein Subjekt! Im Gespräch, in: Theater der Zeit 56 (2001) H. 12, S. 4-7, S. 6. 304 Pollesch, Dürrschmidt, Irmer: Verkaufe dein Subjekt!, S. 6. 305 Zum Thema des Anderen in Polleschs Theater vgl. Annuß: Tatort Theater, S. 32f. 306 René Pollesch, Aenne Quiñones, Jochen Becker, Stephan Lanz: Was es bedeutet, kein Material zu sein. Gespräch vom 28. April 2005, in: René

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gebundene selbstreflexive Haltung dem Stoff gegenüber mit der Selbstreflexivität des Mediums ‚Theater‘ kurzgeschlossen. Bei Pollesch übernehmen die Akteure keine Rolle, sondern sie bringen ihre eigene Existenz ins Spiel und verkörpern damit einen für das postdramatische Theater charakteristischen Schauspielertypus307. Die Aufkündigung des traditionellen Rollenspiels wird in den gedruckten Theatertexten der Prater-Trilogie dadurch markiert, dass die Initialen der Schauspielervornamen die Individualitäten der Sprecher ausweisen. Dabei verbürgt das Vorhandensein von Einzelsprechern keineswegs deren Funktion als Handlungsträger im Sinne des Dramas oder eine Ausbildung von Charakteren.308 Vielmehr treten die Schauspieler als ‚Medien‘ des Sprachmaterials auf, das sie mit charakteristischen Modulationen der Lautstärke bis hin zum Schrei, in einer für Pollesch-Inszenierungen typisch gewordenen hohen Geschwindigkeit und mit wechselndem Gestus – assoziierend, aufbegehrend, argumentierend, plappernd – bearbeiten und in die „wild um sich selbst rotierende Pollesch-Theatermaschine“309 einspeisen. Diese Aufführungspraxis führt zu der treffenden Beobachtung, dass Pollesch, in den Worten von Natalie Bloch, „mit jeglicher individualisierenden Spiel- und Sprechweise“310, wie sie für das traditionelle Texttheater prägend ist, bricht. Ergänzend dazu ist aus physiologischer Perspektive jedoch festzuhalten, dass das Individuelle der Schauspielerstimmen zwar ein-

Pollesch: PRATER-SAGA, hg. v. Aenne Quiñones, Berlin 2005, S. 2137, S. 29f. 307 Vgl. Jens Roselt: In Ausnahmezuständen. Schauspieler im postdramatischen Theater, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 166-176, S. 171. 308 Vgl. auch Norbert Otto Eke: Störsignale. René Pollesch im ‚Prater‘, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 175-191, S. 179. 309 Stammen: Lob der Verschwendung, S. 51. 310 Natalie Bloch: „ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!“ Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch, in: Thomas Ernst u.a. (Hg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 165-182, S. 169.

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geschränkt, allerdings kaum vollständig zu tilgen ist, mag es auch nicht wie in der traditionellen Ausdruckspsychologie als Veräußerlichung eines Inneren, sondern als akustische Maske im Sinne Elias Canettis verstanden werden können.311 Wie sonst ließe sich das Schreien als Ausdruck eines renitenten „Restsubjekts“312 oder, wie vielfach in Theaterkritiken notiert, als Ausdruck von Hysterie auffassen?313 Die Häufigkeit und Dauer, mit denen in Polleschs Theaterproduktionen extrem laut314 und extrem schnell gesprochen wird, sowie der durch Ausrufe wie „SCHEISSE“ oder „AAAAHHHH“-Schreie markierte Sprechrhythmus lenken die Aufmerksamkeit des Zuhörers in besonderem Maße auf die Art und Weise des Sprechens, mithin auf den Einsatz der Stimme und folglich auf die akustische und physische Dimension der Textpräsentation. Die für die Schauspieler315 auf der Bühne

311 Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; zur Stimme als Gestalt und akustische Maske bes. S. 46-50; zu Canettis Konzept der akustischen Maske bes. S. 318-336. 312 Vgl. Natalie Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns, in: Der Deutschunterricht 56 (2004) H. 2, S. 57-70, S. 67. 313 Anstatt die geschrieenen Texte „als Ausdruck des Leides oder sogar Protestes [zu] interpretieren“, schlägt Katrin Sieg vor, „diese absurden Steigerungen in der Lautstärke als akustische Signale eines Systems zu verstehen, das eine momentane Energieentladung erfährt, wenn es ein weiteres Hindernis überkommt, ähnlich dem Tosen von Wasser, das durch einen Damm bricht.“ (Katrin Sieg: Kunst in der Suppenküche des Kapitals: Pollesch@Prater, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen JürsMunby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale. Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 21-32, S. 31.) Siegs Formulierung, die auf die Aspekte des Natürlichen und Technischen eingeht, bleibt allerdings relativ unbestimmt. 314 Natalie Bloch weist explizit darauf hin, dass an Pollesch-Abenden auch geflüstert wird und nennt Soylent Green (2003) als Beispiel. (Vgl. Bloch: „ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!“, S. 169, Fußnote 9.) 315 Es wird hier für die Sprecherinnen und Sprecher in Polleschs Theaterproduktionen die gebräuchliche Bezeichnung ‚Schauspieler/in‘ verwendet, da an dieser Stelle keine ausführliche Problematisierung dieser Frage geleistet werden kann. Es sei hier nur der Hinweis gegeben, dass etwa

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bereitgestellten Wasserflaschen symbolisieren entsprechend die körperliche Verausgabung und verweisen auf das Sprechen als Mittel und Medium der Schauspielarbeit. Die Darbietung des Sprachmaterials oszilliert in der Wahrnehmung zwischen Lust und Last, zwischen Spiel und Pflicht, zwischen sportlicher und professioneller Überbietung. Polleschs Inszenierungen „bauen“, wie etwa Hans-Thies Lehmann festhält, „auf der Geschwindigkeit der Pop-Medien-Ästhetik“ auf.316 Unterbrochen wird die exzentrische Spracharbeit vielfach von Spieleinlagen, sogenannten „Clips“, die „Tanz- und Pantomime-Einlagen“, „kleine Filmeinlagen und installative Witze“ zeigen317 und die in der wörtlich an das Musikvideo318 angelehnten Form, die visuelle Komponente des Theaterspiels betonend, Bilder zur Sprachmusik liefern. Popästhetische Strategien wie Loop und Permutation prägen, so legt Diedrich Diederichsen319 dar, das Stück im Einzelnen und das Verhältnis der Theatertexte untereinander. Die Redundanzen und „Minimal-

Franziska Bergmann die Bezeichnung ‚Perfomer/in‘ explizit als den adäquateren Terminus anführt. (Vgl. Franziska Bergmann: Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch. Zu Verschränkungen von Neoliberalismus und Gender, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 193-208, S. 196.) 316 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 344. An anderer Stelle betont Lehmann mit Blick auf die frühen Arbeiten Polleschs die „eigene PopTheater-Atmosphäre“, die Polleschs Harakiri einer Bauchrednertagung (1988) und Splatterboulevard (1992) durch „[g]ekonnte Geschmacklosigkeit, fortwährendes Kreisen in einem Zustand der desolaten Lustigkeit und parodistische Medien-Aneignung“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 419) erzeugen. 317 Diedrich Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch, in: Theater heute 43 (2002) H. 3, S. 56-63, S. 59. 318 Vgl. zum Musikvideo und seiner ökonomischen Seite: Justin Hoffmann: Das Musikvideo als ökonomische Strategie, in: Justin Hoffmann, Marion von Osten (Hg.): Das Phantom sucht seinen Mörder. Ein Reader zur Kulturalisierung der Ökonomie, Berlin 1999, S. 65-75. 319 Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen, S. 60f. Vgl. auch Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns.

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verschiebungen“320 beim Gebrauch von Vokabeln und Sätzen prägen auf stilbildende Weise die theatrale Präsentation von kulturtheoretischen Thesen, die sich entsprechend von stringenten und logischen Strukturen der wissenschaftlichen Theoriedarstellung abhebt. In die Verfahren der Repetition schreibt sich dabei zugleich eine für das Postdramatische im Sinne Lehmanns charakteristische Ästhetik der Fragmentierung ein, die – mittels Clips, sprunghafter Assoziationen und Widersprüche in den Aussagen der Figuren, Verschlagwortung oder Schreien – den permanenten Bruch321 forciert.322 Polleschs Theater entwickelt eine Form theaterästhetischer „Begriffsarbeit“323. Theorien und Thesen etwa zum Themenkomplex ‚Selbstvermarktung/Selbstausbeutung/Selbstverwirklichung‘, wie er in der Heidi-Hoh-Serie oder der Prater-Trilogie mit dem ökonomischen Diskurs verhandelt wird, werden nach prägnanten Schlagworten und Gedanken durchstöbert, die, in der Art eines Leitmotivs, einen einzelnen Text ebenso wie Stückserien durchziehen. Zu beobachten ist mit Stefanie Dieckmann „ein geradezu obsessives Verhältnis zu einzelnen Wörtern, Wendungen, die dann buchstäblich groß geschrieben werden“ und mit denen ein „Theater der Lieblingsvokabeln“ entsteht.324 Einerseits tendieren die ausgewählten Worte dazu, sich zu verselbständigen, sich von den semantischen Kontexten und dem Sprechersubjekt abzulösen – ein Eindruck, der insbesondere in den geschrienen Textpassagen entsteht und der als postdramatischer Effekt zu bezeichnen wäre. Andererseits entfaltet sich das Potenzial der vereinzelten

320 Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns, S. 64. 321 Vgl. Bogusz: Institution und Utopie, S. 229. 322 Christian Schlösser macht in seiner Lektüre von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr zudem auf kommunikationsstrukturelle Analogien des Sprechtextes zu Chat- und Forumsauszügen aus dem Internet aufmerksam. (Vgl. Christian Schlösser: „Don’t know what I want, but I know how to get it“ Falk Richter bei MTV, René Pollesch im Chat, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale. Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 8-20, S. 18.) 323 Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen, S. 58. 324 Diekmann: Doing Statements, S. 180. Dazu gehöre, so Diekmann, dass Begriffe nach intensivem Gebrauch auch wieder ausrangiert würden.

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Worte, verschiedene Inhalte, Positionen und Perspektiven zu vernetzen. Die ausgeprägte Form der Reduktion abstrakter und oft nur für Experten nachvollziehbarer Gedankengänge – den Expertenstatus erlangt das Publikum auch durch wiederholten Besuch von PolleschAbenden – sowie das Verfahren der Repetition steigern vielleicht nicht zwingend die Verständlichkeit, so doch die Memorierbarkeit des Gesprochenen – aus Sicht des Schauspielers – und des Gehörten – aus Sicht des Rezipienten, was wiederum entweder die Attraktivität der Theorieverwertung erhöht oder Langeweile evoziert. Theatertext und Textperformance führen Versuche des Mitdenkens ad absurdum, indem sie das Sprechen als Denken in den Fokus rücken. Alexander Karschnia formuliert treffend: „Das ‚Ich-will-Euch-denken-hören!‘ ist der implizite Imperativ seiner Texte“.325 Das schnelle, pausenlose Sprechen der Schauspieler ist entsprechend, dem Anspruch nach, unaufhörliches Denken, das sich frei von jeder lenkenden Direktive der Regie in Szene setzen soll.326 Für Pollesch sind „denkende Schauspieler“, die nicht als „Ausführende“ auftreten, sondern auf der Bühne „das Denken brauchen“, konstitutiver Bestandteil und gleichermaßen Ausdruck einer „demokratischere[n] Arbeitsweise“.327 Der Einfühlung und Identifikation als Elemente einer Schauspielpraxis, die dem Repräsentationstheater zuarbeitet, stellt Polleschs Theater Rationalität und Selbstreflexion des Schauspielers entgegen, die nicht dazu dienen, wie etwa bei Brecht, eine Rolle zu zeigen, sondern sich in Auseinandersetzung mit Gedanken und Denkweisen, vorzugsweise aus dem Feld der Wissenschaft, selbst als Schauspieler, Künstler, Dienstleister, Frau oder Mann et cetera zu präsentieren. Das Denkmaterial gewinnen die Protagonisten des Spiels nach Diederichsen „in der Regel aus am Rande des akademischen Mainstreams in Kunst- und Gegenkulturverlagen publizierten Quellen“328. Darüber hinaus sind jedoch auch Bezüge zu etablierten Theoremen

325 Karschnia: Stadttheater als Beute, S. 189. 326 René Pollesch, Florian Malzacher, Haiko Pfost, Gesa Ziemer: „Wir sind ja oft so glücklich…“. Gespräch, in: René Pollesch: ZELTSAGA. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. v. Leonore Blievernicht, Berlin 2004, S. 180-187, S. 180. 327 Pollesch, Malzacher, Pfost, Ziemer: „Wir sind ja oft so glücklich…“, S. 183. 328 Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen, S. 58.

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von Bedeutung, beispielsweise solche von Michel Foucault oder Giorgio Agamben, Judith Butler oder Donna Haraway, die Pollesch in Kommentaren zu seinen Stücken zum Teil explizit zitiert329. In der Prater-Trilogie fungiert Gilles Deleuze als Referenzgröße; das von ihm in seiner Abhandlung Postskriptum über die Kontrollgesellschaften330 entworfene Gas-Modell wird, wie Norbert Otto Eke ausführt, als „Leitparadigma“331 installiert. Ohne dass der Name des Philosophen ausgesprochen wird332, kommt die Rede auf ihn: „Irgendjemand“, heißt es schon relativ zu Beginn von Stadt als Beute, „hat den fortschreitenden Aufbau dieser neuen Herrschaftsform HIER!, die in dich gestreut wird, also in MICH! Gas genannt, das die Körperlichkeit der Fabriken ablöst. WER WAR DAS NOCH? SCHEISSE!“ (SB 8) Der Urheber eines für die Selbstreflexionen der Figuren zentralen Gedankens wird hier erinnert und entzieht sich zugleich eines identifizierenden Zugriffs. Das Zitieren wird parodistisch als Geste ausgestellt und offengelegt wird die Diskursivität des Gesagten. Die Prater-Trilogie greift den Deleuze’schen Ansatz auf, die Transformation der Disziplinargesellschaften in Kontrollgesellschaften als wirtschaftspolitisch grundierten Wandel von Machttechnologien zu fassen, der sich in der Ablösung der ‚Körperlichkeit‘ der Fabrik durch die ‚Gasförmigkeit‘ des Unternehmens abzeichnet: „[I]n einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas.“333 Unternehmen korrelieren, wie Deleuze kritisch feststellt, mit einer Form des Kapitalismus, der „nicht mehr für

329 Vgl. z.B. im Interview Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina oder im Interview Pollesch, Malzacher, Pfost, Ziemer: „Wir sind ja oft so glücklich…“. 330 Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1996 [1993], S. 254-262. Der Text wurde zuerst 1990 in L’autre journal (Nr. 1) veröffentlicht. 331 Eke: Störsignale, S. 181. 332 Diese Feststellung leitet sich aus der Lektüre des schriftlich fixierten Textes ab. Diederichsen beschreibt folgende szenische Präsentation: „’Scheiß-Deleuze‘, brüllt hingegen Bernhard Schütz im ersten Teil der Prater-Trilogie, in Stadt als Beute“ (Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen, S. 61). 333 Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 256.

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die Produktion, sondern für das Produkt da“334 ist: „Zum Zentrum oder zur ‚Seele‘ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. […] Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle“.335 Deleuze wie auch Pollesch stellen die Frage, welche Macht die soziale Verfasstheit des Subjekts bedingt und welchen Mechanismen der Kontrolle dieses unterworfen ist, und sie stoßen dabei auf die Vorherrschaft ökonomischer Prinzipien und auf Formen der Subjektivierung. In ihrem je eigenen Medium – hier dem wissenschaftlichen Essay, dort der postdramatischen Theaterarbeit – geht es beiden darum, „Widerstandsformen“ gegen „die Etablierung und Konsolidierung einer neuen Herrschaftsform“ zu stimulieren.336 Bei der Theoremen- und Thesenauswahl, die Polleschs Theaterarbeit integriert, ist insgesamt zu beobachten, dass diese weniger dem wissenschaftlichen Status als vielmehr der Aktualität und Anschlussfähigkeit der Studien folgt. So sucht sich auch die Prater-Trilogie auf der „Höhe der jeweiligen Urbanisierungs-, Gender- oder CultureErkenntnisse“337 zu positionieren und setzt sie fort, was spätestens seit der Heidi-Hoh-Trilogie (UA 1999-2001) Polleschs Stückproduktion prägt: eine nachdrücklich akzentuierte Auseinandersetzung mit Arbeitsverhältnissen.338 Die Beschäftigung mit theoretischem Material zum jeweiligen Wissensfeld lässt sich vielfach konkret verfolgen, wenn Pollesch bestimmte Quellen seiner Texte benennt. Mittels des Transfers ins theatrale Feld parodiert er die Praxis des wissenschaftlichen Nachweises. Der Gestus des Zitierens findet sich in der zum Stücktitel gehörigen Autorenangabe wieder, die neben Pollesch die Verfasser der Referenztexte benennt. Auf diese Weise wird bereits auf der Ebene des schriftlich fixierten Textes, also jenseits der theatralen

334 Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 259. 335 Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 260. 336 Eke: Störsignale, S. 182f. 337 Franz Wille: Die Tücken des Subjekts. Ein Plädoyer für das bürgerliche Theater, in: Theater heute Jahrbuch (2002), S. 36-49, S. 47. 338 Anlässlich des Impulse-Festivals im Jahr 2000, bei dem Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr zu sehen ist, stellt Barbara Burckhardt fest: „Im weitesten Sinne gehören Polleschs schrille Science-Fiction-Scenarios aus einer komplett digitalisierten Welt thematisch in den Bereich der Angestelltenperformances, die sich kurioserweise im Freien Theater größter Beliebtheit erfreuen“ (Burckhardt: Freiheit, die ich meine, S. 31).

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Präsentation, das Moment der kollektiven, immer auch schon intertextuell angelegten Textproduktion offengelegt. Die paratextuellen Formulierungen nach dem Muster „von René Pollesch nach spaceLab“ bei Stadt als Beute oder „von René Pollesch nach Mae West“ bei SEX stellen gleichzeitig eine formalästhetische Analogie zu den seit der Jahrtausendwende zunehmend verbreiteten Theatralisierungen von Roman- oder Filmvorlagen339 her, die ebenfalls mit einer vervielfachten Autorschaft ausgewiesen werden, zumeist derjenigen des Prätextes sowie derjenigen der Bühnenbearbeitung, des Hypertextes im Sinne Genettes. Mit Blick auf die Abkehr von der dramatischen Textvorlage lässt sich die Hinwendung zum theoretischen Ausgangsmaterial mit der Aufnahme nichtdramatischer und auch nichtliterarisch gefasster Stoffe in die Theaterspielpläne parallelisieren. Hier wie dort wird die Diskussion um eine etwaige ‚Texttreue‘ durch das Spielmaterial und um den – vor allem im Fall von Filmadaptionen – vermeintlich deutlicher ausgestellten Medienwechsel sekundär, wo sie nicht gar gänzlich zurückgewiesen wird. Dabei dürfte für Polleschs Quellenauswahl das bei Theatralisierungen von Romanen und Filmen viel genannte Argument, dass die Bekanntheit und Popularität des adaptierten Materials – zu denken ist an literarische Klassiker wie Effi Briest und Buddenbrooks oder an gefeierte Filme wie Elling und Das Fest – die Erfolgswahrscheinlichkeit der Inszenierung erhöhe und damit auch die Einnahmen des Theaters gewährleiste340, nur sehr bedingt zutreffen. Darüber hinaus ist diese Form der Theaterstoffakquise aus Sicht des Pollesch’schen Theaterverständnisses dahingehend mit dem Nachspielen dramatischer Textvorlagen gleichzusetzen und mit diesem abzulehnen, als dass beide auf das Repräsentationstheater und dessen Rollenspiel abzielen. „Ich glaube nicht“, so hält Pollesch fest, „dass man heute noch in eine Subjektivität einsteigen kann, die vor zweihundert Jahren existierte. Kleist sah anders auf die Welt als wir. Will eine Schauspielerin heute eine seiner Figuren zum

339 Vgl. u.a. Peter Kümmel: Saison der Einsiedlerkrebse, in: Die Zeit, 9. September 2004, S. 49; sowie Christine Dössel: Im Prosarausch. Theaterregisseure entdecken die neue Freiheit und den „Sexiness“-Faktor. Romanvorlagen und die Adaption von Filmstoffen prägen die Uraufführungen der Saison, in: Süddeutsche Zeitung, 6. September 2004, S. 15. 340 Vgl. u.a. Wilhelm Roth: Spielplanstrategien, in: Die Deutsche Bühne 74 (2003) H. 11, S. 52.

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Leben erwecken, geht einer von beiden dabei drauf: Kleist oder die Schauspielerin. Da Kleist sowieso schon tot ist, kümmere ich mich lieber um die Schauspielerin.“341 Gleichwohl verwertet auch Pollesch Titel für seine Theatertexte, die mit den Titeln des Ausgangsmaterials weitestgehend identisch sind oder mindestens markante Worte übernehmen.342 Im Fall von Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels rekurriert der erste Teil des Titels auf den (bis auf einen vorangestellten Artikel) gleichnamigen Aufsatz343 von Brigitta Kuster und Renate Lorenz, der in der Zeitschrift Widersprüche erschienen ist und am Beispiel von sogenannten Boarding Houses das Verhältnis von Arbeit, Privatsphäre und Sexualität problematisiert. Mit der Angabe der konkreten wissenschaftlichen Vorlage wird darüber hinaus ein intertextueller Dialog fortgeführt, der in den Ausführungen von Kuster und Lorenz darin angelegt ist, dass sie Zitate aus Polleschs Theaterstück Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr integrieren. Im Sammelband Reproduktionskonten fälschen!, auf den die Herausgeberinnennamen in der Autorenangabe zu Insourcing des Zuhause – „von René Pollesch nach Lorenz, Kuster, Boudry“ (IZ 43) – als weiteres Ausgangsmaterial des Stücks hindeuten, sind seinerseits drei Folgen der Heidi-Hoh-Serie abgedruckt. Das Stück Insourcing des Zuhause präsentiert sich als Bestandteil eines weit reichenden Text-Netzwerks, das über die Texte des Autors Pollesch hinausreicht. Der Prozess der Materialaneignung selbst wird durch das für Polleschs Ästhetik zentrale Moment der Selbstbezüglichkeit geprägt. Dass die Pollesch-Titel in Schleifen des Selbstzitats auftreten, zeigt auch ein Blick auf den Stücktext. Die titelgebende Phrase „Insourcing des Zu-

341 René Pollesch, Armin Petras, Jürgen Berger: Erlaubt ist, was zerfällt. Wo endet die Freiheit des Regietheaters? René Pollesch und Armin Petras, beide Autoren und Regisseure, müssten es wissen – ein Streitgespräch, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2005, S. 12. 342 Zur Bedeutung und Funktion des Titels aus Produzentensicht vgl. das Gespräch von Jochen Becker u.a.: Das Material fragt zurück. Ein Gespräch zwischen Jochen Becker, Walther Jahn, Brigitta Kuster, Stephan Lanz, Isabell Lorey, Katja Reichard, Bettina Masuch und René Pollesch, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 221-236, S. 224f. 343 Brigitta Kuster, Renate Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, in: Widersprüche 20 (2000) H. 78, S. 13-26.

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hause“ kehrt in variierenden Satzkonstruktionen und Sinnzusammenhängen in der Figurenrede wieder (IZ 43, 48, 51), zudem wird auch das der Trilogie übergeordnete Spielzeitmotto „Wohnfront 2001“ zitiert (IZ 65).344 Ein intertextuell verbundenes Ensemble bildet der Stücktitel Insourcing des Zuhause schließlich mit den Titeln der Trilogie. Die Vokabeln ‚Zuhause‘ und ‚Hotel‘ gehen Assoziationen mit ‚Stadt‘ und ‚Sex‘, den Titelworten des ersten und des letzten Teils der Trilogie, ein. Die Titel-Schlagworte indizieren auf den ersten Blick eine die Trilogie durchziehende, sukzessive Fokussierung vom öffentlichen Raum auf die Privatsphäre, von der Weitläufigkeit der Stadt hin zur sexuellen Intimität, in einer Art filmischer Ranfahrt. Diese Erwartungshaltung wird jedoch in den Texten unterlaufen: Das zentrale Thema der PraterTrilogie ist die Diffusion von Öffentlichkeit und Intimität, die Entgrenzung345 von Arbeitsplatz und Zuhause, unter dem Vorzeichen einer umfassenden Ökonomisierung aller, immer auch geschlechtlich codierten, Lebensbereiche. In Insourcing des Zuhause heißt es entsprechend und aus der Perspektive einer Verlusterfahrung: „Da war doch mal mehr als diese flüssigen Übergänge von Wohnen und Arbeiten und Sex und einem Unternehmen, oder weniger. ICH WEISS DAS NICHT MEHR SO GENAU! Aber in mir geht plötzlich alles ineinander über. In dieser SCHEISSE HIER GEHT ALLES INEINANDER ÜBER!“ (IZ 54) Die Figurenrede thematisiert hier eine individuelle (Selbst-)Beobachtung und formuliert zugleich das poetologische Prinzip des Theatertextes, in dem es nicht um scharfe Abgrenzungen im Sinne wissenschaftlicher Genauigkeit geht, sondern um die Reflexion auf Lebensumstände im Zeichen von Individualisierung und Globalisierung.

344 In Stadt als Beute verweist der Ausspruch einer Figur „Stadt ist Beute“ auf den Stücktitel (SB 6) und wird mit dem Ausruf „Ich hab dich in den World Wide Web-Slums gesucht, du Hure“ (SB 12) expressis verbis ein vorausgehendes Pollesch-Stück zitiert. 345 Vgl. u.a. Heiner Minssen (Hg.): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000. Aus Perspektive der Geschlechterforschung vgl. Arlie Russell Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, mit einer Einführung v. Mechthild Oechsle, 2. Aufl., Wiesbaden 2006 [2002] (Geschlecht und Gesellschaft, 29).

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Der Titel Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels legt den Rückgriff auf den Wissenschaftsdiskurs offen und stellt ihn in der Art einer Kontrafaktur zugleich mit parodistischen Effekten aus, indem er den fremdsprachigen Fachterminus – „Insourcing“ – mit einem emotional aufgeladenen, umgangssprachlichen Ausdruck – „ScheissHotels“ – kontrastiert. Der Paratext illustriert damit in nuce das Verfahren, das für die Pollesch’schen Theatertexte charakteristisch ist, nämlich die Montage von Disparatem. Die Stücke verknüpfen, wie es der Theaterkritiker Franz Wille beschreibt, „das faustische Streben des Bürgers, seinen unendlichen Wissensdurst und Forscherdrang einerseits und den Couch-Potatoe in ihm, die Lust an der täglich mehrstündigen Fernsehspannung angesichts jederzeit durchschautem, billigsten [sic!] Schrott andererseits“346. Oder kürzer formuliert: Polleschs Theaterästhetik kombiniert „Talkshow und Advanced Studies“347. Mit der Integration von wissenschaftlicher Terminologie und abstrakten Gedankengängen korrespondieren der Gebrauch von Umgangsprache und die Anspielungen auf Produkte der sogenannten Unterhaltungskultur. In Insourcing des Zuhause fungieren die Schlagworte „John Wayne“ und „Warner Brothers“ (IZ 60), „Norman Bates“ (IZ 67) und „,Psycho‘“ (IZ 69), „Twentyfive Twentyfive“ und „Kuberick“ (IZ 71) als Anknüpfungspunkte an durch den alltäglichen Medienkonsum bestimmte Wissensfelder.348 Der Einsatz der theatralen Mittel, der, wie oben bereits angesprochen, dem Tempo und den Strukturen zeitgenössischer Medienkulturen folgt, findet im Namedropping von populären Personen und medialen Ereignissen sein inhaltliches Pendant. Die zu beobachtende Hybridisierung von Alltagskultur und Expertenwissen zeitigt ironisierende Effekte und legt die Schlussfolgerung nahe, dass die theatrale Auseinandersetzung mit Erkenntnissen aus dem Feld der Wissenschaften ihren Zweck nicht allein darin findet, Spielmaterial für

346 Wille: Die Tücken des Subjekts, S. 47. 347 Wille: Die Tücken des Subjekts, S. 47. 348 Vgl. zu Filmzitaten (Psycho, Apokalypse Now), Videoeinspielungen und „travestierte[r] Filmszene“ zum Thema ‚Krieg‘ in Insourcing des Zuhause den Aufsatz von Birgit Lengers: Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 143-155, S. 147.

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einen einmaligen Theaterabend bereitzustellen. Vielmehr fällt der Akzent, nicht zuletzt mittels der Soap- und Serienstruktur der Stücke, auf die Anbindung an das tägliche Leben und die Wiederholung nicht nur im Theaterraum. Polleschs Theaterästhetik zielt, so ließe sich pointiert sagen, auf den Gebrauchswert von Theorie ab. Das „Ausprobieren“ theoretischer Ansätze kommt einer Profanierung gleich, die den elitären und autoritären Status von Theorie infrage stellt.349 Der Versuch, den „Alltag mit Theorie zu bearbeiten“350, koinzidiert in Polleschs Theaterarbeit mit dem Anspruch, sich „selbst öffentlich zu bearbeiten“351. Die Auswahl des Textmaterials, das der Theaterabend aufarbeitet, folgt nach Polleschs Aussage dem Anspruch, dass der Text „etwas“ mit ihm selbst und mit den Schauspielern „zu tun hat“352. Diese Verknüpfung von ausgestellter Selbstreflexion und Theorieadaption prägt die Gestalt ebenso wie die szenische Präsentation des Theatertextes. Die im Stückabdruck von Insourcing des Zuhause ausgewiesene dialogische Form der Figurenrede löst sich im Theaterspiel zwar in einer mehrdeutigen Adressierung – an sich selbst, an die andere Schauspielerin oder das Publikum – auf. Dennoch lässt sich die Aufteilung des Textes auf individuelle Sprecherinnen als gelingender oder misslingender Versuch eines Ichs verstehen, sich verschiedene im Gestus des Wissenschaftlichen verfasste Gedanken, Thesen und Argumentationen anzueignen oder diese auf ein Ich zu beziehen. Sprache wird in diesem Sinne zum Instrument, Theorie auf sich selbst anzuwenden, wie auch zum Ausdruck dessen. In Wortwahl, Syntax und Performance des Theatertextes manifestiert sich eine Spannung zwischen objektiver, sachlicher und abstrakter Aussage einerseits und subjektiver, emotionaler und konkreter Äußerung andererseits. Die Verbindung zwischen dritter Person im Sachtext und erster Person der Schauspielerin ist „nicht nahtlos“.353 Doch folgt die Korrelation von wissenschaftlicher Distanzierung und persönlicher Betroffenheit der in Polleschs Theaterarbeit zentralen Strategie der Hybridisierung. Diese Beobachtung soll im Folgenden anhand zweier zentraler Aspekte des

349 Vgl. Pollesch, Malzacher, Pfost, Ziemer: „Wir sind ja oft so glücklich…“, S. 185. 350 Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina, S. 200. 351 Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina, S. 197. 352 Becker u.a.: Das Material fragt zurück, S. 227. 353 Roselt: In Ausnahmezuständen, S. 172.

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in der Prater-Trilogie verhandelten ökonomischen Diskurses erörtert werden. Es sind zum einen die Vorstellung der ‚unternehmerischen Arbeitskraft‘ und zum anderen die eng damit verbundene Aufforderung zur ‚Arbeit an sich‘, die Polleschs Stücke nicht zuletzt im Horizont künstlerischen Selbstverständnisses diskutieren. Denn aus Polleschs Sicht ist es gerade die Institution des Theaters, an der selbstausbeuterische Arbeitsweisen und Arbeitsverhältnisse durch das Credo der künstlerischen „Selbstverwirklichung“ negiert und „irrsinnig verdeckt“ werden.354 „Die Frage ist“, so formuliert der Theatermacher im Interview, „woher kommt diese willentliche Anerkennung der Selbstausbeutung, wie sie eher für künstlerische Berufe typisch war. Und wer beaufsichtigt die? Man ist sein eigener Unternehmer und Einpeitscher.“355 5.5.3 Arbeit an sich: Unternehmerische und künstlerische Potenziale des Individuums Mit dem Begriff ‚Unternehmen‘ wird eine von zahlreichen Schlagwortketten zwischen den Stücken der Prater-Trilogie geknüpft. Das Wort markiert eine Perspektive, unter der die Figuren als Akteure innerhalb eines nach ökonomischen Prinzipien organisierten Netzwerks sichtbar werden. Es knüpft gleichermaßen das Netz, in dem sich die Selbstäußerungen der Sprecher bewegen und verfangen. Einen ebenso speziellen wie aussagekräftigen Knotenpunkt bildet dabei die gegenseitige Anrede, wie das folgende Beispiel aus Stadt als Beute zeigen kann: Die vier fiktiven Personen A(strid Meyerfeldt), B(ernhard Schütz), F(abian Hinrichs) und P(hilipp Hochmair) sprechen sich nicht nur mit „du Hure“ (SB 12), „du Scheiss-Freier“ (SB 19) oder „DU STÜCK SCHEISSE“ (SB 29) an, sondern auch mit „du Dienstleistungsunternehmen“ (SB 13), „du postfordistisches Unternehmen!“ (SB 19) oder „du SCHEISS-UNTERNEHMEN“ (SB 28). Indem in der Figurenrede der fachsprachliche Terminus ‚Unternehmen‘ mit vulgärsprachlichen und soziolektalen Anredeformen parallelisiert und in den Kontext einer Hate-Speech gesetzt wird, erhält er erstens eine emotionale Färbung, die in Richtung Aggressivität und Diffamation weist,

354 Pollesch, Malzacher, Pfost, Ziemer: „Wir sind ja oft so glücklich…“, S. 181. 355 Pollesch, Dürrschmidt, Irmer: Verkaufe dein Subjekt!, S. 6.

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und erfährt darin eine Bewertung. Zweitens dient nicht die Bezeichnung ‚Unternehmer‘, sondern ein abstrakter Begriff, der „in allgemeiner Weise die wirtschaftliche Seite, in spezieller die rechtliche Selbstständigkeit einer an Gewinn orientierten (Wirschafts-)Organisation“356 erfasst, als sprachliches Mittel der expliziten Personencharakterisierung. Es kann hierbei von einer Inversion der Personifikation gesprochen werden, von der eine irritierende, wenn nicht sogar komische Wirkung ausgeht. Die Anrede lässt sich drittens als eine Anrufung im Sinne Louis Althussers357 verstehen, in der sich das Subjekt konstituiert und sich zugleich in seiner gesellschaftlichen, hier: ökonomischen, Bedingtheit zeigt. Ulrich Bröckling spricht explizit von der „unternehmerischen Anrufung“358: Sie bedeutet die Konfrontation des Individuums mit dem „Imperativ, in allen Lagen unternehmerisch zu handeln“, und mit der „Aufforderung, das eigene Tun und Lassen konsequent entsprechend den Markterfordernissen zu funktionalisieren“.359 Viertens schließlich ruft die Anrede einer Person als ‚Unternehmen‘ Assoziationen an populär gewordene Ausdrücke wie ‚Ein-Mann-Unternehmen‘ beziehungsweise ‚Eine-Frau-Unternehmen‘ oder ‚IchAG‘360 auf. Sie parodiert die im zeitdiagnostischen Arbeitsdiskurs verhandelte These vom ‚unternehmerischen Selbst‘, das, wie Ulrich Bröckling ausführt, „für ein Bündel aus Deutungsschemata [steht], mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr

356 Detlef Krause: [Artikel] ‚Unternehmen‘, in: Werner Fuchs-Heinritz u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, 4. grundlegend überarb. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 688. 357 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977, S. 108-153. 358 Ulrich Bröckling: Enthusiasten, Ironiker, Melancholiker. Vom Umgang mit der unternehmerischen Anrufung, in: Mittelweg 36 (2008) H. 4, S. 80-86. 359 Bröckling: Enthusiasten, Ironiker, Melancholiker, S. 82. 360 Thomas Gesterkamp: Riskiere dich selbst! Die gar nicht so erstaunliche Erfolgsgeschichte des Nonsens-Wortes „Ich-AG“, in: Karin Gottschall, Gerd-Günter Voß (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München, Mering 2003, S. 185-202.

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Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“361. Die im theatralen Spiel realisierte Ansprache einer Person als ‚Unternehmen‘ konkretisiert mithin einen operationalen (soziologischen) Begriff, der zeitgenössische Entwürfe von Subjektivität zu verbinden sucht. Sie macht das individuelle Gegenüber – in diesem Fall einen der vier Protagonisten A, B, F oder P – zum Gesicht einer anonymen Größe. Die Anredeform ‚Unternehmen‘ zeichnet vor, woran sich die Äußerungen des Subjekts, hier: bezüglich seines beruflichen Selbstentwurfs, messen lassen müssen und infolgedessen als (Lebens-)Lüge entlarvt werden können: B: Hier in diesen grundlegenden Veränderungen der Lebensverhältnisse sind herkömmliche Berufsbilder hinfällig geworden. Was war denn dein Berufsbild? Du Hure? A: Und jetzt zähl nicht wieder alle bürgerlichen Subjektpositionen auf, du postfordistisches Unternehmen! Diese Scheiss-Berufe, von denen du mir immer erzählst, und die du angeblich hast, die gibt es gar nicht. Dieses imaginierte Leben! (SB 19)

Die wechselseitig von den Figuren eingesetzte Anrede als ‚Unternehmen‘ bedeutet beides: Identifikationsangebot und festlegende Zuschreibung. Im verbalen Schlagabtausch der Figuren tritt sukzessive zutage, welche Eigenschaften und Fähigkeiten ein als ‚Unternehmen‘ Angesprochener besitzt, aber auch welchen Pflichten und Zwängen er unterliegt. Auffälligerweise bezeichnen sich die Figuren in der Regel nicht selbst als ‚Unternehmen‘ – also etwa in der Art: „ich als Unternehmen verfolge das Ziel …“ –, sondern reagieren nur positiv anerkennend auf Adressierungen: „A: DU HAST SO EIN SCHÖNES UNTERNEHMEN! // P: Ja, ich WEISS!“ (SB 20) Oder: „F: […] DU SCHEISS BEUTE! ICH LIEBE DICH! DU HANDELST WIE EIN UNTERNEHMEN, AUS LAUTER LIEBE ZU MIR! // P: HALT’S MAUL! JA DAS TU ICH!“ (SB 28) Die Figuren spiegeln dem anderen, was ihn als ‚Unternehmen‘ auszeichnet und was ihn zum Unternehmen macht, wodurch sie implizit auch ihre eigene Position beschreiben. Das ‚du‘ der Fremdzuweisung lässt sich auch reflexiv als distanzierender Modus der Selbstdarstellung verstehen. Und weiter

361 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 7.

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noch kann anstelle des ‚du‘ wiederholt auch das verallgemeinernde ‚man‘ stehen, ohne den Fortlauf des Wortwechsels zu stören oder semantische Anschlüsse zu irritieren. Die appellativen Äußerungen werden bisweilen auf ihre normalisierenden Kräfte hin transparent. In SEX, dem letzten Teil der Trilogie, stellen C(aroline Peters), I(nga Busch) und S(ophie Rois) ihre Lage wie folgt dar: I: Ja, gut, wir verkaufen uns, und die Arbeit an uns, folgt den Durchsagen des Kapitals. S: Die Arbeit an dir selbst ist ein Fulltime-Job und den übernehmen jetzt Unternehmen! I: Die Arbeit an MIR SELBST! C: Die Arbeit an deiner SUBJEKTIVITÄT IST EIN SCHEISS-JOB! S: Und den machen jetzt Erlebnisunternehmen! I: Du arbeitest so viel an deinem Scheiss-Unternehmen, die Arbeit an dir ist so ein SCHEISS-JOB! Und ich wünsche dir so, dass sich irgendjemand dafür interessiert für deine nette Geschäftsidee, einfach nur du selbst zu sein! Momentmal, ja, die Unternehmen, die dir diese Arbeit abnehmen, die interessieren sich für dich! UND ICH! Ich liebe dich, ich interessiere mich für dein ScheissUnternehmen! C: Das was du bist ist Arbeit! DAS HIER! I: Was du hier siehst ist ARBEIT! C: Und die INTERESSIERT MICH SO! (SEX 152)

Die Arbeit wird in diesem Wortwechsel als Arbeit an sich identifiziert. Mit anderen Worten, die arbeitende Person ist selbst Gegenstand ihrer Arbeit, dem Arbeitsverhältnis liegt mithin eine rekursive Struktur362 zugrunde. Das Arbeitssubjekt bleibt bei und mit seiner Arbeit auf sich selbst verwiesen und die Arbeit wird zum ausschließlichen Identifikationsangebot: „Das was du bist ist Arbeit!“ Dabei deutet die zirkelhafte Ordnung der Arbeit an sich auf einen aporetischen Zusammenhang hin hin, wie er von Niklas Luhmann im Rahmen einer gesteigerten Individualisierung ausgemacht wird: „Dem Individuum wird jetzt zugemutet, sich durch Bezug auf seine Individualität zu identifizieren, und das kann nur heißen: durch Bezug auf das, was es von allen anderen unter-

362 Vgl. Stefan Rieger: Arbeit an sich. Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: Ulrich Bröckling, Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002 (Literatur und Anthropologie, 15), S. 79-96.

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scheidet. […] Dem Individuum wird zugemutet, in Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung auf seine Individualität zur rekurrieren.“363 Die Unterbrechung des Kreises der Selbstbezüglichkeit wird in der Aussage der Figur I thematisch, die den Wunsch ausspricht, „dass sich irgendjemand dafür interessiert für deine nette Geschäftsidee, einfach nur du selbst zu sein“. Zur Sprache kommt darin der wertstiftende Aspekt der Anerkennung von Arbeit durch andere, unter dem in einer Arbeitsgesellschaft364 nicht allein der soziale Rang, sondern grundsätzlicher die soziale Zugehörigkeit einer Person verhandelt wird.365 Welche Arbeit Anerkennung erhält, und das heißt standardmäßig: welche Tätigkeiten als ökonomische Arbeit gelten, „in dem Sinne, dass sie ökonomische Anerkennung verdienen“366, ist mithin eine der zentralen Fragen, die das Wortgefecht um die zentrale Phrase „Arbeit an sich“ aufwirft. Eine Dimension, in der sie im Fortlauf der Prater-Trilogie entwickelt und konkretisiert wird, bildet die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die entlang der Oppositionen immateriell/materiell, öffentlich/privat und hoher Status/niedriger Status der Figurenrede thematisch wird. Als virulentes Paradoxon inszeniert der Theatertext Insourcing des Zuhause entsprechend die Forderung „ECHT UND BEZAHLT“ (z.B. IZ 46). Hierauf geht das nächste Kapitel detaillierter ein. Die Rede von der „Arbeit an sich“ stellt exemplarisch nur ein, allerdings zentrales, Merkmal des in der Prater-Trilogie aktualisierten Unternehmerdiskurses vor Augen. Ihr Gravitationszentrum bildet die

363 Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, 3. Aufl., Frankfurt/Main 2004 [1993], S. 149-258, S. 215. 364 Hermann Kambartel definiert ‚Arbeitsgesellschaft‘ in Abhängigkeit von Anerkennungsstrukturen: Es gehe um „Anerkennung durch Arbeit“ und „Anerkennung der Arbeit“ (Friedrich Kambartel: Unterscheidungen und normative Bemerkungen zum Grundrecht auf Arbeit, in: Hermann Holzhüter, Rudolf Hickel, Thomas Kieselbach (Hg.): Arbeit und Arbeitslosigkeit. Die gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit, Bremen 1997, S. 223-226, S. 223). 365 Vgl. Angelika Krebs: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 2002, S. 199. 366 Krebs: Arbeit und Liebe, S. 28.

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Dynamik eines steten Selbstbezugs, die sich in Polleschs Bearbeitungen in Begriffen wie „Selbstverwirklichung“ (u.a. SEX 140), „Selbstmanagement“ (u.a. SB 13), „Selbstpräsentation“ (u.a. IZ 45) oder „Selbsttechnologie“ (u.a. IZ 71) entlädt. Die laut geäußerten Reflexionen der Figuren zu ihrer privaten und beruflichen Lebenssituation gewinnen vor dem Hintergrund einer gesteigerten Selbstbezüglichkeit Kontur. Dabei bleibt die Frage nach den damit verbundenen psychologischen Dispositionen der jeweiligen Akteure, also etwa Eitelkeit, Egozentrik oder Egomanie als personalisierende Charaktereigenschaften, sekundär. Bedeutender scheint vielmehr, was aus dem subjektivistischen Blickwinkel an anschlussfähigen Themen des Alltags in den Blick kommt, und wie sich die explizit thematisierte Selbstbezüglichkeit mit der Performance der Schauspielerinnen verknüpft. Selbstreferenzialität wird als performative Größe fassbar: „Arbeit an sich“ ist auch die Textarbeit der Schauspieler, die in Polleschs ästhetischem Kosmos vor allem als eine Arbeit an der eigenen physischen Ausdauer und Belastbarkeit sowie dem Vermögen, Text zu produzieren und hervorzubringen, zu greifen ist. Es ist eben diese Tätigkeit der Schauspieler, für die sie Anerkennung in Form monetärer Gegenleistung erhalten, also entlohnt werden. Die Arbeit des Künstlers und mit ihr die ökonomischen Zusammenhänge, in denen die Theaterarbeit steht, bilden in Polleschs Stücken wiederkehrend den Dreh- und Angelpunkt im szenischen Arrangement wie auch im Text. Dass es sich bei den Schauspielerinnen um Dienstleisterinnen handelt, wird beispielsweise in der kostümbildnerischen Gestaltung in Polleschs Tod eines Praktikanten (UA 2007) zum Thema: Auf ansonsten gleichen Brautkleidern ist die jeweilige, voneinander abweichende Tagesgage der Schauspielerinnen aufgedruckt und damit der „Bezug zur Existenzform der Darstellerin außerhalb des Dargestellten ins Spiel“ gebracht.367 In den Blick kommt damit , das „Theater als Verwertungsbetrieb“368. Das selbstreflexive Spiel mit den eigenen Lebensbedingungen spiegelt jenes Element des Arbeitsdiskurses, das den Künstler – als „culturepreneur“ (Davis/Ford)369 – im Zuge des aufkommenden Diskurses über die sogenannte Kreativwirtschaft (Creative In-

367 Annuß: Tatort Theater, S. 30. 368 Annuß: Tatort Theater, S. 31. 369 Anthony Davies, Simon Ford: Art Futures, in: Art Monthly 223 (1999) H. 2, S. 9-11.

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dustries)370 zum Leitbild des unternehmerisch handelnden Arbeitssubjekts erhebt: Projektarbeit, zwischenbetriebliche Mobilität, die Zusammenstellung der Belegschaften aus eher festen und eher locker angebundenen Mitarbeitern, starke Eigenverantwortung der Arbeitnehmer für ihre Beschäftigungsfähigkeit (employability) in der Zukunft sowie eine hohe Identifikation mit dem Beruf zeichnen zunehmend nicht nur die Arbeitswelt Theater aus, sondern auch andere Branchen, etwa Medien, Beratung oder Informationstechnologie. Vormals künstlerische Anforderungen nach Autonomie, Kreativität und Authentizität wurden in die Personalpolitik vieler Unternehmen integriert […].371

Umgekehrt sehen sich Kreativarbeiter angesichts einer vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsweise, die sie zum Vorbild erhebt, gerade in ökonomischer Hinsicht vielfach benachteiligt und befinden sich in prekären Lebensverhältnissen, wie kritische Stimmen und empirische Untersuchungen betonen.372 Indem Polleschs Theaterabend die Schauspielerinnen als Kulturdienstleisterinnen und ihre Tätigkeit als Lohnarbeit zeigt, macht er die widersprüchliche Lage der „Kreativen“ sichtbar. Die Fusion unternehmerischer und künstlerischer Lebens- und Arbeitsformen kommt in der Ausstattung des Pollesch’schen Bühnen-

370 Vgl. Richard Floridas umstrittene Publikation The Rise of the Creative Class (2002). Marion von Osten fragt kritisch, „ob es die sogenannten ‚Creative Industries‘ bereits gibt oder ob wir nicht eher ein Feld politischer Visionen betrachten, die zwar den kulturellen Sektor in jeder Hinsicht privatisieren wollen, es aber noch nicht zu Wege gebracht haben, eine Industrie als solche zu errichten.“ (Marion von Osten: Unberechenbare Ausgänge, in: Kreativen:Wirkung. Urbane Kultur, Wissensökonomie und Stadtpolitik, hg. v. der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2008 (Schriften zu Bildung und Kultur, 2), S. 42-47, S. 42.) 371 Doris Eikhof, Axel Haunschild: Die Arbeitskraft-Unternehmer. Arbeitsverhältnisse im Theater – ein Forschungsbericht, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 4-11, S. 6. 372 Vgl. z.B. Alexandra Manske: Prekarisierung auf hohem Niveau oder: Kreativarbeit als Risikolage, in: Kreativen:Wirkung. Urbane Kultur, Wissensökonomie und Stadtpolitik, hg. v. der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2008 (Schriften zu Bildung und Kultur, 2), S. 48-52.

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szenarios zur Anschauung, aber auch im Theatertext zur Sprache. In Stadt als Beute wird die Entdifferenzierung der Leitbilder ‚Unternehmer‘ und ‚Künstler‘ wie folgt problematisiert: „Die Forderungen nach Autonomie sind Bestandteil des flexiblen Arbeitsmarktes geworden. Und warum sollte ich da noch Autonomie FORDERN?! Warum sollte irgendwer jemals noch Autonomie fordern, wenn die durch die flüssigen Durchsagen, die deine entschlüsselte DNS ist, nur der Logik des Kapitals folgt“ (SB 19). Dieser Aussage zufolge bemächtigt sich die mit Zwängen und Fremdbestimmtheit assoziierte kapitalistische Organisation von Arbeit der antikapitalistischen Kritik, die sich unter anderem mit der Forderung nach Autonomie positioniert. Die kritische Überlegung lässt sich mit der sozialwissenschaftlichen Darstellung von Luc Boltanski und Ève Chiapello in Zusammenhang bringen, die das Wiedererstarken des Kapitalismus nach 1968 und die Etablierung eines „neuen Geistes des Kapitalismus“, wie sie es nennen373, mit seiner Anpassung an die „künstlerische Kritik“ erklärt.374 „Wir sehen […] einen Teil der Veränderungen des Kapitalismus seit 1968“, so der Soziologe und die Wirtschaftswissenschaftlerin, „als eine besondere Aneignung der ‚künstlerischen Kritik‘ und ihrer Forderung nach mehr Autonomie, Kreativität, nach authentischen Beziehungen zwischen den Personen etc. […] Die Forderung nach Autonomie wurde in die neuen Unternehmensstrategien integriert.“375 Der von Polleschs Figur beobachtete Differenzverlust zwischen Kritik und Affirmation, zwischen Heteronomie und Autonomie, ist seinerseits so formuliert, dass die Verflochtenheit einzelner Phänomene und Prozesse der Ökonomisierung auch rhetorisch, mit Mitteln der Verdichtung und Verschränkung, nämlich mittels der Verschachtelung von Relativsätzen oder der Wiederholung von Phrasen („Autonomie fordern“), offengelegt wird. In dichter Folge aufgereiht stehen Schlagworte unterschiedlicher disziplinärer Provenienz: „Flexibilität“ und „Autonomie“ verweisen auf Dispositionen eines handlungsmächtigen

373 Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen übers. v. Michael Tillmann, mit einem Nachwort v. Franz Schultheis, Konstanz 2006. 374 Luc Boltanski, Ève Chiapello: Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001) H. 4, S. 459-477, S. 468f. 375 Boltanski, Chiapello: Die Rolle der Kritik, S. 468f.

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Subjekts, „Arbeitsmarkt“ und „Kapital“ vergegenwärtigen ökonomische Strukturen, „flüssige Durchsagen“ dient als Metapher der Selbstregierung und „entschlüsselte DNS“ steht als Platzhalter für ein Element aktueller Biomacht im Sinne Foucaults. Die rhetorischen Mittel der Verknüpfung lassen die Differenzen und Disparatheiten der Phänomene, Strukturen und Ereignisse im Licht einer umfassenden Orientierungslosigkeit erscheinen, in dem Sinne dass sich die Anforderungen an das Subjekt nicht mehr isolierbaren Situationen oder Lebensbereichen zuordnen lassen: Die Arbeitnehmerin hat ebenso flexibel zu sein wie die Mutter oder die Freundin. Einerseits zitiert der Theatertext auf diese Weise den Topos der Unübersichtlichkeit und Hyperkomplexität von Globalisierung.376 Andererseits jedoch führen der Text und seine Performance vor, dass die grenzüberschreitende Vernetzung von sozialen Beziehungen, ökonomischen Verhältnissen und politischen Ereignissen durchaus ein Profil, eine theaterästhetische Gestalt gewinnen kann. An anderer Stelle in der Prater-Trilogie, genauer: in SEX, wird die Fusion von künstlerischen und unternehmerischen Strategien und Zielen auf die Opposition von Affirmation und Revolution hin zugespitzt: Ein Kind, das in einer Welt des „neueste[n] Kapitalismus“ sozialisiert wird, habe, so heißt es in dem Wortwechsel zwischen C, S und I, „ein Querdenker“ und „ein Revoluzzer“ zu sein, „denn das brauchen die Unternehmen, Leute die IRGENDWIE ANDERS DENKEN“ (SEX 153). Zugleich werde von dem Heranwachsenden allerdings „Gehorsam gegenüber den Neuen Märkten“ erwartet, deren „Rohstoffe“ aus „Flexibilisierung, Gefühle[n] und linke[n], progressive[n] Positionen und sowas“ bestehen (SEX 153). Die Aussagen reflektieren Anforderungsprofile an unternehmerisch denkende und handelnde Arbeitskräfte, wie sie in vielzähliger Management- und Ratgeberliteratur präsentiert werden. Als ein solcher Intertext zu Polleschs Prater-Trilogie kann das Buch Das revolutionäre Unternehmen. Wer Regeln bricht, gewinnt des amerikanischen Managementexperten Gary Hamel, Professor an der Harvard Business School, angeführt werden.377 Hier fin-

376 Zur „verdichtete[n] Darstellung“ von Globalisierung in Polleschs Zeltsaga-Trilogie vgl. Sieg: Kunst in der Suppenküche des Kapitals, S. 25. 377 Vgl. Polleschs Hinweis auf den Titel in dem Interview: Pollesch, Dürrschmidt, Irmer: Verkaufe dein Subjekt!, S. 6.

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den sich Aufforderungen wie „Los, revoltieren Sie!“378, die Auflistung von „Werte[n] eines Aktivisten“, die da wären: „Ehrlichkeit“, „Mitgefühl“, „Demut“, „Pragmatismus“ und „Furchtlosigkeit“379 sowie Ratschläge wie der folgende: „Sie können kein Revolutionär sein, wenn Sie keinen revolutionären Standpunkt einnehmen. Und diesen Standpunkt können Sie nicht bei irgendeinem langweiligen Beratungsunternehmen kaufen. Ebenso wenig können Sie ihn sich aus irgendeinem Rent-a-Guru-Angebot ausleihen. Sie müssen Ihr eigener Visionär, Ihr eigener Guru und Ihr eigener Zukunftsgestalter werden.“380 Während bei Karl Marx und Friedrich Engels die Revolution gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse gerichtet war, argumentiert Hamel mit der Revolutionsmetapher „in deren Namen gegen die hierarchische Organisationsform und die bürokratische Verwaltung“381 und für das flexible Arbeitssubjekt. Im Managementdiskurs haben Leitbilder der Bürokratie und des Militärs ausgedient und die Revolution avanciert zur „Generalchiffre für Transformationen jeglicher Art“382. Die Assoziation der Unternehmensthematik mit dem Aspekt des Revolutionären findet sich vor allem im dritten Teil von Polleschs Trilogie, wo die Revolution nicht nur als Strukturmoment betrachtet, sondern auch als historisches Ereignis erinnert wird: „Sex, das hatte doch mal was mit Revolution zu tun, aber das war in den Dingsdas … oder auch nicht. Der Sex da hatte vielleicht gar nichts mit Revolution zu tun, sondern war nur eine Abschiedsorgie oder Drogenexperiment, um fit zu sein für die flexibilisierten Märkte. Um fit zu werden für die Arbeit an mir“ (SEX 158). Die Liaison von Sex und Revolution in den End-1960er und 1970er Jahren wird unter die gegenwärtige Perspektive einer umfassenden Ökonomisierung gestellt, indem Sex und Revolution als biopolitische Instrumente eines am Selbstunternehmer interessierten Marktes betrachtet werden. Der Begriff der Revolution, wie ihn die angeführten Repliken aufgreifen, eignet sich im gegenwärtigen Gebrauch nicht mehr dazu, Widerständigkeit und Ansprüche eines

378 Gary Hamel: Das revolutionäre Unternehmen. Wer die Regeln bricht, gewinnt, aus dem Amerikanischen übers. v. Anita Krätzer, München 2000, S. 217. 379 Hamel: Das revolutionäre Unternehmen, S. 238. 380 Hamel: Das revolutionäre Unternehmen, S. 145. 381 Opitz: Gouvernementalität im Postfordismus, S. 117. 382 Opitz: Gouvernementalität im Postfordismus, S. 117.

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Andersseins zum Ausdruck zu bringen, insofern Bereitschaft und Fähigkeit zur Revolution zum normalisierten Erwartungs- und Leistungskatalog nicht nur im Bereich der Arbeit, sondern auch des Privatlebens avanciert sind. „Kindergeburtstagsparty“ (SEX 153), „revolutionäre Events“ (SEX 153) und „Bordell“ (SEX 154) werden gleichermaßen zu Orten, an denen sich das unternehmerische Selbst zu beweisen hat. Der Theatertext SEX problematisiert mithin die paradoxe Struktur der sich in Selbsttechnologien manifestierenden Anforderungen an das Arbeitssubjekt, die in der Auflehnung die Anpassung und in der Affirmation die Subversion verfolgen.383 Gründet das Arbeitsverständnis aus neoliberaler Sicht – und dieses steht bei Pollesch zur Disposition – auf der Vorstellung der ‚Arbeit an sich‘, so geht damit als Attribut der Arbeit die Omnipräsenz einher, die sich insbesondere in zeitlicher und räumlicher Dimension bemessen lässt. Wer dazu aufgefordert ist, sich selbst zu rationalisieren und zu optimieren, um in der Konkurrenz um ökonomisches wie auch symbolisches Kapital bestehen zu können, für den wird die Trennung von Arbeits- und Privatleben obsolet oder zur Herausforderung. Diesen Konflikt beleuchtet eine Vielzahl von Polleschs Stücken, darunter auch der Prater-Trilogie vorangehende Texte, am prominentesten die Heidi-Hoh-Serie. Am Beispiel des zweiten Teils der Prater-Trilogie, dem Theatertext Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels, soll die Problematik der Verschmelzung von Öffentlichkeit und Privatheit, von ökonomischer Rationalität und sozialer Emotionalität unter besonderer Berücksichtigung der in Polleschs Theater zentralen Frage nach den Geschlechterverhältnissen untersucht werden. 5.5.4 Wohnräume, Arbeitsräume, Geschlechterräume Insourcing des Zuhause beginnt mit einer Replik, deren implizite Regieanweisung die Sprecherinnen und das Gesprochene räumlich verortet. N stellt fest: „Dieses Hotel HIER erinnert mich an zu Hause“ (IZ 43). Das Bühnenbild, das Bert Neumann einheitlich für die PraterProduktionen der Spielzeit 2001/2002 eingerichtet hat und das um eine für das Publikum reservierte Raummitte „Guckkasten an Guckkasten,

383 Zur Bedeutung des Subversiven bei Pollesch vgl. den Aufsatz von Natalie Bloch: „ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN“.

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Zimmer an Zimmer: lebensgroße Puppenstuben“384 aufreiht, wird durch den akustisch akzentuierten deiktischen Hinweis als ein konkreter Ort bestimmt, der sich mit bestimmten sozialen Beziehungen und Praktiken, hier denen des Hotels, assoziieren lässt. Allerdings erweist sich der als ‚Hotel‘ bezeichnete Ort im Fortgang des Stücks nicht nur als Ausgangs- und Anhaltspunkt von Handlungen, sondern auch als Ursache von Irritationen. Verunsichernd wirkt aus Sicht der drei Frauenfiguren zunächst die materielle Raumgestaltung: „In diesem Hotel sehen die Zimmer gar nicht aus wie Hotelzimmer“ (IZ 44), so gibt es weder eine Minibar noch ein Foyer (vgl. IZ 44). „Plötzlich gibt es in diesen Hotels“, wie es im Gestus der Verallgemeinerung und damit den konkreten gegenwärtigen Raum transgredierend heißt, „nichts mehr, was ich mit Hotels verbinde, sondern eher mit einer Vorstellung von Zuhause“ (IZ 44; vgl. IZ 66). Die Erwartungen an ein Hotel, die sich aus einem Spektrum von üblichen Nutzungsmöglichkeiten des Raumes ableiten, kontrastieren mit dem Gefühl, zuhause zu sein. Dabei stellt sich das Zuhausegefühl nicht allein durch visuelle Eindrücke, also materielle Raumelemente, ein. Vielmehr wird es durch soziale Praktiken hervorgerufen, die sich in Form von Dienstleistungen präsentieren: In dem Hotel ist das „Zuhause als Service“ (IZ 44) zu erleben. „Dieses Hotel produziert eine Unentschiedenheit zu Zuhause“ (IZ 66), mithin die Aufhebung der Differenz zwischen Arbeiten und privatem Wohnen. Der Auftakt des Theaterstücks formuliert eine Pointe, die im weiteren Textverlauf facettenreich ausbuchstabiert wird: Räume sind nicht nur physisch gegeben, sondern Produkte sozialen Handelns, was einschließt, dass sich an einem konkreten Ort verschiedenste Räume realisieren lassen. Mit anderen Worten, die Konstitution von Räumen beruht sowohl auf einzelnen Bausteinen, das heißt auf im Raum angeordneten Menschen und sozialen Gütern, als auch auf den Beziehungen zwischen ihnen.385 Diese aus der Raumsoziologie entlehnte These lässt sich für ein Verständnis der im Theatertext formulierten Idee der ‚Produktion des Zuhauses‘ fruchtbar machen. Als Aussage, an die diese Analyseperspektive unmittelbar anzuschließen ist, fungiert die fol-

384 Esther Slevogt: Scheiß-Heartbreak-Hotel, in: Die Tageszeitung, Berlin lokal, 29. Oktober 2001, S. 28. 385 Vgl. Martina Löw, Gabriele Sturm: Raumsoziologie, in: Fabian Kessl u.a. (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden 2005, S. 31-48, bes. S. 42-45.

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gende Frage, die die Figurenrede einem roten Faden gleich durchzieht: „Durch welche sozialen Praktiken soll in diesem Hotel eine Vorstellung von Zuhause produziert werden?“ (IZ 49; auch IZ 43) Auf der Suche nach Antworten kommen in Polleschs Text nicht ausschließlich, aber in vordringlicher Weise Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und die Vergeschlechtlichung von Räumen in den Blick. Einen grundlegenden Input für den Diskussionsverlauf, in dem Arbeits- und Wohnräume auf ihren Zusammenhang mit „heterosexuelle[n] Normen“ (IZ 49) hin befragt werden, gibt dabei die bereits oben genannte Textreferenz, der von Brigitta Kuster und Renate Lorenz in der Zeitschrift Widersprüche publizierte Aufsatz Das Insourcing des Zuhause. Die Autorinnen legen darin am Beispiel von sogenannten Boarding Houses beziehungsweise Appartmenthotels dar, wie mit „dem ‚Insourcing des Zuhause‘ am Arbeitsplatz […] eine Produktion von Subjektivität einher[geht], die Verhaltensweisen, Selbstpräsentation, Selbsteinschätzung, Lebensperspektiven in erster Linie in Hinblick auf die Arbeit und auf die gewünschte oder geforderte Arbeitsbiographie entwirft“386. In ihrer Studie geht es Kuster und Lorenz auch darum herauszustellen, „dass weiße Heteronormativität nicht allein in Liebesbeziehungen und heterosexuellen Familien produziert und fixiert wird“, sondern dass diese auch durch „die vermehrte Integration sexueller Arbeit in formale Arbeitsverhältnisse“ hergestellt und bestätigt wird.387 Polleschs Theatertext greift auf diese Beobachtungen zurück, wobei er einzelne Ausführungen beinahe wörtlich übernimmt388, zentrale Phrasen wiederholt und durch Minimalverschiebungen vari-

386 Kuster, Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, S. 24f. 387 Kuster, Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, S. 24. Der Begriff der ‚sexuellen Arbeit‘ soll zum einen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung kennzeichnen und zum anderen darauf aufmerksam machen, „daß Arbeitsverhältnisse Fähigkeiten und Emotionen in den Arbeitsprozeß integrieren, die dem Bereich des Persönlichen, der Subjektivität zugeordnet sind.“ (Pauline Boudry, Brigitta Kuster, Renate Lorenz: I cook for sex. Einführung, in: Pauline Boudry, Brigitta Kuster, Renate Lorenz (Hg.): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause, 2. Aufl., Berlin 2000 [1999], S. 6-35, S. 9f.) 388 Beispiel ‚Ich muss kein Manager sein…‘: IZ 53 und Kuster, Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, S. 24.

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iert389 oder einzelne Gedankengänge assoziativ erweitert.390 Ein prominentes Beispiel für eine Kombination dieser verschiedenen Strategien ist der Titel des Theatertextes, der den fachwissenschaftlich konnotierten Ausdruck ‚Insourcing des Zuhause‘ der Titelvorlage übernimmt, den bestimmten Artikel mit dem Effekt der Verallgemeinerung allerdings tilgt und um eine emotionalisierende Phrase – ‚Menschen in Scheiss-Hotels‘ – erweitert, die der beschreibenden und analysierenden Perspektive des Prätextes deutlich eine wertende Darstellungsweise beifügt. Die Frage nach der (Re-)Produktion von Geschlechterverhältnissen verbindet Insourcing des Zuhause mit der bereits in der Heidi-HohSerie verhandelten Beobachtung, dass die Grenzen zwischen Arbeitsund Wohnräumen in der Gegenwart zunehmend verwischen. Die arbeitsorganisatorische These391 der Diffusion von Arbeit und Privatleben beleuchtet der Theatertext anhand einer Reihe von Dualismen wie etwa echt/künstlich, männlich/weiblich, öffentlich/privat oder ökonomisch/nichtökonomisch. Auf die Fusion der verschiedenen Lebensbereiche und Räume weisen neologistische Komposita wie „Beschäftigtenzuhause“ (IZ 44), „Zuhause-Hotel“ (IZ 48, 58f. u.a.), „Zuhause-als-Produkt-Hotel“ (IZ 63), „Zuhausefabrik“ (IZ 44, 46 u.a.), „Gefühlsfabrik“ (IZ 47), „Arbeitshotel“ (IZ 55), „Büro-Suite-Hotel“ (IZ 55, 76) und andere mehr hin. In einem Kommentar thematisiert Pollesch die Hybridisierung von Räumen, indem er sich zur konstitutiven Reziprozität von Struktur und Praxis äußert, die sich im Verhältnis zwischen Raum und handelndem Subjekt abzeichnet: „Jetzt hier hat man einen Ort, der kann ein Hotel sein, der kann eine Fabrik sein und ich spreche ihn abwechselnd als Fabrik an, in der etwas produziert

389 Beispiel ‚doppelt produktiv…‘: IZ 47 und Kuster, Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, S. 20. 390 Beispiel ‚Bauarbeiter/Müllwagenfahrer‘: IZ 51 und Kuster, Lorenz: Das Insourcing des Zuhause, S. 22. 391 Vgl. u.a. Heiner Minssen (Hg.): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000; sowie Karin Gottschall, GerdGünter Voß (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München, Mering 2003 (Arbeit und Leben im Umbruch, 5). Aus Perspektive der Geschlechterforschung mit Fokus auf die Vereinbarkeit von Familie und neuer Arbeitskultur vgl. Hochschild: Keine Zeit.

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wird oder als Hotel.“392 Die Wechselwirkung zwischen dem, was der Raum in seiner Materialität als „Identifikationsangebot“ (IZ 53 u.a.) anbietet – zum Beispiel die in der Figurenrede beschriebene, im „netten Kolonialstil“ (IZ 51) gehaltene Innenausstattung der Hotelzimmer –, und dem, was die handelnden Subjekte gemäß ihren Bedürfnissen in dem Raum suchen und sehen, fungiert in Insourcing des Zuhause als Motor der Selbstbefragungen der drei Sprecherinnen. Dabei ist die Idee der wechselseitigen ‚Ansprache‘ von Raum und Person in Polleschs Theaterproduktion nicht nur Gegenstand der Figurenrede. Vielmehr wird sie auch im szenischen Arrangement reflektiert: Das Einheitsbühnenbild der Prater-Trilogie wird je nach Stück wechselweise als „Kommune“ mit „unternehmerische[m] Profil“ (SB 6), als ein mit anderen Dienstleistungsunternehmen vernetztes „Technohaus“ (SB 11), als „Bordell“ (SEX 139 u.a.) oder als „Zuhause-Hotel“ (IZ 48 u.a.) etabliert. Indem auf der Bühne nicht ein Raum gezeigt wird, der prototypisch, in naturalistischer Manier auf einen anderen Raum verweist393, und indem mithin eine zentrale Komponente des Repräsentationstheaters nivelliert wird, rückt die Frage nach der Konstitution von Räumen auch zum Gegenstand des performativen Spiels in den Blick. Thematisiert Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels die Selbstinszenierung eines Hotels als Ort der Arbeit, so fragt der Bühnenraum, wie der Ort des Theaters inszeniert wird. Charakteristisch für den Ort, an dem sich die drei Frauen aufhalten, sind „diese fliessenden [sic!] Übergänge zwischen Wohnen und Arbeiten“ (IZ 44, 51, 54 u.a.). Die Aufhebung der Differenzen von Zuhause und Arbeitsplatz reflektiert der Theatertext als Herausforderung an die Einzelne, die sich aufgrund schwindender Grenzziehungen mit einer Vielzahl von Identifikationsangeboten, mit Perspektiven des ihr „angebotenen möglichen Selbst“ (IZ 53) auseinanderzusetzen hat. Dieses „mögliche Selbst“ zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es „immer auch arbeitet“ (IZ 54) und damit die Anforderungen eines „deregulierten, neoliberalen Lebensstil[s]“ (IZ 53) realisiert. Das ‚Zuhause-Hotel‘, das dem äußeren Anschein nach eine Art „Büro-Hochhaus“

392 Jochen Becker u.a.: Das Material fragt zurück, S. 222. 393 René Pollesch hält für seinen Umgang mit dem (Bühnen-)Raum fest: „Seit Heidi Hoh kann ich irgendwie produktiv machen, dass ich eigentlich nicht weiss, warum man im Theater auf einen anderen Ort verweisen soll“ (Jochen Becker u.a.: Das Material fragt zurück, S. 222.)

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(IZ 50) darstellt und dem „Bertelsmann-Building in Manhattan zum Beispiel“ (IZ 52) nicht unähnlich sieht, entspricht dem Anspruchsprofil des unternehmerischen Selbst, indem es „das Managersein als attraktives Identifikationsangebot“ (IZ 53) bereitstellt. Darauf verweist, gemäß dem identitätsstiftenden Potenzial der Namensgebung, bereits die Betitelung der Suiten, die „alle nach hochbewerteten Jobs benannt“ sind, die also „Manager-Suite“ und „Chief Executive-Suite“ heißen (IZ 51). Auf das Selbstbild des Gastes oder auf dessen individuelle Bedürfnisse geht der Raumentwurf nur in eng umgrenztem Maße ein: T: Ich miete mich hier ein, und das Angebot, das mir gemacht wird von diesem Hotelzimmer, ist das Bild einer Managerin, die hoch bezahlt und vielbeschäftigt mit ihrem Rollkoffer unterwegs ist. Ich werde nicht als Ehefrau oder Mutter angesprochen in diesem Hotel, die hier Urlaub macht von der Scheisse zu Hause. In diesem Hotel macht niemand Urlaub, die arbeiten einfach weiter, ohne irgendwas dazwischen. Ohne Urlaub wird hier einfach weitergeschrien (IZ 55).

Das Hotel spricht das arbeitende, erfolgreiche und mobile Subjekt an, das in Polleschs Stück bemerkenswerterweise nicht von einem Mann, wie für das Genre des Arbeitsdramas zu großen Teilen üblich – etwa bei Richter, Rinke, Jonigk oder von Mayenburg –, sondern von einer Frau verkörpert wird. Vor dem Hintergrund der Arbeitsproblematik diskutiert der Theatertext verschiedene Modelle von ‚weiblicher‘ Berufstätigkeit und Erwerbsarbeit, in denen die Strukturen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zum Ausdruck kommen: die Frau als Managerin, die Frau als Dienstleisterin, die Frau als Hure sowie die Frau als Ehefrau und Mutter. Das obige Zitat markiert den minoritären Status der Letzteren, indem es einen Ausschluss fixiert: Das Hotel bietet keinen Raum für ‚Spezialistinnen‘ für Haus- und Beziehungsarbeit, sondern nur für im engeren Sinne erwerbstätige Frauen. C hält in diesem Sinne fest: „Das ist eben kein Wickeltisch, der Schreibtisch da in deiner Manager-Suite. Dir wird da das Angebot gemacht, ein Unternehmen zu führen vom Hotel aus. Und auf dem Schreibtisch wird nicht gewickelt. Da wird gearbeitet, aber als Teil der Ökonomie und nicht als Teil dieser Babyscheisse“ (IZ 56). Die Reproduktionsarbeit, das heißt gesellschaftlich notwendige Haus- und Erziehungsarbeit, erhält gegenüber produktiver Erwerbsarbeit die geringere Anerkennung, die sich hier in der gegebenen Infrastruktur niederschlägt. Während die

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mit Arbeit assoziierte Mobilität, die durch den Einsatz von Notebook und ISDN erreicht werden kann, „hochbewertet“ (IZ 55) ist, wird die durch Kinder produzierte und eingeforderte Mobilität geringgeschätzt. Für N steht fest: „Die hätten dir nie die Manager-Suite gegeben, wenn sie von deinen hyperaktiven Säuglingen gewusst hätten“ (IZ 57). Mittels der sukzessiven semantischen Verschiebung von der ‚mobilen Managerin‘ zum ‚hochmobilen Kind‘ (vgl. IZ 55f.) arbeitet der Theatertext heraus, dass und wie Mobilität als mehrdeutiges Distinktionsmerkmal fungiert. Gleiches legt der pointierte Vergleich der Mobilität von Managern mit der „Mobilität von Müllwagenfahrern“, „die auch keine eigenen Hotels [haben]“, offen (IZ 51). ‚Mobilität‘ zeigt sich in ihrem Anerkennungsgrad nachhaltig durch die Kategorien Gender und Class bestimmt. Indem die Sprecherinnen in ihrer von Assoziationen geleiteten Rede das Thema ‚Kinder‘ darüber hinaus auf das Thema ‚Überbevölkerung in Afrika‘ ausweiten, verquicken sie die Frage geschlechtsspezifischer Zurück- und Herabsetzung mit dem Problem ethnischer Diskriminierung: „Irgendwer will hier die Überbevölkerung eliminieren. Die Weltgesundheitsorganisation“ (IZ 59). Zum Ende der durch zwei Clips begrenzten Sequenz (IZ 54-59) ist von einem hegemonialen Auftreten der „Industrienationen“, die die „Bevölkerungspolitik“ im „globalen Süden“ regeln wollen (IZ 59), die Rede. Es schließt sich damit eine Assoziationskette, an deren Anfang der Hinweis auf das Hotelzimmer als „kolonialistisch ausgestattete Scheisse“ (IZ 54) stand. Zum Diskussionsgegenstand dieses Theatertextabschnittes werden somit Exklusionsphänomene, die zum einen über die biopolitisch und ethisch relevante Frage nach der (demographischen) Reproduktion und zum anderen über den Begriff der „Abgeschiedenheit“ (IZ 59), die zuvor als zentrales Moment der Vorstellung von Zuhause eingeführt wurde (IZ 47), miteinander verknüpft werden. In einer Replik von N heißt es: N: Du rennst mit deinen hyperaktiven Säuglingen in diesem Hotel herum und suchst einen Wickeltisch, das ist doch nicht NORMAL! SCHEISSE! Die Mittel, mit denen Normalität hergestellt wird, sind Abgeschiedenheit und so was. Und nicht dieser plötzliche Ausbruch von Überbevölkerung und Kollektivität in diesem Hotel. Das stört einfach die an Luxus gekoppelte Sphärentrennung. […] (IZ 57)

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Geschlechter- und ökonomiepolitische Perspektiven kreuzen sich in der für Polleschs Theater zentralen Frage nach der Herstellung von Normalität, wie diese Aussage in nuce vorführt. Als ein Ort, an dem sich die Konstruktion von Normalität nachvollziehen lässt, figuriert in Polleschs Theatertext das Hotel, das die Idee des „Insourcing von Zuhause“ (IZ 43) realisiert. Dieses Hotel bietet die Voraussetzungen für Vernetzung und Mobilität, wie sie in der Arbeitswelt als unabdingbar gelten, und zugleich für den „mit sozialem Ansehen“ (IZ 47) und mit einem Gefühl von Zuhause verbundenen Zustand der Abgeschiedenheit. ‚Zuhause‘ steht in dem Stück für den Ort „der Familie, der heterosexuellen Ordnung und der ethnischen Zugehörigkeit“ (IZ 48) und wird hergestellt, indem die „persönlichen Dienstleistungen in diesem Hotel […] den persönlichen Beziehungen zu Hause [ähneln]“ (IZ 48). Reproduziert werden somit soziale Strukturen der Privatheit, allerdings unter verschobenen Vorzeichen: „Persönliche Anteilnahme“ (IZ 48) und emotionale Zuwendung, die „ein nahezu intimes Verhältnis“ (IZ 65) begründen, sind das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Dienstleistern und Kunden (vgl. IZ 44, 63f. u.a.). Sie lassen sich demzufolge durch das Paradoxon charakterisieren, zugleich „ECHT UND BEZAHLT“ (IZ 46) zu sein, und grenzen sich von dem Angebot ab, das die Arbeit der Prostitution hervorbringt: „Dieses Hotel verkauft Liebe. Dieses Love-Hotel verkauft den Scheiss. Aber wenn dann die Huren kommen, ruft die Scheiss-CONCIERGE die Bullen“ (IZ 64). Den neuralgischen Knotenpunkt der in Insourcing des Zuhause abgespulten Gedankenfäden bildet die Kapitalisierung der Gefühle, die als Komponente und Resultat neuer, neoliberalistisch geprägter Arbeitsformen reflektiert wird. Die im ‚Zuhause-Hotel‘ angebotenen Dienstleistungen lassen sich, mit den Worten der Figurenrede, als „Formen von Arbeit“ bestimmen, „die Fähigkeiten einsetzen, die der Persönlichkeit und Subjektivität zugeordnet werden“ (IZ 47). Die Angestellten, das „Zuhause-Personal“ (IZ 46), verkaufen nicht allein ihre Arbeitskraft, sondern bringen sich im Sinne einer „Subjektivierung von Arbeit“394 als ganze Person, als Selbst, in den Arbeitsprozess ein. Sie leisten das, was Boudry, Kuster und Lorenz in ihrem Band Reproduktionskonten fälschen! als „se-

394 Vgl. u.a. Manfred Modaschl, Gerd-Günter Voß (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, 2. Aufl., München, Mering 2003 [2002] (Arbeit, Innovation und Nachhaltigkeit, 2).

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xuelle Arbeit“395 bezeichnen. Signifikanterweise werden die auf „alles Soziale“ (IZ 66) konzentrierten Serviceleistungen des Hotels, gemäß den Stereotypen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, allein von Frauen ausgeübt (IZ 62 u.a.), die dem „Personalchef“ und seinen „Gefühlstests“ (IZ 63) als Kontrollinstanz unterstehen. Berücksichtigt man in diesem thematischen Zusammenhang das auf Selbstreflexion ausgerichtete Theaterspiel der Pollesch-Schauspielerinnen, kommt deren Status als Dienstleisterinnen im Theaterbetrieb in den Blick und rückt unversehens der auktoriale Status des Regisseurs und Autors ins Licht. Die Möglichkeit, dass sich eine der Frauen die Beobachtungs- und Überwachungsfunktion aneignet, wird im Theatertext in den Bereich der Science-Fiction verschoben. N erläutert: „Und dabei rede ich jeden Tag mit meinen Angestellten und mache alle diese Gefühlstests“, woraufhin C knapp kommentiert: „Science-Fiction-Hotel!“ (IZ 71) Die Auflehnung gegen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gewinnt in dieser durch Clips gerahmten Textsequenz (IZ 70f.) ebenso wenig die Geltung einer positiven Utopie wie eine Nivellierung der geschlechtlichen Codierung von Gefühlen. In der Darstellung der Figuren, die Assoziationen an den Film Blade Runner von Ridley Scott aufruft und, mitunter im Anschluss an Donna Haraways CyborgTheorem396, den Horizont bioethischer Reflexionen zum Menschsein und zum Dualismus natürlich/künstlich öffnet, erscheint es als unglaubwürdig, dass N als „eigentlich […] ganz LIEBES MÄDCHEN“ (IZ 70) aggressiv sein und gewalttätig handeln könnte. Das ‚mögliche Selbst‘ in Gestalt einer aggressiven Frau wird als Illusion und künstliches Produkt einer progressiven Technologie entlarvt: „T: Da sind diese Drähte an dir dran und kleben an deiner Backe und dieser Gefühlscomputer macht dich irgendwie aggressiv. // N: NA TOLL! Dann bin das gar nicht ich. Dieses aggressive, herumschreiende Ding bin gar nicht ich. Na wie auch. […]“ (IZ 70) War es bei Polleschs prominenter

395 Boudry, Kuster, Lorenz: I cook for sex, S. 9f. 396 Zu Haraways Cyborg-Konzept als Intertext von Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr vgl. Thomas Ernst: „AAAAHHHHH!“ Von Sprachkörpern, postdramatischem Theater und den Schreiwettbewerben der Restsubjekte in René Polleschs „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“, in: Carsten Würmann (Hg.): Welt.Raum.Körper – Globalisierung, Technisierung, Sexualisierung von Raum und Körper, Bielefeld 2007, S. 237254, S. 248.

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Dienstleisterin Heidi Hoh der „Körpercomputer“397, der sie als Produkt einer „Mensch-Maschine-Integration“398 für den flexiblen Arbeitsmarkt präparierte, so steht mit dem „Gefühlscomputer“ die Herstellung unsichtbarer, immaterieller Voraussetzungen zur Arbeitsfähigkeit im Vordergrund. Der Theatertext Insourcing des Zuhause lanciert den Vergleich zwischen Gefühlen, die mittels mechanischer Geräte und Computertechnologie hergestellt werden399, und „Gefühlen als Selbsttechnologie“ (IZ 71), wie sie im ‚Zuhause-Hotel‘ produziert werden, wobei zum einen Identifikation und zum anderen Echtheit als Kriterien der Beurteilung herangezogen werden. In der Ablehnung der durch Technikeinsatz ‚künstlich‘ hervorgebrachten Gefühle und in der gleichzeitigen, zumindest partiellen Akzeptanz des in der ‚Hotelfabrik‘ geschaffenen Zuhausegefühls (vgl. IZ 72) lässt sich neben einer Wertung auch eine grundlegende – aus theaterästhetischer Sicht beachtenswerte – Gegenüberstellung erkennen: die Opposition von Sichtbarem und Unsichtbarem. An anderer Stelle sind die Frauen in Anbetracht der Hotelzimmer entsprechend der folgenden Ansicht: „C: Und die Einrichtung sieht echt scheisse aus, aber alle Angebote sonst sind attraktiv. Alles das, was man nicht sieht. […] // T: Alle Dienstleistungen hier sind irgendwie attraktiv. Und echt. Die sind alle so ECHT, DIE GEFÜHLE, DIE MIR ENTGEGENGEBRACHT WERDEN UND DIE PERSÖNLICHE ANTEILNAHME! SCHEISSE!“ (IZ 50) Der einnehmende Eindruck, den das Immaterielle schafft, legt den Schluss nahe, dass aus Sicht des Theatertextes der Reiz und auch der Erfolg der Selbsttechnologien, wie sie im neoliberalistischen Kalkül (vermeintlich) favorisiert werden, bei der Produktion immaterieller Güter, wie es Gefühle sind, also bei Dienstleistungen in deren Unauffälligkeit und subtiler Umsetzung liegt. Das in den Hotelbetrieb implementierte ‚Insourcing des Zuhause‘ wird gleichermaßen von den dort arbeitenden und wohnenden Frauen durchgeführt, der Hotelgast ist demzufolge zur Mitarbeit aufgefordert: „Damit du das überhaupt realisieren kannst, dieses Gefühl hier zu Hause zu sein, in dieser Zuhausefabrik, musst du mitarbeiten.“ (IZ 44; vgl. auch IZ 45, 61, 63-66 u.a.). Die das Zuhausegefühl fördernden sozialen Praktiken, bei denen es sich vor allem um Tätigkeiten wie

397 Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 37 u.v.m. 398 Schlösser: „Don’t know what I want, but I know how to get it“, S. 16. 399 Vgl. auch die Idee transplantierter „Gefühlschips“ (IZ 72f.).

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„Hausarbeit“ (IZ 45) oder auch Gespräche mit „persönliche[r] Anteilnahme“ (IZ 46; vgl. auch IZ 68) handelt, werden ausschließlich von Frauen ausgeübt. Im Unterschied zu der technischen Produktion von Gefühlen, die es aus Perspektive der drei Figuren denkbar werden lässt, dass die Differenzierung sozialer Kategorien wie „männlich und WEIBLICH“ „irgendwie hinfällig“ (IZ 70) werden kann, bewirkt die soziale Praxis im Hotel keine „Auflösung heterosexueller Normen“ (IZ 49) – was in den Worten der Frauen „WIRKLICH MAL WAS NEUES WÄRE!“ (IZ 49). Die gleichgeschlechtliche Zusammenarbeit im Hotel reproduziert vielmehr mit dem Zuhause zugleich „auch Geschlechterdifferenzen“ (IZ 61). Der Anschein, dass das Hotel ein „Zuhause abseits VON DIESER HETEROSCHEISSE“ (IZ 62) anbietet, trügt. Heterosexualität, nicht nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen Personalchef und Angestellter, wird auch hier als dominierende Matrix sozialer Interaktion realisiert: „N: Die Mitarbeiterin am Empfang ist wie eine Ehefrau, und ich kann ihr Faxe geben und so was, die sie dann losfaxt, die Alte! Die faxt sie dann los und mir kommt es plötzlich so vor in diesem Hotel, ich bin mit einer Frau verheiratet“ (IZ 61). Dabei formulieren die Selbstbeobachtungen der drei Frauen einen mindestens skeptischen, in jedem Fall pessimistischen Standpunkt, wenn sie feststellen, dass es sich bei der homosexuellen Beziehung zwischen den Mitarbeiterinnen und den Kundinnen nur um ein Gedankenkonstrukt oder eine durch Drogenkonsum verursachte Halluzination handeln kann: „Du denkst jetzt bloss, du wärst mit einer Frau zusammen, weil du das Hotel hier eingeworfen hast, aber du lebst in deinem ‚richtigen‘ Zuhause zwanghaft heterosexuell“ (IZ 63). Zudem äußert sich eine der Frauen kritisch gegenüber einer „Homosexualität, die der Kapitalismus produziert“, oder allgemeiner: gegenüber einer „Sexualität, die das KAPITAL PRODUZIERT!“, und fragt sich, „ob ich das irgendwie leben will“ (IZ 62). Sie konstatiert die Affinität zwischen einer „kapitalistischen Produktionsweise“ und dem „Normalzustand einer heterosexuellen Ordnung“ (IZ 62) und äußert Zweifel an deren Überwindung: „Hier in diesem Hotel ziehen trotzdem nur Heteronormen ein, auch wenn meine HOTEL-EHEFRAU WEIBLICH IST“ (IZ 62). Die geäußerte Skepsis und Kritik, die vor allem, aber nicht ausschließlich der Vorherrschaft heterosexueller Normen als Kernbestand der Alltagsnormalität gelten, fügen sich nicht widerspruchsfrei zum Widerstand. Zwar werden aufbegehrende Überzeugungen laut, dass

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die Einzelne nicht bereit ist, so zu sein, „wie dieses Hotel will, dass ich ich selbst bin“ (IZ 67), oder dass sie „DIE NORMEN NICHT MEHR AUF MICH BEZIEHN“ kann (IZ 78). Oder es werden immer wieder, zum Teil schrill überzeichnete, Szenarien des Aufstandes vorgestellt und auf ihre Plausibilität hin geprüft: Sind es „zwei völlig unterschiedliche Dinge“, „[m]it einem Säugling durch ein Hotel zu laufen und Fenster einzuwerfen“ (IZ 57)? Hilft es, um die „Angebote eines möglichen Selbst“ (IZ 67) auf ein lebbares Maß zu reduzieren, Technologie zu jagen, „die so tut, als wäre sie menschlich“, und den Computer ‚abzuknallen‘ (IZ 68)? Der Haltung der so geäußerten Bedenken steht entgegen, dass die Frauen der Gefühlsproduktion im Hotel auch attraktive Seiten abgewinnen: „N: Ich kann unfreundlich sein, ohne irgendetwas wieder in Ordnung zu bringen. Ich geniesse [sic!] persönliche Zuwendung gegen Bezahlung ohne emotionale Gegenleistung. […]“ (IZ 46) Und während C es wertschätzt, dass „jemand irgendetwas ganz auf mich zugeschnitten [hat], Gefühle oder sowas und die stören nicht meinen Arbeitsrhythmus“ (IZ 72), und dass „alles so ECHT HIER [ist]“, in „diesem Echtheitshotel“ (IZ 72), zeigt sich T „SCHEISSGLÜCKLICH IN DIESER FABRIK, DIE PERSÖNLICHE ANTEILNAHME AN MEINEM LEBEN PRODUZIERT! An meinem SCHEISS-LEBEN!“ (IZ 72) Als treibende Kraft der Wortkaskaden kristallisiert sich der Antagonismus heraus, der zwischen der Sehnsucht nach Anerkennung und echten Gefühlen einerseits sowie der Abneigung gegenüber heterosexuellen Normen und „irgendwelchen verordneten Vorstellungen von Sicherheit und Ordnung oder dem Leben und irgendeinem Konsens darüber, wie ich es managen soll“ (IZ 78), andererseits besteht. Auf der Ebene der Sprachform drückt sich die Haltung des Widerspruchs sowohl in forcierten Ausrufen und Schreien wie „HALT’S MAUL!“ (IZ 57, 67, 79 u.a.) und „AAAHHHHH!“ (IZ 54) als auch in stichomythisch organisierten Repliken aus, wie im folgenden Beispiel: N: […] Sag, dass ich schön bin! Und dann fühl ich mich zu Hause. T: Ich denk nicht dran. N: Ich will mich hier zu Hause fühlen, also SAG, DASS ICH SCHÖN BIN! C: Ja, gut, du bist schön, du FICKSAU! N: Und jetzt muss ich dich auf persönliche Anteilnahme testen. T: Teste die Huren hier auf persönliche Anteilnahme! C: NEIN!!!! ICH WILL NICHT!!!! (IZ 79)

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Polleschs Figuren beleuchten und durchschauen die Mechanismen, mit Hilfe derer sich Zuhause jenseits materieller Bedingungen, auf Basis emotionaler Anteilnahme herstellen lässt. Sie zeigen sich aufgeklärt, wenn sie über die Verinnerlichung allgemein verbindlicher Normen und Werte reflektieren und ihr Denken, Fühlen und Handeln dazu in Beziehung setzen. Dass sie dabei auf eine Diskrepanz zwischen dem, was mittels neoliberal geprägter Selbsttechnologien an Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu realisieren ist, und dem, was sich auf Basis unbestimmter Begehren und Bedürfnisse als normwidrige Option eines anderen Alltags verwirklichen lässt, stoßen, begründet das kritische Potenzial des theoriegelenkten Nachvollzugs ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse. So beobachtet N an sich: Ich liege hier im Untergrund dieses Hotels oder Zuhause und liebe dich, und daneben gibt es diese Selbsttätigkeit, da neben mir, oder in mir, SCHEISSE! KEINE AHNUNG! – die Normen dieser Gesellschaft auf mich zu beziehen. Aber was mach ich denn mit dem Rest, mit dem ich hier liege. Da liegt doch ein Rest ohne willentliche und selbsttätige Anerkennung von Normen, und sich dem Gesetz ethisch verpflichtet zu fühlen, mein Schatz, und das will doch auch gelebt werden. Du beziehst die gesellschaftlichen Normen nicht auf dich, du ILLEGALER! (IZ 79)

Wer sich den „Durchsagen“ in sich (IZ 78), wie es in Anlehnung an Foucaults Konzeption der Selbsttechnologien heißt, entzieht, wer sich, in Polleschs Worten, den „Befehle[n], die wir für uns halten und die in uns installiert sind“400, entgegenstellt, hinterfragt „das Normale“401 und betritt das Feld des Outlaws. Zu einer der bedeutenden Fragen, die mit der Hybridisierung von Arbeitsplatz und Zuhause aufgeworfen wird, avanciert aus Sicht des Theatertextes diejenige nach der Überschreitung der geltenden Ordnung und nach den korrelierenden Mechanismen der Kontrolle. Mit Anspielungen auf Polizei (vgl. IZ 70f.), Illegalität (vgl. IZ 74, 80 u.a.), Ausgrenzung (vgl. IZ 77) und Abschiebung (vgl. IZ 74) wird der Blickwinkel auf die Felder von Öffentlichkeit und Privatheit zusätzlich in der Weise ausgeweitet, dass nicht allein im Globalisierungsdiskurs relevante Themen wie Arbeitsmigration (vgl.

400 Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina, S. 197. 401 Pollesch, Raddatz: Penis und Vagina, S. 196.

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IZ 52) und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz (vgl. IZ 58) problematisiert werden. Zwar kulminieren die kritischen und aufbegehrenden Äußerungen, die sich gegen eine Ökonomisierung des Sozialen und ihre Implikationen – wie etwa eine Reproduktion heterosexueller Normen oder eine Auflösung privater Räume – wenden, am Ende des Theatertextes im chorischen Appell: „PRODUZIERE KEIN ZUHAUSE!“ (IZ 80), doch bleibt der finale Rekurs auf die Tradition engagierter Literatur, hier konkret auf die Form des Brecht’schen Lehrstücks, nicht frei von Ironie. Der am Ende herbeigeführte Zusammenschluss der Stimmen zum Chor findet in den zuvor verlautbarten Statements keine Deckung, betonten diese doch gerade das Ich und das Du, mithin einen individualistischen Standpunkt, keineswegs aber ein Wir. Zu einer Kollektivität, wie sie die Theaterarbeit unter Polleschs Regie auszeichnet, finden die Figuren seines Textes Insourcing des Zuhause nicht zusammen. Auf die Frage „Warum sollte ich an dieser Strassenschlacht [sic!] teilnehmen DA DRAUSSEN!, wenn Abgeschiedenheit sozial soviel ANGESEHENER IST!?“ (IZ 50) bleiben sie letztendlich eine verbindliche Antwort schuldig. Der Entwurf einer kohärenten widerständigen Subjektposition wird damit ebenso verweigert wie ein (psychologisch begründbares) Identifikationsangebot an den Zuschauer.402 Dass am Schluss nicht die kurz zuvor ausgerufene Willensäußerung „ICH WILL DIE SCHEISSE LEBEN!“ (IZ 80), sondern der auf Verneinung beruhende Ausruf „PRODUZIERE KEIN ZUHAUSE!“ steht, markiert bestenfalls eine Zwischenstation auf dem Weg aus den Räumen, die den Einzelnen immer schon als Arbeitssubjekt ansprechen, nicht aber dessen Ziel. Polleschs Theatertext Insourcing des Zuhause bietet keinen wie auch immer inhaltlich oder figurativ fixierbaren Standpunkt im Feld der um (männliche) Produktion und (weibliche) Reproduktion kreisenden Arbeits- oder Geschlechterpolitik, gleichwohl sich die Nähe zu feministischen, postmarxistischen und globalisierungskritischen Positionen nicht leugnen lässt. Vielmehr präsentiert er theoriegeleitete, dabei durchaus widersprüchliche und keineswegs lineare, in jedem Fall aber selbstverausgabende Suchbewegungen vereinzelter Figuren, die in postdramatischer Manier „nicht von einem ‚eigentlichen Ich‘ her zu

402 Vgl. in Bezug auf ZELTSAGA Katrin Sieg: Kunst in der Suppenküche des Kapitals.

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verstehen sind, sondern in der Dissoziation der darstellerischen Mittel die Figur vorführen als eine Selbstbehauptung, als eine Demonstration oder ein Experiment“403. Der Theatertext Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels diskutiert die neoliberal geprägte Mystifizierung, der das Verständnis vom unternehmerischen Selbst als Künstler seines eigenen Lebens zugrunde liegt und die einer Ökonomisierung der Gefühle, des Privatesten und Intimsten, mithin der von Arlie Russell Hochschild so bezeichneten „Emotionsarbeit“ das Wort redet. Er reflektiert vor allem unter genderpolitischen Vorzeichen, was es heißt, eine auf Produktivität, Originalität und Selbstreflexion zielende Kreativität als leitendes Paradigma sowohl der Konzeptualisierung von Arbeit als auch von Subjektivität zu verstehen.

403 Roselt: In Ausnahmezuständen, S. 173.

6. Familie im Theatertext

6.1 F AMILIE AUF DEM S TATIONENWEG : L UKAS B ÄRFUSS ’ D IE SEXUELLEN N EUROSEN UNSERER E LTERN Aus Sicht der Feuilletons zählt der Theatertext Die sexuellen Neurosen unserer Eltern1 von Lukas Bärfuss zu einem jener Stücke, die dem Schweizer Autor den Ruf einbringen, für die „schweren ethischen Fragen im deutschen Theater zuständig“2 zu sein.3 Das Stück, das in der Basler Uraufführungsinszenierung zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen und für das Bärfuss 2003 von Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt wurde, beschäftigt sich mit der familialen Sozialisation und dem Sexualleben einer jungen Frau, der ein geis-

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Lukas Bärfuss: Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, in: Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke, Göttingen 2005, S. 71-127. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚SN‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

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Martin Halter: Tod auf Spesen. Sterbehilfe, leichtgemacht: „Alices Reise in die Schweiz“ von Lukas Bärfuss in Basel uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. März 2005, S. 35.

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Thomas Bühler spricht in Bezug auf Bärfuss’ Themenwahl gar von einer „Schwäche für unmögliche Stoffe“ (Thomas Bühler: Die Praxis schlägt zurück. „Alices Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom“ von Lukas Bärfuss, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 43-51, S. 47).

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tiges Handicap zugeschrieben wird. Weitere Theatertexte des Autors konfrontieren mit Glaube und Religiosität in säkularisierter Zeit (Der Bus [Das Zeug einer Heiligen], UA 2005), mit aktiver Sterbehilfe (Alices Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom, UA 2005) oder mit der biotechnischen Aufklärung von Vaterschaft (Die Probe [Der brave Simon Korach], UA 2007). Mit diesen Themen schreibt sich Bärfuss’ Dramatik in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten ein, ohne dies allerdings mittels „äußerliche[r] Signale von Zeitgenossenschaft“4 auszustellen, wie es etwa in der Popliteratur oder in einer dokumentarischen Ästhetik begegnet.5 Der „Brisanz-Dramatiker[ ]“6, wie ihn das Feuilleton nennt, zeigt sich in seiner Dramatik en gros der klassischen Form des Dramas verpflichtet. Mit Die sexuellen Neurosen unserer Eltern greift er demgemäß auf ein überaus traditionsreiches Genre zurück, das in hohem Grade mit Rezeptionserwartungen und Wahrnehmungsmustern assoziiert ist, wie in den folgenden Bedenken der Theaterkritikerin Dorothee Hammerstein anschaulich wird: „Hat man nicht […] die letzte Welle der Inzest- und Kindsmissbrauchsstücke geradezu mit Erleichterung abebben sehen – und soll sich jetzt doch wieder über neue Einschnitte auf dem Kerbholz der Kleinfamilie beugen? Und welche Abweichungsvariante ist es diesmal?“7 Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern profiliert sich dieser Beobachtung zufolge zunächst vor dem Hintergrund

4

Eva Behrendt: Im Regal sind alle gleich [zu Lukas Bärfuss, Dramatiker des

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Bisweilen problematisiert die Theaterkritik die „Realitätsnähe“ als Schwä-

Jahres 2005], in: Theater heute Jahrbuch (2005), S. 82-86, S. 85. che der Stücke. So vermisst etwa Martin Halter bei Alices Reise in die Schweiz das Dichterisch-Originelle: „Bärfuss hat kaum etwas erfinden müssen, nur objektive Widersprüche und absehbare Konflikte verdichtet und fortgeschrieben.“ Als „dramatische Einstimmung auf Podiumsdiskussionen in evangelischen Akademien“ sei der Text eher geeignet denn als „Theaterstück“ (Halter: Tod auf Spesen, S. 35). Was ein solches nach Meinung des Rezensenten ausmacht, bleibt allerdings unbestimmt. 6

Teresa Grenzmann: So geht’s zu, wenn einem die Griechen nichts mehr sagen [zu Lukas Bärfuss’ „Die Probe“], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Februar 2007, S. 31.

7

Dorothee Hammerstein: Darf die das? Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss und sein Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, in: Theater heute 44 (2003) H. 4, S. 49-51, S. 49.

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der in den 1990er Jahren boomartig populär gewordenen Familiendramatik, wobai allen voran an die (Inzest-)Stücke von Dea Loher, Marius von Mayenburg und Thomas Jonigk zu denken ist. Wie jedoch Hammersteins Besprechung und einer Vielzahl von weiteren Rezensionen darüber hinaus – vor allem ex negativo – zu entnehmen ist, überschreitet Bärfuss’ Text die vermeintlich engen Grenzen des häufig auf die bürgerliche Kleinfamilie und auf intime Innenräume konzentrierten Familiendramas. Ein für die Öffnung bedeutender dramaturgischer Kunstgriff besteht dabei in der zentralen Stellung der Protagonistin Dora, einer jungen Frau, die als eine Art „Verkörperung des Unpassenden“8 in das Figurenensemble integriert ist.9 Lukas Bärfuss’ Theatertext kreist um die Andersheit Doras, die von ihrem Umfeld pathologisierend als geistige Behinderung aufgefasst wird, ohne dass allerdings eine exakte Diagnose der Erkrankung erfolgt. Doras auffälliges Auftreten wird in der Semantik der Figurenrede als Fremdes10, als Exotisches11 und als Tierisches12 stigmatisiert. Die Abweichung von

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Dagmar Borrmann: Rot im Frühwarnsystem. Lukas Bärfuss, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 8-11, S. 9.

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Ein erheblicher Anteil an der wirkungsästhetischen Bedeutung der DoraFigur geht, mit Blick auf die Theaterkritik, auf ihre Darstellerinnen zurück, darunter Sandra Hüller (UA Theater Basel 2003, Regie: Barbara Frey; vgl. u.a. Peter Michalzik: Hüller und Füller. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von Lukas Bärfuss in Basel uraufgeführt, in: Frankfurter Rundschau, 22. Februar 2003, S. 10) und Anna Blomeier (Inszenierung Thalia Theater Hamburg 2003, Regie: Jorinde Dröse; vgl. u.a. Caroline Mansfeld: Das Leben lässt sich nicht aufhalten [zu Lukas Bärfuss: „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“], in: Die Tageszeitung, 24. November 2003, Hamburg lokal, S. 23).

10 Dora konfrontiert den „feinen Herrn“: „Sie haben gesagt, ich sei eine Russin, dabei bin ich gar keine Russin, aber Sie haben gesagt, ich sei wohl eine Russin, nur weiß ich nichts davon. Und dann haben Sie mich gefickt.“ (SN 93) Vgl. zur Zuschreibung, „etwas Russisches“ an sich zu haben, auch SN 84f. 11 „Der feine Herr“ spricht den Gemüsehändler auf Dora an: „[M]it einem Blick auf Dora: Sie haben’s mit den Exoten, scheint’s, und nicht nur beim Obst“ (SN 80). 12 Der Arzt attestiert Dora: „Du bist vertiert“ (SN 113).

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der Norm, die Doras Verhalten aus Sicht der anderen bedeutet, zieht insbesondere in Fragen der Sexualität ein erhöhtes Maß an sozialer Kontrolle und physischer Machtausübung nach sich. Bärfuss’ Theatertext ist es mithin um die Reichweite der Differenz zwischen Normalität und Neurose zu tun, wenn er auf den Spuren familiärer Sozialisation das Feld der Sexualität beschreitet. Mit der Verknüpfung von Gesundheits-, Sexualitäts- und Normalitätsdiskurs spielt das Bärfuss’sche Familiendrama, vorbehaltlich aller ästhetischen Differenzen, an die Tradition des kritischen Volksstücks an. Assoziieren lässt sich etwa Franz Xaver Kroetzens Theatertext Der Drang (UA 1994), bei dem es sich um die für die zeitgenössische Bühne der 1990er Jahre bearbeitete Version des früheren Stücks Lieber Fritz (UA 1975) handelt.13 Wie die zeitdiagnostische Forschung feststellt, ist seit den 1990er Jahren „eine Aufweichung sexueller Normen“14 zu beobachten: „Öffentliche Enthüllungen sexueller Praktiken, die früher als Abweichungen galten, nahmen zu – zumindest in bestimmten Fernsehsendungen, in denen scheinbar tabufrei schamlose Bekenntnisse über sexuelle Praktiken jenseits bisher gültiger Standards feilgeboten wurden.“15 Parallel dazu etabliere sich die Debatte um das „Verschwinden der Sexualmoral“16 und die „Diagnose vom Verschwinden sexueller Leidenschaft“17. In seinem Stück Die sexuellen Neurosen unserer Eltern verknüpft Lukas Bärfuss Elemente dieser Diskussionen mit der Frage nach der sozialisierenden Kraft der Familie. Die folgende Lektüre geht den dargestellten Zusammenhängen von Familien- und Sexualitätsdiskurs nach und richtet ein besonderes Augenmerk auf die Darstellung sexuellen Begehrens und des Körpers in seinen sozialen, diskursiven und physiologischen Bestimmtheiten. Mit Referenz auf Michel Foucaults Postulat, demzufolge die Sexualität das Zentrum moderner Geständnispraxis bildet, ist Bärfuss’ Theatertext als ein parodistischer

13 Vgl. für die Einordnung des Textes in das Spektrum der Familiendramatik der 1990er Jahre die Lektüre von Schößler: Augen-Blicke, S. 243-247. 14 Günter Burkart: Familiensoziologie, Konstanz 2008, S. 191. 15 Burkart: Familiensoziologie, S. 191. 16 Vgl. etwa Gunter Schmidt: Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral, Reinbek bei Hamburg 1998. 17 Yvonne Bauer: Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003 (Studien interdisziplinärer Geschlechterforschung, 6), S. 9.

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Kommentar zur Bekenntnis- und Beratungskultur der Gegenwart zu lesen, in dem das Sprechen insbesondere der familialen, beruflichen und medizinischen Autoritäten über das Abweichende dieses als Normalität entlarvt. Zugleich zollt der Text dem individualistischen Stellenwert Tribut, den Sexualität ebenso wie Körper und Selbst als Gegenstand einer gesteigerten Reflexivität18 für sich reklamieren können. 6.1.1 Dramaturgie des ‚einfachen‘ Problemstücks „Fin de la bobine.“ – Mit dieser Phrase, die das Ende einer Filmrolle bezeichnet19, schließen die Theaterstücke von Lukas Bärfuss ab. Anders als eine Formulierung wie „Ende“ oder „Le fin“, die schlicht das Ende einer Geschichte verkündet, und zugleich dem auf die Theaterpraxis abzielenden Ausdruck „Vorhang“ vergleichbar stellt die in den Theatertext transponierte Wendung den Bezug zum Medium des Films und zwar in dessen Materialität her. Vor dem Hintergrund traditioneller dramatischer Schlussformeln wirkt sie überraschend und wirft im Gestus der Verfremdung die Frage nach der Theatralität des vorangehenden Textes auf. Zudem lässt sich aus der Perspektive der filmischen Vorführungspraxis, in der die Worte den Wechsel der Filmrolle anweisen, eine weitere Funktion der Bärfuss’schen Schlussphrase erkennen: Sie markiert eine Leerstelle, insofern offenbleibt, ob die Geschichte des jeweiligen Theatertextes zum Abschluss gekommen ist oder, etwa in der Phantasie des Rezipienten oder in einem nachfolgenden Stück, fortzusetzen ist. Aus der so bestimmten strukturellen Perspektive betrachtet betont die Bärfuss’sche Dramatik mithin das Prozesshafte und widersteht dem Impuls zur Ergebnisorientiertheit, der den brisanten Stoffen, die die Stücke auf die Bühne bringen, innewohnt. Bärfuss’sche Theatertexte wie Der Bus oder Alices Reise in die Schweiz kreisen mehr oder weniger offensichtlich um ein gesellschaftspolitisches Problem, das sprichwörtlich gelöst sein will. Dennoch begründen sich Gegenwartsbezogenheit und theaterliterarische

18 Vgl. Anthony Giddens: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1993, S. 42. 19 Vgl. Simone Kaempf: Seit die Wunder abhanden kamen [zu Lukas Bärfuss: „Der Bus“], in: Die Tageszeitung, 13. September 2005, S. 16.

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Attraktivität der Stücke nachgerade in der Unlösbarkeit der dargestellten Problemlage. Dabei verlautbart das den Texten aufgetragene poetologische Credo des Autors, dass Unlösbarkeit nicht notwendigerweise mit Komplexität einherzugehen hat: „Nur die kleinen Probleme sind kompliziert, die grossen sind schrecklich einfach. Was ist kompliziert am Tod? Nichts, und trotzdem ist er unlösbar. Das interessiert mich. Deshalb möchte ich einfache Stücke schreiben, einfach und unlösbar.“20 Das Bekenntnis zur Einfachheit mündet dabei keineswegs in populistische Verkürzungen, im Gegenteil präsentiert sich etwa der Theatertext Die sexuellen Neurosen unserer Eltern als ein Problemstück21, das „ohne eifernde Parteinahme und anklägerische Zuspitzung auskommt“22. Die sogenannte Einfachheit, die der Autor reklamiert und die Theaterkritik konstatiert, manifestiert sich vielmehr im Entwurf der Figuren wie auch in der Dramaturgie der Stücke. Die Kritikerin Christine Dössel attestiert beispielsweise dem Stück Der Bus: „[I]m Vergleich mit den poststrukturalistischen Texten vieler Gegenwartsautoren ganz klassisch im Bau und bescheiden im Auftritt, linear in der Struktur und bezwingend einfach in der Sprache.“23 „Einfachheit“ meint mithin die Abgrenzung zu einer postdramatischen Ästhetik, die sich jeglicher Synthesis verweigert und auf Überforderung (der

20 Lukas Bärfuss, Judith Gerstenberg, Britta Kampert: Tragödie der Eindeutigkeit. Lukas Bärfuss über sein Stück „Die Probe (Der brave Simon Korach)“, in: Programmheft 168, Burgtheater Wien, Spielzeit 2007/2008, S. 52-58, S. 57. 21 Explizit als Problemstück bespricht Franz Wille Bärfuss’ Theatertext Die Probe (zusammen mit Margareth Obexers Der Zwilling und Marius von Mayenburgs Der Häßliche) in: Franz Wille: Problem erkannt, Problem gebannt [u.a. zu Lukas Bärfuss: „Die Probe“], in: Theater heute 48 (2007) H. 3, S. 44-48, insb. S. 48. 22 Hammerstein: Darf die das?, S. 49. Anders Hartmut Krug, der einen „oberlehrerhaften Erklärton des Autors“ bei gleichzeitiger „Mehrdeutigkeit des Textes“ konstatiert. (Vgl. Hartmut Krug: Aus sich heraus. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ in Hamburg und Stuttgart, in: Frankfurter Rundschau, 27. November 2003, S. 18.) 23 Christine Dössel: Leben ist Glaubenssache. Stephan Kimmig inszeniert „Der Bus“ von Lukas Bärfuss am Thalia Theater Hamburg, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Februar 2005, S. 14.

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Zuschauer wie der Darsteller) zielt24. Es werden Strukturelemente des klassischen Dramas eingesetzt, wenn dramatis personae profiliert werden, die Sprache in Dialogen erscheint und die Handlung als nachnacherzählbare entworfen ist.25 Die von Katharina Keim für Bärfuss’ „Religionsdrama“ Der Bus (Das Zeug einer Heiligen) vorgeschlagene Bezeichnung „,neodramatisch‘“26 kann auch auf Die sexuellen Neurosen unserer Eltern angewandt werden. Bärfuss ist damit zu denjenigen Gegenwartsautoren zu zählen, für deren Theatertexte weitestgehend die konventionellen Formen des Dramas und eine zur szenischen Darstellung bestimmte Geschichte Verbindlichkeit besitzen: „Gesprengte Formen muss niemand fürchten“, heißt es in einer Kritik aus dem Jahr 2005.27 Nicht zuletzt ein Stück wie Amygdala28, das 2009 zur Uraufführung kommen soll, zeigt allerdings, wie dehnbar und variabel das dramatische Formenrepertoire des Autors ist, denn gleichwohl Amygdala Umrisse von Charakteren, dialogische Rede und narrative Strukturen erkennen lässt – nachvollzogen wird ein wissenschaftliches Experiment zum Thema Furcht und Gewalt –, verzichtet es auf den dramentypischen Nebentext, auf ein Personenverzeichnis wie auch auf Sprecherbezeichnungen und nähert sich darin durchaus typographisch kenntlich gemachter Darstellungsformen nicht mehr dramatischer Theatertexte an. Die in dieser jüngsten Formenvariation abzulesende Auseinandersetzung mit dem Verständnis des Dramas als Spielvorlage zeigt sich auch, wenn den Theatertexten ein Hinweis beigegeben ist,

24 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, u.a. S. 140f., S. 150f. u. S. 154f. 25 Die Orientierung am klassischen Drama zeigt sich auch in weiteren Stücken des Autors, so etwa in dem Stück Alices Reise in die Schweiz, für das Thomas Bühler das Festhalten an „Konventionen traditioneller Narrationen“ konstatiert (Bühler: Die Praxis schlägt zurück, S. 50). 26 Katharina Keim: Seltsame Heilige, gottverlassene Gläubige. Glaubensfragen im zeitgenössischen Religionsdrama: Lukas Bärfuss’ „Der Bus. Das Zeug einer Heiligen“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 86-94, S. 89. 27 Simone Kaempf: Seit die Wunder abhanden kamen [zu Lukas Bärfuss: „Der Bus“], in: Die Tageszeitung, 13. September 2005, S. 16. 28 Lukas Bärfuss: Amygdala, in: Lukas Bärfuss: Alices Reise in die Schweiz. Die Probe. Amygdala. Stücke, Göttingen 2007, S. 115-166.

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der auf die Mitarbeit des Regisseurs29 oder der Regisseurin und Dramaturgin30 aufmerksam macht und damit das kollektivistische Element der Theatertextarbeit und dessen theatrale Dimension fokussiert. Das Figurenensemble in Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, das sich neben der dreiköpfigen Kleinfamilie aus einem Gemüsehändler und dessen Mutter, einem Arzt und einem „feinen Herrn“ rekrutiert, gruppiert sich konzentrisch um Dora. Während letztere als einzige Figur einen individualisierenden Namen erhält, werden die weiteren Figuren nach ihren durch Familie und Beruf bestimmten sozialen Rollen benannt und gerinnen dadurch tendenziell zu eindimensionalen, komödientauglichen Typen. Allein „Der feine Herr“, dessen auktorial vergebener Name keinen Schluss auf seinen familiären oder beruflichen Stand zulässt, wird zusätzlich mit einem individualisierenden Namen versehen und zwar in der Figurenrede, die bezeichnender Weise als vermittelte erscheint, denn Dora, wie es im Nebentext heißt, „zitiert“: „Da haben Sie was Schönes angerichtet, lieber Herr Gerber“ (SN 107). Die doppelte Personenbezeichnung – „Der feine Herr“ und „Herr Gerber“ – evoziert aufgrund der gegensätzlichen Konnotationen der beiden Namen, die insbesondere auf den sozialen Status und Habitus der Person schließen lassen, einen komischen und auch ironischen Effekt. Die Benennung von Doras Geliebtem, der sich als entfernter Verwandter von Arthur Millers Handlungsreisenden, Willy Loman, präsentiert, reflektiert damit eine Ambivalenz, die sich auch in dessen beruflicher Tätigkeit spiegelt: „Der feine Herr“ verkauft Parfüm, das für die einen „nach Puff“, „muffig“ und „ranzig“ (SN 96) riecht und in dem die anderen ein „Parfum von Weltklasse“ (SN 97) erkennen. Mit dem Namen der Figur und ihrem Attribut wird mithin die Opposition Gestank und Duft akzentuiert, die im Bärfuss’schen Text, insbesondere mit Bezug auf die Figur der Dora, in ihrer geschlechtlichen, anthropologischen und sozialen Dimension und bevorzugt als Bestandteil der Rede über Körper und Sexualität problematisiert wird. Konkret bilden der Körpergeruch der jungen Frau wie auch die Hygiene im Umgang

29 Samuel Schwarz inszeniert den Text Meienbergs Tod. Eine Groteske. Vgl. Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod, in: Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke, Göttingen 2005, S. 769, S. 8. 30 Bei der Inszenierung von Die sexuellen Neurosen unserer Eltern sind Barbara Frey und Judith Gerstenberg beteiligt (vgl. SN 72).

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mit dem eigenen Körper rekurrente Gesprächsthemen, über die im Kreis der Familie ebenso wie am Arbeitsplatz, einvernehmlich oder kontrovers verhandelt wird. Im letzten Abschnitt dieser Lektüre ist hierauf eingehender zurückzukommen. Noch bevor der Rezipient im Einzelnen mit dem Stückpersonal bekannt wird, konfrontiert ihn der Titel des Theatertextes, Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, mit einem Aufruf zur Solidarität. Mittels des vereinnahmenden Possessivpronomens wird der Zuschauer oder Leser unversehens als Angehöriger der Kindgeneration adressiert. Implizit rückt er in die Position eines Beobachters, der bei seinem Gegenüber, den Eltern, einen pathologischen Befund diagnostiziert. Vor Beginn der Geschichte in diese Rezeptionshaltung manövriert ermöglicht demgegenüber der Auftakt des Familienstücks die Distanzierung vom Blickwinkel des Kindes. Die erste Szene spielt in einer Arztpraxis und stellt die Tochter der Kleinfamilie, Dora, als eine langjährige Patientin vor; in Verbindung mit der im Stück diskutierten Sexualmoral lässt der Name Sigmund Freuds gleichnamigen „Fall“ einer Hysterikerin31 assoziieren. Ganz im Sinne einer Exposition erfährt der Rezipient von der Krankengeschichte Doras, indem die sorgenvolle Mutter dem neuen Arzt Bericht erstattet und indem sich Kranke und Mediziner in einem ersten knappen Gespräch kennen lernen. Die Informationen der ersten Szene irritieren und relativieren demzufolge die Implikationen des Titels, mit dem Ergebnis, für die Frage nach der rezeptionssteuernden Informationsvergabe sensibel zu machen. In der gleich zu Anfang initiierten Kreuzung inkohärenter Perspektiven gründet das subtile Spiel um die Grenzen zwischen Normalität und pathologischer Abweichung, das die weitere dramatische Handlung trägt. Das wechselweise Konturieren und Verwischen der Trennungslinien zwischen Krankem und Gesundem, Abweichung und Norm erstreckt sich über eine kleinteilige Folge von durchnummerierten Handlungsausschnitten, genauer: von fünfunddreißig lakonischen Dialog-

31 Wie Bärfuss’ Dora aus Figurenperspektive unterstellt wird, zeigt sich bei der Freud’schen Patientin als eines der „Hauptzeichen ihres Krankseins“ eine „Charakterveränderung“. (Vgl. Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 5: Werke aus den Jahren 1904–1905, 5. Aufl., Frankfurt 1972 [1942], S. 161-286, S. 181.)

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szenen mit maximal vier Anwesenden, angelegt „wie Sketches, elliptisch und pointiert“32. Der strukturell forcierten Parzellierung der Handlung wirkt die dramaturgisch zentrale Funktion Doras als unfreiwillige Provokateurin33 entgegen, die sich auf dem Zählbrett des szenischen Aufbaus auch quantitativ festlegen lässt: Dora tritt nur in drei Szenen nicht auf, wobei es sich in diesen Ausnahmefällen immer um Szenen mit Beteiligung der Mutter handelt (Szene 16, 29 und 31). In gewisser Hinsicht fungiert die Mutter, deren dominierende Stellung strukturell dadurch markiert wird, dass sie in nahezu der Hälfte aller Szenen und damit deutlich häufiger als alle anderen Figuren auftritt, als Substitut der Tochter. Der Theatertext unterfüttert damit formal die Sorge des Vaters, dass die für die Familie ebenso wie für seine männliche Identität konstitutiven Rollengrenzen zwischen Mutter und Tochter verwischen könnten. In einer für das Familiendrama der jüngeren Vergangenheit – zu nennen sind etwa Wilfried Happels Das Schamhaar (UA 1994) oder Kerstin Spechts Die Froschkönigin (UA 1998)34 – prototypischen Situation, nämlich bei dem die Gemeinschaft der Kleinfamilie konsolidierenden Essenstisch, klagt der Vater die aus seiner Sicht bedrohliche, entdifferenzierende Nähe zwischen beiden Frauen an: „Mußt du Dora an dein Parfum lassen. Ich finde es weiß Gott genug, daß ihr dieselben Kleider tragt und du sie mit zu deinem Frisör nimmst. Ich möchte meine Tochter von meiner Frau unterscheiden können. Sonst mach ich mich eines Tages unabsichtlich strafbar“ (SN 96). Durch ihre Mimikry wird die Tochter für den Vater, der um seine durch das kulturelle Inzestverbot kanalisierte Kontrolle des eigenen sexuellen Begehrens fürchtet, zur Provokation. Die väterliche Au-

32 Hammerstein: Darf die das?, S. 51. 33 „Dora ist keine Provokateurin. Sie will es eigentlich allen recht machen. Aber die Toleranz kommt ganz schnell an ihre Grenzen, wenn der Gegenstand der aufgeklärten Bemühungen sich als undankbar, widerspenstig oder auch nur selbstbewusst erweist.“ (Dagmar Borrmann: Rot im Frühwarnsystem. Lukas Bärfuss, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 8-11, S. 10.) 34 Vgl. auch die Theatertexte Tätowierung (UA 1992) von Dea Loher, Mordslust (UA 1995) von Wilfried Happel, Das Feuergesicht (UA 1998) von Marius von Mayenburg oder Musst boxen (UA 2004) von Claudius Lünstedt.

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torität unterstellt Doras Auftreten einen janusköpfigen Charakter, indem sie auf die potenzielle Gefährdung der bestehenden (familialen) Ordnung verweist. Der Einwand des Vaters lenkt die Aufmerksamkeit damit auf das konstruktive Moment des Unterschieds und auch auf die identitätsstiftende Funktion der Alterität, die Dora im sozialen Gefüge des Theatertextes verkörpert. Ebenso wie auf der Ebene der Geschichte jede der Figuren in erster Linie über ihre Beziehung zu Dora charakterisiert ist – sei sie negativ abgrenzend oder positiv verbindend gestaltet –, lässt sich auf formaler Ebene in der Figur Doras das Bindeglied zwischen den mit jeder Szene wechselnden Personen-, Raum- und Zeitkonstellationen sehen. Bezüglich der Organisation der Szenen weist Bärfuss’ Familiendrama demzufolge Ähnlichkeiten mit dem Bau des Stationendramas auf.35 Jedoch lässt sich von den einzelnen Szenen nicht als Stationen, sondern treffender von exemplarischen Ausschnitten oder Bildern sprechen, da die für das Stationendrama zentrale Idee des Weges36 – will man nicht die schrittweise Emanzipation der Tochter vom Elternhaus und ihren geplanten Aufbruch nach Russland interpretatorisch überstrapazieren – nicht aktualisiert wird. Assoziationen an das Stationendrama werden gleichwohl durch eine subtile Thematisierung des Religiösen gestützt.37 Wie in Dea Lohers Stationendrama Adam Geist (UA 1998)38 besitzt auch bei Bärfuss der Name der Hauptfigur, wenngleich dezen-

35 In seiner Begriffsbestimmung notiert Peter Simhandl „das Vorhandensein einer zentralen durchgehenden Figur“ als charakteristisches Merkmal des Stationendramas. (Vgl. Peter Simhandl: Stationendrama, in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. vollst. überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992 [1986], S. 880-881, S. 880.) 36 Paul Stefanek hält fest: „Wohl ist die Formstruktur des Weges nicht ausschließlich für das Stationendrama konstitutiv, doch tritt sie in ihm am sinnfälligsten in Erscheinung.“ (Paul Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, in: Werner Keller (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas, Darmstadt 1976, S. 383-404, S. 387.) 37 Vgl. Stefanek: Zur Dramaturgie des Stationendramas, bes. S. 383-389. 38 Dea Loher: Adam Geist, Frankfurt/Main 1998. Als Passionsgeschichte und allegorische Erzählung liest den Theatertext Alexandra Ludewig: Dea Lohers Theaterstück „Adam Geist“, in: Forum Modernes Theater 15 (2000) H. 2, S. 113-124.

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ter, religiöse Konnotationen: ‚Dora‘ ist die Abkürzung der griechischen Namen Dorothea und Theadora, die sich aus den Worten ‚theos‘ für ‚Gott‘ und ‚doron‘ für ‚Geschenk, Gabe‘ zusammensetzen. Bedeutenderweise signalisiert der Name der Bärfuss’schen Protagonistin die Tilgung der göttlichen Komponente und verweist somit auf die anthropozentrische Haltung, von der sich insbesondere die Gespräche und die Entscheidung zur Abtreibung von Doras Kind geprägt zeigen. Im Mutter-Tochter-Gespräch legt Doras Vorschlag, was mit ihrem Kind geschehen solle, sowohl die Bedeutung des sprechenden Namens als auch deren Verschränkung mit dem Abtreibungsdiskurs offen: DORA: Wir können es jemandem schenken, der keine Kinder haben kann. MUTTER: Schöne Idee, aber ich glaube nicht, daß jemand an diesem Geschenk Freude hätte. DORA: Dann warten wir, bis es auf der Welt ist, und dann töten wir’s. Kein Witz. MUTTER: Es ist verboten, Dora. […] MUTTER: Es geht nicht Dora. Glaube mir. DORA: Dann weiß ich nicht. MUTTER: Würdest du Papa glauben. DORA: Papa glaube ich immer. (SN 103)

Religiöse Erwägungen finden keinen Einlass in den Wortwechsel zwischen Mutter und Tochter, doch ist die Frage des „Glaubens“ nicht vollständig verdrängt, sondern sie kehrt in profanierender Weise als soziales Phänomen des Vertrauens wieder. Der Glaube gilt nicht der göttlichen Instanz, sondern der weltlichen, familialen Autorität, dem Vater. Entsprechend benennt die Mutter ihre Tochter, die nach dem Absetzen der stillstellenden Medikamente nun „wieder ein Mensch“ gewordenen sei, zwar explizit als „ein Geschenk“, doch erkennt sie darin weniger eine Gabe Gottes als die Frucht ihrer eigenen und der ärztlichen „Entscheidung“ (SN 82).39 Die Idee, dass ein Kind ein Geschenk sei, begründet bei der Mutter denn auch keine dauerhafte Überzeugung, wie die abschlägige Reaktion auf Doras Vorschlag belegt. Dora und ihre Andersheit sind aus Sicht der Mutter weniger Ge-

39 In der Verschränkung von religiösem und medizinischem Diskurs klingt zudem das stereotype Bild vom Arzt als ‚Halbgott in Weiß‘ an.

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schenk oder Strafe Gottes denn vielmehr Ergebnis menschlichen Handelns und, wie im ehelichen Gespräch diskutiert wird, Produkt „schlechter Gene“, die ihrerseits aus Umwelteinflüssen40 resultieren (SN 118f.). Die Mutter personalisiert damit einen biologistischen Standpunkt, der in Bärfuss’ Familiendrama einen zentralen Bezugspunkt der Debatte um Fortpflanzung und Sexualität darstellt. Konterkarieren die Aussagen der Mutter tendenziell die positive, religiös konnotierte Bedeutung des Namens ‚Dora‘, so wird diese in Adressierungen anderer Mitmenschen an die junge Frau nachhaltig aufgegriffen. „Der feine Herr“ spricht seine Geliebte als „Engel“ an und gesteht ihr sein Erstaunen darüber, „[d]aß es so etwas wie dich auf dieser Welt überhaupt gibt“ (SN 123) – wobei die Anrede als „etwas“ Dora als Objekt seines sexuellen Begehrens diffamiert. Über die Sittlichkeit und Ehrlichkeit von Doras Freund spekuliert die Mutter von Doras Chef, die ihn sich auch als Zuhälter vorstellen kann: „Irgendwann verlangt er Geld dafür, Dora, und du landest auf der Straße. Es gibt auf der Welt viele böse Menschen. / DORA: Böser als ich. / DIE FRAU lacht: Du bist nicht böse, Dora. Du bist ein Lamm“ (SN 109). Im unmittelbaren Gesprächskontext spielt die Bezeichnung ‚Lamm‘ auf Doras moralische Unschuld an, für die – das Lachen zeigt dies an – ihre scheinbare Naivität als Bürge einzustehen hat. Dabei ruft die Verbindung der Themen Unschuld und Sexualität unweigerlich den bürgerlichen Tugenddiskurs auf, der den Widerspruch von Jungfräulichkeit und biologischer Mutterschaft aufzulösen sucht, indem er das Ideal weiblicher Tugend hervorbringt und damit den Zustand, wie Albrecht Koschorke formuliert, „seelische[r] Jungfräulichkeit“41 propagiert. Die sittliche Dimension der Jungfräulichkeit klingt in der Reaktion des „feinen Herrn“ an, als er erfährt, dass er Doras „erster Mann“ (SN 99) ist: „Du hattest wirklich noch nie einen anderen. Ist das wahr. Ach, du. Du schenkst das mir. Kind. Mir“ (SN 100). Und auch Doras Mutter unterstreicht den sittlichen Aspekt sexueller Unschuld, wenn sie klagt: „Du verstehst nicht, was er dir angetan hat“ (SN 86). „Der Mann will nichts Gutes von dir. Er hat dir dein Bestes genommen“ (SN 87). Wenn der Bärfuss’sche Theatertext Naivität und Unschuld

40 „Unsere Gene sind schlecht, von der Weltraumstrahlung, vom Ozonloch, Umweltgift, weil unsere Eltern zu nahe verwandt waren“ (SN 119). 41 Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, 3. Aufl., Frankfurt/Main 2001 [2000], S. 190.

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zusammenführt, dann zitiert er zudem einen Unschuldsbegriff, der, an moralische Postulate der Aufklärungszeit anschließend, „nicht bloß die Vermeidung unziemlicher Taten, sondern mehr noch Unwissenheit, Unkenntnis der Sünde“42 einschließt. Allerdings löst die Dramaturgie des Textes den von Koschorke sogenannten „performativen Widerspruch“ der bürgerlichen Frau, „einerseits ihrer biologischen Aufgabe nachkommen und andererseits in einem sittlichen Verständnis ‚unwissend‘ bleiben“43 zu müssen, nicht, indem sie die Protagonistin etwa in Ohnmacht fallen lässt, wie es vorzugsweise den Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts widerfuhr, sondern indem sie die Unwissenheit als Anlass und Ort „unziemlicher Taten“, das meint leidenschaftlicher weiblicher Sexualität inszeniert. Paradoxerweise scheint damit in eben derselben Unwissenheit, die Dora, insbesondere in körperlichen Belangen, als Opfer fremder Verfügungsmacht zeichnet, das Potenzial der aktiven sexuellen Selbstermächtigung auf. Wenn Familie und Mitmenschen Dora zur Marionette ihrer Ansichten, ihrer Bedürfnisse und ihres Begehrens machen, wenn Dora zum Objekt physischer Manipulationen wird, so begründet sich dies in besonderem Maße in ihrer Angewohnheit, das von anderen Gesagte nachzusprechen. Ihr Sprechen und Handeln präsentiert sich als Nachahmung und wirkt daher fremdbestimmt. Doch „wie ein Opfer sieht sie niemals aus“, konstatiert die Theaterkritikerin Dorothee Hammerstein, „[a]n ihr ist etwas Unverletzliches, eine unantastbare Unschuld, neben der alle anderen verbraucht und schäbig wirken“44. Vielmehr verbindet sich mit der Erscheinung der jungen Frau die Assoziation, dass es sich bei Dora um eine Erlöserfigur handelt und demzufolge bei der dargestellten dreiköpfigen Familie um eine Figuration der Heiligen Familie. Diese Lesart stützen die bereits aufgezeigte Gottähnlichkeit des Vaters und die problematisierte Funktion der Jungfräulichkeit, aber auch die Betitelung Doras als ‚Lamm‘. Diese Apostrophierung lässt, mit Blick auf die Geschichte der Sexuellen Neurosen unserer Eltern im Gesamten, das Opferlamm und also das Agnus Dei anklingen, das, selbst unschuldig, die Sünden der Menschen auf sich nimmt. Binnenfiktional kommt die Erlöserrolle der jungen Frau in der Rede des „feinen Herrn“ explizit zur Sprache: „Komm einmal her. Du bist keine

42 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 190f. 43 Koschorke: Die Heilige Familie, S. 191. 44 Hammerstein: Darf die das?, S. 51.

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Nutte. Nein, Kind, du bist etwas Besonderes. Du bist ein Engel. Der Himmel hat dich geschickt. Du wirst mich erlösen. Kind. Ich werde mich ändern. Von nun an werde ich gut sein mit dir. Versprochen. Ich zeige dir, was ich noch niemandem gezeigt habe. Wie ich wirklich bin“ (SN 100).45 Nicht nur thematisiert der Theatertext die weibliche Codierung der Unschuld, er bringt sie auch mit der das Familienthema konstituierenden Dimension der Generation in Verbindung und reflektiert den Status des Kindes. Dabei spielt die Liaison von Kind und Engel, wie sie die Replik des „feinen Herrn“ herstellt, auf ein für die Kleinfamilie der Empfindsamkeit und der Romantik vorbildliches Rollenverständnis an: das Kind als Heilsbringer.46 In der Überlagerung der in den Figurenperspektiven entworfenen Bilder von Dora als Hure und Dora als Heilige realisiert sich die Spiegelfunktion, die der Bärfuss’sche Theatertext seiner Protagonistin zuschreibt. Dabei besitzt das in den Worten des „feinen Herrn“ antizipierte Moment der Offenbarung mit Blick auf die dramatische Handlung insgesamt ein überwiegend bedrohliches oder doch wenigstens verunsicherndes Wirkungspotenzial. Insbesondere durch das Skizzenhafte der Figurenzeichnung und das Reduktionistische der Sprache bleibt die Assoziation der Erlöserfigur ebenso in der Schwebe wie die Protagonistin nicht auf ihr Opfersein festgelegt und dieses nicht zum psychologisch deutbaren Charaktermerkmal verfestigt wird. In der Kritik zur Uraufführung von Die sexuellen Neurosen unserer Eltern heißt es entsprechend: „Barbara Frey und Sandra Hüller malen ihr [Dora, C.B.] keinen Heiligenschein, aber sie gönnen ihr einen verklärenden Abgang: aufrecht. Lächelnd. Durch leise rieselnden Theaterschnee. Und bis zuletzt unergründet.“47 Doras Ort definiert sich über das Paradox, zugleich im Zentrum und im Abseits des sozialen Personengefüges zu stehen. Das Jenseitsstehen wird im Theatertext schlaglichtartig in das Licht des Religiösen gestellt, wobei es in erster Linie als sozial dimensionierte Abweichung und vor allem als geschlechtlich codiertes Phänomen sich kreuzender Inklusions- und Exklusionsstrategien problematisiert wird.

45 Den Status der Außergewöhnlichen attestiert Dora auch der Vorgänger des Arztes, wie die Mutter berichtet: „Nie habe er ein Mädchen getroffen, das sei wie sie“ (SN 74). 46 Vgl. Koschorke: Die Heilige Familie, S. 191f. 47 Hammerstein: Darf die das?, S. 51.

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In den Personen, die verschiedene Instanzen des öffentlichen und des privaten Lebens repräsentieren, begegnet Dora – in der Art eines Stationendramas48 – der Welt. Allerdings bleibt sie, nach Aussage ihrer Mutter, „[e]in Handbreit nur neben unserer Welt, und von ihr doch unüberwindlich getrennt“ (SN 74). Das Nebeneinander von Dora und den anderen, auf das in dieser Aussage im Sinne eines Bruchs innerhalb eines sozialen Beziehungsgeflechts angespielt wird und das das zentrale Thema der Alterität grundiert, spiegelt sich in dem strukturellen Nebeneinander der Szenen. Diese sind zum Teil austauschbar und halten dadurch Nähe und Ferne zueinander variabel. Formal kann mithin die gleiche Gegenbewegung als prägend gelten, die die Beziehung der Figuren bestimmt: Sie zeichnet sich zugleich durch distanzlose Intimität und distanzierende Öffentlichkeit aus – vor allem gegenüber Dora. Das im Verlauf des Stücks nach und nach an Intensität und Vehemenz gewinnende Ringen um die Ordnung der sozialen Beziehungen verhält sich zu einer zunehmend an Kausalität und Finalität orientierten Handlungs- und Szenenabfolge vergleichsweise homolog. Über den Grad der zeitlichen und räumlichen Distanz zwischen den knappen Handlungsausschnitten informieren einmal implizit die Figurenrede und einmal die in auktorial übergreifendem Duktus verfassten Szenenüberschriften. Jede aufeinanderfolgende Szene spielt an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, unabhängig davon, ob das Personal wechselt oder nicht.49 Auffällig bei den Ortsangaben ist, dass sie hinsichtlich der Korrelation mit bestimmten Figurenkonstellationen relativ konstant bleiben, das heißt Dora begegnet dem Arzt ausschließlich in dessen Praxis, ihrem Chef und dessen Mutter nur im Gemüseladen und ihrem Vater nur Zuhause, im Hotel und in der Bahnhofshalle nur ihrem Geliebten, dem „feinen Herrn“. Über die Räume, seien sie eher öffentlich oder eher privat konnotiert, kristallisiert sich derart ein soziales Kontinuum heraus, das es erlaubt, Irritationen einer für unerschütterlich gehaltenen Ordnung über eine Ver-

48 Vgl. Peter Szondis Ausführungen zum Stationendrama, in denen er „das perspektivische Gegenüber von Ich und Welt“ als strukturbestimmende Opposition festhält. (Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950), 23. Aufl., Frankfurt/Main 1999 [1963], S. 47.) 49 Zweimal bleibt das Personal in zwei aufeinander folgenden Szenen gleich; in beiden Fällen handelt es sich um die Figurenkonstellation „Der feine Herr“ und Dora, nämlich in den Szenen 10/11 sowie 25/26.

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schiebung in der Figur-Ort-Beziehung zu erzählen. So kann „Der feine Herr“, der als Kunde am Gemüsestand auftritt, zur Gefahr für die Nähe zwischen Chef und Angestellter werden (SN 82) und kann der Besuch von Dora und ihrem Geliebten auf dem Campingplatz – der, als Ort der Unsitte deklariert, bezeichnenderweise nur einmal als Schauplatz dient und sonst nur in der Figurenrede vergegenwärtigt wird (SN 91, 112) – die Flucht von Doras Eltern aus dem Alltag entlarven (SN 111f.). Insgesamt befördert die Auswahl der insgesamt sechs Spielorte, die anders als eine Zeitangabe dem Stückauftakt vorangestellt werden, eine Typisierung des Handlungsgeschehens wie auch der Figuren. Das Bemerkenswerte der in den Szenentiteln angeführten Zeitangaben liegt darin, dass sie weniger empirischen Zwecken im Sinne einer Eingrenzung der Handlungsdauer dienen; wie viel Zeit zwischen der ersten und der letzten Szene, zwischen Doras Absetzen der Medikamente und ihrem Abschied von Eltern und Geliebtem, liegt, kann nicht taggenau beziffert werden. Die Informationen zu Zeitpunkten und Zeitdauern gehen vielmehr mit assoziationsreichen atmosphärischen Eindrücken einher. So lauten die Angaben etwa: „AM STAND. AN EINEM LICHTEN MORGEN. DIE NACHT HAT ES GEREGNET“ (SN 80). Oder: „IN DER ARZTPRAXIS. KURZ NACH MITTAG, UND DIE WELT IST SATT UND TRÄGE“ (SN 82). Oder: „ZU HAUSE. ALLEIN, IN EINER EINSAMEN, ABER RUHIGEN STUNDE, DAS WARTEN STIMMT VERSÖHLICH“ (SN 118). Der konstante Wechsel der Szenerie präsentiert sich nicht nur als eine lockere Reihung von Begegnungen zwischen Dora und ihren Mitmenschen, sondern auch als eine Folge von Stimmungsbildern, der aufgrund ihres visualisierenden Potenzials und in Verbindung mit der Bärfuss’schen Schlussphrase „Fin de la bobine“ filmischer Charakter zugesprochen werden kann. Die szenische Reihung in Die sexuellen Neurosen unserer Eltern als Bilderfolge zu beschreiben, gewinnt zudem an Plausibilität, wenn man einen Blick auf die Genese des dramatischen Werkes des Autors wirft: Bärfuss’ frühes dramatisches Schaffen ist eng mit der von ihm mitbegründeten Schweizer Künstlergruppe 400asa50 verknüpft, die sich neben dem Theater auch dem Film und

50 400asa wurde 1998 von Bärfuss, Udo Israel und Samuel Schwarz gegründet. Die Gruppe veröffentlichte die Programmschrift Bekenntnis99, mit der sie, wie es auf der Homepage heißt, „– ähnlich dem Dogma der dänischen Filmemacher – ein Regelwerk für eine einfachere und billigere Art des

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dem Hörspiel widmet. Einer der frühen Theatertexte von Bärfuss, Medeää, uraufgeführt im Jahr 2000, dokumentiert die Affinität zum Film auf unverkennbare Weise, denn er präsentiert, wie der Untertitel ankündigt, nicht weniger als 214 Bildbeschreibungen und liefert eine detailgetreue Vertextlichung dessen, was die Kamera in Lars von Triers Film Medea zeigt.51 Gemäß dem Titel führt auch der Theatertext Vier Bilder der Liebe (UA 2002) dem visuellen Medium das Wort, so dass das an Arthur Schnitzlers Reigen erinnernde Liebesbeziehungsdrama in der Kritik auch mit Kinofilmen wie Doris Dörries Nackt (2002) in Verbindung gebracht wird.52 Die werkinternen intertextuellen Referenzen lassen mithin das Thema der Intermedialität hervortreten, das in Die sexuellen Neurosen unserer Eltern vor allem in den, teilweise im Stil von Regieanweisungen gehaltenen, Szenenüberschriften zu verorten ist. Die Szenentitel wie „6. IN EINEM HOTELZIMMER. MAN HÖRT DIE LEITUNGEN SINGEN“ (SN 84) oder: „7. ZU HAUSE. MITTEN IN DER NACHT, EINE KERZE BRENNT UND TROPFT“ (SN 86) lassen sich in einem weiteren Sinne als Schnittflächen auffassen, an denen der dramatische Text mit anderen Genres gekreuzt oder verknüpft wird, die mithin das Potenzial intermedialer Bezüge grundieren. Folgte man Bärfuss’ Aussage, dass der Comic für sein Schrei-

Theaterproduzierens“ aufstellte. (Vgl. www.400asa.com, Stand: März 2009) Zu und aus dem Manifest vgl. auch Bühler: Die Praxis schlägt zurück, S. 46, Fußnoten 14, 15 u. 16. 51 Zu Medeää. 214 Bildbeschreibungen (UA 2000) schreibt Barbara Burkhardt: Das Stück „stellt sämtliche Einstellungen des Lars von TrierFernsehfilms Medea im Sinne der ‚Dogma 95‘-Regeln minutiös nach […] [D]er Text beschreibt, was die Kamera sieht – auf dänisch, mit expressionistischer Stummfilmdramatik, in der Konfrontation von Filmzitaten und hoch stilisiertem Spiel. Ein ironisch-kompliziertes, nicht unprätentiöses Experiment, imponierend in der Sturheit, mit der es eine Methode durchzieht, die es gleichzeitig in Frage stellt.“ (Burckhardt: Freiheit, die ich meine, S. 32.) 52 Vgl. Andreas Rossmann: Paarkreuzung. Schauspielertriumphe in Bochum: „Vier Bilder der Liebe“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2002, S. 41.

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ben „viel wichtiger“ sei als der Film53, ließen sich die Szenentitel in Verbindung mit der Knappheit der dialogischen Rede und der Dramaturgie des Ausschnitts durchaus auch als Element dieser narrativen Darstellungsform auffassen: Sie wären dann den hetero- oder homodiegetischen Erzählerkommentaren in den comictypischen Blockkästen vergleichbar. Die Wortwahl und -komposition der Überschriften spielt zudem auf die Gattung der Lyrik an. Momente des Poetischen entstehen insbesondere durch den Einsatz von rhetorischen Stilmitteln wie Personifikation, Parallelismus, Ellipse und Inversion: „15. IN EINEM HOTELZIMMER. DIE ZEIT VERGISST, DER AUGENBLICK VERWEILT, DIE MENSCHEN ERMATTEN“ (SN 98).54 Oder: „29. ARZTPRAXIS. SPÄT DIE STUNDE UND MÜDE“ (SN 115). Insbesondere der Ausdruck „ZUR BLAUEN STUNDE“, der kombiniert mit der Ortsangabe „IM HOTEL“ die letzte der 35 Szenen betitelt und die flüchtige Zeitspanne der Morgen- oder, hier wahrscheinlicher, der Abenddämmerung bezeichnet, ruft lyrische Assoziationen hervor und lässt das Motiv des Abschieds anklingen, das Gegenstand der Schlussszene ist. Den Eindruck des Lyrischen erwecken die Szenentitel insgesamt und verstärkt in Verbindung mit einer Figurenrede, die sich, bis auf wenige Ausnahmen55, durch knappe Wortwechsel auszeichnet und der die wiederkehrenden Regieanweisungen „Pause“ und „Schweigen“ eine musikalische Qualität verleihen, indem sie das Sprechen rhythmisieren. Allerdings kontrastieren die lyrischen Allusionen auch hörbar mit dem alltäglichen Umgangston, den die Figuren in ihren Gesprä-

53 Anne Schöfer: Schreiben macht einfach komisch. Lukas Bärfuss, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. StückWerk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 7-10, S. 8. 54 Der Ausdruck „der Augenblick verweilt“ ruft Goethes Faust als Intertext auf, in dem Faust seine Wette mit Mephistopheles macht: „Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehen!“ (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie Erster Teil, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hg. v. Friedmar Apel u.a., I. Abt. Bd. 7/1: Faust. Texte, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt/Main 1994, S. 31-199, S. 76; V 1699-1702.) 55 Zu nennen sind die Unterweisung Doras durch den Chef (SN 75-77), der Märchenvortrag der Mutter (SN 78f.), der Liebesmonolog des „feinen Herrn“ (SN 84f.) sowie die Aufklärungsrede des Arztes (SN 87-92).

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chen pflegen, allen voran demjenigen des „feinen Herrn“, der sich gegenüber Dora wiederholt eines abfälligen, diffamierenden Vokabulars und Tonfalls bedient (u.a. SN 98f.). Die Überschriften der Szenen etablieren eine Ebene, von der aus das in der dramatischen Gegenwart situierte Geschehen kommentiert und bewertet wird. Die in den episierenden Phrasen umrissene Perspektive, die bisweilen den Charakter einer Vorausdeutung erhält56, changiert zwischen der eines ebenso anonymen wie verbindlichen „man“57, der eines teilnehmenden58 oder eines sachlich distanzierten59 Beobachters. Zwischen kritischer Parodie und affirmativer Paraphrase oszillieren diejenigen Formulierungen, die Worte und Sachverhalte der Figurenrede entlehnen, und damit mittelbar und nicht unparteiisch, Figurenaussagen verstärken oder entkräften. Beispielsweise ist dem Arztgespräch in der 34. Szene das poetische Bild von der Zeit vorangestellt, die „SICH ZU LANGEN FÄDEN [DEHNT], BIS SIE SCHLIESSLICH REISST“ (SN 123). In der Wortwahl der Mutter findet sich die lyrische Wendung in den Alltagsjargon transformiert und mit dem sprichwörtlich reißenden Geduldsfaden parallelisiert, allerdings katachrestisch verzerrt: „Jetzt reißt mir langsam die Geduld“ (SN 123). Eine andere Überschrift weiß davon, dass sich der Arzt „SONNTAGS […] ZEIT GENOMMEN [HAT]“ (SN 113), und erinnert damit an den, nach Aussage der Mutter, ebenso selbstlosen wie eigennützigen Einsatz seines Vorgängers, der „wenn’s nötig war, auch an Sonntagen und nachts“ (SN 73) Hausbesuche tätigte. Die Feststellung der sonntäglichen Bereitschaftshaltung geht bedeutenderweise in beiden Fällen mit der Frage einher, ob die Grenzen medizinischer Betreuung in Richtung einer intimen Beziehung überschritten wurden: Im (stückchronologisch) ersten Fall ergänzt und begründet die Mutter

56 Z.B.: „22. IN EINEM HOTELZIMMER. NOCH BEVOR ES ZUR GEWOHNHEIT WIRD“ (SN 107). 57 Z.B.: „8. BEIM ARZT. FRÜHMORGENS. MAN WILL DEN TAG NICHT WARTEN LASSEN“ (SN 86). 58 Z.B.: „19. ZU HAUSE. DRAUSSEN STEHT EIN SCHÖNER TAG“ (SN 104). Der deiktische Ausdruck verweist auf eine gleiche Raumperspektive. Oder: „23. AM GEMÜSESTAND. ALS EINMAL KEINER HINSIEHT“ (SN 108). Die Umschreibung des Zeitpunkts unterstellt eine konspirative Haltung. 59 Z.B.: „30. ZU HAUSE. MORGENS, AN DORAS BETT“ (SN 116).

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ihren Hinweis auf das aufopfernde Verhalten des Vorgängers, indem sie konstatiert: „Der Mann liebte meine Tochter. Mehr als mir gehörte sie ihm“ (SN 74). Im zweiten Fall, in dem Arztgespräch mit Dora, das vornehmlich um den Unterschied zwischen „Ficken“ und „Liebe machen“ (SN 114) kreist, wird das hierarchische Arzt-PatientenVerhältnis kurzfristig seiner auch geschlechtlich codierten Intimität entlarvt, indem Dora ihren Objektstatus gegenüber dem ärztlichen Zugriff durch eine aktive körperliche Geste der Entblößung aufkündigt: „Sie zieht den Pullover aus“ (SN 115). Doras Handlung wird vom Arzt jedoch im Ton der Unterweisung unterbrochen: „Gut, Dora, bis hierhin. / DORA: Warum nicht. / ARZT: Steh auf. Zieh dich an“ (SN 115). Dora fügt sich der Aufforderung. Eine beinahe wörtliche Wiedergabe der Figurenrede, um noch ein letztes Beispiel für die immitatorische Funktion der Szenenüberschriften anzuführen, gibt der Titel von Szene 26: „AN EINEM SEE. BEI EINEM CAMPINGPLATZ, WO MAN HINGEHT, WENN MAN BESTIMMTE ABSICHTEN HAT“ (SN 111). Im Wortwechsel zwischen Dora und dem „feinen Herrn“ heißt es entsprechend: „DER FEINE HERR: Da hat’s Leute. Ich habe eine Frau gesehen. / DORA: Das ist meine Mama. / DER FEINE HERR: Und was macht sie da. / DORA: Sie geht auf den Campingplatz, weil sie bestimmte Absichten hat. / DER FEINE HERR: Schau an, das Mädchen weiß Bescheid“ (SN 112). Ihr Wissen über die soziale Codierung des Ortes hat Dora von ihrem Arzt, der sie in einem Gespräch wie folgt aufklärte: „Und ich würde nicht an Orte gehen, die dafür bekannt sind, daß man es dort im Freien macht. Wenn es bekannt ist, zieht es Leute an, seltsame Leute, und dann liegt dann auch Zeugs herum, du weißt. Wie der Campingplatz, unten am See, geh da besser nicht hin. Nur wer da schon hingeht, äußert bereits seine Absicht“ (SN 91). Dass der Arzt an dieser Stelle über etwas spricht, das einer Art Tabu unterliegt und das dennoch oder demnach als allgemein Bekanntes vorausgesetzt wird, macht zum einen die Unsicherheit seiner Ausdrucksweise („dann […] dann“; „schon […] bereits“) kenntlich, zum anderen verweist auch die Replik des „feinen Herrn“ auf die restriktive Funktion der Sprachregelung. Der Szenentitel, der sich seinerseits dem Gebot des paraphrasierenden Sprechens beugt, dupliziert die Worte des Arztes und ahmt in dieser Geste Dora

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nach, die das von anderen Gesagte nachspricht.60 Doras Sprechen, das maßgeblich durch Repetitionen geleitet wird, provoziert die Auseinandersetzung der anderen mit sich, was bedeutet: mit ihren eigenen Äußerungen und ihrem Begehren, und entwickelt darin das Potenzial und, aus Sicht von Doras Umwelt, die Gefahr, die Ordnung des Nichtsagbaren zu erschüttern. Diese Funktion realisiert in diesem Fall auch die Erzählinstanz des Szenentitels. Der Ordnung der sozialen Beziehungen, wie sie der öffentliche Diskurs herstellt, reden die Szenenüberschriften wiederholt das Wort. So kommt es zu einem Treffen zwischen Dora und dem „feinen Herrn“ am Bahnhof und zwar „IN DER STUNDE, DA DIE LEUTE SCHON ODER IMMER NOCH ZU HAUSE UND DIE STRASSEN LEER SIND“ (SN 92); oder es findet ein weiteres Treffen zwischen ihnen im Hotelzimmer zu einer Zeit statt, zu der „DIE KINDER […] LÄNGST ZU HAUSE SEIN [SOLLTEN]“ (SN 93). Der Hinweis auf ein reguläres Verhalten, auf ein von der Mehrheit der „Leute“ ausgeübtes und damit zum anonymen Maßstab geronnenes Verhalten, erweitert und ersetzt eine objektive Zeitangabe durch eine Verhaltensregel im Zeichen von Sitte und Moral. Auf diese Weise stecken die Szenentitel einen habituellen Rahmen, zu dem die Begegnung zwischen Dora und ihrem Geliebten ins Verhältnis gesetzt wird und aus dem sie letztlich, dies ist die wirkungsästhetische Implikation dieser parallel führenden Strategie, herausfällt. Der Abstand zwischen Szenentitel und dialogischer Szene markiert, forciert gelesen, eben jene „Handbreit“, die Dora nach Auffassung ihrer Mitwelt „neben unserer Welt“ (SN 74) steht. Die Pathologisierung der Abweichung betrachtet der Bärfuss’sche Theatertext auf der Folie der Normalisierung von Sexualität und wählt als Brennglas die Familie, genauer: die bürgerliche Kleinfamilie. 6.1.2 Die bürgerliche Familienordnung und ihre Überschreitung Das Figurenensemble in Die sexuellen Neurosen unserer Eltern nimmt das Modell der Familie in zweifacher Form auf: Das Stück zeigt zum einen eine Kleinfamilie, in der Dora, und zwar als Einzelkind, die

60 „Seit zwei Jahren hat sie“, berichtet die Mutter dem Arzt, „kein rechtes Gespräch geführt, nur Phrasen wiederholt sie, Aufgeschnapptes“ (SN 73).

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Kindgeneration vertritt, und thematisiert zum anderen, allerdings nur marginal, eine Mutter-Kind-Beziehung zwischen zwei Figuren, die im Personenverzeichnis als „Doras Chef“ und „eine Frau, das ist die Mutter des Chefs“ (SN 72) apostrophiert werden. Darüber hinaus wird die Familie aufgrund der Schwangerschaft Doras zum diskursiven Thema des Theatertextes, wobei sich die Frage nach dem intimen und öffentlichen Umgang mit Sexualität zum latenten Zentrum der dargestellten Rede und Handlung verdichtet. Als deren zentrale Bezugsgröße kristallisieren sich das bürgerliche Subjekt und seine Sexualmoral heraus. Das Attribut des Bürgerlichen vergibt Bärfuss’ Text explizit, nämlich in den vorangestellten Ortsangaben. Hier wird als einer der sechs Handlungsräume „eine bürgerliche Wohnung“ (SN 72) aufgeführt, in der sich im Stück wahlweise zwei oder drei Familienmitglieder zusammenfinden und die im Fortlauf der Szenen entweder ohne nähere Bestimmung bleibt, wie etwa bei dem Gespräch zwischen Dora und ihrem Vater (SN 98) sowie zwischen den Ehepartnern (SN 118-120), oder aber sich zu einem Funktionsraum, etwa Doras Schlafzimmer, ausdifferenziert. Die räumliche Spezifizierung vollzieht sich zum einen über die Informationsvergabe der Szenenüberschriften, insofern diese einen konkreten materiellen Gegenstand benennen, der für einen bestimmten Raum, in Wechselwirkung mit dessen Nutzung, repräsentativ ist, etwa Doras Bett (SN 78, 116). Zum anderen verweist die Aufzählung alltäglicher Familienrituale61 wie das gemeinsame Kaffeetrinken beim Frühstück (SN 96) oder das Märchenerzählen zum Einschlafen (SN 78, 102) einen durch soziale Praktiken performativ hergestellten Aufenthaltsort in der Wohnung. Über die Varianz der Ortsangaben reflektiert der Theatertext mithin Elemente der Konstitution von Räumen, wie es etwa Beziehungen zwischen Akteuren wie auch zwischen Akteuren und materiellen Gegenständen sind. Als Ortsangabe in den Szenenüberschriften tritt die „bürgerliche Wohnung“ bedeutenderweise ausschließlich als „ZU HAUSE“ (SN 78 u.a.) auf. Mit dem metonymischen Ausdruck verschiebt sich der Akzent vom Moment der objektiven Verortung zur Kontinuität einer subjektiven Gefühlsdisposition. Die Wohnung wird als ein Raum des Privaten vorgestellt,

61 Zu Vorkommen und Bedeutung von Ritualen in der Familie vgl. Kathrin Audehm, Christoph Wulf, Jörg Zirfas: Rituale, in: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 424-440.

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der gemäß der Tradition modernen bürgerlichen Wohnens als Raum der Familie semantisiert ist.62 Signifikanterweise fallen in Bärfuss’ Theatertext jedoch der traditionelle Raum der häuslichen Privatsphäre63 einerseits und der intimen Privatsphäre andererseits nicht bruchlos zusammen. Zwar tritt die dreiköpfige Familie, mit einer Ausnahme (SN 123-125), stets nur ‚zu Hause‘ in Erscheinung, das gegen Orte der Öffentlichkeit und Arbeit wie dem Gemüsestand oder der Arztpraxis abgegrenzt wird. Doch sowohl Dora als auch ihre Eltern realisieren intime Beziehungen und das meint im Kontext der Geschichte vornehmlich: sexuelle Beziehungen ‚außer Haus‘, vor allem in Transiträumen, die nach einem allgemeinen Verständnis nur temporär als ‚zu Hause‘ fungieren. Während Dora sich mit ihrem Geliebten im Hotelzimmer trifft (SN 93-96, 98-100, 107f., 121-123), suchen ihre Eltern den Campingplatz auf: „Mein Mann und ich wollen auch ein Privatleben“, verteidigt sich die Mutter gegenüber dem Arzt, „[e]in Leben ohne sie. Wir haben keine Chance, uns etwas zu verheimlichen. Es ist schwierig genug, daß Dora nicht alles mitbekommt. Sie hockt ja immer zu Hause. Wenigstens bis vor kurzem. Also machen wir unsere Ausflüge zusammen. Sollten wir wegen Dora auf etwas verzichten“ (SN 115). Strukturell betrachtet stellt die Replik der Mutter Paarbeziehung und Eltern-Kind-Beziehung als konkurrierende Interaktionselemente der Familie einander gegenüber. Sie thematisiert auf diese Weise die Konsequenzen von Elternschaft, die nicht allein als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit empfunden, sondern auch im Hinblick auf die ethische, rechtliche und finanzielle Verantwortung für das Kind als Verlust der individuellen Freiheit erlebt werden kann.64 Damit problematisiert die Äußerung der

62 Dabei korreliert die Ausdifferenzierung des Wohnens mit dem Wandel des Beziehungsgefüges ‚Familie‘. Vgl. dazu den Überblick von Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim, München 1996, S. 29-41. 63 Zur Differenzierung verschiedener Bedeutungen von Privatheit, wie sie im Folgenden angewandt wird, vgl. Günter Burkart: Stufen der Privatheit und die diskursive Ordnung der Familie, in: Soziale Welt 53 (2002), S. 397414, S. 402f. 64 Vgl. Rosemarie Nave-Herz: Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Darmstadt 1994, S. 57f.

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Mutter implizit die aus individualisierungstheoretischer Sicht für das Verständnis von Familie relevante Frage, wie sich Autonomisierungsbestrebungen des Individuums65 innerhalb der familialen Gemeinschaft ausdrücken und wie sie diese verändern. Den Anspruch auf persönliche Autonomie und auf eine intime Privatsphäre diskutiert der Bärfuss’sche Theatertext, der darin etwa Martin Heckmanns’ Generationendrama Kränk vergleichbar ist, sowohl aus der Perspektive der Kindgeneration als auch aus elterlicher Sicht: Nach Beendigung der medikamentösen Behandlung emanzipiert sich einerseits die Tochter zunehmend von den Wünschen und Vorstellungen ihrer Eltern (SN 79) und entfernt sich immer häufiger aus der häuslichen Sphäre (SN 115). Andererseits verfolgen auch die Eltern die Loslösung ihrer Paarbeziehung von der Tochter, sei es als Flucht vor deren vermeintlicher ‚Beobachtung‘, wie die Mutter gesteht (SN 115), oder in Anerkennung der lebenslaufbedingten Veränderung familialen Zusammenlebens, wie sie der Vater zeigt: „[W]er losläßt, hat die Hände frei“, zitiert Dora seine an die Mutter gerichteten Worte anlässlich ihres Auszugs (SN 127). Die Familie wird damit als eine Lebensform angesprochen, die mit Blick auf ihre zeitliche Erstreckung qua definitionem mit zentrifugalen Kräften konfrontiert ist. Das Geständnis der ehelichen intimen „Ausflüge“ lässt an Doras Mutter einen Habitus sichtbar werden, der mit der stereotypen Selbstinszenierung als sorgende und aufopferungsbereite Mutter, wie sie in den ersten Szenen des Theatertextes präsentiert wird, allem Anschein nach im Widerspruch steht. Vorherrschend ist zunächst das Bild der Mutter, die in der Erziehung ihrer Kinder und der Hausarbeit ihre Aufgabe und Befriedigung findet: „Ich habe Zeit. Mein Mann arbeitet viel, und andere Verpflichtungen als Dora habe ich keine“ (SN 74), sind die Worte der Mutter, als es darum geht, dass auf ihren Wunsch hin die medikamentöse Behandlung Doras beendet werden soll. Der in dieser Äußerung offenbarten altruistischen Haltung steht jedoch eine stark individualistisch gefärbte Willensbekundung entgegen, die als Be-

65 Individuelle Autonomie gilt Thomas Kron neben Kultur und Struktur als eine der zentralen Dimensionen, anhand derer der Begriff der Individualisierung zu problematisieren ist. (Vgl. Thomas Kron: Individualisierung – allgemeine Tendenzen und der deutsche Sonderweg, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen 2002, S. 257-290, S. 258.)

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gründung für den Abbruch von Doras Medikation angeführt wird: „Ich möchte meine Tochter zurück“ (SN 74). Signifikanterweise spiegelt sich der in dieser Forderung artikulierte mütterliche Besitzanspruch an Dora auch in den Beziehungen zwischen Dora und anderen Bezugspersonen. Dramaturgisch wird das Begehren der Mutter als Substitut für das Begehren des ehemaligen Arztes präsentiert, wenn Doras Mutter lakonisch konstatiert: „Der Mann liebte meine Tochter. Mehr als mir gehörte sie ihm. Jetzt ist der gute Mann tot“ (SN 74). Die Mutter nutzt demnach die durch den Tod beigebrachte Chance, sich selbst aus einer autoritären Macht- und Konkurrenzbeziehung zu befreien. Des Weiteren rivalisiert die von der Mutter für sich reklamierte Entscheidungshoheit mit der Macht, die Doras Chef für sich zu nutzen weiß. Anlässlich der neuen Situation beschwert sich Doras Arbeitsgeber über die Mutter: „Warum hat sie es nicht mit mir abgesprochen. Es geht mich etwas an. Ich habe eine Meinung dazu. Ich arbeite mit dir. Sie hätte mich fragen sollen, was ich von der Sache halte. Das nehme ich deiner Mutter übel. Diese arrogante Herumexperimentiererei“ (SN 76).66 Umgekehrt zeitigt die Kündigung Doras bei der Mutter folgende Reaktion: „Er hat dich entlassen. / Pause. / Er muß das vorher mit mir absprechen. Ich werde diesen Kerl anrufen, und Montag gehst du wieder zur Arbeit“ (SN 112). Die Kommentare von Mutter und Chef markieren eine doppelte Grenzüberschreitung. Beide übergehen Doras persönliche Privatsphäre und negieren offensiv Doras Entscheidungskompetenz. Darüber hinaus markieren die beiden Aussagen, die selbst den Vorwurf der Grenzverletzung enthalten, das für den Bärfuss’schen Theatertext zentrale Moment des Diskursiven, welches hier vor dem Hintergrund der Trennung von häuslicher Privatsphäre, also Familie,

66 Zudem treibt den Chef die Verlustangst um: „Ich habe aber versprochen aufzupassen. Du weißt, was passiert ist. Mit diesem Kerl. Und dann nimmt sie mir die Dora weg. Und wer verkauft mir dann die Ware“ (SN 97). Dass hinter der Angst nicht nur ökonomische Motive stecken, zeigt folgendes Einge-ständnis: „[O]hne den Laden können wir uns nicht sehen, aber wir können nicht zusammenkommen. Du kennst den Grund. / Weißt du, Dora, wir zwei, das geht nicht, wir sind zu verschieden, das geht nicht, nicht in diesem Leben, nicht in dieser Welt“ (SN 77). Zudem kann das Ritual des Abschieds- oder Willkommenkusses (SN 77, 110) als Hinweis auf ein – unterdrücktes – sexuelles Begehren von Seiten des Chefs gelesen werden.

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und beruflicher Privatsphäre, also Arbeit, im Hinblick auf die Frage nach der zuständigen Autorität thematisch wird. Das Auftreten von Doras Mutter, das durch die Auseinandersetzung mit männlichen Autoritäten wie dem Arzt und Doras Chef sowie durch einen, vor allem in Erziehungsfragen, autoritären Habitus bestimmt wird, problematisiert das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie wenigstens in zwei Dimensionen: zum einen, wie angesprochen, hinsichtlich des Verhältnisses von Paarbeziehung und Eltern-KindBeziehung und zum anderen in Bezug auf die geschlechtliche Rollenverteilung. Die Frage nach der familialen Geschlechterordnung werfen die Szenenüberschriften auf, indem sie sich an Vorstellungen orientieren, wie sie zum Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet wurden67 und, insbesondere seit den 1960er Jahren konfrontiert mit stetiger Kritik, bis in die Gegenwart hineinwirken. So lautet der Titelkommentar zu dem Aufklärungsgespräch, das der Arzt mit Dora führt: „IN DER PRAXIS. DIE MÜTTER RÜSTEN SCHON DAS GEMÜSE, DIE HUNGRIGEN VÄTER ERDULDEN DIE ARBEIT, DIE KINDER SITZEN IN DER SCHULE“ (SN 87). Atmosphärisch ist die Unterredung mithin in den Kosmos bürgerlicher Wohlgeordnetheit und das heißt in die Ordnung einer erkennbar geschlechtlich codierten und generationenspezifischen Rollenverteilung eingelassen. In dieselbe Richtung weist die Zeitangabe „SONNTAGS, DA HAT PAPA ZEIT“, die dem Familiengespräch über Doras Schwangerschaft vorangestellt ist (SN 103f.). Indem die Szenenangaben auf traditionelle Vorstellungen einer bürgerlichen Kleinfamilie anspielen, fungieren sie aus dramaturgischer Sicht als eine Art Korrektiv, anhand dessen sich in den individuellen Äußerungen der Figuren wie auch in den Figurenkonstellationen Normalität und das Abweichende ablesen lassen. Das vorbildgebende Familienmodell, das insbesondere mit Doras Schwangerschaft und der darauffolgenden Abtreibung thematisch wird, konstituiert sich aus dem Vater als dem ökonomischen Versor-

67 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976 (Industrielle Welt, 21), S. 363-393.

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ger68 und aus der Mutter als Hausfrau und Erzieherin der Kinder. Auf den ersten Blick entsprechen Doras Eltern diesen heteronom bestimmten Vorstellungen (SN 74), allerdings markiert insbesondere Doras Mutter die Grenzen ihrer rollenspezifischen Aufgaben: Dass Dora „dieselben Kleider“ trägt wie sie, verschaffe ihr bei der Wäsche Erleichterung – immerhin habe sie „schon genug am Hals mit dem Haushalt“ (SN 96). Und als zur Diskussion steht, wer sich um Doras Kind kümmern soll, wenn es zur Welt kommt, stellt sie klar: „Wenn ich es schon großziehen muß, dann will ich das auch bezahlt haben“ (SN 101). Mit dieser Aussage akzentuiert sie die Differenz zwischen der mit der Mutterrolle assoziierten Erziehung leiblicher Kinder und der beruflichen Erziehung von Kindern anderer Frauen; die verwandtschaftliche Beziehung, die sie mit dem Kind verbindet, nivelliert sie mithin zugunsten eines eigenen ökonomischen Vorteils. Zudem delegiert sie die ökonomische Verantwortung an den Vater des Kindes: Sie werde „dafür sorgen, daß der Bursche für das Kind bezahlt.“ (SN 101) Die Abgrenzung zu den konventionellen Rollenvorgaben, die die Frau auf den Bereich des Häuslichen festlegen, hebt die Mutter des Weiteren hervor, wenn sie im Verlauf des dramatischen Geschehens deutlich häufiger als der Vater im öffentlichen Raum agiert. Doras Vater begegnet dem Rezipienten vorwiegend im privaten Raum der bürgerlichen Wohnung und bleibt in der einzigen relativ öffentlichen Situation, dem letzten Arztgespräch, in dem es um die Sterilisation Doras geht (SN 123-125), mit nur einem Wortbeitrag im Hintergrund. Entgegen des dominierenden Auftretens der Mutter bleibt die Autorität des Vaters als eine gewissermaßen natürliche gleichwohl gewahrt. Während die Dramaturgie des Theatertextes die Dominanz der MutterTochter-Beziehung insbesondere quantitativ hervorhebt, indem vier Gespräche zwischen Dora und ihrer Mutter einem einzigen VaterTochter-Gespräch gegenüberstehen, figuriert der Vater inhaltlich als die maßgebliche Instanz in Bezug auf Doras Meinungsbildung. Dies zeigt die wiederkehrende Referenz auf das männliche Familienmitglied in Momenten der Entscheidung: „Wir sollten zuerst Papa fragen“, meint Dora, als ihre Medikamente abgesetzt werden sollen. „MUTTER: Ich hab’s mit ihm besprochen. / ARZT: Und was meint er. /

68 Dora will den Eltern ihren Partner vorstellen und hat dafür einen „Plan“: „Bring deinen Koffer mit. So sehen sie, daß du arbeitest und keinen Dachschaden hast“ (SN 122).

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DORA: Ja, was meint er. / MUTTER: Er ist einverstanden. / DORA: Nun, dann los, auf was warten wir“ (SN 75).69 Ebenso geht der ausschlaggebende Impuls vom einzigen Wortbeitrag des Vaters aus, als es um die Frage der Sterilisation geht und der Arzt anführt, dass „[das] sogar Männer machen“: „DORA: Macht Papa das auch. / VATER: Ich habe schon daran gedacht. / DORA: Wenn’s Papa macht, dann will ich das auch machen“ (SN 124). Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter zeigt sich vorzugsweise durch die Vorbildfunktion des Erwachsenen und folglich durch die generationenspezifische hierarchische Ordnung geprägt. Mit Blick auf die geschlechtliche Codierung dieser Beziehung wird jedoch der prekäre Status dieser Ordnung offensichtlich. Wenn Dora ihren Vater fragt, ob sie ihm gefalle, und sie ihm auf seine Antwort „Du bist ein hübsches Mädchen“ erwidert: „Und du bist ein hübscher Junge“ (SN 98), so nivelliert sie den Generationenunterschied und adressiert den Vater als Mann. Dieser Rollenzuweisung hat sich der Vater zuvor zu entziehen versucht, indem er auf Doras Frage, ob er sie liebe, antwortete: „Du bist meine Tochter.“ (SN 98) Das väterliche Ansinnen, geschlechtliche und generationsbedingte Rolle voneinander zu scheiden, ist mit der Furcht vor dem Inzest (SN 96) ebenso markiert wie mit dem Versuch, das Phänomen der Liebe nach dem Verwandtschaftsgrad differenziert zu betrachten. Die Unterscheidung von Liebe und Sexualität stellt in Bärfuss’ Theatertext insgesamt ein virulentes Gesprächsthema dar, das vor allem unter dem Gesichtspunkt beleuchtet wird, welches sexuelle Verhalten und libidinöse Begehren als Norm und welches als Perversion zu gelten hat. Das Familiendrama begibt sich damit auf die Spuren, die auch Michel Foucault in seinen Studien zur Sexualität beschreitet. Das Augenmerk richtet sich damit auf die Sexualität als sowohl diskursive als auch nichtdiskursive gesellschaftliche Praxis, auf Grundlage derer sich Machtverhältnisse ausformen und mit Hilfe derer sich das Individuum in seiner Subjektivität ausbildet. Nachdem die sozialen Beziehungen insbesondere aus den Perspektiven dramaturgischer und ästhetischer Aspekte sowie der Familie analysiert wurden, geht es im Folgenden vor allem um die Darstellung des Körpers und um die Proble-

69 In dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter, das die Abtreibung von Doras Kind zum Gegenstand hat, wird die Entscheidung am Ende mit folgenden Worten beschlossen: „MUTTER Würdest du Papa glauben. / DORA Papa glaube ich immer“ (SN 103).

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matisierung seiner geschlechtlichen, medizinischen und biologischen Normierungen. 6.1.3 Körper und Sexualität Das Sprechen über Liebe und Sexualität, wie es das Stück Die sexuellen Neurosen unserer Eltern zum Thema macht, findet seinen Anlass und seinen Adressaten in der tragischen Situation der Protagonistin: Dora soll sich verhalten wie sich alle verhalten, tut sie es aber, wird sie zum Opfer körperlicher und struktureller Gewalt. Sie figuriert als die Unangepasste, denn sie „sagt, was man nicht sagt, sie fragt, was man nicht fragt, und sie sieht nicht ein, dass sie nicht tun soll, was alle tun.“70 Dass insbesondere das Fragen in der von Bärfuss entworfenen Welt grundsätzlich einen ambivalenten Status innehat, zeigt die konsequente Tilgung der Fragezeichen im Text an; Fragen sind allein über die Syntax und Fragewörter als solche kenntlich gemacht und in der theatralen Praxis mittels Intonation zu realisieren. Die visuelle Verdecktheit des Fragens, die dieses zugleich zur Kenntlichkeit entstellt, korrespondiert mit einer für Bärfuss’ Theatertexte charakteristischen Knappheit des Sprechens, die wirkungsästhetisch, indem sie unbeständig einmal ins Schweigen und einmal in den Redefluss ausbricht, ins Prekäre und Unangenehme tendiert. So umspielt das Sprechen eine Art Geheimnis, das alle kennen und das Dora im Verlauf des Stücks für sich entdeckt. „DORA: Ich wusste nicht, daß meine Eltern ficken. ARZT: Alle Leute tun es. DORA: Und weshalb weiß es keiner. ARZT: Man weiß es“ (SN 114). Auf den Umstand des „Man-weiß-es“, das das Schweigen zum Thema der Sexualität begründet, geht Michel Foucault in seiner Abhandlung Der Wille zum Wissen wie folgt ein: Das eigentümliche Geheimnis dieses Diskurses beruht nicht auf dem hohen Preis dessen, was er zu sagen hat und der kleinen Zahl derer, die seiner würdig sind, sondern auf seiner obskuren Familiarität und seiner gemeinen Niedrigkeit. Seine Wahrheit wird weder von der erhabenen Autorität des Lehramtes noch von der Überlieferung verbürgt, sondern durch die Bindung, die wesentliche diskursive Verbindung des Sprechenden mit dem, wovon er spricht. Umgekehrt liegt die Herrschaft nicht mehr bei dem, der spricht (dieser ist der Gezwungene), sondern bei dem, der lauscht und schweigt; nicht mehr bei dem,

70 Hammerstein: Darf die das?, S. 51.

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der weiß und antwortet, sondern bei dem, der fragt und nicht als Wissender gilt.71

In Bärfuss’ Stück repräsentiert Dora die Instanz des Nichtwissenden, des Naiven, die ihre Mitmenschen mittels ihres Fragens und Handelns zum Geständnis zwingt. Dora provoziert, indem sie das Schweigen, auf dem die bürgerliche Sexualmoral basiert, sowohl verbal als auch nonverbal bricht und zu Stellungnahmen herausfordert, die in Bärfuss’ lakonischer Sprache bisweilen groteske Züge annehmen. Auf die rhetorische Spitze getrieben werden die Reaktionen der anderen insbesondere in den Dialogpassagen, die die Positionen von Doras Chef, dem „feinen Herrn“ sowie dem Arzt verlautbaren und denen insofern expositorischer Charakter zukommen, als dass sie dramaturgisch im ersten Viertel des Theatertextes platziert sind, ihre Aussagen ins Allgemeine tendieren und sie grundlegende Motive und Topoi zum Problem der Abweichung präsentieren. So referiert der Chef in seinem ersten Auftritt mit großer Geste über die „Ordnung in der Welt“ (SN 75), wobei er zur Illustration auf den nächstliegenden Gegenstandsbereich, nämlich sein Warenangebot, zurückgreift und über die sich unter ökonomischer Perspektive eröffnenden Rangunterschiede bei Gemüse und Obst spricht: In der ersten Reihe sitzt die zarte Kefe, ja, und das Erbschen, verstehst du, die Bohne nicht, die Bohne ist höchstens dritte Reihe, daneben Mangold und der alberne Topinambur. In die erste Reihe wird es das Zeugs bei mir nie schaffen, obwohl er es vom Preis her dreimal mit der Brunnenkresse aufnehmen könnte. Nur: in der Welt schaffen es die Kostbaren auch nicht in die erste Reihe, wenn sie denn ein Gesicht haben wie eine Saatkartoffel im dritten Jahr auf ihrer Hurde. Aber das weißt du doch alles (SN 76).72

Wenn der Gemüsehändler kurz darauf den Laden und damit die von diesem allegorisch repräsentierte soziale Ordnung als Prämisse für die

71 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, 12. Aufl., Frankfurt/Main 2001 [1983], S. 80f. 72 Als Dora sich ein Parfüm aus der Kollektion des „feinen Herrn“ aussucht und dieser feststellt, dass sie „das Kostbarste im ganzen Sortiment“ gewählt habe, wiederholt sie fast wörtlich den Satz ihres Chefs (SN 94). Die Äußerung gewinnt damit Züge eines Leitmotivs.

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Begegnung mit Dora ausgibt, unterstellt er zum einen implizit eine Quasinatürlichkeit der sozialen Ordnung: „[…] [O]hne den Laden können wir uns nicht sehen, aber wir können nicht zusammenkommen. Du kennst den Grund. / Weißt du, Dora, wir zwei, das geht nicht, wir sind zu verschieden, das geht nicht, nicht in diesem Leben, nicht in dieser Welt“ (SN 77). Zum anderen stellt sein Verweis auf die Bedeutung des Ladens heraus, dass die Arbeit einen konstitutiven Bestandteil ihrer Beziehung darstellt. Diesen Konnex zwischen Sozialem und Ökonomischem evoziert auch das Kosewort „Goldschatz“ (SN 80), mit dem der Chef Dora in einem Kundengespräch bezeichnet. Während der Kunde mit seiner Frage nach der „staatlichen Unterstützung“ (SN 80) die Beschäftigung Doras durch den Gemüsehändler als ein lukratives Geschäft veranschlagt und damit den Aspekt des Utilitaristischen und des ökonomischen Kalküls betont, besteht der Chef auf seine ausschließlich fürsorgliche Gesinnung. Diese von ihm gefühlte „soziale Verantwortung“ (SN 81) aber gebe es tatsächlich nicht „umsonst“ (SN 81); im Gegenteil müsse er mit den Folgen eines „stille[n] Boykott[s]“ (SN 81) leben: „Keiner sagt es mir offen ins Gesicht, aber ich bin nicht blind. Sie glauben, bloß weil Dora ist, wie sie eben nun einmal ist, sei sie nicht sauber. Sie glauben, mein Obst und das Gemüse seien hygienisch nicht einwandfrei.“ (SN 81) Dem Verhalten der „Leute“ (SN 81), das Dora zum Makel des Ladens stigmatisiert, hält der Chef Doras „Wert“ (SN 81) entgegen, den er in ihrer Einzigartigkeit erkennt: „Dora ist ein Unikum“ (SN 81). Mit anderen Worten: Dora ist für den Chef Luxus, eine „Kostbarkeit“, die er wie „eine exotische Frucht“ (SN 80) aus seinem Sortiment – „Dora gehört zum Laden“ (SN 80) – präsentiert. Im Gespräch zwischen den beiden Männern, dem Chef und dem „feinen Herrn“ als Kunden, bleibt Dora die stumme Marionette, die von ihrem Chef vorgeführt wird: „CHEF: Zeig dem Herrn deine Nägel. Sei so lieb. / DORA zeigt dem Herrn die Nägel. / […] / CHEF: Heb deine Arme. Wenn du so gut sein willst. / DORA tut’s / […] / CHEF: […] Danke, Dora, du kannst die Arme wieder runternehmen. / DORA gehorcht auch dieses Mal“ (SN 81). Dass das verdinglichende Anpreisen Doras sowohl eine ökonomische als auch eine sexuelle Komponente enthält, zeigt sich darin, dass es mit dem Kauf nicht eines „Pfund[s]“, sondern eines „einzig[n]“ (SN 82) Granatapfels abgeschlossen wird. Im Symbol des Granatapfels kumulieren

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die Motive der Fruchtbarkeit, der (himmlischen) Liebe und der Gabe73, jene Motive mithin, die für die Figurenzeichnung der Dora nicht nur ihrem Namen nach profilgebend sind. Der Aspekt des Exotischen, der im Gespräch zwischen Chef und „feinem Herrn“ über das semantische Feld der Frucht(-barkeit) eingeführt wird, kehrt prominent und unter ethnischem Vorzeichen in der Begegnung zwischen Dora und dem „feinen Herrn“ wieder. In ihrem ersten Gespräch bildet das Fremde den zentralen Topos der monologisch vorgetragenen Phantasie des Mannes: Indem er Dora als „unsere[...] feine[...] russische[...] Dame“ (SN 94) und „meine kleine Russin“ (SN 126) apostrophiert, stilisiert er sie zur reizvollen Fremden: „Wenn ich mir dazu etwas ausdenken darf. Woher Sie stammen. Wo Ihre Wurzeln sind. Sie haben etwas Russisches, nicht wahr, ein wenig von jener letzten Zarentochter, verarmt, entehrt, gestrandet zwischen Kartoffeln und Suppengemüse. Davon kommt das Noble, Zarte, dieses Dünn- und Hochblütige […]“ (SN 84). Dora fungiert als Projektionsfläche des männlichen Begehrens wie die auffällige Parallele dieser Phantasie des „feinen Herrn“ zu einer Äußerung des Arztes zeigt, der Dora aufklärt, dass man „es“ im öffentlichen Raum nicht machen darf: „Na, dich würde das wohl nicht stören, nicht wahr, Dora, wenn da einfach einer mit seiner über euren Zaun und da den Rock hoch und sie in ihren Hintern zwei-, dreimal in ihren bleichen mondhellen Hintern, wo man schön die Äderchen durch die Haut erkennt, und das wogt dann so schön, nicht wahr, das würde dich nicht stören, Dörchen. Hahaha“ (SN 91). Auf die Sexualität, die die Grenzen des bürgerlichen Sittsamen überschreitet, fällt der Schein des Adeligen, der sich in der Blässe der weiblichen Haut spiegelt. In beiden dargestellten männlichen Imaginationen vollzieht sich damit eine Art Nobilitierung der von der Norm abweichenden Sexualität, die sich scheinbar von den negativen Konnotationen des Anormalen und Perversen absetzt. Während „Der feine Herr“ mit Dora eine der Öffentlichkeit bekannt werdende sexuelle Beziehung eingeht, die weniger das im Theatertext mehrfach, vor allem von dem Arzt (SN 114) und der Mutter (SN 123), beschworene Konzept der romantischen Liebe74 als viel-

73 Der Granatapfel lässt sich auch als Symbol des Überflusses und des Luxus auffassen. 74 Vgl. Günter Burkart: Auf dem Weg zu einer Soziologie der Liebe, in: Kornelia Hahn, Günter Burkart (Hg.): Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts.

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mehr das der leidenschaftlichen Liebe zum Vorbild hat, sucht Doras Chef sein libidinöses Begehren gegenüber Dora mit allen Mitteln rhetorischer und sittlich statthafter Finesse verdeckt zu halten, beispielsweise indem er die körperliche Annäherung über das normalisierende Ritual des Willkommens- und Abschiedskusses forciert: „Gib mir einen Kuß“ (SN 77, 110), fordert der Vorgesetzte. Als Dora nach dem Absetzen ihrer Medikamente dem Appell nicht mehr passiv ergeben, sondern aktiv fordernd begegnet, indem sie „tut, was er von ihr verlangt“ und „es noch ein bisschen intensiver [tut]“ (SN 110), folgen als Konsequenz eine Ohrfeige (SN 110) und ihre Entlassung: „Er hat mich immer geküßt. Und ich habe nie zurückgeküßt. Nur heute. Jetzt hat er mich entlassen“ (SN 111). Doras Handeln überschreitet eine Grenze, die der Chef, allerdings unter Wahrung des Scheins, bereits übertreten hatte. „Seinen Chef küßt man überlicherweise nicht“ (SN 111), weist sogar „Der feine Herr“ Dora zurecht. Doras Auftreten spiegelt die liberale Auffassung sexueller Zuwendung, die der Chef vorgibt, wider und enttarnt diese ihres scheinheiligen Charakters. Zudem entlarvt sie die Geste des Chefs als Machtausübung sowohl über die Angestellte als auch über die Frau. Als ein in der Sexualität gründendes Machtverhältnis anderer Art präsentiert sich die Beziehung zwischen Dora und dem „feinen Herrn“. In erster Linie anhand dieser Figurenkonstellation verhandelt der Theatertext das Thema physischer Gewalt75 und avisiert auf der Skala zwischen Liebe und Sexualität den Aspekt der lustvollen körperlichen Gewalt. „Ich mag es grob. / Ich spüre sonst nichts“, sagt Dora über ihre sexuellen Bedürfnisse, die sich infolge dieser Selbstaussage als sadomasochistische darstellen. „Der feine Herr“ schlägt die junge Frau, so dass sie „überall blaue Flecken“ (SN 86) hat. Die Spuren, die das Liebesspiel auf Doras Körper hinterlässt, werden von Mutter und Arzt als Zeichen einer Vergewaltigung gelesen, gleichwohl Dora beteuert: „Er war lieb zu mir“ (SN 86). Und: „Es hat nicht weh getan“ (SN 87). Ohne dass das Wort explizit ausgesprochen wird, verdächtigen die Außenstehenden den „feinen Herrn“ als Vergewaltiger, der

Studien zur Soziologie intimer Beziehungen, Opladen 1998, S. 15-49, bes. S. 21-23. 75 Physische Gewalt wird auch in der Vater-Tochter-Beziehung zum Thema, wenn Dora für ihr neugieriges Nachfragen zum Sexualleben ihrer Eltern gleich drei Ohrfeigen bekommt (vgl. SN 113).

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sich an einer Unmündigen vergangen hat, und wollen den sexuellen Übergriff zur Anzeige bringen (SN 86). Zur Verhandlung steht mithin die Kriminalisierung eines als anormal geltenden sexuellen Verhaltens. Die Meinung der Mutter ist über alle Zweifel erhaben: „Komm zur Vernunft, Dora“, mahnt sie ihre Tochter, „[d]ein Freund ist ein Dreckskerl, der keine Verantwortung kennt. Du bist an einen Sadisten geraten. So sieht’s aus. Er missbraucht dich für seine Fantasien. Sei es drum. Kann passieren. Deine Sache“ (SN 123). Dass es dies genau nicht ist, Doras Sache, zeigt das Ressentiment gegenüber ihren Versuchen, den „feinen Herrn“ als ihren Freund und zukünftigen Vater ihres Kindes zu etablieren (SN 108, 112, 120f., 123). Problematisiert wird mithin das Verhältnis von sexuellem Begehren, sexueller Praxis und sozialer Beziehung: Doras Sexualleben geht nicht mit den bürgerlichen Vorstellungen einer Liebesbeziehung und noch weniger einer Ehe konform, die vor allem der romantischen Liebe als Leitkonzept folgen. Vielmehr steht es im Zeichen des Unkultivierten, Animalischen und Krankhaften, worauf das ebenso prägnante wie für die Körperdarstellung relevante Motiv des Riechens und Geruchs hindeutet, das die Figurenrede in Form von Metaphern, Redensarten und Beschreibungen durchzieht. An zentraler Stelle steht hierbei die Opposition von Sauberkeit/Reinheit und Schmutz/Verwahrlosung. Wie bereits bei der obigen Namensanalyse des mit Parfüm und Seife handelnden „feinen Herrn“ benannt, wird vor allem mit dieser Figur die Aufmerksamkeit auf die Dimension der sinnlichen Wahrnehmung gelenkt, indem sie die distinktive Differenz von Duft und Gestank etabliert. Mit der den Sexualitätsdiskurs durchziehenden Ansprache des Geruchssinns wird in Bärfuss’ Theatertext zum einen die sozial und geschlechtlich codierte Frage nach der Hygiene aufgerufen. Zur Körperpflege ist man dabei, wie es ausdrücklich in einem Kommentar der, in Fragen der Sexualität liberalen, alten Mutter des Chefs heißt, „[g]erade als Frau“ (SN 107) angehalten. Zum anderen wird mit der Fokussierung auf die Sinneswahrnehmung des Riechens das Moment des Nichtrationalen wie auch des Unaussprechlichen und Nichtbenennbaren akzentuiert, denn, so hält Hans-Jürg Rindisbacher in seiner Lektüre von Patrick Süskinds Das Parfum fest: Ein Hauptproblem der Versprachlichung von Geruch und Geruchseindrücken liegt darin, dass die Welt der Gerüche kein ausgebildetes spezifisches Vokabu-

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lar kennt. Es gibt nichts, was z.B. mit der exakten Terminologie für Farben, Formen und Raumverhältnisse vergleichbar wäre. Wenn wir über Gerüche sprechen, müssen wir die Objekte nennen, von denen sie ausgehen, also „es riecht nach x“ oder „der Geruch von y“.76

Das die Figurenrede rhythmisierende Schweigen ebenso wie die häufigen Pausen weisen in eben diese Richtung des sprachlich Unfassbaren – und gemahnen in der Verbindung mit dem Thema von Sexualität und Körper an die Nähe des Bärfuss’schen Stücks an Ödön von Horváths Volksstückdramaturgie. Mit seiner Aufforderung an Dora, sich nicht mehr zu waschen, setzt „Der feine Herr“ ein nonverbales Zeichen ihrer Beziehung, die sich damit dem vorherrschenden Zwang zur Sauberkeit, dem Dora beispielsweise, wie oben ausgeführt, an ihrem Arbeitsplatz untersteht, entgegenstellt: „Wasch dich nicht. Ich mag’s nicht, wenn die Frau nach Schweinefett riecht. Wenn du dich wäschst, fick ich dich nicht. Das bin ich meiner Nase schuldig. Und jetzt komm her zu mir, ich will mich an dir schmutzig machen“ (SN 96). Der Verlust von Doras sexueller Unschuld, wie sie der Theatertext zum Konfliktstoff arrangiert, wird mit dem Verlust der ansozialisierten Hygiene (vgl. SN 98) parallelisiert. Beide Defizite werden zudem mit Assoziationen des Animalischen aufgeladen. So diagnostiziert der Arzt explizit: „[…] Wäschst dich nicht, wurdest entlassen. / Deine Mutter weiß nicht mehr, was sie mit dir tun soll. / Pause. / Du bist vertiert“ (SN 113). Die Zuschreibung des Tierischen kommt zudem in der Wendung „zäh wie Leder“ zum Tragen, die wiederholt in Bezug auf Doras körperliche Gesundheit und Abwehrkraft vom Arzt (SN 105) wie auch von ihrer Mutter und ihr selbst gebraucht wird (SN 120) und die darüber hinaus auf Doras Geliebten, Herrn Gerber, anspielt. Weitere Redensarten und Phrasen wie „rumschnüffel[n]“ (SN 116) und „[d]ie Nase in Dinge stecken“ (SN 117) gelten etwa Doras vermeintlicher Neugierde hinsichtlich des Sexuallebens der Eltern. Sie fixieren dementsprechend mit verbalen Mitteln ein Tabu, das an anderer Stelle durch den Einsatz einer väterlichen Ohrfeige markiert wird (SN 113); die Sexualität der Eltern bleibt für das Kind damit diskursiv unerreichbar.

76 Hans-Jürg Rindisbacher: Körper-Sprache – Sprach-Körper. Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“, in: Brigitte Prutti, Sabine Wilke (Hg.): Körper – Diskurse – Praktiken. Zur Semiotik und Lektüre von Körpern in der Moderne, Heidelberg 2003, S. 221-251, S. 222.

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Einen weiteren Zusammenhang zwischen dem semantischen Feld des Tierischen und der Sexualität gestaltet der dramaturgische Einschub eines Märchens, das die Mutter Dora vorliest. Dieses handelt von einem „reiche[n] Herr[n]“, der „den allerschönsten Koffer [besaß], der im Land zu finden war“, und von einem „Glücksfrosch“, der sich gerne „in einem warmen Seifenbad“ waschen lässt (SN 78). Den genannten Herrn mit Doras Geliebtem und Dora mit dem Frosch zu identifizieren legen zunächst die Attribute ‚Koffer‘ und ‚Seife‘ nahe. Darüber hinaus aber wird über das Bild des Frosches der medizinische Diskurs aufgerufen, der in Form von Verhütung, Schwangerschaft, Abtreibung und Sterilisation die weibliche Sexualität Doras erfasst. Die weithin bekannte Vorstellung vom Frosch als Objekt des wissenschaftlichen Experiments parallelisiert der Theatertext mit dem Status Doras gegenüber der ärztlichen Behandlung. Doras Chef merkt einmal an: „Dora ist ein Unikum. Die Wissenschaft interessiert sich für sie“ (SN 81). Von Bedeutung ist zudem eine über Jahrhunderte tradierte Vorstellung, derzufolge zwischen dem Frosch beziehungsweise der Kröte und dem Uterus eine Ähnlichkeit bestehe: „Der Uterus wurde als ein froschähnliches Organ, das sich im weiblichen Körper bewegte, gedacht.“77 Das Märchen vom Glücksfrosch spielt damit indirekt, in ebenso assoziativer wie vorausdeutender Weise, auf die Problematik der Sterilisation und der Entfernung der Gebärmutter (SN 125) an, die auch das im Stückverlauf wiederkehrend latent angesprochene Feld der Eugenetik78 streift. Wenn Doras Mutter verkündet, dass man die Sterilisation „sogar rückgängig machen [kann]“ (SN 124) findet das Spiel mit der Einbildungskraft der Tochter, die Märchen nicht mag (SN 79), seine ebenso folgenreiche wie perfide Fortsetzung. Der biologistische Standpunkt der Mutter, von dem aus Dora das Produkt eines Paarungsaktes (SN 118) und menschliche Würde eine fragwür-

77 Bernd Hüppauf: Der Frosch im wissenschaftlichen Bild, in: Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld 2009, S. 137-164, S. 143. 78 Beispielsweise referiert Doras Arzt in seinem Aufklärungsgespräch: „Es ist nichts Schlechtes, wirklich nicht, laß dir das nicht einreden. Der Mensch entsteht daraus, jeder, stell dir vor, jeder auf dieselbe Weise, mit und durch dieses Wunder. Und darum ist es gut, hast du es für dich entdeckt. Auch du sollst es erleben dürfen, ja, obwohl man es euch früher verboten hat“ (SN 88).

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dige Kategorie des Daseins (SN 119) darstellt, steht dem Kinderwunsch der Tochter nicht nur situativ entgegen, sondern er führt den irreversiblen Eingriff in die körperliche Integrität der jungen Frau herbei. Der vom Arzt gegebene Hinweis auf die Emanzipation der Frauen, die „sich ihre Weiblichkeit nicht allein übers Muttersein definieren [lassen]“ (SN 124), treibt die Auseinandersetzung um die sexuelle Selbstbestimmtheit, die Bärfuss’ Familiendrama führt, am Theatertextende unwiderruflich in die Farce. In dem zu Beginn der für Dora medikamentenfreien Zeit vom Arzt geführten Aufklärungsgespräch, bei dem es sich um eine häufiger von bedeutungsvollen Pausen als von seinem Gegenüber unterbrochene Suada handelt, das die Fragen des Wann, Wo, Wie, Mit-Wem und Wie-Oft aufgreift und das dabei eklektisch eine Reihe von gesellschafts- und geschlechterpolitischen, philosophischen, juristischen, biologischen und medizinischen Positionen und Meinungen zu einer Predigt der herrschenden Moral akkumuliert, plädiert der Arzt dafür, „gerade heute, in diesen freien Zeiten“ auch in der Liebe Regeln zu beachten (SN 88) und zugleich nicht Einsagungen anderer zu folgen (SN 89), sondern sich „selbst zum Maßstab“ (SN 91) zu nehmen: Wenn du in eine Situation kommen solltest, in irgendeine, und du weißt nicht, soll ich, soll ich nicht, und eine Stimme in deinem Inneren ruft: Das darf man nicht, laß das bleiben, dann: Achtung! Dann: Aufpassen! Dann: Alarm! Dieses Man, das ist das Falscheste, was es in der Liebe überhaupt gibt! Vor allen anderen Dingen muß man sich vor diesem Man hüten! Und weißt du, warum? Weil das fremde Stimmen sind, die dieses Man darf nicht behaupten, die Stimmen der Moral, ja, und wenn es in der Liebe denn überhaupt eine Moral geben darf, dann nur deine eigene, Dora. / Nur eine Moral: Doras Moral. / Nur eine Stimme: Doras Stimme (SN 89).

Bärfuss’ Theatertext Die sexuellen Neurosen unserer Eltern stellt sich diesem Plädoyer nicht unkritisch gegenüber, wenn er die Vorstellung selbstbestimmter Libertinage als uneinlösbaren und letztlich hohlen Anspruch vor Augen führt. Zugleich jedoch hält das Stück in der Schwebe, ob seine Protagonistin auf den Spuren ihrer Sexualität die Balance zwischen Objekt- und Subjektsein hält und ihr Glück findet, denn der Theatertext schließt mit der Wendung „Fin de la bobine“.

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6.2 F AMILIALE (G EWALT -)R ITUALE : M ARIUS VON M AYENBURGS T URISTA „Turista ist ein Epos über Verantwortung, Schuld und Unschuld, über Eltern und Kinder, die ihren Familien entkommen möchten, über Menschen, die auf dem Schlachtfeld Europa leben und sterben: eine mitteleuropäische Menschenzustandsbesichtigung.“ Diese Beschreibung zu Marius von Mayenburgs Familiendrama ist der Pressemappe79 zur Uraufführung des Stücks zu entnehmen, die unter der Regie des belgischen Theatermachers Luk Perceval im Mai 2005 bei den Wiener Festwochen stattfindet. Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem Het Toneelhuis Antwerpen und der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, die den Stückauftrag gab. Aufgeführt wird das Stück entsprechend in deutscher und flämischer Sprache, wobei die Inszenierung, wie der Vorstellungstext des Henschel-Theaterverlags informiert, „24 SchauspielerInnen aus fünf europäischen Ländern“80 auf die Bühne bringt. Die rezeptionssteuernden Paratexte der Uraufführung lenken die Aufmerksamkeit des Publikums demnach auf die kulturelle Hybridität der Inszenierung und zugleich auch auf die des Theatertextes. Bemerkenswert sind die Aufführungsdaten zu Turista81 an dieser Stelle insofern, als dass sie eine inhaltliche und wirkungsästhetische Dimension des Theatertextes skizzieren, die in dem 2007 in Buchform publizierten Textsubstrat ohne eben diese paratextuellen Hinweise kaum noch greifbar wird. Verschiedene Rezensionen der Uraufführungsinszenierung extrapolieren den Europadiskurs auf Grundlage der theatralen Komponenten wie etwa der Zweisprachigkeit der Schauspielerinnen und Schauspieler. Sie verweisen jedoch auch auf die Ortsangabe in der textlichen Spielvorlage: Die Handlung spielt dem-

79 Pressemappe zu „Turista“ von Marius von Mayenburg. Uraufführung. Regie: Luk Perceval. Premiere: 26. Mai 2005, unter: www.schaubuehne.de/ download.php?id=7533, Stand: Juli 2009, S. 4. 80 Stückbeschreibung des Henschel-Schauspiel-Theaterverlags zu „Turista“ http://www.henschel-schauspiel.de/index.php?f=programm&rubrik=t, Stand: Juli 2009. 81 Marius von Mayenburg: Turista, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 79-266. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚TU‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

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nach „‚auf der Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne‘“.82 In der Buchveröffentlichung fehlt diese Ortsangabe und mit ihr die Anspielung auf drei Ereignisse europäischer Kriegsgeschichte: die Schlacht im Teutoburger Wald (9. n.Chr.; auch Varusschlacht genannt), bei der die Römer den Germanen unterliegen, die Schlacht bei Waterloo (Juni 1815), die das Ende der Herrschaft Napoleons bedeutet, sowie die Marneschlacht (September 1914), in der die Franzosen den Vormarsch der Deutschen aufhalten können. Die derart vollzogene räumliche und auch zeitliche Verdichtung, die der paratextuelle Vermerk zur Lokalisierung des dramatischen Geschehens vornimmt, entfaltet damit das Potenzial einer an Europa interessierten Lesart von Turista. Zugleich allerdings besitzt die Verdichtung fiktionalisierenden Charakter und unterläuft damit einen Lektüreansatz, der allein auf die Verhandlung europapolitischer Wirklichkeit abzielt. Im Zusammenhang mit den international konnotierten Elementen der Perceval’schen Inszenierung und mit Bezug auf die präskriptive Ortsangabe wird Europa als Assoziationsraum für Familiengeschichten aufgerufen. Die Theaterkritik befindet in diesem Sinne: „Europäische Kriegsgeschichte wird hier haarklein und psychotisch von grausamen Vätern, rabiat deprimierten Müttern und bockig hysterischen Kindern fortgesetzt, naturgemäß in Familienhöllen.“83 Ins Zentrum rückt mithin das Moment der kriegerischen Auseinandersetzung als tertium comparationis, das die Themen Europa und Familie zusammenführt. Mit anderen Worten und weniger martialisch formuliert: Die in den Rezensionen angesprochene Ortsangabe im Text wie auch die Uraufführungsinszenierung spielen auf das Potenzial des Theatertextes an, die Situation des Konflikts sowohl in alltäglicher als auch in europageschichtlicher Dimension, sowohl auf einer privaten als auch auf einer politischen Ebene vorzustellen. Einen Versuch in diese Richtung, private Katastrophe und weltpolitische Krise zu verquicken, unternimmt von Mayenburg bereits in seinem 2004 uraufgeführten Stück Eldora-

82 Helmut Schödel: Waterloo der Befindlichkeiten. Luc Perceval inszeniert die Uraufführung von Marius von Mayenburgs „Turista“ auf den Wiener Festwochen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2005, S. 15. 83 Erna Lackner: Sechsfach gemordet erholt man sich besser. Große TäterFerien auf dem Opfer-Campingplatz: Marius von Mayenburgs „Turista“ bei den Wiener Festwochen uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Mai 2005, S. 39.

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do.84 Hier wird der selbstverschuldete berufliche und familiäre Untergang eines Immobilienmaklers mit einem apokalyptisch gezeichneten – mittels Wortkulisse entworfenen – Kriegsszenario verschränkt.85 Dagegen zeigen die Turista vorausgehenden Stücke den Krieg in erster Linie im Rahmen des Privaten, des Persönlichen und des Familiären. Wenn von Mayenburg, der als „Schwarzseher unter den deutschen Jungdramatikern“86 gilt, in seiner Dramatik auf stilbildende Weise den Aspekt der Zerstörung fokussiert, so trifft er dabei wiederkehrend auf das soziale Gefüge der Familie. Der Theatertext Turista ist das einzige der in dieser Studie analysierten Familiendramen, das nicht eine einzelne Familie weiteren familiären Beziehungen und sonstigen sozialen Vernetzungen überordnet, sondern ein weites Spektrum möglicher Familien- und Generationenkonstellationen auffächert. Diese Erweiterung des Blickwinkels, die im eingangs skizzierten Kontext ein „europaweites Panorama“87 sichtbar machen kann, schlägt sich zunächst materiell im Umfang des Textes nieder: In der Buchdruckfassung sind dies 190 Seiten; die Uraufführung dauerte viereinhalb Stunden.88 In erster Linie jedoch korreliert der weitere Blickwinkel mit einer Öffnung des konventionellen ‚kleinen Familienstücks‘ hin zum Gesellschaftsdrama. Es sind nicht weniger als vierundzwanzig Figuren, die von Mayenburg auf einem Cam-

84 Die Theaterkritik hält diesen Versuch für wenig gelungen. Vgl. etwa Christine Dössel: Rufer im Wald. Thomas Ostermeier inszeniert Marius von Mayenburgs „Eldorado“ in Berlin, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Dezember 2004, S. 15; sowie Gerhard Stadelmaier: Kitschbombe explodiert! Dramaturgie getroffen! Marius von Mayenburgs „Eldorado“ in Berlin uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2004, S. 31. 85 Marius von Mayenburg: Eldorado, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 7-77. 86 Georg Diez: Unter blinden Sonnen. Du bist ich allein in der Uraufführung. Thomas Ostermeier inszeniert in Hamburg die „Parasiten“ von Marius von Mayenburg, in: Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2000, S. 18. 87 Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42, S. 35. 88 Vgl. Schödel: Waterloo der Befindlichkeiten, S. 15.

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pingplatz versammelt: Drei Familien mit Kindern im Urlaub, eine Ärztin und einen Sozialarbeiter zusammen mit drei jugendlichen „Patienten“ in einem Therapieprojekt, ein junges Liebespaar und drei „Einheimische“ weist das Personenverzeichnis aus (TU 80). Die folgende Lektüre von Turista fragt nach der Vorstellung von Familie, die der Theatertext mit der Thematisierung und ästhetischen ‚Aufführung‘ von Ritualen aufruft. In den Blick kommen insbesondere die gegenläufigen Bestrebungen der Figuren, sich einerseits zu vereinzeln und andererseits zu vergemeinschaften. Zum Thema werden mithin das Krisenmoment der (Klein-)Familie, die in von Mayenburgs Text nicht zuletzt mit der Frage nach der Funktion von Gewalt in Beziehung gesetzt wird. Gewalt ist in von Mayenburgs Text doppelt codiert als Akt der Zerstörung und als Bedingung der Konstituierung familialer und allgemeiner: sozialer Beziehungen. 6.2.1 Die künstliche Sprache der Zerstörung In von Mayenburgs Dramatik ist die Familie eine Wiedergängerin. Ein um das andere Mal werden ihr Niedergang und ihre Zerstörung vorgeführt und immer wieder wird sie, wo nicht, wie in Feuergesicht (UA 1998), Das kalte Kind (UA 2002) oder Augenlicht (UA 2006) zum zentralen Sujet, so doch zum dramaturgisch relevanten Einzelmoment des dramatischen Geschehens, wie etwa in Parasiten (UA 2000) und Eldorado (UA 2004). Aufgerufen wird die Familie als Ort der Vergangenheit und der Gegenwart, an dem Konflikte konzentrierter und wirkmächtiger ausgetragen werden als in anderen Bereichen des Sozialen. Der Autor erläutert: Mich interessieren Menschen in Beziehungen, die Extremes abverlangen. Familie ist ein guter Ort, um dies auszureizen. Andere soziale Beziehungen sind heute weitestgehend domestiziert, da die Gesellschaft Konflikte verhindern will, sie an zivilisatorische Instanzen wie Gerichte delegiert. […] In den Familien dagegen werden diese Konflikte noch ausgetragen. Dabei erhöht sich ständig der Druck auf die Beteiligten, so dass sie irgendwann ihren Aggregatzustand ändern. Genau das fasziniert mich.89

89 Marius von Mayenburg in Anja Dürrschmidt: Die Belastbarkeit der Beziehungen. Marius von Mayenburg, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski

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Von Mayenburg sucht mit seinen Theatertexten demnach einen gesellschaftlichen Zustand zu reflektieren, den Hans-Thies Lehmann in sehr ähnlicher Weise mit der Ästhetik des Postdramatischen assoziiert: Der Verdacht ist kaum zu unterdrücken, daß die Gesellschaft sich die komplexe und vertiefte Darstellung zerreißender Konflikte, Darstellungen, die an die Substanz gehen, nicht leisten kann oder will. Sie spielt sich die illusionäre Komödie einer Gesellschaft vor, die solche Konflikte angeblich gar nicht mehr aufweist. […] Postdramatisches Theater ist auch Theater in einer Zeit der ausgelassenen Konfliktbilder.90

Ohne dass von Mayenburgs Texte in einer postdramatischen Ästhetik aufgehen, so gewinnt ihre Thematisierung der Familie doch auch vor diesem Hintergrund Kontur. Die Auseinandersetzung mit dem Konfliktpotenzial sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen am Beispiel der Familie korreliert mit einer Schreibweise fürs Theater, die die „Affinität von Drama und Konflikt“91 aufruft und reflektiert. Das Familienstück Turista aktualisiert den Konfliktdiskurs der Gegenwart, indem es sowohl inhaltlich – insbesondere mit dem Sujet der Familie, aber auch dem der sozialen Beziehung – als auch formal auf die Tradition dramatischer Streitkultur rekurriert. Dabei zitiert der Theatertext konventionelle Darstellungsmuster, wie etwa die Konstellation von Protagonist und Antagonist oder die Lösung des Konflikts, und führt sie zugleich mittels Strategien der Repetition und der Variation ad absurdum. Im Theater der jüngeren Vergangenheit wird der an Themen- und Motivtraditionen gekoppelte Konflikt vor allem im Rahmen der in den 1990er Jahren neu auflebenden sozialen Dramatik realisiert. Dies geschieht, wie Franziska Schößler festhält, vor allem im Gestus des Zitats: Agonistische Handlungsmuster werden als „selbstreferentielles Rollenspiel“ und in ironischer Brechung ausgestellt wie auch als „aus-

(Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 93-96, S. 93. 90 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 466. 91 Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 5. Aufl., Stuttgart, Weimar 1997 [1980], S. 141.

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gediente Schablonen“ vorgeführt.92 Die dergestalt in der Gegenwart zu beobachtende Verweigerung ernsthafter, existenzieller Konfliktdarstellung im Feld des Dramatischen lässt sich in den Fluchtpunkt einer Tendenz stellen, die sich spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts abzeichnet und die sich in der theatralen Entkoppelung von Konflikt und Dialog manifestiert. Dabei sei, so Schößler weiter, für den Ausgang des Jahrhunderts zu beobachten, dass „[i]nsbesondere in den postdramatisch angelegten Texten […] neue Formen des Konflikts entwickelt [werden]“93, die sich etwa im Phänomen des chorischen Sprechens oder in der ‚stummen Sprache‘ der Körper zeigen.94 Mit der Konzentration postdramatischer Ästhetiken auf den Körper95 korreliert demnach die Akzentuierung der physischen Dimension des Konflikts. Der Wettstreit der Worte, wie er im Drama etwa in der Stichomythie ebenso regelrecht wie pointiert auf die Spitze getrieben wird, weicht der Auseinandersetzung zwischen Körpern und mit dem (eigenen) Körper. Diese Tendenz, einen Konflikt als einen körperlichen darzustellen, greifen von Mayenburgs Familienstücke auf und fusionieren sie mit dramatischen Formen. Die nachdrückliche Konfrontation mit dem Körper als Austragungsort von innerem Zwiespalt oder aber von sozialen Konflikten bildet ein zentrales Merkmal von Mayenburg’scher Dramatik. In großer Nähe zum Programm der neuen Schaubühne unter Thomas Ostermeier, an der Marius von Mayenburg 1999 Dramaturg und Hausautor wird96, und damit auch mit Nähe zur Ästhetik der englischsprachigen Erfolgsstücke von Sarah Kane, Mark Ravenhill oder Enda Walsh konzentrieren sich von Mayenburgs Stücke auf existenzielle Fragen und

92 Franziska Schößler: Die Diffusion des Agonalen. Zum Drama der 1990er Jahre, in: Rhetorik der Debatte, hg. v. Olaf Kramer, Tübingen 2006 (Rhetorik, 25), S. 98-106, S. 104 u. S. 105. 93 Schößler: Die Diffusion des Agonalen, S. 99. 94 Vgl. Schößler: Die Diffusion des Agonalen, S. 103. Schößler arbeitet diese postdramatischen Formen des Agonalen an Theatertexten Elfriede Jelineks heraus. 95 Vgl. Kapitel 2.1 in dieser Arbeit. 96 Die Zusammenarbeit mit Ostermeier und seinem Team begann von Mayenburg bereits 1998 an der Baracke des Deutschen Theaters, wo er als dramaturgischer Mitarbeiter tätig war. Zum Programm der Schaubühne vgl. Kapitel 2.2 in dieser Arbeit.

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Erfahrungen des Leids, „auf die trostlose Existenz derer, die sich auf der Schattenseite des Lebens befinden“97. Sie formulieren das, was Ostermeier als Losung der Schaubühnen-Praxis „ein radikales Statement gegenüber der Wirklichkeit“98 nennt. Drastische Darstellungen psychischer und physischer Zustände und Verhältnisse sind Kennzeichen der von Mayenburg’schen Dramatik. Ihre Figuren werden in der Theaterkritik als „Monsterkinder“ und „hoffnungslos untherapierbar“99, als „[g]eheimnislose Wesen in einer radikal diesseitigen Welt“100 und als „Elendsmenschen“101 bezeichnet. Der Autor von Mayenburg gilt als

97

Sandra Umathum: Die Hölle sind immer die Anderen, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 106-108, S. 108. Zum Vergleich mit den Stücken der sogenannten ‚British Brutalists‘ vgl. auch Annette Stiekeles Kommentar zu Parasiten: „Auch wenn der Autor vermieden hat, es hineinzuschreiben, man könnte Parasiten als Milieustück lesen. Versucht es doch, sich in seinem knallharten Realismus in die Tradition der neuen britischen Sozialdramen einzufügen.“ (Annette Stiekele: Drastische Fühllosigkeit. Marius von Mayenburgs Aufführung „Parasiten“ im Amerikahaus hat am Ende dieeigenen Abgründigkeit nicht ertragen – und mit einem schönen Song zugekleistert, in: Die Tageszeitung, 8. Juli 2002, S. 23) Oder Heinz Kirchners Einschätzung, der von Mayenburg „von den raschen Skandalerfolgen der drastischen ‚Blut-und-Sperma-Stücke‘ einer Sarah Kane, eines Mark Ravenhill oder des Iren Enda Walsh [ermutigt]“ sieht. (Heinz Kirchner: Pack schlägt sich. „Parasiten“ von Marius von Mayenburg am Staatstheater Mainz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 2002, S. 56.)

98

Jörder: Sehnsucht nach Welt, S. 49.

99

Barbara Burckhardt: Lieber tot sein oder besoffen. Marius von Mayenburg und seine Monsterkinder, in: Theater heute 39 (1998) H. 5, S. 5356, S. 53 u. S. 56.

100 Georg Diez: Unter blinden Sonnen. Du bist ich allein in der Uraufführung. Thomas Ostermeier inszeniert in Hamburg die „Parasiten“ von Marius von Mayenburg, in: Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2000, S. 18. 101 Christine Dössel: Das Glück ist immer anderswo. Quintett der Verzweiflung. Florian Boesch inszeniert im Werkraum der Münchner Kammerspiele Marius von Mayenburgs „Parasiten“, in: Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 2000, S. 19.

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Repräsentant einer Generation102 – die mit ihren Arbeiten an eine in den 1980er Jahren abgebrochene sozialrealistische Tradition anschließt –, „allerdings nicht ohne Blessuren“103, wie Franz Wille betont: Die Helden geben sich den finalen Messerfick, lassen sich zerstückeln oder jagen sich samt Elternhaus in die Luft – nicht gerade das, was man als Zukunftsperspektive bezeichnen würde. Aber ein wütendes, kompromißloses Behaupten der letzten Spielräume, die sie haben und die sie entschlossen ausschreiten. […] Heißt das noch Realismus, wenn man die Wirklichkeit dadurch einfängt, indem man zeigt, was wirklich nicht geht? Dennoch: diese Stücke sind ein nächster Schritt über die subjektzersetzenden Aporien des späten Heiner Müller hinaus, sie haben auch die grellkomischen Lektionen der Neunziger gelernt und sind trotzdem einen Dickkopf weiter als all die schrillen Farcen.104

Von Mayenburgs Texte, insbesondere die bis zu dem Stück Turista uraufgeführten, zeigen ihre ‚Dickköpfigkeit‘ dabei weniger in einem radikalen Umgang mit dramatischen Formen als vielmehr in der Ausformulierung thematisch begründeter Konflikte. Tatsächlich gilt von Mayenburg als Autor, der sich dem Erzählen von Geschichten verpflichtet zeigt und zunächst eine tendenziell konventionelle Dramaturgie verfolgt.105

102 Vgl. etwa den Appell von Gerhard Stadelmaier: Von Mayenburgs „’Kaltes Kind‘ nun aber muß, wenn es nicht völliger Schwachsinn sein soll, als letzte groteske, kasperlemonstertheaterhafte Warnung ans Jugendtheater der Dreißigjährigen verstanden werden: Werdet endlich erwachsen! Denn nach dem ‚Kalten Kind‘ kann wenig mehr kommen“ (Gerhard Stadelmaier: „Werdet endlich erwachsen!“ Letzte Warnung ans Jugendtheater: Mayenburgs „Das kalte Kind“ in Berlin uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 2002, S. 33.) 103 Franz Wille: Im Kreml brennt noch Licht. Einige Entwicklungen des Theaters der neunziger Jahre. In: Jahrbuch Theater heute Jahrbuch (1999), S. 46-62, S. 62. 104 Wille: Im Kreml brennt noch Licht, S. 62. Die von Wille implizit angesprochenen Stücke sind Mark Ravenhills Shoppen und Ficken, Enda Walshs Disco Pigs und Marius von Mayenburgs Feuergesicht sowie Theresia Walsers King Kongs Töchter. 105 Vgl. etwa Umathum: Die Hölle sind immer die Anderen, S. 108.

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Dickköpfigkeit, Radikalität und Abgrenzung um jeden Preis sind zentrale Eigenschaften und Bedürfnisse, die Marius von Mayenburgs Figuren in mehr oder weniger starker Ausprägung aufweisen und artikulieren. Der Protagonist seines mehrfach preisgekrönten106 Familienstücks Feuergesicht, ein pubertierender Sohn einer bürgerlichen Kleinfamilie, verfolgt sein Ziel nach Unabhängigkeit bis zur Selbstzerstörung. In dramaturgisch dicht gepackten neunzig Kurzszenen wird der Rezipient Zeuge, wie Kurt im Bündnis mit seiner inzestuös geliebten Schwester als Brandstifter und Amokläufer eine Kette von Katastrophen auslöst, die Ausdruck einer radikalen Verweigerungshaltung sind: KURT: […] Man muß sich rauskappen aus der Verbindung und einzeln werden, raus mit den fremden Gedanken und alles dicht machen, nach außen keine Fühler mehr, nur noch Waffen, wie eine Qualle, blind und zu, und wer sich nähert, wird verbrannt, ohne Wut. Mund zu, Ohren zu und tun!107

Die sich zum Fanatismus steigernde Zerstörung aller sozialen Zusammenhänge, insbesondere in Form der Familie und gesellschaftlicher Institutionen wie Schule, Kirche und Fabrik, kulminiert im geschwisterlichen Elternmord und letztlich im Selbstmord Kurts, mit dem das Stück schließt: „Er hat sich selbst mit Benzin übergossen, nimmt jetzt ein Streichholz aus der Schachtel und entzündet es.“108 In Feuergesicht greifen Sprachgewalt und physische Gewalt eng ineinander, wobei die Grenze zwischen realistischer und hyperrealistischer Darstellungsweise wiederholt verschwimmt. Dabei findet das Moment des Hyperrealismus zu einer Sprache, die weniger psychologischen als poetischen Regeln folgt.

106 Für das Stück erhielt Marius von Mayenburg 1997 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatik und 1998 den Preis der Frankfurter Autorenstiftung. 1999 wählte die Jury der Fachzeitschrift Theater heute Marius von Mayenburg zum Nachwuchsautor des Jahres. 107 Marius von Mayenburg: Feuergesicht, in: Marius von Mayenburg: Feuergesicht. Parasiten. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 2000, S. 7-69, S. 50. 108 Mayenburg: Feuergesicht, S. 69.

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Das Ausschreiten von Konfliktsituationen bis zur Grenze des Erträglichen und des Glaubhaften109 kann als Markenzeichen von Mayenburg’scher Theaterstücke gelten. In den Rezensionen und Kommentaren wird die Begründung dafür vielfach im Sozialen gesucht, sogar explizit im Milieuhaften. So spricht etwa der Kritiker Alexander Menden von der „Zerlegung des Mittelstandes“ in Feuergesicht, der „Zerlegung des Lumpenproletariats“ in Parasiten und von der „bundesdeutsch-mittelprächtigen Fabrikanten-Haute-Volée“ in dem Theaterstück Das kalte Kind.110 Die Apostrophierungen der Theaterstücke von Mayenburgs als ‚realitätsnah‘ oder als ‚Sozialdrama‘ werden von Hinweisen auf den Horizont bundesrepublikanischer Wirklichkeit begleitet, als deren störanfälliger Nukleus die Familie figuriert. Allerdings erschöpfen sich die Theatertexte nicht in der Beschreibung sozialer Zustände. Sie entwickeln vielmehr eine Ästhetik des Hässlichen und des Zerstörerischen, die moralisierende Effekte evoziert. So ist in den Feuilletons die Rede von „nihilistische[n] Grundtöne[n], die sich vor allem in der Vereinzelung der Protagonisten und in ihrer puren Sprachgewalt […] äußern“, und von einem

109 Gerhard Jörder äußert zu von Mayenburgs Stück Parasiten den folgenden Verdacht: „Es fehlt eine theatralische Dringlichkeit – und nie wird man an diesem Abend das Gefühl los, der junge, begabte Autor führe uns hier eine Schmerz- und Jammerwelt vor, die er weniger erlebt und erfahren als klug und sensibel zusammengelesen hat.“ (Gerhard Jörder: Apokalypse im Rollstuhl. Uraufführung in Hamburg: Thomas Ostermeier inszeniert Marius von Mayenburgs „Parasiten“, in: Die Zeit, 25. Mai 2000, S. 42) Franz Wille gesteht, darauf Bezug nehmend, einerseits zu: „[D]ie Fülle an Unglück strapaziert jede dramatische Wahrscheinlichkeitsrechnung bis an die Grenze zur Fehlermeldung.“ Allerdings weist er andererseits dezidiert darauf hin, dass das Stück durchaus „aus der authentischen Erfahrung von mindestens zwei Drittel dieser Gesellschaft, die von oben nach unten schauen[, schöpft]“. (beide Zitate Franz Wille: Die Opfer sind unter uns. Thomas Ostermeier inszeniert in Hamburg „Parasiten“, das neue Stück von Marius von Mayenburg, in: Theater heute 41 (2000) H. 7, S. 5354, S. 54.) 110 Alexander Menden: Tanz ums Fragezeichen. Luk Perceval inszeniert die Uraufführung von Mayenburgs „Das kalte Kind“ an der Schaubühne Berlin, in: Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 2002, S. 16.

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„dramaturgische[n] Kosmos“, der „vom ‚Bösen‘ zersetzt“ ist.111 In den Blick kommt mithin eine sozialethische Dimension, in der das Gezeigte zu verorten wäre. Turista zeigt weder ein spezifisches soziales Milieu noch lassen sich die realistischen Szenarien im Sinne einer dokumentarischen Ästhetik näher bestimmen. Vielmehr verfolgt der Theatertext eine Strategie der Ästhetisierung, die Schrecken, Gewalt und Leid als normalisierte und normierende Bestandteile zwischenmenschlicher Beziehungen aufzeigt. Zu den wichtigsten Mitteln werden dabei das künstliche Sprechen der Figuren sowie die dramaturgischen Verfahren der dauerhaften Wiederholung und der zuspitzenden Verkürzung. So sprechen alle Figuren „dieselbe geschickt zu knappen Dialogen gefügte Kunstsprache jenseits konkreter sozialer Milieus“112. Die Repliken der Figuren, die zumeist die Länge einer Zeile nicht überschreiten, werden nur von wenigen monologischen Passagen unterbrochen. Der Prägnanz der Sprache entspricht die Kürze der Szenen, die wiederholt nur eine Replik umfassen. In nicht weniger als siebenundsiebzig Szenen gliedert von Mayenburg seinen Theatertext, der einen Prolog und sieben unterschiedlich lange „Teile“ umfasst. Dabei folgt das Stück erkennbar einer offenen Dramaturgie, in der einzelne Szenen austauschbar sind und die damit auch vom Zufall geprägt scheint. Es ist ein „Spiel mit Variationen, Wahrnehmungen und Kausalitäten“113, das Marius von Mayenburg mit seinem Theatertext Turista entfaltet. Inhaltlich wird dieses vor allem in der mehrmals durchlebten und bezeugten Ermordung desselben Jungen manifest. Die Personen, die sich auf dem Campingplatz begegnen, sprechen oft und in ständig wechselnden Konstellationen miteinander, haben

111 Stefan Tigges: Dramaturgien der Verspiegelung(en). Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsdramatik, in: Florence Bancaud-Maënen (Hg.): Beauté et laideur dans la littérature, la philosophie et l’art allemand et autrichien au XXe siècle, Lille 2005 (Germanica XXXVII), S. 121-133, S. 129. 112 Eva Behrendt: Hurra, jetzt ist der Oli tot! Luk Perceval inszeniert die Uraufführung von Marius von Mayenburgs apokalyptischer CampingGroteske „Turista“ in Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Toneelhuis Antwerpen an der Berliner Schaubühne, in: Theater heute 46 (2005) H. 7, S. 8-9, S. 9. 113 Dürrschmidt: Die Belastbarkeit der Beziehungen, S. 94.

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sich jedoch nur wenig zu sagen. Der dicht getaktete Wechsel der Sprecherinstanzen vermittelt den Eindruck des Beiläufigen, des Zufälligen und des Unverbindlichen. Die Dramaturgie der Figurenrede etabliert damit den größtmöglichen Kontrast zu der existenziellen Dimension der Ereignisse vor Ort wie auch der einzelnen Schicksale, die über den engen Mikrokosmos der Familie ins Gesellschaftliche weisen. Das Stück handelt von sechsfachen Mord- und Totschlag eines Jungen namens Oli, zeigt die Gewalt zwischen drei jungendlichen „Patient[en]“ (TU 80) des Sozialarbeiters Achim und der Ärztin Frau Dr. Schnoock sowie weist mehrfach auf den sexuellen Missbrauch von Ralf durch seinen Vater Dietmar hin. In Andeutungen erzählt wird die Geschichte einer dreiköpfigen Familie – Hermann, Elvira und Sonja –, die den Sohn und Bruder bei einem Unfall verloren hat, woraufhin sich bei der Mutter Anzeichen eines Wahnsinnigwerdens zeigen. Des Weiteren wird die Geschichte von Tom vorgetragen, der sich von seiner Ehefrau Sylvie getrennt hat und auf dem Campingplatz mit deren Liebhaber Bert um sie schlägt, und durchzieht die traurige Liebesgeschichte von Josef und Julia die Figurenrede. Das junge Pärchen verbringt von seinem letzten Geld seinen wahrscheinlich letzten gemeinsamen Urlauf auf dem Campingplatz, denn Julia ist an Krebs erkrankt und in einem späten Stadium. 6.2.2 Familienrituale und Familienordnung In Anbetracht dieser Lebensgeschichten und der konkreten Ereignisse gerät die Campingidylle zu einem Schauplatz des Schreckens und Leidens. Wiederholt werden in den raschen Wortwechseln Klagen hörbar, die die Stille beschwören (TU 107f.) und „Frieden“ (TU 217) einfordern. Die Rivalitäten, die sich zwischen und in den Familien im Verlauf des Stücks in immer schärferen Konturen abzeichnen, lassen das Zusammenleben auf dem Campingplatz als eine Familienhölle erscheinen, die aus dem Inneren der bürgerlichen Wohnung ins künstlich angelegte Freie der Natur verlegt wurde. Von Mayenburgs Turista transformiert die Konflikte aus dem privaten Mikrokosmos der Familie in ein gesellschaftliches Tableau, das zum einen die Varianz, zum anderen jedoch auch das Typenhafte der konfligierenden Beziehungen hervorkehrt und unterstreicht. Die im Bühnenmanuskript und der Uraufführung ausgewiesene Ortsangabe, die das Geschehen auf einem Schlachtfeld lokalisiert und die in der vorliegenden Buchdruckfassung

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getilgt ist, wird demzufolge implizit aufgerufen. Zudem finden sich Anspielungen in der Figurenrede, die den Campingplatz als Kriegsschauplatz entwerfen und von denen im Folgenden zwei Beispiele weiter ausgeführt werden sollen.114 In einer der ersten Begegnungen zwischen Hermann und Monika am dem Campingplatz nahe gelegenen Fluss erläutert sie ihm, der sich eigentlich beim Angeln nicht stören lassen möchte, dass sie „nur Reiseführer“ lese: MONIKA: […] Hier in der Gegend hat es eine Schlacht gegeben. Riechen Sie das? HERMANN: Eine Schlacht? MONIKA: Mein Mann grillt Kotletts [sic!]. HERMANN: Jetzt? MONIKA: Tut er immer. Hat immer irgendwas auf dem Grill […] (TU 107)

Mit dem paratextuell generierten Vorwissen lässt sich die von Monika zitierte Schlacht als eine der Schlachten, wie bereits zitiert, „‚auf der Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne‘“115 genauer bezeichnen, wobei die ‚Genauigkeit‘ durch die Überdeterminiertheit des Ortes zugleich aufgelöst wird. Ohne das Vorwissen steht in der Rezeption der Szene die makabere Verknüpfung der Speisenzubereitung am Grill und einem Krieg im Vordergrund. Die nach verbreiteten Klischees vor allem Männern zugesprochene Tätigkeit des Grillens wird in dieser assoziativen Verbindung zur zivilisierten Tat, in der martialische Zeiten und Taten anklingen. Sind sowohl das Grillen als auch die Schlacht männlich codiert, so verweist der Kommentar Monikas auf den redundanten Charakter der Handlung auf einen Prozess performativer Selbstinszenierung als Mann. Dass in Marius von Mayenburgs „Campingplatzgroßmetapher“116 Turista nicht nur Männern ‚kriegerisches‘ Handeln zugeschrieben wird, zeigt die nächste

114 Neben denen im Folgenden angeführten Beispielen vgl. auch den Kommentar von Olis Schwester Nadine, die sich bei einem der drei einheimischen Jäger erkundigt, ob er bereits jemanden erschossen habe, und dessen Verblüffen über die Frage anmerkt: „Im Krieg ist das normal“ (TU 111). 115 Schödel: Waterloo der Befindlichkeiten, S. 15. 116 Behrendt: Hurra, jetzt ist der Oli tot!, S. 9.

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Szene, in der eine Anspielung auf ‚Krieg‘ und damit auf die Familie als Kriegsschauplatz gegeben wird. Wenn etwa Monika, die offenbar ahnungslose Mutter des vom Vater missbrauchten Sohnes, ihren Ehemann Dietmar dazu auffordert, den im Indianerspiel versehentlich angeschossenen Sohn zu rächen, kommt es zu folgendem Dialog: DIETMAR: Was soll ich sagen zu den Leuten? MONIKA: Zur Not sagst du nichts, sondern langst hin, daß der mißratene Schweinemensch es nicht vergißt. DIETMAR: Ich will in Frieden Urlaub. MONIKA: Wenn dein Sohn beschossen wird, das ist schon eher Krieg. DIETMAR: Dann geh doch selbst und erklärs ihnen, erklär ihnen deinen Krieg. MONIKA: Daß ich überhaupt meine Zeit mit dir – ist gut, dann mach ichs selbst. Versager (TU 217f.).

Der Disput zwischen den Eheleuten legt das Gewaltpotenzial offen, das in den Beziehungen der Familie nach innen und nach außen ruht und das hier geschlechtlich codiert wird. Während die Frau aus männlicher Sicht als resolute Aggressorin auftritt, wird der Mann in ihren Augen zum „Versager“, wenn er nicht bereit ist, seine Familie zu ‚verteidigen‘. In der Forderung Monikas klingt das traditionelle Rollenbild vom Vater als Beschützer der Familie an, das das Paar allerdings durch sein folgendes Handeln unterläuft, denn es ist die Mutter, die sich auf die Suche nach dem schuldigen Gewalttäter, Sylvies Sohn, macht und bei Flos Mutter die Bestrafung für die Tat erzwingen will. Wie so oft, endet die Aussprache zwischen Kindern und Müttern in einem skurrilen Szenario: Ralf zeigt nach einigem Widerstand seinen verwundeten nackten ‚Po‘, woraufhin Sylvie erst zweimal Flo, dann dessen Schwester Nadine und schließlich noch mehrere Male Flo ohrfeigt. Als Monika dies mit den Worten „Die Kinder so verhauen“ kommentiert und die rauschhaft um sich schlagende Sylvie als „[v]erkommene Person“ beschimpft, erhält sie selbst von der zur Furie gewordenen Mutter eine Ohrfeige (TU 222). Bevor die Situation gänzlich eskalieren kann, werden die Beteiligten von den Kindern Dani und Sonja abgelenkt, die den toten Oli, Sylvies Sohn, herbeitragen. Von Mayenburg nutzt das Verfahren der Wiederholung in dieser Szene zur Entgrenzung familiärer Gewalt und steigert sie ins Groteske. Wenn der Sozialarbeiter Achim in einer der vorausgehenden, ersten Szenen des Stücks sein pä-

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dagogisches Theaterspielprojekt zu Hänsel und Gretel gegenüber der Ärztin damit begründet, dass es darum gehe, „Grenzen zu überwinden“ (TU 106), und er betont, dass es lediglich „ein Spiel“ (TU 106) sei, so gewinnen diese Worte nicht nur von dieser Szene aus rückblickend, sondern mit Blick auf das Gesamtszenario auf dem Campingplatz den Charakter eines metasprachlichen ironischen Kommentars. Komische und also distanzierende Effekte evoziert die beschriebene Streitszene zudem selbst durch das szenische Spiel. Der Theatertext alludiert das theatrale Potenzial des Komischen, indem er die Replik und die Bühnenanweisung in dichtem Wechsel aufeinanderfolgen lässt: FLO: Ich heul nicht. Ohrfeige. SYLVIE: Das freche Maul. Ohrfeige. FLO: Mein Maul sagt nichts. Ohrfeige. MONIKA: Hörn sie auf. (TU 221f.)

Die Bestrafung des Kindes durch die Mutter erhält durch diese Redeund Handlungsstruktur Züge des Rituellen. Von Mayenburg führt damit die exzessive Verausgabung der Mutter und den regelmäßigen Ablauf des Strafaktes parallel und entlarvt den Gewaltakt als Normalität etablierendes Familienritual. Das redundante und dichte Vorkommen von Gewaltakten führt diese als zerstörerisches Ritual, das die lose verbundene Campingplatzgemeinschaft zugleich bedroht und stabilisiert, vor. Zu dem in dramaturgischer Sicht stilbildenden Gewaltritual des Familiendramas Turista wird die sechsfache Tötung Olis. Mit René Girard117 lässt sich von Oli als dem Sündenbock der sozialen Gemeinschaft sprechen. Das Motiv der Kindstötung, das im Familiendrama des Sturm und Drang von zentraler Bedeutung ist, kehrt hier unter dem Vorzeichen der Groteske wieder. Dabei sind es in von Mayenburgs Familienstück nicht allein Mütter oder Frauen, die als Mörderinnen auftreten, sondern vorgeführt wird, wie jeder, gleichgültig welchen Geschlechts und welchen

117 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, 4.-5. Tsd., Frankfurt/Main 1994 [1992].

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Alters, allein oder als Verbündeter, zum Mörder werden kann. Erkennbar geht es bei dem Kindesmord nicht um die Frage nach dem Schuldigen, denn alle kommen als Schuldige infrage und werden schuldig. Vielmehr geht es um den Akt, in dem alle in wechselnden Konstellationen zugleich zu Verdächtigen und Verbündeten werden. Das vergemeinschaftende Prinzip, das dem Todesfall eingeschrieben wird, zeigt sich in der Wiederholung der gleichen Worte und gleichen Handlungen bei der Entdeckung des Toten auf dem Campingplatz. Dabei ergeben sich von Mal zu Mal Verschiebungen und Veränderungen, die das zugrunde liegende Modell des ‚ersten Schreckens‘ wiedererkennen lassen. Nahezu konstant bleibt etwa das Element der Szene, das die Bestürzung der Mutter markiert: „SYLVIE Hat Luft geholt, schreit. Oli“ (TU 91) und „SYLVIE Schreit. Nein“ (TU 138, 164, 188, 223). Bezeichnenderweise bleibt Oli am Ende des Theatertextes mit dem jungen Paar als einziger Überlebender zurück. Die Campinggesellschaft hat sich zu einem großen Picknick zusammengefunden, anlässlich dessen gegrillt wird und das Märchenspiel von „Hänsel und Gretel“ zur Aufführung kommt (TU 247). Das Picknick beschließt die Reihe von gemeinsamen Essen, die in den verschiedenen Familien und bei dem jungen Paar im Stückverlauf stattgefunden haben. Wie in den Familienstücken seit den 1990er Jahren, etwa in Dea Lohers Tätowierung und Wilfried Happels Schamhaar, zitiert auch in von Mayenburgs Turista das gemeinsame Essen ein Ritual118 der bürgerlichen Kleinfamilie. In Turista wird dessen konventionalisierte Form doppelt gebrochen und entgrenzt: Das Essen findet als Picknick statt und es eskaliert zur „Orgie“ (TU 256), wie es im Nebentext heißt. Im Rausch verzehrt die gesamte ‚Fest‘-Gesellschaft eine große Schüssel vergifteten Pudding, den Elvira zubereitet hat, die Mutter, die von allen als ‚Irre‘ aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde und nun mit den anderen stirbt. Ist dies ein Plädoyer für den sozialen Zusammenhalt in der Familie und auch über ihre Grenzen hinaus, so wäre es von einer makaberen Ironie nicht freizusprechen.

118 Vgl. Christoph Wulf: Zur Genese des Sozialen. Mimesis, Performativität, Ritual, Bielefeld 2005, S. 15.

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6.3 F AMILIE ALS S PRACHSPIEL : M ARTIN H ECKMANNS ’ K RÄNK Martin Heckmanns’ Theatertext Kränk119, dessen Uraufführungsinszenierung in der Regie von Simone Blattner 2004 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen war, greift gängige Motivklischees des Generationendramas auf und treibt sie mit sprachspielerischen Mitteln ins Groteske.120 Der Text verhandelt den zentral auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn gerichteten, allerdings durch die Perspektive eines Mutter-Tochter-Verhältnisses ergänzten und differenzierten Generationenkonflikt als eine Konfrontation in und mit der Sprache. Mit anderen Worten, die Auseinandersetzung mit der Ordnung der Familie wird als Konfrontation in und mit der Ordnung der Sprache und des Sprechens vorgeführt.121 Als ein zentraler Aspekt der Organisation der familialen Beziehungen erweist sich in Heckmanns’ Theatertext die Ökonomie. Familie wird mithin auch als wirtschaftliche Einheit aufgerufen. Zunächst jedoch sollen dieser Fokussierung einige einführende Anmerkungen zum Thema der Sprache und Sprachkritik in Heckmanns’ Dramatik vorausgehen.

119 Martin Heckmanns: Kränk, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 45-86. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle „KR“ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. 120 Kränk sei „gar kein Generationendrama“ und „dann doch das definitive Generationendrama und gleichzeitig der Abgesang auf jedes Generationengerede“, stellt Peter Michalzik anlässlich der Uraufführung des Stücks fest. (Peter Michalzik: Sag A. Gib Umlaut. Die aus der Hüfte schießen: Martin Heckmanns’ bitterböse kleine Farce „Kränk“, rasant uraufgeführt von Simone Blattner in Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau, 13. März 2004.) 121 Vgl. Marcus Twellmann: Der Regel entgegen. Wir feiern kränk, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 89-97; außerdem Schößler: Augen-Blicke, S. 287, wo es heißt: „Die Familienordnung wird bei Heckmanns […] zur Sprachordnung“. Aufgerufen werden in dem Theatertext verschiedene außerästhetische Referenzen der Sprachproblematik: etwa Derridas Gedanken zur Différance, Althussers Szene der Anrufung durch einen Polizisten (Szene „9 Theorie des Subjekts“, KR 60f.; vgl. hierzu Schößler: Augen-Blicke, S. 287) oder Levinas’ Theorem vom Anderen.

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6.3.1 Sprache in Bewegung Welche Funktionen Sprache übernimmt und was es mit ihrem weltschöpferischen und identitätsstiftenden Potenzial auf sich hat, sind Fragen, die wiederkehrend in Heckmanns’ Stücken begegnen. Sie finden ihren dramaturgischen Ort sowohl in der persönlichen zwischenmenschlichen Begegnung als auch in der Verhandlung anonymer abstrakter Diskurszusammenhänge. Entsprechend sind die sprachreflexiven Äußerungen nicht an eine spezifische dramatische Textform gebunden: Das Spektrum reicht vom konventionellen dramatischen Monolog122 und Dialog123, die zumeist in losen Szenenfolgen organisiert sind, bis hin zu Variationen postdramatischer Sprachgestaltung. Dabei rücken die Texte unabhängig von ihrer je einzelnen konkreten Form, die sich mit Strukturelementen wie Figurenrede und/oder Regieanweisung stets dem Dramatischen verpflichtet zeigt, den Akt des Sprechens in den Vordergrund. Heckmanns’ Figuren vollziehen in ihrem Sprechen Sprachhandlungen, die die Grenzen des traditionellen dramatischen Sprechtheaters immer wieder überschreiten und diese dabei in der Überschreitung zugleich anerkennen. So findet ein im Duktus des Sprachspiels aufgeführtes Sprechen seine Begrenzung oder Unterbrechung, wenngleich unregelmäßig und von unterschiedlicher Dauer, im dramatischen Dialog, in dem sich eine Replik semantisch mit einer anderen verbindet. Beispielhaft lässt sich diese Bewegung des Sprechens an Heckmanns’ wohl mit bekanntestem Theatertext

122 Vgl. z.B. den Theatertext Finnisch oder Ich möchte Dich vielleicht berühren (UA 1999). (Martin Heckmanns: Finnisch oder Ich möchte Dich vielleicht berühren, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 7-43) Der Theatertext erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich selbst ein Paket geschickt hat, um mit der Postbotin ins Gespräch zu kommen, und der nun, während des Wartens, ausgiebig über den Wortwechsel der ersten Begegnung nachdenkt. 123 Vgl. z.B. den Theatertext Die Liebe der Leere (UA 2005). (Martin Heckmanns: Die Liebe der Leere, in: Gut ist was gefällt. Versuche über die zeitgenössische Urteilskraft. Vier Theaterstücke von Sabine Harbeke, Martin Heckmanns, Fritz Kater, Theresia Walser, Frankfurt/Main 2006 (Frankfurter Positionen), S. 81-121.)

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Schieß doch, Kaufhaus! (UA 2002)124 aufzeigen, für den Heckmanns 2002 in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt wurde: KNAX: Ich: Leer Stellen Gefühl Such Maschine KLING: Ich: Auf Stand Ort Nach Teil Debatten Opfer KNAX: Ich: Verblendungs-Zusammen-Hang KLING: Ach, du bist das. KNAX: Ja. Ich bins. Sieh her. Ich bins. Ich bins. Sieh mich an. Bist du noch da? KLING: Du siehst mich doch. KNAX: Du bist nicht dieser andere Agent, dieses Gespenst deiner selbst, dieses Ausgestoßene aus dir, das bist du nicht, nein? KLING: Nein, ich bins. KNAX: Bist du dir sicher, hast du nachgefragt, kannst du dich fühlen, bist du dein einziger Zeuge? KLING: Ich vertraue mir. KNAX: Sei dir nicht zu sicher. (SK 123f.)

124 Martin Heckmanns: Schieß doch, Kaufhaus!, in: Spectaculum 74. Fünf moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2003, S. 107-136. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚SK‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. Vgl. die Besprechung der Uraufführung von Eva Behrendt: Sperriges Sprachmisstrauen. Martin Heckmanns’ „Schieß doch, Kaufhaus!“ – inszeniert von Simone Blattner, in: Theater heute 43 (2002) H. 7, S. 46-47.

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Wie aus den Bezeichnungen der Figuren, Ätz, Fetz, Klar, Kling und Knax, zu schließen ist, werden in dem Theatertext keine Charaktere mit psychologischem Profil entworfen, gleichwohl sich in den dramatisch-dialogischen Passagen durchaus individuelle Züge der Sprecher andeuten. Geprägt ist die Atmosphäre des Stücks durch einen Sprachgebrauch, der die lautliche Dimension von Sprache und ein assoziatives Sprechen betont. Der Text verhandelt das Thema der Globalisierung in Form einer Stimmencollage. Jargons und milieuspezifische Phrasen aus der Globalisierungsdebatte, „Sprachhülsen aus Ideologiekritik, Psychosprache, Managerseminar und dem Politjargon der Generation ‚Attac‘“125, werden auf solche Weise zusammen- und gegeneinandermontiert, dass die einzelne Stimme wie auch die Aussagen des Einzelnen in einem chorischen Arrangement aufgehoben werden, das jede Eindeutigkeit und Festlegung einer Aussage etwa als Standpunkt oder Meinung unterläuft. In charakterisierender Weise zeichnen sich Heckmanns’ Theatertexte durch ein wirkungsvolles Changieren zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, zwischen Festsetzung und Offenheit aus. Dieser Zustand, der sich in der Schwebe des Möglichen hält, in dem Musils Möglichkeitssinn eine spezifische Gegenwärtigkeit erfährt, geht auf ein akribisch durchgeführtes Spiel mit semantischen, syntaktischen und phonetischen Elementen der Sprache und des Sprechens zurück. Eine dem Theatertext Anrufung des Herrn. Szenen zum Abschied (UA 2004)126 entnommene Replik, in der die Konstitution von Identität im Gespräch mit dem anderen thematisiert wird, mag dies verdeutlichen: Meine Stimme stimmt sich ein auf dich Sprechen beruhigt. Ich spreche mich in Form Ich bilde mich ein Ich stelle mich vor mich Mein Name. Ich stelle mich.

125 Esther Slevogt: Mein Leben ohne Welthandel [zu Martin Heckmanns „Schieß doch, Kaufhaus!], in: Die Tageszeitung, 17. Juni 2002, S. 25. 126 Martin Heckmanns: Anrufung des Herrn. Szenen zum Abschied, in: Theater heute 45 (2004) H. 7, S. 53-59. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚AH‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert.

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Ich stelle mich ein auf Den offenen Raum Zwischen uns Ich stelle mich aus Ich sitze Ich setze mich ein für mein Anliegen An dich. Sätze. Ich lege mich fest Ich stehe für Suchendes Reden Daran hänge ich (AH 54)

Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, den Voraussetzungen und dem Gelingen von Kommunikation, die als ein zentrales Moment in Heckmanns’ Dramatik gelten kann, verbindet sich aufs Engste mit der Frage nach dem Gegenüber, nach dem Verhältnis zwischen Ich und Du sowie nach dem Verhältnis zwischen Ich und Wir. Es sind vor allem die Begegnung und der Austausch mit dem erreichbaren oder unerreichbaren, dem konkreten oder imaginierten Anderen, die die Figuren in Heckmanns’ Stücken zum Sprechen bewegt. Dabei eröffnet sich neben einem existenzphilosophischen Bedeutungshorizont, der an dieser Stelle nicht ausführlicher in den Blick genommen werden kann, auch eine Perspektive auf die Darstellung und Bedeutung des Sozialen in den Heckmanns’schen Texten. Wo Sprache und Sprechen in ihrer identitätsstiftenden Funktion problematisiert werden, stehen soziale Daseinsformen zur Diskussion. Ob Singlesein oder Paarbeziehung, Familie oder politische Organisation, die Texte Heckmanns’ reflektieren auch und durchaus in unterschiedlichem Maße soziale Kontexte von Äußerungen. Dem Medium des Theaters gemäß verhandeln sie Grenzen des öffentlichen und privaten Raumes und fragen nach dem Verhältnis des Einzelnen zu einer Gemeinschaft. Mit einem Appell einer Figur aus dem Theatertext Das wundervolle Zwischending127,

127 Martin Heckmanns: Das wundervolle Zwischending, in: Spectaculum 76. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2005, S. 43-76. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle ‚WZ‘ und Seitenzahlen in Klammern zitiert. In dem Theatertext hinterfragt ein Liebespaar, indem es einen Film über sich dreht, die alltäglich-routinierten Umgangsformen und insze-

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dem „MANN VOM AMT“ ließe sich das politische Potenzial der Heckmanns’schen Dramaturgie, die (sprachliche) Bewegungen zwischen (individueller) Vereinzelung und (globalem) Zusammenhang nachzeichnet, pointiert zum Ausdruck bringen: „Sie können sich nicht vollständig abkapseln. Sie sind nicht alleine auf der Welt“ (WZ 67). Bezüge zu gesellschaftspolitischen Themen und Debatten stellen Heckmanns’ Texte nicht in erster Linie über eine explizite Benennung her, sondern indem sie soziale Befindlichkeiten und Zusammenhänge ästhetisch einzuholen suchen. Dies vollzieht sich vor allem auf der Ebene der Sprachgestaltung, was an Schieß doch, Kaufhaus! verdeutlicht werden kann, das sich bereits mittels des Titels in einen politischen Diskurs, nämlich den des Terrorismus einschreibt. Anhand der Zusammenkunft von Globalisierungskritikern wird, wie Marcus Twellmann überzeugend darlegt128, der Versuch vor- und durchgeführt, durch die sprachliche Mit-Teilung ein Mit-Sein, ein „Zusammensein“ (SK 109) in Gestalt eines politisch handlungsfähigen „Wir“ zu konstituieren. Offensichtlich ist das Projekt, betrachtet man die Inhalte der Auseinandersetzungen, im Scheitern begriffen. An seinem Ende stehen – wie die letzte Aktüberschrift ankündigt – „Absagen“ (SK 130). Doch, so merkt Twellmann an: Daß Gemeinsamkeit ihr eigentliches Anliegen ist, bringt die Bewegten in den Verruf des Apolitischen allerdings nur, solange das Politische in den Inhalten gesucht wird. Wie Heckmanns zeigt, geht das gemeinsame Gespräch in der bloßen Verhandlung politischer Themen, das Politische in der Politik, nicht auf. […] Daß sich im Stammeln der Stimmen der Sinn zerstreut, macht das gemeinsame Gespräch aber nicht zwecklos, im Gegenteil: Führte der Kongreß zu einem einstimmigen Beschluß – das Zusammenkommen wäre beendet. Die endgültige Einigung auf ein geschlossenes Weltbild ließe einen Mythos der Globalisierungskritik entstehen und wäre das Ende ihrer Mit-teilung. Weil man nicht am Ende zusammen ist, sondern endlos zusammenkommt, ist die Unter-

nierten Rollenspiele seiner Liebe und fragt damit auch nach der Beziehung zwischen Ich und Wir. 128 Vgl. Marcus Twellmann: Welt Witz Wir. Zu „Schieß doch, Kaufhaus!“ von Martin Heckmanns, in: Spectaculum 74. Fünf moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2003, S. 237-243.

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brechung ihres Mythos durch seine Mit-teilung das bewegende Moment der Bewegung.129

Die im aufzuführenden Theatertext Schieß doch, Kaufhaus! hervortretenden Undeutlichkeiten und Uneindeutigkeiten beziehen sich mithin nicht allein auf die intertextuell eingeflochtenen Ansätze der Globalisierungskritik, sondern auch auf die Artikulation von Sprache, woraus der Text sein wirkungsästhetisches, wenn nicht politisches Potenzial entfaltet.130 Die Aufmerksamkeit gegenüber Störungen des Sprechens, gegenüber Unterbrechungen und Brüchen der Kommunikation, das Interesse an Irritationen der Verständigung und des Verstehens und die damit einhergehende sprachkritische Perspektive131, sind zentrale Merkmale der Dramatik von Martin Heckmanns. Die Texte schreiben sich in die Tradition sprachkritischer Dramatik ein, wie sie nicht zu-

129 Twellmann: Welt Witz Wir, S. 241-242. 130 Vom wirkungsästhetischen Potenzial des Uneindeutigen und des Desorientierenden spricht auch Natalie Bloch, die Schieß doch, Kaufhaus! im Hinblick auf dessen (post-)dramatische, lyrisch-musikalische und popästhetische Kompositionsverfahren untersucht und den Schluss zieht, dass „die popästhetischen Verfahren […] sich als politisch gemeinte Programme [entpuppen], mit denen die Ausweglosigkeit des Einzelnen in Zeiten der Globalisierung durchaus lustvoll kritisiert wird.“ (Natalie Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns, in: Der Deutschunterricht 34 (2004) H. 2, S. 57-70, S. 70) Vgl. auch Jerome Carroll: Unbestimmtheit als Methode. Die endlosen Stücke von Martin Heckmanns, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 128-141; Carroll diskutiert die Frage nach dem wirkungsästhetischen Potenzial der Heckmanns’schen Theatertexte allerdings vornehmlich mit Orientierung an der vermeintlichen Intention des Autors. 131 In Schieß doch, Kaufhaus! wird Sprache metaphorisch als „eine faule Tasche, in die sich jeder hineinlügt“ (SK 110), beschrieben und damit als Ort der Wahrheit und hinsichtlich eines identitätsbegründenden Gehalts hinterfragt.

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letzt durch die Sprechstücke von Peter Handke repräsentiert wird.132 Die architextuelle Beziehung insbesondere zu Handkes Dramatik lässt Heckmanns’ Theatertext Kränk assoziieren, indem die Figur des Sohnes einen Ausspruch Kaspar Hausers aufnimmt und variiert: Lautet die Äußerung in Handkes Text „Ich möcht ein solcher werden/wie einmal ein andrer gewesen ist“133, so heißt es in der Replik des Sohnes in Kränk: „Ich möchte ein anderer werden als jemals einer war“ (KR 64). Die in Kränk im Gestus des Genies geäußerte Absicht der Abgrenzung vom anderen, die auch mit dem Rimbaud-Zitat „Ich ist ein Anderer“ spielt, manifestiert sich als eine Abgrenzung in und mit Sprache und Sprechen. 6.3.2 Der Generationenkonflikt als Sprachkonflikt Die Suche nach Authentizität, Originalität und Selbständigkeit bildet das zentrale Motiv, welches das dramatische Handlungsgeschehen in dem Generationendrama Kränk vorantreibt. Der Text thematisiert das Bestreben des Einzelnen, seine Individualität und Eigenständigkeit gegenüber den norm- und regelgeleiteten Erwartungen der familialen Gemeinschaft zu behaupten, und verhandelt damit die Frage nach der sozialen Integrationsleistung der Familie – im Hinblick sowohl auf die familiale Gemeinschaft als auch auf die Gesellschaft. Anhand der Familienthematik diskutiert der vorliegende Theatertext die Frage nach der Differenz zwischen Norm und Abweichung, zwischen Ordnung und ihrem Jenseits. Bereits der Titel lässt dies lautlich und semantisch anklingen, indem ‚kränk‘ kein Lexem der deutschen Sprache darstellt, allerdings ein anderes, nämlich das Wort ‚krank‘ assoziieren lässt, das seinerseits ‚kränk‘ eine negative Bedeutung im Sinne des Ausgegrenzten und des Abnormen verleiht. Die Differenz, die auf der metonymischen Lautverschiebung von „a“ nach „ä“ beruht, erinnert an diejenige

132 Autorennamen, auf die in Theaterkritiken (mehr oder weniger stichhaltig) in Bezug auf die Sprache verwiesen wird, sind: Ödön von Horváth, Werner Schwab, Ernst Jandl, Daniil Charms oder Karl Valentin. Zur Einordnung in die zeitgenössische Dramatik wird auf Gesine Dankwart, René Pollesch und Ulrike Syha verwiesen. 133 Peter Handke: Kaspar, 29. Aufl., Frankfurt/Main 2001 [1968], S. 22 (Szene 17).

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Jacques Derridas von „differénce“ zu „différance“. Sie stellt eine Abweichung dar, die die Norm noch kenntlich lässt. Die Frage nach den Möglichkeiten von Veränderung und Überschreitung einer geltenden Ordnung, die sich inhaltlich im traditionsreichen Stoff des Generationenkonflikts manifestiert, findet in Kränk ihre spezifische Gestalt als Konflikt der Sprache. „Die Differenz von Vater und Sohn“, so hält Marcus Twellmann fest, „wird reinszeniert als ein Drama des abweichenden Sprechens und sprechenden Abweichens“.134 Das Aufbegehren des Sohnes gegen den Vater gründet nicht auf Argumentation, seine Rebellion manifestiert sich gerade nicht als agonaler Schlagabtausch inhaltlicher, auf Eltern- und Kindgeneration verteilter Positionen. Vielmehr äußert sich der Widerstand des Sohnes als „eine Art Schiebung“, die durch eine „permanente Weiterschiebung“ auf die Veränderung des Bestehenden zielt135 und die sich in einer, nicht soziolinguistisch als Jugendsprache zu bestimmenden, Abweichung im Sprachgebrauch ausdrückt. Es sind poetisch-literarisch wirksame Wortspiele und Lautverschiebungen, die die Abgrenzung vom Vater markieren, ohne in einer festlegbaren Gegenposition zu resultieren. Der Sprache des Vaters, der nicht ohne komödientypische Anspielung den Namen „Richter“ trägt und in der Branche des „Kommunikationsdesign[s]“ tätig ist (KR 51, 57), tritt das Sprechen des Sohnes entgegen, das im Vater – in assoziativer Nähe zu Jacques Lacans Begriff des Symbolischen – Gesetz und Ordnung der Sprache angreift. „Sprich ordentlich“ (KR 49) fordert denn auch der Vater, der „wie das letzte Gericht [redet]“ (KR 52). Doch „Kränk“, wie der Sohn das Medium seiner Verweigerung nennt, ist darauf angelegt, sich dem Verstehen zu widersetzen. Jede Festlegung eines Sinns oder einer Bedeutung gilt es zu vermeiden. Konsequenterweise sagt sich der Sohn von seinem Geburtsnamen, Christof, los und verweigert sich damit der Identität festlegenden und verbürgenden Geste der Namensgebung durch einen anderen136: „Er nennt sich Ernk“ (KR 52). In der Zurück-

134 Twellmann: Der Regel entgegen, S. 90. 135 Die „Strategie der Verschiebung ist das eigentliche Thema von Kränk“. (Marcus Twellmann: Der Regel entgegen, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 89-97, S. 91.) 136 „MAMA: Wie war noch ihr [sic!] Name? / VATER: Er nennt sich Ernk. / ERNK: Für Sie immer: Ihr Christof. / VATER: So haben wir ihn damals

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weisung der Identifikation vollzieht sich jedoch zugleich deren Bestätigung, denn, so ist der widerständige Akt mit Judith Butler zu lesen, [w]ährend also die verletzende Anrede ihren Adressaten scheinbar festschreibt und lähmt, kann sie ebenso eine unerwartete, ermächtigende Antwort hervorrufen. Denn wenn „angesprochen werden“ eine Anrufung bedeutet, dann läuft die verletzende Anrede Gefahr, ein Subjekt in das Sprechen einzuführen, das nun seinerseits die Sprache gebraucht, um der verletzenden Benennung entgegenzutreten.137

Inwieweit über den Eigennamen die Identität und die Kontinuität familiärer Beziehungen bestimmt werden, ist als Frage den Äußerungen der Eltern implizit. Ernks Vater und Rosas Mutter, beide Alleinerziehende eines pubertierenden Kindes, stellen fest: VATER: […] Und Christof ist mein Sohn. MAMA: Er sträubt sich gegen Ihren Namen. VATER: Ich habe versucht, mich ihm zu erklären. Er hört mich nicht mehr. Wie könnte ich seine Neugier befriedigen? Ich bin sein Vater. Sein Ernk ist vorübergehend. (KR 57)

Ist die Selbstbenennung Ernks als ein emanzipatorischer – dabei zugleich pubertärer und damit im Ergebnis nicht dauerhafter – Akt lesbar, so verweist sie doch auch deutlich auf die Grenzen des „Kränk“, das als Medium der Abweichung und des Widerstands dienen soll. Nicht nur dass ein Eigenname, Christof, lediglich durch einen anderen, Ernk, ersetzt wird, auch dass Ernk sich ermächtigt, seiner Altersgenossin und Komplizin Rosa in einem rituellen Akt und mit der „Geste“ der „Blutsbrüderschaft“ (KR 67) einen neuen Namen zu geben, imitiert die Strategien des „Festsetzen/Klarstellen/Stilllegen“ (KR 54),

genannt. / ERNK: Wo ist hier wir, Alleinerzieher? Wer ist hier damals? Sie brannten mir den Eigennamen auf ewig ins Gehör“ (KR 52). Vgl. Twellmann: Der Regel entgegen, S. 91: „Der Eigenname aber ist das Wort der Sprache, an dem vor allen anderen erfahrbar wird, daß diese keine eigene ist, sondern eine fremde, die man nicht sich selbst gegeben hat.“ 137 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt/Main 2006, S. 10.

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wie sie der Sprache des Vaters zugeschrieben werden. Rosa durchschaut das janusköpfige Projekt der Rebellion, das Ernk verfolgt und das Züge einer religiösen Heiligenverehrung trägt: ERNK: reicht ihr einen Zettel. Schreib deinen Namen dir vom Leib. ROSA: schreibt ihren Namen mit Blut. Rosa rot. ERNK: Merzn? Wie „Im Märzen der Bauer“? ERNK: schreibt ihr den Namen mit Blut auf die Stirn. M-e-r-z-n. ROSA: So siehst du mich? ERNK: So sagt es das Kränk. ROSA: Ist Kränk ein Ding, das dir gehorcht, oder ist es umgekehrt? (KR 68)

Rosa erkennt in der Sprache Ernks das Sprechen seines Vaters, dem der Gestus der Macht eigen ist: „Du sprichst schon wieder wie dein Vater. Du schwätzt lauter als das Geschwätz, gegen das du schwätzt. Willst du mich oder willst du mich nur als Lehrling?“ (KR 74) Wenn Ernk „Kränk“ mithin zum Gegenstand und Medium der Erziehung macht, verliert dieses sein Potenzial, die angestrebte Andersheit zu markieren: „ERNK: Ich erziehe dich. / ROSA: Ich entziehe mich deiner Erwartung. / ERNK: Das ist vorgesehen. / Kränk lernen heißt Kränk missverstehen.“ (KR 70) Wenn aber „Kränk“ den Widerstand absorbiert und also die Abweichung zur Regel erhebt, gewinnt es absoluten Charakter und kann damit die Funktion distinktiver Differenzierung nicht mehr leisten, die es der Idee nach hatte. Indem „Kränk“ für Rosa erlernbar ist, kann es zum Gegenstand und Medium einer Erziehung werden, die auch auf die Eltern umsetzbar wird. Als Rosa die Eltern in „Kränk“ einweiht, geschieht dies signifikanterweise beim Abendbrot, einem konstitutiven Ritual der familiären Gemeinschaft. Am Familientisch wird „Kränk“ bereits qua der Bedeutung des Ortes zur „gemeinsame[n] Sache“ (KR 77). In Ernks Reaktion auf das Geschehen der Vergemeinschaftung wiederholt sich die ausgrenzende Machtgeste des Vaters gegenüber Ernks Mutter, wenn der Sohn Rosa das Wort verbietet: „Schweig still.“ (KR 78) Am Ende untersagt Ernk schließlich auch seiner Mutter das Wort, denn er fürchtet ihren Verrat: Wenn sie sich um klare Worte bemüht, so bilden sie die Sprache des Vaters, gegen die der Sohn aufbegehrt. Um die Mutter auf ‚seiner‘ Seite zu haben, muss sie ‚irr‘ sprechen. Die räumliche Exklusion der Mutter in Form der Einweisung in die Irrenanstalt, die be-

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dingt ist durch ihr abweichendes Sprechen, will der Sohn rückgängig machen. Mit dem Geld des Vaters und der Hilfe Rosas kauft er sie frei. Die wiederholte Geste der „Blutsbrüderschaft“ (KR 84), wie sie in der Regieanweisung benannt wird, bedeutet die Tötung der Mutter. Die Möglichkeit der Veränderung wird damit zurückgewiesen und „für immer“ (KR 83) ausgeschlossen. Doch münden das Scheitern des Sohnes am Widerstand gegen den Vater und damit das Scheitern des „Kränk“ an der Ordnung der Sprache nicht in den Zustand der ‚Stillstellung‘. Vielmehr präsentiert der Theatertext einen ambivalenten Schluss in der Form, dass Rosa dem „Kränk“ treu bleibt, Mutter Iris zu ihrem Mann zurückkehrt und Ernk seiner Liebe nachfolgt: „Nein, Mutter, ich muss los. Ich hab mich verliebt.“ (KR 85) Es ist ein versöhnliches Ende, das traumhafte Züge trägt. Die Familientragödie, an deren Ende die Katastrophe steht, der an seiner Sprachrebellion gescheiterte Held seinen Tod findet, kommt nur gebrochen zur Geltung. Die ‚Inszenierung‘ des Generationenkonflikts als Konflikt der Sprache bedient sich nicht allein des Mittels der Personifikation138, sondern entfaltet sich auch in dramaturgisch und theatral wirksamen Entwürfen von Räumen. Im Folgenden soll der Blick auf die Figuration der Familienordnung und das darin vorgezeichnete Verständnis von Familie gerichtet werden. 6.3.3 Familienordnung und Ökonomie Ernk und Rosa lernen sich anlässlich eines Rendezvous zwischen seinem Vater und ihrer Mutter kennen. Beide Jugendliche leiden auf ihre Weise unter der Alleinerziehung durch ein Elternteil, die je eigene Gründe hat: Ernks Mutter Iris befindet sich in einer „Anstalt“, wie es sowohl in der Figurenrede (KR 56) als auch im Nebentext (Szene 4, KR 53) heißt. Aus Sicht des Sohnes wurde sie vom Vater „vertrieben mit seinem Starrkopf“, weil er „ihr geistig nicht folgen [konnte]“ (KR 63); der Vater allerdings spricht davon, dass sie Ehemann und Sohn „verließ“ (KR 63). Entgegen der Machtgeste, die für Ernk die Trennung von der Mutter bedeutet, spricht Rosa in betont lapidarem Ton vom Verlust ihres Vaters: „Mein Vater ist einfach gestorben. Seitdem umsorgt mich Mama doppelt. […] Mein Mamama.“ (KR 63) Die Art

138 „So wird [in Kränk, C.B.] ein Konflikt der Sprache mit Rücksicht auf Darstellbarkeit personalisiert“ (Twellmann: Der Regel entgegen, S. 90.)

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und Weise, mit der die Kinder die Trennung von einem Elternteil darstellen, korrespondiert einerseits damit, wie sie die Beziehung zum verbleibenden Elternteil wahrnehmen, und andererseits mit der Wahrnehmung der Kinder durch die Elternteile: Eltern vor der Tür. MAMA: Meine Tochter entweicht mir. VATER: Mein Sohn wird ganz hart. Kinder im Kinderzimmer. ROSA: Meine Mama lässt sich gehen. Sie lallt und lullt mich ein. ERNK: Mein Vater markiert den klaren Kopf. (KR 62)

Wo in der Darstellung der Beziehung zwischen Vater und Sohn, darin gängigen Geschlechterklischees folgend, Härte und Bestimmtheit vorherrschen, werden die Abgrenzungen zwischen Mutter und Tochter als von Vagheit und geringerer Konfrontationslust geprägte gezeigt. Die rivalisierende und emanzipatorische Haltung gegenüber den Eltern, die Rosa und Ernk eint und die auch in der räumlichen Trennung von den Eltern symbolisiert wird, ist erkennbar geschlechtlich codiert139. Die identitätsbildende Abgrenzung durch das Geschlecht wird auch in den Auseinandersetzungen zwischen den Kindern thematisch, als beispielsweise Ernk Rosa zum Vorwurf macht: „Nicht so. Nicht so abwegig. So weich. So mitfühlend. Verständnisvoll. Abgeschwächt. Mitleidig. Sei ein Mann.“ (KR 73) Der Theatertext problematisiert mit dem Generationenkonflikt mithin die sozialisationsbedingte Reproduktion von Geschlechterstereotypen. Der Text Kränk verhandelt die Distanzierung zwischen Kind- und Elterngeneration, indem er Paarkonstellationen einander gegenüberstellt und ineinander verschiebt, die sich aus analytischer Perspektive jeweils der Kategorie der Generation, des Geschlechts und der Familienform zuordnen lassen. Die derart an binären Rastern (Eltern/ Kinder, weiblich/männlich, alleinerziehend/Normalfamilie) ausgerichtete Figurendramaturgie wird insbesondere mit dem Auftreten von Mutter Iris irritiert. Nach dem Personenverzeichnis (KR 46) ist sie als „MUTTER IRIS A“ dem „VATER A“ und dem „SOHN ERNK A“ zugeordnet und zugleich von dem Paar „MAMA DORIS B“ und „TOCHTER ROSA

139 Angaben zum Alter der Kinder beziehungsweise Jugendlichen finden sich weder in der Figurenrede noch in Paratexten.

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B“ abgegrenzt. Im Unterschied zu Mama Doris ist sie, so will es die Nomenklatur, Teil einer intakten Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Zur Einheit der Familie, die mit der eindeutigen Sprache der Logik markiert ist, kontrastiert allerdings die dargestellte Realität des Familienlebens, die von der ersten der insgesamt vierundzwanzig Szenen an von dissoziierenden Momenten durchsetzt ist. Auf den ersten Blick sind es im Wesentlichen zwei Ereignisse, die die Geschlossenheit der Familie infrage stellen: das Rendezvous des Vaters mit seiner Mitarbeiterin Doris und Iris’ räumliche Trennung von ihrer Familie. Dass sowohl das Liebesverhältnis als auch der Ausschluss der Mutter aus dem Familienalltag als Folge patriarchaler Machtausübung zu verstehen seien, betont der gegen den Vater rebellierende Sohn: „Mein Vater hat sie [Mutter Iris, C.B.] eingeliefert mit seinem Starrsinn.“ (KR 56) Und Ernk warnt Rosas Mutter, die seinen Geburtsnamen Christof als „Entdeckername“ identifiziert140 und sich damit aus Perspektive des Sohnes als ‚Wissende‘ outet: „Reißen Sie sich zusammen, Frau. / Der Vater steckt Sie weg. / Beim kleinsten Unfug … Humbug … Ausflug. Können Sie Geflügel? Er will Sie als Haushälterin. / Sehen Sie sich vor.“ (KR 52) Inwieweit die Analyse der Familiensituation durch den Sohn Bestand hat, ist mittels der Frage nach den familiären Rollenprofilen der Figuren, insbesondere der Vaterfigur, zu untersuchen. Der Sohn adressiert wiederkehrend, gemäß traditionaler Familienstrukturen, den Vater als Autoritätsperson, wobei er zugleich durch die Art und Weise der Anrede dessen dominierende Position in den Rollen des Familienernährers, des Vorgesetzten, des Vaters und des Mannes kennzeichnet und zur Disposition stellt. Bereits mit dem Auftakt des Stücks werden die sozialen Rollen des „VATERS“ in nuce aufgerufen und durch die konnotationsreiche Figurenrede, in der sich Ökonomie-, Generationen- und Geschlechterdiskurs durchkreuzen, hinterfragt: VATER: […] Du gehorchst mir nicht. ERNK: Ich gehöre Dir nicht. VATER: Du gehörst weg.

140 Später assoziiert auch Rosa den Entdecker: „MUTTER IRIS: Lass das, Christof. / ROSA: Christof? Ein Entdeckername“ (KR 72). Rosa gibt sich damit als Rollen-Nachfolgerin der Mutter und in ihrer Angepasstheit an die Vorgängergeneration zu erkennen.

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ERNK: Ich gehorche anders. […] […] VATER: Hör auf. ERNK: Mutter ist fort. VATER: Fang nicht wieder damit an. […] ERNK: Du bleibst immer der Alte. VATER: Ich bin immer für dich da. ERNK: Ist das eine Drohung? VATER: Ich habe dich ermöglicht. ERNK: Du hast mich verschuldet. Gib mir Geld. Ich gebe dir Ruhe. VATER: Einmal ist Ende. ERNK: Deine Vaterschaft endet mit mir. Ich bin dein letztes Stück Familie. Bin ich nicht mehr da, bist du Chef ohne Anhang. VATER: Was soll ich denn tun? ERNK: Gib mir Geld. VATER: Geh mir aus den Augen. Ernk ab. (KR 49f.)

Das Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn thematisiert eine stereotype Familiensituation, indem der Jugendliche den Vater als diejenige Instanz anspricht, die für die ökonomische Grundversorgung der Familie in Verantwortung steht. Zugleich überführt die sprachliche Darstellung den Konflikt ums Geld in eine Kontroverse um die Deutungshoheit der familiären Beziehung, in der die Verschränkung biologisch, moralisch und ökonomisch begründeter Abhängigkeitsstrukturen zutage tritt. So sind durch die Paronomasie von „gehorchen“ und „gehören“ die Autorität des Vaters, die sich aus ethischen Vorstellungen patriarchaler Familienordnung ableitet, und der Besitzanspruch des Familienoberhaupts, das in seiner Nachkommenschaft seine ökonomische Absicherung sucht, verschränkt und in eben dieser Verquickung als Anachronismus und Verfehlung offengelegt: „Ich gehorche anders.“ In vergleichbarer Weise verbinden sich in der Mehrdeutigkeit des Wortes „verschuldet“ eine ethische (Sich-schuldig-Machen) und eine ökonomische (Schuldenmachen) Perspektive auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die Doppeldeutigkeit der Anklage des Sohnes „Du hast mich verschuldet“ resultiert in einem die Polysemie auflösenden ‚unmoralischen Angebot‘ an den Vater, indem dessen Ge-

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wissen zum Gegenstand eines Handels werden soll: „Gib mir Geld. Ich gebe dir Ruhe.“ Verweigert sich der Vater in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Sohn, so erkennt er später den Tauschwert familialer Hierarchie, die seine Autorität begründet, an, indem er sich auf die vermeintliche Vermittlung durch eine fremde Tochter einlässt und zudem seine Käuflichkeit in die ihre umzumünzen sucht: „ROSA: […] Wir brauchen Geld. / […] / ROSA: Bekomme ich Geld? Mutter greift zum Geldbeutel. / VATER: Das geht schon in Ordnung. Gibt Rosa Geld. Bring Ernk zur Besinnung, und du bekommst noch mehr.“ (KR 58) Hier wie andernorts bricht der Text die Doppelmoral des Vaters mit komischer Ironie. Denn Ernk schickt Rosa zu den Eltern, um Geld für seine Mutter zu beschaffen (KR 56), die die Anstalt verlassen will, und so kauft der Vater nicht sich von seiner Ohnmacht, sondern seine Frau aus ihrer Isolation frei. Die großzügige Geste des Vaters fungiert zudem als Demonstration der ökonomischen Macht des Mannes über die Frau, die durch die Rolle als Vorgesetzter von Rosas Mutter grundiert wird und darüber hinaus auch in die private Beziehung hineinwirkt. Das wiederkehrende Spiel mit der Trennung von privater und geschäftlicher Kommunikationsform, die sich vor allem im Wechsel der Anredeformen ‚Sie‘ und ‚du‘ manifestiert, setzt einerseits das komische Potenzial der stereotypen Situation einer Affäre zwischen Chef und Angestellter frei und thematisiert andererseits auch die Instabilität und Relativität der familiären Rollenverteilung. Nicht in jeder Dimension zielt das Handeln von Mama Doris auf die Ersetzung von Mutter Iris. So insistiert sie beispielsweise darauf, dass ihre Tochter das versprochene zusätzliche Geld erhält, als sie mit der Einweihung der Eltern in das „Kränk“ Ernk das Medium seines Widerstands nimmt: „Gib Rosa das Geld, sie hat ihn stillgestellt.“ (KR 78) Indem das „Kränk“ durch Rosa zur „gemeinsamen Sache“ wird, wird es zum Gegenstand nicht nur der familiären Verhandlung und Vermittlung, sondern auch des ökonomischen Handelns.141 Konstitutiv für die Dynamik dieses Handelns zeigt sich die Überwindung von räumlichen Grenzen. Ausgangspunkt der Raumdramaturgie in Kränk ist zum einen die Abtrennung des Kinderzimmers von der übrigen Wohnung sowie zum anderen die Trennung des privaten Wohnraumes von der öffentlichen

141 Vgl. Twellmanns Analogiebildung: „So macht Kränk am Ende die Runde wie im ganzen Drama das Geld, das nicht aufhört zwischen den Generationen zu zirkulieren“ (Twellmann: Der Regel entgegen, S. 96).

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Anstalt. Das Zimmer des Sohnes wie auch das von Mutter Iris werden als Orte der Abgrenzung und Ausgrenzung entworfen, die sich durch einen von der familiären Ordnung der Sprache verschiedenen Sprachgebrauch auszeichnen. Während allerdings Ernk seinen Raum als den Ort des geschützten Rückzugs gegen den Zugriff der väterlichen Autorität verteidigt, ist es eben diese Macht des Vaters, die die Mutter an einen Ort der Exklusion und – mit Foucault – an einen Ort der Disziplinierungsmacht bannt. Die atmosphärische Differenz zwischen den beiden ‚Außen‘-Räumen vermittelt sich über die Regieanweisungen derart, dass sich Ernk im „dunkle[n] Kinderzimmer“ „in einer Ecke“ (KR 54) nicht nur im metaphorischen Sinne ‚verkriechen‘ kann, wohingegen die Mutter ihrem „kalte[n] klare[n] Zimmer“ (KR 53) zu entkommen sucht. Zwischen den beiden personell identifizierbaren Räumen spannt sich ein Spektrum von Räumen des szenischen Übergangs und der Begegnung: ein Zimmer mit Tisch (KR 49), die Wohnung, ein „echte[r] Wald“ (KR 67), ein „heller weißer Flur“ (KR 71) sowie das Schlafzimmer (KR 78). Neben der binnenfiktionalen Bedeutung der szenischen Orte zeichnet sich – maßgeblich anhand der Regieanweisungen – die theatrale Bedeutung der Räume ab. Auffällig treten die Raumgrenzen als Grenzen und Begrenzungen von Sprache in Erscheinung und wird die Stimme als eine „paradigmatische Figur der Überschreitung“142 in Szene gesetzt. Insbesondere das Dunkel des Raumes, das in verschiedenen Situationen des dramatischen Geschehens dramaturgisch zum Tragen kommt, betont die Bedeutung des Akustischen. Die Fokussierung auf den performativen Charakter der Stimme gewinnt in Kränk auch mit Blick auf Kristevas Theorem der poetischen Sprache Brisanz, insofern darin die physische Dimension der Stimme als das Semiotische dem Symbolischen beziehungsweise dem Gesetz der Sprache entgegengesetzt begriffen wird. Der Widerstand Ernks gegen die Sprache des Vaters formiert sich in Kränk als ein Sprachspiel, das die lautliche Dimension der Sprache in Rechnung stellt:

142 Doris Kolesch: Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 267-281, S. 275.

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ERNK: staunend. Äußerungen gesungen Schwimmen mehr Meer Als gesetzte Sätze. ROSA: begeistert. Geschwungene Klänge Überflügeln die Enge die deutlich ausgesprochen von einem Satz ausgeht der steht. ERNK: Das Gesprochene muss – Schluss mit den Forderungen – Gesungen, verstört und betört Verführt im Wiegeschritt Mäandernd gewandelt werden jetzt. ROSA: Jetzt splittert Sprechen muss brechen Schwätzen zerfetzen Umwälzung vertont lautet Gesang Gemeinsamer Gesang heißt verinnerlicht Kuss. (KR 69)

Das Überwinden von Grenzen durch die Art und Weise des Sprechens liegt als Idee auch dem lauten ‚Probesprechen‘ von Mutter Iris in ihrem Anstaltszimmer zugrunde (KR 53f.). Dass sie dieses allerdings erst verlassen kann, als sie von ihrem Sohn und seiner Komplizin das Geld erhält, das diese über eine „Mauer“ (KR 70) schmuggeln, lässt Zweifel an der grenzüberschreitenden Macht der Sprache laut werden. Sprache fungiert als Mittel der Vergemeinschaftung und kann dem Wunsch nach Vereinzelung, den auch Ernk nicht konsequent verfolgt, nicht dienen.

7. Abschließendes

Die deutschsprachige Gegenwartsdramatik der Jahrtausendwende verknüpft, wie die vorangegangenen Untersuchungen aufzeigen, auf eine komplexe Weise Wissen zu Arbeit und Familie mit zeitdiagnostischen Aussagen aus den Feldern der Sozial- und Kulturwissenschaften. Dabei bleibt ein Bezug auf die Tradition des sozialen Dramas stets erkennbar. Die Theatertexte partizipieren an den diskursübergreifenden Verhandlungen, die nach dem kulturellen, ökonomischen und ethischen Stellenwert von Arbeit und Familie für das individuelle Leben und für die soziale Gemeinschaft fragen. Mit ihrer Themenwahl begründen sie den Anschluss der zeitgenössischen Literatur respektive Dramatik wie des zeitgenössischen Theaters an gesellschaftspolitische Debatten wie auch an die wissenschaftliche Forschung. Dabei zeigen insbesondere die für diese Studie ausgewählten Theatertexte zum Thema Arbeit ein hohes Verknüpfungspotenzial mit zeitgenössischen arbeitsbezogenen Theoremen und sie gehen in ihren Aussagen vielfach auf die Recherchearbeiten und Feldforschungen der Autorinnen und Autoren zurück, die in unterschiedlicher Form in den Paratexten zu den Stücken offengelegt werden. Die Texte etablieren mit dem Einsatz des dokumentarischen Materials, das in verschiedener Weise als ‚Fremdkörper‘ wahrnehmbar bleibt, das Spiel um Wirklichkeit und Fiktion. Wo die Verwendung von Fachvokabular auf der Ebene der Figurenrede, die Einrichtung einer wirklichkeitsnahen Szenerie in den (impliziten) Bühnenanweisungen oder der, oft nur skizzenhafte, Entwurf alltäglicher Kommunikationssituationen realistische Effekte hervorbringen, dort arbeiten dem Dokumentarischen zugleich die ästhetischen Strategien der Stilisierung entgegen. Durch die dramaturgischen und sprachlichen Mittel der komischen Zuspitzung (Rinke), der Selektion (von Düffel) oder der Wiederholung (Pollesch) überschreiten die

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Theatertexte den durch das dokumentarische Material evozierten Rezeptionszustand der Wiedererkennung von Wissen. Sie treiben – zwar jeweils auf sehr unterschiedliche Weise, doch aus der Perspektive sozialkritischer Reflexion durchaus miteinander vergleichbar – das Dokumentarische ins Surreale, das auf der Figurenrede in den Zuständen des Wahnsinns (Röggla, Richter, Rinke) und des Hysterischen (von Düffel, Pollesch) aufscheint. Die in den Stücken entworfenen Arbeitswelten führen auf diese Weise ideologischen Anspruch und Wirklichkeit gegeneinander. Den neukapitalistischen Leitbildern wie der projektförmigen Arbeitsorganisation, dem selbstunternehmerischen Arbeitssubjekt und der Entgrenzung von Arbeit und Privatleben stellen die Stücke die Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmungen, die Individualität und Soziabilität der Figuren und mithin das vom Diskurs Ausgeschlossene gegenüber. Die Arbeitsdramatik der Jahrtausendwende stellt in ihrer Figurenzeichnung, ihrer Dramaturgie und ihrem theatralen Potenzial das neukapitalistische Ideal effizienten, kreativen und innovativen Arbeitens vor und macht es auf seine entindividualisierenden (Rinke, von Düffel) und enthumanisierenden (Röggla, Richter, Pollesch) Wirkungen hin transparent. Namentlich in den Entwürfen von Raum, Zeit und Körper konvergieren dabei die ästhetischen, zwischen dramatischen und postdramatischen Formen aufgefächerten Verhandlungen von Wahrnehmungen und Erfahrungen mit Thesenkomplexen der zeitdiagnostischen Forschung. Die Bewegung der räumlichen Ent- und Begrenzung, in Form der Vergemeinschaftung auf engem Raum (Rinke) oder der Diffusion konkreter Handlungsräume (Pollesch), und die Modellierung von Zeit, in Form der Stillstellung (von Düffel, Richter) oder der Beschleunigung (Pollesch, Röggla, Richter), verweisen auf Modi gegenwärtigen Arbeitens und fungieren zugleich als Kategorien zur Beschreibung sprach- und theaterästhetischer Formen. Ihr theatrales Potenzial schöpft die hier untersuchte Arbeitsdramatik allem voran aus der Erfahrung des Scheiterns, die in besonderem Maße in ihrer physischen Dimension vergegenwärtigt wird. Das Arbeitssubjekt, das gemäß dem neoliberalen ökonomischen Diskurs der Selbstinszenierung und Selbstvermarktung verpflichtet ist und das in den ausgewählten Texten überwiegend in der Person einer Führungskraft auftritt, wird in ausgeprägter Weise in seiner Körperlichkeit greifbar gemacht. Sei es, dass im Rahmen einer dramatischen Dramaturgie Figuren von Herzschmerzen geplagt werden und zu Tode kom-

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men (Rinke), sei es dass die Figuren in ihrem sensorischen Empfinden fokussiert werden (von Düffel, Richter) oder dass Figur und Darsteller mit den sprachlichen Mitteln postdramatischer Ästhetik in den Zustand der Atemlosigkeit und der Erschöpfung getrieben werden (Röggla, Pollesch) – stets klingt im Scheitern auf paradoxe Weise ein Moment der Authentizität an. Offenen Widerspruch – das heißt ein inhaltlicher Widerspruch jenseits der widerständigen und subversiven (sprach-) ästhetischen Strategien, ein Widerspruch also in Form von Aussagen, die gegen flexibilisierte Arbeitsformen und gegen ein Selbstverständnis als selbstunternehmerisches Arbeitssubjekt gerichtet sind, oder in Form von Figuren, die gegen ihren Willen in postfordistisch organisierte Arbeitsverhältnisses eingebunden sind – artikuliert bei den hier untersuchten Texten am offensivsten René Polleschs Insourcing des Zuhause. Auch Kathrin Rögglas wir schlafen nicht bringt, etwa in der Praktikantin, die vom ‚Aussteigen‘ spricht, und in den selbstkritischen Äußerungen der Figuren, Stimmen des expliziten Widerspruchs zu Gehör. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei den beiden genannten Theatertexten um jene, die einer postdramatischen Ästhetik erkennbar näher stehen als einer dramatischen beziehungsweise in einer solchen aufgehen. Die Textlektüren legen dar, dass keine fixierbare Relation zwischen einerseits der Nutzung des dramatischen Formenrepertoires und andererseits der Thematisierung zeitgenössischer Arbeitsformen und Arbeitskulturen, die vor allem die Aspekte der Diffusion von Arbeit und Leben sowie des durch Selbsttechnologien geleisteten Selbstunternehmertums beleuchtet, festzumachen ist. Allerdings lässt sich eine Affinität zwischen einer tendenziell der postdramatischen Ästhetik folgenden Schreibweise, die in den untersuchten Texten vor allem mit dem Gestus des Dokumentarischen korreliert, und einem sowohl auf binnenfiktionaler als auch auf rezeptionsästhetischer Ebene tendenziell offensiven Umgang mit kritischen Positionen beobachten. In den ausgewählten Theatertexten zum Thema Arbeit wird die unternehmerische Maxime der Selbstoptimierung im Sinne einer bestmöglichen Anpassung an die Anforderungen des (Arbeits-)Marktes aufgerufen und zugleich unterlaufen; es treten mithin die nach Maßgabe neoliberalen Denkens erstrebenswerte Orientierung an und Konformität mit Fremderwartungen – sei es in Bezug auf das Auftreten, das äußere Erscheinungsbild oder den Umgang mit anderen – ins Zentrum der Verhandlung von Arbeit. Demgegenüber problematisieren die

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Theatertexte zum Thema Familie die gegenläufige These zum Verhältnis von Ich und Rollenerwartungen. Das Familiensubjekt konstituiert sich, wie die untersuchten Theatertexte vorführen, in erster Linie über die Abgrenzung gegenüber Fremderwartungen. Nicht nur anhand der Figuren der Kindgeneration, sondern auch mittels der Repräsentanten der Elterngeneration arbeiten die Theatertexte in der Darstellung familiärer Beziehungen eine Dynamik des Widerspruchs heraus. Der aktiv rebellierende Sohn (Heckmanns, von Mayenburg) und die aufbegehrende Tochter (Bärfuss, von Mayenburg) zählen ebenso zum Figurenrepertoire der zeitgenössischen Familiendramatik wie die Eltern, die nicht nur Eltern sein wollen (Bärfuss, Heckmanns, von Mayenburg). Dabei greifen die hier analysierten Theatertexte bei der Problematisierung familiärer Konflikte und Auseinandersetzungen auf die Darstellung sowohl von drastischer physischer Gewalt (von Mayenburg), wie sie in den Familienstücken der 1990er Jahre vorherrschend war, als auch von biopolitisch wirksamen Mechanismen verdeckter Kontrolle (von Mayenburg) sowie auf die Darstellung von verbaler Gewalt zurück (Heckmanns). Das Wechselspiel zwischen dem Anspruch, eine Familie zu sein, und den Bestrebungen des Individuums, sich von den Abhängigkeitsund Machtbeziehungen des familiären Mikrokosmos zu distanzieren und zu emanzipieren, begründet nach wie vor das sozialkritische Interesse der Familienstücke. Dabei richten sich die Emanzipationsbewegungen bemerkenswert deutlich auf den Aspekt der sexuellen Selbstbestimmung. Im Unterschied zu zeitgenössischen Debatten, in denen etwa die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie und die diesbezüglich virulente Frage nach den familiären Geschlechterrollen diskutiert werden, konzentrieren sich die Theatertexte sowohl bei der Elterngeneration (Heckmanns, von Mayenburg, Bärfuss) als auch bei der Kindergeneration (Bärfuss) auf die sexuelle Dimension individueller Selbstverwirklichung. Dabei geht etwa Bärfuss’ Die sexuellen Neurosen unserer Eltern der Frage nach den biopolitischen Machtbeziehungen nach, die über die Regulierung von Sexualität und Gesundheit auf den individuellen Körper einwirken. Zwar antizipiert die untersuchte Familiendramatik die These von der Pluralisierung der Familienformen, wenn alleinerziehende Mütter und Väter auftreten (Heckmanns, von Mayenburg) oder die Idee der Patchworkfamilie aufgenommen wird (von Mayenburg), doch dominiert in allen untersuchten Theatertexten zum Thema Familie das Ideal

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der sich aus zwei Generationen und zwei Geschlechtern konstituierenden bürgerlichen Kleinfamilie. Wo sie nicht mehr existiert, wird sie, wie in Kränk, radikal vom Sohn eingefordert, und wo sie beschädigt ist, wird sie, wie in Turista, beklagt und zum Anlass für die Flucht in den Wahnsinn. Die Familiendramatik der Jahrtausendwende hält an dem Muster der Kernfamilie fest, unabhängig davon, wo sie sich auf dem Spektrum zwischen dramatischen und postdramatischen Darstellungsformen positioniert. Während die Arbeitsdramatik um das innovative, dynamische und kreative Arbeitssubjekt kreist, fokussiert die Familiendramatik überwiegend das konservative und nur scheinbar flexible Familiensubjekt. Dabei stehen hier wie dort das Scheitern der Individualisierungsprojekte im Vordergrund und es herrscht tendenziell ein skeptischer Grundton vor, der jede aufscheinende positive Utopie, etwa von einer humaneren Welt oder einem selbstbestimmten Leben, mit einer Atmosphäre des Vagen, Surrealen und Absurden umgibt. Wie die vorliegende Untersuchung zeigen konnte, setzt sich die soziale Dramatik der Jahrtausendwende offensiv mit zeitdiagnostischen Befunden zu den Lebensfeldern Arbeit und Familie auseinander. Sie schreibt sich damit in kulturelle Aushandlungsprozesse ein, die angesichts der von Globalisierung und Individualisierung bestimmten Erfahrungs- und Wahrnehmungsräume nach den neuen sozialen und kulturellen Herausforderungen für das Individuum fragen. In einem weiten Spektrum ästhetischer Formensprache diskutieren die Theatertexte weniger die makroskopische Dimension ihrer Thematik, widmen sich weniger Sozialstrukturen und den Strukturen der Wirtschaft, sondern schärfen den Blick für die soziokulturelle Praxis des Alltags, in der es für das Individuum in einem permanenten Prozess der Selbstkonstitution und Selbststilisierung zwischen ideologischen Ansprüchen und Wirklichkeit zu vermitteln gilt. Mit ihren poetischen und theaterästhetischen Mitteln entwickeln die Familien- und die Arbeitsdramatik der Jahrtausendwende eine Politik des Details, in der populäre Begriffe ebenso wie gängige Argumentations- und Denkmuster des zeitdiagnostischen Arbeits- und Familiendiskurses auf den Prüfstand gestellt werden.

8. Dank

Ohne die Unterstützung vieler Mitmenschen wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. An erster Stelle möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Franziska Schößler meinen besonderen Dank aussprechen. Sie gab meiner Arbeit wichtige Impulse und mir ein inspirierendes Arbeitsumfeld an der Universität Trier, in dem ich Förderung und Freiräume erhielt. Prof. Dr. Ulrich Port danke ich für seine freundliche Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Kolloquien der vergangenen Jahre danke ich für die anregenden und fachkundigen Diskussionen, von denen vielfältige Gedankenanstöße für mein Schreiben ausgingen. Für einen bis zuletzt offenen und lebendigen Gedankenaustausch und so manche kreative Pause danke ich herzlich Na Young Shin. Zudem möchte ich mich bei meinen Korrekturleserinnen und -lesern für ihr großes Engagement bedanken. Mein inniger Dank für seine Sorge und Unterstützung, insbesondere in der Abschlussphase dieses Projektes, gilt meinem Mann. Meiner Schwester und meinen Eltern danke ich von Herzen für ihr rückhaltloses Vertrauen in den Jahren des Studierens und des Promovierens und ihre unermüdliche Ermutigung in den letzten Monaten der Promotion; ihnen widme ich diese Arbeit.

9. Literatur

T HEATERTEXTE Im Folgenden werden alle zitierten und analysierten Theatertexte der acht Autoren und Autorinnen aufgeführt. Außerdem werden alle sonstigen zitierten Theatertexte sowie alle im Haupttext genannten, nach 1990 uraufgeführten Theatertexte nachgewiesen. BÄRFUSS, Lukas: Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, in: Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke, Göttingen 2005, S. 71-127. [Abgedruckt auch in: Theater heute 44 (2003) H. 4, S. 52-61.] [Sigle ‚SN‘] BÄRFUSS, Lukas: Meienbergs Tod, in: Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke, Göttingen 2005, S. 7-69. BÄRFUSS, Lukas: Amygdala, in: Lukas Bärfuss: Alices Reise in die Schweiz. Die Probe. Amygdala. Stücke, Göttingen 2007, S. 115-166. BÄRFUSS, Lukas: Die Probe (Der brave Simon Korach), in: Lukas Bärfuss: Alices Reise in die Schweiz. Die Probe. Amygdala. Stücke, Göttingen 2007, S. 59-113. [Abgedruckt auch in: Theater heute 48 (2007) H. 3, S. 49-58.] BUHR, Heiko: Ausstand. Stück und Materialien, Frankfurt/Main 2001. BUKOWSKI, Oliver: Londn – L.Ä. – Lübbenau, Berlin 1994, Bühnenmanuskript der Kiepenheuer-Bühnenvertriebs-GmbH. BUKOWSKI, Oliver: Gäste. Tragödie, in: Theater heute 40 (1999) H. 4, S. 61-68. DANCKWART, Gesine: Täglich Brot, in: Theater heute 42 (2001) H. 6, S. 56-60. [Abgedruckt auch in: Uwe B. Carstensen, Stefanie von

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Lieven (Hg.): Theater Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke 14, Frankfurt/Main 2004, S. 227-251.] DÜFFEL, John von: Die Unbekannte mit dem Fön. Ein Stück in Regieanweisungen, in: John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön, 2. Aufl., Gifkendorf 2001 [1997], S. 9-68. DÜFFEL, John von: Balkonszenen, in: Theater der Zeit 56 (2001) H. 1, S. 65-79. DÜFFEL, John von: Elite I.1, in: Nils Tabert (Hg.): Playspotting 2. Neue deutsche Stücke. Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann, Tim Staffel, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 265-300. [Sigle ‚EL‘] FOSSE, Jon: Der Name, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 5, S. 65-79. GOETHE, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hg. v. Friedmar Apel u.a., I. Abt. Bd. 7/1: Faust. Texte, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt/Main 1994, S. 31-199. HANDKE, Peter: Kaspar, 29. Aufl., Frankfurt/Main 2001 [1968]. HAPPEL, Wilfried: Das Schamhaar, in: Wilfried Happel: Das Schamhaar. Mordslust. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 1996, S. 7-49. HAPPEL, Wilfried: Mordslust, in: Wilfried Happel: Das Schamhaar. Mordslust. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 1996, S. 51-117. HAUPTMANN, Gerhart: De Waber/Die Weber. Schauspiel in den vierziger Jahren, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. 1: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 319-480. HAUPTMANN, Gerhart: Die Ratten, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. II: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1965, S. 731-831. HAUPTMANN, Gerhart: Das Friedensfest, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 99-165. HAUPTMANN, Gerhart: Michael Kramer, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 1111-1172. HAUPTMANN, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama, in: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Hass, Bd. I: Dramen, Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 9-98.

9. LITERATUR | 463

HASENCLEVER, Walter: Der Sohn. Ein Drama in fünf Akten, in: Walter Hasenclever: Sämtliche Werke, in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hg. v. Dieter Breuer u. Bernd Witte, Bd. II.1: Stücke bis 1924, bearbeitet v. Annelie Zurhelle u. Christoph Brauer, Mainz 1992, S. 233-322. HECKMANNS, Martin: Finnisch oder Ich möchte Dich vielleicht berühren, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 7-44. [Sigle ‚FI‘] HECKMANNS, Martin: Kränk, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 45-86. [Sigle ‚KR‘] HECKMANNS, Martin: Schieß doch, Kaufhaus!, in: Spectaculum 74. Fünf moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2003, S. 107-136. [Sigle ‚SK‘] HECKMANNS, Martin: Anrufung des Herrn. Szenen zum Abschied, in: Theater heute 45 (2004) H. 7, S. 53-59. [Sigle ‚AH‘] HECKMANNS, Martin: Die Liebe der Leere, in: Gut ist was gefällt. Versuche über die zeitgenössische Urteilskraft. Vier Theaterstücke von Sabine Harbeke, Martin Heckmanns, Fritz Kater, Theresia Walser, Frankfurt/Main 2006 (Frankfurter Positionen), S. 81-121. HOCHHUTH, Rolf: McKinsey kommt, in: Rolf Hochhuth: McKinsey kommt. Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke, mit einem Essay v. Gert Ueding, 3. Aufl., München 2004 [2003], S. 7-79. HOLZ, Arno, Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen, mit einem Nachwort v. Fritz Martini, Stuttgart 2008. HORVÁTH, Ödön von: Kasimir und Karoline [in 117 Szenen], in: Ödön von Horváth: Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit v. Susanna Foral Krischke, Bd. 5, S. 67-138. JANDL, Ernst: Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, in: Ernst Jandl: poetische werke, hg. v. Klaus Siblewski, Bd. 10: peter und die kuh. die humanisten. Aus der Fremde, München 1997, S. 177-258. JELINEK, Elfriede: Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie, in: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 207-348. JONIGK, Thomas: Du sollst mir Enkel schenken, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 31-94.

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JONIGK, Thomas: Rottweiler, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 95-133. JONIGK, Thomas: Täter, in: Thomas Jonigk: Theater eins, mit einem Nachwort v. Ute Nyssen, Graz, Wien 2008, S. 136-209. [Abgedruckt auch in: Theater heute 41 (2000) H. 2, S. 58-68.] JONIGK, Thomas: Hörst Du mein heimliches Rufen. Stückauszug, in: Programmheft. „Hörst du mein heimliches Rufen“ von Thomas Jonigk, Düsseldorfer Schauspielhaus, Nr. 2, 2006/2007, S. 6-10. KAISER, Georg: Von morgens bis mitternachts. Ein Stück in zwei Teilen, in: Georg Kaiser: Werke, hg. v. Walther Huder, Bd. 1: Stücke 1895–1917, Berlin 1971, S. 463-517. KATER, Fritz: Vineta (oderwassersucht), in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 151-202. KATER, Fritz: WE ARE CAMERA/jasonmaterial, in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 273-306. KATER, Fritz: zeit zu lieben, zeit zu sterben, in: Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Dialog, 4), S. 205-237. KROETZ, Franz Xaver: Furcht und Hoffnung in Deutschland. Nicht Fisch nicht Fleisch. Der Spitzel. Stücke 3, Hamburg 1997. KROETZ, Franz Xaver: Heimarbeit. Ein antidialogisches Stück in 20 Bildern, in: Franz Xaver Kroetz: Heimarbeit. Stallerhof. Geisterbahn. Kapellenspiel von der heiligen Jungfrau. Michis Blut. Stücke 2, 2. Aufl., Hamburg 1999 [1996], S. 7-34. LENZ, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie, in: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Bd. 1: Dramen, Dramatische Fragmente, Übersetzungen Shakespeares, Frankfurt/Main 2005, S. 41-110. LESSING, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 3: Werke 1754–1757, hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung v. Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel, Frankfurt/Main 2003, S. 431-526. LESSING, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u.a., Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt/Main 2000, S. 291-372.

9. LITERATUR | 465

LOHER, Dea: Tätowierung, in: Dea Loher: Olgas Raum. Tätowierung. Leviathan. Drei Stücke, Frankfurt/Main 1994, S. 65-144. [Abgedruckt auch in: Spectaculum 57. Sieben moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 1994, S. 55-108.] LOHER, Dea: Adam Geist, Frankfurt/Main 1998. [Abgedruckt auch in: Theater heute 39 (1998) H. 2, S. 66-77.] LOHER, Dea: Der dritte Sektor, in: Theater heute 42 (2001) H. 5, S. 55-66. LOHER, Dea: Magazin des Glücks, in: Dea Loher: Magazin des Glücks. Licht, Hände, Deponie, Hund, Sanka, Samurai, Futuresong, Berliner Geschichte, Schere, War Zone, Frankfurt/Main 2002, S. 9-143. LÜNSTEDT, Claudius: Vaterlos, in: Claudius Lünstedt: Zugluft. Musst boxen. Vaterlos. Drei Stücke, Frankfurt/Main 2004, S. 91-130. LÜNSTEDT, Claudius: Musst boxen, in: Claudius Lünstedt: Zugluft. Musst boxen. Vaterlos. Drei Stücke, Frankfurt/Main 2004, S. 47-90. MARBER, Andreas: Die Beißfrequenz der Kettenhunde, in: Uwe B. Carstensen, Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke 17, Frankfurt/Main 2007, S. 371-440. MAYENBURG, Marius von: Feuergesicht, in: Marius von Mayenburg: Feuergesicht. Parasiten. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 2000, S. 7-69. MAYENBURG, Marius von: Eldorado, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 7-77. [Abgedruckt auch in: Theater heute 45 (2004) H. 12, S. 47-56.] MAYENBURG, Marius von: Turista, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 79-266. [Sigle ‚TU‘] MAYENBURG, Marius von: Der Häßliche, in: Marius von Mayenburg: Eldorado. Turista. Augenlicht. Der Häßliche. Stücke, Berlin 2007, S. 325-388. [Abgedruckt auch in: Theater heute 48 (2007) H. 4, S. 49-57.] NUSSBAUMEDER, Christoph: Mit dem Gurkenflieger in die Südsee, in: Spectaculum 77. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2006, S. 117-151. OSTERMAIER, Albert: Erreger, in: Albert Ostermaier: Erreger. Es ist Zeit. Abriss. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2002, S. 7-44. OSTERMAIER, Albert: Vatersprache, Frankfurt/Main 2003.

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POLLESCH, René: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, in: René Pollesch: www-slums, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 29-100. POLLESCH, René: world wide web-slums 1–7, in: René Pollesch: www-slums, hg. v. Corinna Brocher, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 103-328. POLLESCH, René: Insourcing des Zuhause. Menschen in ScheissHotels. Nach Lorenz, Kuster, Boudry, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 43-80. [Sigle ‚IZ‘] POLLESCH, René: Stadt als Beute. Nach spaceLab, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 5-41. [Sigle ‚SB‘] POLLESCH, René: SEX. Nach Mae West, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 131-159. [Sigle ‚SEX‘] RICHTER, Falk: Unter Eis, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 433476. [Abgedruckt auch in: Theater der Zeit 59 (2004) H. 4, S. 5367.] [Sigle ‚UE‘] RICHTER, Falk: Electronic City, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 315-347. [Abgedruckt auch in: Theater heute 44 (2003) H. 11, S. 58-65.] RINKE, Moritz: Republik Vineta, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 153-235. [Abgedruckt auch in: Theater heute 41 (2000) H. 11, S. 54-67, sowie in: Spectaculum 73. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2002, S. 97-159.] [Sigle ‚RV‘] RINKE, Moritz: Café Umberto. Szenen, mit einem Vorwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 21-156. [Abgedruckt auch in: Theater heute 46 (2005) H. 8/9, S. 71-81.] RÖGGLA, Kathrin: wir schlafen nicht, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 59-67. [Sigle ‚WSN‘] RÖGGLA, Kathrin: junk space, in: Uwe B. Carstens, Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke 15, Frankfurt/Main 2005, S. 395-452. RÖGGLA, Kathrin: draußen tobt die dunkelziffer, in: Theater heute 46 (2005) H. 7, S. 44-57.

9. LITERATUR | 467

SCHILLER, Friedrich: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Harro Hilzinger u.a., Bd. 2: Dramen 1, hg. v. Gerhard Kluge, Frankfurt/Main 1988, S. 561-677. SCHIMMELPFENNIG, Roland: Die Frau von früher, in: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004, mit einem Vorwort v. Peter Michalzik, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 639-686. [Abgedruckt auch in: Theater heute 45 (2004) H. 10, S. 48-56.] SCHIMMELPFENNIG, Roland: Push Up 1–3, in: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher. Stücke 1994–2004, mit einem Vorwort v. Peter Michalzik, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 343-397. [Abgedruckt auch in: Theater heute 42 (2001) H. 11, S. 58-67, sowie in: Uwe B. Carstens, Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke 11, Frankfurt/Main 2001, S. 289-339.] SCHIMMELPFENNIG, Roland: Besuch bei dem Vater, in: Roland Schimmelpfennig: Trilogie der Tiere. Stücke, mit einem Gespräch mit Roland Schimmelpfennig, Frankfurt/Main 2007, S. 7-86. SCHIMMELPFENNIG, Roland: Trilogie der Tiere. Stücke, mit einem Gespräch mit Roland Schimmelpfennig, Frankfurt/Main 2007. [Enthält „Besuch bei dem Vater“, „Das Reich der Tiere“ und „Ende und Anfang“.] SCHWAB, Werner: Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos. Eine Radikalkomödie, in: Werner Schwab: Fäkaliendramen, 4. Aufl., Graz, Wien 1996 [1991], S. 121-177. SOYFER, Jura: Vineta. Die versunkene Stadt, in: Jura Soyfer: Das Gesamtwerk, hg. v. Horst Jarka, Wien, München, Zürich 1980, S. 628-447. SPECHT, Kerstin: Das glühend Männla, in: Kerstin Specht: Lila. Das glühend Männla. Amiwiesen. Drei Stücke, 2. Aufl., Frankfurt/ Main 1998 [1990], S. 51-89. SPECHT, Kerstin: Die Froschkönigin. Ein Küchenmärchen, in: Kerstin Specht: Königinnendramen, Frankfurt/Main 1998, S. 7-82. STRAUSS, Botho: Trilogie des Wiedersehens. Theaterstück, in: Botho Strauß: Theaterstücke 1972–1978, 2. Aufl., München 2000 [1993], S. 311-402. STREERUWITZ, Marlene: Sloane Square., in: Marlene Streeruwitz: Waikiki-Beach. Sloane Square. Zwei Stücke, Frankfurt/Main 1992, S. 79-127.

468 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

WAGNER, Heinrich Leopold: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1996. WIDMER, Urs: Top Dogs, 4. Aufl., Frankfurt/Main 2000 [1997]. WURSTER, Johann Jakob: Fitzfinger, ab geht er!, in: Susanne Wolfram, Uwe B. Carstensen (Hg.): Theater Theater. Anthologie, Aktuelle Stücke 8, Frankfurt/Main 1998, S. 435-479. ZELLER, Felicia: Kaspar Häuser Meer, in: Theater heute 49 (2008) H. 11, Beilage, S. 1-12.

L ITERATUR ZUR ANALYSIERTEN ARBEITS UND F AMILIENDRAMATIK Lukas Bärfuss Weitere Texte des Autors

BÄRFUSS, Lukas: Die toten Männer. Novelle, Frankfurt/Main 2002. BÄRFUSS, Lukas: Ich lebe noch, Gott sei Dank. Ein Brief, in: Theater heute Jahrbuch (2005), S. 88. BÄRFUSS, Lukas: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke, Göttingen 2005. BÄRFUSS, Lukas: Alices Reise in die Schweiz. Die Probe. Amygdala. Stücke, Göttingen 2007. Gespräche

BÄRFUSS, Lukas, Daniele MUSCIONICO: „Ich baue Triebstauseen.“ Der Schriftsteller und Dramatiker Lukas Bärfuss über seine Unfähigkeit und warum Frisch und Dürrenmatt kuschelig sind, in: DU. Zeitschrift für Kultur (2005) H. 762, S. 105-107. BÄRFUSS, Lukas, Judith GERSTENBERG, Britta KAMPERT: Tragödie der Eindeutigkeit. Lukas Bärfuss über sein Stück „Die Probe (Der brave Simon Korach)“, in: Programmheft 168, Burgtheater Wien, Spielzeit 2007/2008, S. 52-58. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BEHRENDT, Eva: Im Regal sind alle gleich. [Zu Lukas Bärfuss als Dramatiker des Jahres 2005], in: Theater heute Jahrbuch (2005), S. 82-86.

9. LITERATUR | 469

BERGER, Jürgen: Ohne Rückfahrschein. Lukas Bärfuss’ SterbehilfeStück „Alices Reise in die Schweiz“ in Basel uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitdung, 8. März 2005, S. 14. BORRMANN, Dagmar: Rot im Frühwarnsystem. Lukas Bärfuss, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 8-11. BÜHLER, Thomas: Die Praxis schlägt zurück. „Alices Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom“ von Lukas Bärfuss, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn DeutschSchreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 43-51. DÖSSEL, Christine: Leben ist Glaubenssache. Stephan Kimmig inszeniert „Der Bus“ von Lukas Bärfuss am Thalia Theater Hamburg, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Februar 2005, S. 14. GRENZMANN, Teresa: So geht’s zu, wenn einem die Griechen nichts mehr sagen [zu Lukas Bärfuss’ „Die Probe“], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Februar 2007, S. 31. GÜNTHER, Matthias: Der Kunstknirscher. Lukas Bärfuss: „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, in: Theater heute Jahrbuch (2002), S. 166-167. HALTER, Martin: Tod auf Spesen. Sterbehilfe, leichtgemacht: „Alices Reise in die Schweiz“ von Lukas Bärfuss in Basel uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. März 2005, S. 35. HAMMERSTEIN, Dorothee: Darf die das? Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss und sein Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, in: Theater heute 44 (2003) H. 4, S. 49-51. HAMMERSTEIN, Dorothee: Sterben in Zürich. Lukas Bärfuss zwischen Leben und Tod: das Sterbehelfer-Drama „Alices Reise in die Schweiz“ am Theater Basel, in: Theater heute 46 (2005) H. 4, S. 41-42. HEYMANN, Sabine: Doras hermetische Welt. Lukas Bärfuss „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, Gießen, in: Theater heute 46 (2005) H. 4, S. 33-34. JACOB, Frederike: Väter im Test. „Die Probe (Der brave Simon Korach)“ von Lukas Bärfuss bei den Mülheimer Theatertagen – Stücke 07, in: SchauplatzRuhr. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet 2007: Fluchtpunkte, hg. im Auftrag des Institut für Theaterwissenschaft Ruhr Universität Bochum, Berlin 2007, S. 51-52.

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KAEMPF, Simone: Seit die Wunder abhanden kamen [zu Lukas Bärfuss’ „Der Bus“], in: Die Tageszeitung, 13. September 2005, S. 16. KEIM, Katharina: Seltsame Heilige, gottverlassene Gläubige. Glaubensfragen im zeitgenössischen Religionsdrama: Lukas Bärfuss’ „Der Bus. Das Zeug einer Heiligen“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 86-94. KNIEß, Claudia: Überdosis [zu Lukas Bärfuss’ „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“], in: Die Zeit, 27. November 2003, S. 46. KREBS, Marc: Doppelmoral [zu Lukas Bärfuss ‚„Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“], in: Die Zeit, 20. Februar 2003, S. 38. KRUG, Hartmut: Aus sich heraus. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ in Hamburg und Stuttgart, in: Frankfurter Rundschau, 27. November 2003, S. 18. LOCHTE, Julia: Arterhaltung und Seitensprung [zu Lukas Bärfuss’ „Die Probe“], in: Theater heute Jahrbuch (2006), S. 138-139. MANSFELD, Caroline: Das Leben lässt sich nicht aufhalten [zu Lukas Bärfuss’ „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“], in: Die Tageszeitung, 24. November 2003, Hamburg lokal, S. 23. MICHALZIK, Peter: Hüller und Füller. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von Lukas Bärfuss in Basel uraufgeführt, in: Frankfurter Rundschau, 22. Februar 2003, S. 10. MICHALZIK, Peter: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42. ROSSMANN, Andreas: Paarkreuzung. Schauspielertriumphe in Bochum: „Vier Bilder der Liebe“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2002, S. 41. ROEDER, Anke, C. Bernd SUCHER (Hg.): Radikal jung. Regisseure. Porträts, Gespräche, Interviews, Berlin 2005 (Theater der Zeit, Recherchen, 25). SCHÖFER, Anne: Schreiben macht einfach komisch. Lukas Bärfuss, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 7-10. [Enthält ein Interview mit dem Autor.]

9. LITERATUR | 471

SCHMETZ, Jenny: Kleingläubige, Scheinheilige. Lukas Bärfuss „Der Bus“, Köln, Schlosserei, in: Theater heute 46 (2005) H. 8/9, S. 64. WILLE, Franz: Seltsame Heilige. Dieter Dorn zelebriert im Münchner Residenztheater Botho Strauß’ neueste Gegenwartsverachtung „Die eine und die andere“, und Stephan Kimmig glaubt überzeugend an Lukas Bärfuss’ „Der Bus“, in: Theater heute 46 (2005) H. 3, S. 4-7. WILLE, Franz: Problem erkannt, Problem gebannt [u.a. zu Lukas Bärfuss’ „Die Probe“], in: Theater heute 48 (2007) H. 3, S. 44-48.

John von Düffel Weitere Texte des Autors

DÜFFEL, John von: Der Text ist das Theater. Eine Autorenermutigung, in: John von Düffel: Die Unbekannte mit dem Fön, 2. Aufl., Gifkendorf 2001 [1997], S. 5-8. DÜFFEL, John von: Neue Texte braucht das Land. Programmlosigkeit und Perspektiven – zur Lage der neuen deutschen Dramatik, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 10, S. 16-18. DÜFFEL, John von: Körper lügen nicht. Oder wie ich versuchte, undercover ins Fitness-Studio zu gehen, in: John von Düffel: Wasser und andere Welten. Geschichten vom Schwimmen und Schreiben, Köln 2002, S. 75-83. DÜFFEL, John von: EGO. Roman, München 2003. DÜFFEL, John von: Die Liebe in Zeiten der ‚Ich-AG‘. Zu „Café Umberto“ von Moritz Rinke, in: Moritz Rinke: Café Umberto. Szenen, mit einem Vorwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 7-19. DÜFFEL, John von: Neues sozialkritisches Theater, in: Die deutsche Bühne 77 (2006) H. 3, S. 16-20. DÜFFEL, John von: Der Hype und seine Möglichkeiten. Eine Erwiderung auf Frank Krolls Überlegungen zum Stellenwert neuer Dramatik, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 23-24. DÜFFEL, John von: Zeit des Verschwindens. Roman, 3. Aufl., München 2008 [2002]. Gespräche

DÜFFEL, John von, Thomas IRMER: Ins Offene der Mitte. Ein kurzes Gespräch, in: Theater der Zeit 56 (2001) H. 1, S. 64.

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DÜFFEL, John von, Nils TABERT: Gespräch, in: Playspotting 2. Neue deutsche Stücke. Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann, Tim Staffel, hg. v. Nils Tabert, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 249-264. DÜFFEL, John von, Franziska SCHÖßLER: Interview. 25. März 2003 am Thalia Theater Hamburg, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 315-324. DÜFFEL, John von, Ortrud GUTJAHR: Generation und Geld: Über die Bühnenfassung der Buddenbrooks nach Thomas Mann. Interview, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): „Buddenbrooks“ von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, Würzburg 2007 (Theater und Universität im Gespräch, 4), S. 139-150. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BARKHOFF, Jürgen: Naturgefühle – „Vom Wasser“, in: Anne Fuchs, Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute, Würzburg 2003, S. 243-254. BEER, Fabian: John von Düffel. Workaholic, Waterholic, Writerholic, in: Kritische Ausgabe, Sommer 2007, S. 6-8. BIRGFELD, Johannes: Nur das Leben eben? Tendenzen im deutschen Drama der Gegenwart oder Anmerkungen zu Texten von Düffel, Reffert, Loher und Hensel, in: Deutsche Bücher 33 (2003) H. 1, S. 91-114. BURCKHARDT, Barbara: Stellenmarkt der Eitelkeiten. Neue Stücke aus der neuen Ökonomie von John von Düffel, Albert Ostermaier und Igor Bauersima, uraufgeführt in Hamburg, München und Düsseldorf, in: Theater heute 43 (2002) H. 7, S. 42-46. FINKEN, Susanne: Lost in Las Vegas. John von Düffel, „Call the Police“, Neuss, in: Theater heute 47 (2006) H. 10, S. 46-47. FLEIG, Anne: Nabelschau – Fitness als Selbstmanagement in John von Düffels Romansatire „EGO“, in: Paula-Irene Villa (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 67-84. FREUND-SPORK, Walburga: „… der schwarze Strom meiner Kindertage floß in der Unterschiedslosigkeit von Wirklichkeit, Erinnerung

9. LITERATUR | 473

und Traum“. John von Düffels „Vom Wasser“ (1998), in: Wieland Freund, Winfried Freund (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S. 207-213. HAMMERTHALER, Ralph: Mobbingkompott. John von Düffels Stück „Elite I.1“ in Hamburg uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitung, 21. Mai 2002, S. 18. JANNACK, Isabell: Der Autordramaturgdozent. John von Düffel, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 46-54. KHUON, Ulrich: Das ‚Wir‘ der Verwandtschaft. Laudatio anlässlich der Verleihung des Nicolas Born Preises an John von Düffel. Hildesheim, 17. Oktober 2006, unter: http://www.thalia-theater.de/ module/news/index.php?LANG=1&CID=2&RID=119, Stand: Oktober 2008. KRUMBHOLZ, Marin: Letztes Jahr in Fiesbaden. John von Düffels „Kur-Guerilla“, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 53. MCGOWAN, Moray: Rinderwahnsinn: Schwindstufe politischer Empfindungen am Ende des ‚Deutschen Jahrhunderts‘?, in: Anne Fuchs, Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute, Würzburg 2003, S. 254-267. PREUSSER, Gerhard: Terroristische Familienvereinigung. John von Düffels „Rinderwahnsinn“ im Schauspiel Bonn, in: Theater heute 41 (2000) H. 2, S. 55-56. SCHNELL, Nicola: Theater, Tatort der Tatenlosigkeit – John von Düffel, in: Frank Hörnigk (Hg.): Stück-Werk. Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre. Porträts, Beschreibungen, Gespräche, Berlin 1997 (Theater der Zeit, Arbeitsbuch, 2), S. 32-35. STRICKER, Achim: „Wir kehren immer zum Wasser zurück.“ – Erinnern, Wiederholen und Verdrängen in John von Düffels Romanen „Ego“ und „Vom Wasser“, in: Robert André (Hg.): Paradoxien der Wiederholung, Heidelberg 2003, S. 137-156. WICHER, Ernes: Zwei ungeschickte Untergeher. John von Düffels Roman „Zeit des Verschwindens“, in: Frankfurter Rundschau, 19. August 2000, S. 18. WILLE, Franz: Call-a-drama – mit Idee oder Käse?, in: Theater heute 42 (2001) H. 2, S. 44-47.

474 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

WINKLER, Willi: Weg von hier. John von Düffels Doppel-Monolog „Zeit des Verschwindens“, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2000, S. ROM 4.

Martin Heckmanns Gespräche

HECKMANNS, Martin, Manfred ORTMANN: „Glaubst du, wir können das ändern? Wir fangen erst mal an“, Martin Heckmanns im Gespräch mit Manfred Ortmann, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 98-104. HECKMANNS, Martin, Claus CAESAR: [Ein Gespräch], in: schauspielfrankfurt. Zeitung 03, Spielzeit 2003/2004, S. 8-9. HECKMANNS, Martin, Nina PETERS: Zuhause wohnt ein Fremder, Martin Heckmanns im Gespräch mit Nina Peters, in: Theater der Zeit 62 (2007) H. 2, S. 54. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BEHRENDT, Eva: Sperriges Sprachmisstrauen. Martin Heckmanns’ „Schieß doch, Kaufhaus!“ – inszeniert von Simone Blattner, in: Theater heute 43 (2002) H. 7, S. 46-47. BEHRENDT, Eva: Jenseits von Ewigkeitswahn. Zur Abberufung des Dresdner Theaters in der Fabrik, kurz TIF, hat Martin Heckmanns eine „Anrufung des Herrn“ geschrieben. Über ein Bühne, die wir vermissen werden, und einen Autor, von dem noch viel zu erwarten ist, in: Theater heute 45 (2004) H. 7, S. 48-52. BLOCH, Natalie: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns, in: Der Deutschunterricht 56 (2004) H. 2, S. 57-70. BURCKHARDT, Barbara: Rausgekäppt und reingekapert. Abgrenzung als linguistische Übung. Martin Heckmanns Pubertätsstück „Kränk“, in Frankfurt uraufgeführt von Simone Blattner, in: Theater heute 45 (2004) H. 5, S. 38-40. CARROLL, Jerome: Unbestimmtheit als Methode. Die endlosen Stücke von Martin Heckmanns, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 128-141.

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KOBERG, Roland: Das ist nicht Ihr Spiel. Martin Heckmanns/Thomas Melle: „4 Millionen Türen“, in: Theater heute Jahrbuch (2004), S. 149-151. MICHALZIK, Peter: Sag A. Gib Umlaut. Die aus der Hüfte schießen: Martin Heckmanns’ bitterböse kleine Farce „Kränk“, rasant uraufgeführt von Simone Blattner in Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau, 13. März 2004. MÜLLER, Katrin Bettina: Ich ist eine Bildstörung. Martin Heckmanns „Das wundervolle Zwischending“, in: Spectaculum 76. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2005, S. 262-267. SLEVOGT, Esther: Mein Leben ohne Welthandel [zu Martin Heckmanns „Schieß doch, Kaufhaus!“], in: Die Tageszeitung, 17. Juni 2002, S. 25. TWELLMANN, Marcus: Der Regel entgegen. Wir feiern kränk, in: Martin Heckmanns: Finnisch. Kränk. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2003, S. 89-97. TWELLMANN, Marcus: Welt Witz Wir. Zu „Schieß doch, Kaufhaus!“ von Martin Heckmanns, in: Spectaculum 74. Fünf moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2003, S. 237-243.

Marius von Mayenburg Gespräche

MAYENBURG, Marius von, Franz WILLE: Desdemonas Taschentuch. Ein Gespräch mit Marius von Mayenburg über siegreiche Regisseure, die Rolle der Sprache, Vorschläge eines Dramatikers und die offene Frage, warum niemand anruft, in: Theater heute 45 (2004) H. 12, S. 44-46. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BEHRENDT, Eva: Hurra, jetzt ist der Oli tot! Luk Perceval inszeniert die Uraufführung von Marius von Mayenburgs apokalyptischer Camping-Groteske „Turista“ in Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Toneelhuis Antwerpen an der Berliner Schaubühne, in: Theater heute 46 (2005) H. 7, S. 8-9. BURCKHARDT, Barbara: Lieber tot sein oder besoffen. Marius von Mayenburg und seine Monsterkinder, in: Theater heute 39 (1998) H. 5, S. 53-56.

476 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

DIEZ, Georg: Unter blinden Sonnen. Du bist nicht allein in der Uraufführung. Thomas Ostermeier inszeniert in Hamburg die „Parasiten“ von Marius von Mayenburg, in: Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2000, S. 18. DÖSSEL, Christine: Das Glück ist immer anderswo. Quintett der Verzweiflung. Florian Boesch inszeniert im Werkraum der Münchner Kammerspiele Marius von Mayenburgs „Parasiten“, in: Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 2000, S. 19. DÖSSEL, Christine: Rufer im Wald. Thomas Ostermeier inszeniert Marius von Mayenburgs „Eldorado“ in Berlin, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Dezember 2004, S. 15. DÜRRSCHMIDT, Anja: Die Belastbarkeit der Beziehungen. Marius von Mayenburg, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): StückWerk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 93-96. FREI, Nikolaus: Psychotischer Held und die Metaphysik des Banalen. Marius von Mayenburg und die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Zeit, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn DeutschSchreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 64-75. GEISENHANSLÜKE, Achim: Körper – Familie – Gewalt. Bemerkungen zum zeitgenössischen Theater am Beispiel von Dea Loher und Marius von Mayenburg, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes: Zeitgenössisches Theater und Unterricht 48 (2001) H. 3, S. 394-405. JÖRDER, Gerhard: Apokalypse im Rollstuhl. Uraufführung in Hamburg: Thomas Ostermeier inszeniert Marius von Mayenburgs „Parasiten“, in: Die Zeit, 25. Mai 2000, S. 42. KIRCHNER, Heinz: Pack schlägt sich. „Parasiten“ von Marius von Mayenburg am Staatstheater Mainz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 2002, S. 56. LACKNER, Erna: Sechsfach gemordet erholt man sich besser. Große Täter-Ferien auf dem Opfer-Campingplatz: Marius von Mayenburgs „Turista“ bei den Wiener Festwochen uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Mai 2005, S. 39. MENDEN, Alexander: Tanz ums Fragezeichen. Luk Perceval inszeniert die Uraufführung von Mayenburgs „Das kalte Kind“ an der Schaubühne Berlin, in: Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 2002, S. 16.

9. LITERATUR | 477

MICHALZIK, Peter: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42. PRESSEMAPPE zu „Turista“ von Marius von Mayenburg. Uraufführung. Regie: Luk Perceval. Premiere: 26. Mai 2005, unter: www.schau bühne.de/download.php?id=7533, Stand: Juli 2009, S. 4. SCHÖDEL, Helmut: Waterloo der Befindlichkeiten. Luc Perceval inszeniert die Uraufführung von Marius von Mayenburgs „Turista“ auf den Wiener Festwochen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2005, S. 15. STADELMAIER, Gerhard: „Werdet endlich erwachsen!“ Letzte Warnung ans Jugendtheater: Mayenburgs „Das kalte Kind“ in Berlin uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 2002, S. 33. STADELMAIER, Gerhard: Kitschbombe explodiert! Dramaturgie getroffen! Marius von Mayenburgs „Eldorado“ in Berlin uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2004, S. 31. STIEKELE, Annette: Drastische Fühllosigkeit. Marius von Mayenburgs Aufführung „Parasiten“ im Amerikahaus hat am Ende die eigene Abgründigkeit nicht ertragen – und mit einem schönen Song zugekleistert, in: Die Tageszeitung, 8. Juli 2002, S. 23. STÜCKBESCHREIBUNG des Theaterverlags Henschel.schauspiel zu „Turista“, unter: http://www.henschel-schauspiel.de/index.php?f= programm&rubrik=t, Stand: Juli 2009. TIGGES, Stefan: Dramaturgien der Verspiegelung(en). Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsdramatik, in: Florence BancaudMaënen (Hg.): Beauté et laideur dans la littérature, la philosophie et l’art allemand et autrichien au XXe siècle, Lille 2005 (Germanica XXXVII), S. 121-133. UMATHUM, Sandra: Die Hölle sind immer die Anderen, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 106-108. WILLE, Franz: Die Opfer sind unter uns. Thomas Ostermeier inszeniert in Hamburg „Parasiten“, das neue Stück von Marius von Mayenburg, in: Theater heute 41 (2000) H. 7, S. 53-54.

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René Pollesch Weitere Texte des Autors

MASUCH, Bettina (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002. POLLESCH, René: www-slums, hg. v. Corinna Brocher, Reinbek bei Hamburg 2003. POLLESCH, René: ZELTSAGA. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. v. Leonore Blievernicht, Berlin 2004. POLLESCH, René: PRATER-SAGA, hg. v. Aenne Quiñones, Berlin 2005. POLLESCH, René: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews, Reinbek bei Hamburg 2009. Gespräche

POLLESCH, René, Harald MÜLLER: Zorn, Einsicht und Verzweiflung. Vier Fragen von Harald Müller an René Pollesch, in: Theater der Zeit 55 (2000) H. 12, S. 63. POLLESCH, René, Anja DÜRRSCHMIDT, Thomas IRMER: Verkaufe dein Subjekt! Im Gespräch, in: Theater der Zeit 56 (2001) H. 12, S. 4-7. [Auch erschienen in René Pollesch: www-slums, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 331-339.] POLLESCH, René, Jürgen BERGER: Ich bin ein Supermarkt. Subjekt zu verkaufen. René Pollesch über sein rasendes Theater der Selbstausbeutung, in: Süddeutsche Zeitung, 4. Mai 2002, S. 17. [In leicht variierter Form abgedruckt auch als René Pollesch, Jürgen Berger: Ich bin Heidi Hoh, in: René Pollesch: www-slums, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 341-351.] POLLESCH, René, Florian MALZACHER, Haiko PFOST, Gesa ZIEMER: „Wir sind ja oft so glücklich…“. Gespräch, in: René Pollesch: ZELTSAGA. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. v. Leonore Blievernicht, Berlin 2004, S. 180-187. POLLESCH, René, Armin PETRAS, Jürgen BERGER: Erlaubt ist, was zerfällt. Wo endet die Freiheit des Regietheaters? René Pollesch und Armin Petras, beide Autoren und Regisseure, müssten es wissen – ein Streitgespräch, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2005, S. 12. POLLESCH, René, Aenne QUIÑONES, Jochen BECKER, Stephan LANZ: Was es bedeutet, kein Material zu sein. Gespräch vom 28. April

9. LITERATUR | 479

2005, in: René Pollesch: PRATER-SAGA, hg. v. Aenne Quiñones, Berlin 2005, S. 21-37. POLLESCH, René, Jenny HOCH: Neue Regeln braucht die Kunst. René Pollesch fordert in den Kammerspielen: „Schändet eure neoliberalen Biografien!“, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Oktober 2005, S. 53. POLLESCH, René, Andreas BECK: Die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte. Ein Gespräch mit René Pollesch zu Beginn der Proben, in: Programmheft. „Das purpurne Muttermal“, Burgtheater/Akademietheater Wien, Spielzeit 2006/2007, S. 8-26. POLLESCH, René, Frank-M. RADDATZ: Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags, in: Frank-M. Raddatz (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 195-213. [Abdruck der leicht gekürzten Fassung: René Pollesch, Frank-M. Raddatz: Die Probleme der Anderen. René Pollesch im Gespräch über Brecht, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags, in: Theater der Zeit 62 (2007) H. 2, S. 22-26.] BECKER, Jochen u.a.: Das Material fragt zurück. Ein Gespräch zwischen Jochen Becker, Walther Jahn, Brigitta Kuster, Stephan Lanz, Isabell Lorey, Katja Reichard, Bettina Masuch und René Pollesch, in: Bettina Masuch (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater, Berlin 2002, S. 221-236. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BERGER, Jürgen: Bekenntnis zur Postdramatik. Schneller Brüter. René Pollesch, künftiger Hausautor am Hamburger Schauspielhaus, schreibt popmoderne Highspeed-Stücke, in: Süddeutsche Zeitung, 22. Februar 2000, S. 18. BERGMANN, Franziska: Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch. Zu Verschränkungen von Neoliberalismus und Gender, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 193-208. BLOCH, Natalie: Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns, in: Der Deutschunterricht 34 (2004) H. 2, S. 57-70.

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BLOCH, Natalie: „ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!“ Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch, in: Thomas Ernst u.a. (Hg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 165-182. BRANDL-RISI, Bettina: Verzweiflung sieht nur live wirklich gut aus, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 117-120. BRIEGLEB, Till: Glorreiche Diven im Hotel Ausnahmezustand. René Polleschs „Hallo Hotel …!“ und zwei Flughafen-Projekte von Rimini Protokoll beim Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 2004, S. 13. BRIEGLEB, Till: Die Kosmetik der Widersprüche. René Pollesch schreibt weiter: „Der okkulte Charme der Bourgeoisie bei der Erzeugung von Reichtum“ am Schauspielhaus Hamburg und „Diabolo – schade, dass er der Teufel ist“ im Prater der Berliner Volksbühne, in: Theater heute 46 (2005) H. 4, S. 42-44. DIEDERICHSEN, Diedrich: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch, in: Theater heute 43 (2002) H. 3, S. 56-63. DIEDERICHSEN, Diedrich: Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 101-110. DIEKMANN, Stefanie: Doing Statements. Notizen zum Verhältnis von Interview und inszenierter Rede am Beispiel René Polleschs, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen, 17), S. 175-182. DURIC, Nikola: 100 Pointen/min. In sieben Folgen am Schauspielhaus: René Polleschs Soap „world wide web-slums“, in: Die Tageszeitung, Hamburg lokal, 8. November 2000, S. 23. EKE, Norbert Otto: Störsignale. René Pollesch im ‚Prater‘, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 175-191. ERNST, Thomas: „AAAAHHHHH!“ Von Sprachkörpern, postdramatischem Theater und den Schreiwettbewerben der Restsubjekte in René Polleschs „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“, in: Carsten Würmann (Hg.): Welt.Raum.Körper – Globalisierung, Technisie-

9. LITERATUR | 481

rung, Sexualisierung von Raum und Körper, Bielefeld 2007, S. 237-254. KARSCHNIA, Alexander: Stadttheater als Beute. René Pollesch Resistenz-POP. Spoken Words, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin [2004] (Theater der Zeit, Recherchen, 17), S. 183-191. KUSTER Brigitta, Renate LORENZ: Das Insourcing des Zuhause, in: Widersprüche 20 (2000) H. 78, S. 13-26. LENGERS, Birgit: Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 143-155. MEYER-GOSAU, Frauke: „Ändere dich, Situation!“. René Polleschs politisch-romantisches Projekt der „WWW-Slums“, in: René Pollesch: www-slums, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 9-26. PRIMAVESI, Patrick: Beute-Stadt, nach Brecht: Heterotopien des Theaters bei René Pollesch, in: The Brecht Yearbook/Das Brecht Jahrbuch 29 (2004), S. 367-376. SCHLÖSSER, Christian: „Don’t know what I want, but I know how to get it“ Falk Richter bei MTV, René Pollesch im Chat, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale. Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 8-20. SIEG, Katrin: Kunst in der Suppenküche des Kapitals: Pollesch @Prater, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale. Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 21-32. SLEVOGT, Esther: Scheiß-Heartbreak-Hotel, in: Die Tageszeitung, Berlin lokal, 29. Oktober 2001, S. 28. STAMMEN, Silvia: Lob der Verschwendung, in: Theater heute 46 (2005) H. 12, S. 50-52. Wirth, Andrzej: René Pollesch. Generationsagitpoptheater für Stadtindianer, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): WerkStück. Regisseure im Porträt. Arbeitsbuch, Berlin 2003, S. 126-131.

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YOUNGMAN, Paul A.: Civilization and Its Technological Discontents in René Pollesch’s „world wide web-slums“, in: German Studies Review 31 (2008) H. 1, S. 43-63.

Falk Richter Weitere Texte des Autors

RICHTER, Falk: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005. RICHTER, Falk: DAS SYSTEM, in: Falk Richter: Unter Eis. Stücke, mit einem Vorwort v. Katrin Ullmann, Frankfurt/Main 2005, S. 371-432. Gespräche

RICHTER, Falk, Anja DÜRRSCHMIDT: Das System wird gestartet, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 50-63. RICHTER, Falk, Richard SENNETT, Maja PETER: Die Welt als SoapOpera, in: Bochumer Stücke einundzwanzig: Falk Richter, Electronic City, Spielzeit 2003/2004, S. 44-56. [Zuerst abgedruckt in: DU Die Zeitschrift der Kultur, Zürich 2003.] Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BARNETT, David: Bühnenbusiness. Mensch, Markt und Management in drei neueren deutschen Theaterstücken, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 56-70. BEHRENDT, Eva: Leben online. Demontage des Medienkunstmilieus. Falk Richters „Gott ist ein DJ“ am Mainzer Staatstheater uraufgeführt, in: Die Tageszeitung, 15. März 1999, S. 15. DÜRRSCHMIDT, Anja: Der Glaube ans System. Überlegungen nach einem Gespräch mit Falk Richter, in: Theater der Zeit 59 (2004) H. 4, S. 52. DÜRRSCHMIDT, Anja: Haben oder Nichthaben. Schaubühne am Lehniner Platz: „Im Ausnahmezustand“ von Falk Richter, in: Theater der Zeit 62 (2007) H. 12, S. 50.

9. LITERATUR | 483

DÜRRSCHMIDT, Anja: Falk Richter. Zwischen Kammerspiel und Multimedia, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hg.): WerkStück. Regisseure im Porträt, Berlin 2003 (Theater der Zeit, Arbeitsbuch), S. 138-143. HILLJE, Jens, Anja DÜRRSCHMIDT: Effizienz ist ja eigentlich was Schönes, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 114-118. KEMSER, Dag: Neues Interesse an dokumentarischen Formen: „Unter Eis“ von Falk Richter und „wir schlafen nicht“ von Kathrin Röggla, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 95-102. KREUDER, Friedemann: Lost in Flexibility. Tendenzen des neuen Kapitalismus in Falk Richters „Electronic City“ (2003), in: Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext, unter Mitarbeit von Pamela Schäfer, Tübingen 2008 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 39), S. 97-109. LAUDENBACH, Peter: „Die radikale Geste! Die radikale Geste! Die radikale Geste!“ DAS SYSTEM. Über Falk Richters „Unsere Art zu leben“, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 12-22. MICHALZIK, Peter: Theater der Transparenz. „Electronic City“ und „Sieben Sekunden“. Neues von Falk Richter in Bochum und Zürich, nebst einer Schimmelpfennig-Uraufführung, in: Frankfurter Rundschau, 6. Oktober 2003, S. 12. MONFORT, Anne: Théâtre et langage cinématographique: correspondance ou superposition des signes? Autour de quelques dramaturges contemporains: Fritz Kater, Lukas Bärfuss, Falk Richter, in: Edwige Brender u.a. (Hg.): À la croisée des langages. Texte et arts dans les pays de langue allemands, Paris 2006, S. 209-218. RICHTER, Steffen: Berater reden. Zur Sprache in Falk Richters „Unter Eis“, in: Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004, S. 191-195.

484 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

SCHLÖSSER, Christian: „Don’t know what I want, but I know how to get it“ Falk Richter bei MTV, René Pollesch im Chat, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 8-20. SOLDT, Philipp: Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt. Einige Überlegungen zur Bildlichkeit unter gegenwärtigen Erregungsverhältnissen mit Anmerkungen zu Falk Richters System, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 87-100. WILLE, Franz: Global denken, lokal kämpfen. Wenn der Schreibtisch mit den Tätern. Die neuen Stücke von Falk Richter und Roland Schimmelpfennig in Bochum und Zürich, in: Theater heute 44 (2003) H. 11, S. 54-57. Weitere Literatur

DÜRRSCHMIDT, Anja (Hg.): Falk Richter. DAS SYSTEM. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu „Unter Eis“, Berlin 2004.

Moritz Rinke Weitere Texte des Autors

RINKE, Moritz: Der Blauwal im Kirschgarten. Erinnerungen an die Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 2001 [2001]. Gespräche

RINKE, Moritz: Wo sind denn bitte die Helden? Der Dramatiker Moritz Rinke schreibt die Nibelungen neu. Ein LITERATURENSelbstgespräch über Hagens Zärtlichkeit, Siegfrieds Müdigkeit, Könige, Bundeskanzler, Ulrike Meinhof, Kriemhild und Richard Wagner – und über die Ästhetik des Widerstands in Zeiten des Super-Konsens, in: Literaturen (2002) H. 5, S. 37-41. RINKE, Moritz [, Stefan GRUND]: Wer in der Luft Tomatensaft trinkt, der ist gut im Geschäft. Interview mit Moritz Rinke, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 268-271. [Erstveröffentlicht in Die Welt, 22. September

9. LITERATUR | 485

2000; auch veröffentlicht in Spectaculum 73. Sechs moderne Theaterstücke, Frankfurt/Main 2002, S. 277-279.] RINKE, Moritz, Andrian KREYE: Der Mann, der Hollywoods Blöße entdeckte, in: Moritz Rinke: Trilogie der Verlorenen. Stücke, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 263-267. [Erstveröffentlicht in Süddeutsche Zeitung, 8. September 2001.] RINKE, Moritz, Rudolf DENK, Klaus HOGGENMÜLLER: Von süchtigen Männern. Ein Interview im Mai 2003 im Freiburger Stadttheater, in: Peter Bekes, Heinz Reichling (Hg.): Moritz Rinke. Republik Vineta. Ein Stück in vier Akten, Braunschweig 2005, S. 108-110. RINKE, Moritz, Franz WILLE: Neue Arbeit statt Anerkennungsnotstand. Ein Gespräch mit Moritz Rinke über „Café Umberto“, Erfahrungen auf dem Arbeitsamt, 1-Euro-Jobs, glückliche Arbeitslose, neue Würde und zwei Arten kein Geld zu haben, in: Theater heute 46 (2005) H. 8/9, S. 68-70. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BÖNNIGHAUSEN, Marion: „Auf den Asphalt gestellt“. „Die Nibelungen“ von Moritz Rinke, in: Literatur im Unterricht 4 (2003) H. 2, S. 89-99. BURCKHARDT, Barbara: Luxus Vacui. Menschen im Hotel: Moritz Rinkes „Die Optimisten“, von Matthias Hartmann in Bochum vergrößert gesehen, in: Theater heute 45 (2004) H. 1, S. 40-41. DENK, Rudolf, Klaus HOGGENMÜLLER: „Ich war der Snob von Sternheim“. Bibliographische Notizen zum Autor Moritz Rinke, in: Literatur im Unterricht 4 (2003) H. 2, S. 129-137. [Mit einem Interview mit Moritz Rinke von 2003.] DIEZ, Georg: Kalt ist das Abendland. Thalia Theater I: Stephan Kimmig inszeniert die Uraufführung von Moritz Rinkes Globalisierungsfarce „Republik Vineta“, in: Süddeutsche Zeitung, 25. September 2000, S. 18. DÜFFEL, John von: Die unendliche Ausgrabung, in: Moritz Rinke: Die Nibelungen. Siegfrieds Frauen. Die letzten Tage von Burgund, mit einem Nachwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 242-248. DÜFFEL, John von: Die Liebe in den Zeiten der „Ich-AG“, in: Moritz Rinke: Café Umberto. Szenen, mit einem Vorwort v. John von Düffel, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 7-19.

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GRUND, Stefan: Im Himmel auf Erden hängt einer tot am Kronleuchter. Moritz Rinkes „Republik Vineta“ im Hamburger Thalia Theater: Ein Abgesang auf das missratene 20. Jahrhundert, unter: http://www.welt.de/print-welt/article535034/Im_Himmel_auf_ Erden_haengt_einer_tot_am_Kronleuchter.html, Artikel vom 20. September 2000, Stand: August 2008. HAMMERSTEIN, Dorothee: Freiburg ringt um Rinkes Recken. Nibelungen fallen in süddeutscher Kulturlandschaft ein, in: Theater heute 44 (2003) H. 2, S. 67-68. IDEN, Peter: Die Wirklichkeit ist auch nur ein Wahn. Moritz Rinkes „Republik Vineta“ in der Uraufführung Stephan Kimmigs am Thalia-Theater, in: Frankfurter Rundschau, 25. September 2000, S. 11. IRMER, Thomas: Möglichkeitsmenschen und Wirklichkeitsspiel, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 124-127. KANSTEINER, Morten: Jetzt mal global gelacht. Wer andern eine Pointe schreibt: In „Die Optimisten“ hat Moritz Rinke einige Moral unter den Humor gemischt, aber bei der Uraufführung in Bochum lässt Matthias Hartmann schlicht Komödie spielen, in: Die Tageszeitung, 25. November 2003, S. 18. KÜMMEL, Peter: Mit gesträubtem Fell, in: Die Zeit, 5. Oktober 2000, S. 49. KÜMMEL, Peter: Der Bürger geht in Fetzen. Arbeitslosigkeit, Suff, Unglück: Die Dramatiker Roland Schimmelpfennig und Moritz Rinke baden im Elend der deutschen Mitte, in: Die Zeit, 29. September 2005, S. 53. MICHALZIK, Peter: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42. MEYER-ARLT, Roland: Kaffee mit Peter Handke. Moritz Rinke „Republik Vineta“, in: Theater heute 42 (2001) H. 11, S. 45. SPUHLER, Peter: Könnte es schlimmer sein? Moritz Rinke: „Die Optimisten“, in: Theater heute Jahrbuch (2003), S. 164-165. STADELMAIER, Gerhard: Der Messias trägt Rot, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. August 2005, S. 31. STAMMEN, Silvia: Die den Zonk ziehen. Moritz Rinkes „Republik Vineta“, in: Theater heute 43 (2002) H. 6, S. 43.

9. LITERATUR | 487

STÜCKE, INSZENIERUNGEN UND SPIELER DES JAHRES, in: Theater heute Jahrbuch (2001), S. 134-144. THIELE, Rita: Ende und Anfang der Arbeit [zu Moritz Rinkes „Café Umberto“], in: Theater heute Jahrbuch (2005), S. 160-161. TIGGES, Stefan: Dramaturgien der Verspiegelung(en). Ein Streifzug durch die deutsche Gegenwartsdramatik, in: Florence BancaudMaënen (Hg.): Beauté et laideur dans la littérature, la philosophie et l’art allemand et aurichien au XXe siècle, Lille 2005 (Germanica XXXVII), S. 121-133. WILCZEK, Reinhard: „Negative Energie in eine positive Gegenkraft verwandeln“. Über den utopischen Grundzug in den Theaterstücken Moritz Rinkes, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband, Bd. XI: Theater fürs 21. Jahrhundert, hg. in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski, München 2004, S. 70-80. WILLE, Franz: Das Geheimnis der blauen Grotte. Ein Portrait des Dramatikers und Feuilleton-Beglückers Moritz Rinke, in: Theater heute 40 (1999) H. 3, S. 54-57. WILLE, Franz: Ein Schiff muss kommen. In Hamburg starten Ulrich Khuon und Tom Stromberg an Thalia Theater und Deutschem Schauspielhaus, in: Theater heute 41 (2000) H. 11, S. 14-20. WIRTH, Andrzej: Mythos als Sterbehilfe, in: Moritz Rinke: Der graue Engel. Ein Monolog zu zweit, mit einem Nachwort v. Andrzej Wirth, Berlin 1995, S. 90-92.

Kathrin Röggla Weitere Texte der Autorin

RÖGGLA, Kathrin: von topüberzeugern und selbstungläubigen, in: Friedbert Aspetsberger, Gerda E. Moser (Hg.): Leiden … Genießen. Zu Lebensformen und -kulissen in der Gegenwartsliteratur, Innsbruck 2005, S. 248-261. Gespräche

RÖGGLA, Kathrin, Alexander BÖHNKE, Céline KAISER: Die gouvernementalen Strukturen. Kathrin Röggla im Gespräch mit Alexander Böhnke und Céline Kaiser, in: navigationen (2004) H. 1/2, S. 171-184. [Auch veröffentlicht auf der Homepage der Autorin unter: http:// www.kathrin-roeggla.de/text/schlafen_interview.htm, Stand: Februar 2008.]

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RÖGGLA, Kathrin, Eva BEHRENDT: „Ich will niemanden abhalten, Schulden zu machen.“ Die Autorin Kathrin Röggla über ihr neues Stück „draußen tobt die dunkelziffer“, über gewollte Verschuldung, „Heuschreckenkapitalismus“ und dokumentarische Mittel als ästhetische Instrumente, in: Theater heute 46 (2005) H. 7, S. 40-43. Theaterkritiken, Essays, Aufsätze

BÄHR, Christine: Atemlos. Arbeit und Zeit in Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 225-244. BARNETT, David: Mensch, Markt und Management in drei neueren deutschen Theaterstücken, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 56-70. BEHRENDT, Eva: Die Sprachverschieberin. Unterwegs im ConsultantMilieu. Die Autorin Kathrin Röggla und ihr neues Stück „wir schlafen nicht“, in: Theater heute 45 (2004) H. 3, S. 56-58. FRITSCH, Anne: Vom Kaufrausch in die Schuldenfalle, in: Süddeutsche Zeitung, SZ Extra, 6. Oktober 2005, S. 4. HAAS, Alexander: Ein Leben unter Zombies, in: Die Tageszeitung Online-Ausgabe, 17. März 2004, unter: http://www.taz.de/index.php? id=archivseite&dig=2004/03/17/a0191, Stand: Mai 2008. KEMSER, Dag: Neues Interesse an dokumentarischen Formen: „Unter Eis“ von Falk Richter und „wir schlafen nicht“ von Kathrin Röggla, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 95-102. KORMANN, Eva: Jelineks Tochter und das Medienspiel. Zu Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“, in: Ilse Nagelschmidt, Lea MüllerDannhausen, Sandy Feldbacher (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 229-245. KRAUTHAUSEN, Karin: Gespräche mit Untoten. Das konjunktivische Interview in Kathrin Rögglas Roman „wir schlafen nicht“, in: Kultur & Gespenster (2006) H. 2, S. 118-135.

9. LITERATUR | 489

ROTHSCHILD, Thomas: Eine Salzburgerin in Berlin. Die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla, in: Michael Ritter (Hg.): praesent. Das literarische Geschehen in Österreich von Jänner 2000 bis Juni 2001, Wien 2001, S. 53-57. SCHMIDT, Christopher: Senken wir doch einfach die inneren Kosten. Kathrin Rögglas „junk space“ und „Nach dem glücklichen Tag“ von Gerhild Steinbuch beim Steirischen Herbst, in: Süddeutsche Zeitung, 3. November 2004, S. 13. THIERINGER, Thomas: Und sie bewegt sich noch. „Draußen tobt die Dunkelziffer“ von Kathrin Röggla in Wien, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2005, S. 14.

L ITERATUR ZU D RAMATIK UND T HEATER SEIT DEN 1990 ER J AHREN ANNUSS, Evelyn: Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 23-38. BÄHR, Christine: Zwischenräume. Bemerkungen zu einer Dimension des Sozialen in Jon Fosses Theatertext „Winter“, in: Ane Kleine, Christian Irsfeld (Hg.): Grenzgängereien. Beiträge der gemeinsamen germanistischen Vortragsreihen in Trier und Prešov 2006/2007, Prešov 2008, S. 67-91. BARNETT, David: Mensch, Markt und Management in drei neueren deutschen Theaterstücken, in: David Barnett, Moray McGowan, Karen Jürs-Munby (Hg.): Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Berlin 2006 (Theater der Zeit, Recherchen, 37), S. 56-70. BAYERDÖRFER, Hans-Peter (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52). BAYERDÖRFER, Hans-Peter: Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. zs. mit Małgorzata Leyko u. Evelyn DeutschSchreiner, Tübingen 2007 (Theatron, 52), S. 1-14.

490 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

BECK, Andreas: Wuppen gilt nicht. Warum die Autorenförderung tatsächlich droht, an Schubkraft zu verlieren, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 24-25. BLASCHKE, Bernd: „McKinseys Killerkommandos. Subventioniertes Abgruseln.“ Kleine Morphologie (Tool Box) zur Darstellung aktueller Wirtschaftsweisen im Theater, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 209-224. BLITZ, Bodo: Bürgerliche Rituale: Fressen, Ficken, Morden und Sprechen, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 70-72, S. 71. BORRMANN, Dagmar: Mehr Drama! Über ein paar Paradoxa der deutschen Gegenwartsdramatik – oder Warum eine Gattung nichts dafür kann, wenn sie zuweilen mit dummen Inhalten gefüllt wird, in: Theater heute 44 (2003) H. 12, S. 32-35. BRANDSTETTER, Gabriele: Geschichte(n) Erzählen im Performance/ Theater der neunziger Jahre, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999 (Theater der Zeit, Recherchen, 2), S. 27-42. BRIEGLEB, Till: Prüfungen des Lebens und der Liebe. Neue Stücke von Fritz Kater, Gesine Danckwart, Anne-Kathrin Schulz und Wassilij Sigarew in Hamburg, in: Theater heute 43 (2002) H. 12, S. 42-45. BURCKHARDT, Barbara, Michael MERSCHMEIER, Franz WILLE: Ob es so oder so oder anders geht! Ein Gespräch mit den (zukünftigen) Theaterleitern Stefan Bachmann, Matthias Hartmann und Thomas Ostermeier über Markt, Macht, Medien, Moden – und wie die Theaterkunst (über)lebt…, in: Theater heute Jahrbuch (1999), S. 64-76. BURCKHARDT, Barbara: Freiheit, die ich meine. Eine Reise durchs OffTheater, in: Theater heute 41 (2000) H. 11, S. 28-33. DÖSSEL, Christine: Knüppel aus dem Stück. Gipfel der Moral: In seinem Stück „Peanuts“ holt der italienische Autor Fausto Paravidino die Politik zurück aufs Theater, in: Theater heute 44 (2003) H. 3, S. 50-53. DÖSSEL, Christine: Im Prosarausch. Theaterregisseure entdecken die neue Freiheit und den „Sexiness“-Faktor. Romanvorlagen und die Adaption von Filmstoffen prägen die Uraufführungen der Saison, in: Süddeutsche Zeitung, 6. September 2004, S. 15.

9. LITERATUR | 491

DREYSSE, Miriam, Florian MALZACHER (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007. Dürbeck, Gabriele: Fremde Heimat. Ost-West/West-Ost-Grenzgänger in der Harvest-Trilogie von Fritz Kater, Manuskript, erscheint in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Intrakulturelle Fremdheit. Inszenierung deutsch-deutscher Differenzen in Literatur, Film und Theater nach der Wende, Würzburg. FLIMM, Jürgen: Die Dämonen verjagen, in: Peter Iden (Hg.): Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt/Main 1995, S. 54-57. FREI, Nikolaus: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994-2001), Tübingen 2006 (Forum Modernes Theater, 35). GIBT ES EINE DRAMATIK DER 90ER JAHRE? [Umfrage], in: Theater der Zeit 52 (1997) H. März/April, S. 31-33. GRAND, Simon: Der Markt am Neumarkt. Das Theater aus ökonomischer Sicht, in: Theater Neumarkt Zürich (Hg.): Top Dogs. Entstehung – Hintergründe – Materialien, Zürich 1997, S. 81-92. HAAS, Birgit: Theater der Wende – Wendetheater, Würzburg 2004. HELD, Oliver, Franziska SCHÖSSLER: Interview. 17. Januar 2004 am Stadttheater Freiburg, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 332-337. HOFMANN, Michael: Rosa Riese, guter König. Dramatische Texte der neunziger Jahre, in: Der Deutschunterricht 51 (1999) H. 4, S. 9-20. HÜBNER, Lutz: „Ich schreibe lieber für den Betrieb“, in: Birgit Haas (Hg.): Dramenpoetik 2007. Einblicke in die Herstellung des Theatertextes, Hildesheim, Zürich, New York 2009 (Germanistische Texte und Studien, 81), S. 97-101. IRMER, Thomas: Recherchen reflektierter Gegenwart. Die Rückkehr des Dokumentartheaters zu anderen Bedingungen, in: Theater der Zeit 58 (2003) H. 4, S. 30-31. JELINEK, Elfriede, Joachim LUX: Geld oder Leben! Das Schreckliche ist immer des Komischen Anfang. Elfriede Jelinek im EmailVerkehr mit Joachim Lux, in: Programmheft. „Die Kontrakte des Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek, Schauspiel Köln, Spielzeit 2008/2009, S. 3-6. JONIGK, Thomas, Franziska SCHÖSSLER: Interview. 20. Februar 2004 in Berlin, in: Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit

492 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33), S. 325-331. JÖRDER, Gerhard: Die Globalisierung frißt ihre Kinder. Preisrede auf „Top Dogs“ beim Berliner Theatertreffen, in: Theater heute Jahrbuch (1997), S. 113-117. JÖRDER, Gerhard: Sehnsucht nach Welt. Aufbruch mit Tradition: Eine junge Generation von Theatermachern übernimmt die alte Berliner Schaubühne. Ein ZEIT-Gespräch mit vier realistischen Romantikern, in: Die Zeit, 22. April 1999, S. 49. KEMSER, Dag: Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung. Form – Inhalt – Wirkung, Tübingen 2006. KOHSE, Petra: Der Spielort als Factory, in: Die Tageszeitung, 5. März 1997, S. 12. KREUDER, Friedemann, Sabine SÖRGEL (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext, unter Mitarbeit von Pamela Schäfer, Tübingen 2008 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 39). KREUDER, Friedemann, Sabine SÖRGEL: Einleitung, in: Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext, unter Mitarbeit von Pamela Schäfer, Tübingen 2008 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 39), S. 7-17. KROLL, Frank: Das Ersatztheater boomt. Überlegungen zum Stellenwert neuer Dramatik im aktuellen Theaterbetrieb, in: Theater heute 48 (2007) H. 12, S. 18-22. KÜMMEL, Peter: Saison der Einsiedlerkrebse, in: Die Zeit, 9. September 2004, S. 49. KÜMMEL, Peter: Schatz, Medea ist da! Die Antike ist nicht vorbei: Roland Schimmelpfennigs Stück „Die Frau von früher“ am Wiener Burgtheater, in: Die Zeit, 16. September 2004, S. 54. LAUDENBACH, Peter: Hexenküche Wirklichkeit. Theatertreffen 2006: Das Dokumentarstück ist wieder da, in: Süddeutsche Zeitung, 22. Mai 2006, S. 11. LOHER, Dea, Franz WILLE: „Ich kenne nicht besonders viele glückliche Menschen.“ Ein Gespräch mit Dea Loher über das Leben, das Schreiben und ihre Stücke, in: Theater heute 39 (1998) H. 2, S. 61-65. LUDEWIG, Alexandra: Dea Lohers Theaterstück „Adam Geist“, in: Forum Modernes Theater 15 (2000) H. 2, S. 113-124.

9. LITERATUR | 493

MATZKE, Annemarie: Riminis Räume. Eine virtuelle Führung, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 104-115. MERCK, Nikolaus: Fragen über Fragen. Rolf Hochhuths „McKinsey kommt“ bewegt nur Banker und Berater, in: Theater der Zeit 59 (2004) H. 4, S. 27. MICHALZIK, Peter: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 31-42. MUSTROPH, Tom: Der Vielseitige. Roland Schimmelpfennig, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 133-137. Nioduschewski, Anja: Das Unbehagen der Geschlechter. Thomas Jonigk, in: Christel Weiler, Harald Müller (Hg.): Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, S. 77-80. OSTERMEIER, Thomas: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 54 (1999) H. Juli/August 1999, S. 10-15. OSTERMEIER, Thomas u.a.: „Wir müssen von vorn anfangen“, in: Die Tageszeitung, 20. Januar 2000, S. 15. OSTERMEIER, Thomas, Barbara ENGELHARDT: Die Angst vor dem Stillstand. [Ein Gespräch], in: Harald Müller, Jürgen Schitthelm (Hg.): 40 Jahre Schaubühne Berlin, Berlin 2002, S. 45-61. OSTERMEIER, Thomas: Alter und Ego, in: Die Zeit, 16. September 2004, S. 65. PETROVIC-ZIEMER, Ljubinka: Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik, Bielefeld 2011. PEWNY, Katharina: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld 2011. POSCHMANN, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997 (Theatron, 22). PREUSSER, Gerhart: Wildmöwe, 2. Teil. Roland Schimmelpfennig „Besuch bei dem Vater“, in: Theater heute 48 (2007) H. 7, S. 46. ROSSMANN, Andreas: Die Wucht-Passion. Dea Lohers „Tätowierung“ in Oberhausen, in: Theater heute 34 (1993) H. 3, S. 37.

494 | D ER FLEXIBLE M ENSCH AUF DER B ÜHNE

ROTH, Wilhelm: Spielplanstrategien, in: Die Deutsche Bühne 74 (2003) H. 11, S. 52. SCHNEIDER, Simone: Passende Worte. Ein Bericht, in: Theater der Zeit 54 (1999) H. Mai/Juni, S. 30-31. SCHÖSSLER, Franziska: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater, 33). SCHÖSSLER, Franziska: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde. Soziales Engagement und Aktionskunst nach 1995, in: Ingrid GilcherHoltey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 379-396. SCHÖSSLER, Franziska: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Tragödie bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher, in: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin, New York 2010, S. 319-338. SCHRÖDER, Jürgen: „Postdramatisches Theater“ oder „neuer Realismus“? Drama und Theater der neunziger Jahre, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2. aktual. u. erw. Aufl., München 2006 [1994], S. 1080-1120. STAMMEN, Silvia: Vom verlorenen Posten auf den roten Teppich. Junge Dramatiker sind heiße Ware – zwei Nachwuchsfestivals in München und Augsburg, in: Theater heute 44 (2003) H. 8/9, S. 68-71. TIGGES, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008. TIGGES, Stefan: Dramatische Transformationen. Zur Einführung, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 9-27. WAS KOMMT NACH DER POSTDRAMATIK?, in: Theater heute 49 (2008) H. 10, S. 7. WESTERMAIER, Sabine: Ich bin jetzt Krieger. Claudius Lünstedt, in: Barbara Engelhardt, Andrea Zagorski (Hg.): Stück-Werk 5. Deutschsprachige Dramatik, Berlin 2008, S. 85-87. WIDMER, Urs: Feldforschung im Lande des Managements, in: Theater Neumarkt Zürich (Hg.): Top Dogs. Entstehung – Hintergründe – Materialien, Zürich 1997, S. 43-54.

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L ITERATUR

ZU

D RAMATIK UND T HEATER

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L ITERATUR ZU ARBEIT UND F AMILIE WEITERE S EKUNDÄRLITERATUR

SOWIE

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Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts März 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

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Roman Halfmann Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität Juni 2012, 242 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2117-4

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters Oktober 2012, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne November 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 Oktober 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften Â�– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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