Der ›Esopus‹ des Burkard Waldis und die Fabel der Frühen Neuzeit: Gattungstradition und -transformation, Autorisierungsstrategien, Deutungsmöglichkeiten 9783110612912, 9783110613063, 9783110613155, 2019933985

In its 400 fables and tales, the largest 16th century German-language collection of fables covers a wide variety of narr

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German Pages 448 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Tradition und Transformation
2. Äsopische Autorisierung
3. ‚Alt‘ und ‚neu‘
4. Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
7. Register
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Der ›Esopus‹ des Burkard Waldis und die Fabel der Frühen Neuzeit: Gattungstradition und -transformation, Autorisierungsstrategien, Deutungsmöglichkeiten
 9783110612912, 9783110613063, 9783110613155, 2019933985

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Inci Bozkaya Der ,Esopus‘ des Burkard Waldis und die Fabel der Frühen Neuzeit

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext

Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 228

Inci Bozkaya

Der ‚Esopus‘ des Burkard Waldis und die Fabel der Frühen Neuzeit Gattungstradition und -transformation, Autorisierungsstrategien, Deutungsmöglichkeiten

Zugleich Dissertation der Universität Mannheim

ISBN 978-3-11-061291-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061306-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061315-5 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2019933985 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommer 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen wurde. Mein erster herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Katharina Philipowski. Ihre Förderung auf der Assistenz an ihrem Lehrstuhl in Mannheim (jetzt Potsdam) und stete Aufmerksamkeit ermöglichten den erfolgreichen Abschluss dieser Dissertation. Sie und Prof. Dr. Jan-Dirk Müller haben mir stets wertvolle Hinweise für diese Arbeit gegeben. Den Herausgebern der Reihe „Frühen Neuzeit“ gebührt mein Dank für die Aufnahme der Studie. Für den erfolgreichen Beginn der Dissertationsphase und dem Erproben erster Textzugänge danke ich Prof. Dr. Florian Kragl (Erlangen-Nürnberg) und der Erlanger Runde im Oberseminar. Mein Dank reicht weit zurück in die Endphase meines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu den Herausgebern der jüngsten Esopus-Edition. Als studentische Hilfskraft in deren Editionsprojekt wurde mein Interesse für und die Freude am Entdecken der Waldisfabeln geweckt und gefördert. Prof. Dr. Wolfgang Harms danke ich für seine beständige Ermutigung und Motivation. Eine Weggefährtin bei der Entdeckung der Frühen Neuzeit und unverzichtbare Gesprächspartnerin ist Carolin Struwe-Rohr. Sehr verbunden bin ich neben den genannten Personen auch Judith Pfeiffer und Sebastian Speth für ihre freundschaftliche und kollegiale Unterstützung während der Promotion. Herzlich danken möchte ich insbesondere Herfried Vögel, dem fleißigen Leser dieser Arbeit, der mit viel Enthusiasmus, kritischen Anmerkungen und steter Diskussionsbereitschaft diese begleitet hat. Die wohl wichtigste Bedingung für die Entstehung dieser Dissertation war schließlich die Freiheit, die mir meine Familie stets gegeben hat, um mein akademisches Leben zur Entfaltung zu bringen. Danke auch dafür. Potsdam, im März 2019

https://doi.org/10.1515/9783110613155-202

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Zum Stand der Forschung 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3

5

Tradition und Transformation 21 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus Die Anordnung der Fabeltexte in der Hauptvorlage Aesopus Dorpii 22 Die Anordnung der Fabeltexte im Esopus 26 Formen der Verknüpfung im Esopus 29 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus 40 Zur Fabel im Esopus 64 Zum Gattungsbegriff ‚Fabel‘ 64 Fabelfiguren 73 Fabelzeit 86

21

Äsopische Autorisierung 115 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther 118 Äsop im Esopus von Burkard Waldis 138 Die Darstellung Äsops im Leben Esopi 141 Die Titelholzschnitte des Esopus 149 Der närrische Titelholzschnitt der Erstausgabe 149 Der äsopische Titelholzschnitt in den Ausgaben ab 1565 Das Sprecher-Ich als Autorität im Esopus 176 Autor-Ich 182 Deutendes Sprecher-Ich 189 Erzählendes Sprecher-Ich 195

‚Alt‘ und ‚neu‘ 207 ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Unterscheidungskriterium der Vorlagen im Esopus 209 3.2 ‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis 214 3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus 220 3.3.1 Jetzt-Zeit und Vergangenheit 220 3.3.2 Formen des ‚Alten‘ im Esopus 239 Das ‚Alte‘ in der Affabulatio 239 3.3.2.1 3.3.2.2 Die ‚Alten‘ 247 3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘ 260 3 3.1

171

VIII

3.4.1 3.4.2

Inhaltsverzeichnis

‚Alte‘ und ‚neue‘ Sinnangebote ‚verneuen‘ 263

260

4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 4.3.9 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5

Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung 272 Zum ‚Sinn‘ der Fabel 272 Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘ 289 Elemente der Affabulatio 294 Der Lehrsatz 295 Das Sprichwort 299 Antike Dichter und Werke 309 Die Bibel 319 Zeitgenössische Werke 334 Erfahrung 339 Exempel 346 Rede von Sprecher-Ich und Fabelfiguren 354 Intratextuelle Verweise 360 Verfahren in der Affabulatio 368 Übersetzung 370 Partikularisierung 373 Akkumulierung 379 Unabgestimmte Vielfalt 396

5

Fazit

6 6.1 6.2 6.3

Literaturverzeichnis 431 Historische Drucke und Editionen Forschungsliteratur 433 Nachschlagewerke 436

7 7.1 7.2

Register 438 Autoren, historische Personen, Werke Begriffe, Motive, Sachen 439

422

431

438

Einleitung In den ersten Sätzen der Vorrede des 1548 erstmals erschienenen Esopus nennt der Autor Burkard Waldis Gründe, warum sich das Erscheinen dieser Fabelsammlung, wiewohl „vor etlichen Jaren“ (Vorrede, Z. 6) begonnen, sich „aber biß auff diesen tag verzogen“ (Vorrede, Z. 10 f.) habe. Persönliche Widrigkeiten in Form von „vielerley vnfelle[n]/ widerstand vnd leibsgebrechen“ (Vorrede, Z. 11 f.), aber auch der Zustand der Welt, die „fehrlichen Kriegshendel vnd Emprunge inn gantz Deutschen Landen/ nu etliche Jar daher werende/ welche sonderlich fr allem andern vbel vnnd plagen/ die ntzen/ vnnd notwendigen Studia pflegen zuschwechen/ auch mercklich zuuerhindern“ (Vorrede, Z. 13–16), seien für die Verzögerung verantwortlich. Außer den „anregen vnd bitt vieler Herrn vnd guten freund“ (Vorrede, Z. 18 f.) und der beabsichtigten „frderung“ (Vorrede, Z. 30) und „besserung“ (Vorrede, Z. 31) der „lieben Jugent/ Knaben vnd Junckfrawen“ (Vorrede, Z. 29 f.) nennt er keine Beweggründe, warum er die Fabeln „jetz wider aus dem staub geklopfft“ (Vorrede, Z. 19) habe.1  







1 Zu den Sprachregelungen und zur Zitierweise in vorliegender Arbeit: 1. Die zwei Teile der Fabel werden im Folgenden ‚Fabelerzählung‘ bzw. ‚Narratio‘ und ‚Affabulatio‘ genannt. Die Aufteilung orientiert sich an der formalen Unterscheidung im Esopus, die durch ein Alineazeichen markiert ist. Zum Begriff ‚Affabulatio‘ siehe das Kapitel „Zum Gattungsbegriff ‚Fabel‘“, besonders S. 64–73 sowie das Kapitel „Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘“. 2. Die Fabeln im Esopus werden mit einer Kombination aus römischer Ziffer für das Buch (I–IV) und arabischer Ziffer für die Nummer der einzelnen Fabeln (1–100) bezeichnet. Textgrundlage für diese Arbeit war die Neuedition der Erstausgabe von 1548: Burkard Waldis: Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548. 2 Bde. Hg. von Ludger Lieb, Jan Mohr, Herfried Vögel. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 154). Die Zitate folgen buchstabengetreu der Edition (Superskripte, Großbuchstaben am Versanfang, Satzzeichen etc.). Auf eine Übernahme der Markierung von Texteingriffen durch Kursivschrift wurde verzichtet. Ebenfalls nicht wiedergegeben werden die in der Edition in eckigen Klammern angegebenen Blattangaben bei Seitenumbrüchen im Original. Auf den Kommentarband der Edition verweisen der Kurztitel Esopus mit dem Verweis auf den zweiten Band sowie die jeweiligen Seitenangaben. 3. Auf die Unterscheidung von ‚äsopischem‘ und ‚neuem‘ Teil, wie sie etwa in Ludger Liebs Monographie zum Esopus vorgenommen wird, wird weitestgehend verzichtet, da das „relevante Kriterium zur Unterscheidung beider Teile [...] die Abhängigkeit von der lateinischen Vorlage (Aesopus Dorpii)“ (Ludger Lieb: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum ‚Esopus‘ des Burkard Waldis. Frankfurt a. M. u. a. 1996 [Mikrokosmos 47], hier S. 9) ist. Diese Unterscheidung ist für die in dieser Arbeit untersuchten Besonderheiten im Erzählen und Deuten von Fabeln zumeist eher hinderlich, da man versucht ist, die Differenz der Vorlagen auch in den Bearbeitungen finden zu müssen. Vielmehr werden mit dem Adjektiv ‚esopisch‘ Fabeln und Phänomene im gesamten Esopus des Burkard Waldis bezeichnet. 4. Mehrfach zitierte Primär- und Sekundärliteratur wird im Literaturverzeichnis bibliographisch erfasst und im Fließtext mit Kurztitel, die sich aus Autornachname und Kurztitel zusammensetzen, verzeichnet. 5. Deutsche Bibelzitate stammen aus der Lutherbibel Ausgabe letzter Hand (Martin Luther: Die gantze Heilige  

https://doi.org/10.1515/9783110613155-001



2

Einleitung

Waldis eröffnet seine Fabelsammlung damit nicht mit traditionellen Topoi. Die Schilderung der eigenen Lebenserfahrung in der Welt verweist aber implizit auf eines der wichtigsten Merkmale des Fabelerzählens. Denn im Erzählen von Fabeln kann stets der Versuch erkannt werden, Wahrheiten über die Welt vermitteln zu wollen. Ein als Einzelfall geschildertes (in den überwiegenden Fällen fiktives) Ereignis beansprucht in der Deutung dieses Einzelfalles verbindliche Aussagen darüber zu treffen, wie „sichs in der Welt jetzt helt“ (I 1,45).2 Regeln zu benennen, die in der Welt gelten, und Lehren zu formulieren, wie man in einer solchen Welt leben kann, sind durch das Erzählen von Fabeln möglich, indem potenzielle Erfahrung in kleinen Einzelereignissen geschildert wird: Da die Wirklichkeit unendlich kompliziert ist, leistet ein erdichteter Fall mehr als Beispiele aus der Wirklichkeit; der Einzelfall hat ausserdem den Vorzug der Anschaulichkeit, die, wie schon Lessing gesehen hat, die Vorbedingung aller Wirklichkeit ist. Wichtig für die Wirkung der Fabel ist ferner die Form der Erzählung, da sie die Sache vor den Augen Schritt für Schritt entwickelt und dadurch mehr überwältigt als der Hinweis auf einen vorliegenden Tatbestand.3

Die von Waldis erwähnte besserung der Jugend kann daher nicht nur als moralisches Bildungsideal gelesen werden, sie kann sich auch darauf beziehen, dass die Jugend als nächste Generation besser in einer solchen Welt, auf welche sich der Autor in der Vorrede bezieht, zurechtkommen soll. Schon der Blick in die Vorrede lässt ahnen, dass die Fabelsammlung des Burkard Waldis nicht nur einfach an das traditionelle äsopische Fabelerzählen anschließt, sondern im Erzählen und Deuten von Fabeln eine ganz eigene Form des Fabulierens aufweist. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, den Esopus, nachdem er von der Literaturwissenschaft zu Unrecht lange nicht beachtet wurde, erneut aus dem

Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. 2. Bde. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur. München 1972), die lateinischen aus der Vulgata (Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, 2 Bde. Hg. von Robert Weber OSB. 3., verbesserte Auflage besorgt von Bonifatius Fischer OSB zusammen mit H. I. Frede, Jean Gribomont OSB, H. F. D. Sparks und W. Thiele. Stuttgart 1983). 2 Sonst könnte nicht vom didaktischen Anspruch oder dem Lehrhaften der Fabel gesprochen werden. 3 So Walter Wienert zur Fabel in Reaktion auf Jülichers Überlegungen zu den Gleichnisreden Jesu, siehe Walter Wienert: Die Typen der griechisch-römischen Fabel. Mit einer Einleitung über das Wesen der Fabel. Helsinki 1925 (FF Communications 56), hier S. 7. Auch Klaus Doderer hält die Repräsentation der Welt für eine der wichtigsten Merkmale der Fabel, denn die „Handlungen und Weltausschnitte, in denen Fabelfiguren auf die menschlich-gesellschaftliche Verstehensebene gerückt werden, zeigen schon an, um was es der Fabel letztlich geht: Ein Bild der menschlichen Welt zu geben, verfremdet dargestellt“ (Klaus Doderer: Fabeln. Formen, Figuren, Lehren. Zürich, Freiburg i. Br. 1970, hier S. 84).

3

Einleitung

Staub zu klopfen. Bei der Beschäftigung mit diesem Werk hat man einen Gegenstand vor sich, der zu Recht beschrieben wurde als eine Enzyklopädie europäischer Fabel- und Erzählstoffe, ein Zeugnis lustvollen Wiedererzählens und selbstbewussten Neuerfindens, ein Speicher allgemeiner Spruch- und individueller Lebensweisheit, eine Einlösung von Luthers Forderung nach einem gereinigten (und protestantischen) Äsop.4

Wie für andere, zeitgenössische Erzählsammlungen bereits festgehalten, steht auch dem Leser des Esopus ein „Wuchern und Wimmeln“ gegenüber,5 das dem analytischen Blick das Fokussieren und Ordnen erschwert. Konzentriert man sich bei mikroanalytischen Untersuchungen zu sehr auf die eigenständige Einzelfabel, besteht die Gefahr, übergreifende Fragestellungen aus dem Blick zu verlieren. Bildet man bei einer makroanalytischen Betrachtung des Gesamtwerks unter einer übergreifenden Fragestellung eine Beispielkette an Fabeln, kann diese ihre Aussagekraft für die einzelne Fabel verlieren. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt bei der Frage nach spezifischen literarischen Ausprägungen des Esopus beide Perspektiven. Eingehend auf die Hauptvorlage, eine humanistische Fabelsammlung, wird das Kapitel eröffnend die Druckgestaltung des Fabelwerkes als Buch im Mittelpunkt stehen. Die homogene formale Gestaltung der Fabeln steht im Gegensatz zur inhaltlichen Vielfalt der Fabelerzählungen und Affabulationes. Hierbei geben Peritexte,6 die Anordnung der Fabeln, aber auch verknüpfende Elemente, wie u. a.  

4 Esopus. Bd. 2, S. 3. 5 Siehe die Untersuchung von Michael Waltenberger und Frieder von Ammon, die die Begriffe bereits im Titel trägt: Frieder von Ammon, Michael Waltenberger: Wimmeln und Wuchern. Pluralisierungs-Phänomene in Johannes Paulis Schimpf und Ernst und Valentin Schumanns Nachtbüchlein. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der frühen Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2010 (Pluralisierung & Autorität 21), S. 273–301. 6 Der Begriff ‚Peritext‘ stammt wie auch ‚Paratext‘ aus den Untersuchungen von Gerard Genette. Der Begriff ‚Peritext‘ geht auf die Unterscheidung des ‚Paratextes‘ „durch die Bestimmung seiner Stelle“ zurück. ‚Peritexte‘ befinden sich „im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes, wie der Titel oder das Vorwort, mitunter in den Zwischenräumen des Textes, wie die Kapitelüberschriften oder manche Anmerkungen“. Dem gegenüber steht der ‚Epitext‘: „Immer noch im Umfeld des Textes, aber in respektvollerer (oder vorsichtigerer) Entfernung finden sich alle Mitteilungen, die zumindest ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt sind: im allgemeinen in einem der Medien (Interviews, Gespräche) oder unter dem Schutz privater Kommunikation (Briefwechsel, Tagebücher und ähnliches)“ (Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M., New York 1989, hier S. 12). ‚Paratext‘ bzw. ‚paratextuell‘ umfasst zwar auch Phänomene wie Titel, Überschriften und ähnliche Elemente, ich benutze hierfür jedoch den präziseren Begriff ‚Peritext‘ bzw. ‚peritextuell‘.  

4

Einleitung

intratextuelle Verweise, Auskunft über den produktionsseitig anvisierten Rezipienten des Esopus. Zugleich zeigt sich an ihnen, wie schon in den Rahmentexten einerseits an traditionelle Autorisierungsstrategien angeschlossen wird (in den Seiten- und Buchüberschriften), diese aber auch zugunsten einer Veruneindeutigung erweitert (so im Titelblatt). Ausgangspunkt für das einleitende Kapitel ‚Tradition und Transformation‘ war die Leseerfahrung, dass die Merkmale der äsopischen Fabel nicht oder nur mit Einschränkungen und der beständigen Aufzählung von Ausnahmen für die esopischen Fabeln gelten. Im Fokus des ersten Kapitels stehen daher in Bezug auf die Narrationes die heterogene Vielfalt an Figuren und Themen in den Fabelerzählungen, Bestandteile der Fabelerzählungen, die unkonventionell oder ursprünglich fabelfremd sind, etwa zeitliche und räumliche Situierungen und der Umgang mit dem Sinnpotenzial der Fabelerzählungen. Um die Ausformungen der Gattung ‚Fabel‘ im Esopus literarhistorisch einordnen zu können, muss nach dem zeitgenössischen Fabelverständnis gefragt und hierbei die heutzutage geltende Fabeldefinition kritisch hinterfragt werden. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt im zweiten Kapitel auf der traditionellen Autorisierungsstrategie äsopischer Fabelsammlungen, die Darstellung der und den Anschluss an die titelgebende Autorität des Esopus, Äsop. Zugleich muss nach der Beziehung gefragt werden, in die der Autor Burkard Waldis sich zu dieser zeitgenössisch als Gattungsstifter verstandenen Figur rückt. Um die Besonderheiten im Esopus fassen zu können, beginnt die Analyse mit einem darstellenden Überblick von Autorisierungsstrategien und Geltungsansprüchen in den frühneuzeitlichen Fabelsammlungen von Heinrich Steinhöwel und Martin Luther. Dieser Überblick führt voneinander abweichende Möglichkeiten der Äsopdarstellung und die Anbindung der Autoren an den Gattungsstifter vor. Bei der Untersuchung der Äsopdarstellung im Esopus ist es vonnöten, neben traditionellen Formen der Autorisierung volkssprachlichen Erzählens einerseits auch nach weiteren Elementen der Rezeptionssteuerung, wie dem Titelblatt und der einzigen Illustration der Sammlung, zu fragen und andererseits auf eine mit Äsop konkurrierende Autorität, das Sprecher-Ich,7 einzugehen. Der dritte Fokus geht von der Ankündigung des Gantz New gemacht auf dem Titelblatt aus. Was Waldis meint, wenn er seine Fabeln als solche bezeichnet, was denn ‚neu‘ in der Fabelsammlung alles umfassen kann, und was dann als ‚alt‘ verstanden wird, vom dem sich dieses ‚neu‘ absetzt, wird vom ihm nicht näher 7 Mit dem Sprecher-Ich ist in dieser Untersuchung die sich in Ich-Aussagen zur literarischen Tätigkeit, in der Fabelerzählung und in der Affabulatio äußernde Instanz bezeichnet. ‚Sprechen‘ steht hierbei nicht in Konkurrenz zu ‚erzählen‘, sondern umfasst sowohl ‚erzählen‘ in der Fabelerzählung, ‚reden‘ in der Affabulatio als auch ‚kommentieren‘, ‚bewerten‘ und ‚deuten‘ in beiden Fabelteilen.

Zum Stand der Forschung

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ausgeführt. So wird mit dem ‚Neuen‘ ein zeitgenössischer Diskurs angerissen, zugleich bezieht sich das Spannungsfeld von ‚alt‘ und ‚neu‘ auf verschiedene Themen und Bereiche. Neben den Vorreden weiterer Werke Waldisʼ und den Aussagen des Autors zum ‚Neu machen‘ stehen einerseits Aussagen zur literarischen Tätigkeit in den Fabeln im Vordergrund. Andererseits ist neben dem ‚Neuen‘ auch das ‚Alte‘ von Interesse, vor dessen Horizont sich das ‚Neue‘ erst abzeichnet und beschreiben lässt, sei es in Berufung auf die ‚Alten‘ oder das ‚Alte‘. Abschließend soll auf die Unschärfe dieser Trennung aufmerksam gemacht werden, indem erstens aufgezeigt wird, wie ‚alt‘ und ‚neu‘ im Text ineinander übergehen, und zweitens das prozesshafte ‚verneuen‘ in der Wahrnehmung zeitgenössischer Zustände näher dargestellt wird. Abschließend widmet sich die Untersuchung der Fabelstruktur im Esopus und konzentriert sich dabei auf die Affabulatio. Auffällig ist hierbei, besonders im Vergleich mit dem traditionellen Gattungsverständnis der äsopischen Fabel und den lateinischen Fabeln der Hauptvorlage im Aesopus Dorpii, die Vielzahl an möglichen, ursprünglich fabelfremden Elementen sowie Verfahren der Deutung, die dieser Teil der Waldisfabeln aufweist. Es ist näher auf den traditionellen Bestandteil äsopischer Fabellehren, den ‚Lehrsatz‘ und seine Ausformung im Esopus einzugehen. Weitere Elemente der Affabulatio speisen sich aus anderen Quellen der Erkenntnis und Lehre. Sprichwort, Antiken- und Bibelzitat, ‚Erfahrung‘, die Rede von Sprecher-Ich und Fabelfiguren oder auch intratextuelle Verweise bilden, wie zu zeigen sein wird, mithilfe verschiedener Argumentationsverfahren unkonventionelle Formen der Fabelauslegung, -kommentierung bzw. -deutung.

Zum Stand der Forschung Wer sich mit der Forschung zum Esopus des Burkard Waldis beschäftigt, ist mit einem ambivalenten Befund konfrontiert. So ist der Autor in allen größeren Literatur- und Autorlexika vertreten8 und in literaturhistorischen Abrissen berücksich-

8 Die neuesten Überblicksartikel stammen von Jan Mohr, siehe Jan Mohr: Waldis, Burkart. In: EM. Bd. 14, Sp. 450–457; Jan Mohr, Ute Mennecke-Haustein: Waldis, Burkhard. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 12: Vo–Z. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin, Boston 2011, S. 94–96. Vgl. daneben auch Angelika Reich: Burkard Waldis. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Hg. von Stephan Füssel. Berlin 1993, S. 377–388. Schon in den frühesten Autorenlexika aus dem 18. und 19. Jahrhundert wurde Waldis beachtet, siehe Carl August Küttner: Burkard Waldis. In: Carl August Küttner: Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Von Kaiser Karl, dem Großen, bis aufs Jahr 1780. Bd. 1. Berlin 1781, S. 97–99; Karl Heinrich Jördens: Burkard

6

Einleitung

tigt.9 Nicht selten wird er in der Paarung mit Erasmus Alberus behandelt10 oder in der Konstellation Waldis, Alberus und Luther.11 In Untersuchungen, die den

Waldis. In: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Bd. 5. Hg. von Karl Heinrich Jördens. Leipzig 1810. Nachdruck Hildesheim, New York 1970, S. 186–194, der über den damaligen Stand der Forschung, besonders zum Esopus, informiert, sowie Waldemar Kawerau: Waldis Burkard. In: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896). Nachdruck 1971, S. 701–709. Die einzigen Angaben zu Waldis in Peter Hess: Poetry in Germany, 1450–1700. In: Early Modern German Literature 1350– 1700. Hg. von Max Reinhart. Rochester NY 2007 (The Camden House History of German literature 4), S. 395–465, S. 407, sind leider fehlerhaft: „Burkhard Waldis (ca. 1490–1555) published German psalm versifications in Riga in 1553“. Waldis begann die Arbeit an den Psalmvertonungen zwar in Gefangenschaft im Norden, er beendete das Werk aber, so weist die Vorrede aus, als er schon im Jahr 1552 in Abterode eine Pfarrei übernommen hatte. Gedruckt wurde das Werk 1553 in Frankfurt am Main. 9 Dies gilt schon für die frühen Literaturgeschichten wie bei Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. 3. Hg. von Karl Bartsch. 5. Auflage. Leipzig 1872, zum Esopus siehe S. 60–66; und bei Karl Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 2: Das Reformationszeitalter. 2., ganz neu bearbeitete Auflage. Dresden 1886, S. 447–453. Auch in einem „ersten Versuch eines marxistischen Gesamtüberblicks über die deutsche Literatur“ hat Waldis Aufnahme gefunden. Nicht verwunderlich wird er hierbei zu einem Mann des Volkes, der die „wirtschaftlichen und politischen Praktiken seiner bürgerlichen Klassengenossen und deren Moral […] trotz reformatorischer Gemeinsamkeit nicht gerade in verklärendem Schimmer gesehen“ hat. Die Fabelsammlung wird daher zu seinem „volksverbundenste[n] Werk“ erklärt, dessen „sprichwortreiche Darstellungsweise […] bezeugt schon seine Volksnähe, sein enges Verhältnis zur ‚zweiten Kultur‘“, als „Fabeldichter fußt Waldis auf volkstümlicher Tradition“ (Geschichte der deutschen Literatur von 1480–1600. Hg. von Klaus Gysi u. a. Kollektiv für Literaturgeschichte. Berlin 1961, die Zitate auf S. VI und S. 380 f.). Marxistisch begründen lässt sich dann auch der Rückgang an Fabelsammlungen: „Mit dem Verebben frühbürgerlicher Impulse und Klassenbestrebungen und dem Verschleiß reformatorischer Kampfideen, klang dann die Fabeldichtung im 16. Jahrhundert aus“ (ebd., S. 381). 10 Die Paarung der Autoren birgt die Gefahr, die beiden in einen direkten Vergleich und in eine zeitgenössisch nicht nachweisbare Konkurrenz zueinander zu setzen. So beginnt Wolfgang Stammler seine Beschreibung von Waldis: „fast als Nebenbuhler im Fabeldichten steht neben Alberus der gleichfalls vielverschlagene Burkard Waldis“, diesem habe Alberus „zweifellos dabei das Licht gehalten“. Stammler kommt dann aber doch zu dem Ergebnis: „Alberus gegen Waldis oder Waldis gegen Alberus auszuspielen und den einen auf Kosten des anderen zu erheben, ist müßig“ (Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock 1400–1600. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 1950, S. 225 und 226). Bei Reinhard Dithmar: Die Fabel. Geschichte, Struktur, Didaktik. 7., völlig neu bearbeitete Auflage. Paderborn, München u. a. 1988 (Uni-Taschenbücher 73), hier S. 52–56, wird eine Gemeinsamkeit betont, die darüber hinweg täuscht, dass die beiden Autoren auf sehr eigene und unterschiedliche Weise Fabeln erzählen und deuten. Schon ein Vergleich der Anlagen der Sammlungen verdeutlicht dies, auf der einen Seite steht die, symbolisch auf 49 Fabeln beschränkte, Sammlung von Erasmus Alberus, auf der anderen Seite das mit 400 Fabeln jede zeitgenössische Fabelsammlung im Umfang überbietende Werk von Waldis. 11 „Die bedeutendsten Fabeldichter der Reformationszeit sind Martin Luther, Erasmus Alberus und Burkard Waldis“ (Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Eine Einführung.  





7

Zum Stand der Forschung

Schwerpunkt auf die Reformation legen, gilt Waldis als einer der wichtigsten Fabelautoren.12 Er und seine Sammlung sind fester Bestandteil in jeder größeren Untersuchung von Fabeln mit einem historischen Abriss.13 Die in Überblicken erfolgte Behandlung besteht jedoch überwiegend aus der Nennung des Autors14 und zumeist knappen Beschreibungen seiner Biographie sowie seiner Werke, hauptsächlich der Fabelsammlung. Der gestalterischen Vielfalt der Fabeln wird in solchen Darstellungen selten Aufmerksamkeit geschenkt, sie beschränken sich häufig auf Benennung von Umfang, Quellen, Themenvielfalt und vermeintliche Wirkungsabsicht. Der Kürze der Beiträge geschuldet, führen die verknappten Aussagen mitunter zu einer unterkomplexen Beschreibung der Fabelsammlung.15 Geprägt ist die Wertung der Fabeln oftmals durch das Festhalten von Abweichungen von einem implizit vorausgesetzten Fabelverständnis, etwa wenn Reinhard Dithmar Waldis unterstellt, dass er „mit diesen derben, zotigen Fabeln in die Richtung des

Darmstadt 1988 [Germanistische Einführungen], S. 143). Ein kleiner Abriss zum Esopus findet sich auf den Seiten 150 f. 12 Barbara Könneker widmet sich in ihrer Übersicht Waldis als dem Autor, der in seinem Drama De parabell vam vorlorn Szohn den Bibelstoff des verlorenen Sohnes als erster „für die neue Glaubenslehre in Anspruch genommen und für den Kampf gegen die römische Kirche fruchtbar gemacht“ hat (Barbara Könneker: Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche. München 1975, S. 164). 13 Beispielhaft sei hingewiesen auf Doderer: Fabeln, S. 291 f.; Reinhard Dithmar: Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. Beispiele didaktischer Literatur. 5., erweiterte Auflage. München 1970, S. 128–134 sowie Adalbert Elschenbroich: Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Tübingen 1990; der Druck ausgewählter Fabeln bei Elschenbroich findet sich in Bd. 1 auf den S. 109–124, zu Fabeln und Werk wird im Bd. 2 auf S. 203–206 informiert. Mitunter beschränkt sich die Darstellung auf den Druck ausgewählter Fabeln, etwa bei Hermann Lindner: Fabeln der Neuzeit. England, Frankreich, Deutschland. Ein Lese- und Arbeitsbuch. München 1978, S. 158 f.; oder Erwin Leibfried: Fabel. Bamberg 1984 (Themen – Texte – Interpretationen), S. 103 f. 14 Ein Beispiel einer sehr knappen Darstellung liefert Richard Newald: „Zwischen Stainhöwels Aesop und Rollenhagens Froschmeuseler liegen die Bearbeitungen von Luther, Camerarius, Hans Sachs, Alberus, Waldis. […] Man ist weit davon entfernt, das Wesen der Fabel zu erfassen oder sich für deren Herkunft zu interessieren. So geht vieles unter den Namen Aesop und Phaedrus, was aus mittelalterlichen Sammlungen Babrios, Planudes, Romulus, Rimicius u. a. stammt, so daß im Stoff zwischen Boners Edelstein, Waldis oder Alberus kaum Unterschiede festzustellen sind“ (Richard Newald: Probleme und Gestalten des deutschen Humanismus. Studien von Richard Newald. Berlin 1963, S. 137). 15 So etwa bei Erwin Leibfried, der im Vergleich mit Alberus für Waldis festhält: „Seine Fabeln sind oft relativ kurz, zumindest im Vergleich mit Alberus. Die Erzählung ist nicht viel länger als die Lehre, die stark betont wird. Seine Sprache ist bilderreich, so daß die lehrhafte Tendenz nicht sehr auffällt; selbst in der Lehre tauchen wieder Bilder auf, die eigentlich einer Erläuterung bedürften“, siehe Erwin Leibfried: Fabel. 4., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 1982 (Sammlung Metzler M 66), S. 65–67, S. 66.  









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Einleitung

Schwanks zielt“.16 Zumeist ist die Betrachtung des Autors durch die Behandlung der Reformation begründet,17 spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellungen sind in solchen Beiträgen eher zweitrangig. So reihen Ernst Heinrich Rehermann und Ines Köhler-Zülch in ihrem Beitrag Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis nur inhaltliche Paraphrasen der Epimythien Martin Luthers, Nathanael Chytraeusʼ und Burkhard Waldisʼ aneinander und abstrahieren daraus ‚Anliegen‘ […] und Weltanschauungen […], ohne sich um tradierte Vorgaben, die stets interpretationsbedürftige Relation von Erzählung und Auslegung oder auch das Leser-Autor-Verhältnis […] zu kümmern.18

Die Darstellungen sind oft geprägt von Werturteilen, die mehr der Aufwertung der eigenen Arbeit dienen als einer der Forschung nützlichen und an Selektion interessierten Bewertung.19 Waldis wird überschwänglich gelobt, etwa wird er als

16 Dithmar: Die Fabel, S. 55. Damit wird dem Autor aber erstens implizit ein Gattungsbewusstsein unterstellt, das mit dem des Autors des Forschungsbeitrags deckungsgleich oder zumindest ähnlich ist, und zweitens eine klare Bearbeitungsabsicht postuliert, die so nicht nachweisbar ist. 17 Vgl. Arnold Berger: Lied-, Spruch- und Fabeldichtung im Dienste der Reformation. Unter Mitwirkung von D. G. Pfannmüller, bearbeitet von Arnold E. Berger. Leipzig 1938 (Deutsche Literatur Reihe Reformation 4), der Druck von Fabeln aus dem Esopus auf S. 245–249, die literarhistorische Einordnung des Autors auf S. 304–306 sowie Leonid Arbusow jr.: Die Einführung der Reformation in Liv-, Est- und Kurland. Leipzig 1921 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 3). Neudruck Aalen 1964, zur Biographie Waldisʼ siehe S. 260–266, S. 327 f. Auch hier haben Angaben aus dem Esopus als biographische Details Eingang in die Darstellung des Autors gefunden, etwa bei der Beschreibung der vermeintlichen Romfahrt, S. 261 f. Zu Kirchenliedern und dem Drama von Waldis siehe S. 629–631 und S. 650–657. Der Esopus spielt in dieser Abhandlung nur eine geringe Rolle, siehe S. 657–660, das Urteil über die Sammlung richtet sich nach ihrer vermeintlichen Wirkung in der Reformation in Riga: „Überhaupt sind diese Tendenzdichtungen [gemeint sind die Fabeln, die Franziskaner verurteilen] für die Erkenntnis der livländischen kirchlichen Zustände nur mit Vorsicht zu benutzen. Aber sie haben gewiss die Abgunst der Rigischen Bürger gegen die römische Kirche und ihre Lehre wachhalten geholfen. Doch war der Hauptzweck der weitaus meisten Fabeln nicht dieses, sondern die Darstellung und Popularisierung allgemein moralischer Lehren. Der Reformation leistete Waldis die Hauptdienste durch sein Fastnachtspiel und seine Psalmdichtung“ (ebd., S. 650), zu seiner spekulativen Botenrolle in politischen Angelegenheiten siehe S. 779. 18 Klaus Grubmüller: Rez. zu Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. von Peter Hasubek. Berlin 1982. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 1 (1985), S. 12–18, S. 14. 19 Zur „genuine[n] Aufgabe der Literaturwissenschaft, durch Interpretation literarischer Texte auch Maßstäbe zu ihrer Beurteilung bereitzustellen“, siehe Jan-Dirk Müller: Die Epigonen und der Neopositivismus. In: Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi. Lili 172 (2013), S. 132–138, das Zitat auf S. 134.  



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„einer der bedeutendsten deutschen Fabeldichter“ bezeichnet,20 er „nimmt eine Schlüsselstelle in Riga ein, er gehört in der Reformationszeit zu den bedeutendsten Autoren“,21 „he was far more talented and of far greater importance during his lifetime than many another writer of the period who has been more kindly received by posterity. Poetically, his works surpass most of the literary products of the time“.22 In der gegensätzlichen Beurteilung wird er als „einer von den vielen Geistern zweiten und dritten Ranges“ eingeschätzt.23 Die Mehrzahl der Forschungsbeiträge stammt aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und lässt sich einem von vier Schwerpunkten zuordnen. Nicht verwunderlich sind erstens die Veröffentlichungen zu Entdeckung und Bekanntmachung verschiedener Werke, die nach einer Rezeptionspause von mehr als zwei Jahrhunderten wieder zur Kenntnis genommen wurden. Aus dem Gesamtwerk ist das niederdeutsche Drama De parabell vam vorlorn Szohn von 1527 das einzige Werk, welches in etwa gleichviel Beachtung wie die Fabelsammlung gefunden hat und in letzter Zeit auch im Zuge des vermehrten Interesses am Drama und geistlichen Spiel des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Gegenstand von Untersuchungen wurde.24 Größtenteils unbeachtet sind hingegen die Flug- und Streit-

20 Friedrich Scholz: Die Literaturen des Baltikums. Ihre Entstehung und Entwicklung. Opladen 1990 (Abhandlungen der rheinisch-westfälischen Akademie der Wissenschaften), S. 88. 21 O. A.: Waldis, Burk(h)ard (Burchard, Borchart). In: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3. Hg. von Carola L. Gottzmann, Petra Hörner. Berlin, New York 2007, S. 1384–1391, S. 1385. 22 John Lancaster Riordan: The Status of the Burkhard Waldis Studies. In: Modern Language Quarterly 2 (1941), S. 279–292, hier S. 281. 23 Gustav Milchsack: Burkard Waldis. Nebst einem Anhange: Ein Lobspruch der alten Deutschen von Burkard Waldis. Halle, Saale 1881 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 30), hier S. 5. 24 Zwei Faktoren begünstigen die Forschung an dem Drama, so gilt es erstens als erstes Reformationsdrama, das einen Bibelstoff aufgreift, zweitens liegt es, 1852 das erste Mal ediert, heutzutage in mehreren Editionen vor, siehe die Übersicht bei Lieb: Erzählen, S. 240, zur Forschung der Überblick auf S. 253–258. Von den Forschungsbeiträgen sind Adolf Schweckendiek: Bühnengeschichte des Verlorenen Sohns in Deutschland. Leipzig 1930 sowie Peter Macardle: Levels of Reality and their Manipulation in Waldisʼs „Parabell vam vorlorn Szohn“. In: The Modern Language Review 82 (1987), S. 648–661; hervorzuheben. Zur aktuellen Forschungslage siehe Detlef Metz: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln 2013, S. 722–724 u. ö.; Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 14), S. 191–197 sowie Cora Dietl: Das frühe deutsche Drama von den Anfängen bis zum Barock. Helsinki 1998, S. 105–111 – die Forschungsliteratur bei Dietl auf S. 119 entspricht dabei nicht dem Stand, den Lieb: Erzählen, festgehalten hat – sowie Volkhard Wels: Versuch einer dialektischen Analyse von Burkhard Waldis Parabel vom verlorenen Sohn (1527). In: Text im Kontext. Anleitung  



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schriften,25 die Abhandlung über Vrsprung vnd Herkum̅ en der zwlf ersten alten Knig vnd Fürsten Deutscher Nation/ wie vnd z welchen zeytten jr yeder regiert hat, die einstimmige Vertonung von Psalmen im Psalters Jn Newe Gesangs weise vnd künstliche Reimen gebracht von 1553, die Bearbeitung des Ritterromans Tewerdanck 1553 oder die Übersetzungen der reformatorischen Schriften Das Ppstisch Reych von 1555 und die Summarien vber die gantz Bibel von 1556.26 Das relativ große

zur Lektüre deutscher Texte der frühen Neuzeit. Hg. von Alexander Schwarz, Laure Abplanalp. Bern, Berlin u. a. 1997 (Tausch 9), S. 301–317. Das Ziel von Welsʼ Untersuchung ist „nicht die Analyse eines Dramas, sondern die Erprobung der dialektischen Begrifflichkeit als Instrumentarium für die Analyse von Texten“ (ebd., S. 302), eine „Interpretation dieses Dramas müßte nicht nur seinen theologischen Gehalt viel stärker und differenzierter in Betracht ziehen, sondern auch seine eminent rhetorische Gestalt mit den Mitteln eben der Rhetorik analysieren“ (ebd., S. 313, Anm. 8). 25 Es handelt sich hierbei um politische Streitgedichte gegen Herzog Heinrich von Braunschweig, aber auch Berichte über eine wnderliche Geburt oder die satirische Flugschrift von 1543 Ein warhafftige Historien von Zweyen Mewssen/ So die pfaffen jm Httenberge bey Wetzfalar haben verbrennen lassen/ Darumb das sie ein Monstrantzen Sacrament gefressen hatten. Letztere besteht aus einer satirischen Dichtung und drei Fabeln, die fünf Jahre später erneut im Esopus gedruckt werden, siehe Lieb: Erzählen, S. 245. Die warhafftige Historien von Zweyen Mewssen wurde jüngst editorisch aufgearbeitet. Die drei Fabeln wurden in den Kommentarband der neuesten Esopus-Edition aufgenommen, die Klerikersatire von Jan Mohr in Verbindung mit Stephanie Eikerling, Tamara Fröhler, Lisa Pütz, Sabrina Schäl, Nadine Schermer und Julia Viehweg kritisch kommentiert herausgegeben, siehe Burkard Waldis, Ein warhafftige Historien von Zweyen Mewssen (1543). Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Jan Mohr in Verbindung mit Stephanie Eikerling u. a. München 2015. 26 Vgl. zu Forschungsbeiträgen zu den anderen Werken die bibliographischen Angaben bei Lieb: Erzählen, S. 253–258. Zu ergänzen ist, dass seit 2015 im Rahmen der Edition des Gesamtwerks von Thomas Naogeorg nun auch die Übersetzung von Waldis vorliegt, siehe Burkard Waldis: Das Ppstisch Reych. In: Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. VI/6: Regnum Papisticum. Deutsche Fassung von 1555. Das Ppstisch Reych von Burkhard Waldis. Berlin, Boston 2015 (Ausgaben des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Erstaunlich ist die geringe Anzahl an Arbeiten zur Psaltervertonung, obwohl die „dem Meistergesang nahestehende stroph. Versifizierung des gesamten Psalters, laut Vorrede begonnen als Trost in der Rigaer Gefangenschaft, […] die früheste vollständige Psalterbearbeitung durch einen einzigen Autor [ist] u. […] wegen der Vielfalt der Strophenformen u. Beweglichkeit des sprachl. Ausdrucks als die bedeutendste in der ersten Hälfte des 16. Jh.“ zu gelten hat (Mohr, Mennecke-Haustein: Waldis, Burkhard, S. 95). Erwähnenswert ist der Umstand, dass noch immer der Forschung nicht bekannte Rezeptionszeugnisse der Fabeln im Esopus gefunden werden. So werden Waldis und ein Teil einer Fabel beispielsweise aufgeführt in Michael Fabris Kompilation Von der Allgemeinen Aufferstehung der Todten. Auß Gttlicher warer Schrifft/ an Zeugnissen/ Exemplen vnd lebendigen vorbilden/ Nach widerlegung mancherley gegenmeinung/ Auch auß Alten vnd Neuwen Scribenten [...]. Frankfurt a. M. 1564. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/4 Dogm. 201. Fabri nennt in seiner dem Haupttext vorangestellten Übersicht über die neben der Bibel berücksichtigten mancherley Scribenten auch Waldis: „Burghard Waldys/ ein Prediger vn̄ Scribēt vnser zeit“ (ebd., Bl. C ijr). Auf Bl. D ijv werden zum Thema Von der Allgemeinen Aufferstehung nach einem Verweis auf Luther die V. 49– 62 aus der Affabulatio der Fabel IV 46 Vonn einem krancken Bawren wiedergegeben, die vom den  





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Interesse am Esopus lässt sich auf die Wiederentdeckung durch Christian Fürchtegott Gellert zurückführen, der 1749 in der Anthologie Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln durch den Druck zweier Fabeln auf Waldis aufmerksam macht.27 Die Wertung der Fabeln ist ambivalent, jedoch im Vergleich mit den „ungehirnten Meistersnger[n]“ noch recht milde: Er weis die weitluftige und oft mssige Art zu erzhlen, die man ihm mit Recht vorwerfen kann, doch oft durch muntere Einflle und lebhafte Beschreibungen wieder gut zu machen. Und er ist mehr zu bedauren, daß er nicht zu einer bessern Zeit gelebet hat, als daß er den Schimpf seiner Zeit, und seiner verstmmelten Sprache entgelten sollte.28

Auch die davon angeregte Rezeption des Freiherrn von Gemmingen, welcher „ihn aus dem Staube hervorziehn“29 konnte, ist von der zeitgenössischen Rezeption des 16. Jahrhunderts als „Zeit[ ] der Barbarey und der Dunkelheit“ geprägt.30 Freiherr von Gemmingen nahm Waldis hauptsächlich unter der Annahme wahr, dass dessen Fabeln Vorlage für „Fontaine, Grecourt, Eredillon und viele andere“ gewesen wären.31 Die Rezeption von Waldisfabeln, häufig im Rahmen literarischer Aneignung, dauerte an, so folgten 1771 die Fabeln und Erzehlungen. Jn Burcard Waldis Manier durch Friedrich Wilhelm Zachariä.32 Mehrfach führte

fünften Laterankonzil unter Leo X. berichten. Auf den Verfasser der Verse wird sowohl in den vorangehenden Sätzen eingegangen: „Vnd ein ander gelehrter vnd erfarner/ auch ein Romanist/ in seinen Reymen (geschrieben anno 1548) setzt/ wie folgt“, auch auch in der Marginalie am linken Seitenrand: „Burghard Waldys in der 46. Fabel/ seinem 4. Buch an den Fablen Aesopi“. 27 Siehe Christian Fürchtegott Gellert: Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln (1746). In: Christian Fürchtegott Gellert: Schriften zur Theorie und Geschichte der Fabel. Historisch-kritische Ausgabe bearbeitet von Siegfried Scheibe. Tübingen 1966 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 18), S. 125–148, hier S. 138–140. 28 Ebd., S. 138. 29 Friedrich Wilhelm Zachariä: Fabeln und Erzhlungen in Burkard Waldis Manier. Neue Ausgabe mit einem Anhange von ausgewhlten Original=Fabeln des Waldis, und dazu nthigen Spracherklrungen begleitet von Johann Joachim Eschenburg. Hg. von Johann Joachim Eschenburg. Karlsruhe 1782, hier S. Vf. 30 Von Freiherr Eberhard Friedrich von Gemmingen: Schreiben ber Burckhard von Waldis. In: Poetische und Prosaische Stcke, von dem Freyherrn von G***. Neue, sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Braunschweig 1769, S. 82–106, hier S. 82. 31 Ebd., S. 84. 32 Zur Rezeption der Waldisschen „Erzählungsart“ (Josef Gassner: Über Zachariäs „Fabeln und Erzählungen in Burchard Waldisʼ Manier.“, 8. [34.] Jahresbericht des K. K. Staatsgymnasiums in Leoben 1905/1906. Leoben 1906, S. 3–40, hier S. 4) durch Zachariä, siehe Gassner: Über Zachariäs. Für eine Gesamtübersicht über Waldisfabeln in Teilausgaben und Anthologien siehe den gleichnamigen Abschnitt in Lieb: Erzählen, S. 234–237. In der Dokumentation fehlt eine Ausgabe von acht Fabeln, die von Eschenburg, welcher durch die posthume Herausgabe der Werke von Zachariä hervorgetreten ist, veranstaltet wurde: Der Druck einer „Auswahl einiger Fabeln und Erzhlungen

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Johann Gottfried Herder Waldis als vorbildlichen Fabeldichter auf und äußerte den Wunsch nach einer Neuedition.33 Im Geiste des 19. Jahrhunderts setzte als zweiter Schwerpunkt eine stoff-, motiv- und quellengeschichtliche Sammel- und Bestimmungsphase ein. Das Hauptverdienst liegt hierbei bei den Herausgebern der ersten zwei Editionen des Esopus. Heinrich Kurz legte 1862 in seiner Edition der Fabeln aus der Ausgabe von 1557 die Grundlage für die Untersuchung von Quellen und Motiven des Esopus.34 Aber erst Julius Tittmann machte in seiner Teiledition der Erstausgabe35 aus dem Jahr 1882 aus den zahlreichen äsopischen Fabelwerken im 16. Jahrhundert die Hauptvorlage für die ersten 283 Fabeln bekannt.36

von Burkard Waldis, mit dazu nthigen Spracherklärungen“ von 1777, siehe Jördens: Burkard Waldis, S. 188. 33 „Da winkt uns aber noch ein andrer, meinem Urtheil nach viel schätzbarerer Fabeldichter als Boner, es ist Burkard Waldis. Zachariä dichtete in seiner Manier und Eschenburg nahm Gelegenheit, sein Andenken wenigstens in einigen Proben zu erneuern; meinem Wunsche nach sollte, mit wenigen Ausnahmen, der ganze Burkard Waldis neu gedruckt werden. Seine Erzählung ist so natürlich und leicht; er hat eine so schöne Anschauung der Dinge um ihn her; seine Sentenzen, die oft länger als die Fabeln sind, schütten ein ganzes Füllhorn von Lehren, Bemerkungen, Sprüchwörtern, Erfahrungen aus, daß er schon als Gnomolog vor Vielem anderm, was in unsrer Zeit gedruckt wird, den Druck verdiente. Manche kleine Seite von ihm möchte ich lieber geschrieben haben, als große Geschichten und Lehrgebäude“ (Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter [1793]. 5. Sammlung, IV. Andenken an einige ältere Deutsche Dichter. Briefe 5. In: Herders Sämmtliche Werke. 33 Bde. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877–1913. Bd. 16. Berlin 1887, S. 222–226, S. 225). Nur ein Rezeptionszeugnis, keine Untersuchung ist der Druck der Fabel II 18 durch Eduard Pabst, siehe Eduard Pabst: Eine Fabel des Burkhard Waldis. Vom Hundt vnd Löwen. In: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv-, und Kurlands I (1868), S. 80–83. Das Verhältnis von Friedrich von Hagedorn und Christian Fürchtegott Gellert zu den Fabeln von Waldis war Gegenstand der Untersuchungen von Josef Gassner: Über den Einfluß des Burchard Waldis auf die Fabeldichtung Gellerts. Klagenfurt 1909 (59. Programm des Staats-Obergymnasiums zu Klagenfurt), S. 3–22; Josef Gassner: Der Einfluß des Burkhardt Waldis auf die Fabeldichtung Hagedorns. Klagenfurt 1905 (55. Programm des Staats-Obergymnasiums zu Klagenfurt), S. 3–26. 34 Siehe Heinrich Kurz: Einleitung. In: Esopus von Burkhard Waldis. 2 Bde. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Heinrich Kurz. Leipzig 1862 (Deutsche Bibliothek 1; 2). Bd. 1, S. V–XLVIII. 35 Unbegründet werden 40 Fabeln des vierten Buches nicht wiedergegeben, siehe Esopus. Bd. 2, S. 27. 36 Julius Tittmann: Burchard Waldisʼ Leben und Schriften. In: Esopus. Von Burchard Waldis, 2. Bde. Hg. von Julius Tittmann. Leipzig 1882 (Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 16; 17). Nachdruck Nendeln 1974, hier S. V–LXIV. In Einzelstudien ergänzte Arthur Ludwig Stiefel die Quellenangaben bei Kurz, siehe Arthur Ludwig Stiefel: Über den Esopus des Burkhard Waldis. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 3 (1903), S. 486–495; er weist nach, dass für einige Fabeln als Vorlage die Fabeln von Camerarius gedient haben könnten, so in Arthur Ludwig Stiefel: Zu den Quellen des ‚Esopus‘ von B. Waldis. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Neue Serie 9 (1902), S. 249–279; zur Vorlage von III 90 Von dreien

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Drittens beherrschte die Forschung ein großes Interesse am Leben und Wirken des Autors. Dies förderte einerseits wertvolle historische Zeugnisse zutage,37 wuchs sich andererseits aber auch in etwas abstruse Zuschreibungen von Alltagsgegenständen aus.38 Historische Zeugnisse dienten als Gerüst einer Biographie, die im weiteren Verlauf der Forschung unreflektiert mit den Aussagen eines Ichs im Esopus umkleidet wurden und in dieser Gestalt auch noch in neueste Forschungsbeiträge weitergetragen wurden.39

Mnchen: Arthur Ludwig Stiefel: Der Schwank von den drei Mönchen, die sich den Mund verbrannten. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 13 (1903), S. 88–90. Mit der Vorlagenbearbeitung befasste sich auch Eugen Wolff: Einleitung. In: Reinke de vos und satirisch-didaktische Dichtung. (Deutsche National-Litteratur 19). Hg. von Eugen Wolff. Stuttgart o. J., S. XXIV–XXXII. 37 Dazu zählen besonders die Arbeiten von Carl Schirren, der in seiner Untersuchung Carl Schirren: Livländische Charaktere. 2. Burchard Waldis. In: Baltische Monatsschrift 3 (1861), S. 503–524, Zeugnisse zum Leben Waldisʼ separat publizierte, die er in Carl Schirren: Verzeichniss livländischer Geschichts-Quellen in schwedischen Archiven und Bibliotheken. Dorpat 1861–1868, im größeren Zusammenhang versammelte. Carl Eduard Napiersky druckte 1857 das von Waldis handschriftlich verfasste Münzgutachten für die Stadt Riga ab, siehe Carl Eduard Napiersky: Burkard Waldis. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschiche Liv-, Ehst-, und Kurlandʼs 8 (1857), S. 330–336. Der erste Versuch einer umfangreichen Biographie findet sich bei Karl Goedeke: Burchard Waldis. Hannover 1852. Leben, Werk, Wirken und Persönlichkeit stehen im Mittelpunkt der Untersuchung von Hans Lindemann: Studien zu der Persönlichkeit von Burkard Waldis. Masch. Diss. Jena 1922, die sorgfältig das Gesamtwerk und potenzielle Quellen auswertet und den zeitgenössischen Forschungstand berücksichtigend Leben und historische Einflüsse aufarbeitet. Einen der Schwerpunkte bilden reformatorische Bestrebungen, so stellen schon die Kapitelüberschriften die Tätigkeit als „Verfechter des Protestantismus“ und „Bekämpfer des Katholizismus“ aus. Siehe ebenso Franz Ludwig Mittler: Nachwort. In: Herzog Heinrichs von Braunschweig Klagelied. Mit einem Nachworte über das Leben und die Dichtungen des Burkard Waldis. Hg. von Franz Ludwig Mittler. Kassel 1855, S. 13–49 sowie Georg Buchenau: Leben und Schriften des Burcard Waldis. Marburg 1858. Am umsichtigsten erweist sich in der frühen Forschung die Darstellung von Gustav Milchsack, siehe Milchsack: Burkard Waldis, S. 5–42, der die Archivalien von Schirren berücksichtigt. Ohne Erkenntniswert ist das populärwissenschaftliche Buch von Günther E. Th. Bezzenberger: Burkard Waldis. Mönch, Zinngießer, Pfarrer und Dichter. Kassel 1984. 38 So identifiziert Paul Schwenke den Codex Rara Luth 7160c, der sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz befindet, als aus dem Besitz von Waldis gehörend, siehe Paul Schwenke: Ein Buch aus dem Besitz von Burkhard Waldis. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 32 (1915), S. 219–221. Johannes Gahlnbäck meint, im Magazin des Felliner Museums eine Zinnkanne des Autors ausfindig gemacht zu haben, siehe Johannes Gahlnbäck: Eine Zinnkanne des Burchard Waldis. In: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 23 (1924–1926), S. 578– 582. Es handelt sich um eine Behauptung, die schon 1961 von Lutz Mackensen zurückgewiesen wurde, siehe Lutz Mackensen: Zur deutschen Literatur Altlivlands. Würzburg 1961 (Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis 18), S. 83. 39 Das Verfahren, den Lebenslauf von Burkard Waldis mit ungesicherten Stationen zu füllen, ist 2011 noch bei Cora Dietl zu De parabell vam vorlorn Szohn zu beobachten. Es ist nicht bezeugt, dass Waldis wirklich mit einer Gesandtschaft auf einem Reichstag anwesend war. Das literarische

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Viertens war das Interesse am Wirken von Waldis, besonders in Riga, regionalgeschichtlich begründet, Werke und Elemente der Biographie wurden u. a. mit sozialgeschichtlichen Schwerpunkten verknüpft.40 Eigenständige sprachgeschichtliche Studien sind zwar vorhanden, bilden aber nur einen marginalen Teil der Forschung.41 Erwähnenswert ist in diesem Bereich der Forschung die nahezu  

Schaffen an der Fabelsammlung in Riga in eine zeitliche Ordnung bringen zu wollen, ist rein spekulativ, die Aussage: „Zuerst schrieb er Fabeln, dann während eines erzbischöflichen Interregnums, brachte er zur Fastnachtszeit 1527 mit Bürgern der Stadt ein Schauspiel zur Aufführung“, ist nicht durch historische Quellen abzusichern, das Zitat in Cora Dietl: Zwischen Theologie, Laienunterweisung und Polemik. Die „Parabell vam vorlorn Szohn“ des Burkard Waldis im Kontext der Reformation in Riga. In: Deutsch als Wissenschaftssprache im Ostseeraum – Geschichte und Gegenwart. Akten zum Humboldt-Kolleg an der Universität Helsinki, 27.–29. Mai 2010. Hg. von Michael Prinz, Jarmo Korhonen. Frankfurt a. M. 2011 (Finnische Beiträge zur Germanistik 27), S. 203–216, S. 205. 40 Die Versuche Genaueres über die hessische Familiengeschichte von Waldis herauszufinden, wie etwa von Adolf Reccius: Alte Pfännerfamilien zu Allendorf in den Soden. Nr. 8: Waldis, Waldesa, Wallis, Walhauß. In: Nachrichten der Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck 7 (1932), S. 4–7, kommen über teils spekulative Auflistungen von Familienmitgliedern, wie dem vermutlichen Vater Hermann Waldis, und seinen Brüdern Urban, Christian, Hans und Bernhard nicht hinaus, da im Dreißigjährigen Krieg Aufzeichnungen aus Allendorf in Hessen, dem vermuteten Heimatort von Waldis, vernichtet wurden. Regionalgeschichtlich ist Waldis um die Jahrhundertwende und im beginnenden 20. Jahrhundert aufgrund seines Wirkens in Riga als interessant wahrgenommen worden, vgl. C. A. Berkholz: Burchard Waldis im Jahre 1527 in Riga. Ein Bild aus der vaterländischen Reformationsgeschichte. Riga 1855; Lutz Mackensen: Gedanken über die Rigaer Zeit des Burkard Waldis und die deutsche Literatur Alt-Livlands im 16. Jahrh. In: Zeitschrift für Volkskunde N. F. 8 (1938), S. 91–100 sowie der überarbeitete und im größeren Kontext veröffentlichte Beitrag von Lutz Mackensen: Zur deutschen Literatur Altlivlands. Würzburg 1961 (Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis 18), S. 59–83. 41 Der neueste Beitrag von Silvija Pavidis: „Id is all hyr tho Rige geschehn“: „De parabell vam vorlorn Szohn“ von Burchard Waldis als Quelle zur Erschließung des baltischen Mittelniederdeutsch. In: „Was liegt dort hinterm Horizont?“ Zu Forschungsaspekten in der (nieder)deutschen Philologie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. phil. habil. Dr. h. c. Irmtraud Rösler. Hg. von Imgmar ten Venne. Zugleich Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 12 (2002), S. 149–157, bietet keine neuen Erkenntnisse. Es bleibt bei einer Untersuchung im Konjunktiv: „Der Text bietet zahlreiche Variablen an, deren Untersuchung wertvolle Erkenntnisse erbringen würde, die die mnd. Sprache im Baltikum genauer und näher charakterisieren könnten“ (ebd., S. 156). Bereits Ende des 19. Jahrhunderts widmet sich Jonathan Hildner dem Konditionalsatz in den hochdeutschen Schriften des Burkard Waldis, siehe Karl August Jonathan Hildner: Untersuchungen über die Syntax der Konditionalsätze bei Burchard Waldis. Ein Beitrag zur Grammatik des Frühnhd. Leipzig-Reudnitz 1899. Zu niederdeutschen Einschlägen im Werk von Waldis und zu Zitaten im Esopus siehe Albert Leitzmann: Zu Burkard Waldis. In: PBB 52 (1928), S. 291–304. Der sprachlichen Überarbeitung des Tewerdanck widmet sich Theodor Heppner: Die Laut- und Flexionsverhältnisse in Burcard Waldisʼ Bearbeitung des Theuerdank im Verhältnis zu denen des Originals. Erlangen 1907; der Metrik im Gesamtwerk unter dem Aspekt des ‚Prinzips der natürlichen  

Zum Stand der Forschung

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vollständige Auswertung des Esopus als Quelle für das Grimmsche Deutsche Wörterbuch. In der Nachkriegszeit ist eine größere und tiefergehende Beschäftigung mit der Fabelsammlung in der Forschung nahezu ausgeblieben. Obwohl die Forschungslücke benannt wurde, sei es in Forschungsberichten42 oder in Bezug auf die Editionslage des Œuvres,43 sind die Aufrufe zu weiterführender Beschäftigung ohne erkennbare Wirkung geblieben. Die sich wandelnden Interessen und Fragestellungen der Literaturwissenschaft seit 1945 zeigten sich nicht oder nur sehr oberflächlich in den Untersuchungen der Fabeln im Esopus. In vergleichenden Aufsätzen und Monographien mit übergeordneter Fragestellung blieb es bei der punktuellen Untersuchung einzelner Fabeln44 oder der Unterordnung von Fabeln unter einen bestimmten Teilaspekt.45

Betonung‘ widmet sich Hans Kleinstück: Die Rhythmik der kurzen Reimpaare des Burkard Waldis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Metrik des 16. Jahrhunderts. Weida 1910, zum Versbau im Esopus siehe besonders S. 37–40 und S. 53–79. Im Rahmen seiner Studie zur Entstehungsgeschichte des Esopus besteht ein Schwerpunkt von Ernst Marten aus der Untersuchung der ‚Sprache‘ des Bibeldramas wie des Esopus. Dies umfasst die Reimstruktur, niederdeutsche, hessische und schriftsprachliche Einflüsse, siehe Ernst Martens: Entstehungsgeschichte von Burkard Waldis Esop. Göttingen 1907. Eine erste Versammlung von Sprichwörtern bzw. sprichwortartigen Phrasen schafft 1866 Franz Sandvoss, siehe Franz Sandvoss: Sprichwörterlese aus Burkhard Waldis mit einem Anhange: zur Kritik des Kurzischen B. Waldis und einem Verzeichniss von Melanchthon gebrauchter Sprichwörter. Friedland (Mecklenburg) 1866. Viele der von Waldis gebrauchten Sentenzen im Esopus sind in das Sprichwörter-Lexikon von Karl Friedrich Wilhelm Wander aufgenommen worden, siehe Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, 5 Bde. Hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander. Leipzig 1867–1880. 42 Riordan: Status, S. 292: „Obviously nothing of far-reaching importance has been achieved in the Burkhard Waldis studies since Goedeke, that is to say, for some fifty years. Consequently, there is a great opportunity for students of German literature to solve the many interesting and important problems associated with this figure“. 43 Ludger Lieb: Zur Edition sämtlicher Schriften des Burkard Waldis. In: Editionsdesiderate zur frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Gert Roloff, unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meincke. Bd. 1. Amsterdam 1997 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 24), S. 37–50. 44 Dies ist der Fall für die Fabel I 1 vom Hanen vnnd Perlen bei der Untersuchung von Klaus Speckenbach: Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 178–229; für I 40 von gliedern des Menschen vnd dem Bauch in der Monographie von Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983 (Mikrokosmos 50); für IV 93 Von der Gttin Juno vnnd Venus im Aufsatz von Dieter Beyerle: Von Juno, Venus und anderen Frauen: Zur Interpretation und Geschichte einer spätantiken Fabel (Romulus, Marie de France, Burkhard Waldis). In: Gestaltung – Umgestaltung. Beiträge zur Geschichte der romanischen Literaturen. Wertungen. Hg. von Bernhard König u. a. Tübingen 1990, S. 1–12. 45 So untersucht etwa Christiane Witthöft das Phänomen der ‚Immersion‘ auch anhand der Fabel vom Hund mit einem Stück Fleisch, der sein Spiegelbild für einen anderen Hund hält, und bei  

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Einleitung

In den letzten 30 Jahren ist nur eine einzige Monographie erschienen, die sich dem Esopus widmet und aktuelle literaturwissenschaftliche Fragestellungen an den Text herangetragen hat. Ludger Lieb gibt in seiner Dissertation Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum Esopus des Burkard Waldis von 1996 wichtige Impulse zur Analyse des Erzählteils der Fabel und dessen als ‚Autonomisierung‘ umschriebenen Gewinn an Eigenständigkeit. In der Arbeit wird dabei spezifisch nach der Fiktionalität der Fabeln und der Narrativik des Mundus Perversus in den Fuchs-Wolf-Fabeln im ‚neuen Teil‘ des Esopus gefragt.46 Die Gründe für die brachliegende Waldisforschung sind vielfältig, einer findet sich in der Relation des Erscheinungszeitpunktes der Waldisfabeln und der institutionellen Aufteilung des Faches Germanistik sowie dem Selbstverständnis der Teildisziplinen. Das 16. Jahrhundert liegt zwischen den Fachbereichen, so ist der germanistischen Mediävistik das Fabelwerk tendenziell zu spät, der Neueren Deutschen Literatur tendenziell zu früh entstanden.47 Der Esopus erscheint im Druck, hat nicht mehr

dem Versuch, seinem vermeintlichem Gegenüber das Stück Fleisch wegzunehmen, seine eigene Beute verliert. Herangezogen wird dafür auch die Bearbeitung dieses Stoffes im Esopus. Die Gemachtheit und literarische Einordnung der esopischen Fabeln scheinen aber irrelevant bei der Beantwortung dieser Fragestellung, eine andere Transformation dieses Stoffes hätte genauso für die Argumentation herangezogen werden können; vgl. Christiane Witthöft: Der Schatten im Spiegel des Brunnens. Phänomene der Immersion in mittelalterlichen Tierepen und Fabeln (Reinhart Fuchs). In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. LiLi 167 (2012), S. 124– 146, S. 130 f. 46 Die Trennung in einen ‚äsopischen‘ und einen ‚neuen‘ Teil des Esopus von Waldis geht auf die Monographie Liebs zurück und orientiert sich am Quellenbefund: „Mit den Begriffen ‚äsopischer‘ und ‚neuer‘ Teil des Esopus von Waldis bezeichne ich die Fabeln I 1 bis III 83 bzw. III 84 bis IV 100 (letztere nenne ich auch einfach die ‚neuen Fabeln‘). Das allein relevante Kriterium zur Unterscheidung beider Teile ist die Abhängigkeit von der lateinischen Vorlage (Aesopus Dorpii); sie endet bei Fabel III 83 [...]. Die Bezeichnung ‚äsopisch‘ soll nicht unterstellen, daß alle diese Fabeln auf Äsop zurückgehen oder auch nur den Gattungskonventionen der äsopischen Fabel genügen, sondern geht davon aus, daß der Aesopus Dorpii in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für die äsopische Fabelsammlung schlechthin gehalten wurde [...]. Im neuen Teil hat Waldis andere oder keine Vorlagen benutzt“ (Lieb: Erzählen, S. 9, Anm. 1). Die Arbeit leistet darüber hinaus u. a. vollständige Literaturlisten zu sämtlichen nachweisbaren Ausgaben aller von Waldis verfassten Werke (Ludger Lieb: Erzählen, S. 240–248), zu allen Waldisfabeln in Teilausgaben und Anthologien (S. 234–237) sowie die Forschungsliteratur zu sämtlichen Werken und zur Vita von Burkard Waldis (S. 253–258). 47 Das abwertende Urteil über dieses Jahrhundert reicht weit zurück. Erinnert sei nur an die immer noch wirkende Wellentheorie Wilhelm Scherers, der das 16. Jahrhundert zwischen den literarischen Höhepunkten der Stauferzeit und der Weimarer Klassik verortet: „Der tieffste Stand der deutschen Literatur, soweit wir ihren Verlauf beobachten knnen, fllt in das zehnte und sechzehnte Jahrhundert. Da ist unsere dichterische Bildung am geringsten; die Poesie verschwindet von der Tagesordnung, sie ist keine allgemeine Angelegenheit des Volkes, sie wird zu einem  



Zum Stand der Forschung

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Teil an der Handschriftenkultur und der frühneuhochdeutsche Knittelvers gilt sprachlich und ästhetisch als minderwertig.48 Zugleich sind verbindliche Hilfsmittel wie aktuelle Editionen zu Werken dieser Zeit, Wörterbücher sowie Grammatiken des Frühneuhochdeutschen erst im Entstehen oder nur rudimentär vorhanden.49 Ein erläuterndes Einführungswerk in die metrischen Formen des 16. Jahrhunderts ist bis heute ein Desiderat.50 Für nicht wenige Werke der Frühen Neuzeit muss noch immer auf Editionen des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen werden, deren Textgestalt mitunter, besonders aber deren Kommentar, aktuellen philologischen Ansprüchen nicht mehr genügt.51

Agitationsmittel, zu einem Werkzeuge praktischer Tendenzen oder zu einem Mittel rohester Unterhaltung“, siehe Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur. Mit einer Bibliographie von Josef Körner. 3. Auflage. Hg. von Oskar Walzel. Berlin 1921, S. 14. Zu diesem problematischen Zustand, dargestellt anhand der Literaturgeschichtsschreibung, zu Gründen wie Lösungsvorschlägen siehe Müller, Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung. 48 Theo Vennemann etwa spricht im Zusammenhang mit der Veränderung der Quantität vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen von einer „Phase der metrischen Unsicherheit bei den Poeten“, die entstanden sei, weil die Poeten, genannt wird als Beispiel Hans Sachs, ihren Vorbildern wie Hartmann von Aue zwar nacheifern wollen würden, dies jedoch nicht könnten. Dementsprechend sieht er den Zeitraum vom 14. bis zum 17. Jahrhundert als „ein drei Jahrhunderte währendes dunkles Zeitalter der deutschen Poesie“, siehe Theo Vennemann: Der Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter und sein Einfluss auf die Metrik. In: Quantitätsproblematik und Metrik. Greifswalder Symposion zur germanischen Grammatik. Hg. von Hans Fix. Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 42), S. 185–223, S. 203 f. 49 Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB), hg. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann ist seit dem Erscheinen des ersten Bandes 1989 bereits weit vorangeschritten, aber noch immer nicht abgeschlossen. Grundlegende Werke zum Frühneuhochdeutschen sind überschaubar, vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik von Robert P. Ebert u. a. Hg. von Oskar Reichmann, Klaus-Peter Wegera. Tübingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A 12); Christoph Roth: Kurze Einführung in die Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Heidelberg 2007; Christa Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Lexik aus Dichtung und Fachliteratur des Frühneuhochdeutschen. Tübingen 1996 sowie Alfred Goetze: Frühneuhochdeutsches Glossar. Berlin 1912 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 101). 50 Die Geringschätzung zeigt sich auch in der mangelnden institutionellen Verankerung des Frühneuhochdeutschen als eigene Sprachstufe im Lehrbetrieb. Schon die Vermittlung von Sprachkenntnissen als Grundlage von Literaturanalysen gestaltet sich im Vergleich zum im Zuge der Lachmannschen Editionsweise normalisierten Mittelhochdeutsch schwieriger. 51 Nicht zu unterschätzen ist, was keine wissenschaftliche Kategorie sein sollte, gleichwohl die Wahrnehmung von und Beschäftigung mit Texten lenkt, die ästhetische Beurteilung von Texten des 16. Jahrhunderts ausgehend von einem modernen und daher anachronistischen Verständnis von Ästhetik. Noch 2002 pepertuiert Heinz Schlaffer in einem literaturgeschichtlichen Essay Urteile des 19. Jahrhunderts und unterstellt der Literatur des 15./16. Jahrhunderts, dass sie keine Texte aufzuweisen habe, die „heute noch Leser vergnügen, erstaunen, anrühren könnte“, sie wird zusammen mit der Literatur des Mittelalters als „mißglückte Anfänge“ beurteilt oder im europäi 



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Einleitung

Insbesondere in der deutschsprachigen Fabelforschung zeigt sich die Vernachlässigung der Frühen Neuzeit als Forschungslücke. Die Beschäftigung mit Fabeln setzt innerhalb der Neueren Deutschen Literatur für gewöhnlich erst mit den Fabeln Lessings und seinen theoretischen Abhandlungen ein. Daher liegen sowohl für die Fabel im Mittelalter wie für die Fabel ab Lessing bis in die Moderne zahlreiche Untersuchungen vor, während die Fabelwerke des 16. und 17. Jahrhunderts entweder kaum beachtet wurden oder sich der Gattungsdefinition und den Fragestellungen, die anhand dieser Schwerpunkte gebildet wurde, zu beugen hatten. Die Fabeldefinition, die sich als allgemeingültig durchgesetzt hat und der bis heute Geltung zugesprochen wird, ist eine, die auf den Überlegungen zur Fabel von Lessing beruht, der sich wiederum an der klassischen antiken Fabel orientierte.52 Die Fabeln des Burkard Waldis, die unter anderen gesellschaftlichen wie literarischen Voraussetzungen und Bedingungen entstanden, reiben sich an und eignen sich mitunter nicht für die Herangehens- und Sichtweisen, die sich aufgrund des Lessingschen Fabelverständnisses in der Fabelforschung gebildet haben. Während die mittelalterliche Fabel in ihren Deutungen einem eher unhinterfragten Wertesystem von Tugenden und Lastern verpflichtet zu sein scheint und vielmehr ein statisches Weltmodell mit stabilen sozialen und politischen Zuständen stützt als Unsicherheiten zulässt, zeichnen sich die Fabeln der Frühen Neuzeit durch das Verhandeln bzw. sogar Schwinden solcher zuvor festen Größen aus. Auch die Quellenlage macht auf die Disparatheit zwischen der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Fabel aufmerksam. Die Fabeln von Erasmus Alberus und Burkard Waldis speisen sich nicht mehr aus der mittelalterlichen Tradition der überlieferten Romulusfabeln, wie sie für Boner und Steinhöwel noch grundlegend war. Stattdessen handelt es sich bei deren Fabeln um Bearbeitungen einer Fabelsammlung, die aus dem humanistischen Kreis um den Niederländer Martinus Dorpius hervorgegangen ist.53 Der Esopus ist zusätzlich im Vergleich mit zeitgenössischen Fabelsammlungen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von der Norm der klassischen Fabel abweichend. Nur beispielhaft

schen Vergleich als „Serie [von] Verspätungen“ abgetan (Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002; die Zitate auf S. 36, S. 22, S. 38). 52 Ebenso im Reallexikon für Literaturwissenschaft, siehe Klaus Grubmüller: Fabel2. In: RL. Bd. 1, S. 555–558. 53 Auskunft über die Quellen der beiden Autoren geben am ausführlichsten und genauesten die Kommentare der jüngsten Editionen. Für Erasmus Alberus siehe Erasmus Alberus: Die Fabeln. Die erweiterte Ausgabe von 1550 mit Kommentar sowie die Erstfassung von 1534. Hg. von Wolfgang Harms und Herfried Vögel in Verbindung mit Ludger Lieb. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 33), hier S. 266–376, für Waldis siehe Esopus. Bd. 2, S. 31–357.

Zum Stand der Forschung

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sei hingewiesen auf die Aufnahme ursprünglich fabelfremder, d. h. nicht äsopischer, Erzählungen wie Fazetien, Mären, Witze oder Schwänke im Erzählteil und der Aufnahme von Elementen wie Antiken- und Bibelzitate, Sprichwörter, Exempel, Erzählungen und einem Sprecher-Ich, das als Deuter wie als Erzähler auftritt. Statt aber den Eigenheiten und der Gemachtheit der esopischen Fabeln eine eigene Geltung zuzuschreiben und nach den Bedingungen ihrer Entstehung zu fragen, blieb es unreflektiert bei Wertungen und traditionell eingeübten Etiketten wie denen der ‚reformatorischen‘ Fabel oder der ‚bürgerlichen‘ Fabel. Ein weiterer, wenn auch eher marginaler Grund für das geringe Interesse mag schließlich die frühere Editionslage gewesen sein. Nahezu alle der bisher genannten Untersuchungen mussten für eine Gesamtedition des Esopus auf die Ausgabe von Heinrich Kurz aus dem Jahr 1862 zurückgreifen, die den Text des Drucks von 1557 bietet und einen Kommentar, der nicht den heutigen Ansprüchen genügt. Seit der letzten Monographie zum Esopus aus dem Jahr 1996 hat sich die Wahrnehmung des 16. und 17. Jahrhunderts jedoch verändert. So hat sich ein Bewusstsein etabliert, die Frühe Neuzeit als eigene Epoche in der Literaturwissenschaft wahrzunehmen: „in den letzten etwa fünfzehn Jahren [hat] die Erforschung der frühneuzeitlichen Philologiegeschichte, und zwar sowohl die der textkritischen und kommentierenden Praktiken als auch die der Hermeneutik, einen enormen Aufschwung erfahren“,54 erste Lehrbücher, die sich dezidiert mit der Frühen Neuzeit beschäftigen finden sich auf dem Buchmarkt.55 Die Fortsetzung des literaturwissenschaftlichen Verfasserlexikons, die sich der Frühen Neuzeit in Deutschland 1520–1620 widmet, ist abgeschlossen. In der Frühneuzeit-Forschung wurden Konzepte und Leitbegriffe auf ihre Eignung untersucht, um Konstitutionsbedingungen und Basisstrukturen der Frühen Neuzeit greifbar zu machen. Doch nicht nur in großen Leitthesen, auch in einer Vielzahl einzelner, voneinander unabhängiger Untersuchungen wurde die Frühe Neuzeit nicht mehr nur als Sattelzeit, Schwelle oder etwa Vorstufe der Moderne, sondern als geschichtlicher Zeitabschnitt mit einem eigenen Profil anerkannt. Seit 2011 liegt nun auch die Edition des Esopus von Ludger Lieb, Jan Mohr und Herfried Vögel vor, die nicht nur den Text der Erstausgabe von 1548 nach modernen editorischen Richtlinien bietet, sondern einen umfassenden Kommentar zu sprachlichen, literatur- und  

54 Kai Bremer: Die frühe Neuzeit – ein Trümmerfeld. Über Anfänge und Ursprünge der Neueren deutschen Literatur. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Hg. von Marcel Lepper, Dirk Werle. Stuttgart 2011 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 1), S. 39–51, S. 49. 55 Vgl. Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008 (Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft), worin auf S. 58 auch Waldis mit seinem Drama De parabell vam vorlorn Szohn Aufnahme gefunden hat.

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kulturhistorisch erläuterungsbedürftigen Textstellen liefert. Die Quellen wurden, soweit möglich, ermittelt, Sprichwörter, Redewendungen, Zitate aus der Bibel und antiken Werke nachgewiesen, dunkle Stellen erhellend kommentiert. Den Herausgebern ist es auch zu verdanken, dass die Fabelsammlung wieder ein Gegenstand in Forschungsbeiträgen geworden ist. So hat Mohr die Rezeptionsgeschichte des Esopus im 18. und 19. Jahrhundert aufgearbeitet56 und Vögel untersuchte, unter Einbezug grundsätzlicher Fragen – wie der nach dem historischen Gattungsverständnis und Formen der Fabelauslegung – die Verarbeitung von Schwankstoffen im Esopus.57 Eine aktualisierende, monographische Analyse des Esopus blieb dennoch bis jetzt ein Desiderat.

56 Siehe Jan Mohr: Gnomologie und Histörchen. Zur Rezeption von Burkard Waldis’ Esopus im 18. Jahrhundert. In: Die europäische Fabel des 18. Jahrhunderts zwischen Pragmatik und Autonomisierung. Traditionen, Formen, Perspektiven. Hg. von Dirk Rose. Bucha bei Jena 2010 (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 26), S. 55–82. 57 Siehe Herfried Vögel: „mit jrer kurtzen deutung hinan gesatzt“. Fabelhafte Schwänke im Esopus des Burkard Waldis. In: Ordentliche Unordnung. Metamorphosen des Schwanks vom Mittelalter bis zur Moderne. Festschrift für Michael Schilling. Hg. von Bernhard Jahn, Dirk Rose, Thorsten Unger. Heidelberg 2014, S. 131–147.

1 Tradition und Transformation „Nach dem ich jetzt nur Fabeln schreib“ (III 92,174)

1.1 Zur „form vnd ordnung“ (Vorrede, Z. 29) der Fabelsammlung Esopus Formal übertrifft der Esopus mit 400 Fabeln in 22.909 Knittelversen „alle zuvor oder später im 16. Jahrhundert publizierten Fabelsammlungen an Umfang“.58 Der Aufbau der Sammlung ist strukturiert, die Makrostruktur wurde als ‚linear‘ und ‚kompilatorisch‘ beschrieben, die Fabelsammlung als ‚einfache‘ Fabelsammlung kategorisiert.59 Die Präsentation „nach außen in einem homogenen Gewand“60 verdeckt, dass sich das Werk in vieler Hinsicht durch Heterogenität auszeichnet.61 Das, was sich dem Leser bei der Lektüre präsentiert, der Inhalt und die Gemachtheit sowohl der Fabelerzählungen als auch der Affabulationes, ist im Anschluss an die Betrachtung der peritextuellen Einkleidung in den Blick zu nehmen. Zuerst steht die Gemachtheit des Esopus in Bezug auf Quellenlage und Bearbeitungstendenzen von Waldis im Mittelpunkt der Analyse. Die quantitative Aufschwellung ist zum einen bedingt durch Bearbeitungsverfahren der Einzelfabel, auf

58 Esopus. Bd. 2, S. 3. 59 So Sabine Obermaier für die Frage nach „Formen der Integration von Fabeln in Fabelsammlung und Tierepos“ in Sabine Obermaier: Erzählen im Erzählen als Lehren im Lehren? In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S. 99–125, eine tabellarische Übersicht auf S. 103. Diese Beurteilung basiert auf einer „einfache[n] Vier-Felder- (oder besser, weil flexibler: Vier-Pole-)Typologie“ (ebd., S. 101). ‚Kompilatorisch‘ bezieht sich auf die Verknüpfung der Fabeln und „liegt vor, wenn die Fabeln – wie z. B. in Ulrich Boners ‚Edelstein‘ oder Heinrich Steinhöwels ‚Esopus‘ – einfach nebeneinander gestellt werden, ohne einen logisch-sukzessiven Handlungszusammenhang zu ergeben“ (ebd., S. 12). ‚Linear‘ bezieht sich auf die Struktur der Sammlung, „wenn Fabel neben Fabel steht bzw. Fabel auf Fabel folgt und nicht – wie bei der intratextuell organisierten Struktur – eine Fabel in eine andere Fabel eingebettet ist“ (ebd.). Dadurch entsteht zwar die Clusterbildung von mehreren Beispielen von Fabelsammlungen wie die Fabelsammlungen von Romulus und Avian, Boners Edelstein, Steinhöwels Äsop oder auch Luthers Fragment einer Fabelsammlung. Es wäre aber vonnöten zugleich nach dem Mehrwert einer solchen Einordnung für die Interpretation der einzelnen Fabel oder der Sammlung zu fragen. 60 Lieb: Erzählen, S. 208. 61 So schon im Fazit Liebs: „Aus der Entscheidung, Einzelanalysen den übergreifenden Verallgemeinerungen vorzuziehen, folgt eine gewisse Unsicherheit etwa bei der Einordnung in die Literaturgeschichte oder bei der Formulierung von Ergebnissen. Dies liegt letztlich schon im Gegenstand begründet, denn der Esopus ist ein in vieler Hinsicht heterogenes Werk“ (Lieb: Erzählen, S. 207).  

https://doi.org/10.1515/9783110613155-002

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1 Tradition und Transformation

welche besonders im vierten Kapitel dieser Arbeit eingegangen wird. Zum anderen bewirkt dies die Sammlungstätigkeit des Autors. Diese lässt sich in zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Einerseits greift Waldis auf bereits im Druck nachweisbare Texte zurück. Andererseits finden sich im Esopus Erzählungen, die zuvor nicht nachweisbar sind, sodass davon ausgegangen werden muss, dass entweder mündlich tradierte Geschichten erstmals schriftlich festgehalten oder neue Geschichten von Waldis erfunden und aufgeschrieben werden. Der Rückgriff auf bereits Vorhandenes lässt sich erneut aufteilen in die Bearbeitung einer umfangreichen Sammlung sowie in die Aufnahme zahlreicher zuvor eigenständiger Einzeltexte. Diese integrierende Form des Sammelns begünstigt nicht nur die inhaltliche Vielfalt an Erzählungen, sondern bewirkt auch eine Zunahme an Textsorten, denn die 117 verschiedenen separat überlieferten Erzählungen lassen sich anderen Gattungen als der Fabel zurechnen. Integriert werden in den Esopus Fazetien, Märchen, Mären, Witze, Anekdoten, Schwänke und Episoden aus der Tierepik. Eine Unterscheidung etwa nach Herkunft der Erzählung oder möglicher ursprünglicher Wirkintention wird von Waldis struktuell oder peritextuell nicht vorgenommen. Eine Erzählung mag einleitend als „ein lecherlicher boß“ (IV 31,2) ausgewiesen werden; auf das beschriebene Ereignis von einem betrunkenen Pfarrer, der in der Messe einschläft, folgt aber ebenso eine Affabulatio wie bei den anderen 399 Fabeln.62 Im Folgenden soll, ausgehend von der Hauptvorlage des Esopus, die die Grundlage für die ersten 283 Fabeln lieferte, näher auf die Anordnung und die peritextuelle Einkleidung der Fabeln in der Sammlung eingegangen werden.

1.1.1 Die Anordnung der Fabeltexte in der Hauptvorlage Aesopus Dorpii Der sogenannte Aesopus Dorpii, die „wichtigste lateinische Fabelanthologie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, so Adalbert Elschenbroich, beruht auf der Zusammenarbeit eines niederländischen Humanistenkreises. Initiatoren waren der Professor der Theologie, Martinus Dorpius in Löwen, und der Buchdrucker Thierry Martens.63 Die Sammlung besteht in ihren frühen Ausgaben ab dem Jahr

62 Außerdem ist zu beachten, dass für den Schwank typische Verlaufsformen von Auseinandersetzungen wie der Versuch einer Figur, eine andere zu betrügen, oder die Abfolge von List und Gegenlist bereits Bestandteil traditioneller äsopischer Fabeln sind wie etwa die gegenseitige Essenseinladung von Fuchs und Storch, die dem Gast jeweils Geschirr vorsetzen, von dem der andere nicht essen kann (bei Waldis I 27). 63 Adalbert Elschenbroich: Sammeln und Umgestalten Aesopischer Fabeln bei den Neulateinern des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 14 (1985), S. 1–63, S. 9. Der komplette Abschnitt zum Aesopus

1.1 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus

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1513 aus Fabelbearbeitungen von Guilielmus Hermannus Goudanus und Hadrianus Barlandus64 und einigen weiteren Anfügungen.65 Im Laufe weiterer Ausgaben hat die Anzahl der Autoren stets zugenommen. Im Korpus der Ausgaben ab 1521 – dies ist die erste Ausgabe, die aufgrund ihres Textbestandes als Vorlage für den Esopus gelten kann – sind folgende Fabelautoren und -bearbeiter vertreten: Guilielmus Goudanus. Hadrianus Barlandus. Erasmus Roterodamus. Aulus Gellius. Laurentius. Angelus Politianus. Petrus Crinitus. Ioannes Antonius Campanus. Plinius s[e]cundus novocomensis. Nicolaus Gerbelius Phorcensis. Laurentius Abstemius,66

und aufgrund der zu Beginn der Sammlung wiedergegebenen Äsop-Vita Maximus Planudes. Augenfällig wird die strukturelle Verschiedenheit der beiden Werke bereits beim Vergleich der Titelblätter. Waldis spricht die Fabeln über seine Titelwahl und Präsentation innerhalb der Sammlung allesamt einer Autorität zu, dem sagenhaften Gattungsgründer Äsop. Einzig der Autor Waldis als ‚Neu-Macher‘ tritt in ein potenziell konkurrierendes, über das ‚Neu machen‘ aber primär ergänzendes Verhältnis zu dieser Autorität.67 Dem gegenüber steht der Aesopus Dorpii – dies ist im Übrigen wie so häufig in der Fabelforschung ein von der Forschung verliehener Titel – als eine Fabel-

Dorpii findet sich auch in der fünf Jahre später erschienenen Monographie, siehe Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel, S. 38–42. 64 Eine kommentierte Übersicht über die Druckgeschichte des Aesopus Dorpii findet sich bei Paul Thoen: Aesopus Dorpii. Essai sur l’Esope latin des temps modernes. In: Humanistica Lovaniensia 19 (1970), S. 241–320, hier S. 247. Unter Ausschluss einiger nicht mehr als existent nachweisbarer und undatierter Ausgaben wertet Elschenbroich die Nr. 5 in der Bibliographie von Thoen als „Editio princeps des „Aesopus Dorpii“ (Löwen 1513). Dieser Bestand bildete den Grundstock, der in allen späteren Auflagen unangetastet blieb“ (Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel, S. 39). Letzteres schon bei Thoen: „L’édition 5 formera le noyeau de toutes les suivantes“ (Thoen: Aesopus Dorpii, S. 250). 65 Neben den Fabelbearbeitungen druckte Dorpius „neun ‚Apologi ex Chiliadibus Adagiorum Erasmi desumpti ad communem Puerorum fructum‘ sowie einige aus antiken und italienischen Autoren exzerpierte Fabeln“ (Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel, S. 39) ab. Die gesamte Übersicht über den Aufbau der Ausgabe mit Wiedergabe der Zwischentitel bei Thoen: Aesopus Dorpii, S. 249 f. 66 Fabularum quae hoc libro continentur interpretes, atque authores sunt hi. Guilielmus Goudanus. [...]. [Hg. von Martinus Dorpius]. Straßburg 1522, Titelblatt. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit dem Kurztitel Aesopus Dorpii verwiesen. Grundlage für die Untersuchung des Aesopus Dorpii ist das Exemplar von 1522, gedruckt in Straßburg, München, Bayerische Staatsbibliothek: A.gr.b. 222. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine „Réimpression, page pour page“ (Thoen: Aesopus Dorpii, S. 256) der Ausgabe von 1521. Sie kann daher als Grundlage für den Fabelbestand herangezogen werden, der für den Esopus von Bedeutung ist. 67 Siehe hierzu ausführlich das Kapitel „Autor-Ich“, S. 182–189.  

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1 Tradition und Transformation

sammlung, welche die Pluralität ihrer humanistischen Fabelbearbeiter peritextuell ausstellt und diese als einzelne Autoritäten präsentiert. Entgegen der Erwartung, die dieser sekundär eingeführte Titel weckt, ist Äsop nicht als Fabelautor auf dem Titelblatt vertreten. Stattdessen werden an dieser Stelle in der Sammlung vertretene Fabelbearbeiter als Autoren aufgeführt, selbst wenn in der Sammlung nur eine Fabel unter deren Namen wiedergegeben ist.68 Innerhalb der Sammlung dient im Seitenspiegel eine Überschrift, die auf die linke und rechte Seite verteilt ist, der ersten Orientierung des Lesers. Hierbei wird eine Unterscheidung vorgenommen zwischen den Fabeln von Laurentius Abstemius,69 dessen Fabeln im Seitenspiegel stets mit FABULAE ABSTEMII überschrieben sind, und den Fabeln aller anderen Fabelbearbeiter, die im Seitenspiegel als AESOPI FABULAE markiert werden. Durch Überschriften wie AESOPI FABULAE HADRIANO BARLANDO INTERPRETE70 und durch Vorreden der einzelnen Autoren werden jedoch auch deren Fabelkorpora voneinander unterschieden, und bei einem Autorenwechsel wird in den Peritexten markiert, von welchem Autor welche Fabeln jeweils gedruckt werden. Das vorangestellte Register berücksichtigt wiederum alle Fabeln, unabhängig des humanistischen Autors. Mit diesem Register wird dem Leser in dieser Sammlung die Möglichkeit gegeben, trotz der Autorenvielfalt bei Kenntnis der Fabelfiguren eine bestimmte Fabel schnell nachzuschlagen. Das Verzeichnis, der INDEX FABVLARVM OMNIVM QVAE hoc libello continentur secundum ordinem Alphabeti,71 ist alphabetisch nach den Fabelfiguren sortiert und erlaubt so einen direkten Zugang etwa zur Fabel von Wolf und Lamm auf Blatt eins.72 Im Vordergrund steht die Fabel und ihr Inhalt, nicht der humanistische Autor. Auch der Esopus weist als letzten Bestandteil am Ende der Fabelsammlung ein Register auf. Dieses ist ebenfalls nach den Überschriften der Fabeln und daher nach den Fabelfiguren sortiert. Während das Register im Aesopus Dorpii jedoch über die alphabetische Ordnung der Fabelfiguren einen alternativen Zugriff auf die Fabeln ermöglicht, ist dies in der Sammlung von Waldis nicht gegeben. Das Register im Esopus redupliziert

68 So im Falle von Angelus Politianus, Petrus Crinitus, Livius und Nikolaus Gerbelius. Es handelt sich bei der Sammlung um eine bunte Mischung von humanistischen Autoren aus den Niederlanden, antiken Dichtern, italienischen Humanisten, einem deutschen Vertreter des Humanismus und einem mittelalterlichen byzantinischen Gelehrten. 69 Diese sind auf Bl. 40v–69r wiedergegeben. Auf Bl. 40r wird sogar durch einen eigenen Peritext nochmals explizit auf das Ende äsopischer Fabeln hingewiesen: „FABVLARVM AESOPI FINIS“. Das Ende der Fabeln von Abstemius wird in der gleichen Weise auf Bl. 69r markiert: „FABVLARVM ABSTEMII FINIS“. 70 Aesopus Dorpii, Bl. 14r. 71 Registerüberschrift des Aesopus Dorpii, ohne Blattzählung. 72 Peri- und Fabeltexte sind eigens gezählt, daher beginnt die Wiedergabe der Fabeln auf Bl. 1r.

1.1 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus

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lediglich die Zählung und Anordnung der Fabeln, es ist also ein Inhaltsverzeichnis im heutigen Sinne. Es verdeutlicht nochmals die Einteilung der Sammlung in viermal hundert Fabeln. Ein Querlesen der Sammlung etwa über Stichworte im Register ist nicht möglich. Neben den bisher geschilderten Elementen der Makrostruktur der Werke wie Titelblatt, Präsentation der Fabeln und Register bietet auch ein Vergleich der Anordnung der Fabeln einen wichtigen Einblick in die Arbeit des Autors am Esopus. Waldis folgt zu Beginn seiner Fabelsammlung bei der Anordnung eng der Vorlage, so wird im gesamten ersten Buch die Reihenfolge der Vorlage eingehalten.73 Übernommen werden Fabeln von Goudanus (I 1–I 45), Barlandus (I 46– I 85) und nochmals Goudanus (I 86–I 100). Einzig die Goudanusfabel De Simia et eius Prole, die zwischen den Vorlagen der Fabeln I 98 und I 99 steht, wird ausgelassen.74 Damit wird die doppelte Bearbeitung eines Stoffes vermieden, denn der Stoff der Fabel wurde bereits in I 81 in der Bearbeitung von Barlandusʼ De Iove et Simia verarbeitet. Im zweiten Buch mehren sich Umstellungen und Weglassungen. Die im Aesopus Dorpii durch die Wiedergabe von Bearbeitungen weiterer Autoren vermehrte Doppel- oder Dreifachbearbeitungen eines Fabelstoffes werden von Waldis getilgt. Die Orientierung an der Abfolge der Vorlage ist jedoch unverkennbar. Der erste Eingriff in die Anordnung der Fabeln geht allerdings gerade nicht auf die Tilgung einer Doppelbearbeitung zurück. Im Aesopus Dorpii folgt auf die Goudanusfabel De Tigride et Vulpe die Erzählung De Tauris et Leone. Waldis vertauscht die Fabeln, auf II 1 Von den Ochssen/ Vnd dem Lwen folgt II 2 Vom Weydeman/ vnd dem Tyger. Für die in seiner Sammlung erst geschaffene exponierte Stelle an den Buchgrenzen entscheidet sich Waldis für eine Abweichung von der Fabelanordnung der Vorlage. Damit führt Waldis fort, was in äsopischen Fabelsammlungen Tradition hat: Die Auswahl der ersten Fabel eines Buches erfolgt nicht willkürlich. Bei der ersten Fabel des ersten Buches folgt Waldis mit der Fabel von Hahn und Perle der Vorlage und stellt damit auch seinem Esopus die seit Marie de France traditionelle Einstiegsfabel von Fabelsammlungen voran, die über die Thematik des ‚Erkennens‘ poetologische Aussagen zum Verständnis der Fabel verhandelt.75 Für die Auswahl der jeweils ersten Fabel des zweiten, dritten und vierten Buches gibt es keine Tradition, auf die Waldis hätte zurückgreifen könnte. Die vier bucheröffnenden Fabeln korrespondieren auch nicht thematisch miteinander. Die erste

73 Siehe die Konkordanz in Esopus. Bd. 2, S. 447–458. 74 Der Stoff der Fabel wurde bereits in I 81 in der Bearbeitung von Barlandusʼ De Iove et Simia verarbeitet. 75 Untersucht hat dieses Phänomen in Fabelsammlungen vom Mittelalter bis in die Neuzeit Klaus Speckenbach in Speckenbach: Die Fabel von der Fabel, S. 178–229.

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Fabel des zweiten Buches Von den Ochssen/ Vnd dem Lwen handelt von „Brgerliche[r] einigkeyt“ (II 1,40) und „Vneinigkeyt“ (II 1,41). Erzählt wird von der erfolgreichen List des Löwens, der auf zwei Ochsen trifft, die sich zum Schutz vor bösen Tieren durch „Contract“ (II 1,3) und „Eydes pact“ (II 1,4) verbünden. Der Löwe berichtet ihnen mit „schmeychelworten“ (II 1,17) von einer „New zeitung“ (II 1,20). „Jupiter vnser gmeyner Gott“ (II 1,21) habe beschlossen, dass ein „ewiger fried“ (II 1,25) unter den Tieren herrschen solle. Bei einem Verstoß drohe der Bann. Die Ochsen glauben dem Löwen und einer der beiden wird, nachdem sie sich getrennt haben, vom Löwen gerissen.76 II 1 steht in ihrer Behandlung der Vorteile einer Kollektivbildung in einem Gegensatz zu III 1 Vom Poeten vnd Bawren, in welcher von der geschäftigen Abgesondertheit des Gelehrten erzählt wird. Das vierte Buch ist schließlich aufgrund der Quellenlage unabhängig vom Aesopus Dorpii und mit dem Novitätsanspruch bereits im Titel besonders hervorgehoben. Doch nicht aufgrund der Integration ursprünglich fabelfremder und eigenständiger Erzählungen, auch anhand der Makrostruktur des Esopus zeigt sich, dass Waldis nicht den Anspruch hat, seine Vorlage zu imitieren, sondern eine eigenständige Arbeit zu schaffen.

1.1.2 Die Anordnung der Fabeltexte im Esopus Die Fabelsammlung von Waldis präsentiert sich auf der Textoberfläche als kompakte, geschlossene Texteinheit mit dem Kurztitel Esopus, welche in vier Büchern je 100 Fabeln fortlaufend zählend vereint. Ein direktes Vorbild für eine Gliederung von Fabeln in vier Büchern mit je 100 Fabeln existiert für den Esopus von Waldis nicht. Allerdings teilt etwa Steinhöwel in seiner deutsch-lateinischen Erstausgabe

76 Zur Interpretation dieser Fabel als „eine Vorform des Sondertyps ‚Fabel in der Fabel‘“, siehe Lieb: Erzählen, S. 100 f. Lieb nimmt bei der Betrachtung der Anordnung von Fabeln auch die letzten Fabeln der vier Bücher in den Blick. Beispielhaft sei auf die letzte Fabel des zweiten Buches eingegangen. In der Erzählung verspricht ein alter Mann einem befreundeten Geistlichen, dass er nun im Alter endlich das Laster der Unkeuschheit meiden würde. Dies falle ihm umso leichter, da ihm, nachdem man ihm „lang den Henger gflucht“ (II 100,25) habe, nun „der Stender schwach“ (II 100,27) geworden sei. Lieb analysiert die Fabel unter dem Aspekt des ‚Wortwitzes‘ sowie einer „Dreiteilung, die als Struktur des Stoffes (Mahnung – Einverständnis – Begründung) zu verstehen ist“ (Lieb: Erzählen, S. 51). Die „erzählerische Besonderheit dieser Geschichte dürfte auch der Grund sein, weshalb Waldis sie durch Einfügung der Fabel II 99 Vom Kalen/ vnnd der Fliegen an den Schluß des zweiten Buchs verschiebt. Die damit erreichte Sonderstellung korrespondiert mit dieser Besonderheit. Auch die Verstellung der Fabel II 2 (Dorpius Nr. 102) und II 1 (Dorpius Nr. 103) weist darauf hin, daß Waldis Anfang und Ende der einzelnen Bücher für wichtige Positionen im Gesamtwerk hielt“ (Lieb: Erzählen, S. 49, Anm. 147).  

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der Fabeln Äsops die Äsop zugeschriebenen Fabeln, die auf dem Korpus der Romulusfabeln basieren, in vier Bücher ein: „Finis quarti libri Esopi viri ingeniosi, nec plures eius libri inveniuntur“.77 Diese vier als libri Esopi ausgewiesenen Bestandteile der Steinhöwelschen Fabelsammlung beinhalten jeweils lediglich 20 Fabeln. Der Esopus des Burkard Waldis weist demgegenüber mit 100 Fabeln pro Buch deutlich mehr Fabeln auf. Läse man die Anordnung als Hinweis eines gewollten Überbietungsanspruchs, so würde Waldis mit seinem Esopus allein aufgrund der formalen Kriterien von Quantität und Anordnung die Fabelsammlung Steinhöwels übertreffen, der „eine geradezu explosionsartige Verbreitung im gesamten südwestdeutschen Kulturraum“ zugesprochen werden kann,78 und die den Anspruch, Der teütsch Esopus schlechthin zu sein, auf dem Titelblatt späterer Ausgaben formuliert79 und diesen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch einlöst. Eine Sammlung von Kleintexten auf hundert anzulegen, ist allerdings kein singuläres Phänomen in der Literaturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, erinnert sei als prominente Vertreter der Kleinepik an das Dekameron oder an den früher verfassten Il Novelino, dessen weiterer Titel Le ciento novelle antiche (‚Hundert alte Novellen‘) schon auf die Hunderterstruktur hinweist. Im Bereich der deutschsprachigen Fabelsammlung sei hingewiesen auf das Werk von Ulrich Boner, der ersten Kompilation, die „als geschlossene Sammlung angelegte und von einem Autor verantwortete ‚Gesamtausgabe‘ äsopischer Fabeln in hd. Sprache“ gewertet werden kann.80 Ein direktes Vorbild für Waldis, auf das womöglich angespielt wird, sollte darin nicht erkannt werden.81

77 Steinhöwels Äsop. Hg. von Hermann Österley. Tübingen 1873 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 117), S. 191. 78 Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken. München 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 77), S. 127 f. 79 So das Exemplar von 1504, gedruckt von Froschauer in Augsburg, Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/2 A.gr.b. 13; erstmals scheint diese Titelwahl 1498 im Druck von Johann Schönsperger vorgenommen worden zu sein; siehe Gerd Dicke: Heinrich Steinhöwels ‚Esopus‘ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 103), hier S. 414. 80 Klaus Grubmüller: Boner. In: VL. Bd. 1, Sp. 947–952, Sp. 949. 81 Auch ist dieser Umfang, bedingt durch die in der Handschriftenkultur gegenüber dem Druck größere und schneller fabrizierte Variabilität von Umfang und Anordnung, nur in vier Handschriften der Überlieferung, die Franz Pfeiffer in seiner Ausgabe aufführt, gegeben, vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein. Hg. von Franz Pfeiffer. Leipzig 1844 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 4), S. 186–188. Das Werturteil des 19. Jahrhunderts, dass diese als ‚erste Familie‘ bezeichnete Handschriftengruppe trifft, ist mit Vorsicht zu genießen: „Die Handschriften ABCD geben allein den echten ursprünglichen Text“ (ebd., S. 188). Der Bamberger Druck von 1461, der für die  

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Im Esopus sind die einzelnen Bücher zu Beginn jedes Buches peritextuell als eigenständige Komplexe markiert, wie etwa Das Ander Buch/ der Fabeln Esopi oder auch Das Dritte Buch/ der Fabeln Esopi. Im Seitenspiegel ist zusätzlich stets auf jeder Voderseite per Seitenüberschrift markiert, in welchem Buch sich der Leser befindet, und jede der 100 Fabeln hat über eine römische Zählung ihren festgefügten Platz in der Sammlung. Jede einzelne Fabel besitzt neben der Zählung eine Überschrift, die sich an den Fabelfiguren orientiert, so etwa im zweiten Buch Die xxiiij. Fabel/ Von zweien Gesellen/ vnd dem Esel. Jeder der 400, stets mit ‚Fabel‘ überschriebenen Texte, ist in sich zweigeteilt. Ein Alinea-Zeichen trennt durchgängig die Fabelhandlung von der Deutung der Fabel graphisch ab. Eine Ausnahme stellen lediglich zwei Fabeln dar, II 12 Vom Bawr/ vnd wilden Schweine und III 48 Vom alten Weingartner, die jeweils zwei Alinea-Zeichen aufweisen.82 Jedoch erweisen sich nicht wenige der Affabulationes inhaltlich als durchzogen von weiteren Erzähl- und Auslegungsexkursen, zusätzlichen Narrativen, als angereichert mit weiteren literarischen Klein- und Kleinstformen wie Exempel, Antiken- und Bibelzitate oder auch zeitgenössische Lieder (III 92,201–224; IV 96,127–134). Angesichts der Möglichkeiten der Zeitgenossen, welche verschiedene Schriftarten, Fettdruck, Kursivdruck, Marginalien und Illustrationen bei der Fabelgestaltung nutzen,83 erscheinen die Fabeln im Esopus hinsichtlich der peritextuellen Gestaltung geradezu monoton.

Verbreitung im ausgehenden 15. Jahrhundert von ungleich größerer Bedeutung ist, weist den Umfang von hundert Fabeln nicht auf. Vielmehr werden, obwohl im Epilog behauptet wird: „hundert peispil han ich geleit“ (Boner: Edelstein. Faksimile der ersten Druckausgabe, S. 175), lediglich 86 Fabeln wiedergegeben. Die jüngste und ausführlichste Überlieferungsübersicht über die 36 Handschriften (drei verbrannte, eine verschollene) und die beiden Inkunabeldrucke findet sich in der Einleitung der Farbmikrofiche-Edition von Klaus Grubmüller und Ulrike Bodemann, S. 12–14 (siehe Ulrich Boner: Der Edelstein [Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, Handschrift A N III 17]. Farbmikrofiche-Edition. Mit einer Einführung in das Werk von Klaus Grubmüller. Kodikologische und kunsthistorische Beschreibung von Ulrike Bodemann. München 1987 [Codices illuminati medii aevi 4]). Auch der Zweitdruck enthält weniger als 100 Fabeln. 82 Die doppelten Alinea-Zeichen in II 12 dienen Lieb in seiner Analyse der Fabel als grundlegendes Strukturmerkmal, nach dem er auch seine Einteilung der Fabel ausrichtet. Auch bei der Analyse von III 48 wird diese „markierte Dreiteiligkeit“ (Lieb: Erzählen, S. 62, Anm. 178) zur Kenntnis genommen. Es wäre hierbei möglicherweise weiterführend zu verfolgen, was die für II 12 dadurch angezeigte „alternative Moral“ (Lieb: Erzählen, S. 62) von anderen in Affabulationes zusätzlich gegebenen alternativen Deutungen unterscheidet bzw. ob den beiden Fabeln durch die zusätzliche Zeichensetzung ein semantischer Mehrwert entsteht. 83 Zu Fabelillustrationen im 16. Jahrhundert siehe Christian Ludwig Küster: Illustrierte AesopAusgaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil I: Text. Teil II: Katalog und Abbildungen. Hamburg 1970. sowie Christian Ludwig Küster: Die gedruckte Fabelillustration im 15. und 16. Jahrhundert. In: Ulrike Bodemann (Hg.): Fabula docet. Illustrierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten. Aus-

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1.1.3 Formen der Verknüpfung im Esopus Die Sammlung präsentiert sich makrostrukturell zwar als einen in sich geschlossenen Textkomplex, bei dem jede Fabel formal eine eigenständige Texteinheit darstellt. Einzelne Fabeln werden aber zusätzlich durch ‚intratextuelle Verweise‘ miteinander verknüpft. Hierzu wird auch die von Waldis angelegte Ordnung der Fabeln benutzt. Diese Verweise, die explizit auf die erst im Esopus vorhandene Anordnung Bezug nehmen, stellen aber nur eine von verschiedenen Möglichkeiten dar, auf welche Weise einzelne Fabeln miteinander verknüpft werden. Wie im Folgenden näher ausgeführt wird, erfolgen Verknüpfungen in den Narrationes als auch in den Affabulationes, sowohl explizit wie auch implizit. Die expliziten Verweise unterscheiden sich danach, welche Elemente eine unmissverständliche Verbindung herstellen. Zu beachten ist, ob auf die Anordnung, die Fabelfiguren oder Teile der Handlung einer anderen Fabel Bezug genommen wird. Wie ‚intratextuelle Wegmarken‘ können diese Verknüpfungen in den Affabulationes als Sinnstütze, -stiftung und -akkumulierung in Verbindung mit anderen Fabeln funktionieren. Diese intratextuellen Verweise auf andere Fabeln im Esopus dienen einerseits als Element der Affabulatio, die die Deutung der Einzelfabel beeinflusst,84 andererseits kommt es dadurch zu übergreifenden semantisch-thematischen Zusammenhängen. Zur Herstellung von Verknüpfungen nutzt Waldis weitere Möglichkeiten, die, wie im Anschluss zu zeigen ist, mit dem Begriff des ‚Verweises‘ allein nicht recht zu fassen sind. Dazu gehört die mehrfache Verwendung von markierten und unmarkierten Sprichwörtern und Zitaten. Auch diese Verknüpfungen stärken den nicht-erzählenden Teil der Fabeln. Abschließend wird eine Sonderform der Verknüpfung in den Blick genommen, die für die Fabel unüblich ist: die Verbindung von Erzählungen. Derartige Verknüpfungen werden mithilfe von Elementen der Narratio gebildet. Dazu gehören Raum- und Zeitangaben ebenso wie Figuren. Die augenfälligste Möglichkeit von Verknüpfungen sind die expliziten Verweise, die sich des numerischen Ordnungssystems bedienen. Fakultativ sind diese mit zusätzlichen Hinweisen auf Figurenpersonal verbunden. In I 61 Vom Hanen vnd der Katzen etwa greift der Verweis als direktes Zitat durch die Nennung der beiden Figuren zugleich die Überschrift der zweiten Fabel Vom dem Wolff vnd dem

stellung aus Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und aus der Sammlung Dr. Ulrich von Kritter. Braunschweig 1983 (Austellungskataloge der Herzog August Bibliothek 41), S. 34–49 sowie zur Bild-Text-Relation in der Fabel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Dietmar Peil: Beobachtungen zum Verhältnis von Text und Bild in der Fabelillustration des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 11), S. 150–167; S. 216–239. 84 Siehe das Kapitel „Intratextuelle Verweise“.

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Lamb auf. In der Affabulatio wird auf die 59 Fabeln früher eingeordnete Fabel von Wolf und Lamm verwiesen: „Vom Wolff vnd Lamb ist oben ghrt | Wie vns die ander Fabel lert“ (I 61,29 f.). Mehr als ein halbes Buch trennt die beiden Fabeln, zwischen denen Verweise gesetzt werden, die in der Vorlage nicht gegeben sind. Dort trennt die Fabeln auch ihr ursprünglicher Bearbeiter. Im Aesopus Dorpii ist die ander Fabel im Esopus als zweite Fabel der Sammlung dem Goudanus-Korpus zugeordnet, die verweisende Fabel hingegen eine Bearbeitung von Barlandus. Im Esopus ist diese Differenz aufgehoben, der Verweis selbst ist unmissverständlich, gerade weil er auf die eigens eingeführte Zählung zurückgreift. Das Sinnpotenzial einer Fabelhandlung ist damit im Esopus nicht mehr nur zu beziehen aus dem einzelnen Fabelkomplex aus Narratio und Affabulatio, er kann zugleich auch in anderen Fabeln aufgerufen werden. Dies ist dann der Fall, wenn der Rezipient aufgefordert wird, als Gewährsmann die Fabelfigur einer anderen Fabel zu befragen. In der 77. Fabel des ersten Buches wird als Beglaubigung der Deutung auf die Erzählung von Stadt- und Landmaus verwiesen, bei der aufgrund ihrer Bekanntheit – wie bei der Fabel von Wolf und Lamm – bereits die Nennung der Fabelfiguren ausreichen würde, um den Handlungshorizont aufzurufen. Das im Esopus angelegte fortlaufend zählende System wird zusätzlich zur Verknüpfung genutzt:  

Wer diß nicht glaubt/ frag die Dorffmauß Wie es jr gieng ins Brger hauß/ Da sie zu gast geladen war Zeigt dir die neunde Fabel klar (I 77,59–62).

Auch in die direkt nachfolgende Fabel ist ein solches Verweisverfahren, bei dem eine in der Sammlung früher angeordnete Fabel als weiteres Beispiel für die aktuelle Fabel und ihre Lehre herangezogen wird, eingefügt. In I 78 vom Lwen vnnd der Geiß wird das Verhalten der Geiß lobend dem Verhalten des Adlers in I 10 vom Adeler und der Krn gegenüber gestellt: Der Lw redt hie was jm ist mit Die Geyß ist klug vnd folgt jm nit/ Wirdt nicht wie der Adler bethrt Wie dich die zehendt Fabel lert (I 78,17–20).

Der Leser ist im Rahmen des Verweises wiederum direkt angesprochen und aufgefordert, sich an die bereits erzählten Geschichten und an die Sinnangebote in Narratio und Affabulatio zu erinnern oder diese Lektüre zumindest nachzuholen. Die zuvor erfolgte Lektüre kann in einer erneuten Lektüre in einem neuen Licht reflektiert werden. Knapper fällt ein solcher Rückverweis in I 75 aus. In der Deutung wird, wiederum im letzten Vers, auf eine frühere Fabel als weitere Stütze der Affabulatio verwiesen:

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Was sich beim andern thu erzeigen Dunckt mich besser sein denn mein eigen/ Vnd wolt gern stets ein newes han/ Sich die achtzehend Fabel an (I 75,53–56).

Hier ist nur noch das numerische Ordnungssystem als Verweis vorhanden. An dieser Stelle ist es angebracht, von einem lesenden Rezipienten als idealen Empfänger der Verweise auszugehen, denn das Verweisverfahren ist ein Phänomen konzeptioneller Schriftlichkeit, das an die Zählung des Buches gebunden ist. Der Leser muss, sofern er sich nicht genau an die vergangene Lektüre erinnert oder nicht fortlaufend gelesen hat, zurückschlagen und sich an dem Zählsystem des Esopus orientieren. Dieses Vorgehen stärkt die Funktion der Fabelsammung als Möglichkeit der Belehrung und als Instrument der Lehre. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird wiederholt auf die Affabulationes und damit auf die Lehren, Deutungen, Kommentare oder auch Auslegungen der Erzählungen gelenkt. Bliebe es bei unverknüpften Affabulationes, würde 400mal der Prozess der Deutung, Auslegung, Übertragung von erzählten Ereignissen auf die Welt des Lesers eingeübt werden. Die Verknüpfungen einzelner Affabulationes lädt darüber hinaus dazu ein, die einmalig erfolgte Deutung, Übertragung, Auslegung mit anderen Möglichkeiten von Deutung, Auslegung und Übertragung abzugleichen. Die Verknüpfung schafft abweichende Wiederholung, ermöglicht durch den Vergleich die Bestätigung, aber auch mögliche Veränderung von Deutungen. Die Sammlung präsentiert nicht nur statische Einzellehren, sondern auch ein Verfahren, um die Möglichkeit zur Aktualisierung von Deutungen vorzuführen. Die expliziten Verweise mithilfe der Zählung im Esopus finden sich überwiegend im ersten Viertel der Sammlung.85 Es handelt sich stets um Rückverweise. Diese können die Lektüre der Sammlung auf zweierlei Art beeinflussen. Erstens unterbrechen sie eine lineare Lektüre, sie laden zum sprunghaften Nachschlagen ein. Zweitens rufen sie bereits gelesene Fabeln und deren Deutungen mit der aktuellen Fabel verknüpfend erneut ins Gedächtnis. Das bereits Gelesene oder potenziell Gelesene wird für den „fleißige[n] Leser [...] mit der zeit“ (Vorrede, Z. 28) zugleich zu einem Fundus an Beispielen und Deutungsangeboten für das im Laufe des Leseprozesses noch zu Lesende. Die expliziten Verweise können als Versuch des Autors interpretiert werden, dem Leser ein Verfahren zur

85 Ein in der Erstausgabe noch existierender Rückverweis über die erste Buchgrenze hinweg wurde in den folgenden Ausgaben gestrichen. Am Ende von II 7 Von der Kren, die berichtet, wie eine Krähe mangelnde Stärke durch Klugheit ausgleicht, um an Trinkwasser zu kommen, wird auf die 67. Fabel im ersten Buch verwiesen: „Vnd was die sterck nicht geben hat | Dasselb muß suchen ein weiser Rath. | Wie die sieben vnd sechtzigst Fabel hat“ (II 7,15–17). Grund für die Streichung dürfte der Dreireim gewesen sein.

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eigenen Bildung von Verknüpfungen an die Hand zu geben. Sie können zum Anstoß für den Leser werden, im weiteren Leseprozess nach eigenem Belieben beliebige Verbindungen herzustellen. Gerade die Anordnung dieser Verweise kurz hintereinander, in der 61., der 75. und besonders in der 77. und 78. Fabel, direkt aufeinander folgend, lenken die Aufmerksamkeit beim Leseprozess auf diese Art der Verknüpfung, die potenziell zwischen vielen verschiedenen Fabeln hergestellt werden kann. Der Setzung von Verweisen ist keine programmatische Vorgehensweise nachzuweisen. Es bleibt spekulativ, warum I 61, die die Nachstellung des Boshaften behandelt: Wenn der boßhafft ein frommen Man Denckt mit schaden zu fechten an So findt er wol vrsach dazu Damit er jm den schaden thu (I 61,25–28),

mit I 10 verknüpft wird, die davor warnt, man solle nicht jedem glauben, und nicht etwa mit I 53, die behandelt, dass Wer sich zu einem frommen helt Vnd zu eim guten sich gesellt Der wirdt auch mit den guten gut/ Die bß gesellschafft schaden thut (I 53,15–18).

Hierfür wären etwa die Fabeln von Fuchs und Wolf naheliegend, auf die Anbindung an diese traditionelle Konstellation wird aber verzichtet. Die Verweise erscheinen mitunter kontingent, alles kann mit fast allem verknüpft werden. Eine andere Möglichkeit der Verknüpfung, die sich jedoch nicht des geschilderten Ordnungssystems bedient und eine fragilere Form der Verknüpfung darstellt, ist die mehrfache Verwendung von Sprichwörtern und Redensarten, etwa ‚sich nach der Decke strecken‘ in den Affabulationes in II 35,33 f.: „Es soll sich keiner weiter strecken | Denn jn bekleydt sein eygen decke“, in III 8,19 f.: „Wer seine Fß will weiter strecken | Denn er mit kleydern mag bedecken“, in IV 55,59 f.: „Denn finds sich/ das sie sich nit strecken | Weiter denn sie selb mgen decken“ und in der Figurenrede innerhalb der Fabelhandlung in IV 82,75 f.: „Vnd steck mein fuß nit weiter nab | Denn ich wol zu bedecken hab“.86 Die Mehrfachverwendung ist auch für Zitate aus klassischen Werken nachweisbar, etwa wenn aus Ovids Tristia zitiert wird, in den Affabulationes von III 8,23–26:  







86 Lieb macht auf „sprachliche Wendungen, die durch Ähnlichkeit auffallen“ aufmerksam, diese „erzeugen oft eine Relation, z. B. zwischen den auch strukturell sehr ähnlichen Fabeln IV 7 und IV 73“ (Lieb: Erzählen, S. 165).  

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Ouidius sagt/ ein Schifflin klein Das in der Elb oder auff dem Rhein/ Kan spielend auff dem Wasser schweben Soll sich drumb nicht ins Meer begeben,

und in III 86,45–48: Ein schifllin klein (wie Naso sagt) Das sich auffs kleine Wasser wagt Vnd auff eim engen Teich kan schweben Soll sich drumb nit ins Meer begeben.

Auch Bibelzitate werden mehrfach verwendet, z. B. Gen 3,19 in der Affabulatio von II 14: „Jm schweyß solln wir das Brodt genießen“ (II 14,22), in III 48,25 f.: „Wer sich im schweyß seins angsichts nehrt | Jm glauben dem wirdt gnug beschert“ und in IV 55,58: „Durch sauren schweyß die kost gewinnen“.87 Gerade bei den Referenzstellen, die man aufgrund ihrer Herkunft und der philologischen Nachweisbarkeit in schriftlichen Werken primär als Zitate einordnen würde, ist gegenüber einer solchen Klassifizierung Vorsicht angebracht. Häufig sind die Textauszüge ohne Quellenangabe gebraucht und zumeist handelt es sich dabei um Stellen, die zeitgenössisch zugleich als Sprichwörter oder Redensarten nachweisbar sind. Man kann davon ausgehen, dass aufgrund des Bildungsgrades und des Gebrauches beim Autor Waldis ein Bewusstsein für die Zitatenvorlage vorhanden ist. Allerdings ist dies nicht für jeden zeitgenössischen Leser anzunehmen, besonders nicht, wenn man den in der Vorrede genannten, den jugendlichen Leser, als intendierten Leser vor Augen hat. Es ist ein bewusst anderer Gebrauch im Umgang mit Zitaten als etwa im Buch von der Tugent und Weisheit von Erasmus Alberus.88 Führen die Mehrfachverwendung von ausgewiesenen Zitaten und die Querverweise in dessen Fabelsammlung dazu, dass der Leser durch die Welt der Fabelsammlung gleichsam wie der Erzähler durch die erzählte Fabelwelt spazieren kann, webt Waldis vielmehr ein Netz, das ein Leser aufdecken kann, es aber nicht muss. Dessen Gewebe können einem Leser zur Orientierung dienen, er kann von einer Fabel zu mehreren Fabeln geleitet wer 



87 Siehe auch die Aufführung von Bibelstellen, Antikenzitaten und Phraseologismen in Esopus. Bd. 2, S. 395–418. 88 Alberus erweitert in der zweiten Ausgabe seiner Sammlung Fabelerzählung und Morale ebenfalls mit Bibelzitaten, gibt diese aber in Latein in einer anderen Type wieder (etwa im Morale der zweiten Fabel), fügt griechische Zitate ein, die auf Latein erläutert werden (z. B. im Morale der dritten Fabel), gibt weitere Deutungen in Form von lateinischen Marginalien bei oder weist Antikenzitate etwa im Morale der siebten Fabel mithilfe des Autornamens aus (Alberus: Fabeln, S. 45, S. 47 und S. 55).  

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den, in der Zusammenschau kann sich das Sinnpotenzial vergrößern und können sich die Sinnangebote gegenseitig bereichern. Ein aufmerksamer Leser, der allen Verweismöglichkeiten nachgeht, kann sich aber auch in der Unabschließbarkeit verfangen, die verstärkt wird, wenn die Querverweise und die erzeugte Mehrschichtigkeit widersprüchlich werden oder letztlich ins Leere führen. Die Verknüpfungen, die in einem solchen Leseprozess aufgebaut werden können, mögen nicht für jeden Leser als solche erkennbar sein. Sie sind daher potenzielle. Ist man sich der Mehrfachverwendung von Sprichwörtern und Zitaten bewusst, so bilden sich beispielsweise ausgehend von dem mehrfach verwendeten Sprichwort und dem zweifach angeführten Antikenzitat in der Affabulatio von III 8 Von einem Hecht Vor- und Rückverweise in die Affabulationes der Fabeln II 35; III 86 und IV 55 und sogar in die Fabelhandlung von IV 82. Abschließend soll auf eine Form der Verknüpfung im Esopus aufmerksam gemacht werden, die auf der Handlungsebene in die Fabelerzählungen eingebaut ist. Häufig werden im Esopus Fabeln wiedergegeben, in denen Fuchs und Wolf aufeinandertreffen.89 In IV 34 wird das normalerweise in der Fabelsammlung paradigmatische Erzählen nicht eingehalten, denn die beiden Tiere unterhalten sich über die vergangenen Jahre: „DEr Wolff vnd Fuchß beynander warn | Vnd redten viel von alten Jarn“ (IV 34,1 f.). Der Wolf prahlt mit seinen zahlreichen Beutegängen, und die daraus gezogene Folgerung mutet fast schon an wie eine metaleptische Anmerkung: „Ein Buch solt man dauon wol schreiben“ (IV 34,6).90 Die Fabel ist typisch für eine Waldisfabel, die vom Autor erfunden worden zu sein scheint.91 Sie gleicht aufgrund des nur mit wenigen Merkmalen ausgestatteten Naturraumes (Wiese im Wald), Zeit (unbestimmt) und bekanntem Fabelpersonal (Fuchs und Wolf) einer traditionellen äsopischen Fabel. Die reflektierende Bemerkung des Wolfes hat mehrere Abweichungen von einer äsopischen Fabel zufolge. Erstens verändert sie die Wahrnehmung des Wolfes als Fabelfigur, er weicht damit ab von einer typischen Fabelfigur. Der Wolf in den äsopischen Fabeln zeichnet sich durch seine Eindimensionalität aus, er ist vornehmlich der Antagonist des Fuchses. Eine Geschichte hat er ebensowenig wie der Fuchs. Die äsopische Fabel erzählt von einzelnen Ereignissen, etwa Zusammentreffen im Hier und Jetzt. Die Fabel IV 34 führt dies selbst vor. Fuchs und Wolf treffen sich, der Wolf prahlt, ein Jäger eröffnet in der Nähe die Jagd. Nur widerwillig trennt sich der  

89 Zu zweit in I 35; III 91; IV 49 und IV 8; zusammen mit weiterem Personal in IV 1; IV 73 und IV 94; zu den Fuchs-Wolf-Fabeln im vierten Buch siehe Lieb: Erzählen, S. 161–206. 90 Die Selbsteinschätzung des Wolfes deckt sich nicht mit den Episoden, die vom Wolf überliefert sind, seien sie Fabeln oder syntagmatisch verknüpfte Episoden wie in der Tierepik. Diese berichten eher von den erfolglosen Beutegängen des Wolfes. 91 Es konnte keine Vorlage ermittelt werden, siehe Esopus. Bd. 2, S. 290.

1.1 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus

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Wolf, er hätte noch soviel zu berichten. Auf die Frage, wann man sich wiedersehe, nennt der davoneilende Fuchs die Stange des Kürschners als Ort des Wiedersehens. Zweitens ließe sich die Bemerkung metaleptisch auf den Esopus beziehen, der mehrere Fuchs-Wolf-Fabeln integriert. Die Pointe der Bemerkung besteht dann darin, dass das Prahlen über die zahlreichen erfolgreichen Beutegänge des Wolfes gerade in einer Fabelgeschichte eingebettet ist, die mal wieder das Scheitern des Wolfes als Jagdtier erzählt. Er ist sogar selbst Gejagter. Die im Esopus versammelten Erzählungen über den scheiternden Wolf stehen der Selbstwahrnehmung des Wolfes als erfolgreicher Jäger gegenüber. Drittens ließe sich die Bemerkung auch auf bereits existierende Bücher beziehen, die vom Wolf erzählen. Mehrere der Fuchs-Wolf-Fabeln stammen aus der mittelalterlichen Tierepik oder ähneln dort erzählten Episoden.92 Im Gegensatz etwa zum Reynke de Vos bleibt es im Esopus bei der für die Fabel typischen Episodenhaftigkeit der einzelnen Erzählungen. Auffällig sind aber dennoch die von Waldis gesetzten Verknüpfungen unter einigen der Fabelerzählungen: „Die Fuchs-Wolf-Fabeln weisen untereinander sowohl eine lineare als auch eine aleatorische Verknüpfung auf. Die intertextuellen Relationen erzeugen nämlich einerseits vor allem durch die [...] expliziten Rückverweise in IV 8, IV 77 und IV 94 einen erkennbaren epischen Rahmen, der in seiner Linearität zwar an die Tierepik erinnert, zugleich aber deutlich von ihr abweicht, und zwar u. a. deswegen, weil andererseits ein Horizont entworfen wird, der in zahllosen Querverbindungen auch Verweisungen ‚nach vorne‘ erzeugt. Diesen Horizont bezeichne ich als aleatorische Struktur, denn die Reihenfolge der einzelnen Fabeln ließe sich ohne Schwierigkeiten verändern, ohne daß wesentliche Verständnisschwierigkeiten auftreten würden“.93  

In IV 94 Vom Wolffe/ Fuchsse/ Hirsch/ vnd Storchen wird vom Wolf in der Narratio bei einer Gerichtsverhandlung selbst aufgeführt, dass es mit den äsopischen Fabeln und daher auch dem Esopus bereits schriftlich fixierte Geschichten über den Wolf, nun aber als ein Opfer des Fuchses, gibt. Der Wolf verweist in seiner Anklage auf die zahlreichen Taten des Fuchses gegen ihn: Die ich hie nit all kan verzelen Der man viel findt in den Parabeln Sonderlich in Esopus Fabeln (IV 94,40–42).

Während in diesen beiden Beispielen vor allem die Metalepse von der Ebene der Figuren auf die Ebene des Werkes hervorzuheben ist, ist in IV 34 die Verknüpfung

92 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 5. Eine konkrete Vorlage lässt sich nicht ermitteln, siehe Lieb: Erzählen, S. 189 f. 93 Lieb: Erzählen, S. 165 f.  



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1 Tradition und Transformation

zwischen den einzelnen Episoden im Bewusstsein der Figuren auffällig.94 Die Figuren besitzen ein Gedächtnis, sodass für die Figuren in diesen Fabeln ein Bewusstsein für Zeitlichkeit vorausgesetzt werden muss. In diesen Fabeln wird die traditionell äsopische Feindschaft von Wolf und Fuchs als eine literarische Tradition gezeigt. In IV 8 motiviert die Erinnerung an eine vorhergehende Tat die in der Fabelerzählung wiedergegebene Handlung. In IV 7 geht der Fuchs aus, „Das er mocht hren newe mer“ (IV 7,2). Die Affen feiern die Geburt der Nachkommen mit einem großen Fest und laden zum Gastmahl ein. Der Fuchs, in der Hoffnung auf eine Mahlzeit, verspricht der Äffin, die Zukunft der Kinder zu deuten, und hebt deren Schönheit und positive Zukunftsaussichten hervor: Jch sags zwar/ leben sie die zeit So werdens gar verstendig leut Wie ich des Himmels laufft erfahrn Sein in eim guten zeychen gborn (IV 7,37–40).

Der Affenmutter gefallen die Schmeicheleien des Fuchses und sie belohnt ihn großzügig. Der Fuchs verabschiedet sich und während er unter einem Strauch verdaut, trifft er den Wolf, welchem er von dem Festmahl berichtet. Der Wolf möchte es dem Fuchs gleichtun, die Nachahmung aber misslingt: Wie sie der Wolff on gfehr ersach Erschrack/ vnd zu der Affen sprach/ Was wunders schafft Gott in die Welt Solch vngeziffer drinn erhelt Mit Hunden solt man sie auß hetzen Zum scheutzel in die Bonen setzen Vor allen Thieren vngefellig (IV 7,95–101).

Als Belohnung wird er von den zornigen Affen angegriffen, die ihm „seinen buckel gar zubissen | Sein angsicht kratzet vnd zerrissen“ (IV 7,105 f.). Blutüberströmt kommt er zum Fuchs zurück, der ihn nur darauf hinweist, er hätte seinen Mantel nach dem Wind hängen sollen. Der Wolf verkündet, lieber hungrig blei 

94 Bereits die Einleitung von IV 94 bietet mit dem Verweis auf die schriftliche Fixierung der Geschichten von Wolf und Fuchs und die sich daran anschließende Schilderung der Erinnerung des Wolfes daran eine Metalepse. Die Anspielung auf die Fabelhandlungen bleibt aber eine allgemeine: „VOm Wolff vnd Fuchß find man beschriben | Viel seltzams dings das sie betrieben | Wie freundtlich sie gar offt geschwatzt | Vnd wie der Fuchß den Wolff gefatzt/ | Mit schmeychel worten offt benckt | Vnd viel mal vbers seyl gerckt/ | Gedacht jm solchs einst heym zu treiben | Wo er jm mcht ein aug verkleiben“ (IV 94,1–8). Zur Interpretation der Fabel als „perverse Legitimation einer parteiischen Jurisprudenz“ siehe Lieb: Erzählen, S. 179–188.

1.1 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus

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ben zu wollen, als das Hässliche so loben zu müssen. Die Geschichte endet mit diesem Dialog. Die Fabel ist in ihrer Erzählung paradigmatisch. In der Deutung werden die Fabelfiguren auf Menschentypen hin ausgelegt.95 Durch die darauffolgende Fabel wird handlungs- und einzelfabelübergreifende Zeitlichkeit zum Thema der Fabelerzählung. Ein wie so häufig im Winter hungriger Wolf läuft auf der Suche nach Nahrung „durch die pftzen tieff“ (IV 8,2). Er trifft spätabends, wie in der Fabel zuvor „an ein Hecken“ (IV 8,3), den Fuchs, der beim Anblick des Wolfs und vor dessem bösen Blick zutiefst erschreckt. Der Wolf wirft dem Fuchs zuerst sein als Fuchßschwentzen sprichwörtlich gewordenes Schmeicheln vor, um dann das Ereignis anzusprechen, welches in der Fabel zuvor erzählt wurde: Sprach/ hab dir lang gelaffen nach Du hast mich offt vnd dick betrogen Mit deinem Fuchsschwentzen gelogen Gleich wie du mir hast offt gethan Soltu jetzund dein lohn entpfahn/ Solt dich nit mehr deinr schalkheyt preisen Vnd auff dem Zaun ein Sperling weisen Jch glaub nit mehr dein schmeychel wort Brengst mich nit mehr an Affen ort Wie mich jens mal brachtst vnderd Affen Het all mein hende voll zu schaffen Da sie mir weydlich kerten ab Des ich noch nie vergessen hab (IV 8,6–18).

Der Fuchs reagiert befremdet, versucht den „Herr[n]“ (IV 8,19) zu beschwichtigen. Mehrfach droht der Wolf, nun Vergeltung zu üben, es sei denn, dass der Fuchs ihm sogleich Nahrung besorge. Da die Bitte des Fuchses, bis zum Tagesanbruch Aufschub zu gewähren, ausgeschlagen wird, greift der Fuchs auf eine List zurück. Es folgt das sogenannte ‚Brunnenabenteuer‘,96 in welchem der Fuchs dem Wolf vortäuschen kann, der sich im Wasser spiegelnde Vollmond sei „ein grosser

95 „Bey diesem Wolff werden bedeut | Die frummen auffrichtigen Leut | Die sich nit nach der narung stellen | Vmb Geitzes willn nicht heuchlen wllen | Die thut man hhnen vnd verachten | Mssen in kummer offt verschmachten/ | Beim Fuchß wirdt dir fein angezeygt | Den Steyn auff beiden schultern tregt | Zu gleich beyd schleiffen kan vnd wenden | Vnd sich schmcken an allen enden | Den nennt man einen klugen Man | Der sich in alles schicken kan“ (IV 7,117–128). 96 Der Stoff des ‚Brunnenabenteuers‘ ist weit verbreitet und wie auch der Stoff von IV 8 im Reinke de vos verarbeitet, siehe im Fabelkatalog von Dicke, Grubmüller (im Folgenden abgekürzt mit DG), DG 223. Die Verknüpfung der Fabeln wird in der Rezeption der Fabel IV 8 nicht übernommen. Die Fabel IV 8 ist im dritten Band der Sprichwortsammlung Proverbia von Eucharius Eyering auf den S. 131–135 wiedergegeben, IV 7 hingegen nicht, siehe Eyering: Proverbiorum Copia, ebd.

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1 Tradition und Transformation

Parmesan“ (IV 8,56 f.). Der Wolf bleibt am Ende im Brunnen sitzen. Die Affabulatio beschränkt sich auf die Warnung: „Schaw ht dich vorm listigen Fuchß“ (IV 8,81) und zählt verschiedene Formen füchsischer Charakterzüge von Menschen auf.97 Durch die Verknüpfung wird auf Figurenebene in der Narratio „zwischen beiden Fabeln ein narrativer Zusammenhang hergestellt, der die Identität einzelner Tiere in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen suggeriert“,98 die aber den Leser zugleich darauf aufmerksam macht, auch den Inhalt der Fabeln miteinander zu verknüpfen. Die Verbindung von Fabeln aufgrund von Ereignissen ist nicht singulär im Esopus, in IV 77 erinnert sich der Wolf an Episoden, die in drei anderen Fabeln erzählt werden. Der Löwe ist erkrankt und auf der Suche nach einem Heilmittel. Als der Wolf davon hört, sieht er die Chance, sich an dem Fuchs zu rächen. Er  

gund gar fleissig vberdencken Mit welchen tcken/ listen/ rencken Der Fuchß jn offtmals het betrogen Fuchßschwentz verkaufft/ vnd vorgelogen Wie ern dort mit dem Kß gefatzt Vnd wie jn het der Aff zekratzt/ Wie er letsten bey dem Wagen War mit dem Eisern flegel gschlagen (IV 77,7–14).

Wiederum sind es Ereignisse aus den Fabeln IV 7 und IV 8, die hier genannt werden, ergänzt um das Geschehen in IV 73, in welcher die Nachahmung einer List des Fuchses dafür sorgte, dass ein Fuhrmann den sich tot stellenden Wolf vor seinem Wagen mit „Eisern flegel“ (IV 73,56) verprügelte, „was er leibes mocht“ (IV 73,57). Die Nähe in der Anordnung zwischen IV 73 und IV 77 scheint sich auf Figurenebene als zeitliche Nähe zu manifestieren, jedenfalls wird dieses Ereignis mit dem Attribut „letsten“ (IV 77,13) als zeitlich nah markiert. Die Fabelerzählungen von III 91 und IV 49 sind schon peritextuell durch die identischen Titel Vom Wolffe/ vnd Fuchsse miteinander verbunden, zusätzlich kommen die Erinnerungen von Fuchs und Wolf hinzu, die diesmal an einem konkreten Zeitpunkt der Erinnerung, die „Weihnacht“ (III 91,1 und IV 49,21) miteinander verknüpft sind.99

97 „Ht dich vorm alten Tummerheintz | Verkaufft die Brillen vnd Fuchßschwentz/ | Vorwar nit vnbeschmitzet bleibt | Wer sich an alte Kessel reibt/ | Von roten Fchssen/ Juden alt/ | Von alten Vetteln vngestalt/ | Von weychen Eyern/ jungen Kinden/ | Thut man gar selten einen finden | Er sey auch wie er wll geflissen | Das er kumm dannen vnbeschissen“ (IV 8,82–92). 98 Esopus. Bd. 2, S. 265. 99 Zur Interpretation der Fabel III 91 im Rahmen von „Polysemie, Intertextualität und Raumsemantik“ siehe Lieb: Erzählen, S. 189–198.

1.1 Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus

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In IV 49 läuft der Wolf frühmorgens in einem „Winter kalt“ (IV 49,1) durch einen „dicken walt“ (IV 49,2), wie so häufig in Winterfabeln und überhaupt typisch für den Wolf ist er dabei auf Nahrungssuche. Er begegnet dem Fuchs, der ihm einen „frischen guten morgen“ (IV 49,5) wünscht und ihn einlädt, eine dicke Scheibe Speck, die einem Fuhrmannswagen entfallen ist und in einem „holen weg“ (IV 49,9) liegt, zu verspeisen.100 Das in dieser Fabel geschilderte gemeinsame Mahl verleitet den Wolf dazu, dem Fuchs „ein seltzam ding“ (IV 49,20) zu erzählen. Die Zeitangabe „vier Wochen gegen Weihnacht“ (IV 49,21) ist die Adventszeit vor Weihnachten, die traditionell eine Fastenzeit ist.101 Die Fabeln sind entgegen der Chronologie der in ihnen erzählten Ereignisse angeordnet. In III 91 wird von einer erneuten Begegnung erzählt, die einige Woche später, im „Winter kalt hin nach Weihnacht“ (III 91,1) stattfindet. Es ist „ein hungriger Wolff“ (III 91,2), nicht der Wolf, der sich auf Nahrungssuche begibt. Doch deiktische Attribute bei der Beschreibung der Räumlichkeiten stellen eine Verbindung her, „Auß jenem holtz“ (III 91,3) läuft der Wolf „in das Veld“ (III 91,3), der Wald wird als bekannt vorausgesetzt. Der beschriebene Raum verbindet die Fabeln ebenfalls. Diesmal präpariert sich „der Fuchß“ (III 91,5), bevor er auf den zuvor gesichteten Wolf zugeht. Er durchnässt sich in einem kleinen Bach so sehr, dass ihm der Schwanz davon gefriert. Anders als in IV 49 herrscht hier keine Eintracht zwischen den beiden, sondern von vornherein wird gezeigt, dass der Fuchs auf einen listigen Betrug aus ist. Direkt nach der Begrüßung spricht ihn der Wolf auf ein vergangenes Ereignis an, schon einmal hat der Fuchs ihm zur Nahrung verholfen: Er sprach/ knst mir den hunger bssen Wie jens mal in dem holen weg Da du mir gabst ein seiten Speck (III 91,10–12).

Damit ist auf das gemeinsame Mahl in IV 49 angespielt. Wie bereits zuvor war der Wolf wiederum drei Tage hungrig erfolglos auf der Suche. Er deutet das Aussehen des Fuchses, dieser wäre wohl nicht umsonst so nass, er hätte wohl heute Morgen gut gespeist. Dies eröffnet dem Fuchs den Weg in seine folgende Täuschung des Wolfes, er wüsste „ein newe weiß | Zu Vischen“ (III 91,28 f.). Diese Formulierung soll hier nicht überbewertet werden, in Hinblick auf die Quellenlage könnte die ‚neue Art zu fischen‘ aber eine Anspielung auf die Platzierung der Fabel sein. Sie  

100 In dieser räumlichen Situierung könnte eine Verknüpfung mit IV 73 Vom Fuhrman/ Fuchß vnd Wolffe gesehen werden, an deren Ereignisse sich der Wolf in IV 77 erinnert. Darin stellt der Fuchs sich tot und kann dadurch ebenfalls „in eine[m] holen weg“ (IV 73,4) einem Fuhrmann Speck stehlen. 101 Die Information des Wolfes: „War ich vor hunger schier verschmacht“ (IV 49,22), erlaubt über den unfreiwillig fastenden Wolf eine ironische Lesart.

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1 Tradition und Transformation

gehört nicht mehr zum Bestand des Aesopus Dorpii. Ab III 84 stehen eine breit überlieferte Fabel, für die keine direkte Vorlage nachweisbar ist, sonst unbekannte Erzählungen (III 83; III 87; III 85), die Doppelbearbeitung einer bereits in III 3 erzählten Abstemiusfabel (III 86) und Bearbeitungen bekannter Stoffe, für welche keine unmittelbaren Vorlagen nachzuweisen sind (III 88; III 89 und III 90). III 91 ist die erste Fuchs-Wolf-Fabel, für welche sich keine direkte Vorlage nachweisen lässt102 und steht kurz vor den Hundert newe[n] Fabelnn des vierten Buches. Die Verknüpfungen sorgen für eine Weiterentwicklung vom Einzelfall hin zum lose verknüpften mehrepisodischen Erzählkomplex. So entsteht im Esopus eine eigene Diegese. Die Fabel in dieser Sammlung leistet mehr als der Einzelfall, sie ist nicht mehr singulär und nicht mehr eigenständig. Es wird im Vergleich zur traditionellen äsopischen Fabeln weitererzählt, weitergedacht. Die letzten Beispiele für Formen von Verknüpfungen im Esopus, die Fabeln IV 34; IV 7 und IV 8; IV 77 und III 91, führten weg von der Anordnung der Fabeln und hin zu Möglichkeiten der erzählerischen Ausgestaltung in den Fabeln. Die Figuren, Fuchs und Wolf, gehören zum Kanon äsopischer Fabeln. Die Figurenkonstellation und die Handlungen, List und Gegenlist verbunden mit Jagd, sind konventionell. Die Beispiele verdeutlichen aber, wie bereits mit traditionellen äsopischen Fabelfiguren die Narrationes weiter ausgestaltet werden können. Im Folgenden soll diese esopische Fabelwelt mit ihren im Vergleich zur äsopischen Fabel erweiterten und ausdifferenzierten Vielfalt an Figuren, Räumen und Themen näher beleuchtet werden.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus Die Fabelsammlung wird – so haben die zu Beginn dieser Arbeit wiedergegebenen maßgeblichen Zitate gezeigt –, mit der Schilderung der eigenen Lebenserfahrung des Autors in der Welt eröffnet. Die im Esopus versammelten Fabelerzählungen haben den Anspruch in ihrer Deutung, sei es durch die Verallgemeinerung des geschilderten Einzelfalls in einer Regel oder einer Handlungsanweisung, Aussagen über die Welt zu treffen. Diese Aussagen präsentieren sich dem Leser stets mit einer vorangestellten Erzählung. Bei der Versammlung und Auswahl der Erzählungen geht Waldis integrierend vor. Problemfrei ist für die Lehrhaftigkeit der Sammlung etwa die Integration von schwankhaften oder obszönen Stoffen. Die strukturellen Abweichungen der kleinen Erzählformen ‚Exempel‘, ‚Anekdote‘,

102 Der Stoff ist schon aus der mittelalterlichen Tierepik bekannt, eine konkrete Vorlage konnte aber nicht ermittelt werden, siehe Esopus. Bd. 2, S. 234.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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‚Schwank‘, ‚Zote‘ oder auch ‚Fazetie‘ sind irrelevant für ihre Behandlung im zweiten Fabelteil. Ein zuvor bei Bebel nachweisbarer Fazetienstoff (etwa IV 46) wird in der Affabulatio ebenso funktionalisiert wie die Erzählungen traditionell äsopischer Fabeln. In der Erzählung von IV 46 erkennt ein Bauer in der Beichte auf dem Sterbebett die Auferstehung erst an, als der Pfarrer ihm die Beerdigung auf dem christlichen Friedhof und die Seelenmesse verweigern will. Im Esopus dient die Erzählung nicht allein der Erheiterung, sondern der Katholikenschelte. Ein übergreifendes Modell für die Integration hat Waldis über die Ausfaltung in Narratio und Affabulatio hinaus nicht. Gleichwohl ist im Folgenden nach den Merkmalen der Fabelerzählungen zu fragen, denn die Erzählwelt der im Esopus versammelten Fabelerzählungen weist andere Merkmale auf als die traditionelle äsopische Fabelwelt voller Tiere als Handelnde an unbestimmten Orten zu unbestimmten Zeiten. Die Erzählwelt im Esopus erweist sich als plural. Plural ist sie, da nicht mehr nur von äsopischen Figuren innerhalb der rein funktionalen und konventionellen undefinierten Räume der äsopischen Fabel, der traditionellen äsopischen Zeitlosigkeit oder von typischen Themen der äsopischen Fabel erzählt wird. Waldis erweitert die Erzählwelt in den Fabeln mit Vertretern unterschiedlichster Menschengruppen, der Stadt als Handlungsraum, verschiedenen zeitlichen Situierungen und typisch frühneuzeitlichen Themen. Bei der Beschreibung dieser Vielfalt lassen sich inhaltlich zwar einzelne Tendenzen festhalten. So zeigen sich immer mal wieder Übereinstimmungen mit allgemeinem protestantischem Gedankengut. Dies reicht etwa von der idealen Gesellschaftsordnung, in der die untereinander in Einigkeit verbundenen Bürger der Obrigkeit treu gehorsam sind (z. B. I 3 oder I 17), über die Berufung auf Luther (IV 3) oder die Bibel als Autorität bis hin zur Polemik gegen die katholische Kirche (II 50). Bürgerliche Tugenden wie eine gute Erziehung (II 10; III 39) oder das Erlernen eines ehrlichen Handwerks (III 20; III 61) werden ebenso hervorgehoben wie die Abweichung davon verurteilt wird. Christliche Werte wie Nächstenliebe (IV 62) werden dem Leser als erstrebenswert vor Augen geführt. Die im ausgehenden Spätmittelalter übliche Form der Machtverhältnisse und Aufgabenverteilung in der Ehe – der Mann ist für die Versorgung der Familie, die Frau für die Haushaltsführung und die Kindererziehung verantwortlich – wird auch im Esopus als gesellschaftliches Ideal dargestellt.103 Es stellen sich jedoch keine Verbindungen  

103 Vgl. hierzu das Motivregister in Esopus. Bd. 2, S. 428–434. Der Versuch, Aspekte wie Gesellschafts- oder Kirchenkritik im Esopus zu versammeln, birgt die Gefahr letztlich lediglich zum Ergebnis einer ausformulierten Stellensammlung zu kommen, vgl. Ernst Heinrich Rehermann, Ines Köhler-Zülch: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis. In: Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. Hg. von Peter Hasubek. Berlin 1982, S. 27–42.

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1 Tradition und Transformation

zwischen den einzelnen Tendenzen her, die es erlauben würden, übergreifende Modelle zu beschreiben. Mit ursächlich ist hierfür auch, dass sich schon in den einzelnen Fabeln für viele der im Folgenden näher dargestellten Zusätze keine direkte Funktion ermitteln lassen. Traditionelle äsopische Fabelerzählungen handeln von Ereignissen und Konflikten anthropomorphisierter Tiere, die eine Charaktereigenschaft, ein Laster oder eine Tugend verkörpern. Konventionellerweise wird die Fabellehre daher zur Vermittlung einsinniger Regeln benutzt, sei es zur Tugendlehre – angesprochen werden Hoffart, Geiz, Güte, Neid, Zorn, Demut, Untreue u.v.m.104 – oder für Handlungsanweisungen im Umgang mit Verfehlungen oder allgegenwärtigen Zuständen in der Welt benutzt, wie Undankbarkeit, Tyrannei, Armut etc. Im Esopus stehen solche Erzählungen von sprechenden Tieren und ihren heidnischen Göttern wie Jupiter, Venus und Juno gleichberechtigt neben den Fabeln, die von Franziskanermönchen, Nonnen, Bürgern, Bauern, Adligen, dem italienischen Kardinal Lorenzo oder dem Sprecher-Ich u.v.m. in vielen verschiedenen deutschen Städten, zu Weihnachten, Pfingsten oder z. B. einem Ereignis im Jahr 1500 erzählen. Zugleich werden typisch frühneuzeitliche Themen wie Krieg, Kontingenzerfahrung, Reformation, gesellschaftliche und soziale Veränderungen – etwa der Geltungsgewinn ökonomischen Reichtums gegenüber Tugenden – oder das unabgestimmte Nebeneinander von sich ausschließenden Lebensformen behandelt. Die mit Kontingenzerfahrung und der Wahrnehmung solcher Themen einhergehende Unsicherheit und der Ordnungsverlust zeigen sich sowohl in den Narrationes als auch in den Affabulationes. Unter dem Stichwort ‚Pluralität‘ soll im Folgenden die heterogene Vielfalt an Figuren, Räumen und Themen im Esopus beschrieben werden.105  

104 Vergleiche etwa das Register DIE GEMAINEN PUNKTEN DER MATERI DIS BÜCHLINS am Ende der Erstausgabe von Steinhöwels Fabelsammlung (Steinhöwels Äsop, S. 352–362) oder die Überschriften der posthum herausgegebenen Fabeln Luthers: Torheit, Hass, Untrew, Neid, Geitz, Frevel. Gewalt (Martin Luther: Etliche Fabeln aus Äsop. 1530. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe]. Bd. 50. Weimar 1914, S. 432–460, hier S. 448–450). 105 Zur Beschreibung von Vielfältigkeit etwa der Fabelfiguren wird bewusst auf den Ansatz des ‚enzyklopädischen Erzählens‘ verzichtet. Die Beschreibungsansätze ‚Pluralität‘ und ‚enzyklopädisches Erzählen‘ dienen zwar beide der Beschreibung von Vielfältigkeiten, ‚enzyklopädisches Erzählen‘ impliziert aber im Gegensatz zu ‚Pluralität‘ eine relative Vollständigkeit und in vielen Fällen auch Entproblematisierung von Vielfalt. Außerdem, und dies ist ein weiterer Unterschied zum Begriff ‚Pluralität‘, beschreibt ‚enzyklopädisches Erzählen‘ nicht die Struktur, sondern die Funktion eines Textes. Daher geht mit ‚enzyklopädischem Erzählen‘ in der Regel eine Programmatik einher. Dies ist für den Esopus auszuschließen, sodass sich der noch nicht auf Funktionen eingehende Begriff der ‚Pluralität‘ als vorteilshafter für die Beschreibung und Analyse der Fabelsammlung erweist.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Im Esopus wird sowohl die Erzählwelt in den Fabelerzählungen als auch die textexterne Welt, über welche in den Affabulationes Aussagen getroffen werden, als eine Welt gezeigt, die von Unsicherheiten geprägt ist und die mitunter so verkehrt worden und so undurchschaubar geworden ist, dass z. B. die basale Differenz von gut und böse bzw. stark und schwach, wie sie der traditionellen Fabel durch die Eigenschaften der Fabeltiere, etwa von Wolf und Lamm, zugrunde liegt, nun nicht mehr offensichtlich ist:  

Es lebt die Welt in solchem gdß Das arg nents gut/ das gute bß/ Vnd ist all ding also verkert Das auch die Saw hat spinnen glert (IV 45,27–30).

In einer solchen Welt kann man nicht unbehelligt leben: Denn so geschicht noch heut bey tag Wo der groß vbern kleinen mag Wirfft er auff jn sein Vngedult Vnangesehn/ ob er hab schuldt (I 2,9–32).

Der Verlust traditioneller Ordnungen und die Zunahme von Unsicherheiten zeigen sich in einer dermaßen verkehrten Welt in verschiedenen Bereichen. Als ein säkularer Auslöser für Unsicherheit werden im Esopus kriegerische Auseinandersetzungen dargestellt. Krieg ist nicht nur in der Vorrede ein fester, unhinterfragter Bestandteil in der Erfahrung des Autors. Auch in der Fabelwelt im Esopus sind in den Narrationes der Fabeln kriegerische Auseinandersetzungen als Situierung oder durch Fabelfiguren wie den Landsknecht präsent.106 Krieg hat dem „Vatterlandt zu schutz“ (III 87,64), zum „gmeynen nutz“ (III 87,63) und aufgrund „der Oberkeyt gebot“ (III 87,65) seine Berechtigung. Daneben werden aber auch die

106 Schon in Fabeln, die äsopische Stoffe behandeln, wird von Beginn der Sammlung an Krieg verhandelt, sei es als Krieg von Vögeln in der Affabulatio von I 2, in der Narratio von I 3 als Kampf zwischen Frosch und Maus, in I 18 als Krieg zwischen einem Greifvogel und den Tauben sowie in I 38 „zwischen schafen vnd den wolffen“ (I 38,4) oder als Argument bei einer Regierungsbildung als mögliche Bedrohung und zu beachtende Eventualität, wie in I 71,34–40. Auch menschliche Protagonisten sind in äsopischen Fabeln, wie in I 55,3 der „Trummeter“ im Kriegsheer, der bei Waldis durch die Namensgebung Peter individualisiert ist, Bestandteil von Kriegstätigkeiten. Bleiben die bereits genannten Kriegstätigkeiten zeitlich unbestimmt, werden die Fabeln III 87; IV 6; IV 10; IV 67 zu bestimmten Kriegszeiten historisch situiert, etwa „ALs Franciscus der Frantzen Knig | Wider Meylandt fuͤ hrt grosse Krieg“ (III 87,1 f.). Gerade in solchen Fabeln ist auch der Landsknecht mehrmals eine Fabelfigur, so in II 79; IV 6; IV 12; IV 16 und IV 21. Die Beispiele sind zahlreich, siehe auch den Eintrag zu Krieg, Kampf im Motiv-Register des Kommentars in Esopus. Bd. 2, S. 431.  

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1 Tradition und Transformation

negativen Folgen des Krieges, die Verrohung der Sitten und die Lasterhaftigkeit der Beteiligten107 sowie das Leid Schutzloser in Fabeln behandelt.108 Ein weiterer Auslöser für Unsicherheit stellen konfessionelle Auseinandersetzungen mit der Papstkirche dar. Die esopischen Fabeln transportieren durchaus reformatorisches Gedankengut wie die Ablehnung von Heiligenverehrung (II 50), Pilgerreisen nach Rom (IV 1) und Reliquienkult (III 94) sowie die Kritik am päpstlichen Klerus mit den Praktiken des Ämterkaufes (IV 83) oder des Ablasses (IV 24). Die Reformation wird im Esopus häufiger thematisiert, es wäre aber zu eindimensional die Fabeln auf das Attribut ‚reformatorisch‘ zu reduzieren. Dies gilt insbesondere, da häufig unklar bleibt, was mit dieser Attribuierung über die Themen hinaus gemeint sein soll. Manche der in den Affabulationes vertretenen Normen wie Nächstenliebe, Gehorsam gegenüber der Obrigkeit oder die Wertschätzung der Ehe decken sich zwar mit reformatorischem Gedankengut. Eine klare Anleitung zur Lebensweise nach reformatorischem Vorbild wird aber in den esopischen Fabeln nicht als solche ausgestellt. Die Reformation und die mit ihr einhergehende Abwendung vom Papsttum ist im Esopus als religiöser Wandel abgeschlossen: „Wie auch sonst jetzt die gantze Welt | Auffs Bapsts gebot zwar nicht viel helt“ (IV 83,150–152), Luthers Lehren sind weit verbreitet.109 Dies – so die Darstellung im Eopus – führte aber nicht zum Verlust des Geltungsanspruchs der päpstlichen Kirche, sondern in der Bildung der Konkurrenz von „rechten Euangelisten“ (IV 96,140) und den „rechten widerchristen“ (II 50,42), so bezeichnet Waldis „die Papisten“ (II 50,41).110 Noch immer, so zeigt sich anhand der

107 Hierbei ist es der Landsknecht, der zum Exempel wird, „Was ein verrchten Menschen macht“ (IV 67,42). Das Kriegsheer, etwa in IV 6 unter Kaiser Maximilian, ist Anziehungspunkt für „manches wilde[] Kindt“ (IV 6,7), in der Beschreibung des alten Kriegsmannes in IV 16 wird das „schlechthin Böse und Feindliche“ (Esopus. Bd. 2, S. 271), so die Bedeutung für „bsen Wurm“ (IV 16,6), als Folge von Krieg genannt: „ZV Speir ein alter Kriegsman war | Der het den Kriegen viele Jar | Gefolgt in mancher schlacht vnd sturm | Gesehen manchen bsen Wurm/ | Vnd solchen handel lang gebt | Auch manchen armen Bawrn betrbt | Manch arme Diern dabey betrogen | Den Schwantz durch manche Hecken zogen“ (IV 16,1–11). 108 So die Misshandlung und Beraubung „einer armen Frawen“ (IV 12,6) durch einen Landsknecht in IV 12,11–14: „Da kam derselbig Landtsknecht hin | Auff guten berat/ beut vnd gewin | Begundt mit der Frawen zu hausen | Schlug Katzen todt/ wolt selber mausen“. 109 Die Kenntnis derselben wird vom Erzähler, wohl auch mit einem Augenzwinkern, in der Affabulatio von IV 83 für eine Fabelfigur angenommen. So wird über einen Wirt gemutmaßt, der einem Kurtisan, der schnellstmöglich für die Verteilung von Pfründen nach Rom reisen möchte, einen lahmen Gaul verkauft: „Hat leicht des Luthers Bcher glesen“ (IV 83,150). 110 Der Streit der beiden Parteien zeigt sich gerade an der Bezeichnung „widerchristen“, die sowohl von Anhängern reformatorischer Gesinnung (in der Affabulatio von II 50,42) wie der papstkirchlichen für die Reformierten benutzt wird: „Das/ die das heylig Wort jetzt leren | Vom Teuffel vns zu Gott bekeren/ | Wie die rechten Euangelisten | Die helt man jetzt vor Widerchristen |

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Protagonisten und Narrationes der Fabeln, insbesondere im vierten Buch, aber auch in den Affabulationes, sind Vertreter der Papstkirche, Pfaffen, Mönche, Nonnen oder ranghohe Amtsinhaber wie Kardinäle sowie Traditionen der päpstlichen Kirche wie Heiligenverehrung, Pilgerfahrten oder auch Ablasshandel Bestandteil der Erfahrungswelt des Lesers und durch die Aufnahme der Erzählungen in die Sammlung auch der esopischen Fabelwelt. Als nur ein Beispiel von vielen sei auf die Fabel III 100 Wie ein Barfusser Mnch Predigt verwiesen, die dies eindrücklich vor Augen führt. Im Eingang der Erzählung, in der die Unfähigkeit eines Bettelmönches angemessen zu predigen vorgeführt wird, wird die Heiligenverehrung als ein in der Vergangenheit liegender Betrug an den Christen bezeichnet: VNder anderm jrrthumb damit die Christen Betrogen wurden von Papisten War dis auch nit der gringsten einr Das sie vns mit der heilgen feier Vnd jr frbitt han gefatzt Dmit vnsern schweyß schier gar abschatzt (III 100,1–6).

In der Deutung wird nochmals die veränderte Wahrnehmung in der Gegenwart betont: Ein jeder siht jetzund Gott lob Wie vnuerschambt vnd wie gar grob Vns hat das schendtlich Bapsts geschwrm Mit allem gifft/ wie bß gewrm So vberscht vnd gar ertrenckt Vnd in jrn Teuffels dreck versenckt/ Das wir baldt (schand ists das mans redt) Jrn stanck vnd vnflat angebet (III 100,53–60).

Stellt jn wie falschen Ketzern nach | Mit Schwerdt/ Fewr/ Bann/ vnd aberach/ | Scheltens vnd lesterns vor den Leuten | Die friedsam ler/ vorn auffruhr deuten“ (IV 96,137–144). Das Motiv ‚Antichrist‘ ist fester Bestandteil der konfessionellen Polemik im 16. Jahrhundert, siehe auch die Untersuchungen von Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69), besonders S. 220–242; und Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion. Frankfurt a. M. 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I Deutsche Sprache und Literatur 1855).  

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1 Tradition und Transformation

Zugleich aber wird auf die noch immer existierenden Kirchen- und Klosterbauten der Franziskaner aufmerksam gemacht, für die der Erzähler im Fall des Klosters in Assisi als Augenzeuge für die Pracht der Gärten und Gewölbe im Inneren auftritt: „Die ich all hab durchsehen selb“ (III 100,104). Die Gebäude, die von dem Reichtum und der Prunksucht des Bettelordens zeugen, werden in die Nähe heidnischen Reichtums gerückt: „Das/ wenn mans auch von fern anschawt | So wers eim Trckischen Keyser gnug“ (III 100,92 f.). Die Existenz der franziskanischen Gebäude und die Möglichkeit, sie anzusehen, dient als Katalysator, um die moralische Verfallenheit des Ordens erkennen zu können.111 Der Polemik gegen die Papstkirche dienen Vertreter bestimmter Orden, wie hier die Franziskaner, ebenso wie nicht näher bestimmbare Nonnen und Mönche als auch die Verurteilung des gesamten Kollektivs der Anhänger der katholischen Kirche. Die Pauschalkritik trifft die ‚Papisten‘ in Fabeleingängen sowie in der Affabulatio.112 In den Narrationes werden die handelnden Figuren, die zu diesen gezählt werden, hingegen ausdifferenziert. Das Papstgefolge ist vertreten durch Pfaffen, Kapläne,113 Bischöfe, Kardinäle – darunter der historisch nachweisbare Kardinal Lorenzo Campeggio in seiner Funktion als Legat –, Prälaten, Äbte, Domherren, Prediger, Mönche (Eremiten, Barfüßer, Augustiner, Johanniter, Kartäuser,114 Franziskaner, Observanten) und Nonnen.115 Umwälzungen und Unsicherheiten in der Erzählwelt und in den Deutungen betreffen aber nicht nur konfessionelle Themen.  

111 „Das/ wenn man jr Gebew ansicht“ (III 100,75), „Vnd merckt auff jren hohen pracht“ (III 100,77). 112 So in II 50,42 und 69; III 100,1; IV 24,73 und IV 31,51. 113 Als ‚Caplan‘ wird im Esopus sowohl der Geistliche, der den Gottesdienst an einer Hofkapelle hält (siehe IV 31), bezeichnet, was dem mlat. capellanus entspricht, wie auch der Pfaffe, der in einem Heer für den geistlichen Beistand sorgen soll, so in III 87, 9–11: „Da war ein Haubtman hieß der Schorb | Ein junger Gsell/ ein wster Korb/ | Het ein Pfaffen zum Capellan“, und der dem Geistlichen untergeordneten Hilfsgeistliche, so in II 12,59: „vnser Pfaff vnd sein Caplan“. 114 Dass die eremitische Lebensform hier näher spezifiziert wird und damit die Vielfalt zurückgezogener Mönche angesprochen ist, geht auf die Übersetzung von Waldis zurück, der in II 79 den unspezifischen eremita aus der Abstemiusfabel De Eremita et Milite zu einem Kartäuser macht, während der emerita aus der Vorlage in II 60 ein nicht näher bestimmter ‚Kleusener‘ bleibt. 115 Die Vielfalt der Vertreter der Papstkirche fasst Waldis auch mit der oben schon zitierten Bezeichnung „schendtlich Bapsts geschwrm“ (III 100,55). Zur Bedeutung ‚Gewimmel‘ von geschwrm, siehe Esopus. Bd. 2, S. 248. Der Ausdruck wird ohne Umlaut bereits von Luther für die Papstkirche genutzt: „das gantze geschwurm und gewurm bepstlichs regements“, siehe ‚geschwürm‘. In: DWB. Bd. 5, Sp. 4013 f., dort finden sich weitere Textstellenbelege in anderen Werken von Waldis. Negativ besetzt ist der Ausdruck insofern, als er sich häufig auf das Durcheinander „von insecten“ und anderem Ungeziefer bezieht, die als Attribut dem Teufel zugeschrieben werden.  

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Weitere grundlegende gesellschaftliche Veränderungen sind auf die zunehmende Bedeutung von Handel und Geldwirtschaft zurückführen. Diese wird im Esopus als Negativerfahrung geschildert: „So gar ist ietzt die gantze Welt | Gericht auff das verfluchte Gelt“ (IV 82,127 f.). Was im Esopus zumeist als moralisches Phänomen geschildert wird, sind die Auswirkungen sozialer Umbrüche, die durch die veränderte Bedeutung der kapitalistischen Geldwirtschaft bedingt werden:  

Die mittelalterliche Bedarfswirtschaft wird – nach vielen Vorläufern vor allem im Mittelmeerraum und mit starken regionalen Ungleichzeitigkeiten – durch neue Wirtschaftsformen abgelöst, durch eine kapitalistische Geldwirtschaft, kapitalistische Produktionsweisen, einen die alte Ständegesellschaft übergreifenden Markt. Dies führt zu einer Reihe von sozialen Verwerfungen, die sich – teils im Zusammenhang mit der Reformation – in sozialen Unruhen und Bürgerkriegen auswirken. Zwar gelingt es im Allgemeinen, die alte Ordnung wiederherzustellen, doch oft in neuen Organisationsformen wie der des frühmodernen Staats.116

Auktoriale Deutungen benennen „Geitz“ (Habgier) als „schendtlich laster“ (II 6,31) und als Ursache für die Veränderung von Normen. Nicht mehr Tugenden sind Anlass für die Wertschätzung von Menschen, sondern der äußere Besitz: Das ist der brauch jetzt in der Welt Wer nur ist reich/ vnd hat viel Gelt Der wirdt gar werd vnd theur gehalten Von reich vnd armen/ jung vnd alten (IV 75–78).

Auch an der Formulierung „werd vnd theur“, als Umschreibung der zeitgenössischen Wertschätzung von Personen, zeigt sich die empfundene Veränderung des alten Tugendsystems. Wert umfasste darin, ähnlich wie Ehre, „die hochgespannten (objektiven) Wertvorstellungen, die das besonders ausgezeichnete adlige Individuum aufgrund der Gesellschaft an sich stellte“.117 Die Bezeichnung theuer für Personen meint die Auszeichnung und Wertschätzung „durch adel, tugenden, tapferkeit“.118 Die als negativ empfundene Veränderung des gesellschaftlichen Wertesystems, die, so der Text, durch den Faktor Geld verursacht und vorangetrieben worden ist, wird monokausal auf den Eigennutz zurückgeführt, der mitunter mit dem Laster der Habgier verbunden erscheint:

116 Jan-Dirk Müller: Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Hg. von Marcel Lepper, Dirk Werle. Stuttgart 2011 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 1), S. 15– 38, hier S. 28. 117 Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 238. 118 Artikel theuer in DWB. Bd. 21, Sp. 368.

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1 Tradition und Transformation

Wenn Eygennutz/ vnd selb genieß Vertrieben weren auß der Welt So wer nit ntig das man Gelt Oder jrkeyn Mntz hinfort dorfft machen Schlecht wurden alle hadersachen/ Keinr wurd dem andern guts verhelen/ Da wer kein Dieb/ wurd niemandt stelen/ Der groß mheselig Kauffmans handel Vnd in der Welt all fehrlich wandel All Wucher/ schinderey/ auffsetz/ Practick/ list/ wechssel/ all geltnetz/ Wurden auff ein mal hingereumt Vnd als vnglck hinweg gescheumt (IV 100,110–122).119

Mit der Behandlung des ‚Eigennutzes‘ findet einer der Leitbegriffe in der Interpretation von ‚Normen der ständischen Gesellschaft‘ der Frühen Neuzeit Eingang in den Esopus.120 Dieser Leitbegriff erscheint in Schriften der Frühen Neuzeit und in historischen Untersuchungen häufig gekoppelt an den gegensätzlichen Begriff des ‚Gemeinnutzes‘ und bezogen auf soziale und staatspolitische Bereiche. Im Esopus liegt der Schwerpunkt auf den moralischen Folgen des Eigennutzes. ‚Eigennutz‘ ist hierbei „in der ständischen Gesellschaft der verbreitetste Negativbegriff sozialen Verhaltens. Er bezeichnet ein sozialschädliches Verhalten, gleichgültig ob es sich dabei um den betrügerischen Beamten, die städtischen Zünfte oder den Bauer handelt, der seine Produkte zu teuer verkauft“.121 Die letzte Affabulatio der Sammlung benennt den ‚Eigennutz‘ als ein in allen Ständen und sozialen Beziehungen vorhandenes und allgemein beklagtes Problem: Es ist zwar ein gemeyne plag Auch aller frommen hertzen klag

119 Der Eigennutz ist in den Lastern, die er nach sich zieht, ausgefaltet: „Das aber nit also will sein | Verhindert eine sach alleyn | Wo man der selben rathen kndt | Vielleichts ein wenig besser stndt | Vnd wer des hoffertigen prachtens/ | Des hhnen/ schmehen/ vnd verachtens/ | Des hhnschen blachens/ vnd beschimpffens/ | Des schilens/ vnd des Nasen rimpffens | Des hassens/ neidens/ vnd mißgnnens/ | Des liegens/ vnd des fried zertrnnens/ | Des heuchelns/ schmeychlens/ vnd des gleissens | Der triegerey/ vnd Leut bescheissens/ | Des hinderredens/ Ohrenblasens/ | Des wten/ toben/ vnd des rasens/ | Jn summ/ der vnfll vnd geferden | Dadurch all ding verdorben werden/ | Solten die Welt nit so verheren | Wo wir eim Feindt nur knten wehren/ | Vnd jn mit Pestilentz vnd plagen | Auß der Welt wißten zu veriagen/ | Das ist der schendtlich Eygennutz“ (IV 100,129–149). 120 Vgl. Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 592–626, hier S. 596–598. 121 Ebd., S. 600.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Das in der Welt der eygennutz Regiert nur jederman zu trutz Jn alln Landen/ an allen enden/ Jn hohen vnd in nidern stenden/ Bey alln Weltlichen Potentaten/ Bey allen Geystlichen Prelaten/ Bey Oberkeyt/ vnd Vnderthan/ Bey Brgern/ Bawrn/ dem gmeynen Mann/ Zwischen Freunden/ vnd bekanten/ Zwischen Brdern/ vnd verwandten/ Ja zwischen Eltern vnd den Kinden Leßt sich der Eygennutz auch finden/ Jederman lert die not diß sagen Vnd vbern Eygennutz zu klagen (IV 100,93–108).

Politische Auswirkungen von ‚Eigennutz‘ werden in der Narratio lediglich insofern zur Sprache gebracht, als dass erzählt wird, wie ein geiziger Tyrann einen frommen und reichen Untertanen um sein Geld bringen möchte. Auch hier ist der ‚Eigennutz‘ auf die Gier nach Geld verengt: Also gar gschmitzt/ sinnig vnd spitzig War auffs Gelt/ vnd so eygenntzig/ Das er vmb Gelts willn alles wagt Die Vndersassen grewlich plagt (IV 100,15–18).

In der Affabulatio dieser Fabel wird der ‚Eigennutz‘ dann deutlich als die Wurzel für wirtschaftliche Verbrechen (Diebstahl) und Betrug (Wucher) genannt. Waldis verknüpft ‚Eigennutz‘ direkt mit der als negativ empfundenen Geldwirtschaft, für welche er auch den Ausdruck „geltnetz“ (IV 100,120) gebraucht. Aussehen und Folgen der Geldwirtschaft sind ein weiteres typisch frühneuzeitliches Thema in den esopischen Fabeln. Bei der wiederholten Behandlung von ‚Geld‘ lässt sich das gleiche Verfahren beobachten, wie bei der Kritik an der Papstkirche, insofern in der Affabulatio ein Abstraktum be- oder verurteilt wird, während in den Narrationes zahlreiche dingliche Vertreter desselben Teil der Erzählwelt sind. Wird in den Affabulationes allgemein Gelt behandelt,122 so sind in der esopischen Fabelwelt verschiedene Münzarten unabgestimmt nebeneinander im Gebrauch. Geld ist vorhanden in Form von Währungsmünzen als auch in Form von

122 So in I 4,32; I 9,81; I 36,37; I 41,15; I 44,38; I 80,29 u. ö.; I 84,39; II 5,34; II 18,37; II 31,213; II 38,32; II 46,33; II 53,49; II 75,44; II 82,19; II 100,54; IV 11,36; IV 27,65; IV 29,62; IV 44,43; IV 50,60; IV 55,40; IV 63,56; IV 69,207; IV 78,76; IV 80,103; IV 82,128 u. ö.; IV 93,58; IV 94,297 und IV 100,112.  



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1 Tradition und Transformation

Scheidemünzen, bestehend aus Gold, Silber und Kupfer sowie in verschiedenen Währungen, aus dem deutschen Reich u. a. „glden“ (IV 21,115), „Taler“ (III 96,66), „Ducaten“ (IV 4,86), „Pfennig“ (IV 92,25), „Groschen“ (III 96,4), „Heller“ (IV 39,90) und „Batzen“ (IV 21, 73). Es kommen weit verbreitete Münzen vor, wie der „Schilling“ (IV 7,15), aber auch regional geschlagene wie der „Joachims Thaler“ (IV 99,539), der „Schreckenberger“ (IV 21,115) und der „Schneberger“ (IV 21,116) sowie ausländische Münzen, wie der „Rosen Nobel“ (I 20,29), französische „Kronen“ (IV 83,51) sowie „Carlin“ (II 75,29) und „quatrin“ (IV 24,90) aus Italien.123 Dass Geld und anderen Besitztümern in der Welt eine solche Geltung zugesprochen werden, wird in den Fabeln auf zweierlei Weise als problematisch dargestellt, denn so groß die Wertschätzung nun im Diesseits sei, für das Jenseits ist weltlicher Besitz nicht von Bedeutung, im Gegenteil könne ein vom Reichtum geprägtes Leben und der dadurch entstandene Lebensstil einen in die Hölle führen.124 Wie sehr Handel und Geldgeschäfte die Prioritäten verändern können, wird in IV 65 eindrücklich anhand eines angesehenen und weitbekannten niederländischen Kaufmannes geschildert. Auf dem Weg zur Frankfurter Messe erreicht er Mainz, wo er an der Pest erkrankt. Der Gastwirt sieht dies und führt einen „grawen Mnch“ (IV 65,18) zu ihm, der ihm die Beichte abnehmen soll. Der Kaufmann ist darüber sehr verwundert und weist den Mönch zurück, schließlich habe er zu tun. Selbst dem Hinweis des Mönches auf die Unvorhersehbarkeit des eigenen Todeszeitpunktes125 wird keine Beachtung geschenkt. Er argumentiert, es sei für ihn unmöglich zu sterben,  

123 Das Wissen um den Wert verschiedener Münzsorten ist nicht auf menschliche Figuren beschränkt, auch der Fuchs, als er den Wolf überlisten möchte und den Widerschein des Mondes im Brunnen als einen Parmesan anpreist, weiß von diesem zu berichten, dass von diesem „Zu Rom das pfundt glt ein Carlin“ (IV 8,57). Diese heterogene Versammlung bildet im Kleinen das zersplitterte, unübersichtliche Münzrecht im deutschen Reich des 16. Jahrhunderts nach, siehe den Kommentar zum Münzwesen im deutschen Reich in Esopus. Bd. 2, S. 64 f. 124 Anschaulich ist dies in der Fabel III 26, in dem ein Zwiegespräch zwischen dem Geizigen und seinem Geldsack auf dem Sterbebett wiedergegeben wird. Der Geldsack weiß sehr wohl um seine Eigenschaften und die Folgen, die er für Menschen hat: „EJn Wuchrer het bey seinen tagen | Viel gelt vnd gut zusamen gschlagen | Da er zum letsten sterben solt | Ließ er ein grossen Sack mit golt | Welchs er mit snd gewunnen het | Her zu jm bringen fr das Beth/ | Sprach/ Sack ich fahr hin meine strassen | Muß dich mit all den glden lassen | Vnd kan mein sach nicht leng verhelen/ | Sag an/ wem soll ich dich befehln | Wenn ich heut oder morn soll sterben? | Er sprach/ dein vngezohen Erben/ | Die mich mit Huren brengen vmb | Mit schwelgen/ jagen/ durch den brumb/ | Biß sies verschlemmen gantz vnd gar | Vnd deine Seel zum newen jar/ | Mit Meyen bsteckt/ dem Teuffel gsandt | Ewig werd in der Hell gebrandt“ (III 26,1–18). 125 „Jr seit zwar gar ein schwacher Gsell | Es weyß zwar niemandt obs so kem | Vnd euch der Herr von hinnen nem“ (IV 65,28–30).  

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Jn solchem gschefft vnd grossen gwerben Mit solcher grossen rechenschafft Damit mir mancher ist verhafft Mit viel tausent vnd grossen Summen (IV 65,32–35).126

Selbst dem Einwand, dass Der Todt achtet nit alles das Er geht dennoch stets seinen gang Solt ers auch haben keinen danck (IV 65,46–48),

wird abgewiesen. Es wäre dem Kaufmann „vntreglich“ (IV 65,46–48), blieben doch dann die Geschäfte unabgeschlossen liegen. Abrupt endet die Erzählung mit den Folgen einer solchen Einstellung. All der irdische Ruhm und finanzielle Erfolg nützen nichts, der Niederländer landet in der Hölle: „Vnd fuhr baldt hin in Nobis hauß | Da schlecht der Flam zum Fenster auß“ (IV 65,55 f.). Zusätzlich, so zeigen die Fabeln, birgt es bereits für das Diesseits große Gefahren reich zu sein, denn gerade in der von Krieg geprägten Welt ist es dem Armen ein Leichtes, bei der Belagerung einer Stadt zu fliehen, während ein Reicher von seinem Hab und Gut zurückgehalten werde:  

Den bringt sein Gelt in krieges not Jn grosse fahr/ vnd in den Todt/ Jn Kriegs geschefften ist das gelt (Dauon der mensche gar viel helt) Mehr hinderlich vnd beschwerlich Denn breuchlich oder frderlich (I 80,49–54).

In der Unberechenbarkeit diesseitiger, weltlicher Zustände bieten auch Geld und Reichtum keine Sicherheit, „Denn Gelt vnd gut ist farende hab | Vnd mit dem glck gehts auff vnd ab“ (I 84,39 f.). Damit ist ein weiterer Bereich angesprochen, der von Unsicherheit geprägt ist. Die Kontingenzerfahrung vom Glückswechsel wird immer wieder in der Sammlung genannt: „So geht die Welt jetzt auff vnd nider“ (IV 58,62),127 „das glck ist wandelbar“ (I 14,43), das Bild vom Glücksrad wird in I 33,37 gebraucht:  

126 Es wird weiter ausgeführt, dass ihm die Geschäfte nicht erlauben, jetzt zur Ruhe zu kommen: „Mancher mir da Gelt geben will | Dem andern bin ich schldig viel/ | Die all dahin meinthalben fahrn | Vnd als auff meine zukunfft sparn | Wurd jetzt nit gschlichtet alle sachen | So solts ein grsser jrrung machen“ (IV 65,39–44). 127 Versidentisch kommentiert so in IV 8,78 der Fuchs das Auf- und Absteigen der Brunneneimer in der Brunnen-Episode, in welcher er den Wolf überlistet, der am Ende im Brunnen bleibt. „So geht die Welt jetzt auff vnd ab“ (II 46,47) schließt in II 46 die Deutung der Fabel. Damit wird

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1 Tradition und Transformation

„Wenn sich das glcksradt schnell vmbkert“. Glückswechsel kann jeden treffen, die Abhängigkeit von Glück ist ein Merkmal menschlichen Handelns: Die Fabel thut vns zeigen an Wie Menschlich hendel sein gethan Das glck vnd vnglck/ lieb vnd leydt Eins das ander am rcken treyt (II 52,27–30).

Diese Thematik ist etwa verarbeitet in der Erzählung von III 92 Wie ein Sewhirt zum Apte wirdt. Der Protagonist erlebt im Laufe der Fabel den Umschwung vom Glück ins Unglück und wiederum vom Unglück ins Glück, somit eine volle Drehung des Glücksrades. Glückswechsel muss nicht lediglich nur die Erfahrung von Verlust sein, es kann auch der Gewinn jederzeit (wieder) möglich sein: Weils dem mißgeht/ vnd vngelckt/ So kans doch wider kommen offt Das der (wenn man sichs nit verhofft) Welcher erst wardt verdrcket gar Mit freuden schwebt wider empor (I 98,22–26).

Manchmal genüge ein Ortswechsel, denn es komme vor, „Das einer offt in einer Stadt | Mehr glcks denn an der andern hat“ (II 31,203 f.). Jeder, egal welchen Standes, welche Tugenden oder Gaben er besitzt, sei es Schönheit oder Intelligenz, kann von einem solchen Umschwung betroffen werden:  

Auff Erden ist kein glck so hoch Dem vnglck nicht kan folgen noch/ Darumb schrey niemandt/ hie gelungen Er sey denn erst hinber gsprungen (II 74,25–28).

Dies gilt für jeden Leser ebenso wie für die heterogene Vielfalt an Fabelfiguren. Neben traditionelle, äsopische Figuren wie etwa Hahn, Lamm, Fuchs, Wolf, Kürbis, Apfelbaum, Berg oder auch Tonkrug treten menschliche. Im vierten Buch sogar in 72 der 100 Fabeln. Diese unterscheiden sich wiederum mitunter stark voneinander. Es finden sich Vertreter aller Stände, der verschiedensten Berufe und Gruppen wie Bauern, Studenten, Gelehrte, Bürger und Bürgerinnen, Adlige u. a. Fürsten und Könige, unterschiedliche Kleriker, Kaufleute, Krämer, Bettler, Gärtner, Ärzte, Kaufleute, Studenten, Fischer, Optiker, Stiefmütter, Ehefrauen, Huren, Nonnen, Kriegsmänner, Schultheißen, Juristen, Kriminelle, Wahrsager  

das verbreitete Verhalten kommentiert, jemanden wertzuschätzen, solange dessen Taschen gut gefüllt sind, sich aber abzuwenden, sobald sich diese als leer erweisen.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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und viele mehr. Die Überschriften der Fabeln, die die Protagonisten aufführen, lenken den Blick auf die Figuren und geben im Register, das die Überschriften wiedergibt, in nuce diesen Eindruck wieder.128 Die Vielfalt der Fabelfiguren ermöglicht die Darstellung einer weiteren Erfahrung. So werden zwar manche Zustände und Regeln als gültig für alle Menschen dargestellt, zugleich wird aber ausgestellt, dass nun mal nicht alle Menschen gleich sind oder für alles gleich geeignet sind. Neben traditionellen Themen der äsopischen Fabel wie, dass die Schwachen unter den Starken leiden, die Einfältigen sich vor den Listigen, überhaupt der Gute sich vor dem Bösen vorsehen muss, ist die Ungleichheit von Menschen im Esopus weiter ausdifferenziert. Ist der Mensch allein schon unterschieden in der ‚Begabung‘ mit Schönheit, Verstand, Glück oder Güte,129 gilt dies auch für seine berufliche oder ständische Zuordnung, so gelten für den Bauern andere Regeln als für den Adligen oder den Gelehrten.130 Der Kontrast zwischen voneinander abweichenden Lebensformen tritt im Aufeinandertreffen von sich unterscheidenden Figuren durch Handlungen oder sprachliche Äußerungen deutlich zutage, etwa in Bezug auf das Sexualverhalten des Eremiten und des Landsknechts (II 79). Die im Esopus sich zeigende Pluralität der menschlichen Verhältnisse wird als gottgegeben begründet. So werde man in einen Stand, ein „Ampt“ oder einen „beruff“ hineingeboren. Für diesen sei man ausgewählt und geeignet: Ein jeder sehe auff sein beruff Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff Denn nicht all ding ein jederman Außrichten/ vnd bestellen kan/ Wo die Natur thut widerstreben Dahin soll sich niemandt begeben (I 13,43–48).

128 Zum Aufbau der Sammlung und den Peritexten siehe das Kapitel „Zur „form vnd ordnung“ der Fabelsammlung Esopus“. 129 „Die gter welch der Mensche hat | Sind nicht all gleich/ in einem Gradt | Glck ist gut/ wer damit begifft/ | Leiblich schnheit es vbertrifft/ | Doch ist des hertzen schn/ vnd zier | Besser denn ander gaben vier“ (II 20,19–24). 130 Diese Regel, die sich auf die natürlichen Eigenschaften bezieht, wird auch anhand von unbelebten Gegenständen in den Erzählungen umgesetzt. So verkennt das Wachs in II 81 seine natürliche Eigenschaft, die Weichheit, die es verantwortlich dafür macht, dass es zerschnitten und geprägt wird, obwohl es jedem nur Gutes tue und das Ergebnis der fleißigen Arbeit von Bienen sei. Um ewig zu währen („Das ich mag weren tausent Jar“ [II 81,15]), möchte es sich ein Beispiel an „weycher Erdt“ (II 81,10) nehmen, die zu Ziegelsteinen gebrannt werden, und sich „Jm heissen Ofen herten lassen“ (II 81,14). Das Ergebnis ist vorhersehbar, die widernatürliche Veränderung führt zum sofortigen Verderben: „Da es nein kam/ verschmaltz es gar“ (II 81,16).

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1 Tradition und Transformation

Das Verhalten des Einzelnen wird in Beziehung zum Allgemeinwohl gesehen: „Ein jeder bleib bey seinem standt | So steht es wol im gantzen Landt“ (I 13,55 f.). Die Fabeln im Esopus reagieren aber darauf, so lässt sich der wiederholte Imperativ lesen, dass manche mit ihrem beruff wohl doch nicht so zufrieden sind:  

Ein jeder soll zu frieden sein Mit seim befelh/ Ampt/ vnd beruff Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff (I 4,22–24).131

Die Wahrnehmung und Darstellung von Pluralität geht einher mit dem Beharren auf ein traditionelles Welterklärungsmodell. Zwar nicht aufgeteilt in drei Stände, so zeigt sich hier doch die mittelalterliche Vorstellung von einer gottgegebenen Gesellschaftsordnung. In den Fabelerzählungen ist es häufig der städtische Raum, der zunehmend im letzten Buch der Sammlung als Handlungsort der Fabeln genannt wird und der ein Nebeneinander und Aufeinandertreffen der pluralen Protagonisten ermöglicht. Hierbei tritt neben den städtischen Raum, der sonst nicht näher beschrieben wird, die räumliche Situierung von Fabeln in konkreten Städten oder deren Erwähnung wie Freiburg (IV 32), Mainz (IV 65), Worms (IV 28), Köln (IV 60), Straßburg (III 89; IV 93), Heidelberg (IV 7), Lübeck (IV 42; IV 82), Magdeburg (IV 15) und vielen mehr.132 Diese kann neben ihrer Funktion der Ausgestaltung der Erzählwelt zugleich als eine Annäherung an den intendierten, städtischen Leser verstanden werden und spiegelt die in der frühen Neuzeit im Vergleich zum Mittelalter gestiegene Bedeutung der Stadt wider. Schon der Beginn der Vorrede weist in den städtischen Raum, so ist diese an den „Erbarn/ Namhafftigen vnnd Weisen Herrn/ Ern Johann Butten/ Burgermeister der Stadt Riga in Lyfflande/ meinem gnstigen Herrn/ vnd Freunde“ (Vorrede, Z. 1–3) gerichtet. Die Arbeit an der Fabelsammlung, so der Autor selbst, begann in der Stadt Riga:

131 Ebenso in I 18, 27–29: „Ein jeder laß sich nicht gerawen | Seines beruffs/ mit allen trawen | Demselben fleissig stellen nach“. 132 Für eine komplette Übersicht siehe Lieb: Erzählen, S. 211–214. Die Stadt wird auch für den Bauer, der als einer der wenigen menschlichen Figuren nicht dem Raum Stadt angehört, zum Handlungsort. Sei es, dass dadurch die bäurische Einfalt betont wird (II 12), dass unterschiedliche Geltungsansprüche betont werden (III 15), dass die Fahrt des Bauern in die Stadt Ausgangspunkt für eine Handlung wird (IV 99) oder dass die Absenz des Bauern für den Handlungsfortgang vonnöten ist (IV 66,15 f.). Auch für äsopische Fabeltiere ist die Stadt in einer der von Waldis erfundenen Tierfabeln von Bedeutung, so erzählt im vierten Buch der Wolf von Begebenheiten, die er bei einem Ausflug in eine Stadt erlebt hat, siehe IV 49,30.  

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Jch hab mich noch wol zu erinneren/ das ich E. E. vor etlichen Jaren da ich alda bey euch anhub/ mich in den Fabeln Esopi zubemhen/ die selbigen auß dem Latin/ inn vnsere Deutsche Sprachen zubringen/ vnd in gebundene Gedicht vnd Reimen zefassen vnderstanden/ zugsagt vnd verheissen hab/ das/ so bald das selbige Buch gefertigt/ Jchs E. E. zuschreiben vnnd also im Druck ausgehn lassen“ (Vorrede, Z. 5–10).

Auch werden manche Fabelerzählungen auf Situationen und Vorgänge übertragen, wie sie in einer Stadt üblich seien. So wird die Fabel vom Krieg zwischen Maus und Frosch, die schließlich, weil sie vom Kampf miteinander abgelenkt sind, beide von einem Greifvogel ergriffen werden, in Bezug auf die Streitigkeiten von Bürgern in einer Stadt gedeutet: Also geschicht offt in einr Stadt Die zweyspaltige Brger hat Ein jeder gern vorm andern wer Des andern Oberkeit vnd Her (I 3,19–22).

In diesem Fall ist die Übertragung der Erzählung auf die Konflikte unter Bürgern aus dem Morale133 der Vorlage übernommen.134 In anderen Fabeln setzt Waldis die Übertragung auf die Stadt unabhängig von der Vorlage, wie in I 16. Darin warnt die Schwalbe die anderen Vögel vor der Flachsaussaat, ihr Rat wird aber nicht beachtet. Die Vorlage behandelt Passivität, die vor allem dann fatal sein könne, wenn man von Verlusten und Gefahren bedroht sei.135 Im Esopus hingegen dreht sich die Deutung der Erzählung zuerst um den Rat der Weisen, die im Rat der Stadt nicht beachtet werden würden: Es gschicht noch offtmals in eir Stadt Das ein vorstendig man im Rath Auß Weißheit redt allzeit das best Wirdt nicht angnomen/ so gschicht zu letst

133 Ein ‚Morale‘ (Pl. Moralia) benennt in dieser Arbeit den zumeist einsinnigen Lehrsatz in lateinischen und aus dem Lateinischen übersetzten Fabelsammlungen, insbesondere aus der Hauptvorlage des Esopus, aus dem Aesopus Dorpii. Der Begriff wird in dieser lateinischen Fabelsammlung wie etwa auch bei Erasmus Alberus selbst für diesen Fabelteil benutzt. 134 „Morale. Itidem evenire solet factiosis civibus, qui accensi libidine dominandi, dum inter se certant fieri magistratus, opes suas plerumque etiam vitam in periculo ponunt“ (Esopus. Bd. 2, S. 43). 135 „Morale. Multi nec ipsi consulere sibi norunt nec recte consulentem audiunt. Sed cum in periculis sunt et damnis, tum demum sapere incipiunt et suam damnare socordiam. Tum sat superque consilii est. Hoc, inquiunt, et illud factum oportuit. Sed praestat esse Prometheum quam Epimetheum. Fuere hi fratres, nomina sunt graeca. Alteri consilium ante rem fuit, alteri post rem, quod declarat interpretatio nominum“ (Esopus. Bd. 2, S. 56).

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1 Tradition und Transformation

Das widerspiel als er gerathen Denn spricht man/ ach/ das wirs nicht thaten (I 16,79–84).

Mit der Pluralität der Fabelwelt geht die Möglichkeit einher, dass für den zeitgenössischen Leser aktuelle Themen in der Fabelerzählung narrativ wie in der Affabulatio argumentativ aufbereitet werden. Dies ist auch auf die Vielfalt an narrativen Kleintexten im Esopus zurückzuführen. Der traditionelle Bestand äsopischer Erzählungen wird um solche erweitert, die die Erzählforschung u. a. als Historien, Mären, Schwänke, Witze oder Fazetien definiert hat.136 Die Forschung am Esopus hatte bereits in ihren Anfängen ein starkes stoffgeschichtliches Interesse, die Frage nach den Vorlagen ist weitestgehend geklärt.137 Im Kommentar der neuesten Edition wurden, soweit möglich, alle Vorlagen ermittelt und die Referenztexte der Hauptvorlage ediert.138 Die Aufnahme und Transformation ursprünglich fabelfremder Erzählungen hat aber nun auch Auswirkungen auf das Erzählen und Deuten im Esopus. Mit der Aufnahme von Erzählungen, die gattungsdefinitorisch der ‚Zote‘, der ‚Anekdote‘, der ‚Fazetie‘ oder dem ‚Schwank‘ zuzuordnen wären, entscheidet sich Waldis für die Integration von „kurzen pointierte[n] Geschichten“, die allesamt „vom witzigen Ausgang menschlicher  

136 Damit einhergehend ergibt sich die von der Fabelforschung selbst geschaffene Problematik von Abstimmungsschwierigkeiten, da die im Esopus versammelten Fabeln nicht mit dem in der heutigen Forschung etablierten Gattungsbegriff ‚Fabel‘ in Übereinstimmung zu bringen sind. Zu Überlegungen zur Gattung siehe das Kapitel „Zum Gattungsbegriff ‚Fabel‘“. 137 Bereits Kurz, der mit seiner Edition der Ausgabe von 1557 die Grundlage für die wissenschaftliche Arbeit am Esopus gelegt hat, hat sich 1862 in Einleitung und Kommentar mit den Quellen „so weit wir es ermitteln konnten“ befasst (siehe Kurz: Esopus. Bd. 1, S. XXIV). Doch ist Kurz über die Hauptquelle, eine humanistische Sammlung äsopischer Fabeln, „noch sehr ungenügend unterrichtet“ (Stiefel: Zu den Quellen, S. 249). Erst für Tittmann konnte die „Frage nach der unmittelbaren Quelle, aus der Burchard seine Stoffe holte“, nicht „lange ungelöst bleiben“ (Tittmann: Esopus, S. LVIIf.). Arthur Stiefel hat sich schließlich der Quellenfrage in Einzelstudien gewidmet, vgl. Arthur Ludwig Stiefel: Zu den Quellen des ‚Esopus‘ von B. Waldis. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Neue Serie 9 (1902), S. 249–279; Arthur Ludwig Stiefel: Über den Esopus des Burkhard Waldis. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 3 (1903), S. 486–495 sowie Arthur Ludwig Stiefel: Der Schwank von den drei Mönchen, die sich den Mund verbrannten. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 13 (1903), S. 88–90. 138 Ergänzungen zu den Bearbeitungsverzeichnissen liefern in ihren Besprechungen der Edition Hans-Jörg Uther: Rez. zu Burkard Waldis: Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548 Hg. von Ludger Lieb, Jan Mohr und Herfried Vögel. Teil 1: Text. Teil 2: Kommentar. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 154). In: Fabula 53 (2012), S. 159–162 sowie Gerd Dicke: Rez. zu Burkard Waldis: Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548 Hg. von Ludger Lieb, Jan Mohr und Herfried Vögel. Teil 1: Text. Teil 2: Kommentar. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 154). In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 35 (2017), S. 161–168.

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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Koflikte erzählen“.139 Der Grundton bleibt wie auch bei äsopischen Fabeln zumeist ein heiterer und unterhaltsamer. Wie schon bei äsopischen Fabeln finden hierbei Gattungen Eingang, die ihrem Ursprung und Zweck nach eine mündliche Form aufweisen und die dem Wiedererzählen in geselliger Runde dienen.140 Die Anekdote erscheint als „knappe, bündige Erzählung ohne Nebenhandlung“, sie teilt mit der äsopischen Fabel somit die Kürze, die einsträngige Handlung und einem dem einsinnigen, kurzen Lehrsatz vergleichbaren Abschluss. Weitere Ähnlichkeiten zur ‚Fabel‘ ergeben sich durch „die ungewöhnliche Situation, die unerwartete Wendung des Geschehens und in der Mehrzahl der Fälle de[n] einprägsame[n] Ausspruch am Ende der Geschichte“. Im Esopus findet sich die Anekdote sowohl als Bericht eines Anderen wie in IV 17 und IV 18 als auch als Wiedergabe eines Erlebnisses des Sprecher-Ichs wie in IV 28 oder IV 31. Sehr nahe steht der ‚Anekdote‘ die ‚Fazetie‘, die „[s]chwankhaft-anekdotische Kurzerzählung“141, die sich durch ihre „Vorliebe für biotisch-,alltägliche‘ Sujets, für Erotisches und Sexuelles bis hin zum Obszönen, für Sozialkritisches (insbesondere zu Klerus, Universitätsleben usw.)“ auszeichnet.142 In die thematische Ausrichtung des Erotischen, Sexuellen bis hin zum Obszönen drängt auch die ‚Zote‘ als eine derart inhaltliche bestimmte Sonderform des Witzes, der hier als Erzählform begegnet. Der mit den Gattungen ‚Fazetie‘, ‚Anekdote‘ und ‚Historie‘ einhergehende Wahrheitsanspruch, „die – angeblich verbürgte – Wahrheit des Geschehens“143 widerspricht der äsopischen Fabel. Dieser Widerspruch ist jedoch irrelevant für die Anpassung an die zweigeteilte Struktur von Erzählung und Affabulatio. Übergeordnet ist die Lehrhaftigkeit, während strukturell-funktionale Besonderheiten als nachrangig betrachtet werden. Dergestalt ermöglicht die Aufnahme dieser Erzählungen die thematische Ausweitung. Solche in Fabelform transformierte Erzählungen erlauben die argumentative Bewertung etwa von Sexualität. Diese ist einerseits Teil von Erzählungen von Normbrüchen – typisch etwa für Erzählungen, die als Mären überliefert sind, geschieht dies als Ehebruch (IV 60; IV 66; IV 81). Andererseits ist Sexualität aber auch als positiv bewertete Norm in der Ehe benannt, so in der Affabulatio von II 62: Der Ehestandt zwischen Fraw vnnd Man Mag keines wegs im fried bestahn/ Es sey denn das der freuden Nagel An welchem hangt das vnder Gagel/

139 140 141 142 143

Heinz Schlaffer: Anekdote. In: RL. Bd. 1, S. 87–89, S. 87. Ebd., S. 87. Wilfried Barner: Fazetie. In: RL. Bd. 1, S. 572–575. Ebd., S. 572. Heinz Schlaffer: Anekdote. In: RL. Bd. 1, S. 87.

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1 Tradition und Transformation

Sie beiden fest zusamen hafft Sonst geht die lieb nicht in jr krafft/ Denn mehrt sich liebe/ trew/ vnd zucht/ Wenn sie sehn jres standes frucht (II 62,37–44).

Solche Fabeln ermöglichen das Erzählen von der Vielfalt einzelner Lebensbereiche wie Jugend, Alter, Ehe oder Krankheit und verschiedener Lebensformen, wie etwa der klösterlichen Daseinsform oder der Berufstätigkeit als Kaufmann. Tiergeschichten bieten andere Möglichkeiten des Erzählens wie des Deutens als etwa Schwankerzählungen. Krieg kann auch behandelt werden, wenn erzählt wird, wie die Vögel „einen streit/ | Mit den vierfssigen Thieren“ (I 34,2) haben, denn das Mittel der Gewalt und das Recht des Stärkeren gelten insbesondere im Tierreich. Anders gestaltet sich dies etwa bei der narrativen Verhandlung der Probleme in einer schlechten Ehe. Erzählerisch wird dies in äsopischen Fabeln nicht umgesetzt. Dies leisten eben die schwankhaften Erzählungen, die von Waldis integrierend aufgenommen werden. Sie erzählen von gesellschaftlichen, normativen und sozialen Konflikten, darunter auch solchen in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Das den Erzählungen zugrundeliegende Verhältnis ist ein traditionell-konservatives. Als Norm gilt das Eheverhältnis mit einem klaren Machtverhältnis zugunsten des Mannes. Die Arbeitsteilung sieht für den Mann die Versorgung der Familie vor, Haushaltsführung und Aufzucht der Kinder obliegen der Frau. Waldis belässt es aber nicht bei Erzählungen, die von Eheproblemen und Normverstößen erzählen. Anhand der Verhandlung von Ehe lässt sich eine weitere Eigenheit im Erzählen und Deuten im Esopus aufzeigen. So wird erzählt, dass es unter konkurrierenden Lebensweisen solche gibt, die klar zu bevorzugen sind, aber wiederum eigene Probleme mit sich bringen. Der Gegenentwurf zur Lebensform Ehe ist die monastische, zölibatäre Lebensweise. Diese wird im Esopus klar abgewiesen. Unter Berufung auf Bibelwissen wird die Beziehung zwischen Mann und Frau im Ehestand als „Gotts Ordnung“ (IV 30,52) bezeichnet, die allzeit gültig sei. Das Leben im Kloster wird daher deutlich abgelehnt: Allein das mich die Schrifft bericht Gott schuff dem Menschen seel vnd leib Von anfang/ das sie Mann vnd Weib Solln sein/ im Ehestandt Kinder beren Segnets/ hieß wachssen vnd vermehren Dasselb also nu vor sich geht Vnd biß zum end der Welt besteht Wer nit demselben gmeß will leben Der thut Gotts Ordnung widerstreben Hilfft nit/ das man das har abschneidt Oder ist kein Fleisch auff etlich zeit Enthelt sich von der Leut gemeynschafft (IV 30,44–56).

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1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

Was in einigen Fabelerzählung als Thema narrativ verhandelt wird, – sexuelle Enthaltsamkeit als Ursache für Krankheiten144 – wird in den Affabulationes explizit als ein widernatürlicher Zustand benannt und mit der Berufung auf Erfahrung und die göttliche Ordnung als Norm abgelehnt: DJe erfarnheyt lert jederman Wies der Natur ist angethan Das sie bey paren komen zamen Sich mehren mssen/ vnd besamen/ Alles was vnderm Himmel lebt Vnd wer demselben widerstrebt Der widerstrebt Gotts Ordenung (II 60,1–7).

Es bleibt aber nicht allein bei der Abweisung der zölibatären Lebensform145 und der Darstellung der Ehe als ideale Beziehungsform von Mann und Frau. Damit ist

144 Mit einigen Zweideutigkeiten gespickt wird dies in II 60 Von einem Kleusener und in IV 40 Vonn einer krancken Nonnenn als gültig für beide Geschlechter vorgeführt. Doch zeigen sich im Wissen um die Krankheit und die Behandlung Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Mann kommt so jung ins Kloster, dass er bis ins Alter von 25 „noch sahe noch rrt kein Weib“ (II 60,16). Erst die von den Freunden angeforderten Ärzte erkennen die Krankheit: „Die rtzt sprachen/ er hat den geyl | Es hilfft kein Kraut fr diesen feyhl“ (II 60,31 f.). Der Kranke wehrt sich erst heftig gegen die Behandlung („Ein Fraw die jm ein Ader ließ“ [II 60,34]), würde sogar lieber den Tod wählen: „Das sie mir meinen Leib anrr | Den Todt kieß ich lieber dafr“ (II 60,37 f.). Die heftigen Tränen am nächsten Morgen werden von den Umstehenden als Zeichen der Reue gedeutet, dass er für die Genesung seiner Krankheit „eine solche Metten glesen“ (II 60,58) hätte. Tatsächlich aber sind es Zeichen der Reue über die bisher eingehaltene Keuschheit und die Erkenntnis, was er bisher verpasst habe: „Da sprach der Gsell/ ach neyn/ ach neyn | Dasselb ich warlich nicht beweyn/ | Sondern das ich ein junger Knab | Vnd doch nicht eh geschmecket hab/ | Solch grosse freud vnd sssigkeyt | Das bweyn ich jetzt/ vnd ist mir leydt“ (II 60,59–64). Ist im Falle des Jungen die Verurteilung der sexuellen Enthaltsamkeit an die jugendliche Naivität gekoppelt, ist es bei der Darstellung von Nonnen der Aspekt der Listigkeit und sexuellen Unersättlichkeit. Die Nonne, die in IV 40 erkrankt, weiß nämlich ihre ratlosen Konventsschwestern aufzuklären, dass sie fiebert und ihr „Vor grosser hitz auß bricht der schweyß | Solch grosse glut/ vnleidlich hitz | Macht das ich aussen vnd innen schwitz | Ja wo mir nit mag gholffen werden | Muß ich vnzeitig von der Erden“ (IV 40,20–24). Nach den nutzlosen Behandlungen der Nonnen mit „mancherley Klwasser“ (IV 40,26) nennt die Frau unter Reuebekundungen über die Wahl des Klosterlebens das Medikament ihrer Wahl: „Das Wasser welches lescht solch Fewr | Jst zwar in vnserm Kloster thewr | Allein der Probst hat einen Brunnen | Den bescheint kein Stern/ Mon/ noch Sonn | Het ich desselben einen tropffen | So wolt ich all mein kummer stopffen“ (IV 40,39–44). 145 Hierzu gehören auch die Fabeln, die von Klerikern erzählen, welche sich nicht an die Enthaltsamkeit halten. Solche Fabeln greifen nicht selten auf schwankhafte Stoffe zurück (IV 33), oder sind in Schriften zuvor nicht nachweisbar, könnten also auch Erfindungen des Autors sein (IV 22; IV 89). Der Bruch des Zölibats wird variiert. Von ihm wird als einmaliges Ereignis erzählt wie in  



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1 Tradition und Transformation

zwar eine soziale Lebensform einer anderen klar vorgezogen, doch auch die präferierte Sozialordnung ist durch Normbrüche bedroht. Die ideale Lebensform von Mann und Frau ist die Ehe, die hierarchisch geordnet ist, die Autorität wird dem Mann zugesprochen. In mehreren Fabeln wird erzählt, dass die Einlösung dieses Ideals problematisch ist. Die Möglichkeit einer guten, friedvollen Ehe wird nicht abgewiesen, im Gegenteil sogar als Erfahrung von Figuren beschrieben, die zum Zeitpunkt der Erzählung eine zweite Ehe eingegangen sind, wie in der Erzählung von II 80, in welcher beide Ehepartner verwitwet sind: Der Mann het vor gehabt ein Weib Die jn gleich jrem eygnen Leib Jn allen ehren het geliebt Vnd solchs auch mit der that gebt (II 80,3–6).

Die zweite Ehe steht im Gegensatz zu der Erfahrung, die der Mann in der ersten Ehe gemacht hat, weil die jetzige Ehefrau ihrem zweiten Ehemann stets die Taten des ersten Ehemannes vorhält: Aber diß Weib bracht jm stets fr Jrn ersten Man da fr die Thr/ Sein grossen ernst/ ehrliche thaten Die jm zu ehrn geholffen hatten/ Thet jm ein wort verschweigen nicht All malzeit bracht frs erst gericht Jrs erst gestorben Mannes kopff/ Das auch zuletst der arme Tropff Vmb friedens willn mußt viel verschweigen Vnd ließ sie jmmer anhin geigen (II 80,7–16).

Bereits eine erfolgreiche Ehe geführt zu haben, so zeigt sich, ist keine Garantie für eine erneute glückliche Ehe. Im Rückgriff auf den Topos der tugendlosen Ehefrau, der auch in Schwankerzählungen wirksam wird, werden die Laster der Frauen, die Konflikte in der Ehe auslösen können, variiert: Listigkeit, Unkeuschheit und

IV 22, in der ein Mönch die Aufforderung einer Mutter, die faule sechzehnjährige Tochter zu „wecken/ | Vnd weydlich mit der rhuten schrecken“ (IV 22,15 f.), in einem anderen Sinn interpretiert als es die Mutter vorgesehen hatte. Häufiger wird die sexuelle Aktivität des Klerikers als eine beständige gezeigt, als Normalzustand im Kloster (IV 33), als langjährige Beziehung eines Pfaffen mit einer Metze (IV 39), in der der Pfaffe sogar bereit ist, seine Pfarrvikarie für seine schöne „Elene“ (IV 39,70) aufzugeben sowie rückblickend, wenn der Kardinal Campeggio von einem alten „Dorffpfaff“ (IV 17,41) erzählt, der ihm beichtete, zahlreiche Kinder mit einer „arme[n] Magd“ (IV 17,50) gezeugt zu haben, die mittlerweile alt genug seien, um ein Handwerk zu erlernen, und ihn dann darum bat, er möge ihm „vor dieselben Kinder allen | Ein Ehebrieff geben“ (IV 17,62 f.).  



1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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daraus resultierende Treulosigkeit im versuchten und vollzogenen Ehebruch, der auch zu unehelichen Kindern führt,146 Faulheit, Fress- und Trunksucht147 und Unehrlichkeit.148 Mitunter scheitert eine glückliche Ehe auch an der unbegründeten Bösartigkeit der Frau. Dies wird im Erzähleingang von III 98 behandelt: Als etlich sein die darnach streben Das sie zu vnlust vrsach geben/ Thun offt bses/ das jn zum frommen Oder zu nutz mag nimmer kommen/ Wie solchs gemeyn ist vndern Weiben Welch fleissiglich das redlin treiben Mutwilliglich jr Mnner hetzen Vnd teglich auff den Esel setzen (III 98,7–14).149

So wird der Ehestand zwar als „Gotts Ordnung“ (IV 30,52) bezeichnet, eine gute Ehefrau aber als Gottesgeschenk dargestellt: Hab offt gehrt von Frawen list Das sie gar vnaußgrndtlich ist/ Wol dem/ der ein frommes Weib hat Ein solcher hat zu dancken Gott/ Von den Eltern han wir das leben Sie knnen Gelt vnd gut auch geben/ Aber ein ehrlich frommes Weib Zum Ehestand vor dein eygen leib Die wirdt alleyn von Gott beschert Wie der weiß Salomon vns lert (IV 11,31–40).

146 So in IV 11, in der die Frau ihrem Mann durch eine List den Ehebruch beichtet, ohne dass es diesem klar ist, und IV 71, in der der Mann das Kuckuckskind als solches erkennt und sich durch den Verkauf des Kindes rächt. 147 So wird der Schultheis aus Damerau bei der Wahl seiner zweiten Frau getäuscht. Er hält seine Frau zuerst für „nchtern/ zchtig/ frumb“ (IV 19,17), nach ungefähr einem halben Jahr lässt sich aber die schlechte Erziehung nicht mehr verbergen: „Sie war vnendtlich/ vnd vntchtig | Stundt nit wie vor im Hauß auffrichtig | Vor aller arbeit stetes schault | Des morgens lang im Betthe fault | Wenn der Mann seim gewerb nachtracht | Jn dem die Fraw sich frher macht | Vnd kropffet sich mit essen wol | Soff sich mit jrer Mutter voll | Vnd lebt den gantzen tag im sauß“ (IV 19,19–27). 148 Siehe zu den Themen Sexualität, Frauen und Ehe auch Esopus. Bd. 2, S. 9 f. 149 Es werden Motive für das Verhalten der Fabelfigur genannt. Grund sei die Absicht, den Mann so zu provozieren, um genug Grund für eine Trennung zu haben: „Der het ein Weib die war nit alt | Lstig/ frwitzig/ wol gestalt/ | Die ward von tag zu tag vnbendig/ | Halsstarrig/ knorrig/ wetterwendig | Vrsach zu suchen stets sich fliß | Das sie sich von dem Mann abriß | Das ers solt schlagen oder rauffen/ | Auff das sie einst mcht von jm lauffen“ (III 98,21–28).  

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1 Tradition und Transformation

Fabeln, die eine in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Konstellation von einem reichen, alten Mann und einer jungen, treulosen Frau aufweisen,150 dienen einerseits dazu, die Treulosigkeit von Frauen zu behandeln, sie machen aber auch darauf aufmerksam, dass der Ehemann die falsche Ehefrau ausgewählt hat. Falsch ist die Wahl daher, weil die beiden Partner zu unterschiedlich sind. Der alte Mann hätte eine ihm im Alter angemessene Frau wählen sollen: Eim alten rath das er so bleib Fehrlich ists das er nimpt ein Weib Kan er sich aber nit enthalten Laß ers mit seines gleichen walten (III 83,23–26).151

Selten wird im Esopus die Ehe aus Sicht der Ehefrau beschrieben. In IV 30, die sich primär auf den Unterschied zwischen klösterlichem und ehelichem Leben einer Frau konzentriert, lädt eine Nonne, nachdem sie „wol bey Zehen Jar“ (IV 30,2) im Kloster war, ihre in der Stadt lebende und verheiratete Schwester ein. Die Ehefrau folgt der Einladung, nachdem sie sich die Erlaubnis des Ehemannes geholt hat.152 Sie „Theten einander fleissig fragen | Vnd vnder sich jr noth zu klagen“ (IV 30,19 f.), bis sich die Nonne zuletzt unter Tränen über das Leben in  

150 Vgl. hierzu die zahlreichen Flugblätter, die unter dem Eintrag ‚Ehebruch‘ im Register des dritten Bandes von Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. I: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 1: Ethica. Physica. Hg. von Wolfgang Harms und Michael Schilling zusammen mit Barbara Bauer und Cornelia Kemp. Bd. II: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 2: Historica. Hg. von Wolfgang Harms zusammen mit Michael Schilling und Andreas Wang. Bd. III: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 3: Theologica. Quodlibetica. Bibliographie. Personen- und Sachregister. Hg. von Wolfgang Harms und Michael Schilling zusammen mit Albrecht Juergens und Waltraud Timmermann, Tübingen 1985–1989 [Bd. II, München 1980] versammelt sind. 151 Als Erkenntnis spricht dies sowohl der bis zu seiner im Alter von 70 Jahren geschlossenen Ehe „vnuorsichtige[] Alte[]“ aus, der bis zu seiner Heirat keusch lebte: „Der nam ein Dirn von achtzehen Jarn | Zur Ehe/ da sie beynander warn/ | Vnd er die pflicht geleisten solt | Vnd kundt doch nicht so viel sie wolt/ | Sprach er/ ich sihe wol wie sichs hellt | Mein leben hab ich vbel bstellt/ | Jn meiner Jugent het kein Weib | Zur notturfft/ vnd zur zeit vertreib/ | Jetzt ists auch widersinns gethan | Vnd hat mein Weib auch keinen Mann“ (II 56,5–14), als auch der Alte, der beobachten muss, wie die jungen Gesellen in seinem Haus ein und aus gehen und dies mit seinen eigenen Taten in der Jugend in Verbindung bringt: „Wie jenem alten Mann geschahe | Der teglich jung Gesellen sahe | Zu jm vnd seiner Frawen kommen | Die er erst newlich het genomen/ | Vnd kundts nit keren/ sprach zuletst/ | So/ lieben Gsellen thut das best/ | Was ich nit kan/ ein ander bstell | Da ich auch war ein junger Gsell | Pflag bey ewrn Vttern so zuthan/ | Vor das muß ich auch diß nun han“ (IV 16, 53–62). 152 „Sie bat jrn Mann das ers hinauß | Ließ fahrn/ versorgt dieweil das hauß“ (IV 30,7 f.).  

1.2 Zur Vielfalt von Themen und Figuren im Esopus

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der Klausur beklagt. Die als tugendsame Ehefrau geschilderte Schwester reagiert darauf mit Unverständnis und beschreibt ihr eigenes Leben: Die Fraw sprach/ Schwester/ thut nit so Jch werd meins lebens auch nit fro Daheym muß ich stets meinem Mann Gehorsam sein/ vnd Vnderthan Da weynen offt die kleinen Kindt Hab auch ein vngezohen Gsind On was sich sonst teglich zutregt Was mir vom Mann wirdt auff gelegt/ Drumb schweigt/ jr habt ja nit zu klagen Jr lebt hie recht in guten tagen (IV 30,29–38).

Die hier dargestellte Perspektive ist ungewöhnlich, häufiger werden tugendlose Ehefrauen und die daraus resultierenden Folgen für die Beziehung der Ehepartner thematisiert. In dieser Fabel ist die Ehe jedoch die gegenüber dem zölibatär angedachten Klosterleben zu bevorzugende Lebensform. Nicht die Ehefrau, sondern die Nonne ist Gegenstand einer zweifelhaften Darstellung. Die Verschiebung der Perspektive bricht mit der für Fabeln, die die Ehe thematisieren, typischen negativen Darstellung einer tugendlosen Ehefrau. Pluralität im Esopus ist anhand der zuvor geschilderten Aspekte und ausgewählten Beispiele bevorzugt als ein Phänomen der Narratio dargestellt worden. Sie zeigt sich in der Vielfalt von Figuren, der Wahl der Handlungsräume, der Auswahl von Themen wie Krieg, Reformation oder Glückswechsel, aber auch der weiteren narrativen Entfaltung etwa von den Problemen in der Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe. Damit partizipiert die Sammlung an „frühneuzeitlichen Pluralisierungs-Prozessen“ wie sie auch in anderen zeitgenössischen Erzählsammlungen zu beobachten ist.153 Erst noch zu untersuchen ist die Vielfalt der ursprünglich fabelfremden Elemente in der Affabulatio, denn, so wird zu zeigen sein, auch dieser Fabelbestandteil weist in der Deutung des Erzählten neben sentenzenartigen Handlungsanweisungen Pluralität auf. Diese zeigt sich in Form von Sprichwörtern, Antiken- und Bibelzitaten, intraxtuellen Verweisen, dem Bezug auf die Figurenrede und die Rede des Sprecher-Ichs und der Verweise auf ‚Erfahrung‘. Im Esopus verbinden sich nun zwei Aspekte. Erstens wird zwar innerhalb der Fabeln Pluralität in ihrer Vielfalt ausgestellt, Geltung hat aber stets die partikulare

153 Vgl. den Beitrag zu den Exempelsammlungen Schimpf und Ernst von Johannes Pauli und dem Nachtbüchlein von Valentin Schumann von von Ammon, Waltenberger: Wimmeln und Wuchern, die Formulierung auf S. 274.

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1 Tradition und Transformation

Einzelfabel unter den 400 Fabeln, die in sich geschlossen ist und im Regelfall nicht explizit mit anderen Fabeln verknüpft wird.154 Zweitens wird diese Pluralität in den Peritexten unter die eine Autorität, Äsop, gestellt.155 Die Vielfalt und Heterogenität der Erzähltexte und die sich darin zeigende Erfahrung von Unsicherheit, Ordnungsverlust und Kontingenz sind typisch frühneuzeitlich, neu ist aber, dass für solch heterogene Figuren und Themen die ‚Fabel‘ der integrierende Begriff ist.

1.3 Zur Fabel im Esopus 1.3.1 Zum Gattungsbegriff ‚Fabel‘ Die im Esopus versammelten Fabeln unterscheiden sich pragmatisch und medial von den als ‚Fabel‘ bezeichneten Erzählformen, die in griechischen156 und lateinischen Rhetoriken wie etwa bei Quintilian erörtert werden.157 Dort wird im Rahmen der antiken mündlichen Gerichtsrede die Fabel als Beispiel (exemplum) gefasst und in der Beweisführung (argumentatio) der Rede eingeordnet. Innerhalb der exempla ist sie, anders als die bloßen Hinweise oder die Anspielungen in einem Satz oder Satzglied, ausgebaut „zur Erzählung dessen, was in ähnlicher Weise geschehen ist“, in dieser „längeren Form wäre das exemplum eine narratio“.158 In dieser Form sei es, abhängig vom aptum der Rede,159 empfohlen „für ein eher ungebildetes Publikum, denn die Beispielerzählung ist – vor allem in der Gestalt 154 Zu den Ausnahmen siehe das Kapitel „Formen der Verknüpfung im Esopus“. 155 Zur Autorität Äsops im Esopus siehe das Kapitel „Äsop im Esopus von Burkard Waldis“. 156 „Das älteste aus der Antike überlieferte Zeugnis einer theoretischen Erörterung über die literarische Gattung ‚Fabel‘ findet sich in der ‚Rhetorik‘ des Aristoteles (384–322 v. Chr.): Im 20. Kapitel des II. Buches […] behandelt der Philosoph die beiden in einer Rede bei der Beweisführung gebräuchlichen Beweismittel, das Beispiel […] und das rhetorische Schlußverfahren […], wobei er zwei Arten von Beispielen nennt, die Erzählung eines historischen Ereignisses und die fiktionale Erzählung, und dem zweiten Typus die beiden Erzählformen ‚Gleichnis‘ […] und ‚Fabel‘ […] zuordnet“ (Holzberg: Die antike Fabel, S. 13). 157 Grubmüller sieht die hier zu beobachtende theoretische Diskussion als Präzisierung von ‚Fabel‘ als Gattungsbegriff, siehe Grubmüller: Fabel2, S. 555. 158 Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. 5., aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011, hier S. 269. 159 D. h. das angemessene „Verhältnis zwischen der Rede (und ihren werkinternen Bestandteilen) und den außersprachlichen Systemen und Gegebenheiten“. Die werkexternen Bezugspunkte umfassten dabei die Zuhörer der Rede (Publikum), der Ort der Rede (locus), der Zeitpunkt der Rede (tempus), die Person des Redners und den Gegenstand der Rede, siehe Ueding, Steinbrink: Grundriß der Rhetorik, S. 224–225, das Zitat auf S. 224.  



1.3 Zur Fabel im Esopus

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der Fabel – ein volkstümliches Genre“.160 Unterschieden in Bezug auf Glaubwürdigkeit steht das fiktionale Beispiel, zu dem die Fabel gehört, neben dem „Beispiel aus Geschichte und Zeitgeschichte“.161 Im Gegensatz zu letzterem ist seine „Glaubwürdigkeit geringer, bzw. über die allgemeine Wahrheit vermittelt [...], die in ihm steckt und die es illustriert“.162 Im Esopus ist die Fabel, wie überhaupt schon früh in ihrer Überlieferung in Fabelsammlungen, eine eigenständige Erzählform.163 Auch ist ihr Ursprung in der Mündlichkeit nur noch in Einsprengseln inszenierter Mündlichkeit etwa in Form von Anreden einer imaginierten Zuhörerschaft erhalten geblieben.164 Die formalen und inhaltlichen Möglichkeiten, wie eine Fabel erzählt und kommentiert werden kann, sind von Waldis im Esopus so vielfältig genutzt worden, dass von einem Typus ‚Waldisfabel‘ nicht gesprochen werden kann. Nicht nur widerstreben die 400 Realisationen im Esopus einer solchen Festlegung, auch macht der Autor im Vorwort deutlich, dass er sich an den in zeitgenössischen Fabelsammlungen vorgenommenen Bestimmungsversuchen oder Vorgaben, was Fabel denn sei, nicht beteiligt. Er enthält sich poetologischer Äußerungen, etwa „was die Fabeln nutzes oder frchte bey sich haben“ (Vorrede, Z. 26), denn dies sei in anderen Werken „gnugsam dargethan“ (Vorrede, Z. 27). Auf anderer Ebene kommt hinzu, dass der Versuch übergreifend gültig zu bestimmen, was unter einer ‚äsopischen Fabel‘ im 16. Jahrhundert verstanden werden kann, zu „gattungstheoretischen Kopfschmerzen“ führt.165 Einerseits variieren die Begriffe, die in der Frühen Neuzeit für diese Erzählform neben fabel verwendet werden, sie reichen von „Apologon“ (II 31,199), über „peispil“,166 160 Ebd., S. 269. 161 Ebd., S. 268. 162 Ebd., S. 269. 163 Mit ‚eigenständig‘ ist das Auftreten des Fabeltextes gemeint, ohne in einem größeren Erzählzusammenhang eingeordnet zu sein, wie es auch unter den griechischen Fabeln der Fall ist, so ist „die älteste uns erhaltene Fabel“ bei Hesiod […] in einem didaktischen Epos als Exempel im Zusammenhang mit Ausführungen über das Verhältnis von Macht und Recht“ zu finden (Holzberg: Die antike Fabel, S. 15), in Fabelbüchern begegnet sie dann eigenständig, versammelt etwa für die folgende Verwendung im mündlichen Gebrauch. 164 So etwa die Formel „hrt was geschah“, z. B. als Einleitung in I 9,3; I 100,4; II 11,34 oder in IV 60,100 als Überleitung von einem Ereignis zum nächsten, als solche auch variiert in II 30, 89: „Nun hrt ein new/ vnd grosses wunder“. 165 Michael Schilling: Macht und Ohnmacht der Sprache. Die Vita Esopi als Anleitung zum Gebrauch der Fabel bei Steinhöwel. In: Europäische Fabeln des 18. Jahrhunderts zwischen Pragmatik und Autonomisierung. Traditionen, Formen, Perspektiven. Hg. von Dirk Rose. Bucha bei Jena 2010 (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 26), S. 39–54, hier S. 48. 166 So im Epilog des ersten Druckausgabe des Bonerschen Edelstein, siehe Boner: Edelstein. Faksimile der ersten Druckausgabe, S. 175.  

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1 Tradition und Transformation

„schimpfrede“,167 „glichnus“,168 „bildtnuß“,169 „argument“,170 „märlin“,171 parabel, Historie172 bis zu exempel.173 Andererseits sind diese Begrifflichkeiten weder deckungsgleich in ihrer zeitgenössischen Verwendung oder in poetologischen Äußerungen174 noch mit den aktuellen Definitionsversuchen dieser Gattung in der Forschung. Selbst Waldis variiert die Verwendung des Begriffes ‚Fabel‘, er umfasst mitunter den Komplex aus Fabelerzählung und Deu-

167 Steinhöwels Äsop, S. 342: „fabel oder schimpfrede“. 168 Ebd., S. 5: „der erst erfinder der fabel oder glichnus“. Ebenso bei Alberus: Fabeln, S. 29: „Fabeln/ oder gedicht/ vnd gleichnisse“. 169 Alberus: Fabeln, S. 30. Der Fabelbegriff erweist sich als auch bezogen auf Teile der Bibel: „Fr der gleichen bildtnuß vnd gedicht helt man auch die bcher Judith/ Susanna/ Tobia.“ 170 Steinhöwels Äsop, S. 331. 171 Ebd., S. 4, ebd.: „die märlun oder fabeln“. Ebenso in der Vorrede von Luther: Etliche Fabeln, S. 452: „Fabeln oder Merlin“. 172 Zum Verhältnis der Begriffe ‚Fabel‘ und ‚Historie‘ im 16. Jahrhundert, siehe den gleichnamigen Abschnitt in Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Mit 54 Tafeln. BadenBaden 1984 (Saecula Spiritalia 10), S. 349–355. 173 Auf die Problematik des Fabelbegriffes in der Frühen Neuzeit hat instruktiv Vögel: Fabelhafte Schwänke, hingewiesen, zur Begriffsvielfalt siehe S. 137. Auch für das Mittelalter wurde auf eine „mangelnde terminologische Schärfe der Bezeichnungen hingewiesen, die im Umkreis der episch-didaktischen Kleinformen im Umlauf sind“. Für die Fabel stehen bis „zum Ende des 14. Jahrhunderts also […] in der Tat nur die Termini für die Fabel zur Verfügung, die für all die anderen vielfältigen Typen aus diesem Bereich verwendet werden: maere, bîspel (bzw. alemann. bîschaft) und rede und sie können innerhalb dieses Rahmens auf Texte jeglicher Art bezogen werden“ (Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. München 1977 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 56], hier S. 10). Weitere Bezeichnungen hat Wiebke Freytag zusammengetragen in Wiebke Freytag: Die Fabel als Allegorie. Zur poetologischen Begriffssprache der Fabeltheorie von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert (I). In: Mittellateinisches Jahrbuch 20 (1985), S. 66–102, hier S. 70. 174 Die Unabgestimmtheit der verschiedenen Äußerungen von Autoren wie Luther, Steinhöwel oder auch Alberus mag der Grund dafür sein, dass in der Fabelforschung in der Frage nach der Theorie der Fabel mehrere Anthologien mit Auszügen zur Fabel entstanden, so sind Aussagen aus Vorreden und Werken zusammengestellt in Reinhard Dithmar (Hg.): Texte zur Theorie der Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. München 1982 (DTV 6119), zum 16. Jahrhundert siehe das „Jahrhundert der Reformation“ S. 67–87, sowie in Erwin Leibfried, Josef M. Werle (Hg.): Texte zur Theorie der Fabel. Stuttgart 1978 (Sammlung Metzler 169). Die jüngste Zusammenstellung findet sich bei Karin Schlecht, erweitert um poetologische Aussagen in den Exempelsammlungen Schimpf und Ernst von Johannes Pauli und Hans Wilhelm Kirchhofs Wendunmuth mit dem Fokus auf den ‚Gebrauchswert‘ und der ‚geselligen Gesprächskultur‘, siehe das Kapitel zu „Zeitgenössischen theoretischen Äußerungen“ in Kattrin Schlecht: Fabula in situ. Äsopische Fabelstoffe in Text, Bild und Gespräch. Berlin u. a. 2014 (Scrinium Friburgense 37), hier S. 21–35.  

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1.3 Zur Fabel im Esopus

tung,175 wird aber auch in einleitenden Versen der Deutung für die Fabelerzählung genutzt.176 Solche „begrifflichen Unschärfen“ sind einerseits typisch für die Frühe Neuzeit, scheinen für die Autoren weitestgehend unproblematisch zu sein und ermöglichen „der Gattung andererseits eine hohe Integrationsleistung“.177 Unter dem Begriff Fabel werden auch Erzähltypen wiedergegeben, die anderen Gattungen wie der Fazetie, dem Schwank, dem Witz oder dem Märchen zugeordnet werden können, so auch in der Sammlung von Waldis.178 Zwar gibt es im Esopus in den Fabeltexten einige wenige Aussagen über die Fabel als Gattung, doch beschränken sich diese auf vereinzelte Bemerkungen, die jeweils auf die Fabel bezogen sind, in der sie vorhanden sind. So spricht Waldis in der Affabulatio von III 92 über den Wahrheitsanspruch des „gedicht[s]“ (III 92,171). Im Erzählteil wird wiedergegeben, wie ein junger Gelehrter erst Schweinehirt und dann Bischof wird. Waldis weist in der Affabulatio zurück, dass diese Erzählung für einen Wirklichkeitsbericht gehalten werden sollte. Aus den einleitenden Versen lässt sich ableiten, dass mit Fabeln Erzählungen von Dingen und Ereignissen gemeint sind, die nicht wirklich geschehen sind: Weil diß wol sein mag ein gedicht Vnd ichs auch nit fr ein geschicht Dasselb jemandt zu glauben treib Nach dem ich jetzt nur Fabeln schreib (III 92,171–174).

Der seit der Antike postulierte Status der Fabel als ‚Lüge‘179 zeigt sich auch im Esopus. Die Fabel wird als gedicht bezeichnet, im Sinne von ‚erfundene Geschichte‘, die nicht geglaubt werden sollte,180 und der geschicht gegenüber gestellt, die wiederum als Bericht einer wahren Begebenheit zu verstehen ist.181

175 Etwa in den Verweisen auf andere Fabeln, wie in I 75,56: „Sich die achtzehend Fabel an“. 176 So beispielsweise in III 33,15: „Die Fabel thut so viel bedeuten“. 177 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 137. 178 Vgl. die Zusammenstellung von „Typen, Formen und Themen der ‚Fabeln‘ von Waldis“ in Esopus. Bd. 2, S. 4–7. 179 Vor allem durch Isidor von Sevilla und seine Definition (Etymologiae 1,40,1) wird ‚Fabel‘ in den „Gegensatz zu solchen Erzählungen, die wirklich geschehen sind (historiae) oder aber doch geschehen könnten (argumenta)“, gesetzt, dabei „sei das in fabulae Erzählte weder wirklich noch überhaupt möglich, weil es der Natur widerspreche“, im Original: „Fabulae […] sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt“ (zitiert nach Grubmüller: Fabel2, S. 555 f.). 180 Im Sinne von ‚Erfindung‘ wird „gdicht“ auch in der Figurenrede in IV 66,121 verwendet, siehe Esopus. Bd. 2, S. 315. 181 Als eine solche wird in der Erzählung von II 30 die Rettung des Sängers Arion von Delphinen bezeichnet. Die Begebenheit, so unglaubhaft sie auch sei, sei doch wahr: „Hub sich ein gtig  

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1 Tradition und Transformation

Die Texte, die Waldis allesamt, so die jeweiligen Titel, als Fabel bezeichnet, widersprechen den Merkmalen, auf welche sich die Fabelforschung bei dem Versuch, die (äsopische) Fabel als Gattung zu fassen, verständigt hat, mitunter mehr als dass sie ihnen entsprächen. Dazu gehört zunächst und im Kern die Bestimmung von Fabel über den „Traditionszusammenhang (daher: ‚äsopische Fabel‘) und typisches Personal (daher z. B. ‚Tierfabel‘)“.182 Das nicht-menschliche Personal ist immer wieder als das abgrenzende Merkmal gegenüber anderen Formen von Klein- und Kleinsterzählungen aufgeführt worden, so handle es sich bei der Fabel um eine „Gattung von erzählenden, meist einepisodischen Texten, in denen nicht-menschliche Akteure (Tiere, Pflanzen, unbelebte Gegenstände usw.) agieren, als stünden ihnen die Möglichkeiten menschlichen Bewußtseins zur Verfügung“.183 Diese „Gattung uneigentlichen, argumentativ funktionalisierten Erzählens“184 zeichne sich darüber hinaus durch Unwirklichkeit und Kürze der Erzählung (brevitas),185 Anschaulichkeit, Deutlichkeit (perspicuitas)186 und Übertragbarkeit,187 zumeist in eine knappe, klare Auslegung (fabula docet) aus. Viele dieser Merkmale lassen sich zwar auch in den Fabeln von Waldis beobachten,  

seltzam gschicht | Welchs doch leichtlich zu glauben nicht“ (II 30,91 f.). Obwohl auf dem Wahrheitsanspruch des Geschehnisses insistitiert wird, ist die Erzählung dennoch mit ‚Fabel‘ überschrieben. 182 Grubmüller: Fabel2, S. 555. 183 Ebd., S. 555. So auch in DG, S. XXII: „Das Personal der Fabel rekrutiert sich aus nichtmenschlichen, aber anthropomorphisierten, also mit menschlichen Fähigkeiten und Intentionen ausgestatteten Figuren, die ein fiktives und im offenkundigen Widerspruch zur Erfahrung als ‚wirklich‘ ausgegebenes Geschehen tragen“. Daneben Hanns Fischer, der in Abgrenzung zum ‚Märe‘ unter den res fictae die Fabel fasst als „im Sinne der landläufigen Vorstellung und des allgemeinen Sprachgebrauchs, der sich am äsopischen Erzählgut orientiert und kristallisiert hat, jene Kleinerzählungen didaktischer Zielsetzung, die als Personal denkende, redende und handelnde (anthropomorphe) Tiere oder (in weit geringerem Umfange auch) Pflanzen, Körperteile und unbelebte Gegenstände verwenden“ (Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung, S. 54 f.). 184 Grubmüller: Fabel2, S. 555. 185 Gebhard spricht von „ihrer demonstrativen Verknappung“, siehe Walter Gebhard: Zum Mißverhältnis zwischen der Fabel und ihrer Theorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 122–153, hier S. 133. 186 „Der nicht so sehr ausschnitthaften als symbolischen Kürze verdankt sich eine durch Vereinfachung erreichte Steigerung der Erkenntnisnotwendigkeit: Ein verunsicherndes Modell des Laufs der Welt fordert im schmucklosen Kleid brutaler Tatsachen Einsicht, Anerkennung oder Widerlegung“ (Gebhard: Zum Mißverhältnis, S. 133 f.). 187 Formuliert bei DG, S. XXII: „[D]ieses zumeist auf einen Handlungsstrang beschränkte Geschehen ist zu demonstrativ-didaktischen Zwecken in einer Art und Weise literarisch inszeniert, die es auf analoge menschliche Situationen und Verhaltensweisen beziehbar macht.“  





1.3 Zur Fabel im Esopus

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aber für jedes dieser Merkmale lässt sich auch mindestens eine esopische Fabel finden, welche dieses nicht aufweist. Das Problem der stofflichen Vielfalt und der mangelnden Abgrenzung zu anderen kleinepischen Erzählformen ist schon früh für die antike Fabel bemerkt worden. So formuliert Walter Wienert, unter Berücksichtigung von Tierfabel, Gleichnis- und Beispielerzählung, eine weite Definition: Die Fabel ist eine Erzählung, die menschliche Handlungen und Verhältnisse bildlich darstellt. Damit gewinnen wir den Begriff der Gleichniserzählung. Es fragt sich aber, ob wir bei diesem engen Begriffe stehen bleiben können. Wir werden gezwungen sein, auch den Typus der Beispielerzählung mit hinzuzurechnen und die Fabel zu definieren als Erzählung einer konkreten Handlung, aus der eine allgemeine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit durch die aktive Tätigkeit des Geistes der Zuhörer gewonnen werden soll. Die Tätigkeit kann metaphorisch sein (Gleichniserzählung) oder auch nur verallgemeinernd (Beispielerzählung).188

Das Potenzial einer solchen Definition wurde in der nachfolgenden Fabelforschung nicht wahrgenommen.189 Sie eignete sich in den seit den 1970er Jahren von der Debatte um Gattungseinteilungen und -abgrenzungen dominierten For-

188 Wienert: Typen, S. 8. Nicht weiter beachtet wurde die von Wienert im Weiteren vorgenommene Differenzierung von Fabeln in ‚historische Fabeln‘ und ‚mythologische Fabeln‘. Auch unterscheidet Wienert Erzählformen nach Figuren in Märchen, Sage und Novelle, je nach ‚handelnden Subjekten‘, ob Götter oder Halbgötter, Menschen oder „menschlich gedachte Naturdinge, genauer: Tiere, Pflanzen und leblose Gegenstände“, die aber alle zu Fabeln werden, „sobald auf dem Wege der translatio oder der Verallgemeinerung eine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit gewonnen werden soll“. Die Fabel habe „demnach zwei Seiten: die Erzählungsseite und die Sinnseite. Von der Erzählung aus betrachtet, können wir eine doppelte Einteilung der Fabel gewinnen: 1. nach der literarischen Form in drei Klassen: Märchenfabel, Sagenfabel, Novellenfabel; (die Fabel ist den anderen Erzählungen nicht koordiniert, sie ist ein ‚allo genos‘, das alle drei Arten für seine Zwecke benutzen kann.) 2. nach den auftretenden Personen ebenfalls in drei Klassen: Fabeln von Menschen, Fabeln von Göttern oder Halbgöttern, Fabeln von Naturwesen (Tieren, Pflanzen, leblosen Gegenständen)“ (Wienert: Typen, S. 20). Nicht aufgenommen in den Forschungsdiskurs wurde auch die Unterscheidung in ernst und nicht-ernst: „Noch eine Seite ist an den Erzählungen zu betrachten, nämlich ihre Modalität; sie können ernst oder mit Humor vorgetragen werden. Es gibt humoristische Märchen, humoristische Sagen, humoristische Novellen. Es handelt sich hier also nicht um die Gattungen des Schwankes oder der Witzerzählung, die beide unter die humoristische Novelle nach ihren oben angenommenen erweiterten Begriff fallen würden. Auch die Fabel kann an dieser doppelten Modalität teilnehmen; wir erhalten dann die humoristische Märchenfabel, die humoristische Sagenfabel, die humoristische Novellenfabel. Von Humor unterscheidet sich die Satire, so wie sich verständnisvolles Verzeihen menschlicher Schwächen unterscheidet von bitterem Spot. Erscheint die satirische Erzählung in der Form der Einkleidung, so erhalten wir die satirische Fabel“ (Wienert: Typen, S. 20 f.). 189 So Waltraud Briegel-Florig: Geschichte der Fabelforschung in Deutschland. Masch. Diss. Freiburg 1965, S. 209 f. Siehe auch Grubmüller, der gegen eine solche „extreme Weite“ argumen 



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1 Tradition und Transformation

schungsdiskussionen gerade nicht, um die Fabel von ähnlichen Kleinerzählungen wie Parabel, Allegorie oder Märchen abzugrenzen.190 Ein Fabelverständnis nach Wienert leistet aber im Gegensatz zur engen Fabeldefinition, wie sie etwa in der Definition von Fabel in der zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft aufgeführt wird, die Integration von solchen Fabeln mit traditionell äsopischem Personal, solchen mit menschlichem Personal und z. B. schwankhaftem Inhalt, solchen mit historischer Situierung oder auch der Fabel IV 24, in welcher ein Ich-Erzähler von seinen Erlebnissen auf einer Romreise berichtet.191 Wienerts Definition lenkt den Blick zugleich auf die Deutung der Fabel. In klassischen äsopischen Fabeln, in denen Tiere handeln, muss die Deutung in Form einer verallgemeinernden Deutung stattfinden, deutlich ist dies im Esopus in der Phrase, xy zeige etwas an, wie die Setzung in der ersten Fabel der Sammlung: „Die vnuerstendign merck beim Han/ | Kunst/ Weißheit zeigt die Perlen an“ (I 1,31 f.). Bei Fabeln mit menschlichem Personal, in denen von einem Ereignis erzählt wird, das tatsächlich passiert sein könnte oder als tatsächlich passiert dargestellt wird, ist die Deutung der Erzählung eine kategorisch andere:  



In den zwei Teilen des Esopus, den alten äsopischen und den neuen Fabeln, lassen sich zwei Methoden der Sinnproduktion unterscheiden, die man tendenziell ‚integumental‘ und ‚exemplarisch‘ nennen könnte und die den Status der Wahrheit oder Lehre berühren. Die

tiert in Meister Esopus, S. 12, besonders Anm. 15 mit weiteren Verweisen auf die Ablehnung der Definition von Wienert. 190 Siehe das Kapitel „Terminologische Vorschläge zur Abgrenzung der Typen“ in Grubmüller: Meister Esopus, S. 9–47. Selbst wenn nur der „Bildteil“ von Fabeln mit tierischem Personal als Ausgangspunkt für „die Abgrenzung zu den Nachbarformen“ dient, unterscheidet Grubmüller die Tierfabel von Tierallegorese, Tiergleichnis und Tierallegorie, siehe Grubmüller: Meister Esopus, S. 21. Ein weiteres Beispiel für eine letztlich ohne Einigung wieder aufgegebene Gattungsdiskussion hat sich in der Mediävistik zeitgleich um das Märe entwickelt. Dem gerechter wird das Eingeständnis von Reinhard Dithmar: „Eine allg.gültige Definition der F[abel] von Äsop bis zur Gegenwart gibt es nicht, da sich jede definitorische Bestimmung an einzelnen Autoren, Epochen oder Typen der F[abel] orientiert“ (Reinhard Dithmar: Fabel. In: EM. Bd. 4, Sp. 727–745, Sp. 731). 191 Letztere würde nach der Definition von Wienert als „Typus einer historischen Fabel“ bezeichnet werden: „Die Forderung, dass der Stoff der Fabel notwendig erdichtet sein muss, können wir nicht anerkennen. Es liesse sich auch ein wirkliches Faktum so erzählen, dass auf dem Wege der Übertragung oder Verallgemeinerung eine allgemeine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit gewonnen werden kann; so könnte man z. B. die Geschichte eines Kreuzfahrers als Bild benutzen für die Sehnsucht der Seele nach dem Ideal. Damit erhielten wir den Typus einer historischen Fabel. Es macht ja auch offenbar gar keinen Unterschied für die Fabel aus, ob sie etwas Fiktives als wirklich erzählt, oder einen historischen Vorgang berichtet. Allerdings muss das historische Geschehnis in solcher Form und bei solcher Veranlassung erzählt werden, dass die Zuhörer von sich aus verstehen, dass eine allgemeine Wahrheit damit illustriert werden soll“ (Wienert: Typen, S. 10 f.).  



1.3 Zur Fabel im Esopus

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integumentale, verkleidete Wahrheit bezieht ihre Geltung nicht aus der Fabelgeschichte, sondern wird lediglich in ihr entdeckt und aus ihr gezogen.192

Die exemplarische Sinnproduktion ist keine Form der Übertragung aus einer verfremdeten oder irreal anmutenden Welt: „Die Auslegung kann sich hier nicht auf eine verhüllte Wahrheit berufen oder verschieben, sondern allenfalls in Affinität zum Exempel aus der minimierten Handlung eine Verallgemeinerung herauslesen“.193 Damit findet aber eine für die äsopische Fabel neue Form der Deutungsmöglichkeit Eingang in den Esopus.194 Wie genau in den einzelnen Fabeln diese Deutungsmöglichkeiten genutzt werden, ist erst noch näher zu untersuchen. Für die Untersuchung von Waldisʼ Fabelsammlung ist es naheliegend und ertragreich, einen weiten Fabelbegriff anzusetzen, wird er allein schon durch die peritextuelle Ausstattung in Form der Betitelung sämtlicher 400 heterogener Narrative als „Fabel“ getragen. Weniger als die Frage, ob es sich noch um eine Fabel im heutigen Sinne handelt oder schon nicht mehr, ist es vonnöten zu fragen, was eine ‚esopische Fabel‘ – damit sind die Fabeln im Esopus gemeint – auszeichnet. Eine dem Gegenstand angemessene Interpretation muss fragen, wie und was in der Narratio erzählt wird und welche „allgemeine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit durch die aktive Tätigkeit des Geistes der Zuhörer gewonnen werden soll“, ferner wie diese präsentiert wird und in welchem Verhältnis diese Deutung etwa zur Erzählung steht. Die Fabelforschung ist seit ihrem letzten Höhepunkt in den 1980er und 1990er Jahren, nachdem die Frage nach der Überlieferung äsopischer Stoffe durch Untersuchungen zu Vorlage und Bearbeitung einzelner Fabelwerke geklärt worden war, in der Gattungsfrage weitestgehend Konsens erreicht worden war und auch die didaktische Funktion oder etwa die pragmatische Gebundenheit der Fabel ausgelotet worden waren, weitestgehend wieder zum Stillstand gekommen. Dies mag auch daran liegen, dass Fabeln für germanistische Forschungsinteressen der letzten Jahre keinen optimalen Untersuchungsgegenstand boten. So gilt

192 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 136. 193 Ebd. 194 „Gerade Historien oder Argumente aber, zu denen die Schwänke gehören, eröffnen als ‚neue‘ Fabeln auch neue Chancen der Lehre, weil sie anders als die Tiergeschichten keine Übertragung aus der Welt der Diegese in die Welt der Exegese benötigen, aus der sie genommen sein könnten oder sind. Die Fabelerzählungen selbst werden so tatsächlich „welthaltig“ und erfassen potentiell alle Belange des Lebens. Zugleich erfolgt die Auslegung nicht mehr nur über die Brücke der Verhüllung oder Uneigentlichkeit, sondern sucht einen Weg ausgehend vom literalen Verständnis“ (ebd., S. 140).

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1 Tradition und Transformation

die Fabel als „ungeeignet, psychologische Situationsinterpretationen zu leisten“,195 mit ihren für gewöhnlich unbestimmten Handlungsräumen ist sie uninteressant für Raumtheorien, in der Fabel nach klassischem Vorbild sind Ereignisse für gewöhnlich unabhängig von einer Transgression. Klaus Doderer spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚verdünnte[n] Luft‘ innerhalb der Fabelwelt. Verdünnt durch die unbestimmte und weggelassene Zeitangabe, verdünnt ebenso durch die kargen Ortsangaben. Es ist ein merkwürdig entleerter Raum, indem sich die Fabelfiguren bewegen“.196 Die Fabel bietet in ihren meist einepisodischen Erzählungen strukturalistischen oder narratologischen Untersuchungen nur wenig Material. Bei einer narratologischen Betrachtungsweise von Fabeln, die in ihrem Aufbau zweigeteilt sind, d. h. deren Erzählung eine wie auch immer geartete explizite Deutung hinzugefügt ist, zeigt sich, dass diese Zweiteilung die Fabel zu einer komplexeren Textform macht. Zweigeteilt ist die Fabel insofern, als die Erzählungen von fiktionalen Geschehnissen handeln, was etwa über sprechende Tiere geradezu ausgestellt wird. Andererseits beansprucht die Deutung durch ihren Wirklichkeitsbezug Gültigkeit in der Lebenswelt des Rezipienten. Es steht diesem natürlich frei, diese Geltung anzuerkennen, darüber zu verhandeln oder sie auch abzuweisen. Aber die Referentialität der in den Affabulationes getroffenen Aussagen, egal in welcher Relation die Erzählungen zu ihnen stehen, ob als warnendes oder affirmatives Exempel, ist eine kategorial andere als die Referentialität der Fabelerzählungen. Nimmt man diese kategoriale Unterscheidung ernst, müsste auch die sich artikulierende Instanz unterteilt werden, denn die Deutung zeichnet sich dadurch aus, dass gerade nicht erzählt wird, dass keine Erzählwelt entworfen wird, sondern dass gedeutet und gewertet wird, d. h. der Sinn, den die Erzählung in sich trägt oder der ihr zugeschrieben wird, in ihrer Gültigkeit für die Welt des Rezipienten formuliert wird. Ein Akt des Deutens ist aber kein Erzählakt. Eine Deutung ist generell diskursiv, also Rede und steht damit in einem formalen Unterschied der Erzählung gegenüber. Dies zeigt sich etwa anhand des benutzten Tempus, dem Präteritum der Fabelerzählung steht das Präsens der Affabulatio gegenüber.197 Neben den in Erzähltexten als narrative  



195 Doderer: Fabeln, S. 100. 196 Ebd., S. 45. 197 Möglicherweise könnte hierbei die Untersuchung der Tempora und die unterschiedlichen Sprecherhaltungen und Möglichkeiten der Leserlenkung, die Harald Weinrich in Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearbeitete Auflage. München 2001, damit verbunden sieht, bei der Analyse von Fabeln, insbesondere der Affabulatio und ihres Geltungsanspruches, erkenntnisfördernd weiterentwickelt werden. Für ‚bestimmte Sprechhaltungen‘ und die Auswirkungen des Gebrauchs von Präsens und Präteritum auf den Leser siehe besonders „Kapitel II. Besprochene Welt – Erzählte Welt“, S. 41–72.

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Instanz, erzählende Instanz oder eben Erzähler beschriebene, also „diejenige Instanz, die die Informationen über die erzählte Welt vermittelt“198, müsste funktional getrennt von einer deutenden Instanz, einem ‚Deuter‘ gesprochen werden. Zugleich wäre diese Trennung eine theoretische, keine in der Praxis durchgehaltene, denn auch in der Deutung kann erzählt werden und in der Erzählung kann durch die Gemachtheit des Erzählten eine spätere Deutung beeinflusst werden. So können bestimmte Möglichkeiten der Deutung vorbereitet oder auch durch eine Bewertung der Fabelfiguren, deren Sichtweisen oder Reden, eine Deutung vorweggenommen werden. Die esopischen Fabelfiguren zeichnen sich durch einen hohen Redeanteil aus, sie werten, deuten und kommentieren. Auf die Differenz der Fabelteile hinzuweisen mag irrelevant erscheinen, wenn man an eine Fabel denkt, die den klassischen Merkmalen entspricht, auf deren kurze Erzählungen kurze sentenzenartige Deutungen folgen. Im Esopus aber verbalisiert sich zusätzlich ein ‚Sprecher-Ich‘, das sowohl als Erzähl- wie als Deutungsinstanz hervortritt.199 Beide genannten Funktionen, Erzähl- wie Deutungsinstanz gehen im Sprecher-Ich auf. Auf die mehrfache Funktionalisierung dieses Sprecher-Ichs wird an anderer Stelle eingegangen,200 im Folgenden sollen die Fabelfiguren, ihre klassischen Merkmale und esopischen Eigenheiten im Mittelpunkt stehen.

1.3.2 Fabelfiguren Ein ähnliches Desinteresse narratologischer Untersuchungen wie für die Erzählbzw. Deutungsinstanz ist weitestgehend für die Analyse der Handlungsträger äsopischer Fabeln zu beobachten. Diese „Bewohner fiktiver Welten fiktionaler Erzählungen“201 bieten nur wenig bis gar keine nennenswerte Komplexität oder Dynamik in ihrer Figurengestaltung, die „Protagonisten von Tierfabeln besitzen sowohl relativ wenige als auch konstante Merkmale, d. h. es sind vergleichsweise flache und statische Figuren“.202 In der gängigen Fabelforschung ist es daher etabliert, von ‚Akteur‘ zu sprechen. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, ist durch  

198 Rosmarie Zeller: Erzähler. In: RL. Bd. 1, S. 502–505, S. 502. 199 Siehe hierzu ausführlich das Kapitel „Das Sprecher-Ich als Autorität im Esopus“. 200 Sofern nicht die Funktion, sondern die Äußerung des Sprecher-Ichs im Vordergrund steht, wird das Sprecher-Ich im Folgenden, wenn die literarische Tätigkeit betont werden soll, als ‚Waldis‘ bzw. bei Äußerungen innerhalb der Fabelerzählungen als ‚Erzähler‘ bezeichnet. 201 Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Auflage. München 2012, hier S. 144. 202 Ebd., S. 148.

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1 Tradition und Transformation

die Verwendung dieses Begriffes die Betrachtung der Handlungsträger automatisch auf den Aspekt ihrer ‚Rolle‘ begrenzt. Damit aber werden die Beschreibungsmöglichkeiten der Figurengestaltung, die sich im Esopus mitunter als komplexer erweist, von vornherein eingegrenzt. Der Ausdruck ‚Akteur‘ ist aus „dem Milieu des Theaters genommen, also aus einer künstlerischen Sphäre, in der mit technischen Hilfsmitteln eine Welt errichtet wird: Kulissen, Requisiten, Akteure füllen die Bühne aus, auf der gehandelt wird, um den Zuschauer – aus welchen Gründen auch immer – in den Bann zu ziehen“.203 Doderer hält für seine Untersuchung von Fabelakteuren zwar fest, dass praktisch alles, Abstraktes wie Konkretes, Handlungsträger in der Fabel werden kann,204 er beschränkt sich in der weiteren theoretischen Betrachtung aber weitestgehend auf nicht-menschliche Akteure.205 Das „Erscheinungsbild und die Baugesetze der einzelnen Handlungsträger in der Fabelwelt“ seien so ausgerichtet, dass diese „als Demonstrationsobjekte genommen werden, denen wir uns sachlich und ohne Mitleid nähern“ sollen.206 Ziel des Fabelerzählens sei die Pointe und die Demonstration von Weltausschnitten, denen die Handlungsträger und ihre Ausgestaltung untergeordnet seien: Die Fabelfiguren bewegen sich so, wie es das Gesetz ihres Einsatzes verlangt. Sie haben kein Eigenleben, sie sind außengesteuerte Hülsen. Die Beziehungen, die sie gewinnen, gewinnen sie durch die Gesetze, die durch die Struktur der Fabel als Sprach- und Denkform vorgeschrieben sind. Der Gegensatz zur Kontrastfigur fordert ein streng geregeltes Verhalten, das durch die zu erzielende Pointe und die Eindimensionalität der Fabelwelt Eingrenzungen erfährt. Gerade das, was sich zwischen den Fabelfiguren abspielt, der zu demonstrierende Fall, bestimmt ihren Auf- und Abtritt, und nicht umgekehrt bestimmt der ‚Charakter‘ das Geschehen. Insofern bewegen sich die Fabelfiguren wie Marionetten, die auktorial gelenkt werden. Dies ist kein individueller oder epochal bestimmter Erzählstil, vielmehr eine Möglichkeit, aber auch eine Grenze, die von der Struktur der Gattung vorgezeichnet ist.207

203 Doderer: Fabeln, S. 52. 204 „Der Versuch, zur Erkenntnis des Figurenarsenals der Fabel zu gelangen, indem man Gruppen von Kontrahenten bildet, hat praktisch ergeben, daß sowohl abstrakte Begriffe wie konkrete Gegenstände, Menschen, Tiere, Pflanzen, ja sogar mythische Figuren auftreten können. Ja mehr noch, daß in den einzelnen Fabeln alle diese genannten Gruppen durch ihre Vertreter miteinander oder gegeneinander agieren können“ (ebd., S. 76). 205 „Der Mensch taucht vereinzelt auf, dann aber – soweit wir feststellen konnten – fast immer in Verbindung mit Figuren, die aus den anderen Wirklichkeitsbereichen ihre Konturen bekommen haben“ (ebd., S. 63). 206 Ebd., S. 60. 207 Ebd., S. 80.

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1.3 Zur Fabel im Esopus

Walter Gebhard spricht von der „Eindimensionalität der Fabelcharaktere“,208 spricht diesen aber dennoch die Möglichkeit einer „negative[n] Darstellung oder Verwendung von Innerlichkeit“ nicht ab.209 Das ist bei der Betrachtung klassischer äsopischer Fabeln einleuchtend. Der Handlungsverlauf wird mitbestimmt von den natürlichen Eigenschaften, die den Fabeltieren zugesprochen werden.210 Dieses Merkmal klassischen Fabelerzählens kommt auch im Esopus zum Tragen, wie an einigen Fabelbeispielen gezeigt werden soll. In der zweiten Fabel der Sammlung etwa, in I 2 Von dem Wolff vnd dem Lamb, treffen Beute- und Jagdtier an einer Wasserstelle aufeinander. Der Wolf labt sich an der Quelle und erblickt weiter unten am Bach ein ebenfalls trinkendes Lamm. Statt sich direkt auf das Lamm zu stürzen, erfolgt die Attacke des Wolfes in verbaler Form. Er beschuldigt das Lamm „Gar zorniglich“ (I 2,6), es würde ihm das Wasser trüben. Die Gegenüberstellung von bösartig/gewalttätig und gutmütig/friedlich zeigt sich auch in der Verteidigungsrede des Lammes. Dieses bittet den Wolf, er möge „nicht so zornig sein“ (I 2,10) und ihm „kein gewalt“ (I 2,11) antun. Es weist auf den korrekten Sachverhalt hin, dass das Wasser, welches es getrunken habe, vom Wolf zu ihm geflossen sei und nicht umgekehrt und bittet ihn, es möge seiner „vnschuldt gniessen“ (I 2,16), es sei gar nicht in der Lage, ihm zu schaden: „Wenn ich schon wolt knt ich doch nicht | Euch etwas schaden thun hiemit“ (I 2,17 f.). Der Einwand nützt nichts, der Wolf argumentiert daraufhin mit den angeblichen Taten, die das Geschlecht des Lammes ihm angetan habe. So wie die konträren Eigenschaften der Tiere unmittelbar einleuchtend sind, so basiert auch die Deutung von Lamm und Wolf auf einer klaren Übertragung der Fabeltiere auf die zwei Parteien in einer Herrschaft: „Der Wolff zeigt die Tyrannen an | Das Lamb die  

208 Der Begriff der ‚Eindimensionalität‘ ist abgeleitet von den Überlegungen Max Lüthis zum Märchen, siehe ebd., S. 76: „Gemeint ist damit, daß alle auftretenden Märchengestalten – ob diesseitige oder jenseitige Wesen – untereinander verkehren, ‚als ob sie ihresgleichen wären‘. Daß die Fabelwesen keine individuellen Geschöpfe sind, vielmehr allenfalls Typen, leuchtet ein“. 209 Gebhard: Zum Mißverhältnis, S. 133. In ihrer Wirkung geht es Gebhard nicht um die Einzelfabel, sondern um den Rezeptionsprozess einer Sammlung, denn die Fabel „lebt und wirkt nicht als einzelne, sondern in ihrer Sammlung. Verschiedenartige Einstellungen werden im Prozeß der Rezeption in Frage gestellt – und analog – zum immanenten Geschehen – ins Dilemma gezwungen“ (ebd.). Grubmüller fasst die Elemente Raum, Figuren und Handlung zusammen: „Die Fabelhandlung konstituiert vor einem ‚entleerten Bühnenraum‘ und mit marionettenhaft bewegbaren, aber scharf konturierten Figuren in sich eindeutige, voll motivierte und ‚als ein wirkliches Ereigniß‘ berichtete Situationen“ (Grubmüller: Meister Esopus, S. 16 f.). 210 „In allen Fällen gibt sich die Fabel keine große Mühe, hier Individuelles bekanntzumachen, sie nennt die Namen, setzt das Vertrautsein der Hörer oder Leser mit der Art oder dem Wesen der Figuren voraus und läßt es damit bewenden. Da nun die Fabel allgemeinverbindliche Aussagen über die menschlichen Verhältnisse machen möchte, braucht sie Figuren, die bestimmte Eigenschaften verkörpern können“ (Doderer: Fabeln, S. 77).  

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1 Tradition und Transformation

armen Vnderthan“ (I 2,27 f.). Häufiger sind es die zugeschriebenen inneren Eigenschaften, wie eben die Einfältigkeit des Schafes und die Bösartigkeit des Wolfes, die die Fabeltiere auszeichnen. Seltener ist es, wie in I 27, die körperliche Ausstattung, die die Pointe der Fabel ausmacht. In dieser Fabel lädt der Fuchs den Storchen zum Abendessen ein. Er kocht ein süßes Mandelmus, gießt dieses auf dem Tisch aus und fordert den Storch zum Essen auf. Während der Fuchs das Mus mit seiner Zunge genüsslich aufleckt, kann der Storch nur „mit dem schnabel dappen | Kundt von der speiße nichts erschnappen“ (I 27,11 f.). Als Revanche lädt der Storch den Fuchs zum Essen, diesmal ist das Geschirr der Anatomie des Storches angepasst:  



Der Storch war listig vnd auch klug Er satzt jm vor ein Glsen krug/ Mit gebacken Vischen wol gefllt Vnd sprach zum Fuchß/ iß welch du wilt/ Lang vnd eng war dasselbig Glaß Der Storch die Visch baldt außher laß Mit seinem Schnabel kundts erreichen/ Der Fuchß betrbt/ thet vmbher schleichen Durchs glaß die gbraten Visch wol sach Dest grsser wardt sein vngemach (I 27,21–30).

Die natürlichen Eigenschaften einiger Tiere, wie die Langsamkeit der Schnecke oder die Schnelligkeit des Hasen, sind im 16. Jahrhundert konventionell. Die Unveränderlichkeit derselben ist in den Fabeln angesprochen, in denen die Tiere ihre Unzufriedenheit über ihre Eigenschaften äußern. In III 13 etwa treten der Hase und der Fuchs vor Jupiter und bitten darum, dass der Fuchs so schnell wie der Hase laufen könne, und der Hase einen „sinn so spitzig“ (III 13,5) wie der Fuchs erhalten möge. Jupiter weist diese Bitte mit dem Argument zurück, die Begabung der Tiere sei durchdacht: Solch bitt kompt auß dem frwitz her/ Vnd sprach/ wir han von anbegin All ding auß wol bedachtem sinn/ Verordnet/ vnd den Thiern jr leben Jedem sein bsondern gaben geben/ Auff das wir keins wolten betriegen Daran laß jm ein jedes gngen/ Wenn wirs eim hetten alles gebn Wer den andern zukurtz geschehn (III 13,8–16).211

211 Die Fabel geht in dieser Konstellation auf die Fabel von Abstemius De Lepore calliditatem et Vulpe celeritatem a Iove petentibus zurück, die im Deutschen nur bei Waldis nachweisbar ist, siehe

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1.3 Zur Fabel im Esopus

Während die Zuschreibung von Eigenschaften sich als konstant erweist, zeigt sich im Esopus in der ersten Fabel der Sammlung, wie die natürliche Eigenschaft bzw. eine natürliche Verhaltensweise eines Tieres in ein Spannungsverhältnis zur traditionellen Deutung der Geschichte treten kann. Es handelt sich um die Erzählung, in der ein Hahn eine Perle findet und mit dem Fund nichts anzufangen weiß, da er diese nicht essen könne. Der Vorlage folgend, wird die Erzählung traditionell im Zusammenhang mit Weisheit und Narrheit gedeutet. Der Gegensatz von Fabeltier und Requisit ist auch Bestandteil der Affabulatio: „Die vnuerstendign merck beim Han/ | Kunst/ Weißheit zeigt die Perlen an“ (I 1,31 f.).212 Waldis hat der Fabelhandlung nun zusätzlich einen Exkurs über die Ordnung Gottes vorangestellt, in dem festgehalten wird, dass der nicht zu hungern habe, der arbeite und danach strebe, sich seiner Art gemäß zu ernähren. Genau dem kommt auch der Hahn seiner Art entsprechend nach:  

Ein Haußhan thet auch solcher massen Vnd scharret auff eim alten Mist Wie der Hner gewonheit ist (I 1,12–14).

Nach dieser Einleitung folgt die Fabel der traditionellen Erzählung. Der Hahn findet die Perle und weiß mit ihr nichts anzufangen, da er sie nicht fressen könne. Die Worte des Hahnes offenbaren aber, dass er den materiellen Wert der Perle einzuschätzen weiß, er nennt sogar den Finder, der die Perle zu schätzen wüsste: Wenn dich ein reicher Kauffman het Viel grosser ehr er dir anthet Vnd wurd dich halten also holdt Das er dich fassen ließ in Goldt (I 1,21–24).

Er aber habe von der Perle keinen Nutzen: Ein handt voll Gersten mir lieber wer Damit ich mcht den hunger stillen/ Der sich nicht leßt mit Perlen fllen (I 1,28–30).

DG 189, dort auch der Verweis auf die Bitte anderer Tiere vor Jupiter. Doch auch in traditionellen Fabeln wird die Bitte vor Jupiter um veränderte Eigenschaften erzählt. Im Esopus gehören dazu I 66, in der der Pfau sich nicht mit der Schönheit seines Gefieders begnügen möchte und sich eine schöne Stimme wie die Nachtigall wünscht. In I 93 erkennt das Kamel seine Stärke und Größe nicht als positive Eigenschaft, wünscht sich von Jupiter die Hörner des Ochsen und bekommt zur Strafe für diesen Wunsch die Ohren abgeschnitten. In III 69 tritt die Biene vor Jupiter und wünscht sich, dass sie Honig- und Wachsdiebe töten könne. 212 In der Vorlage: „Per gemmam artem sapientiamque intellige, per gallum hominem stolidum et voluptarium“ (Esopus. Bd. 2, S. 41).

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1 Tradition und Transformation

Der Hahn erweist sich in der Erzählung als verständiges Tier, das der Vorgabe Gottes folgt. Es sucht das ihm angemessene Futter und weiß die unangemessene Perle abzuweisen. Die zu Beginn betonte, traditionell nicht erwähnte natürliche Eigenschaft, „Nach seiner art die kost [zu] erwerben“ (I 1,9) steht aber in Konflikt zur Deutung des Hahnes in der Affabulatio. Explizit wird der Hahn darin als Beispiel für die „vnuerstendign“ (I 1,31) genannt und zu den Narren (I 1,33) gezählt. Die berechtigte Frage, wie das Befolgen einer natürlichen Verhaltensweise, die ihre Berechtigung in der Ordnung Gottes hat, zugleich mit der Grund für Torheit sein kann, wird indirekt zwar aufgerufen, aber nicht beantwortet. Schon die erste Fabel der Sammlung führt im Erzählen und Deuten vor, dass die natürlichen Eigenschaften traditioneller Fabelfiguren mit der Informationsvergabe durch den Erzähler in der Narratio wie auch in der Deutung der Erzählung auseinandertreten können. Das Sinnpotenzial der Erzählung steht in Widerspruch zur Sinnexplikation in der Affabulatio. In Sammlungen klassischer äsopischer Fabeln zeichnet sich ein Fabeltier durch ihm zugeschriebene, konstante Eigenschaften aus. Es ist keine Figur in dem Sinne, dass sie etwa eine Biographie hätte oder ein Gedächtnis. Fabelerzählen ist paradigmatisches Erzählen, was sich auch darin zeigt, dass der Tod oder die im jeweiligen Ereignis gemachte Erfahrung tierischer Protagonisten nur in der einzelnen Geschichte von Bedeutung ist. Stirbt der Esel, wie in I 74, oder der Fuchs, wie in II 21, sind diese in den nächsten Fabeln, in denen von ihnen erzählt wird, wieder quicklebendig.213 Dies gilt auch in III 41, in dem von dem Ereignis des Schwanzverlustes des Fuchses erzählt wird und wie exakt „der selbig Fuchß“ (III 41,5) sich schämt und die anderen Füchse, seine „brder Freundt vnd magen“ (III 41,11) erfolglos versucht zu überreden, sich ebenfalls den Fuchsschwanz abzubeißen. In den folgenden Fabeln besitzt der Fuchs wieder seinen vollen Schwanz. Ein Sonderfall stellt die ätiologische Fabel dar, die erzählt, wie es zum Aussehen oder zur Gewohnheit eines Tieres gekommen ist, etwa, warum die Schwalbe ihr Nest unter den Dächern der Menschen hat (I 16), die Fledermaus nur noch nachts fliegt (I 34) oder warum der Luchspelz voller Flecken ist (IV 56). Diese Eigenschaften, von deren Ursprung berichtet wird, sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt konstant. Noch heute ist am Pelz des Luchses sichtbar, dass er vom feigen Hasen verlassen wurde und sich allein gegen die Jagdhunde verteidigen musste:

213 Möglicherweise ist es weiterführend, die Wahl der Artikelart – ob bestimmt oder unbestimmt – zu untersuchen. Erst durch die Übersetzung der Fabeln aus dem Lateinischen ins Deutsche entsteht im Esopus die Varianz zwischen einem Fuchs und dem Fuchs.

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Da wardt dem Luchs sein haut zerbissen Vnd so gar jemerlich zerrissen Das er noch heut zu diesen stunden Hat die blutflecken/ vnd die Wunden Geheylet vnd verwunden nicht Wie man auch teglich an jm sicht (IV 56,69–74).

Waldis greift bei dieser Fabel das Erzählmuster ätiologischer Fabeln auf und schafft eine literarische Begründung einer natürlichen Eigenschaft, die zuvor zwar in Fabeln angesprochen wurde,214 aber für deren Erzählen vom Ursprung keine Vorlage nachweisbar ist.215 Der Fuchs deutet die Wunden und erklärt die Wunden des Luchses zum konstanten Erinnerungszeichen für den Verrat der Hasen: Drumb will ich dir ein vrtheyl sagen Das zeichen solt dein lebtag tragen Vber deinen balck die blut flecken Alln Hasen zum ewigen schrecken Das sie sich vor dir frchten sollen Sie sein so stoltz sie jmmer wollen Wenn sie das zeichen an dir sehen Sich erinnern/ was sey geschehen (IV 56,101–108).

Die durch den Sprachakt des Fuchses gesetzte Feindschaft zwischen dem Luchs und dem Hasengeschlecht ist zwar Thema der Fabelerzählung, doch die Feindschaft selbst spielt in keiner Fabel im Esopus mehr eine Rolle. Der Fuchs erweist sich hier als Fabelfigur, die nicht nur über die Deutungskompetenz bereits vorhandener Zeichen verfügt, sondern solche Zeichen auch einsetzen kann. Ein ähnlich kreativer Umfang mit den als natürlich gesetzten Eigenschaften ist ein Detail in der Argumentation der Ameise im Streitgespräch mit einer Fliege in I 30. Die Fliege sieht sich als der Ameise überlegen, da sie fliegen könne, während die Ameise auf dem Boden kriechen müsse und ihre Nahrung harte Körner und das Wasser in der Wagenspur seien. Die Ameise hingegen argumentiert mit ihrem festen Wohnsitz und ihrem allseits bekannten Fleiß und verweist auf die literarische Überlieferung ihrer Eigenschaft: „Mein that all menschen zur arbeit weißt | Derhalben mich die Schrifft auch preißt“ (I 30,31 f.). Nicht mehr nur  

214 In II 20 wird die Fellfärbung des Luchses unbegründet beschrieben: „ES hat der Luchs gar schne Har | Vberall fleckecht gantz vnd gar/ | Wie schne Blmlin fein gemalt | Den reytzt zu hoffart sein gestalt“ (II 20,1–4). Hier wird diese als „schnheit“ (II 20,23) bezeichnet, von der memoria-Funktion wie in IV 56 ist keine Rede. 215 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 307.

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1 Tradition und Transformation

die Natur des Tieres, auch die literarische Tradierung und Anerkennung derselben wird zum Argument.216 Im Esopus ist auch zu beobachten, dass die traditionellen Eigenschaften der Fabeltiere ins Gegenteil verkehrt oder mithilfe einer Figurencharakterisierung verändert werden. Dies tritt besonders in den Narrationes solcher Fabeln auf, die zwar traditionell äsopische Fabeltiere aufweisen, deren Handlung jedoch nicht auf die äsopischen Fabelstoffe zurückzuführen sind, sondern, in Ermangelung von nachweisbaren Vorlagen, als Erfindung von Waldis zu gelten haben. So geht der Wolf, der wie oben gezeigt, gewaltsam das Recht des Stärkeren praktiziert, in IV 94 Vom Wolffe/ Fuchsse/ Hirsch/ vnd Storchen aus dem Rechtsprozess, den er versucht, gegen den Fuchs anzustrengen, als Unterlegener heraus. Der Wolf verweist selbstreflexiv auf die allseits bekannten Taten des Fuchses, die schriftlich überliefert und jedem zugänglich seien: Die ich hie nit all kan verzelen Der man viel findt in den Parabeln Sonderlich in Esopus Fabeln (IV 94,40–42).

Die Evidenz der in Fabeln konservierten Erzählungen reicht aber zu einer erfolgreichen Verurteilung nicht aus, vielmehr wird die Fabel vom Gerichtsprozess ein weiteres Beispiel in der Kette an Überlistungen durch den Fuchs. Denn seine wortreiche Listigkeit nutzt der Fuchs auch in dieser Konfrontation. Der Wolf – traditionell der Böse – ist, so wird im manipulierten Justizprozess dargelegt, nicht mehr der Böse, sondern der Schwache, der sich nicht gegen den körperlich Unterlegenen durchzusetzen vermag. Dies ist kein Einzelfall. In IV 96 zeichnen sich die Hasen gerade nicht durch die Feigheit aus, die dem Luchs in IV 56 zum Verhängnis wurde. In IV 56 wird der Hase, der den Luchs entgegen seinem Versprechen im Ernstfall alleine ließ, zum Exempel seines gesamten Geschlechtes: Da sprach der Fuchß/ hast nie gehort Von anbegin/ das gschlecht der Hasen Mit jren Ohmen/ Vettern/ Basen All jr vier Ahnen vnd geschlecht Han nie gehandelt bilch vnd recht/ Weystu noch nit des Hasen art Jm ernst noch nie bestendig wardt/ Wiewol sie schweren/ viel geloben Das sie nit willn zuhalten haben (IV 56,92–100).

216 Die Ameise verweist damit auf die exegetische Tradition, die sich rund um die formica in Proverbia 30,25 im Alten Testament gebildet hat, siehe Josef R. Klíma: Ameise. In: EM. Bd. 1, Sp. 448–453.

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1.3 Zur Fabel im Esopus

Die natürliche Neigung der Hasen sich leicht zu erschrecken, ist auch Thema in I 23, in der die Hasen sich vor dem Wind im Wald fürchten. In IV 96 sind die Eigenschaften der Hasen demgegenüber verändert, einerseits werden sie als weise beschrieben. Es handelt sich aber, im Gegensatz zur Weisheit Äsops, nicht um eine voraussetzungslose. Es ist gerade keine natürliche Eigenschaft, da die Weisheit auf die Lehren eines alten Hasen zurückzuführen ist, der sich diese u. a. in Büchern angelesen hat.217 Andererseits zeigen sich die Hasen als ungewöhnlich mutig. Das gelehrte Geschlecht versammelt sich nämlich „Zum gmeynen nutz“ (IV 96,22), um als einzige Tierart „die grimmigen Lawen“ (IV 96,23) mit „ssse wort vnd Hasen stimm“ (IV 96,49) darüber zu belehren, wie Herrschaft ihrem Sinne nach ausgeübt werden sollte.218 Dazu befähigt sehen sich die Hasen gerade durch die Bildung, die sie gegenüber den anderen Tierarten auszeichnet.219 Ein erster abendlicher Versuch wird vertagt, da gerade ein blutiges Bankett stattfindet. Als der Plan in die Tat umgesetzt wird, zeigt sich, dass der Mut der Hasen letztlich nicht zum Erfolg führt. Denn schon aufgrund der Lehrabsicht erzürnen die Löwen und „Jm huy die Hasen all zerrissen/ | Verschlungen/ frassen/ vnd zerbissen“ (IV 96,111 f.). Die Hasen bleiben auch als Gelehrte wehrlose Beutetiere, sie veranschaulichen die mangelnde Wehrhaftigkeit des Gebildeten. Die unveränderten, natürlichen Eigenschaften der Löwen, das Recht des Stärkeren und das natürliche Verhältnis als Fressfeinde, lassen sich durch die angeeigneten Fähigkeiten der Hasen nicht überwinden.220 Hinzu kommen im Esopus weitere Phänomene, die in der Darstellung von Fabeltieren ungewöhnlich sind und die Beschränkung der Protagonisten auf ihre Darstellung über ihre natürlichen Eigenschaften aufbrechen. Dies geschieht, wenn den Fabeltieren Namen gegeben werden oder wenn sie in Monologen über ihr Handeln und ihr Dasein reflektieren, wie der hungrige Wolf in IV 3, der seit drei Tagen erfolglos auf der Suche nach Nahrung ist, „Das er vor hunger schier verschmacht“ (IV 3,7). In den V. 9–30 wird wiedergegeben, was er „Jn seinem sinn also gedacht“ (IV 3,8). So wünscht er sich zuerst, er wäre ein anderes Tier, dem etwa Stroh schmecken würde, er denkt daran, dass er kein Geld besitzt, dass er für ein Raubtier gehalten wird und hält seine Lage für aussichtslos: „Jch hab  



217 „Vnd het in Bchern lang studiert | Drumb er auch all sein Kinder lert | Sein Vettern/ Ohmen/ Mumen/ Basen/ | Vnd all das gantz Geschlecht der Hasen“ (IV 96,11–14). 218 Dabei zeigt sich, dass sich die Hasen der Gefahr, die von Löwen ausgeht, bewusst sind. So sollen die Löwen „Die Thierlin vngefressen lassen“ (IV 96,88). 219 „Mit weißheit/ reden/ vnd mit leren | Geschickter denn all Thier sonst weren“ (IV 96,19 f.). 220 Auf Verkehrung oder Veränderung der Natur deutet schon die zeitliche Situierung der Fabel hin, die Handlung findet vor dem Schöpfungsakt statt: „KVrtz vor der Schpffung aller ding | Vnd eh die Welt zum erst anfieng“ (IV 96,1 f.).  



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1 Tradition und Transformation

kein Freundt/ gunst oder Gelt/ | Wolt das ich schon wer auß der Welt“ (IV 3,19 f.). Darauffolgend beschließt er, „den lieben Gott“ (IV 21) für seine Lage sorgen zu lassen, sich so zu verhalten, wie es ihn sein Vater beigebracht habe, denn „art schlecht nicht von art“ (IV 3,25).221 Bei der Benennung tierischer Protagonisten greift Waldis auf Namen zurück, die aus der Tierepik bekannt sind.222 Es handelt sich um die Namen „Herr Reynhart“ (IV 1,137) für den Fuchs, „Herr Eisengrim“ (IV 7,71) für den Wolf und „Herr Henning“ (I 2,33) für den Hahn. Die Namen werden vom Erzähler, aber auch von anderen Figuren als Anrede benutzt. Waldis fügt sie bereits in Fabelbearbeitungen äsopischer Fabelstoffe, wie in III 27,24, ein. Gehäuft treten sie aber in Fabeln im vierten Buch auf, die Episoden aus der Tierepik wiedergeben. In IV 7 gibt die Anrede der Tiere Aufschluss über deren Verhältnisse zueinander. Der Fuchs hatte auf der Suche nach Nahrung von der Kindbettfeier der Affen gehört und deren Kinder mit ausgiebigem Lob bedacht. Er wird daher von der Affenmutter wohlwollend und mit korrektem Namen bedacht: „ich weyß wol das Herr Reynhart | Ein kluger Mann/ vnd hoch gelert“ (IV 7,44 f.). Den Wolf, der versucht, es dem Fuchs gleichzutun, spricht sie hingegen mit falschem Namen an. Während das Sprecher-Ich und der Fuchs den Wolf mit dem bekannten Namen „Eisengrimm“ benennen oder ansprechen,223 ruft die Äffin ihn als „Herr Eisengrein“ (IV 7,92) herbei. Die Veränderung des Namens macht aus dem grimmigen Fressfeind vorausdeutend den greinenden, winselnden und heulenden Wolf, als welcher der Wolf aus der Episode schließlich auch herausgehen wird. Da er unfähig ist zu lügen, erzürnt seine spontane Aussage:  



221 Die Fabel handelt davon, dass man letztlich gewohnte Verhaltensweisen nicht aufgibt, so sehr man sich dies in der Notlage auch vornehmen würde. In der Fabelerzählung folgen noch zwei weitere innere Monologe. So fällt der Wolf beim Versuch, eine Kuh zu erbeuten, in ein tiefes Loch und gelobt, sich zu bessern und ein frommes Leben anzunehmen. Als ihm die Flucht aus dem Loch gelingt, widerruft er seine vorherigen Worte mit dem Verweis auf die Haltung Luthers: „Der Luther sagt/ vnd sein Scribenten | Die Geystlichkeyt sey Visipatenten | Sey gar vnntz/ vnd nichtes wird | Vergebens Gott damit wirdt geehrt/ | Drumb will ich haussen jmmer hin | Ein Wolff bleiben wie ich jetzt bin“ (IV 3,75–80). 222 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 89. Einige der Namen gehen nicht auf die Tierepik zurück, so wird der Esel in IV 1,85 „Herr Heyntz“ genannt. Diese Namensvergabe, die Übertragung eines Allerweltsnamens auf ein Fabeltier, ist im Einklang mit der Deutung des Esels in der Affabulatio. Dort wird ein jeder vor dem Schicksal des Esels gewarnt, das einen selbst treffen könnte, glaubte man denjenigen, die sich in der Absicht, einen zu betrügen, nett stellten: „Dieselben euch am erst betriegen | Mit guten worten stets verliegen | Wie hie dem Esel auch geschehen“ (IV 1,257–259). In III 27 werden mit den Bezeichnungen „Bartmann“ (III 27,1) und „Herr Bartholt“ (III 27,19) sprechende Namen gewählt, die sich auf den Bart des Ziegenbocks beziehen. 223 Der Erzähler tut dies in IV 7,67, der Fuchs in IV 7,71.

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Was wunders schafft Gott in die Welt Solch vngeziffer drinn erhelt Mit Hunden solt man sie auß hetzen Zum scheutzel in die Bonen setzen (IV 7,97–100),

die Affen so sehr, dass sie beginnen, den Wolf „gar grewlich an zu zannen | Jm seinen buckel gar zubissen | Sein angsicht kratzet vnd zerrissen“ (IV 7,104–106). Die Benutzung von Namen aus der Tierepik führt zu einer veränderten Wahrnehmung der Fabeltiere. Indem auf die in der Tierepik miteinander verbundenen Episoden rekurriert wird, ist eine bekannte Biographie, etwa von Fuchs und Wolf, aufgerufen.224 Das Fabelerzählen ist nicht mehr nur rein paradigmatisch, das Syntagma der Tierepik wird als eine Art ‚virtuelles Syntagma‘ in die Fabelsammlung aufgenommen. Die Ergänzung paradigmatischen Erzählens um syntagmatische Verknüpfungen ist inhaltlich auf Figurenebene zu beobachten. Die Fabelerzählung in IV 8 wird verbunden mit der vorangestellten Fabel IV 7, indem der Wolf sich an das frühere Ereignis erinnert. Der, wie so häufig, hungrige Wolf auf Nahrungssuche, begegnet einem Fuchs, dessen Anblick das vergangene Ereignis aufruft: Fand einen Fuchß/ der thet erschrecken Denn jn der Wolff gar sawr ansach/ Sprach/ hab dir lang gelaffen nach Du hast mich offt vnd dick betrogen Mit deinem Fuchßschwentzen gelogen Gleich wie du mir hast offt gethan Soltu jetzund dein lohn entpfahn/ Solt dich nit mehr deinr schalckheyt preisen Vnd auff dem Zaun ein Sperling weisen Jch glaub nit mehr dein schmeychel wort Brengst mich nit mehr an Affen ort Wie mich jens mal brachtst vnderd Affen Het all mein hende voll zu schaffen Da sie mir weydlich kerten ab Des ich noch nie vergessen hab (IV 8,4–18).

Das frühere Ereignis von IV 7 setzt dann die Handlung der aus der Tierepik bekannten ‚Brunnenepisode‘ in IV 8 in Gang, an deren Ende der Wolf doch nur wieder vom Fuchs überlistet wird. Es zeigt sich, dass die Darstellungen von Fabeltieren über den Aspekt, der den ‚Akteur‘ ausmacht, hinausgehen. Sie verfügen mitunter sehr wohl über ein Eigenleben, sind nicht nur ‚außengesteuerte Hülsen‘, sind nicht nur auf Tiere als Hand-

224 Intensiv widmet sich Lieb den „Ordnungen und Strukturen der Fuchs-Wolf-Fabeln“ im Rahmen der „Narrativik des Mundus Perversus“ in Lieb: Erzählen, S. 161–203.

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1 Tradition und Transformation

lungsträger beschränkt. Es sind ‚Fabelfiguren‘, die Darstellung geht über die natürlichen Eigenschaften hinaus und ist von der Informationsvergabe des Erzählers abhängig.225 Dies passiert zunehmend im vierten Buch, in dem auch die Fabeln mit rein menschlichem Personal überwiegen. Ein Kaufmann ist insofern kein typischer ‚Fabelakteur‘ mehr, als es keine natürliche Eigenschaft ist, ein Kaufmann zu sein. Ein solches Figurenpersonal ist mitunter den Typen in Schwankerzählungen sehr nahe, etwa wenn ein Bauer sich durch Naivität auszeichnet oder eine Ehefrau als ehebrecherisch und listig dargestellt wird. Doch geht die Figurendarstellung über bloße Typenhaftigkeit hinaus, wenn die Figuren durch Figurencharakterisierung Funktionen oder Namen erhalten und ausführlicher beschrieben werden, wie etwa der „Schultheis von der Dameraw“ (IV 19,1),226 der die Tochter eines reichen Dorfwirtes namens „Heynrich vom langen Graß“ (IV 19,8) heiratet, die mit einer Neigung zur Trunksucht erzogen wurde: Ein dicke protzel starck/ vnd jung Verstndt sich auff ein guten trunck Sprach stets/ mir zu wie einem Sachssen

225 Der Erzähler schafft die Figur und kann dabei verschiedene Möglichkeiten der Figurendarstellung nutzen: „Alle in einer Erzählung gegebenen Informationen über eine Figur lassen sich im Begriff der Figurencharakterisierung zusammenfassen. Grundsätzlich erfolgt die Informationsvergabe entweder ‚auktorial‘ durch die Erzählinstanz oder ‚figural‘ durch die redenden und handelnden Figuren. Zu unterscheiden ist ferner die ‚explizite‘ von der ‚impliziten Figurencharakterisierung‘. Selbstcharakterisierungen von Figuren und Fremdkommentare durch andere Figuren oder den Erzähler gehören zur ‚expliziten Charakterisierung‘. ‚Implizit‘ kann eine Figur beispielsweise durch die Namensgebung charakterisiert sein“ (Martínez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 150). Auch die von Doderer als „Gegensatz zur Kontrastfigur“ (Doderer: Fabeln, S. 80) bezeichnete Relation von Fabelfiguren kann deren Ausgestaltung dienen, wie es für Figuren der Fall ist: „Zu den impliziten Charakterisierungsmöglichkeiten zählt schließlich auch die Pointierung des Figurenprofils durch Korrespondenz und Kontrastrelationen zu anderen Figuren der erzählten Welt“ (Martínez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 150). 226 Ein ähnlicher Individualname wird auch in IV 14,9 für den Pfarrherr: „Niclaus vom Sturm“ benutzt, den „DEr Schultheis von der Lichtenaw“ (IV 14,1) aufsucht. In IV 6 erinnert sich der Erzähler an den Namen, die sich der junge, verwundete Kriegsmann selbst gegeben hat: „Hab ich sein nam behalten recht | So nennt er sich den schwartzen Trck | Vnd war geborn von Offenburg“ (IV 6,12–14). Es überwiegen aber weitverbreitete Namen wie Peter, so ein Trompeter (I 55,4) und Petrus, Hans (IV 6,25 u. ö.) sowie Claus (IV 51,10), der „in der Frühen Neuzeit, etwa wie Hinz und Kunz, auch als nomen proprium verwendet, in Anspielung auf den berühmten Narren am sächsischen Hof Claus Narr (vor 1486–nach 1530), auch mit verächtlichem Nebensinn“ (Esopus. Bd. 2, S. 304) verwendet wird. Der Name der schönen Konkubine Elene (IV 39,70), auf die ein Pfaffe zu verzichten nicht bereit ist, könnte einerseits als Anspielung auf die schöne Helena in der griechischen Mythologie sein, siehe Esopus. Bd. 2, S. 295, kann sich aber auch im ähnlichen Klang zu ‚hehlen‘, im Sinne von ‚verhehlen‘ darauf beziehen, dass der Pfaffe seine Beziehung nicht verbergen kann.  

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Da bey sie so war auff gewachssen Von jrer Mutter so erzogen (IV 19,9–15).

Daneben gibt es im Esopus auch den Sonderfall der historischen Persönlichkeit in fiktionalen Erzähltexten. So behauptet das Ich in IV 24, es habe in Rom neben zweien Schulfreunden, von denen einer „von Haustein“ (IV 24,20) gewesen sei, auch „Ein Preus/ so ich mich recht bedenck | Der hieß Achaci von der trenck“ (IV 24,29 f.), getroffen. Ein Achatius von der Trenck ist 1517 als Domherr von Frauenburg nachweisbar, dessen Romaufenthalt für 1523 bezeugt ist.227 „CAmpegius der Cardinal“ (IV 17,1), dessen Bekanntheit im Fabeleingang betont wird,228 wird anhand seiner Äußerungen auf einer Versammlung in Nürnberg und dem Erzählen von einem „bossen“ (IV 17,27) und in IV 18 von einem „andern schwanck“ (IV 18,1) negativ dargestellt. Derartigen pseudo-biographischen Partikeln ist in Hinblick auf ihren Wirklichkeitsgehalt mit Vorsicht zu begegnen. Häufig gibt es keine Quellenbelege, die die Aussagen bestätigen würden.229 Im Gegenteil kann der Vergleich mit potenziellen Vorlagen – so im Fall der Fabel IV 38 – erweisen, dass etwa eine Wahrheitsbeteuerung – in diesem Falle, die Behauptung des Ichs, es habe den Anwalt, von dem erzählt wird, persönlich gekannt – ein Zusatz des Autors in der Bearbeitung der Erzählung ist. Es ist daher zu unterscheiden zwischen dem historischen Autor Waldis und dem SprecherIch, das über Vorrede und Affabulatio von IV 100 mit dem Namen Waldis verbunden wird. Mögen historische Erlebnisse des Autors in die Fabelsammlung eingeflossen sein, so kann doch nicht von den pseudo-biographischen Aussagen auf außertextuelle Wirklichkeit geschlossen werden. Vielmehr schafft der Autor über solche Aussagen ein Sprecher-Ich, dessen Erfahrungen ihn als glaubwürdige Instanz ausweisen. So ist auch zu erklären, dass etwa so biographisch wichtige Elemente aus dem Leben von Waldis wie die Zeit als Franziskanermönch in der Sammlung keine Erwähnung finden. Ein derart konturiertes Sprecher-Ich müsste permanent einer Wahrnehmung entgegenwirken, die von einer aus reformierter Sicht verwerflichen Vergangenheit geprägt wäre. Über die pseudo-biographischen Informationen gewinnt das Sprecher-Ich innertextuell an Kontur und Glaubwürdigkeit. Wertungen und Ereignisse, die an die Augen- oder Ohrenzeugenschaft des Sprecher-Ichs geknüpft sind, haben einen anderen Status als die Tierfabeln, sie sind glaubhafter. Solche pseudo-biographischen Partikel stehen im Gegensatz zum traditionellen Status der Fabel als Geschichte, die nicht wirk 

227 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 283. 228 „Der bey vns Teutschen vberall | Zu diesen zeiten ist bekant“ (IV 17,2 f.). 229 Siehe das Kapitel „Erzählendes Sprecher-Ich“, besonders S. 197 f.  



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1 Tradition und Transformation

lich geschehen ist. Sie ermöglichen aber die thematische Annäherung der esopischen Fabelwelt an die Welt des Autors und der Rezipienten. So steht nicht mehr nur der Fuchs in Pilgerkleidung für den verdorbenen Klerus (IV 1), sondern indem der Kardinal als Binnenerzähler auftritt, wird „die Sittenlosigkeit des altgläubigen Klerus sozusagen unmittelbar bestätigt“.230 Die zahlreichen Beispiele zeigen, dass eine vorschnelle Kategorisierung des Fabelpersonals im Esopus als ‚Akteure‘ diese auf ihre Rolle im Handlungsgefüge der Erzählung reduziert und die Gefahr birgt, dass der Blick auf die Eigenheiten der Figurendarstellung in den Fabeln im Esopus verstellt wird.

1.3.3 Fabelzeit Zeit bzw. Zeitlichkeit ist keine Kategorie der äsopischen Fabel in der Antike, im Mittelalter oder im Humanismus. Diese zeichnet sich sowohl in der Fabelerzählung sowie in ihrer Deutung durch Zeitlosigkeit aus. Erzählt wird ein Ereignis oder ein Konflikt, an dem zumeist nicht-menschliche Fabelfiguren beteiligt sind. Das in der Erzählung Wiedergegebene beansprucht, verallgemeinert zur Regel, allgemeingültig zu sein. Die Zeitlosigkeit fördert die mögliche Übertragbarkeit der geschilderten Handlungen auf die eigene Situation des Rezipienten. Auch die den Fabelerzählungen beigefügten Lehrsätze zeichnen sich durch zeitlose Allgemeingültigkeit aus. In der Fabelsammlung von Steinhöwel wird eine solche überzeitliche Geltung im Anschluss an die Fabeln geradezu ausgestellt, er fügt der Sammlung ein Register bei. Dieses verzeichnet, so die Überschrift, DIE GEMAINEN PUNKTE[] DER MATERI DIS BÜCHLEINS und bietet einen Zugang zu den Fabeln, der sich allein nach den ihnen zugeschriebenen Lehren richtet. So der Verweis unter dem Punkt Gütikait: „Guot werk werdent belonet. Im ersten buoch der xviii fabel“.231 Im Esopus zeichnen sich besonders die Fabeln im zweiten und dritten Buch durch Kürze und Zeitlosigkeit aus, wie beispielsweise III 10. Diese ist mit einem Umfang von zehn Versen eine der kürzesten Fabeln. In der Erzählung knarrt ein altes Wagenrad. Der Fuhrmann fragt voller Missbehagen nach der Ursache und erhält vom Rad folgende Antwort: „Der Wagen sprach/ wir hans so funden | Die Krancken klagen jr leydt den gsunden“ (III 10,5 f.). Die Affabulatio im Umfang von vier Versen ist eine ebenso allgemeingültige Aussage. Dieser Status wird nochmals explizit formuliert:  

230 Esopus. Bd. 2, S. 8. 231 Steinhöwels Äsop, S. 355.

87

1.3 Zur Fabel im Esopus

Ein alte Weiß ists/ das die Krancken Stets krchtzen/ sehnen/ kreisten/ ancken. An jn mit trsten/ etzen/ laben Mehr denn an gsunden zuschaffen haben (III 10,7–10).

Zeitlichkeit wird bei der äsopischen Fabel erst in der pragmatischen Situation, in ihrem Gebrauch von Bedeutung. Im Moment ihrer Anwendung soll die Fabel ihre Wirkung – egal ob unterhaltend, veranschaulichend, belehrend oder in Kombination dieser Möglichkeiten – situativ entfalten.232 Da es sich hierbei um mündliche Gebrauchssituationen handelt, ist man mit dem Problem konfrontiert, solchen Situationen zumeist nur nachträglich und vornehmlich in ihrer literarischen Überformung, die etwa den rhetorischen oder poetologischen Wert der Fabel veranschaulicht, nachspüren zu können. Literarische Darstellungen solcher Gebrauchssituationen finden sich schon recht früh in der Bearbeitung einzelner Fabelstoffe.233 Eines der bekanntesten Beispiele aus der Antike stellt Menenius Agrippas Fabel von dem Magen und den Gliedern dar. Als die Plebejer während der Ständekämpfe die Stadt verließen, soll Menenius diese mithilfe dieser Fabel zu Verhandlungen und infolge davon zur Rückkehr bewogen haben. Auch die Fabel, die als die erste im Deutschen überlieferte gilt, ist in die Darstellung einer Gebrauchssituation eingebunden. Sie ist weder eigenständig noch in einer Fabelsammlung, sondern in der Kaiserchronik eingearbeitet. Der Fabelstoff ‚Das gegessene Hirschherz‘ wird von einem alten Bediensteten des Bayernherzogs Adelger vorgetragen, um diesen in einer Ratsszene zu einem vom Herzog aufgrund der Erzählung selbst hergeleiteten Rat zu verhelfen.234 Auch in dieser Fabel weist die Gebrauchssituation der Fabel den Nutzen zu, im Moment ihrer Anwendung, in diesem Fall der Beratung, verändernd

232 Überlegungen zur Gebrauchssituation der Fabel zuletzt bei Schlecht: Fabula in situ, S. 47– 56. 233 Siehe Klaus Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel. Der Situationsbezug als Gattungsmerkmal. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hg. von Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 473–488, hier S. 478–482. Grubmüller: Meister Esopus, S. 17 f. weist auf zwei weitere klassische Beispiele hin: Herodots Mitteilung über die Fabel des Persers Kyros an die Gesandten der aeolischen und ionischen Griechenstädte sowie die von Aristoteles berichtete Stesichoros-Fabel von Pferd und Hirsch. 234 Siehe Grubmüller: Esopus, S. 123; die Erwähnung auch bei Schlecht: Fabula in situ, S. 123, Anm. 444. Die Fabel in: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. Hannover 1985 (MGH, Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters I), V. 6854–6921; mittlerweile auch in: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Mathias Herweg. Stuttgart 2014 (RUB 19270), die gesamte Episode auf S. 134–164, die Fabel ebenfalls V. 6854–6921.  

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1 Tradition und Transformation

wirken zu können, indem beim Rezipienten ein Erkennen der in der Fabel verborgenen Lehre ausgelöst wird.235 Die rahmende Wiedergabe solcher historischer Gebrauchssituationen erweist sich in der Überlieferung der Fabeln als fakultativ. Im Esopus, in welchem der Fabelstoff von Agrippas Fabel in I 40 Von gliedern des Menschen vnd dem Bauch und der Fabelstoff aus der Kaiserchronik als eigenständige Fabel mit Affabulatio in II 12 Vom Bawrn/ vnd wilden Schweine wiedergegeben werden, sind diese Schilderungen der Gebrauchssituation nicht vorhanden.236 Überhaupt verzichtet Waldis auf eine solche Art der Rahmung von Fabelerzählungen.237 Statt vergangener Anwendungssituationen steht die eigene Erschließung dessen, „was die Fabeln nutzes oder frchte“ (Vorrede, Z. 25) haben, durch den Leser selbst im Vordergrund. Wie in den folgenden Abschnitten ausführlicher dargelegt werden soll, ist die Art und Weise, wie Zeit bzw. Zeitlichkeit in die esopischen Fabeln eingebracht wird, ein Novum gegenüber der Zeitlosigkeit der äsopischen Fabel. Grob unterscheiden lassen sich zwei unterschiedliche Verfahren. Erstens treten neben die zeitlich unbestimmten Erzählungen solche, die mit zeitlichen Situierungen ausgestattet werden. Darunter sind zyklische Zeitordnungen wie Jahreszeiten oder das christliche Kirchenjahr, aber auch historische Daten. Zweitens wird, zumeist in den Affabulationes, auf die Gegenwart des zeitgenössischen Lesers, gesellschaftliche und soziale Zustände, Verhaltensweisen und Ereignisse eingegangen und in Bezug zur Vergangenheit gesetzt. Dieser Bezug fällt unterschiedlich aus, manche Zustände werden als kontinuierlich dargestellt, andere als verändert, teilweise ins Gegenteil verkehrt, geschildert. Sowohl der Bruch wie die Kontinuität

235 Das klassische Beispiel, die Fabel vom Magen und den Gliedern, ist daher ein Ausgangspunkt fabeltheoretischer Überlegungen geworden, siehe etwa Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen. München 1985 (Mikrokosmos 16), Anm. 25. Zur Fassung im Esopus siehe ebd., S. 98–101. 236 Beide Fabelfassungen sind bei DG unter der Nr. 128 verzeichnet, der Katalog weist nicht auf die unterschiedliche Einbettung und Bearbeitung der Fabelerzählung sowie ihrer Deutung hin. Zu II 12 in Bezug auf die Bedeutung des Erzählens und Auslegens durch die Fabelfigur siehe Lieb: Erzählen, S. 65–69. 237 Generell sind in Fabelsammlungen die einzelnen Fabeln möglichen Gebrauchssituationen enthoben. Die schriftliche Fixierung konserviert, die Fabelerzählung ist ihrer mündlichen Anwendungssituation entbunden. Mittelalterliche Fabelsammlungen begegnen nicht selten in Gebrauchshandschriften, die einen Exempelfundus für eine erst noch erfolgende mündliche Gebrauchssituation wie etwa Predigt oder Unterricht bieten sollen. Exemplarisch untersucht Grubmüller dies für die Fabelsammlung von Boner anhand des cgm 3974, siehe Klaus Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert. In: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Kesting. München 1975 (Medium Aevum Philologische Studien 31), S. 139–159.

1.3 Zur Fabel im Esopus

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der Vergangenheit können positiv oder negativ bewertet werden. Im Mittelpunkt der Analyse stehen im Folgenden die zeitlichen Situierungen der Fabelhandlungen. Der überwiegende Teil der Fabeln im Esopus, insbesondere die Fabeln, die rein tierisches Personal aufweisen, beinhalten keinerlei Zeitangaben und bieten keine zeitliche Situierung. Diese Fabeln stehen dem klassischen Modell strukturell sehr nahe, wie es auch in humanistischen Fabelsammlungen, darunter auch in der Hauptvorlage Aesopus Dorpii, als Regelfall auftritt. Die Fabelerzählungen sind rein funktional. Daher treten neben die zeitlosen Fabeln bereits in der Antike Tierfabeln, in deren Fabelerzählungen natürliche, zyklische Zeitordnungen genannt werden, die Jahreszeiten, sofern diese von Bedeutung für die Handlung sind. Die Jahreszeiten sorgen etwa für eine Veränderung des Naturraumes wie beispielsweise die Wärme in „Sommers hitz bey warmer Sonnen“ (I 70,1). Behandelt werden in den Fabelerzählungen die Auswirkungen der Jahreszeiten auf den Alltag der tierischen oder menschlichen Fabelfiguren im „Sommer heyß“ (I 24,1)238 und „Winter kalt“ (I 7,1),239 seltener im „Glentz“ (II 93,5 und III 83,1)240 oder im Herbst241 (II 93,21; IV 3,1). Sie dienen als Handlungsmotivation, da ihnen

238 Der Sommer als Jahreszeit findet sich auch in I 16; I 70; I 84; II 6; II 49; II 91; II 93; III 71; III 80; IV 8; IV 49; IV 50; IV 71; IV 73 und IV 99. Dies als Ergänzung zur Übersicht im Registereintrag ‚Jahreszeiten‘ in Esopus. Bd. 2, S. 430. 239 Ebenso in I 7; I 30; I 56; I 84; II 3; II 11; II 28; II 60; II 93; II 98; III 20; III 87; III 91; IV 8; IV 49; IV 73; IV 77 und IV 84. 240 Der Frühling ist vor allem über die sprichwörtliche Wendung ‚sich den Glentz stechen lassen‘ (so in III 48,16; IV 37,27 und IV 58,39) im Esopus vertreten. Zu verstehen ist die Wendung in der Bedeutung ‚sich einen faulen Lenz machen‘, siehe Esopus. Bd. 2, S. 211. Die Fabel III 83 Vom Mann/ vnd zweien Frawen nimmt Bezug auf die dem Frühling zugeschriebene Wirkung. Erzählt wird die Geschichte eines lüsternen Mannes im mittleren Alter, der sich aufgrund seiner Libido auf zwei Frauen gleichzeitig einlässt. Die Jahreszeit bildet den idealen Rahmen dafür: „ALs im Glentz/ vnd im Meyen grn | Ein Mann wart so gar frech vnd kn | Des geyls vnd kutzels also voll | Vnd nam zwey Weiber auff ein mal“ (III 83,1–4). 241 Der Herbst findet im jahreszeitlichen Ablauf lediglich eine Erwähnung als typische Zeit des Vogelzugs (I 16,38) und als Zeit, in der die harte Erntearbeit langsam ihrem Ende zugeht (II 93,21). Es kann unterschieden werden, welche Bedeutung der Herbst jeweils für Tiere oder für Menschen hat. Während menschliche Figuren die Ernte eingefahren haben, ist diese Jahreszeit für tierische Fabelfiguren, ähnlich wie der Winter, mit Hunger konnotiert: „EJns mals im Herbst es sich begab | Wie ich durch schrifft verstanden hab | Ein alter Wolff lieff vbers Veldt | Vnd wie er pflag nach narung stellt/ | Er war drey tag also hingangen | Vmbsunst gelauffen/ nichts gefangen | Das er vor hunger schier verschmacht“ (IV 3,1–7). Für menschliche Figuren hat der Herbst als Zeit der Jahrmärkte und Messen wie der „Franckfurdter Meß“ (IV 65,3) und der damit einhergehende Handel zusätzlich eine ökonomische Bedeutung. Neben die Ernte in der Landwirtschaft tritt im Esopus der Handel mit Aussicht auf finanziellen Gewinn.

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1 Tradition und Transformation

Konnotationen wie etwa ‚Hunger‘ (im Winter) zugeschrieben sind.242 Besonders bei den Angaben zu winterlichen Zeiten ist die mit der Jahreszeit verbundene Veränderung des Naturraumes ein Anstoß für die Handlung. So gelingt die List des Fuchses in III 91 nur aufgrund der Kälte. Der Wolfsschwanz kann nur in einem kalten Winter in einem Loch im See einfrieren, die Jahreszeit wird zur Voraussetzung für die List. Die Fabel vom Fleiß der Grille, im Esopus als I 84 wiedergegeben, nimmt Bezug auf Sommer und Winter, auf den klimatischen Gegensatz und ihre Bedeutung für Tier und Mensch. Im „Winter kalt“ (I 84,1) hat die Ameise unter einem Baum in einer Höhle einen Vorrat an „Gersten/ Weytzen/ manchen kern“ (I 84,5) angelegt. Sie handelt hierbei im Einklang mit dem Wissen, das in der Bibel in den Sprüchen Salomons von ihr überliefert ist: „GEhe hin zur Emmeissen du Fauler/ sihe jre weise an/ vnd lerne. Ob sie wol keinen Fürsten noch Heubtman noch Herrn hat/ bereit sie doch jr brot im Sommer/ vnd samlet jre speise in der Erndte“ (Prov 6,6–8).243 Das Handeln ist zu Beginn mit dem Überleben im Winter begründet, „Damit sie mcht des hungers wern“ (I 84,6). Ein „Hewschreck oder Grillen“, so ganz ist sich der Übersetzer nicht sicher,244 kommt vorbei, um die Ameise „vmb Gottes willen“ (I 84,8) um ein Körnchen zu bitten, denn der „hunger brecht sie sonst vmbs leben“ (I 84,10). „Der hunger vnd der Winter kalt“ (I 84,11) sind auch hier eng miteinander verzahnt. So argumentiert die Heuschrecke: „wegerstu mir das Korn | Vor hunger hab ichs leben verlorn“ (I 84,13 f.). Die Antwort der Ameise grenzt den Zeitraum ein, in welchem die Heuschrecke hätte aktiv werden sollen. Sie nimmt dabei neben der Jahreszeit auf weitere zeitliche Ordnungen Bezug. So wird mit dem Monat August auf den achten Monat im julianischen Kalender und mit dem Tag von St. Jacob auf den Heiligenkalender verwiesen:  

Sprach/ was hastu gethan im Somer Jm Sommer vmb Sanct Jacobs tag

242 Besonders deutlich zeigt sich dies beim hungrigen Wolf, der meist erfolglos im Winter auf Beutesuche geht, so in III 91; IV 8; IV 49 und IV 73. 243 Daneben auch Prov 30,25: „Die Eimmeisen ein schwach volck/ Dennoch schaffen sie im Sommer jre speise“, siehe Esopus. Bd. 2, S. 67 f. Der oben schon zitierte Selbstbezug der Fliege in I 30 zeigt, dass Bibeltexte im Esopus als Assoziationsraum für die Deutungen von Tieren und insbesondere der Ameise stets mitgedacht werden können. 244 Die in der Vorlage im Aesopus Dorpii handelnde Cicada hat ihren Eingang als ‚Zikade‘ in die deutsche Sprache erst im 18. Jhd. gefunden und „auch auf die heimischen grillen übertragen“, siehe ‚Zikade‘. In: DWB. Bd. 31, Sp. 1272. In Boners Edelstein trifft „die anbeiz“ (V. 19) auf „ein höustüffel“ (V. 29), siehe Boner: Edelstein, S. 63. Steinhöwel übersetzt cicada dann mit dem traditionell gewordenen, hier noch männlichen „grill“ in der fabel von der amais und den grillen, siehe Steinhöwels Äsop, S. 188.  

1.3 Zur Fabel im Esopus

91

Da man das Korn zu schneiden pflag? Jm Augst soltstu dich han versorgen (I 84,16–19).

Gemeint ist mit dem Heiligentag der 25. Juli, dem Festtag des Apostels Jakobus des Älteren.245 Diese zeitliche Präzisierung ist, wie auch schon die Bettelphrase der Heuschrecke gegenüber der Fabel im Aesopus Dorpii ein Zusatz von Waldis. Die Vorlage ist zeitlich unbestimmter. Die Figurenrede hingegen bringt drei zeitliche Ordnungen zusammen: den von der Papstkirche gefeierten Heiligentag, den nach einem Heiden benannten Monat aus dem julianischen Kalender und die schon im Alten Testament der fleißigen Ameise zugeordnete Jahreszeit. Obwohl die Grille darauf hinweist, dass sie auf dem Feld den ganzen Tag für die Kurzweil der Kornschnitter gesungen habe, weist die Ameise die Bitte mit dem Argument ab, die Grille hätte faulen Müßiggang betrieben. In der Affabulatio wird die jahreszeitliche Zuordnung von Arbeit und Mühe im Sommer gegenüber Versorgung mit Nahrungsmitteln im Winter sogleich aufgegriffen: Des Sommers solln wir fleissig werben Das wir nicht mgen hungers sterben/ Jm Winter in der harten zeit Wenn all ding todt/ gefroren leit (I 84,33–36).

Deutlich zeigt sich die Parallele zu einem anderen Spruch Salomons: „Wer im Sommer samlet/ der ist klug/ Wer aber in der Erndte schlefft/ wird zu schanden“ (Prov 10,5). Statt nun das im Mittelalter oft ausgeschöpfte Sinnpotenzial der vorsorgenden Tätigkeit der Ameise als Sorge um das Seelenheil im Diesseits aufzugreifen,246 wird in der Affabulatio der Schwerpunkt auf die Ausbildung gelegt, die in der Jugend stattfinden soll. Die Jahreszeiten werden hier zu Sinnbildern der Lebensalter Jugend und Alter: „Das ist/ wir sollen in der jugent | Streben nach Knsten vnd nach tugent“ (I 84,37 f.). Nicht der Besitz weltlicher Güter solle im Vordergrund stehen, schließlich sei das Glück unbeständig, vielmehr solle sich der direkt angesprochene Leser der Weisheit und der „Kunst vnd witzen“ (I 84,45) annehmen:  

Denn Gelt vnd gut ist farende hab Vnd mit dem glck gehts auff vnd ab/ Kunst/ weißheit ist zu tragen wol Man gibt dauon auch keinen Zoll.

245 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 104 f. 246 Siehe Dietrich Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100–1500). 2 Bde. Berlin 1968, S. 238 f.  



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1 Tradition und Transformation

Du kansts im Busen wol verhelen Dir knnens auch die Dieb nicht stelen/ Drumb fleiß dich jung der Kunst vnd witzen Die mgen dir im alter ntzen (I 84,39–46).

In II 93 Vom mden Esel wird die Situierung im Kreislauf der Jahreszeiten genutzt, um überzeitliche Aussagen zu formulieren. So dienen die Jahreszeiten und die anfallenden Arbeiten in der Fabelerzählung als Veranschaulichung der unaufhörlichen Mühen des Lebens. Der Esel ist „in dem Winter hart“ (II 93,1) verdrossen, da er nur „harte[s] stroh“ (II 93,3) zu fressen erhält und „auff dem frost vnd harten eyß“ (II 93,4) laufen muss. Er „wntschet das der Glentz ankehm | Vnd jm denselben kummer bnehm“ (II 93,5 f.). Die Erwartung, „so mcht mir werden baß | Wenn ich kem in das grne Graß“ (II 93,7 f.), erfüllt sich nicht, das Gegenteil tritt ein. Denn im „May“ (II 93,9) treibt ihn der Arbeitseifer seines Herrn in die Ziegelei, er muss „Thon vnd Ziegel tragen | Wardt vbel gspeißt/ vnd wol geschlagen“ (II 93,11 f.). Die Annahme, im Sommer könne er sich an Disteln sattfressen, denn dann „zeuht mein Herr hin in die Ern/ | Vnd wirdt mein denn daheim vergessen“ (II 93,14 f.), erweist sich ebenfalls als falsch:  







Da kam er in ein grossen jamer/ Must Weytzen tragen in den Secken So groß/ einr mcht dafr erschrecken (II 93,18–20).

Nun bittet er, „Gott geb/ der Herbst ankumm | Denn ist die arbeits zeit herumb“ (II 93,21 f.). Der Herbst bricht an, doch die Arbeitslast steigert sich erneut:  

Ja wol/ so baldt der Herbst ankam Da hub sich erst sein arbeit an/ Da wurden pffel/ Biern/ vnd Nuß/ All winckel voll zum vberfluß/ Mandeln/ Feigen/ Trauben/ vnnd Wein Mußt er mit hauffen tragen ein (II 93,23–28).

Dieser Zustand dauert an, „Das weret stets/ vnd alle tag“ (II 93,29), sodass der „arme Esel gar erlag“ (II 93,30). Er wünscht sich nun die Jahreszeit herbei, die zu Beginn der Fabelerzählung den Ausgangspunkt im Kreislauf von Erwartung und enttäuschender Wirklichkeit bildete: es will nicht besser wern/ Den Winter thet wider begern/ Sprach/ wo ich ker/ findt keine rhu/ Gott geb mir nur gedult dazu (II 93,31–34).

1.3 Zur Fabel im Esopus

93

Die Einsicht des Esels, dass die Mühen nicht aufhören, bildet in der Vorlage den Lehrsatz im Morale: „Haec fabula indicat nulla esse praesentis vitae tempora, quae non perpetuis sint subiecta laboribus“.247 Das Fehlverhalten des Esels lag darin, auf eine baldige, ruhigere und damit bessere Zukunft zu hoffen. Nach Winter, Frühling, Sommer und Herbst ist der Esel einsichtig und bittet Gott lediglich noch um „gedult“ (II 93,34), um die ständige Mühsal („keine rhu“ [II 93,33]) ertragen zu können. Der Fokus auf die weltlichen Mühen wird in der Affabulatio negativ bewertet: „Niemandt gedenck auff dieser Erdt | Das seins vnglcks ein ende werdt“ (II 93,35 f.). Die Mühsal auf Erden dauere zwar ein Leben lang an, sei aber ein vergänglicher Zustand. Er ist so vergänglich wie der Wechsel von Sonne zu Nebel. Nicht auf die Mühsal im Leben solle man achten, sondern darauf, dass diese von Gott vorgesehen und „zum besten gschehen“ sei.248 Das menschliche Dasein ist nur eine Phase, die als reinigende von Gott vorgesehen sei:  

Diß leben ist ein steter kampff Nach dem Sonnenschein folgt ein dampff/ Das leßt vns Gott zum besten gschehen Als thet er durch die finger sehen/ Auff das wir gfegt werden recht frumb Vnd bitten das sein Reich zukumm (II 93,37–42).

Neben den Bitten des Esels in der Narratio, die sich wiederholt aufs Diesseits richten, wird in der Affabulatio in V. 42 ebenfalls eine Bitte eingefügt. Es handelt sich dabei um die zweite Bitte aus dem Vaterunser.249 Der unveränderliche Zyklus der Jahreszeiten wird in die Vergänglichkeit der Welt eingeordnet und dem zu erwartenden Jenseits untergeordnet. Waldis situiert Fabelerzählungen zeitlich mithilfe einer weiteren zyklischen Zeitordnung, dem Kirchenjahr. Neben einzelnen Heiligentagen werden Weihnachten,250 Fastnacht,251 Palmsonntag252 und Ostern253 zur zeitlichen Situierung

247 Esopus. Bd. 2, S. 177. 248 Der Verweis auf die Vorsehung Gottes findet sich ebenfalls in Mt 6 dem Vaterunser vorangestellt: „Ewer Vater weis/ was jr bedürffet/ ehe denn jr jn bittet“ (Mt 6,8). 249 Mt 6,10: „DEIN REICH KOMME“. 250 Dies ist der Fall in III 9 und IV 49. 251 Als zeitliche Situierung findet sich die „Faßnacht“ in II 40; II 41; IV 56 und IV 87, als Erinnerung an einen Wurstdiebstahl „Vergangne Faßnach“ in IV 55,31 und in Bezug auf die Bräuche wird die Fastnacht in IV 69,49 genannt. 252 So in IV 14 und IV 84. 253 So in IV 84 oder in IV 14,6–8: „Zur zeit/ da man zur Osterkertzen | Zu richtet/ vnd das Wachs einweicht | Da gieng der gut Mann auch zur Beicht“.

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1 Tradition und Transformation

benutzt. Nicht verwunderlich erscheint die Einbettung dieser Zeiten in die Fabelhandlungen, wenn es sich um rein menschliche Fabelfiguren handelt. In II 45 Von einer Frawen/ die jren sterbenden Mann beweynet wird die kurze Trauerphase einer jungen Witwe geschildert. Die Narratio ist zeitlos: „ES war ein mal ein junges Weib“ (II 45,1). In der Affabulatio baut Waldis ein weiteres Beispiel ein: „Wie man sunst von einr andern sagt“ (II 45,51). Die Pointe der Erzählung baut auf der Zeitspanne zwischen Karfreitag und Ostern auf. So stirbt der Ehemann einer jungen Frau an „Kharfreytag“ (II 45,53), „Drumb sie sich mht mit grossem leiden“ (II 45,54). Auf die tröstenden Worte der Mutter: „Will dir einst vmb ein andern sehen/ | Das du dich trsten mgst damit“ (II 45,58 f.), entgegnet die Tochter:  

Sie sprach/ vor diesen Ostern nit/ Er hat mirs hertz also besessen Das ichs nit kan so baldt vergessen (II 45,60–63).

Die Kirchenzeiten erscheinen mit der gleichen Selbstverständlichkeit eingebaut wie die Jahreszeiten. Das für einen christlichen Leser relevante Kirchenjahr bildet eine unhinterfragte zeitliche Ordnung, die im Esopus Eingang in die Erzählungen findet. Sie selbst sind kein Anlass für Kritik, wohl aber kann etwa die mit dem Osterfest verknüpfte Beichte zum Anlass für einen Konflikt mit Klerikern werden, wie in IV 9 Wie einn Bawer zur Beicht gieng. Der Bauer bringt hierbei so „grobe stck heruor“ (IV 9,2), dass der Geistliche sich weigert, ihm die Sünden zu erlassen. Um ihn doch noch dazu zu überreden, verspricht der Bauer ihm „Jetzt gegen Ostern (so wir leben) | Ein halb Schock guter Oues [zu] geben“ (IV 9,9). Die Pointe der fazetienhaften Erzählung baut auf dem ähnlichen Klang von ovum (Ei) in der Form ova und von ovis (Schaf) in der Form oves auf. Der Kleriker erwartet eine Schafsherde, wird aber „Am Osterabent“ (IV 9,18), der Zeitpunkt kurz vor dem Fastenbrechen, mit 30 Eiern beliefert. Auf Nachfrage des Pfaffen erhält er vom Bauern eine lateinische Antwort: „Der Bawr sprach/ inter ves et va | Non est differentia magna“ (IV 9,27 f.). Für die Pointe ist die Jahreszeit somit nebensächlich.254 Die  

254 Der Wortwitz, der nur im Lateinischen funktioniert, ist ein mögliches Indiz, dass diese witzhafte Kleinsterzählung ursprünglich aus dem Lateinischen herrührt. Ob jedoch die mündliche Gelehrtenkultur mit ihren Tischgesprächen, in denen solche Erzählungen ihre ursprüngliche Gebrauchssitutation gehabt haben mögen, oder aus einer greifbaren Vorlage wie den Facetiae Bebels hervorgegangen sind, die diese erstmals schriftlich fixierten, wovon Johannes Klaus Kipf ausgeht, siehe Johannes Klaus Kipf: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum. Stuttgart 2010 (Literaturen und Künste der Vormoderne 2), S. 494, kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Eine direkte Vorlage ist nicht nachweisbar, in der Fazetie II 115 De alio [sacerdote] baut die Pointe auf den gleichen Wortwitz auf, jedoch gibt es keine zeitlichen Angaben. Statt einer Beichtszene zwischen einem Bauern und einem Pfarrer handelt es sich um eine verbale Auseinandersetzung unter Klerikern. Ein Pfarrer, der für die Erlangung des

1.3 Zur Fabel im Esopus

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zeitliche Situierung lenkt die Aufmerksamkeit jedoch auf die Abhängigkeit der Gemeinde von ihrem Pfarrer und möglichen Mißbrauch des Amtes anlässlich der Osterbeichte.255 Die eingebaute Kirchenzeit prägt und erweitert mit ihren Konnotationen das Sinnpotenzial der Fabelerzählung, wird aber in der Affabulatio nicht zwingend zur Kritik an der Papstkirche genutzt. Ein Blick in die Übersetzung des Regnum Papisticum von Waldis aus dem Jahr 1555 zeigt, dass sie sich sehr wohl dafür eignen würden. Im Ppstisch Reych widmet sich das vierte Buch den Festzeiten im Kirchenjahr der Papstkirche: Von jren Festen ubers gantze jar. Das zehnte Kapitel Von der Fassnacht berichtet in aller Ausführlichkeit über die in dieser Zeit ausgeübten Bräuche und beurteilt diese kritisch. Im Esopus wird in IV 69,49–52 der Brauch, sich an Fastnacht zu verkleiden, mit dem heidnischen Januskult verglichen, die Informationen bleiben aber vergleichsweise allgemein: Vmb Faßnacht pflegen sich die Heyden Dem Abgott Jano so zu kleyden Wenn sie mit Laruen vnd mit Butzen Wie Narren auff einander stutzen.

Der Vergleich mit einem heidnischen Fest findet sich auch im Ppstisch Reych, hier aber mit dem Bachuskult:

Priesteramtes dem Bischof eine Belohnung in Form von hundert Schafen versprochen hatte, überlistet diesen: „Postquam ille adeptus esset sacerdotium, venit ad episcopum centum secum ova portans. Cui episcopus: ‚Oves mihi, inquit, pollicitus es, non ova.‘ Ad quod sacerdos: ‚Non est magna differentia inter ‚ves‘ et ‚va‘ (id est inter oves et ova), et quae me latuit; tua culpa est, qui nescivisti mecum cautius mercari. Nisi enim ignarus et indignus sacerdotio fuissem, nec ova nec oves promisissem.‘“ In Übersetzung: „Nachdem der Mann das Priesteramt erlangt hatte, erschien er beim Bischof mit hundert Eiern. Dazu der Bischof: ‚Schafe‘, sagte er, ‚hast du mir versprochen, nicht Eier.‘ Hierauf der Priester: ‚Der Unterschied zwischen ‚-ves‘ und ‚-vas‘ ist nicht groß‘ (das heißt zwischen oves und ova, Schafen und Eiern), und mir war er unbekannt; du hast schuld, da du unfähig warst, vorsichtiger mit mir zu paktieren. Wenn ich nämlich nicht unfähig und des Priesteramts unwürdig gewesen wäre, dann hätte ich dir weder Eier noch Schafe versprochen‘“ (Heinrich Bebel: Fazetien. Drei Bücher. Übersetzt und eingeleitet von Manfred Fuhrmann. Konstanz 2005 [Bibliotheca suevica 13], S. 172 f.). Zur Gebrauchssituation von Fazetien und zur Frage, warum eine Fazetiensammlung für einen modernen Leser nicht witzig sei, siehe Hans-Jürgen Bachorski: Poggios Facetien und das Problem der Performativität des toten Witzes. In: Zeitschrift für Germanistik 11 (2001), S. 318–335. 255 „Seit dem vierten Laterankonzil (1215) ist das Beichtgebot, wonach mindestens einmal im Jahr die Beichte abzulegen sei, mit der Osterkommunion verbunden (‚Osterbeichte‘)“ (Esopus. Bd. 2, S. 270).  

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1 Tradition und Transformation

DAnn tritt die Faßnacht bald erfür Und bringt die fasten für die thür. Da wird das volck unsinnig/ toll Von fressen/ sauffen stetes vol. Werden zu narren jung und alt Affenspil treiben aller gstalt. Sie rennen/ stechen/ ringen/ fechten Mit aller thorheit weidlich bechten. Vier tag haltens dem Bacho fest Niemands an jm da mangeln leßt. Mit grossem kosten/ prchtig/ schon Als je die heiden han gethon.256

Auch die in den Waldisfabeln aufgerufenen Merkmale, Gastmahl und Völlerei, werden ausführlicher beschrieben: Groß gsterey ein jeder macht Fressen und sauffen tag und nacht. Man schlacht vil schwein an allem endt Da han die wrst das regiment.257

Hinzu kommen Glücksspiel und Gewaltausbrüche: Man spielt mit würffeln und mit karten Einr dem andern ein mumschantz warten. In allen heusern ist lust vnd freudt Man wt/ man tobt/ man rüfft/ man schreit.258

Auch das Verkleiden wird in Details beschrieben: Etlich versteln jr angesicht Gar scheußlich larven zu gericht. Teufflischer gstalt sies malen lassen Lauffen darin durch alle gassen. Wer jn bekmbt den thun sie schrecken Vnd alle kind für jn aufflecken. Etliche lauffen nacket hin Und ist gar nicht bedeckt an jn. Allein das maul verhllet wol Auff das sie niemand kennen sol.

256 Waldis: Ppstisch Reych, Cap. 10 Von der Fassnacht, V. 1–12, vgl. auch V. 111 f.: „Summa/ jeder machts auff sein best | Und feirt also des bachus fest“. 257 Ebd., V. 13–16, vgl. auch: „Allnthalben sein die tisch gedeckt | Reichlich man speiß vnd tranck aufftregt“ (V. 21 f.). 258 Ebd., V. 17–20.  



1.3 Zur Fabel im Esopus

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Dem gttlichen geschpff zu leid Verwechßlen man vnd weib jr kleid.259

Diese Verkehrung der Kleider wird als Bruch göttlicher wie weltlicher Gesetze interpretiert: Die Magd zeucht des knechts hosen an Jns weibes kleid schmuckt sich der Man. Damit sie weidlich mgen letzen Gttlich und die weltlich gesetzen.260

Deutlich wird das Treiben verurteilt: Mich verdreußt all diß nerrisch thun. Wlchs on schew treiben alt und jung Zur schmach und Gotteslesterung.261

Die Ereignisse, die im Esopus zur Fastnacht stattfinden, stehen in keinem Verhältnis zu den Ausschweifungen, wie sie im Ppstisch Reych von der Papstkirche und ihren Anhängern praktiziert werden. Der Esopus tritt gerade nicht als protestantische Propagandaschrift auf. Die Fastnacht ist als Kirchenzeit nicht hinterfragt, die von den Katholiken betriebenen Riten und Bräuche sind nicht Teil dieser Kirchenzeiten. Für das angedachte Publikum, die Jugend, bedarf es dieser verurteilenden Darstellung nicht. Stattdessen sind die Kirchenzeiten mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Jahreszeiten für die Fabelfiguren und den Leser präsent gehalten. Einzelne Merkmale wie die Verkleidung, das ausgelassene Feiern und Essen als Teil der Fastnacht werden mit der Fastnacht aufgerufen. Nicht immer dient die Kirchenzeit als zeitliche Situierung, sondern es wird auf die damit verbundenen Tätigkeiten und Assoziationen angespielt, wie etwa in IV 77. Nicht die Verkleidung, sondern der geschundene Zustand und damit die Entkleidung wird für den Fuchs zum Anlass, den Wolf mit Verweis auf die Fastnacht zu verhöhnen, als dieser mit abgezogener Haut vom Königshof des Löwen zurückkehrt. Zuvor wollte der Wolf den Fuchs überlisten und dem kranken Löwen dessen Fell anpreisen. Der Fuchs, rhetorisch geschickter, sorgt für die Schindung des Wolfes: Da wardt der arme Schelm genomen Sein haut abzogen gar behendt Bis an den Hals/ beyd Fß vnd Hend/

259 Ebd., V. 59–70. 260 Ebd., V. 71–74. 261 Ebd., V. 170–173.

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1 Tradition und Transformation

Kaum das er nacket kam dauon Sahe ob er het ein Kugel an (IV 77,84–88).

Als der Wolf zurückläuft, wird er dementsprechend vom Fuchs verhöhnt: Sprach/ Freundt wie komstu so daher Als obs gleich vmb die Faßnacht wer/ Sag/ wen hastu damit betrogen Wammes vnd Hosen auß hast zogen Nur in der Kugel/ Hndtschuh/ Socken Lauffst durch dick/ dnn/ durchs naß vnd trucken (IV 77,91–96).

Die Hohnworte des Fuchses, der Wolf käme wie zur Fastnacht daher, sind mehrdeutig. Je nach Konnotation von Fastnacht wird ein anderer Aspekt verhöhnt. Einerseits kann sich dies auf die ‚Verkleidung‘ beziehen, die hier in einer krassen ‚Entkleidung‘ bestehen würde, und damit doppelt den Aspekt verkehrter Zustände aufzeigt. Andererseits kann sich die folgende Ausführung, der Wolf trüge sonst nur Mütze, Handschuhe und Socken auch auf die Tatsache beziehen, dass die Fastnacht zu einer eher kühleren Jahreszeit stattfindet und der Wolf an den Körperteilen, die man normalerweise vor Kälte schützen muss, noch geschützt ist, ihm der wärmende Pelz sonst aber fehlt. Die Fastnachtszeit ist daneben eine Zeit der Ausgelassenheit, der Freude, der Schlemmerei und des Festes. Dies sind Merkmale, welche Waldis in anderen Fabeln zum Anlass nimmt, deren Erzählungen zeitlich in der Fastnacht zu situieren. So wird das Gastmahl in II 40; II 41 und IV 56 in Verbindung mit ausgelassenem Feiern und Festen gebracht und tritt in den beiden aufeinander folgenden Fabeln als verbindendes Motiv auf. In der ersteren der beiden Fabeln II 40 Vom Fuchß/ vnd den Frawen kommt, „da es Faßnacht war“ (II 40,1), in einem Dorf eine große Schar an Frauen zusammen, von der jeder eine „feyßte henn“ (II 40,4) zum gemeinsamen Mahl mitbringt, „das sie da mchten frlich leben“ (II 40,6). Eher unerwartet für die Jahreszeit des lauten Feierns ist die Feststellung: „Die assen sie da in der still | Vnd machten des geschreis nit viel“ (II 40,9 f.). Ein Fuchs, der dies beobachtet, wundert sich, denn wenn er dies täte, kämen alle Bauern zusammen und kein Hund bliebe im Dorf. Eine der Frauen hält ihm entgegen, warum er so vermessen sei, schließlich seien die Hühner ihr Eigentum, „weder gstolen/ noch genomen“ (II 40,22). Was er hingegen fräße, das hätte er geraubt. Die Fastnachtszeit als zeitliche Situierung irritiert in dieser Fabel, da die Erwartung eines ausgelassenen Treibens sich nicht mit dem stillen Mahl der Frauen deckt. Die fehlende Ausgelassenheit der Frauen erklärt sich, wenn man die Vorlage betrachtet, die lediglich von einer Versammlung von Frauen und deren mitgebrachten Hühnern erzählt, die ein Fuchs betrachtet. Auch dort speisen die Frauen in Ruhe:  

1.3 Zur Fabel im Esopus

99

„Vulpes iuxta villam quandam transiens conspexit catervam mulierum plurimas gallinas opipare assatas alto silentio comedentem“.262 Durch die Erweiterung von Waldis wird eine mögliche Begründung geliefert, warum die Frauen sich treffen, die Ruhe des Treffens in Verbindung mit der zeitlichen Einordnung der Fabel erzeugt aber eine mögliche Irritation. In der nachfolgenden Fabel II 41 wird ebenfalls, wie zu Fastnacht, zu einem Gastmahl geladen, auch hier wird nicht von einem festlichen Treiben erzählt. Ein „reicher man“ (II 40,1) besitzt viele Kapaune, die gemeinsam in einem Korb aufgezogen werden. Alle „wurden feyßt“ (II 40,5) bis auf einen, der von den anderen dafür verachtet wird. Als es „hin gegen der Faßnacht“ (II 40,10) geht, weist der Reiche seinen Koch an, die „besten | Die feyßten“ zu „entleiben“ (II 40,14 f.). Die Reue unter den fetten Kapaunen ist daraufhin groß. Auffällig sind im Vergleich mit der vorhergehenden Fabel die Sprecher. In II 40 sprechen die, die essen, bzw. die, die gerne essen würden, die Frauen und der Fuchs. In II 41 kommen diejenigen zu Wort, die gegessen werden sollen. Diese eigenartige Verknüpfung von Tier- und Menschenwelt ist durch die Anordnung der Fabeln schon im Aesopus Dorpii zu finden, neu ist jedoch die zusätzliche Verknüpfung über die Nennung der Kirchenzeit. Während im Aesopus Dorpii sich in De Vulpe et Mulieribus gallinam edentibus, der Vorlage für II 40, die Frauen lediglich zu einem Festessen treffen, führt Waldis die Fastnacht ein. Das gleiche Verfahren ist auch für II 41 nachweisbar, für welche De Caponibus pinguibus et macro als Vorlage gesichert ist. Die Erwartung festlicher Ausgelassenheit erfüllt die Fabel IV 87 Vom Wolff vnd einer Gans. In dieser ergreift „VMb Faßnacht zeit“ (IV 87,1) der Wolf eine Gans, welche mit dem Hinweis auf den Brauch, an Fastnacht zu tanzen, um einen letzten Tanz bittet. Dies begründet sie mit der Fastnachtszeit und ihrer Bedeutung für die Menschen: „Und sprach/ nun ists vmb Faßnacht zeit | Die allen Menschen freude geit“ (IV 87,9 f.). Sie selbst habe noch nicht getanzt, „wie man sonst tantzen sol“ (IV 87,12), und möchte nun einmal umherspringen und „Dazu ein frlich Liedlin singen“ (IV 87,13), dann würde sie auch umso lieber sterben. Der Wolf stimmt zu und will selbst mittanzen. Während sie beide tanzen „Als obs zu einer Hochzeit wer“ (IV 87,22), sieht die Gans schließlich ihren Vorteil und flieht. Der Wolf erinnert sich mit später Einsicht an die Lehre der Väter, erstens auf das Geschnatter der Gänse, wenn er denn essen wollen würde, nicht zu achten, und zweitens, nicht nüchtern tanzen zu gehen. Von diesen beiden Lehren wird in der Affabulatio lediglich der Brauch, nicht vor dem Essen Tanzen zu gehen, nochmals erwähnt. Dort wird darauf hingewiesen, dass „aus gmeynem brauch“ (IV 87,35) zu vernehmen sei, dass man selbst dort, wo „Frawen/ Jungfrawen/ junge Kna 



262 Esopus. Bd. 2, S. 145.

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1 Tradition und Transformation

ben“ (IV 87,37) und Spielleute zusammenkommen, erst nach dem Essen tanze. Als bestätigende Aussage wird zum Abschluss der Affabulatio ein Ausspruch der Schwankfigur Markolf herangezogen: „Marcolphus sagt/ welch man gern glaubt | Auff vollem Bauch steht ein frlich haubt“ (IV 87,41 f.). Damit hat eine Figur das letzte Wort, die auch im Fastnachtsspiel, der typischen Gattung für diese Kirchenzeit, zu finden ist.263 Zeitliche Situierungen mithilfe des christlichen Kirchenjahres stellen zwar eine zeitliche Einordnung dar, aber diese Einordnung bleibt, da sie sich auf eine zyklische, immer wiederkehrende Ordnung beruft, allgemein. Die Geschichte ist irgendwann, vielleicht in nächster Vergangenheit, vielleicht auch nicht, zur Fastnacht geschehen. Anders verhält es sich mit solchen Fabeln, die eine historische Situierung zu Beginn der Fabel aufweisen, die die Ereignisse einem bestimmten Zeitraum zuordnen. Dieser prägt mitunter die Fabel, da er mit weiteren Konnotationen verknüpft ist. Die Fabel IV 6 Von einem verwundten Landtsknecht etwa beginnt mit dem Verweis auf Ereignisse, die an eine historische Persönlichkeit angebunden werden. Ein Krieg situiert das Erzählte zeitlich. Die kriegerischen Auseinandersetzungen liegen bei Erscheinen des Esopus bereits mehr als eine Generation zurück und damit vor der Reformation und den folgenden Religionsstreitigkeiten. IV 6 spielt  

ZVr zeit da Keyser Maximilian Krieg het mit den Venetian Offt/ vnd an vielen enden siegt Jm Foriaul viel Stdt bekriegt (IV 6,1–4).

Bei diesen Kriegsereignissen handelte es sich um Kämpfe, die Kaiser Maximilian 1508–1509 alleine und erfolglos, dann in der Liga von Cambrai (gegr. 10.12.1508) an der Seite Frankreichs, Spaniens und weiterer europäischer Mächte gegen die Republik Venedig [führte]. In der ersten Phase des Krieges gegen die Liga verlor Venedig beinahe alle Herrschaftsbereiche auf dem Festland, die es während einer hundertjährigen Expansionspolitik erobert hatte, konnte dann aber wichtige Städte wieder zurückgewinnen.264

Diese konkrete zeitliche Situierung der Fabelerzählung dient vornehmlich der Wahrheitsbeteuerung, eine handlungsmotivierende Funktion hat sie nicht. Wohl braucht es kriegerische Auseinandersetzungen, wie sie im Esopus auch schon an

263 Siehe Hans Folz: Ein spil von konig Salomon und Markolffo. In: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Dieter Wuttke. Stuttgart 1998 (RUB 9415), S. 57–81. 264 Esopus. Bd. 2, S. 262.

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1.3 Zur Fabel im Esopus

anderer Stelle den Schauplatz bildeten (III 87; IV 67; IV 1), um von einem im Kampf tödlich verwundeten Landsknecht zu erzählen. Dieser konkrete Krieg dient dazu, dass die Pointe der Fabel aktualisiert wird. Denn in der Fabel möchte sich ein Landsknecht auch im Sterben nicht „auff den Herrn“ (IV 6,26) besinnen, da er allein den „Herrn Keyser Maximilian“ (IV 6,33) zum Herren habe und auch im Tod nicht fahnenflüchtig werden wolle. In den Fabeln wird durch die aufgerufenen vergangenen Kriegsereignisse die Bedrohung des Lebens präsent und auf die verderblichen Einflüsse des Krieges auf die in Hinblick auf das Jenseits korrekte Lebensführung aufmerksam gemacht. In IV 6 wird der auch im Sterben nicht von seinem Dienstherrn abweichende Landsknecht in der Affabulatio zu einem anschaulichen Beispiel dafür, „Was ein verrchten Menschen macht“, denn „Wie einr sein gantzes leben fehrt | So wirdt jm auch das endt beschert“ (IV 6,42 f.). Die Fabelhandlung setzt kurz vor dem Tod des Landsknechts ein,  

Derselb ward in eim sturm geschossen Vnd hefftig in den Todt verwundt Lebt nur biß in die dritte stundt (IV 6,16–18).

Den Kern der Sterbeszene bildet ein Wortwitz mit dem Begriff ‚Herr‘, der sowohl Gott wie den Dienstherrn Kaiser Maximilian bezeichnet, und das daraus entstehende Missverständnis zwischen dem betrunkenen Pfarrer und dem im Krieg tödlich verwundeten Landsknecht. Der Landsknecht soll für den direkt angesprochenen Leser („Bey diesem Landtsknecht wol betracht“ [IV 6,41]) als ein anschauliches Beispiel für einen Menschen dienen, der sein Leben nicht gottgefällig verbringt. In der Einleitung der Fabel wird von den Kriegstätigkeiten Maximilians und der Zusammensetzung seines Kriegsheers gesprochen. Dieses führt Maximilian zwar zum Sieg („gewann daselb viel feiner Stdt“ [IV 6,5]), kritisiert wird aber, dass es sich bei den Landsknechten um eine Gruppe sitten- und gottloser junger Menschen handele. Der „junge[] Knecht“ (IV 6,11), der im Sterben liegt, wird ebenfalls zur Gruppe der ungezogenen Jugendlichen im Heer Kaiser Maximilians gezählt: Darunder manches wildes Kindt Wie man sie da gemeynlich findt Da kummen zamen gut Gesellen Die Vatter Mutter nicht hren wllen (IV 6,7–10).

In der Fabelerzählung wird die Jugend des Landsknechts zur Sprache gebracht und sein Tod geschildert. So wenig wie der Landsknecht in seiner Jugend seinen Eltern folgen wollte, so wenig folgt er im Sterben den Anweisungen des Pfarrers. Weder Ratschläge zur Lebensführung noch zur Vorsorge um das Seelenheil werden angenommen. Dieser Einzelfall wird in der Affabulatio zum Anlass, um über eine ideale Lebensführung zu sprechen. Ein Sprichwort wird herangezogen,

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1 Tradition und Transformation

um zu betonen, wie prägend die in der Kindheit angenommenen Sitten sind: „Man sagt/ was ein gut hack will werden | Das krmt sich zeitlich bey der Erden“ (IV 6,45 f.). Die im Sprichwort gespeicherte Erfahrung hat Geltung, doch sei dies für manche nicht ausschlaggebend, um ihr Leben gottgefällig zu führen, eine späte Bekehrung sei in deren Augen ausreichend. Es folgen Aussagen, die aufzeigen, wie opportun mit dem Wort Gottes umgegangen wird:  

Doch sein etlich so vbergeben Sprechen/ ist gleich viel wie wir leben Wenn wir vns an dem end bekeren Vnd vns denn lan das Gottswort leren Das eim nur an seim end mag ntzen Jst gleich wie mit den Armbrust schtzen Leit nit am spannen oder bschicken Wenn sie nur recht vnd wol abdrcken Vnd das das weiß am zweg werd troffen So wlln wir auch des besten hoffen (IV 6,47–55).

Gegenübergestellt sind damit eine ideale Lebensführung, wie sie vom Autor vertreten wird, und die Abweichung davon in der Gegenwart. Diese Einstellung wird deutlich verurteilt, es werde „Gott selb damit veracht | Sein wort vnd gantze Schrifft verlacht“ (IV 6,57 f.). Die doppelte Bedeutung des Wortes ‚Herr‘ nochmal aufnehmend, wird auf den Lohn verwiesen, den man erhalte, je nachdem welchen Herren man sich im Leben gewählt habe:  

Drumb gehts zuletst auch wie es kan Wirdt glohnt gleich wie sie gearbeit han Das auch kein andern Herren wissen Denn des sich han im leben gflissen (IV 6,59–62).

In den letzten fünf Versen wird nochmal auf die Jugend als prägenden Lebensabschnitt eingegangen, nun zuerst in Form eines Antikenzitates. Es ist als Zitat ausgewiesen, die Quelle aber nicht genannt. Als Markierung dient die häufiger vorkommende Wendung „wie der Poet sagt“ (IV 6,65). Über einen Dreireim verbunden, geht diese Phrase in eine die Fabel abschließende redensartliche Wendung ‚waschen weder Elbe noch Rhein ab‘ über:265 Denn die weiß darinn man betagt Verleßt man nit wie der Poet sagt/ Das Vaß schmeckt nach dem ersten Wein/

265 Für Nachweise zu dieser Variante der Redensart ‚waschen weder Elbe noch Rhein ab‘ siehe Esopus. Bd. 2, S. 132.

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Was in der jugent wirdt gnomen ein Wescht jm im alter nicht ab der Rhein (IV 6,63–67).

Die Lebensweisheiten sind ineinander verwoben, das Arrangement der Verse erschwert eine klare Abgrenzung der verschiedenen Elemente. Die Berufung auf die Worte eines ‚Poeten‘ in V. 64 kann sich syntaktisch einerseits auf V. 63 f., andererseits auf den mit Virgeln abgesetzten V. 65 beziehen. V. 64 über den Geschmack von Weinfässern ist als Zitat von Horaz nachweisbar, zugleich aber auch in sprichwörtlicher Verwendung im Gebrauch.266 Die Metaphorik des Fasses, welches den Geschmack des ersten Weines aufnimmt, und der Bezug auf das, was „in der jugent wirdt gnomen ein“ (IV 6,66), sind über ihre allgemeine Bildhaftigkeit hinaus ein Rückbezug auf die Figuren in der Narratio. Sowohl der Pfarrer wie der Landsknecht gehören zum Kollektiv des Heeres, „Darunder manches wildes Kindt“ (IV 6,7). Beide sind als Trunkenbolde ausgewiesen, sind Negativbeispiele für die durch Alkohol und Krieg verdorbenen Zeitgenossen. In der auktorialen Deutung wird das hier zuletzt aufgezeigte Sinnangebot der Fabelhandlung nicht aufgegriffen. Während der Landsknecht zum Sinnbild menschlichen Lebenswandels wird, wird die Figur, die mit ihm in der Sterbeszene in einen Dialog tritt, nicht mehr erwähnt. Gemeint ist der Pfaff, der als eine weitere Negativfigur an die Seite des Landsknechts tritt. Das Gespräch zwischen Pfarrer und dem Sterbenden findet mitten in der Nacht statt. Berichtet wird, dass der Landsknecht nur noch „biß in die dritte stundt“ (IV 6,18) leben wird. Der herbeigeeilte Pfarrer ist betrunken, er „Het noch vom Wein nit auß geschloffen“ (IV 6,22). Darin gleicht er dem Landsknecht, der als ein „wunder nassen bossen“ (IV 6,15) eingeführt wird.267 Der Pfaffe offenbart sich als jemand, der unfähig ist, seiner Aufgabe, hier eine Sterbebegleitung, nachzukommen, denn der „solt jm etwas guts vorsagen | Het selb sein tag nicht offt gepflagen“ (IV 6,23 f.). Die Pointe des Missverständnisses kann als Spiegelung beim Pfarrer beobachtet werden. Hier befindet sich das unterschiedliche Verständnis nicht allein auf der Figurenebene – Pfarrer und Landknecht –, sondern wird zwischen Erzähler und der Figur des Pfaffen aufgezeigt. So informiert der Erzähler im Fabeleingang über den Namen des Landsknechts und seinen Geburtsort: „Hab ich sein nam behalten recht | So nennt er sich den schwartzen Trck | Vnd war geborn von Offenburg“ (IV 6,12 –14), der Pfarrer hingegen ist in der Sterbeszene nur in der Lage, den Landsknecht mit dem Aller 



266 Ebd., S. 262. 267 Ich folge dem Übersetzungsvorschlag des Stellenkommentars in Esopus. Bd. 2, S. 262: „unglaublichen Trunkenbold“; dort auch der Hinweis auf die Bedeutung von nasser: „nasser, begosner oder trunkener, suffusus, ebrius“ (DWB. Bd. 13, Sp. 422). In III 87,12 wird ein Pfarrer, dort ein Freund eines Landsknechts als ein „trunkner boß/ ein wst Compan“ vorgestellt.

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weltsnamen ‚Hans‘ anzusprechen. Die Anrede des Pfaffen macht, bedenkt man die Informationen des Erzählers, als kleines Detail auf eine Diskrepanz zwischen den Aufgaben und der Ausführung des Klerikers aufmerksam. Das Sprecher-Ich, das den Namen des Landsknechts kennt, zeigt sich trotz der als ironisch lesbaren Wendung „Hab ich sein nam behalten recht“ (IV 6,12) als informierter über die Figur denn der Pfaffe, der eigentlich für die Seelsorge der Landsknechte verantwortlich ist. Auch das Gespräch selbst offenbart die Unfähigkeit des Pfaffen, auf individuelle Betreuungsbedürfnisse eingehen zu können. Er ist lediglich in der Lage, den gleichen Satz viermal zu wiederholen. Von einer ‚Lehre‘, die der Pfarrer als Ziel selbst nennt, kann nicht die Rede sein. Ohnehin ist fraglich, was von einer ‚Lehre‘ zu halten ist, die mit der Erkenntnis beginnt, es sei zu spät: Sprach Hans/ ich solt dich jetzt wol lern Jst viel zu spat/ denck auff den Herrn Denck auff den Herrn/ hr was ich sag Denck auff den Herrn/ an diesem tag Denck auff den Herrn/ das rath ich dir (IV 6,25–29).

Hinsichtlich des Diensteifers bildet der Pfaffe einen Gegenentwurf zum Landsknecht. Obwohl dieser in der Affabulatio als Sinnbild eines sorglosen Menschen dient, ist klar, dass er gewissenhaft seinen weltlichen Pflichten nachkam. So ist er laut Selbstaussage stets ein treuer Soldat gewesen, der seiner im Leben ausgeübten Tätigkeit sogar im Sterben noch nachkommen möchte: Er sprach/ was wlt jr mich bekehrn Jch weyß zwar keinen andern Herrn Denn Herrn Keyser Maximilian Was solt ich vor ein Herrn sonst han? Drauff will ich sterben vnuerzagt Habs offt in sturmen/ schlachten gwagt Vnd wardt kein mal nit Veldtflchtig Solt ich denn jetzt werden vntchtig Will hie auch wie ein Kriegsman sterben (IV 6,31–39).

Diese Einstellung kann positiver gedeutet werden als die des Pfarrers und dessen Unfähigkeit, andere auf das Jenseits vorzubereiten, zumal bei einer Anstellung im Krieg, bei der der Tod ständig vor Augen geführt wird. Die Nennung historischer Daten, Ereignisse und Persönlichkeiten suggeriert einen Wirklichkeitsanspruch. Derartige Elemente irritieren daher in der Gattung Fabel, die nach klassischer Definition von Ereignissen berichtet, die nicht geschehen sind. Selbst Waldis weist in III 92,171 f. darauf hin, dass er ein gedicht, und keine geschicht geschrieben habe. Dieser Umstand – dass die Fabeln im Esopus selbst dann als ‚nicht wirklich geschehen‘ zu gelten haben, wenn historische  

1.3 Zur Fabel im Esopus

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Daten genannt werden – mag ein Grund dafür sein, dass in IV 10 Vonn einem Edelman die Fabel zur Zeit eines historischen Ereignisses, wiederum einem Krieg, stattfindet, sich die Angabe aber nicht mit dem historisch nachweisbaren Datum deckt. Erzählt wird von der verbotenen Schlachtung einer dem Landgrafen bestimmten Kuh. Protagonist der zuvor nicht nachweisbaren Erzählung ist „ein Edelman“ (IV 10,15) des Landgrafen Hermann von Hessen. Dessen Verteidigung der Stadt Neuss während der Belagerung durch Karl den Kühnen, Herzog von Burgund, bildet die zeitliche Situierung der Fabel: JM zwey vnd Siebentzigsten Jar Da Neus am Rhein belegert war Von Hertzog Carol von Burgund Der nach all jrm verterben stundt/ Erhielts Landtgraue Herman auß Hessen Der das mal war in Neus gesessen Wie sich der Krieg verlengen thet Das man nit viel mehr zessen het (IV 10,1–8).

Das hier genannte Ereignis ist historisch zwar tatsächlich nachweisbar. So war Hermann von Hessen vom Domkapitel des Stifts Neuss berufen worden und verteidigte die Stadt erfolgreich gegen Karl den Kühnen, bis ein Entsatzheer unter Führung Kaiser Friedrichs III. anrückte. Allerdings fand die Auseinandersetzung nicht im Jahr 1472 statt, wie es der erste Vers behauptet, sondern vom 29.7.1474 bis zum 5.6.1475.268 Die falsche Angabe des Jahres weist die Erzählung als Lüge aus. Die falsche Jahresangabe lässt sich auch in Zusammenhang mit dem Inhalt der Fabel bringen. So kann die zeitliche Situierung der Fabel darauf hinweisen, dass die Zustände der geschilderten Vergangenheit durch Hungersnöte so durcheinandergeraten sind, dass auch die zeitliche Einordnung in die Vergangenheit durcheinandergeraten ist. Die Narratio berichtet, wie ein Adliger aus „not vnd hunger“ (IV 10,16) eine Kuh schlachtet, deren Milch allein für den Fürsten bestimmt ist. Vor den Fürsten bestellt und, weil die Hungersnot als Ursache berücksichtigt wird, lediglich scharf getadelt, wehrt er sich: so glob ich heut Das hren all diß Edelleut Mein dienst keim Frsten sagen zu Der nit mehr hat denn eine Kuh (IV 10,33–36).

Die Verkehrung der Ordnung, dass ein Fürst für seine Leute zu sorgen habe, ist in der Affabulatio nicht in einer auktorialen Deutung festgehalten. Allgemeiner wird

268 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 267.

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1 Tradition und Transformation

die Verkehrung von Sitten zur Sprache gebracht, dass nämlich Hunger Kriminalität verursache, Sitten und Gewohnheit gebrochen werden würden. Der letzte Vers spricht dem Hunger sogar zu, natürliche Eigenschaften verkehren zu können: Der hunger vnd die grosse not Manchen dahin gezwungen hot Das er mit raub den kummer bß/ Der hunger macht rohe Bonen sß (IV 10,45–48).

Dass eine historische Situierung generell nicht gleichzusetzen ist mit einem Bericht von wahren Ereignissen, sondern auch in einer Lüge funktionalisiert werden kann, zeigt sich in der Rede des Fuchses in der zweiten Fabel des vierten Buches. Das darin genannte Datum liegt noch näher an dem Erscheinungsjahr des Esopus. So berichtet der Fuchs dem Hahn von einem angeblichen Frieden, den die Tiere miteinander geschlossen hätten. Dabei weist er auch auf ein Konzil mit Jahresnennung hin: In diesem Jar Sieben vnd dreissig Hat der Bapst in Jtalia Jn der schnen Stadt Mantua Ein gmeyn Concilj betracht Viel Herren da zusammen bracht (IV 2,62–66).

Was in der Fabelerzählung als Fakt präsentiert wird, ist für einen über das Zeitgeschehen informierten Leser als Lüge erkennbar, denn das „von Papst Paul III. (1534–1549) für das Jahr 1537 vorgesehene Konzil in Mantua fand nicht statt. Erst 1545 kam ein Konzil in Trient zustande“.269 Abschließend soll auf einen zeitlichen Aspekt eingegangen werden, der nicht allein als Situierung einzelner Fabelerzählungen greifbar ist, sondern der in der Gesamtschau der Sammlung offensichtlich wird. Nicht nur aufgrund der schon auf dem Titelblatt genannten Trennung von alten und neuen Fabeln, sondern auch in Bezug auf zeitliche Situierungen nimmt die Grenze zwischen drittem und viertem Buch eine herausgehobene Position ein. Die erste Fabel der neuen Fabeln im vierten Buch wird mit einer Jahreszahl und einem historischen Ereignis zeitlich situiert. Zugleich ist ein christliches Ereignis angesprochen, welches die persönliche Seelsorge betrifft und, indem die Erinnerung an die Geburt Christi gestärkt werden soll, Heilsgeschichte vergegenwärtigt: die Ausrufung eines Heiligen Jahres. Diese fand für gewöhnlich zur Weihnachtszeit statt. Mit der Geburt Christi ist ein zentraler Punkt der Heilsgeschichte angesprochen, denn die Geschichte galt

269 Ebd., S. 254.

1.3 Zur Fabel im Esopus

107

als von Gott begründete und gelenkte Heilsgeschichte, war nach dem Sündenfall aber die Phase der Bewährung der Menschen und vorübergehend-vergängliche Zeit bis zur durch Christus als Mittelpunkt der Geschichte ermöglichten Wiedererlangung der ewigen Seligkeit nach dem apokalyptischen Ende der Zeiten.270

Dieser ‚Mittelpunkt der Geschichte‘ wird hier in der institutionalisierten Erinnerung durch die Papstkirche aufgerufen: DA man schrieb Tausent vnd Fnffhundert Dasselbig Jar ward abgesundert/ Von der andern zeit gantz vnd gar Vnd gmacht zu einem glden Jar Vom sechsten Bapst hieß Alexandern (IV 1,1–5).

In dieser Passage wird auf die Erklärung des Jahres 1500 zum Jubeljahr, zum sogenannten ‚goldenen Jahr‘ durch Alexander VI. (1492–1503) Bezug genommen. An diesen, seit 1425 im 25jährigen Abstand ausgerufenen Jahren kann man einen besonderen Ablass, mitunter einen Generalablass, erwerben.271 Die Nennung der Jahreszahl dient nicht der bloßen Einordnung in den kalendarischen Ablauf, noch im gleichen Satz wird dieses Datum als aus der zeitlichen Ordnung abgesondert hervorgehoben. Dieses Vorgehen lässt sich auch für die Beschreibung des Raums der vermeintlichen Sündenvergebung, Rom, beobachten: Theten viel Leut nach Roma wandern Zu erlangen Ablaß vnd gnad Wies der Bapst aus geschrieben hat Er wolt auff thun die gldene Pfort Die sonst an keinem andern ort Denn zu Rom in dem haubt der Welt (IV 1,6–11).

Rom ist als Ort auf der Weltkarte eingeordnet, bekommt hierbei als haubt der Welt eine exponierte Stellung zugesprochen. Rom mit der gldenen Pfort (IV 1,9), von deren Passieren sich die Pilger „gnad vnd Ablaß“ (IV 1,19) versprechen, ist aber gerade kein Raum vorbildlicher christlicher Werte und ihrer Einhaltung. Davon

270 Hans-Werner Goetz: Zeit/Geschichte. In: Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte: Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1993 (Kröners Taschenausgabe 469), S. 640–649, S. 645. 271 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 128 und 239. Für diesen Brauch lässt sich ein alttestamentlicher Hintergrund in Lev 25,10 nachweisen: „Vnd jr solt das Funffzigst jar heiligen/ vnd solts ein Erlasiar heissen im Lande/ allen die drinnen wonen/ denn es ist ewr Halliar [Jubeljahr]/ Da sol ein jglicher bey euch wider zu seiner Habe/ vnd zu seinem Geschlecht komen“.

108

1 Tradition und Transformation

erzählt die Fabel IV 24, in welcher der Ich-Erzähler selbst Augen- und Ohrenzeuge der Scheinheiligkeit und Verwahrlosung der Sitten römischer Kleriker wird. Das Alleinstellungsmerkmal der Heiligen Pforte veranlasst die Menschen in IV 1 dennoch, „auß alln Landen“ (IV 1,18) nach Rom zu pilgern. Skepsis an dieser Praxis wird deutlich formuliert: Ja wer es glaubt vnd dafr helt Jst baldt erlßt von pein vnd schuldt Vnd wenns schon Gott nit haben wolt So ist der Bapst an Gottes statt Vnd alln gewalt auff Erden hat (IV 1,12–16).

Nicht mehr Gott selbst hat die Herrschaft inne, sondern sein Stellvertreter. Die Erzählung von diesem Ereignis, welches zum Zeitpunkt der Erstausgabe 1548 noch in der zeitgenössischen Erinnerung präsent gewesen sein wird, erhält in Hinblick auf das bevorstehende Jubeljahr im Jahr 1550 eine warnende Funktion. Anfang und Ende der Heilsgeschichte, Schöpfung und Jüngstes Gericht, bilden eine Rahmung der Fabelsammlung.272 Die erste Fabel im ersten Buch gibt die seit Marie de France programmatisch in volkssprachlichen Fabelsammlungen am Anfang platzierte Fabel von Hahn und Perle wieder.273 Im Esopus wird dieser ein Verweis auf die von Gott in der Schöpfung etablierte Ordnung vorangestellt: GOTT durch sein gt vnnd Weißheit fron/ Hat alle ding erschaffen schon Vnd als was lebt reichlich versorgt Das hungers halb niemandt erworgt/ Mit dem beding vnd solchem fug Das alles was da hat das leben Soll arbeiten vnd darnach streben Nach seiner art die kost erwerben So wirdt es nimmer hungers sterben Vnd wirdt jhn Gott nicht darben lassen (I 1,1–11).

Die Ordnung Gottes, die hier angesprochen ist, ist nicht die paradiesische, nicht bedingungslos erhält jedes Geschöpf seine Nahrung.274 Die Bedingung, man müsse „nach seiner art die kost erwerben“ (I 1,8) verweist auf das Urteil Gottes

272 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 41. 273 Vgl. Speckenbach: Die Fabel von der Fabel, S. 178–229. 274 So Gen 1,29 f.: „VND Gott sprach/ Sehet da/ Jch hab euch gegeben allerley Kraut/ das sich besamet auff der gantzen Erden/ vnd allerley fruchtbare Bewme/ vnd Bewme die sich besamen/ zu ewr Speise/ vnd aller Thiere auff Erden/ vnd allen Vogeln vnter dem Himel/ vnd allem Gewürm das das Leben hat auff Erden/ das sie allerley grün Kraut essen/ Vnd es geschach also“.  

1.3 Zur Fabel im Esopus

109

nach dem Sündenfall. Für den Menschen bedeutet dies, sein Essen mühselig zu erarbeiten: Vnd zu Adam sprach er/ Die weil du hast gehorchet der stimme deines Weibs/ Vnd gessen von dem Bawm da von ich dir gebot/ vnd sprach/ Du solt nicht da von essen/ Verflucht sey der Acker vmb deinen willen/ mit kummer soltu dich drauff neeren dein Leben lang/ Dorn vnd Distel sol er dir tragen/ vnd solt das Kraut auf dem felde essen. Jm Schweis deines Angesichts soltu dein Brot essen/ Bis das du wider zu Erden werdest/ da von du genomen bist.275

Der Zeitpunkt, der damit aufgerufen ist, die Verbannung aus dem Paradies, die damit einhergehende Sterblichkeit, das darauffolgende Zeugen von Nachfahren (Kain, Abel und Enos) und die damit einhergehende Stiftung von Genealogie ist zugleich der Beginn von Geschichtlichkeit in der Welt. Demgegenüber steht die Affabulatio der letzten Fabel IV 100 Vonn einem Tyrannen/ vnd seinem Vndersassen. Nach der Erzählung über einen Tyrannen, der seinen rechtschaffenen Untertanen um sein Geld betrügen will, wird in der Affabulatio eine lange Klage über den nun verbreiteten „schendtlich Eygennutz“ (IV 100,149), der „die gantzen Welt so gar außseugt“ (IV 100,156), angefügt. Dieser gilt als die primäre Ursache für das Altern der Welt. Gäbe es diesen nicht, So wurd die Welt fein lauter/ new Frumbkeyt/ eynfalt/ glaub/ lieb/ vnd trew/ Die kemen alle wider gleich Vnd wurd allhie ein Himmelreich Das wurd on auff hrn ewig weren Darinn man gar nichts dorfft begeren (IV 100,123–128).

Der hier imaginierte Zustand eines ewigdauernden Himmelreiches auf Erden hat im Anblick der Welt keine Grundlage. Drastisch vor Augen gestellt wird der desolate Zustand der Welt durch die Beschreibung ihrer Hässlichkeit im Alter: Jst von jr erst geschaffnen gstalt/ So weit abkummen/ vnd entwichen Jr schne Farb ist gar verblichen/ Jst rostrig/ schimlig/ seyger/ kamig/ Vnfletig/ schwartz/ rssig/ vnd ramig/ Elendt/ verschrumpffen/ gretzig/ reudig/ Faltig/ schrammig/ vnd runtzelheudig/ Krumb/ lam/ beynbrchig/ hackrig/ hinckend/ Gar schwach/ verwundt/ faul/ madig/ stinckent

275 Gen 1,17–19.

110

1 Tradition und Transformation

Alt/ mager/ drr/ greiß/ gro/ schwachkopffig/ Hustend/ speiend/ rotzig/ vnd schnopffig/ Schlotternd/ zitternd/ bleych/ fahl/ todt/ gel/ Vnwissend/ toll/ tumb/ stumb/ blindt/ schel/ Verechtlich/ heßlich/ scheußlich/ nichtig/ Wurmstichig/ lchricht/ vnd durchsichtig/ Verbraucht/ verschliffen/ ab gentzt/ Gelapt/ geflickt/ vnd vndersttzt/ Jn summ/ verdorben/ gantz vnd gar Vnd ist nichts guts an haut vnd har/ Steht hinden/ forn/ alln enden offen/ Jst auch kein beßrung mehr zu hoffen (IV 100,164–184).

Die hier geschilderte Personifikation der Frau Welt ist nicht die traditionell mittelalterliche, die als warnende Steinfigur etwa am Wormser Dom mit ihrer hässlichen Hinterseite den Menschen vor dem Blendungspotenzial der Welt warnt.276 Die Frau Welt im Esopus muss nicht mehr gedreht werden, um ihre Hässlichkeit zu offenbaren, sie ist von allen Seiten augenscheinlich hässlich. Damit einhergeht der körperliche und geistliche Verfall. Der äußere Verfall deckt sich mit der Verdorbenheit innerer Werte – nicht mehr fromm, sondern gotteslästerlich ist die halbtote Welt, die im Sterben liegt: Sie ist durch Eygennutz verdorben Jst lebend todt/ vnd halb gestorben So hats der Eygennutz durchecht An all jr macht so gar geschwecht Das sie Gott vnd sein wort auch lastert Jn snd vnd schandt so gar vergastert/ Vnd wirdt in eitelm vnglck alt (IV 100,157–166).

Verknüpft wird diese Darstellung mit dem eschatologischen Welterklärungsmodell und ihrer Verbindung mit biblischer Geschichte. Die weitere Beschreibung der Welt changiert von der personifizierten Welt wieder zum Zustand der Welt als Raum. Alttestamentliche Figuren, könnten sie die gegenwärtige Welt begutachten, bezeugten deren desolaten, im Vergleich mit dem nach der Schöpfung defizitären Zustand: Das ich wol vmb ein Batzen wett Wenn Adam/ Abel/ Enos/ Seth/

276 Zur mittelalterlichen Darstellung der Frau Welt siehe Wolfgang Stammler: Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie. Freiburg in der Schweiz 1959, für die Steinfigur am Wormser Dom siehe Abbildung X und XI.

1.3 Zur Fabel im Esopus

111

Jetzt leibhafftig da vor vns stnden Das sie vorwar nit sagen knden Das diß noch wer dieselbig Welt Welch das mal wardt von Gott gestellt (IV 100,187–192).

Bei den vier imaginierten Augenzeugen handelt es sich um Figuren, die in das erste Weltalter nach der Schöpfung der Welt einzuordnen sind. Alle haben einen Bezug zum paradiesischen Schöpfungszustand der Erde und waren jeweils in eine Form des Umbruchs seit der Schöpfung der Welt involviert. Adam, als erster von Gott geschaffener Mensch war vor dem Sündenfall selbst im Paradies, bevor er aus eigenem Verschulden aus diesem Urzustand vertrieben wurde und dann den Umbruch vom sorglosen Leben zur harten Arbeit erlebt hat. Mit Abel ist der zweite Sohn Adams genannt, den Eva als Strafe für ihre Verfehlung im Paradies unter Schmerzen gebären musste, und der als Oper der ersten Bluttat in der Welt von seinem Bruder Kain erschlagen wurde. Kain und sein Geschlecht werden in der Reihung nicht aufgeführt.277 Stattdessen ist Seth, der Ersatz für Abel, mit in die Reihe der Figuren aufgenommen.278 Enos, der Sohn von Seth, führt die Generationenfolge fort, zu seiner Zeit wird die Praxis der Predigt eingeführt.279 Er ist somit Zeuge der Restitution der Gottesverehrung. Selbst solche Figuren des Umbruchs – Involvierte in als auch Zeugen von Umbrüchen – würden nun die Welt in dem in der Gegenwart des Lesers herrschenden Zustand nicht mehr erkennen. Auf diese Feststellung folgt eine Aufforderung an den Leser, sich zu bessern: Drumb rath ich/ das wir baldt anheben Zu bessern vnser sndlich leben Den Eygennutz mit ernst außtreiben Verdammen/ auß der Welt verschreiben/ Mit recht thun/ vnd mit guten sitten (IV 100,195–199).

277 Neben der Tatsache, dass es sich um eine reine Negativfigur handelt, könnte auch eine Rolle spielen, dass obwohl der vertriebene Kain ein Geschlecht gründet, dieses nicht im „BUCH VON DES MENSCHEN GEschlecht“ (Gen 5,1) aufgeführt wird. 278 Siehe Gen 4,25: „ADAM ERKANDTE ABER MAL SEIN WEIB/ VND SIE GEbar einen Son den hies sie Seth/ Denn Gott hat mir (sprach sie) einen andern samen gesetzt fur Habel den Kain erwürget hat“. 279 Siehe Gen 4,26: „Vnd Seth zeuget auch einen Son/ vnd hies jn Enos/ Zu derselbigen zeit fieng man an zu predigen von des HERRN Namen“. Luther expliziert die Stelle in einer Marginalie, die erklärt, dass die Tat von Kain ein besonderer Einschnitt in der Gottesverehrung darstellte; siehe die Marginalie zu Gen 4,26: „(Fieng man an) Nicht das zuuor nicht auch Gottes Name were geprediget/ Sondern nach dem durch Kains bosheit der Gottesdienst gefallen war/ ward er dazu mal wider auffgericht/ vnd jrgend ein Altarlin gebawet/ dahin sie sich versamleten/ das Gotteswort zuhören vnd zubeten“.

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1 Tradition und Transformation

Die Konsequenz aus einem solchen im Vergleich mit dem Zustand seit der Schöpfung heruntergekommenen Zustand beinhaltet aber auch, dass man nun an das Ende der Welt denken und um das Jüngste Gericht bitten müsse: Vnd Gott mit rechtem glauben bitten Das er doch wll sein lieben Son Absenden/ auß seim hhsten thron Das er der Welt einst mach ein endt Das dieser jamer vnd elendt Ein mal auff hr/ die tag verkrtzt Vnd als wird in einander gstrtzt (IV 100,200–206).

Der alte, verkommene Zustand kann nicht mehr verbessert oder erneuert werden. Ausflucht bietet nur noch die endgültige Auflösung der Welt.280 Am Ende der Affabulatio wünscht das Sprecher-Ich die Erfüllung im paradiesischen Reich nach der Apokalypse herbei, für all jene, „Die jren lust vnd wolgefallen | Haben an Gott vnd seinem wort“ (IV 100,216). Die esopischen Fabeln richten sich an eine christli-

280 Pessimistische Weltbeschreibungen finden sich häufiger für die Zeit des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Als ein analoges Beispiel für die Wahrnehmung der Jetzt-Zeit als desolaten Zustand sei verwiesen auf die Beurteilung von Sebastian Franck im Chronica Zeitbch vnnd Geschichtbibell aus dem Jahr 1536: „Ich will gern vom platz sein/ dan̄ ich sihe das es mit der welt aus ist/ das dise alt aller ergest vngelassest letzt zeit/ so verrcht vnd verwegen worden ist/ das sie die oren von der warheit zmal hat abgewendt/ gantz vnsinnig worden ist/ vnd nur jren fürgenum̅ en abweg an hinlaufft/ wie ein zaumloser schelliger gaul in krieg/ wie der Prophet spricht/ Hiere. viij. vnd wie wol sie allweg ein bser baum ist gewesen/ so ist er doch nie so voller bser frücht gestanden/ damit sie gleich Got trutzt/ das er den in einer eil wirdt vnd ms abplaren/ dan̄ allweg wie Gots art ist/ wan̄ ein ding auffs hchst in die erndt kumpt/ vnd die boßheit zeitig ist/ so mss sie gesamlet/ in das feür hinunder geworffen werden. Darumb sorg ich der welt sey nur für hin mit schreiben/ schreyen/ predigen. [et]c. weder z rhaten noch z helffen/ sie ist schellig in lauff kum̅ en/ vnd last jr nymmer sagen/ bis sie an den Eckstein anlaufft vnd z trim̅ ern geet“ (Sebastian Franck: Chronica. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Ulm 1536. Darmstadt 1969, hier S. avjrf.). Müller geht auf Teile dieser Aussage in JanDirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 121–144, hier S. 140 f., Anm. 62 ein. ‚Alt‘ und ‚neu‘ wird hierbei in den Kontext der unterschiedlichen Bewertungen Francks von kulturellen Errungenschaften und der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte Deutschlands gestellt: „Franck stellt also die Erfahrung zivilisatorischen Fortschritts in eine doppelte Perspektive, indem er eine Geschichtsbetrachtung im fleische und eine im geiste unterscheidet. Für die letztere – sie gehört in den Rahmen apokalyptischer Naherwartung der ‚linken‘ Reformation – ist alle Geschichte gottfernes Affenspiel; im Rahmen der ersten aber können säkulare Veränderungen aus den Klammern geschichtstheologischer Apokalyptik befreit und in ihrer Neuheit gewürdigt werden“.  

1.3 Zur Fabel im Esopus

113

che, gottesfürchtige Jugend. Es folgt die Anrufung der Gnade Gottes, die dem erneut genannten Rezipientenkreis, gerade nicht die ‚Alten‘, sondern die Jugend, die bereits in der Vorrede als gewollte Leserschicht angesprochen wurde, zu Gute kommen möge: Gott wll sein gnad dazu verleihen Das zu allm guten mg gedeien/ Vnd der meynung werdt angenomen Wie es der Jugent ist zu frommen Alleyn gemacht vnd dar gethan Das also auch werd gnomen an Gelernet vnd gebraucht recht wol (IV 100,225–231).

Erstaunlich optimistisch erscheint die abschließende Grußformel des SprecherIchs, welche auf die andauernde Gegenwart des Lesers eingeht und diesem „Glck/ heyl/ viel tausent guter nacht“ (IV 100,234) wünscht. Die darauffolgende abgesetzte Phrase setzt einen endgültigen Schluss: „Ende aller Fabeln.“ Der Esopus endet mit dem Anspruch, alle Fabeln erzählt zu haben, ein Anspruch, der in allen Ausgaben des 16. Jahrhunderts erfüllt bleibt. Der Umfang und die Anordnung der Fabelsammlung bleiben von Druckern und Verlegern späterer Ausgaben unangetastet. In der Gesamtschau der Bewertungen von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen und Zuständen lassen sich diese nicht zu einer gemeinsamen Stoßrichtung bündeln. Die Jahreszeiten als zeitliche Situierungen sind schon in der traditionellen äsopischen Fabel vorhanden, die Erweiterung um das Kirchenjahr bringt eine weitere, zyklische, aber kulturelle Zeitordnung in die Sammlung ein. Die Zeitangaben dienen nicht der Kritik von Bräuchen, die mit den Kirchenfesten verbunden werden, vielmehr wirken sie wie ein Element der Ausgestaltung, die aus der Alltagswelt des christlichen Lesers mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie bei den Jahreszeiten, die Welt der Fabelfiguren prägen. Dabei können sie mit ihren Konnotationen in der Erzählung und der Affabulatio zu Ausgangspunkten für die Entfaltung von Deutungen genutzt werden. Die historischen Daten der Neuen Fabeln im vierten Buch vergegenwärtigen Ereignisse aus der nahen Vergangenheit, der Esopus wird hierbei zum vermeintlichen Angebot eines schriftlichen Speichers des kommunikativen Gedächtnisses,281 welches durch Erzählungen und Deutungen ein Fundus für die 281 „Das kommunikative Gedächtnis umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es

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1 Tradition und Transformation

Deutung der Gegenwart wird. Als vermeintlich, nicht verlässlich erweist er sich, wenn sich die Angaben der Daten im Abgleich mit der Vergangenheit oder aufgrund der zeitlichen Situierung selbst, wie der angebliche Aufenthalt des Sprecher-Ichs auf einer Messe im Sommer in Amsterdam (IV 50), als Lüge aufdecken lassen. Nicht homogen ist die Vielfalt der Bezüge auf und die Wertung vergangener Ereignisse und Zustände, sie erweisen sich als vielfältig und heterogen. Die gesellschaftliche Entwicklung, die Aufweichung der von Gott gegebenen Standesordnung, wird ebenso negativ bewertet wie die wirtschaftliche Entwicklung, die als moralischer Verfall gewertet wird. Positiv gesehen werden hingegen die religiösen Veränderungen. Damit wird ein Spektrum an Zeitwahrnehmung abgebildet, das etwa Klaus Schreiner über verschiedene, vornehmlich faktuale Quellen diverser Autoren für das Spätmittelalter nachgezeichnet hat.282 Indem sich diese Erfahrung auch ungewöhnlicherweise in den Erzählungen und Affabulationes der Fabeln niederschlägt, ist der Esopus ein typisches Zeugnis des 16. Jahrhunderts für die zeitgenössische Wahrnehmung „gleichzeitige[r] Ungleichzeitigkeiten“.283

verkörperten, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis“ (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Auflage. München 2007 [Becksche Reihe], S. 50). 282 Klaus Schreiner: „DIVERSITAS TEMPORUM“. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S. 381–428. 283 Ebd., S. 381.

2 Äsopische Autorisierung „Ders gantze Buch hat zamen bracht“ (IV 100,233)

Es ist eine in der Literaturwissenschaft alte und etablierte Feststellung, dass Erzählen im Mittelalter und auch noch lange in der Frühen Neuzeit unter Berufung auf wahre oder fiktive Quellen als Wiedererzählen präsentiert wird.284 Mehr jedoch als der anonyme Nibelungenlieddichter, der sein Publikum u. a. in der Handschrift C in der ersten Strophe mit der Berufung auf die allseits bekannten „alten mren“285 einstimmt, oder etwa Hartmann von Aue, der für seine Bearbeitung des Iwein-Stoffes auf das verweisen kann, was er „an den buochen las“,286 setzt sich ein Autor287 einer äsopischen Fabelsammlung mit einem Textbestand  

284 Nach wie vor erweisen sich hierzu als richtungsweisende Überlegungen die Beiträge von Franz Josef Worstbrock zum Wiedererzählen: Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142 sowie zur dilatatio materiae: Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des „Erec“ Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30. Barbara Bauer schlägt im Rahmen der literarischen imitatio vor, „die vielfältigen intertextuellen Beziehungen zwischen mündlichen Erzähltraditionen und schriftlicher Kultur, volkssprachlicher Dichtung und lateinischer Dichtungstradition und Dichtungstheorie sowie zwischen volkssprachlichen höfischen Epen und ihren Übertragungen in andere Volkssprachen mit Hilfe des Begriffs der ‚A[emulatio]‘ zu fassen“ (Barbara Bauer: Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1, Sp. 141–187, Sp. 152). Auf die Bedeutung dieses Konzeptes, besonders im Humanismus und der Frühen Neuzeit, weisen Jan-Dirk Müller und Ulrich Pfisterer in der Einleitung zum Sammelband Aemulatio hin, siehe Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer: Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit. In: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin, Boston 2011 (Pluralisierung & Autorität 27), S. 1–32. 285 Das Nibelungenlied nach der Handschrift C. Hg. von Ursula Hennig. Tübingen 1977 (Altdeutsche Textbibliothek 83), S. 2. 286 Hartmann von Aue: Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg. und übersetzt von Rüdiger Krohn. Kommentiert von Mireille Schnyder. Stuttgart 2012 (RUB 19011), V. 22. 287 Es geht mir hierbei nicht um den ‚Autor‘ als zentralen textexternen Bezugspunkt von Interpretationen, dessen Tod bereits 1968 ausgerufen wurde, siehe Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2012 (RUB 18058), S. 185–197. Sondern es geht mir um den „‚Urheber‘, ‚Schöpfer‘ eines Schriftwerks, mit normsetzender Nebenfunktion“ (Erich Kleinschmidt: Autor. In: RL. Bd. I, S. 176–180, S. 177). Während Marion Wagner für Fabelsammlungen des 15. Jahrhunderts festhält, dass „es in mehrerlei Hinsicht brisant [bleibe], im Zusammenhang mit Fabelsammlungen des 15. Jahrhunderts mit dem Begriff ‚Autorschaft‘ zu operieren und gar konkrete, in wie auch immer gearteter Weise ‚schaffend‘ an der Textproduktion beteiligte Instanzen als ‚Fabelautoren‘ zu betiteln“ (Marion Wagner: Der sagenhafte Gattungsstifter im Bild. Formen figurierter Autorschaft in illustrierten äsopischen Fabelsammlungen des 15. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 37 (2004), S. 386–433,  



https://doi.org/10.1515/9783110613155-003

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2 Äsopische Autorisierung

auseinander, der sich durch einen „Traditionszusammenhang“288 und über einen dieses Korpus konstituierenden bzw. eng damit verknüpften Namensgeber definiert.289 Wer äsopische Fabeln versammelt oder solche bearbeitet und diese als solche zu erkennen gibt,290 äußert sich für gewöhnlich zu seiner eigenen Tätigkeit als Autor und zur Autorität Äsop. Beide Positionen in dieser Beziehung werden von Fabelsammlung zu Fabelsammlung unterschiedlich dargestellt. Ein einheitliches Äsopbild ist für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit nicht nachweisbar. Es mag zwar ein diffuses Wissen über Äsop gegeben haben, in den Fabelsamm-

hier S. 388), scheint dies im 16. Jahrhundert und besonders bei Waldis unproblematisch zu sein. Im Esopus erscheint Waldis auf dem Titelblatt, in der Vorrede und in Ich-Aussagen zur eigenen literarischen Tätigkeit sowohl als Übersetzer, Bearbeiter etwa der formalen Gestaltung – Veränderung von Prosa zu Vers –, Sammler und Neuerfinder und somit als Urheber des Werks. Zugleich wird die Autortätigkeit durch die im Folgenden näher beschriebene Darstellung von Äsop gestärkt. Bestätigt wird dies auch durch die Rezeption des Esopus, bei welcher durchgehend Waldis als Autor und Fabeldichter wahrgenommen worden ist. 288 So Grubmüller: Fabel2, S. 555. 289 Irrelevant ist hierbei die Frage, ob es tatsächlich einen Sklaven namens Äsop gegeben hat. Darauf wurde bis heute keine eindeutige Antwort gefunden, die einschlägigen Lexika gehen in dieser Frage auseinander. So begegnet innerhalb eines Nachschlagewerkes sowohl Skepsis wie im Beitrag von Reinhard Dithmar: „Äsop (6. Jhd. a. Chr. n.) war nicht der ‚Erfinder‘ und auch nicht der erste Erzähler, von dem F[abel]n überliefert sind, obwohl sich der Name des sagenumwobenen phryg. Sklaven untrennbar mit der literar. Gattung verbunden hat. Es ist denkbar, daß Äsop überhaupt keine hist. Gestalt ist, sondern nur eine ‚Verkörperung des fabulierenden Volksgeistes‘ (Hausrath 1940, 114)“ (Reinhard Dithmar: Fabel. In: EM. Bd. 4, Sp. 727–745, Sp. 730). Andererseits geht Bengt Holbeck in seinem Überblicksartikel zu Äsop fest von der historischen Existenz aus. Unter Berufung auf klassische Quellen wie etwa Aussagen von Aristoteles in seiner Rhetorik, führt er Informationen über Äsop als „Freigelassener von Samos aus dem 6. Jh. a. Chr. n., der im klassischen Griechenland als Verfasser von Fabeln galt“ aus, es „gibt keinen trifftigen Grund, seine Historizität zu bezweifeln“ (Bengt Holbeck: Äsop [Aisopos]. In: EM. Bd. 1, Sp. 882–889, Sp. 882 f.). 290 Selbst wenn der Autor den Gattungszusammenhang verschweigt, kann eine Fabelsammlung in der Überlieferung von diesem eingeholt werden, wie die handschriftlichen Zeugnisse des Edelsteins von Ulrich Boner zeigen. Obwohl Boner äsopische Fabeln bearbeitet, verschweigt er Äsop in Pro- und Epilogen (sofern diese überhaupt überliefert sind) und in den Fabeln. Allerdings führt die Münchner Handschrift cgm 3974 vor, wie diese Bezüge gegen die ursprüngliche Autorintention über verschiedene Verfahren hergestellt werden können. So endet die Sammlung in dieser Handschrift auf Bl. 213r mit der Illustration eines alten Mannes mit langem Bart in wallendem Gewand mit einer Schriftrolle in der Hand, die mit dem Hinweis „Magister Esopus et poeta“ überschrieben ist. Zugleich hat ein späterer Bearbeiter die Fabeln im Edelstein mit den Beischriften „Esopus“ bzw. „Avianus“ peritextuell sortiert. Ausführlich ist dieses Phänomen der intertextuellen Verknüpfung von Bonerfabeln mit anderen in der Handschrift überlieferten Fabeln für die achte Bonerfabel, die Fabel vom Löwenanteil, beschrieben bei Grubmüller: Elemente, S. 146– 152.  

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lungen sind aber verschiedene Darstellungen vorhanden, die sich in manchen Bereichen decken, in anderen aber unterscheiden. So variiert das Bild, das von Äsop in Wort und mitunter Bild gezeichnet wird, die Selbstdarstellung des Autors und seines Werks und gegebenenfalls in welche Beziehung er sich zu Äsop und dessen Fabeln setzt.291 Äsop kann in einer äsopischen Fabelsammlung auf verschiedene Art und Weise eingebunden werden, sowohl in Peritexten der Sammlung, wie auch in den Fabeln, hierbei bevorzugt in den Fabeleingängen der Erzählungen und zu Beginn der Fabellehren. Je nach mediengeschichtlichem Kontext, d. h. ob handschriftlich oder gedruckt, und Intention des Autors umfassen die Peritexte Werktitel, Titelblatt, Titelbild, weitere Illustrationen der Fabelsammlung, Vorreden sowie Pround Epiloge (die fakultativ poetologische Äußerungen zur äsopischen Fabel als Gattung enthalten können), und eine Lebensbeschreibung Äsops. Letztere lässt Äsop vom literarischen Subjekt zum literarischen Objekt werden.292 Peritexte wie Buch- und Seitenüberschriften können auf Äsop verweisen, der Bezug auf Äsop kann sogar die Anordnung der Fabeln in der Sammlung beeinflussen. Um zu veranschaulichen, welche Möglichkeiten der Darstellung Äsops im Buchdruck realisiert werden können und wie diese die Wahrnehmung der Sammlung in Hinblick auf die Tätigkeit des Autors und die Autorität Äsops beeinflussen, werden im Folgenden stichprobenartig zwei Fabelsammlungen untersucht. Im Vergleich deutschsprachiger Fabelsammlungen im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert zeigt sich, dass die Art und Weise der Darstellung und Einbindung Äsops in Fabelsammlungen keine unveränderliche Konstante bildet, sondern vielmehr ein Spektrum an Möglichkeiten bietet. Beispielhaft soll auf die Sammlungen von Steinhöwel und Luther eingegangen werden, die mitunter zeitgleich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt verbreitet, Äsop auf gegensätzliche Weise in ihre Fabelsammlung einbinden.293 Einer traditionsstiftenden  

291 So schon Marion Wagner in Bezug auf bildliche Darstellungen Äsops: „Ob ein VorlagenAutor, etwa Äsop, als Objekt oder Subjekt von Literatur zu betrachten sei, ist keine Frage historischer Tatsächlichkeit und auch keine Frage zeitspezifischer Wahrheits- oder Fiktionalitätskonzepte. Allein die Machart des Textes selbst in seiner spezifischen materiellen Erscheinungsform, also Text und Bild je für sich und in ihrem Zusammen- oder auch Gegeneinanderspiel, gibt diesbezüglich Aufschluß“ (Wagner: Gattungsstifter, S. 422 f.). 292 Als literarisches Subjekt zeigt ihn besonders die lateinische Fabelsammlung des Romulus, in welcher zusätzlich noch Briefe Äsops, die sog. Äsop-Episteln, wiedergegeben werden und am Schluss auf ein textexternes Zeugnis, eine Steinskulptur Äsops mit Inschrift, verwiesen wird, siehe Michael Baldzuhn: Romulus. In: EM. Bd. 11, Sp. 819–827, Sp. 819 f. 293 Gerd Dicke verzeichnet über 35 Fabelausgaben, die bis 1600 erschienen sind, und welche auf die Sammlung von Steinhöwel zurückgehen, siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 370–430.  



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Sammlung, in der die Autorität Äsops u. a. mithilfe aller oben genannten Möglichkeiten gestärkt wird, steht eine gegenüber, in der die Auffassung von Äsop als historische Persönlichkeit und damit als Fabelerfinder, -erzähler und -deuter abgewiesen wird.  

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther Die um 1476/77294 bei Johann Zainer herausgegebene, für die Distribution im Druck bestimmte äsopische Fabelsammlung von Steinhöwel wird durch seine zahlreichen Ausgaben zu einem Long- und Bestseller.295 Schon aufgrund der weiten Verbreitung ließe sich die Fabelsammlung als alternativer Entwurf einer äsopischen Fabelsammlung im Vergleich zum Esopus von Waldis heranziehen. Stoffliche Übereinstimmungen über den gemeinsamen Fundus an äsopischen Fabelstoffen, wie im Falle von IV 33; IV 77 oder IV 93, erlauben es darüber hinaus, Steinhöwels Äsop in den sich abzeichnenden Referenzrahmen für Waldisʼ Esopus miteinzubeziehen.296 Voraussetzung für den Erfolg auf dem Buchmarkt scheinen u. a. Textverfahren gewesen zu sein, die bereits den Erstdruck des Steinhöwelschen  

Hierzu werden auch die Ausgaben der Brantschen Bearbeitung gerechnet, siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 421–423. Luthers Fabeln erschienen 1557 posthum. 294 Der Druck enthält keine Jahresangaben, zur Datierungsfrage siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 5 f. 295 Eine ausführliche Übersicht über die Drucke und Handschriften findet sich in Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 369–449. 296 Die Frage, ob Steinhöwels Äsop als direkte Quelle zu gelten hat, ist aus mehreren Gründen nicht befriedigend zu beantworten. Erstens sind die Stoffe der bei Steinhöwel gedruckten Fabeln teilweise auch in anderen Erzählsammlungen wie im Dekameron von Boccaccio bearbeitet worden (etwa entspricht die Bearbeitung IV 33 im Esopus der Erzählung IX,2). Zweitens ist die Verbreitung solcher Erzählstoffe im Mündlichen mitzudenken. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Waldis auf einen Fundus primär mündlich kursierender Erzählungen für seine Fabeln zurückgreift. Drittens kann man bei der Fülle an Ausgaben des Steinhöwelschen Äsop wie auch im Falle des Aesopus Dorpii nicht DAS Exemplar identifizieren, welches man sich auf dem Schreibtisch von Waldis vorzustellen hätte. Eine Untersuchung, die sich den konzeptionellen, strukturellen, formalen oder etwa inhaltlichen Veränderungen in den verschiedenen Ausgaben von Steinhöwels Äsop widmet, ist noch immer ein Desiderat. So ist in der Forschung stets von DER Sammlung Steinhöwels zu lesen, ohne dass in den Blick genommen wird, dass es sich bei dessen Werk um einen ‚unfesten‘ Text handelt, dessen Material makro- wie mikrostrukturell beliebig veränderbar, erweiterbar und kürzbar ist. So ist nur im Erstdruck das Konzept einer deutschlateinischen Kompilation vorhanden, bereits die nächsten Ausgaben erscheinen deutsch oder latein.  

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther

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Äsop297 zu einem „Modellfall erfolgreichen literarischen Kommunizierens im Medium des Drucks“ gemacht haben.298 In der Steinhöwelschen Sammlung werden der

297 Der Titel Esopus für die Erstausgabe ist, wie häufiger im Falle von Fabelsammlungen, von der Forschung vergeben worden. Die einzige Gesamtedition der Erstausgabe, herausgegeben von Hermann Österley im Jahr 1873, ist unter dem Titel Steinhöwels Äsop erschienen. Spätestens mit der Untersuchung von Gerd Dicke Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹ und seine Fortsetzer aus dem Jahr 1994 kann der Titel als ein in der Forschung etablierter angesehen werden, der sich auch als Lemma in der zweiten Ausgabe des Verfasserlexikons findet. Dort ist zur Absetzung der Erstausgabe von den zahlreichen späteren Ausgaben unter Einbezug des Druckortes auch der Titel Ulmer Äsop benutzt worden. Im Erstdruck selbst verrät kein Titelblatt, wie Steinhöwel sein Werk benannt und dementsprechend rezipiert haben wollte. Seine Berechtigung hat dieser Titel dennoch aufgrund der bildlichen Äsop-Darstellung zu Beginn des Werkes. In dieser ist der bucklige Sklave mit dem Verweis ESOPVS überschrieben. Die Illustration ist nach dem Aufschlagen auf der linken Seite abgebildet, auf der rechten beginnt der Text mit der lateinischen Überschrift, welche die Vita Äsops ankündigt. Es ist diese Bildüberschrift, die zusammen mit der deutenden Geste der Figur, welche auf den Textbeginn weist, metonymisch für Äsops Werk, auf die gesamte Schrift umgelegt werden kann und als solche als Werkbezeichnung gelesen werden könnte, sofern man später etablierte Formen der Titelgestaltung zugrunde legt. Mit der Wahl einer ganzseitigen Illustration des Fabelerzählers Äsop zeigt Steinhöwel zwar bereits erstaunlich früh in der Geschichte des Buchdrucks ein Bewusstsein für die Präsentation und Ankündigung seines Textes an seiner ersten Schwelle, es ist jedoch keines, welches dem heutigen Leser einen eindeutigen Werktitel ankündigt. Ein solches Verfahren kann auch als Rückgriff auf bereits vorhandene Verfahren im Rahmen der Handschriften- und Inkunabelherstellung gesehen werden. Jedoch sprechen Steinhöwels „nicht zur handschriftlichen, sondern zur direkten Verbreitung im Druck bestimmten Werke [...] dafür, daß der ‚Literatur-Unternehmer‘ ein ebenso ausgeprägtes Bewußtsein für die Eigengesetzlichkeiten der literarischen Kommunikationsbedingungen hatte, denen er seine Texte im Medium des Drucks aussetzte“ (Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 9). Es ist erkennbar, dass „Steinhöwel die Neuartigkeit dieser Bedingungen erkannte und ihnen in der Werkkonzeption zumal seines ‚Esopus‘ konsequent Rechnung trug“ (Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 9). Einen als solchen erkennbaren Werktitel erhielt die Fabelsammlung erst Jahre nach dem Tod des Autors im Jahr 1479, nachdem in bearbeiteten Fassungen die Sammlungen in jeweils rein lateinische und rein deutsche Fabelcorpora aufgeteilt wurden. Im Lateinischen ist dies die Ausgabe vom 26. September 1486 von Gerard Leeu in Antwerpen, bei denen zur Kompilation beitragende Autoren einen Platz im Titel erhalten: Fabule et vita esopi: cum fabulis Auiani: Alfonsij: Pogij florentini: et aliorum: cum optimo commento: bene diligenterque correcte et emendate, siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 383, dort die Sigle gll. Im Deutschen erhält unter Johann Schönsperger die Steinhöwelsche Fabelsammlung in der vom 17. Januar 1491 in Augsburg herausgegebenen Fassung zum ersten Mal einen Titel, der stärker als der lateinische Titel auf den Gattungsstifter hindeutet: Das buch des hochberemten fabeltichters Esopi mit seinen figuren, siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 413, Sigle js1. Eine dem heutigen in der Forschung verbreiteten Titel erhält die Sammlung erst in der Ausgabe js2 vom 30. August 1498, dann mit dem verknappten Titel Der teütsch Esopus, siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 414. Auf diesen Titel könnte sich Luther in der Vorrede zu seinen Fabeln bezogen haben. 298 Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 15.

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sich in der Inkunabelzeit verändernde Rezipientenkreis und die damit einhergehenden Ansprüche der Leser berücksichtigt. Schon der Erstdruck ist mit zahlreichen Peritexten wie Herausgeberkommentaren, Register-, Seiten-, und Abschnittsüberschriften, Vorreden, Illustrationen, intratextuellen Verweisen und Berufungen ausgestattet, die die Fabeln eng mit dem Gattungsstifter Äsop verknüpfen. Ein Titelblatt weist die Sammlung, typisch für Inkunabeln, in denen die peritextuelle Ausstattung im Druck noch nicht konventionalisiert ist, nicht auf. Eröffnet wird die Sammlung stattdessen auf Bl. 1r mit einer ganzseitigen Abbildung.299 Sie zeigt den buckligen Äsop in einem zerrissenen Hemd, das als Sklavenkittel gedeutet wurde, mit geschlossenen Lippen und offenen Händen, welche nach rechts in Richtung des Textbeginns deuten. Umgeben ist Äsop von zahlreichen Gegenständen, die auf ausgewählte Episoden seines Lebens verweisen, sie finden sich in den bildlichen Darstellungen der Episoden seiner Lebensbeschreibung wieder.300

299 Für eine Edition, die Text und Bild der deutsch-lateinischen Ausgabe wiedergibt, muss die Faksimileausgabe benutzt werden: Heinrich Steinhöwel: Aesopus: Vita et Fabulae. Ulm 1476. Faksimile mit Kommentar von Peter Amelung. Graz 1992 (Edition Libri Illustri), der dazu gehörende Kommentarband: Der Ulmer Aesop von 1476/77. Aesops Leben und Fabeln sowie Fabeln und Schwänke anderer Herkunft. Hg. und ins Deutsche übersetzt von Heinrich Steinhöwel. Kommentar von Peter Amelung. Ludwigsburg 1995. 300 Die Auswahl und Anordnung der die Figur umgebenden Bildteile aus der Vita Äsops variiert in verschiedenen Fabelsammlungen, siehe Regine Hilpert: Bild und Text in Heinrich Steinhöwels „Leben des Hochberümten Fabeldichters Esopi“. In: Der Äsop-Roman. Motivgeschichte und Erzählstruktur. Hg. von Niklas Holzberg. Unter Mitarbeit von Andreas Beschorner und Stefan Merkle. Tübingen 1992 (Classica Monacensia 6), S. 131–154. Eine Verbindung von der Darstellung der Attribute zu „spätmittelalterlichen Arma-Christi-Andachtsbildern, in denen Christus als Schmerzensmann umrahmt wird von Gegenständen, die mit seiner Passion zusammenhängen“, sieht Brigitte Derendorf: Der Magdeburger Prosa-Äsop. Eine mittelniederdeutsche Bearbeitung von Heinrich Steinhöwels ‚Esopus‘ und Niklas von Wyles ‚Guiscard und Sigismunda‘. Text und Untersuchungen. Köln u. a. 1996 (Niederdeutsche Studien 35), S. 41 f. Zu Recht verwehrt sie sich aber, von „dieser ikonographischen Assoziation auf eine bewußte Stilisierung Äsops zu einem ‚Nachfolger Christi‘ oder einem ‚weltlichen Heiligen‘ schließen zu wollen“. Bisher in der Forschung scheinbar noch nicht festgehalten worden ist, dass die Darstellung von einzelnen Gegenständen aus Episoden eines erzählten Lebens bis in die Titelillustration von Grimmelshausens Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (Erstausgabe 1669) nachwirkt. Gemeint sind die Darstellungen von Gegenständen auf den aufgeschlagenen Seiten, welche das Mischwesen der Titelillustration hochhält und auf welche es mit Fingern deutet. Die Illustration bei Steinhöwel kann als Ersatz für den mündlichen Gebrauch der Fabeln interpretiert werden: „Trotzdem wird der weithin schon anonymisierten drucksprachlichen Kommunikationssituation, die Steinhöwel in seiner Vorrede entwickelt, einer Situation, die kein direktes Gespräch ‚unter Anwesenden‘ mehr zuläßt, sondern von solchen Gesprächen nurmehr berichtet, als Verstehenshilfe eine andere  



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Die hier erstmals nachweisbare Darstellung wurde für das 16. Jahrhundert traditionsstiftend und fand rasch auch in übersetzten Fabelsammlungen im Ausland sowie in zahlreichen Fabelsammlungen anderer Autoren Verwendung.301 Illustriert ist auch die deutsche Übersetzung der Lebensbeschreibung mit mehreren Darstellungen von Episoden aus Äsops Leben.302 Bei dem „Leben des hochberümten fabeldichters Esopi“303 handelt es sich, wie in der lateinischen Überschrift angekündigt, um die Übersetzung der Langfassung von Rimicius. Die Illustrationen der Vita sind abgestimmt auf die Episoden, die sie abbilden. So wird etwa auch der Wechsel der sozialen Stellung Äsops,

vorangestellt, in der qua Bild Erzähler, Hörer und Erzählgegenstand in unmittelbaren Kontakt miteinander treten“ (Jan-Dirk Müller: Jch Vngenant und die leūt. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anonymer Öffentlichkeit in Frühdrucken. In: Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla [Hg.]: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. München 1988, S. 149–174, S. 161 f.). Unhinterfragt bleibt hierbei aber, warum Äsop mit geschlossenem und nicht mit sprechendem Mund dargestellt wird. Es wäre zu bedenken, ob nicht bereits in diesem Bild der Fokus auf das Deuten, daher auch die deutenden Gesten, und nicht auf dem Erzählen der Fabeln liegt. Dies ginge einher mit dem Aufruf Steinhöwels in der Vorrede nicht die Erzählungen, sondern die Lehren seien vom Leser zu beachten. Zur kunstgeschichtlichen Einordnung und zur „Vorgeschichte“ des Autorporträts siehe Lilli Fischel: Bilderfolgen im frühen Buchdruck. Studien zur Inkunabel-Illustration in Ulm und Straßburg. Konstanz, Stuttgart 1963, S. 38–62. Zur Frage des anonym gebliebenen Urhebers der Darstellungen siehe Peter Amelung: Der Frühdruck im deutschen Südwesten 1473–1500. Eine Ausstellung der württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bd. 1: Ulm. Stuttgart 1979, S. 93–95. 301 Eine Auswahl an Variationen der Steinhöwelschen Äsopfigur bietet etwa Ulrike Bodemann: Der hochbermte fabeltichter Esopvs. In: Fabula docet. Illustrierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten. Ausstellung aus Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und aus der Sammlung Dr. Ulrich von Kritter. Hg. von Ulrike Bodemann. Braunschweig 1983 (Austellungskataloge der Herzog August Bibliothek 41), S. 88–104, dort etwa die Äsopfigur der deutschen Ausgabe der Brantschen Fabelerweiterung von 1531, das Titelbild der französischen Ausgabe Esopet en francoys um 1530 und das Schlußblatt ‚Aesop mit Schriftband‘ aus der lateinischen Fabelsammlung von Johannes Draconites von 1517. Schon 1493 wurde die Äsopfigur zur Titelillustration des Schwankromans von Salomon und Markolf – dort seitenverkehrt und ohne die Symbole für die Episoden aus der Vita zur Darstellung Markolfs umfunktioniert –, siehe die Abbildung bei Sabine Obermaier: Zum Verhältnis von Titelbild und Textprogramm in deutschsprachigen Fabelbüchern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Gutenberg-Jahrbuch 77 (2002), S. 63–75, S. 65, Abb. 4. 302 Zum Bildprogramm siehe Wagner: Gattungsstifter; Bodemann: Der hochbermte fabeltichter Esopvs sowie Hilpert: Bild und Text. Zu den „metapoetischen Funktionen für die Lektüre der Fabeln“, der „Bedeutung der Sprache und ihrer Verwendung in der Vita Esopi“ sowie „der Vernetzung von Lebensbeschreibung und Fabelcorpus“ siehe Schilling: Macht und Ohnmacht der Sprache, die Zitate auf S. 39. 303 Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 4.  

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Abb. 1: Ganzseitige Äsopdarstellung im Ulmer Äsop von Heinrich Steinhöwel. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Rar. 762, Bl. 1v, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00024825-3.

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vom Sklaven zum freien Mann, durch den Wechsel der Kleidung – vom kurzen Sklavenkittel zum Gelehrtentalar – im Bild umgesetzt. Die Langfassung der Vita zeichnet ein ambivalentes Bild von Äsop. Die Beschreibung der körperlichen, geistigen und sozialen Konstitution gleicht der in den Kurzfassungen anderer Fabelsammlungen und deckt sich mit der bildlichen Darstellung. Er ist ein geborener Sklave aus Phrygien und hat „für andere menschen ain langes ungestaltes angesicht, ain großen kopf, gespuczte ougen, swarczer farb, lang backen, ain kurczen hals, groß waden, brait füß ain großes mul, fast hoferot, zerbläten buch“. Er ist geschlagen mit einer „überträge[n] zungen, darumb er ser staczget“.304 Diese augenfällige Hässlichkeit steht im Gegensatz zu seinen geistigen Fähigkeiten, denn „mit lüsten, geschydikait und mangerlay schimpfkallen was er über die maus begaubet“.305 Er ist Ziel von Intrigen, weiß sich aber auch ohne Sprache zu helfen, wie sich in der Episode zeigt, in der Äsop durch das Trinken von warmem Wasser und dem Ausspeien seines klaren Mageninhaltes beweisen kann, dass er unschuldig angeklagt wurde, die Feigen seines Herrn gegessen zu haben. Die Unfähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, ändert sich, als er eines Tages einem verirrten „priester der göttin Ysidis“ im Wald zu essen gibt und ihm dann den richtigen Weg in die Stadt weist.306 Aus Dankbarkeit „hub der priester uf syne hand gegen dem himel und bat für Esopo, als für den, von dem er so miltiglich und wol enpfangen waz“.307 Als Äsop, wie gewöhnlich, in der Hitze des Tages unter einem Baum schläft, wird er mit Sprache und Deutungskompetenz begabt. Während bei Waldis in der Kurzfassung dies durch die als Mittlerinstanz eingeschobene Fortuna geschieht, wird Äsop in der Langfassung bei Steinhöwel direkt durch die zuvor von dem Priester angerufene „göttin der wirtschaft Ysis“ ausgestattet.308 Die „wyshait und scherpfinn der zungen“ wirkt sich nicht nur darauf aus, „mit geschicklichait ze finden mangerlay und fremde fabel“.309 In seinen ersten stammelfreien Worten, einem Selbstgespräch, bemerkt Äsop, dass er nicht nur reden kann, sondern auch die sprachlichen Zeichen, die Bezeichnungen eines jeglichen Dinges, korrekt erkennen kann.310 So steht die Sprachbegabung deutlich stärker unter dem Aspekt des Deutens als in der Kurzfassung. Äsop

304 Steinhöwels Äsop, S. 38. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd, S. 40. 308 Ebd. 309 Ebd. 310 „Nim war, ich kan doch reden on alle irrung, ich kan ouch ain ieglich ding, das ich sich nemmen by sinem namen: karst, how, bickel, esel, rinder, wagen, pfluog. By den götten, ich bekenn ain ieglich ding, wie es haißet“ (ebd.).

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deutet bei Steinhöwel nämlich sogleich dieses Ereignis korrekt als ein Werk der Götter und lässt diese Deutung in eine Sentenz münden: „Wann für war, wer rechte werck würcket, der enpfahet allweg guote hoffnung in synem gemütt“.311 Die Auswirkungen der Sprachbegabung kommen vorerst in Schlagfertigkeit und Sprachwitz zum Vorschein. Dabei werden schon nach dem ersten Gespräch, in dem Äsop seinen Vorgesetzten warnt, er würde sein ungerechtes Verhalten dem Herrn klagen, die potenziellen, prekären Folgen offenbar: er wird selbst verleumdet und letztlich an den Gelehrten Xanthus verkauft. In den Verkaufsgesprächen wird wiederum seine Weisheit sichtbar, die ihm schlussendlich auch zur Freiheit verhelfen wird. Sprachwitz und das Vermögen zu deuten, verhelfen ihm zu Anerkennung bei den Gastmählern von Xanthus, aber auch zu Ärger mit seinem Herrn Xanthus, etwa wenn die Anweisung „secz uns ain linsen zuo und koch sie so bald du magst“ darin resultiert, dass Äsop eine einzige Linse kocht und serviert.312 Äsop erklärt Vorgänge in der Natur mithilfe von Gleichnissen,313 deutet wundersame Ereignisse314 und kann der Stadtgemeinschaft von Samos aus ausweglos erscheinenden Situationen verhelfen. Im Verlauf der Lebensbeschreibung

311 Ebd. 312 Ebd., S. 49. In Hinblick auf sein Äußeres formuliert Äsop wiederholt Lehrsätze, etwa auch im Verkaufsgespräch mit Xanthus: „Man sol die gestalt des lybes nicht an senhen, sonder das gemüt und sinne des menschen merken“ (ebd., S. 46). Auch lehren die schelmischen Antworten und Erklärungen, die Äsop übernimmt, weil Xanthus sie nicht beantworten kann: „Xanthus als er sich gewäschen het und haim kam, rainiget er den buch. Do stuond Esopus by im mit ainem aimerlin mit waßer warttend, und sprach Xanthus zu Esopo: Sag mir, Esope, warumb ist daz? So bald die menschen ieren buch geraigent, so besich sich ain yeder synen stuolgang. Do sprach Esopus: Vor zyten saß ain wyser man von lusts wegen gar lang uff dem privet und goß uß synem buch die sinn mit dem stuolgang von dem lang siczen. Von der selben zyt uncz her besorgen sich die menschen, das inen nit ouch also beschehe; darumb wann sie ze stuol gegangen sint, so beschauwent sie iere stuol. Aber du bedarfft der sorgen nit, wann was du nit hast, das magst du nit verlieren“ (ebd., S. 57). Die Ratschläge Äsops an Enus werden als Lehren bezeichnet, so vor den Sentenzen: „Aber Esopus handelt mit im gütiglich und straffet in flyßiglich mit söllicher ler“, und danach: „Mit disen und andern underrichtung und leren ließ Esopus Enum von im gan“ (ebd., S. 69 und S. 70). Nicht genauer beschrieben ist der Akt der Unterweisung durch Fabeln nach Äsops Rückkehr aus Ägypten nach Griechenland: „Als er durch die stett Krichenland zohe und an allen enden syne wyshait in fabeln erzöget, erwarb er großen namen der wyshait“ (ebd., S. 72 f.). Auch die Übertragung der Geschehnisse in den Erzählungen, die Äsop erzählt, um sich in Delphi vor dem Tod zu retten, lassen sich als direkte Anwendung der Fabel verstehen, so etwa nach der Fabel von der „torocht iunkfrow“: „Also, ir Delphici, habent ir hie vor ie kain wyßhait gehabt, so ir mainent gegen mir unschuldigen üch ettwas nuczes erholen wellen, so verlieren ir üwer lob und erwerben üch unüberwintliche fyntschaft“ (ebd., S. 74 und S. 75). 313 So in der Gärtner-Episode, ebd., S. 48. 314 So nimmt bei einer öffentlichen Veranstaltung ein Adler den Ring eines Stadtoberen an sich und lässt diesen in den Schoß eines Jünglings fallen.  

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wird die Schlagfertigkeit Äsops immer wieder Gegenstand von Wechselreden, in denen Äsop scharfsinnig auf die negativen Reaktionen der Umwelt auf sein hässliches Äußeres reagiert. So vergleicht ihn eine der Mägde von Xanthus, die bei der Ankündigung eines neuen Sklaven im Haushalt hofft, nun einen potenziellen Ehemann zu treffen, mit einem Tier. Dem setzt Äsop eine obszöne Antwort entgegen: „Da aber die dirn Esopum ansach, do erblichet sie gancz und sprach erschrokenlich: Oh, bist du ain bavian? wau ist der schwancz? Esopus sprach: „Würdest du ains schwancz bedürffen, dir wirt kain gebruch dar an syn“.315 Wie sich in einer Episode zeigt, in der Äsop als Türsteher für ein convivium vom Xanthus dient, ist die schlagfertige Antwort auf Beschimpfungen ein Charakteristikum für „die philosophos und oratores, das ist die natürlichen und zierlich redend maister“.316 Die Fähigkeit, schriftlich aufgesetzte Rätsel zu deuten, zeigt sich, als Äsop auf einem Friedhof eine lateinische, aus Akronymen bestehende Inschrift deutet und dadurch einen Schatz heben kann. Zur vollen Entfaltung kommt sie, als Äsop als freier Mann in den Diensten des „künig Licuro“ von Babylon Rätsel löst,317 die zwischen den Königshäusern kursieren: wann dieselben zyt was söliche gewonhait under den künigen, daz sie ainander verborgen fragen und reterschen in geschrifft übersandten in schimpf und kürczwyl, und wa der, dem die frag geschickt ward, sy nit uß kund legen, so sendet er dem andern bestimt gaben.318

Die mögliche Wirkung von Lehren Äsops wird im Umgang mit seinem Ziehsohn Enus deutlich. Dieser hatte ihn verleumdet, so dass Freunde von Äsop seinen Tod vortäuschen mussten. Als die Intrige aufgedeckt und Äsop wieder eingesetzt wird, wird ihm sein Sohn übergeben, „daz er sich gegen im räche nach synem willen“.319 Äsop aber behandelt ihn

315 Steinhöwels Äsop, S. 47. 316 Ebd., S. 60 f.: „In kurczen tagen darnach, als Xanthus allein die natürlichen maister und die oratores zuo dem nachtmal het laßen berüffen, sprach er zu Esopo: Stand zuo der tür und laß kainen unwißenden heryn, sonder allein philosophos und oratores, das ist die natürlichen und zierlich redend maister. Esopus saß by der tür, und wann ain geladner kam und begeret in das hus ze gan, so sprach er im zu mit schmachworten, als er vernam. Wann das ainer hort, so gieng er in unwillen hinweg. Also beschach ouch aim andern und ze glycher wys dem dritten und vil andern. Ze letst kam ain scharpfer und sinnrycher und genuog schimpfig, zu dem sprach Esopus auch als zuo den andern. Aber der selb was sinnrych und antwürt bald gebürlich; do ließ in Esopus hin yn“. 317 Ebd., S. 67. 318 Ebd. 319 Ebd., S. 69.  

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gütiglich und straffet in flyßiglich mit söllicher ler: Sun, du solt mynen worten flyßiglichen uffmerken und in überrüwigen herczen behalten, wann in fremden dingen syn wir wys, den fremden geben wir raut, aber uns selber künden wir nit raten. So du aber ain mensch bist, so bedenke, daz du menschlichem gefell bist underwürffig.320

Es folgt die Wiedergabe zahlreicher Sentenzen à la „Du solt got eren vor allen dingen, dest minder mag dir misselingen“.321 Die Wirkmächtigkeit der zahlreichen Sentenzen zeigt sich darin, dass ihre Verinnerlichung zum Selbstmord Enusʼ führt. Lehren ist auch einer der Aspekte, die in Verbindung mit dem Erzählen und Deuten von Fabeln von Bedeutung sind. Die Tätigkeit Äsops als Fabellehrer des einfachen Volkes auf seinen Reisen durch Griechenland wird dabei aber nur erwähnt, nicht auserzählt: „Nach der zyt zoch Esopus von Samos hinweg, durch menig land und gegend, und gab dem volk mangerlay ler in fabeln und gelychnüs, und leret die tötlichen menschen in allen landen“.322 Als Fabelerzähler, dessen Fabeln in direkter Rede wiedergegeben werden, wird Äsop nur in Situationen dargestellt, in denen er Entscheidungen beeinflusst, die sein eigenes Leben unmittelbar betreffen. Als er nach der Deutung des AdlerWunders seine Freiheit erhalten hat, fordert der „künig von Lidia Cresus“ unter Androhung von Krieg, dass die Bürger von Samos Äsop ausliefern.323 Die Volksversammlung lässt Äsop einberufen und ihm die Botschaft mitteilen. Er willigt ein, sich dem König zu stellen, erzählt aber zuvor die Fabel von den Schafen, die von den Wölfen aufgefordert werden, ihre Beschützer, die Hunde, auszuliefern, um den Frieden zu garantieren. Nachdem die Schafe der Forderung nachgekommen sind, töten die Wölfe erst die Hunde und dann die Schafe. Auch ohne Deutung erkennen die Bürger von Samos den Sinn der Fabel und beschließen Äsop nicht auszuliefern. Dieser nun folgt dem Beschluss nicht und lässt sich aus freien Stücken zu Krösus bringen. Vor dem Thron erzählt Äsop die Fabel vom Vogler, der eine Grille fängt und diese, als sie auf den Nutzen ihres Gesanges für alle Menschen aufmerksam macht, wieder frei lässt. Auch der König weiß aus der Fabelerzählung ohne explizite Deutung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Er ist verwundert, „von barmherczikait“324 bewegt und bewilligt den Wunsch Äsops, von weiteren Forderungen an die Stadt abzusehen. Aus Dankbarkeit wird Äsop

320 Ebd. 321 Ebd. 322 Ebd., S. 67. Ebenso nach den Episoden in Ägypten und der Rückkehr nach Babylon: „Als er durch die stett Kriechenlands zohe und an allen enden syne wyshait in fabeln erzöget, erwarb er großen namen der wyshait“ (ebd., S. 72 f.). 323 Ebd., S. 64. 324 Ebd., S. 66.  

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127

zum Fabelautor: „fiel Esopus für den künig uff die erd und sagt im dank, darnach machet er die fabeln, die man uncz uf den hütigen tag findet, ze ere dem selbigen künig“.325 Nur ein weiteres Mal werden Fabeln von Äsop direkt wiedergegeben. Wieder ist es eine lebensbedrohliche Situation, das Verhalten der Rezipienten dieser Fabeln steht jedoch im Kontrast zur vorherigen Erzählsituation. Die Einwohner von Delphi hatten sich verschworen, um Äsop mithilfe einer List des Kirchenraubs anzuklagen. Nachdem Äsop zum Tod durch den Sprung von einem Felsen verurteilt wurde und aus dem Kerker geführt wird, erzählt er zunächst die Fabel vom Frosch, der verspricht, eine Maus sicher über ein Gewässer zu transportieren und dieses Versprechen bricht. Die von Äsop genannte Deutung der Fabel besteht aus einer Warnung vor der Rache der Einwohner von Babylon und Griechenland, sollte er getötet werden. Äsop kann in den Apolltempel fliehen, wird jedoch erneut gefangengenommen. Obwohl er erkennt, dass er die Absicht der Delphier nicht ändern kann, erzählt er drei weitere Fabeln mit teils schwankhaftem, teils derbem Inhalt und bezieht diese jeweils direkt auf seine Situation. Die letzte Sprachhandlung Äsops besteht schließlich in einem Fluch: „Ich verfluch üch und üwer land, und bitte got und alle göttin, daz sy mich sterbenden erhören und üch straffen wellen nach üwren mistun“.326 Dieser Fluch erfüllt sich zweifach, einerseits werden die Einwohner von Delphi von „über große türi, sterbent und tobsucht“ heimgesucht, welche sie nach dem Rat Apolls mit dem Bau eines neuen Tempels und einer Gedächtnissäule sühnen, andererseits aber tritt ein, wovor Äsop warnte: „do die fürsten von Kriechenland den tod Esopi erhorten, zugen sy in heres krafft über die Delphen und erfuoren flyßiglich, welhe schuld hetten an dem tod Esopi, die ließen sie all, als billich was, mit söllichem tod ouch vergaun“.327 Die in der Vita vielschichtige Darstellung der Autorität Äsops wird in autorisierenden Referenzen innerhalb der wiedergegebenen Fabeln zu Beginn der Sammlung in den Texteingängen weitergeführt. In der ersten lateinischen Prosafabel beginnt das Morale mit dem Verweis: „Hec Esopus illis narrat, qui ipsum legunt et non intelligunt“,328 dieser Fabeleingang wird auch im Deutschen wiedergegeben: „Diese fabel sagt Esopus denen, die in lesent und nit verstant“329 und dann erweitert um das Honiggleichnis, welches eine intratextuelle Brücke zur Gattungsdiskussion in der Vorrede schlägt: „die nit erkennt die kraft des edeln berlins, und das honig uß den bluomen nit sugen künent; wann den selben ist er

325 326 327 328 329

Ebd. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 80. Ebd.

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2 Äsopische Autorisierung

nit nüczlich zu lesen“.330 Im Deutschen wechselt hier die Bezeichnung ‚Esopus‘ zwischen der Werk- und der Autorbezeichnung. Autornennungen treten auch zu Beginn der lateinischen Fabeln auf, wie in der zweiten Fabel: „Esopus de innocente et improbo talem retulit fabulam“, und werden auch in die volkssprachliche Übersetzung übernommen: „Esopus seczet von den unschuldigen und den böslistigen triegern ain sölliche fabel“.331 Steinhöwel verstärkt die Autorität Äsops im Deutschen, wenn er Äsop als Urheber der Fabel nennt, wo im Lateinischen nur auf die Fabel verwiesen ist. So wird in der vierten Fabel der lateinische Fabeleingang: „De calumniosis hominibus talis dicitur fabula, quod semper calumniosi in bonos cogitant mendacium et faventes secum adducunt ac falsos testes emunt. De his ergo talis preponiter fabula“, übersetzt mit: „Von den ... seczet Esopus ain söliche fabel“.332 In der fünften Fabel wird der Verweis auf die Fabel Äsops zur Aussage Äsops vereindeutigt: „De talibus Esopi fabula sic narrat“333 gegenüber „Von den selben sagt Esopus also“.334 In der neunten Fabel wird der einfache Hinweis auf die Fabel „monet fabula“335 im Volkssprachlichen ergänzt um den Verfasser: „seczet Esopus dise fabel“.336Auch beschreibende, substantivierte Adjektive für Äsop werden übernommen, so in der elften Fabel: „sapiens talem subicit fabulam“337 zu „seczet der wys ain sölliche fabel“.338 Umschreibungen, die Äsop klar als Verfasser ausweisen, wie auctor werden ebenfalls übernommen und vereindeutigt wie in der zwölften Fabel: „per hanc brevem auctoris probatur fabulam“339 zu „als durch dise kurcze fabel Esopi würt bewyset“.340 Steinhöwel fügt Verweise auf Äsop zusätzlich im Volkssprachlichen ein, wo sie in der lateini-

330 Ebd. In der Vorrede wird auf die erste Fabel verwiesen: „Also wer das büchlin lesen wil, der sol die farb der pluomen, das ist die märlun oder fabeln, nit groß achten, sunder die guoten lere, dar inn begriffen, zuo guoten sitten und tugend ze lernen und böse ding ze schüchen lerende uß sugen und an sich niemen ze narung und spyß des gemüts und des lybs. Wann welche das nit tuond, sonder diß büchlin allain von der märlin wegen lesen wöllent, die bringent nit mer dar von, wann der han von dem edeln gestain, der lieber ain gersten körnlin funden het, als die erst fabel Esopi lert“ (ebd., S. 4 f.). 331 Ebd., S. 81. 332 Ebd., S. 84. 333 Ebd., S. 85. 334 Ebd. Ebenso wird in der sechsten Fabel: „De isto videamus quid hec fabula narret cunctis hominibus“ vereindeutigt zur direkten Aussage Äsops: “Von dem sagt Esopus allen menschen ain sölliche fabel“ (ebd., S. 86). 335 Ebd., S. 89. 336 Ebd., S. 90. 337 Ebd., S. 91. 338 Ebd., S. 92. 339 Ebd. 340 Ebd., S. 93.  

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther

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schen Fassung nicht gegeben sind, wie in der dritten Fabel Von der mus, frosch und wyen: „Dise fabel findst ouch völliger in dem leben Esopi by dem end“.341 Der intratextuelle Verweis führt zur ersten Fabelerzählung, die Äsop den Einwohnern von Delphi erzählt, als diese ihn überlisten und des Kirchenraubes anklagen. Mit dem Attribut „völliger“ verweist Steinhöwel auf die gegenüber der Fassung im Fabelkorpus erweiterte Wiedergabe.342 Die Funktion Äsops als Fabelerzähler wird im Fabelkorpus peritextuell weitergeführt. Sogar die Anordnung der Fabeln steht in direktem Bezug zu Äsop. So lässt sich der den Fabeln zugeschriebene Status als wahre Fabeln Äsops als Kompositionsprinzip der Sammlung umschreiben. Die ersten 80 Fabeln der Erstausgabe des Esopus von Steinhöwel präsentieren sich als in sich geschlossener Komplex von vier Büchern à 20 Stück, von denen die lateinischen Prosafabeln auf dem Textkorpus des Romulus basieren.343 Bis zur 59. Fabel wird ein Fabelstoff auf dreierlei Weise wiedergegeben, auf Latein in Prosa (basierend auf der Sammlung des Romulus) und in Versform (auf der Grundlage des Anonymus Neveleti) sowie einer deutschen Prosaübersetzung von Steinhöwel.344 Darauf folgen 17 Fabelbearbeitungen, jeweils in lateinischer sowie deutscher Prosa, die als Extravagantes Esopi antique sequuntur angekündigt werden.345 27 weitere Fabelstoffe werden als die Übersetzungen von Rimicius präsentiert: Sequuntur alique Esopi Fabule nove translationis Remicii,346 wiederum folgen den lateinischen Prosafabeln die deut-

341 Ebd., S. 83. 342 Beiden Fabeln gemeinsam ist der Schluss: eine Maus soll von einem Frosch über ein Wasser gebracht werden, der Frosch bindet sich und die Maus an den Füßen zusammen. Der Frosch taucht ab, um die Maus zu ertränken, die Maus wehrt sich schwimmend. Eine vorbeifliegende Weihe sieht die kämpfenden Tiere und frisst beide. In der Lebensbeschreibung Äsops erscheint die Tat des Frosches noch niederträchtiger, da es in den Kontext eines Gastmahles eingebaut ist. So hatte die Maus den Frosch zum Abendessen in die Speisekammer eines reichen Mannes eingeladen und mit „brot, honig, fygen und sus mangerlai guoter spys“ (Steinhöwels Äsop, S. 74) versorgt. Die Gegeneinladung des Frosches führt zur angestrebten Wasserüberquerung. 343 Noch immer gilt, was Dicke konstantiert hat: „man kennt die Vorlagen nicht, nach denen er [Steinhöwel] gearbeitet hat“ (Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 41). Zur Vorlagendiskussion der Romulusfabeln und der weiteren Sammlungsteile siehe ebd., S. 42–58, zur Überlieferung der Romulusfabeln im Mittelalter siehe Grubmüller: Meister Esopus, S. 58–85. 344 Dabei beginnt jeder Fabelkomplex mit der Wiedergabe der lateinischen Prosafassung, es folgt die deutsche Übersetzung und abgeschlossen wird die Einheit bis zur 59. Fabel, der vorletzten Fabel im dritten Buch, von einer Versfabel. Das Lateinische rahmt das Volkssprachliche gleichsam. Eine zusammenfassende Übersicht über den Aufbau der Erstausgabe bei Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 42–47. 345 Steinhöwels Äsop, S. 192. 346 Ebd., S. 243.

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schen Übersetzungen in Prosa.347 Den vier Büchern des Romulus sind stets Register vorangestellt, die an der Autorschaft Äsops der verzeichneten Fabeln keinen Zweifel aufkommen lassen.348 Den beiden ersten Büchern sind zusätzlich Vorreden von Romulus an seinen Sohn vorangestellt, in denen Äsop als Gattungsbegründer gelobt und die Qualität und der Nutzen von Fabeln hervorgehoben wird. Da sich Romulus selbst als Übersetzer der Fabeln aus dem Griechischen ins Lateinische vorstellt, wird einerseits über die Übersetzertätigkeit eine Brücke vom Lateinischen zur Originalsprache der Fabeln, dem Griechischen geschlagen. Zugleich wird Romulus zu einem Vorbild als Übersetzer, der als Anschlussstelle auch die Übersetzertätigkeit von Steinhöwel aufwertet.349 Indem die vier Bücher Romulusʼ mit Vorreden aufgenommen und übersetzt werden, ist auch die Wertung Äsops durch einen früheren Übersetzer wiedergegeben. Äsop wird in der Vorrede zum ersten Buch von Romulus als historische Person und aufgrund seiner Geisteskraft als Autorität vorgestellt: „Esopus quidam homo grecus et ingeniosus fabulis suis docet homines quid observari debeant“, in der Übersetzung: „Esopus ist gewesen ein sinnrycher man uß Kriechen, der durch syne fabeln die menschen gelert hat, wie sich die in tuon und laßen halten söllent“.350 Dem vorangestellt ist die Widmung: „Romulus synem sun von der statt Athenis, hail“.351 Die peritextuelle Anbindung an Äsop ist in den Überschriften zum ersten Buch für die volkssprachigen Texte verstärkt. Im Lateinischen wird lediglich auf die Vorrede hingewiesen: INCIPIT PREFATIO,352 die deutsche Übersetzung ordnet diese zusätzlich dem Werk und Äsop zu: Die vorred Romuli philosophi in das buch Esopi.353 Am Ende des zweiten, dritten und vierten Buches informiert ein lateinisches Explicit über die Buchgrenzen und die Zugehörigkeit zum Textkorpus der 347 Bis dahin gelten die Fabeln als genuin ‚äsopisch‘. So wird der lateinkundige Leser am Beginn und Ende einzelner Sammlungsabschnitte über peritextuelle Strukturierungselemente wie Vorreden, Register, Seitenüberschriften und Explicits über die Verbindung derselben mit dem Gattungsstifter informiert, siehe auch Dicke: Steinhöwel, Heinrich. In: VL. Bd. 9, Sp. 272: „lat. Hg.-Hinweise informieren über den jeweiligen äsopischen Echtheitsgrad der Corpora“. 348 „REGISTRUM FABULARUM ESOPI IN LIBRUM PRIMUM“ (Steinhöwels Äsop, S. 77), „INCIPIUNT CAPITULA DE LIBRO SECUNDO FABULARUM ESOPI VIRI CLARISSIMI ATQUE INGENIOSI“ (ebd., S. 107), „INCIPIT REGISTRUM CAPITULORUM TERTII LIBRI ESOPI“ (ebd., S. 137), „INCIPIUNT CAPITULA DE LIBRO QUARTO FABULARUM ESOPI VIRI CLARISSIMI ATQUE INGENIOSI“ (ebd., S. 172). 349 Die Autorität von Romulus als Autor wird im Volkssprachlichen noch verstärkt, die deutsche Übersetzung der Überschrift ist erweitert um den Hinweis Romuli philosophi. 350 Steinhöwels Äsop, S. 78. Es mag kein Zufall sein, dass die beigegebenen Vorreden den Übersetzer von Fabeln zu Wort kommen lassen, bieten sie doch eine Möglichkeit die Tradition des Fabelübersetzens aufzuzeigen. 351 Steinhöwels Äsop, S. 78. 352 Ebd.

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äsopischen Fabeln.354 Das lateinische Explicit des vierten Buches liefert nicht nur die Information über das Ende des vierten Buches, sondern bildet zugleich eine Überleitung zu den darauffolgenden EXTRAVAGANTES ESOPI ANTIQUE SEQUUNTUR,355 die als eine Art Kompilation der Streuüberlieferung weiterer äsopischer Fabeln vorgestellt wird: „Finis quarti libri Esopi viri ingeniosi, nec plures eius libri inveniuntur. Multe tamen eius fabule reperte sunt, quarum plurime sequuntur, ut in processu videbitur“.356 Die Zweifel an der Authentizität rahmen in den vom Herausgeber beigegebenen Peritexten diesen Abschnitt der Sammlung. Diese werden im lateinischen Explizit nochmal vom Herausgeber geäußert: „Finite sunt extravagantes antique, ascripte Esopo, nescio si vere vel ficte“.357 Die weiteren Abschnitte der Fabelsammlung sind geprägt von der Unsicherheit, wie diese Fabeln einzuordnen sind. So beinhaltet der nächste Sammlungsabschnitt Fabeln in der Übersetzung von Rimicius: SEQUUNTUR ALIQUE ESOPI FABULE NOVE TRANSLATIONIS REMICII358, der Status der Fabeln als äsopische, jedoch nicht von Romulus in seinen Büchern versammelte, wird im Explicit nochmals verhandelt: „Finis fabularum Esopi a Rimicio nove translationis fabularum Esopi grecarum auctore extracte. Que a Romulo in suis quatuor libris non continentur“.359 Mit dem vorletzten Sammlungsabschnitt wendet sich der Herausgeber schließlich vom Korpus der äsopischen Fabeln ab, es folgen 27 lateinische Versfabeln von Avian, die als solche auch in der Überschrift genannt werden: AVIANI FABULE SEQUNTUR.360 Mit Avian wird der andere „der beiden klassi-

353 Ebd. Der Anschluss an Äsop ist auch in die Überschrift der lateinischen Verse, die den Vorreden folgen und die einen Ausschnitt aus der Vorrede des Anonymus Neveleti darstellen mit übernommen: Prologus metricus in Esopum (ebd., S. 79). Die Überschriften der einzelnen Bücher sind strukturell unterschiedlich. Im zweiten Buch informiert eine erste Überschrift, die von der Registerüberschrift übernommen wird, in Majuskeln auf Latein an die Anbindung an Äsop: INCIPIT LIBER SECUNDUS FABULARUM ESOPI VIRI CLARISSIMI ATQUE INGENIOSI (ebd., S. 108), während in den Überschriften der einzelnen Vorreden nur die deutsche an Äsop anknüpft. So informiert die deutsche Überschrift Die vorred in das ander buoch Esopi gegenüber dem lateinischen Prohemium sowie Prohemium secundi (ebd., S. 108 f.). 354 „Explicit liber secundus“ (ebd., S. 136), „Finit liber tertius fabularum Esopi“ (ebd., S. 171). 355 Ebd., S. 192. 356 Ebd., S. 191. 357 Ebd., S. 241. Eigene Übersetzung: „Ende der alten Zusätze, die Äsop zugeschrieben werden, ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht“. Ohne personale Stellungnahme ist die Unsicherheit der Zuschreibung im dem Abschnitt in der Überschrift des nachgestellten Registers festgeschrieben: REGISTRUM EXTRAVAGANTIUM ESOPO ASCRIPTARUM (ebd., S. 242). 358 Ebd., S. 243. 359 Ebd., S. 259. 360 Ebd., S. 261.  

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2 Äsopische Autorisierung

schen Gewährsmänner der Fabelliteratur im Mittelalter“ in die Sammlung Steinhöwels aufgenommen.361 Obwohl sein Werk ihm im Mittelalter „neben Äsop die Position eines (in seiner Qualität freilich nicht durchweg unbestrittenen) Klassikers der Fabeldichtung eingebracht“ hat,362 wird ihm von Steinhöwel abgesehen von der Wiedergabe von 27 Fabeln keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Die letzten 18 Kurzerzählungen sind unter der Überschrift EX ADELFONSO gedruckt und übersetzt. Sie versammeln 15 lateinische Exempel, Fabeln und Schwänke aus der Sammlung von Petrus Alphonsus, ein lateinisches Exempel nach Adolf von Wien sowie lateinische Fazetien von Poggio Bracciolini, unter denen sich auch Erzählungen von Monstern und Meerwundern finden. In dem Maße, in dem die Autorschaft Äsops an den Erzählungen angezweifelt wird, in dem Maße, wie jüngere Autoren einen Platz in der Sammlung zugewiesen bekommen, in dem Maße entfernen sich deren Erzählungen auch von der Gattungsvorstellung, die sich in den Überlegungen zur Gattung Fabel, die Steinhöwel zu Beginn seiner Sammlung ausführt, zeigt. Das Abweichen von der äsopischen Fabel und ihrem Gattungsstifter wird im Register am Ende der Sammlung wieder eingefangen. Der dortige Eintrag zu Esopus ist ein Rückverweis auf die erste Fabel. Äsop ist nicht nur durch seine Texte vertreten, er erscheint als ein Rahmen, der über die gesamte Sammlung gespannt wird: „Esopus. Wer Esopum will lesen, der sol in verstentlichen lesen. Im ersten buoch der ersten fabel“.363 Steinhöwel selbst präsentiert sich in der Vorrede als umsichtiger Philologe, der Quellen seiner Sammlung nennt, seine Bearbeitungsprinzipien offen legt und den Fabeln eine theoretische Reflexion zur Gattung vorschaltet. So stellt er sich als ein Glied in einer Kette von Übersetzern äsopischer Fabeln dar.364 Bevor er sich als Herausgeber präsentiert, wird auf zwei antike Übersetzer verwiesen, die durch ihre Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische die erste Sprachgrenze vermittelnd überwunden haben. Als verantwortlicher Gesamtübersetzer dieser und noch einiger Autoren

361 Grubmüller: Meister Esopus, S. 61. 362 Ebd., S. 58. Zur Rolle Avians im Rahmen des Schulkanons im Mittelalter siehe ebd., S. 89– 96. 363 Steinhöwels Äsop, S. 354. 364 Dieses Vorgehen ist in äsopischen Fabelsammlungen nicht einmalig. Auch in der Sammlung, die als erste im Volkssprachlichen nachweisbare, in sich geschlossene Sammlung äsopischer Fabeln gilt, ist dies zu beobachten. So reiht sich Marie de France im Prolog ihrer äsopischen Fabelsammlung ebenfalls in eine Reihe von Übersetzern ein. Es findet sich „eine Art von literarischer ‚translatio‘ vom ersten Urheber bis zu der Dichterin selbst“ (Hans Robert Jauß: Die erste volkssprachliche Fabelsammlung und ihr Verhältnis zur äsopisch-christlichen Tradition. In: Hans Robert Jauß: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Tübingen 1959 [Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 100], S. 24–55, S. 28).

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther

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mehr tritt Steinhöwel hervor und schlägt so den Bogen in die Neuzeit und in die deutsche Sprache: Das leben des hochberümten fabeldichters Esopi uß krichischer Zungen im latein durch Anthonium des titels sancti Chrysogoni pristern cardinaln; und fürbas das selb leben Esopi mit synen fabeln, die etwan Romulus von Athenis synem sun Thiberino uß kriechischer zungen in latin gebracht, hatt gesendet, und mehr ettlich der fabel Aviani, auch Doligami, Aldefonsii und schimpfreden Poggii und anderer, ietliche mit ierem titel ob verzaichnet.365

Indem er seinen akademischen Titel nennt, stellt sich Steinhöwel als gelehrter Übersetzer dar, der sich um Deutlichkeit bemühend ins Deutsche überträgt. Seine Bearbeitungen folgen dem Grundsatz der Sinnwiedergabe, nicht der wortwörtlichen Übersetzung: uß latin von doctore Hainrico Stainhöwel schlecht und verstentlich getütschet, nit wort uß wort, sunder sin uß sin, um merer lütrung wegen des textes oft mit wenig zugelegten oder abgebrochnen worten gezogen.366

In der folgenden Gattungsdefinition, die auf Isidor von Sevilla zurückgeht, wird Äsop als zweiter in der Reihe nennenswerter Fabeldichter aufgeführt und sein Ansehen in Phrygien, in der auf die Vorrede folgenden Vita sein griechischer Herkunftsort, betont. Seine nach ihm benannten Fabeln werden als solche kategorisiert, in denen unbelebte Gegenstände, Flora und Fauna miteinander sprechen können: Und der erst finder der fabel oder glichnus ist gewesen der maister Alemo Crotoniensis, und synt mancherlay fabeln. Etlich haißent Esophice, wann der selb maister Esopus der ist in Frigia der wirdigest gehalten worden, und sind die, wa die unvernünftigen tier, die nit reden kündendt, mit ain ander redent, oder andere ding, die nit enpfindende sel hant, als baum, berg, stain, waßer, stet, dörfer und des gelichen.367

Daher handle es sich durchgehend um erdichtete Geschichten, die geschrieben werden, um Sitten und Gebräuche der Menschen zu beschreiben: werdent alle sälich fabeln erdichtet, nicht daz es also beschehen sye, sonder ze betütten menschlichs wesen und leben; also sint die fabeln Esopi uf die sitten der menschen geordnet.368

365 366 367 368

Steinhöwels Äsop, S. 4. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6.

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2 Äsopische Autorisierung

Dass schon einige der in der Vita Äsop direkt in den Mund gelegten und dann auch so manche der versammelten Fabeln, besonders gegen Ende der Sammlung, dieser Definition nicht entsprechen, scheint irrelevant. Auch auf historische Situationen, in denen Fabeln erzählt wurden, weist Steinhöwel hin: Also hat ouch Demoscenes der houch wollered maister ze Athenis begeret im zehen die wysesten zesenden, so wölt er von der statt ziehen, die von im belegert was. Do dichtett er die fabel, wie der wolff von dem hirten begeret der hund, so wölte er frid mit den schauffen halten, da mit wolt er widerraten, daz der künig het begeret, als die fabel in dem leben Esopi uß wyset.369

Bei der Fabel, auf die verwiesen wird, handelt es sich um die erste Fabel, die Äsop in der Vita erzählt. Die pragmatische Situation gleicht dort der bei Demosthenes. Ebenfalls dient die Fabel als persuasive Rede vor einer Gruppe von politischen Entscheidungsträgern, die unter Androhung von Krieg angewiesen wurden, Ratgeber der Stadt auszuliefern. Nicht nur der Fabelerzähler Äsop wird als historische Persönlichkeit dargestellt, auch die von ihm erzählten Fabeln werden in historische Geschehnisse eingebunden. Steinhöwel zeigt sich zwar als Kompilator und Übersetzer, die unhinterfragte Autorität der Sammlung, sei es in der Vorrede als Teil der Gattungsdiskussion, als historische Persönlichkeit mit göttlicher Sprachbegabung oder als „maister“ der Fabeln, ist jedoch Äsop. Behandelt man Fabeln des 16. Jahrhunderts, insbesondere solche von Reformatoren, scheint ein Vergleich mit oder zumindest die Kenntnisnahme der Fabeln Luthers unumgänglich. Aus Briefen und einer verfassten Vorrede, die auf das Jahr 1530 datiert ist, ist darauf zu schließen, dass er während seines Aufenthaltes auf der Feste Coburg, im Frühjahr und Sommer an einer eigenen äsopischen Fabelsammlung arbeitete oder diese zumindest vorbereitete.370 Mehr als 13 Bearbeitungen äsopischer Fabelstoffe sind nicht überliefert. Erst posthum erscheinen durch die Herausgabe Georg Röhrers laut Impressum am 1. März 1557 Etliche Fabeln aus Äsop von Luther als Teil seiner Schriften in der Jenaer Ausgabe.371 Die Rezeption der niedergeschriebenen Fabeln Luthers durch Waldis kann daher ausgeschlossen werden. Wohl aber ist die Vorrede Luthers für diese Untersuchung als zeitgenössisches Zeugnis hinsichtlich der Äußerungen Luthers zu Äsop von Interes-

369 Ebd. 370 Luther: Etliche Fabeln, S. 434. 371 Siehe ebd., S. 438. Zur Überlieferungslage (eine Handschrift Luthers mit den Fabeln, eine Abschrift Röhrers) und dem bedauerlichen Umstand, dass sowohl die Handschrift der Vorrede, die den Titel Vom rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs gehabt haben, wie auch eine Abschrift der Vorrede, die Mathesius aus Joachimsthal seinem Freund Eber am 7. Mai 1557 nach Wittenberg geschickt haben soll, verschollen sind, siehe ebd., S. 438 f.  

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther

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se.372 Luther weist nämlich eine Darstellung Äsops als Autorität und seine Fabeln, wohl in der Bearbeitung und Sammlung Steinhöwels, als ein „ungeschickt Buch aus dem Esopo“ ab und formuliert den Anspruch, mit seiner Bearbeitung bisherige äsopische Fabelsammlungen zu ersetzen.373 So wird der Leser in der Vorrede aufgefordert, er möge „denselbigen Deudschen schendlichen Esopum ausrotten und diesen an sein stat gebrauchen“.374 Luther ordnet sich damit zwar in die Reihe von Bearbeitern äsopischer Fabeln ein, distanziert sich allerdings von Äsop als Gattungsstifter. Unter Berufung auf den antiken Gewährsmann Quintilian weigert er sich, einen solchen „Tolpel“ zu akzeptieren,375 wie er in früheren Sammlungen als historischer Schöpfer der Fabeln dargestellt sei, sei es in Worten (so in Lebensbeschreibungen) oder in Abbildungen. Vielmehr sei das Buch von einem unbekannten Meister, der aber durch seine Gelehrsamkeit als der Beste zu gelten habe, geschaffen worden. Das Werk preise sich dabei selbst so sehr, wie es kein anderer Meister könne. Der Sammlung selbst wird genug Meisterschaft, und damit einhergehend Autorität, zugeschrieben. Äsop wird als Autor nicht benötigt, vielmehr würde eine solche Gestalt die Sammlung diskreditieren: Und Quintilianus, der grosse scharffe Meister uber Bcher zu urteilen, helts auch dafr, das nicht Esopus, sondern der allergelertesten einer in griechischer Sprach, als Hesiodus oder desgleichen, dieses Buchs Meister sey, Denn es dnckt jn, wie auch billich, unmglich sein, das solcher Tolpel, wie man Esopum malet und beschreibet, solte solch Witz und Kunst vermgen, die in diesem Buch und Fabeln funden wird, und bleibt also dis Buch eines unbekandten und unbenanten Meisters. Und zwar, es lobet und preiset sich selbs hher, denn es keines Meisters name preisen kndte.376

Luther weist die Möglichkeit einer historischen Existenz Äsops ab und hält das Fabelkorpus für das Kompilationsergebnis verschiedener anonym bleibender Weisen, das schließlich durch einen Gelehrten geordnet worden sei:

372 Es wäre möglicherweise erkenntnisfördernd, die Untersuchung von Lutherfabeln hinsichtlich der Form und Struktur von Fabeln und Fabellehren im 16. Jahrhundert weiter zu verfolgen. So werden die Lutherfabeln, besonders in der Druckfassung, mit einem Sinnangebot als Leseanweisung in Form von Lastern wie Geitz überschrieben, siehe Luther: Etliche Fabeln, S. 450. Zugleich folgt eine als solche markierte Lere auf die Fabelerzählung. Diese ist nicht nur einsinnig gestaltet, sie weist Sprichwörter, lateinische Sentenzen und Reihungen auf. Auf mehrfache Sinnangebote wird in der Handschrift bei der siebten Fabel in der Überschrift hingewiesen: Diese fabel leret zwey stuck. Ebenso wird auf Fassungen des gleichen Stoffes aufmerksam gemacht: Die selbige fabel auf ein ander weise, siehe Luther: Etliche Fabeln, S. 443. 373 Ebd., S. 454. 374 Ebd. 375 Ebd., S. 453. 376 Ebd.

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2 Äsopische Autorisierung

Das mans aber dem Esopo zuschreibet, ist meins achtens ein Geticht, und vieleicht nie kein Mensch auff Erden Esopus geheissen, Sondern ich halte, es sey etwa durch viel weiser Leute zuthun mit der zeit Stck nach Stck zuhauffen bracht und endlich etwa durch einen Gelerten in solche Ordnung gestelt, Wie itzt in Deudscher sprach etliche mchten die Fabel und Sprche, so bey uns im brauch sind, samlen, und darnach jemand ordentlich in ein Buch fassen, Denn solche feine Fabeln in diesem Buch, vermcht jtzt alle Welt nicht, schweig denn ein Mensch, erfinden.377

So sehr Luther die Figur Äsop ablehnt, so große Hochachtung zeigt sich in seiner Bearbeitung vor dem Bestand der äsopischen Fabeln. Das bekannteste und in der Forschung häufig zitierte Zeugnis dazu findet sich in dem Brief aus Coburg vom 23. April 1530 an Philipp Melanchthon, in welchem Luther die äsopischen Fabeln in eine Trias mit dem Psalter und den Propheten einreiht.378 Als Fabelbearbeiter stellt sich Luther indirekt in eine Linie mit den ‚weisen Leuten‘, die die Fabeln erfunden haben sollen. Äsop, dem jegliche Geltung als Autor, Bearbeiter oder Erzähler abgesprochen wird, sei erdacht worden, um Fabeln beliebter zu machen und damit die Liebe zur Kunst und Weisheit umso mehr schüren zu können. Gleichsam als Verkörperung der Gattung ist er zu verstehen, da er zur besseren Vermittlung der Sammlung wie eine „Larva oder Fastnachtsputz“379 vorangestellt worden sei. Da die Rezipienten der Fabeln jedermann und damit auch Jugendliche und Kinder seien, wirke Äsop, indem er Lachen auslöse und unterhalte: Doch mgen die, so den Esopum zum Meister ertichtet haben und sein Leben dermassen gstellet, vieleicht Ursach gnug gehabt haben, nemlich, das sie als die weisen Leute solch Buch und gemeines Nutzes willen gerne hetten jederman gemein gemacht (denn wir sehen, das die jungen Kindern und jungen Leute mit Fabeln und Merlin leichtlich bewegt) und also mit lust und liebe zur Kunst und Weisheit gefrt wrden, welche lust und liebe deste grsser wird, wenn ein Esopus oder dergleichen Larva oder Fastnachtsputz frgestellet wird, der solche Kunst ausrede oder frbringe, das sie deste mehr drauffmercken und gleich mit lachen annemen und behalten.380

377 Ebd., S. 452. 378 „Pervenimus tandem in nostrum Sinai, charissime Philippe, sed faciemus Sion ex ista Sinai aedificabimusque ibi tria tabernacula, Psalterio unum, Prophetis unum et Aesopo unum“ (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 73 Bde. [wechselnde Herausgeber]. Weimar 1883– 2009. Bd. 50, S. 434). 379 Luther: Etliche Fabeln, Vorrede, S. 453. 380 Ebd. Äsop nimmt damit die gleiche Funktion der täuschenden ‚Verpackung‘ ein, die etwa Alberus der Fabel als Gattung zuschreibt, wenn er sie mit der Gabe von Zucker bei bitteren Medikamenten vergleicht: „Vnd gleich wie man den Kindern/ so wrmmeel mit honig eingibt/ also muß man vns arme groben/ halßstarrige Leut/ mit fabeln vnd bildern betriegen vnd fangen/ dann sie gehn sß ein wie zucker/ vnnd sind gut zubehalten“ (Alberus: Fabeln, S. 29).

2.1 Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther

137

Da die Sammlung nie vollendet wurde, kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob und wie die „eitel feine, reine, ntzliche Fabeln“ zu Ende gebracht oder die angekündigte „Legend Esopi“ von Luther ausgeführt worden wären.381 Die Präsentation eines Äsop als Fabelerzähler oder gar Gründer der Gattung wäre aber wohl höchst unwahrscheinlich gewesen. Während Äsop seinen traditionellen Geltungsanspruch als Vermittler der Fabeln verliert, bleibt diese Position in der Anwendung von Fabeln bei Luther nicht unbesetzt. Auch für Luther bedarf die Fabel in ihrer Anwendung, etwa bei Gesprächen in geselliger Runde, weiterhin der Vermittlung. Statt der traditionellen Darstellung von Fabelerzählen und Deuten, sei es durch die Vermittlung Äsops in einer Vita oder durch Metaphern, wie die vom Honig und den Blumen oder der verzuckerten Medizin, gibt Luther zum Abschluss seiner Vorrede der geplanten Fabelsammlung ein „Exempel“, wie die Fabeln „wol zu gebrauchen“ seien, so dass man „one Snde lachen und gebrauchen knde, Kinder und Gesind zu warnen und unterweisen auff ir zuknfftiges Leben und Wandel“.382 Er imaginiert eine textexterne, pragmatische Situation, in welcher der Hausvater die möglichen Deutungen der Fabel anstößt und lenkt. Dieser soll den vom Autor nicht mehr zu kontrollierenden, sich an den Leseprozess in seiner Sammlung anschließenden mündlichen Gebrauchskontext beeinflussen. Flexibel soll die Deutung der Fabel an die Teilnehmer der Kommunikationssituation angepasst werden: Wenn ein Hausvater uber Tisch wil Kurtzweil haben, die ntzlich ist, kan er sein Weib, Kind, Gesind fragen, Was bedeut diese oder diese Fabel? und beide, sie und sich darin ben. Als die fnffte Fabel vom Hund mit dem Stck Fleisch im Maul bedeutet, wenn einem Knecht oder Magd zu wol ist, und wils bessern, so gehets jm wie dem Hund, das sie das gute verliren und jenes bessere nicht kriegen. Item, wenn sich ein Knecht an den andern hengt und sich verfren lesst, das jm gehe wie dem Frosch an der Maus gebunden, in der dritten Fabel, die der Weihe alle beide fras, Und so fort an in den andern Fabeln mit lieb, mit leid, mit drewen und locken, wie man vermag, One das wir mssen das unser bei jnen thun.383

An eine solche textexterne Vermittlungsinstanz mögen sich die eindeutigen peritextuellen Hinweise richten, mit welcher Fabel welches Laster behandelt werden könnte. Denn mitunter sind die kurzen und prägnanten Prosafabeln mit den Lastern überschrieben, etwa Torheit, Hass, Untrew, Neid, Geitz, Frevel. Gewalt.384 Diese klaren Leseanweisungen rücken an die Stelle der Autoritätenberufung auf 381 382 383 384

Luther: Etliche Fabeln, Vorrede, S. 454. Ebd., S. 455. Ebd. Ebd., S. 448–450.

138

2 Äsopische Autorisierung

Äsop, wie sie etwa Steinhöwel aufweist. In den Peritexten, Erzähleingängen und Deutungen der Lutherfabeln ist Äsop nicht mehr präsent.385 Die Darstellung von Autorisierungsstrategien in Steinhöwels Fabelsammlung und Luthers Etlichen Fabeln macht auf die teilweise konträren Möglichkeiten der Äsopdarstellung und -anerkennung aufmerksam, die mitzudenken sind, wenn im Folgenden die Autorisierungsstrategien von Waldis im Esopus untersucht werden.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis In die Tradition des äsopischen Fabelerzählens stellt auch Waldis seine Fabelsammlung explizit auf dem Titelblatt über die metonymische Werkbezeichnung Esopus. Wie bereits aufgezeigt, ist die Benennung einer Sammlung von äsopischen Fabeln nach ihrem vermeintlichen Gattungsbegründer im Volkssprachlichen keine Besonderheit.386 Der Name Äsops in lateinischer Form dient als Bezeichnung für den Textbestand, der ihm individuell für jede Sammlung zugeschrieben wird, und für die Sammlungen selbst,387 die sich auf seine Fabeln gründen oder daran anschließen.388 Indem sich Waldis mit diesem Titel in die Nachfolge volkssprachlicher Werke einreiht, wendet er sich vom Ordnungskonzept und der Titelvergabe seiner Hauptvorlage ab. Diese präsentiert sich als ein Konvolut von Fabeln größtenteils humanistischer Gelehrter. Diese authores und interpretes dominieren den Werktitel auf dem Titelblatt:

385 Seine Fabelsammlung hat Luther nie beendet, aber seine Art Fabeln zu erzählen und auszulegen, wurde in den Tischgesprächen, literarisch überformt, festgehalten. Für Hinweise auf Tischreden, in denen äsopische Fabeln erzählt werden, siehe Luther: Etliche Fabeln, S. 434 f. In diesen Momentaufnahmen der Fabelanwendung erscheint Luther selbst als Deutungsautorität. Es wäre für die Analyse von Verfahren zur Sinnproduktion der Fabel möglicherweise sinnvoll weiter zu verfolgen, wie und und mithilfe welcher Möglichkeiten des Auslegens, Deutens, Kommentierens, Ratens und der Rezipientenlenkung Luther als fabelerzählende und ‑deutende Vermittlungsinstanz dargestellt wird. 386 Steinhöwel benutzt in der Erstausgabe die Bezeichnung „buch Esopi“, so die Überschrift der deutschen Übersetzung der Vorrede von Romulus an seinen Sohn Tiberius: „Die vorred Romuli philosophi in das buch Esopi“, die vorangestellte lateinische Fassung weist lediglich den übergeschriebenen Hinweis „INCIPIT PREFATIO“ auf (Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 78). 387 Das Äsopbild und der Bezug von Äsop zur Gattung Fabel nimmt im Laufe der Frühen Neuzeit noch weitere Ausformungen an, so wird er zur Personifikation der Gattung, etwa auf dem Titelblatt der Neuen Aesopischen Fabeln von Daniel Wilhelm Triller aus dem Jahr 1740. 388 Auch Luthers posthum gedruckte fragmentarische Fabelsammlung Etliche Fabeln aus Esopo übernimmt eine solche Bezeichnung, Luther bestätigt sie auch für die Steinhöwelsche Übersetzung, wenn er in seiner Vorrede darum bittet, man möge „denselbigen Deudschen schendlichen Esopum ausrotten und diesen an sein stat gebrauchen“ (Luther: Etliche Fabeln, Vorrede, S. 545).  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

139

FABULARVM QUAE HOC libro continentur interpretes, atq́ ; authores sunt hi. Guilielmus Goudanus. Hadrianus Barlandus. Erasmus Roterdamus. Aulus Gellius. Laurentius Valla. Angelus Politianus. Petrus Critinus Joannes Antonius Campanus. Plinius s[e]cundus nouocomensis. Nicolaus Gerbelius Phorcensis. Laurentius Abstemius. Rimicius Iam denuo additus Aesopi uita ex Max. Planude excerpta, et aucta. Indicē Fabularū in uestibulo reperies.

Äsop ist lediglich am Ende der ‚Gelehrtenschau‘ auf das Titelblatt aufgenommen worden, da seine Vita in der Bearbeitung von Rimicius wiedergegeben wird. Als Gattungsbegründer, Fabelerzähler oder etwa Fabelautor, im Sinne von ‚literarisch Schaffender‘, dessen Gegenstand Fabeln sind, wird er auf diesem Titelblatt nicht präsentiert. Auf dem Titelblatt der Sammlung von Waldis sind einzelne Fabelautoren nicht aufgeführt. Dominiert wird es stattdessen von einer Autorität, Esopus. Dem Gattungsanschluss folgt im Langtitel die explizite Abweisung einer möglichen bloßen Wiedergabe durch den Zusatz Gantz New gemacht. Auf dem Titelblatt der Erstausgabe mit dem Gesamttitel: Esopus/ [rot] Gantz New gemacht/ vnd in Reimen gefaßt. Mit sampt [rot] Hundert Newer Fabeln/ [rot] vormals im Druck nicht ge sehen/ noch außgan= gen. Durch Burcardum Waldis. [rot]

wird der Blick des Betrachters aufgrund der Rubrizierungen auf den an die Tradition anschließenden Werktitel (Esopus), die formale Beschaffenheit (in Reimen), den Novitätsanspruch des vierten Buches (Mit sampt Hundert Newer Fabeln), den Autor (Burcardum Waldis) und unterhalb der Illustration auf das Entstehungsjahr (Anno M. D. XLVIII.) gelenkt. Die trichterartige Anordnung des Werktitels, in welcher die Schriftart von der ersten Zeile bis zur vorletzten immer kleiner wird, stellt Esopus als erstes Wort des Titels aus und graphisch über

140

2 Äsopische Autorisierung

Burkard Waldis als denjenigen, der die Fabeln Gantz New gemacht hat. Irrelevant ist in Hinblick auf die Präsentation von Autor und Fabelschöpfer auf dem Titelblatt, ob Waldis die Gestaltung des Titelblattes bestimmen konnte oder überhaupt an der Gestaltung beteiligt war. Es geht vielmehr um die rezipientenseitige Wahrnehmung. Zu fragen ist, wie die Fabelsammlung über das Titelblatt wahrgenommen wird und was für ein Geltungsanspruch sich diesem ablesen lässt. Esopus lässt sich auf dem Titelblatt als metonymische Werkbezeichnung für die Äsop traditionell zugewiesenen Fabeln lesen. Die Ergänzung von Esopus um Hundert Newer Fabeln/ vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen kann auch verstanden werden als eine Veränderung des Verständnisses, was äsopische Fabeln seien. Diese ‚äsopischen Fabeln‘ weichen ab vom dem Werkbestand, den etwa Steinhöwel explizit als solchen markiert und im Druck verbreitet hat, werden vom Typus her aber doch zu dieser Textsorte gerechnet. Der Autor Burkard Waldis kommt im Esopus im darauffolgenden, der Sammlung vorangestellten typischen Peritext, der Vorrede, zu Wort. Er informiert über seine Arbeit am Werk und unterschreibt als Burcardus Waldis, der schon auf dem Titelblatt als Autorität des Werks präsentiert wurde. Selbst wer die Vorrede im Leseprozess überspringt, dem wird zu Beginn des auf die Vorrede folgenden Leben Esopi nochmals die literarische Tätigkeit des Autors präsentiert. Darin informiert ein, nun namenlos bleibendes, ‚Ich‘ über das Schaffen am Werk, nun in gebundener Rede und in einem Zwischenbereich zwischen Vorrede und Fabeltexten. Positioniert zu Beginn der Äsopvita kann dieser Erzähleingang nicht mehr als klassischer Peritext abgegrenzt werden, da die Vita des prominentesten Gattungsvertreters mit den Fabeln eng verknüpft ist und bereits eine Schwelle weiter im Text liegt.389 Diese der Vita vorangestellten Selbstaussagen zur literarischen

389 Der Begriff der ‚Schwelle‘, „eine ‚unbestimmte Zone‘ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist“, wurde von Gérard Genette eingeführt, siehe Genette: Paratexte, S. 10. Er wird in der Untersuchung von Erich Kleinschmidt erst näher beleuchtet, um dann weiterentwickelt zu werden, siehe Erich Kleinschmidt: Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), S. 1–17. Kleinschmidt benutzt hierbei den Begriff des ‚Paratextes‘ mit seiner semantischen Breite „als Kennzeichnung eines immanenten Grenzdiskurses. Dieser reflektiert für den Paratext nicht auf Abschottung, sondern auf Annäherung an den und Auseinandersetzung mit dem ‚eigentlichen Text‘. Dafür steht begrifflich dann auch die Schwelle als Ort einer (Grenz-)Überschreitung, was noch sinnfällig im lateinischen limen für ‚Türschwelle‘ gespiegelt erschiene, da das Wurzelmorphem lim- das gleiche in limes (‚Grenze‘) ist. Paratexte sind dann liminale Diskurse oder leiten sie ein“ (Kleinschmidt: Gradationen, S. 2). Dem Begriff der Schwelle sei dabei eine „im Prinzip räumlich konzipierte Metaphorik eingetragen, die letztlich an die topologische, in der

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

141

Tätigkeit des Sammelns lenkt die Aufmerksamkeit auf die Autortätigkeit und deutet voraus auf die Ergänzung der äsopischen Fabeln um die ‚neuen‘ Fabeln im vierten Buch. Nicht nur die Fabeln, auch das Leben Esopi kursiert in verschiedenen Fassungen, deren Darstellung abhängig ist von der Sammel- und Bearbeitungstätigkeit des Autors Waldis.

2.2.1 Die Darstellung Äsops im Leben Esopi Während im Esopus die Konzeption des Werktitels und des Titelblattes gegenüber dem Aesopus Dorpii eine gänzlich andere ist, folgt Waldis bei der Wiedergabe der Lebensbeschreibung Äsops der Vorlage im Aesopus Dorpii inhaltlich recht genau, so „bleibt die Vita im Esopus des Burkard Waldis (gedruckt 1548) im Vergleich mit der Vorlage (dem Planudes-Exzerpt in der Sammlung des Martinus Dorpius) ohne auffällige individuelle Kontur“.390 Begründet wird die Aufnahme der Lebensbeschreibung in einem 20 Verse umfassenden vorangestellten Kommentar mit dem Sammlungsanspruch des Autors, die Fabeln Äsops „gantz und gar“ (Leben Esopi, V. 6) zu bearbeiten. Er verschweigt die Vorlage für die Lebensbeschreibung, betont stattdessen seine Arbeit am Werk.391 Explizit setzt er sich mit seiner Vita von anderen Autoren ab, deren Namen er aber verschweigt. Diese würden mit der Vita „etlich viel wunders treiben“ (Leben Esopi, V. 2). An einer ausführ-

Tradition der rhetorischen memoria stehenden Vorstellung vom Text als Haus anknüpft“ (Kleinschmidt: Gradationen, S. 3). Kleinschmidt koppelt den Begriff mit der „Vorstellung von Intensität“ (Kleinschmidt: Gradationen, S. 3), mit dem Begriff der ‚graduellen Schwelle‘ sei es ermöglicht, „eine bis dahin nicht oder nur ansatzweise gestellte Anforderung zu erfüllen, ein nach Stärkegraden gegliedertes Kontinuum begrifflich zu erfassen“ (Kleinschmidt: Gradationen, S. 3). Nimmt man den Gedanken der graduellen Schwellen auf, lässt sich eine Schwierigkeit in der Bewertung der drei prominentesten Aussagen zur literarischen Tätigkeit beschreiben. Die Exkurse zur Autortätigkeit sind dann auf verschiedenen Schwellen anzutreffen. Der am eindeutigsten als Autorkommentar zu identifizierende Text, die Vorrede, liegt klar außerhalb des Kerntextes. Die zweite zu Beginn des Leben Esopi ist am Anfang eines Textes eingeordnet, der noch nicht Teil der Fabeltexte ist, aber in klarer Relation, sogar Abhängigkeit zu den Fabeln selbst steht, da hier die Lebensgeschichte des vermeintlichen Gattungsgründers erzählt wird. Diese Aussagen sind nicht an einen Namen gebunden. Die letzten Selbstaussagen zur literarischen Tätigkeit sind Teil der Affabulatio der letzten Fabel. Hierbei wird von Burcardus Waldis in der dritten Person gesprochen. 390 Herfried Vögel: Natur, Gesellschaft, Moral und die Ambivalenz der Sprache in Fabeln des Erasmus Alberus. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Wolfgang Harms u. a. Stuttgart 2003, S. 207–223, hier S. 214. 391 „Hab ich zu fassen auch gedacht“ (Leben Esopi, V. 3), „Hab ich nicht wllen vnderlassen“ (Leben Esopi, V. 19).  

142

2 Äsopische Autorisierung

lichen Wiedergabe aller bekannten Episoden aus Äsops Leben ist er nicht interessiert.392 Kürze ist die mehrfach wiederholte Maxime für die Bearbeitung der Lebensbeschreibung. Nicht erwähnt wird, dass bereits die Vorlage gekürzt ist.393 Stattdessen sei es der Autor Waldis, der, so Beginn und Ende des Erzähleinganges, die Vita „auffs krtzest zusamen bracht“ und nicht habe unterlassen wollen, diese „zufassen“ (Leben Esopi, V. 4; 20). Neben „Esopus Leben“ (Leben Esopi, V. 1) wird eine im Jahre 1548, zumal von einem protestantischen Verfasser, ambivalente Bezeichnung für eine ‚ausführliche Lebensbeschreibung‘ gewählt: „sein Legend“ (Leben Esopi, V. 20).394 Die ursprüngliche Wortbedeutung des lateinischen „Gerundivum[s] legenda (Neutrum Plural) ‚Texte‘, die man (vor)lesen soll‘, bezog sich zunächst auf Stücke für die liturgische Lesung, darunter schon im 7. Jh. auch auf Heiligenleben“.395 Tritt im 15. Jahrhundert daneben auch allgemein ‚Erzählung, Bericht‘, ist mit ‚Legende‘ im 16. Jahrhundert zumeist ein Erzähltyp genannt, der für gewöhnlich explizit zur Nachahmung des im Text Beschriebenen aufruft, der imitatio Christi durch die Heiligen. Nicht nur ist es allerdings ambivalent, einen Heiden, der von Fortuna begabt wird, weil heidnische Priester sie darum baten, als nachahmenswertes Vorbild darzustellen, auch ist die Legende im Rahmen der Heiligenverehrung von reformierten Zeitgenossen scharf angegriffen worden. Auch Luther kündigt in der Vorrede zu seiner Fabelsammlung eine „legend Esopi“ an.396 Der Begriff ‚Legende‘ hat bei Luther aber nachweislich auch eine explizit negative Konnotation, die sich bei der Benutzung der wie ‚Lüge‘ klingende Form Lügend in Bezug auf Heiligenlegenden zeigt. Er bezeichnet in der Lügend von St. Johanne Chrysostomo die Lebensbeschreibungen als „rechte lgenden, erstunckene, Teuffelische lgen und eitel verfurrerissche abgtterey“, mit der man die Christen betrogen habe.397 Ein solches Verständnis von Legende als ‚erlogen‘ bildet eine Verbindung zum Status der Fabel als Lügengeschichte, wie sie bereits bei Isidor von Sevilla als Merkmal der Gattung beschrieben wird. Bei Luther ist die Bezeichnung der Lebensbeschreibung als ‚Legende‘ abgestimmt mit seiner Einstellung zu Äsop. Die Ablehnung der Auffassung von Äsop

392 Zeitgenössisch bekannte lange Viten Äsops finden sich etwa bei Joachim Camerarius d. Ä. oder wie oben beschrieben bei Steinhöwel, welcher die Langfassung von Rimicius übersetzt. 393 So ist diese im Aesopus Dorpii auch mit „Aesopi vita brevissime“ überschrieben (Esopus. Bd. 2, S. 35). 394 So im Kommentar in Esopus. Bd. 2, S. 38. 395 Konrad Kunze: Legende. In: RL. Bd. 2, S. 389–393, S. 390. 396 Luther: Etliche Fabeln, Vorrede, S. 454. 397 Der Hinweis in Esopus. Bd. 2, S. 38 f., das Zitat aus Die Lügend von St. Johanne Chrysostomo. 1537. In: WA. Bd. 50, S. 53, Z. 26.  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

143

als historische Persönlichkeit, die sich auf der ausführlichen Vita voll von schwankhaften Episoden gründet, deckt sich mit der Ablehnung der Legende als erlogene Lebensbeschreibung. Bei Waldis hingegen finden sich keine ausgesprochenen Zweifel an der historischen Existenz Äsops. Dennoch wird der Geltungsanspruch der Vita durch den Zusatz von Waldis in der Ankündigung als legend Esopi ambivalent. Doch nicht nur die Erzählung von Äsop, auch das von Äsop Erzählte erweist sich als ambivalent. Vorgestellt wird Äsop als einer, dem nichts verborgen bleibt, dem alles verständlich ist. Er verfügt über solch verstandt vnd gemt/ Welch schon in aller weißheit blt/ Also verstendig vnd erfndig Zu allem gedicht gar außbndig/ Das jm von allem nichts entstndt Welchs er nit het außforschen kndt (Leben Esopi, V. 43–48).

Diese Fähigkeiten stehen jedoch in Widerspruch zu seiner sozialen Stellung als Sklave: Esopus ist auß Phrigia Geborn vom Fleck Amoria Ein gekauffter Knecht/ leybeigen (Leben Esopi, V. 21–24).

Seine leibliche Unfreiheit wird als gegensätzlich zur Konstitution seines Geistes beschrieben: Doch thet sich sein gemt erzeigen Als wer er frey vnd vnuerrckt Zu aller weißheit wol geschickt (Leben Esopi, V. 24–26).

Seine Weisheit steht auch im Gegensatz zu seiner körperlichen Erscheinung, er ist „von leib nun gantz vnd gar | Vngestalt/ vnd so gar scheußlich“ (Leben Esopi, V. 41 f.). Es folgt die ausführliche traditionelle Beschreibung seiner Hässlichkeit, wie sie auch in der Illustration von Steinhöwel bildlich dargestellt ist und welche Anlass seiner gesellschaftlichen Verachtung ist:  

Ward doch von jederman veracht Das macht das er so vngeschlacht Von Leib/ am Hals het er ein Kropff Ein grossen/ schwartz/ spitzigen Kopff Ein breite Nasen/ grosse lefftzen Die stetes von einander glefftzen/ Ein kurtzen Hals/ vnd grossen Bauch

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2 Äsopische Autorisierung

Gleich wie ein auffgeblaßner schlauch Ein grossen puckel auff dem rucken Derhalb er sich mußt stetes bucken (Leben Esopi, V. 27–36).

Als schlimmste Eigenschaft wird aber beschrieben, dass seine körperliche Beschaffenheit zugleich verhindert, dass die Weisheit Äsops schon zu Beginn der Vita sprachlich wirken kann: Das bsest so er an jm het/ War bse sprach/ langsame red/ Stamlet mit heyßer bser sprach Solchs war das grse vngemach (Leben Esopi, V. 37–40).

Die erste Episode der Vita veranschaulicht, dass Äsop schon bevor er von Fortuna mit einer „schne[n] sprach“ (ebd., V. 107) ausgestattet wird, seine geistigen Fähigkeiten nutzen kann. Nonverbal gelingt es ihm durch eine List, die Lügen von Agathopodi, einem ihm übergeordneten Sklaven, aufzudecken.398 In der nächsten Episode erweist er sich als ‚Weiser‘, als einer der die richtigen Wege ‚weisen‘ kann, als er verirrte Priester der Diane erst verköstigt und ihnen danach hilft, zur Stadt zu kommen.399 Auf deren Dankgebete hin wird Äsop, während er schläft, im Traum von Fortuna begabt. Hierbei ist es wiederum die Weisheit, die bei der Sprachbegabung betont wird. Neu ist nach dem Aufwachen die Fähigkeit der Fabelauslegung:400

398 Äsop wurde bezichtigt, Feigen, die für den Herrn bestimmt waren, gegessen zu haben. Indem er dafür sorgt, dass er und die Ankläger warmes Wasser trinken, kann er seine Unschuld und die Intrige beweisen. Während er wegen des warmen Wassers einen klaren Mageninhalt erbricht, zeigt der Mageninhalt seines Vorstehers und dessen Gefährten, dass sie ihm diese Tat anhängen wollten. Wortwörtlich wird hier das Innere nach Außen gekehrt. Es kommt wie auch beim Fabelerzählen selbst die Wahrheit ans Licht. Schon ohne Sprache erweist sich Äsop als fähig, Verborgenes aufzudecken, Lügen sichtbar zu machen und zu überwinden. Zu dieser Episode bei Steinhöwel siehe Schilling: Macht und Ohnmacht der Sprache, S. 43. 399 Leben Esopi, V. 98: „Darnach er jn die wege weiset“ sowie in der Bitte der verirrten Priester: „Baten/ das er jn weist den weg“ (ebd., V. 93). 400 Die Begabung mit Weisheit, obwohl diese Äsop bereits zugesprochen ist, und die Koppelung an die Fähigkeit der Fabelauslegung in der Begabungsszene sind auffällig. Im Kommentar der neuesten Esopus-Edition wird dies durch die lateinische Differenzierung des Weisheitsbegriffes erklärt: „Die enge Koppelung von Weisheit und der Kunst die Fabeln aus zu legen (V. 110) ist möglicherweise vor dem Hintergrund der in der Frühen Neuzeit üblichen Unterscheidung zwischen prudentia (Lebensklugheit) und einer nicht unmittelbar anwendungsbezogenen sapientia (Weisheit) zu lesen. Befähigte seine angeborene prudentia Äsop dazu, Listen zu ersinnen (vgl. V. 76; 87), so macht ihn erst göttliche Hilfe zum Begründer der kommunikativen Technik, Sachverhalte im Licht von Fabeln zu interpretieren, wodurch er dann neben die

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

145

Auch von der zeit an/ vnd darnach/ Ward sich gros Weisheit in jm regen/ Vnd Kunst die Fabeln aus zu legen (Leben Esopi, V. 108–110).

Offen gelassen ist, ob es sich bei Fabeln, die Äsop auslegt, um eigene Erfindungen handelt. Die Fähigkeit des Fabelerzählens und -deutens ist, anders als in der Steinhöwelschen Langfassung, in den weiteren Episoden nicht von Bedeutung. Erzählt wird aber von den Folgen der Sprachbegabung und von der Reaktion auf die Weisheit, die nun auch in der Umwelt bemerkt wird. Es bleibt nicht lange unentdeckt, dass Äsop „hinfrder an der redt | Vnnd sprach/ gar keinen mangel het“ (Leben Esopi, V. 113 f.). Aus Furcht, Äsop könne ihn vor seinem Herrn verklagen, beschließt Zenas, der „Amptman über die Ackerleut“ (Leben Esopi, V. 117), ein Verwandter des Herrn, Äsop fälschlich vor diesem anzuklagen. Die Metapher des Wege-Weisens wird hierbei ins Negative verkehrt: „Dacht/ er [Zenas] wolt jm den weg vermachen“ (Leben Esopi, V. 121). Die Sprachbegabung schützt Äsop nicht vor weiteren Intrigen, hilft ihm aber im Weiteren, diese unversehrt zu überstehen. Ohne Anhörung wird Äsop an einen zufällig vorbeikommenden Händler verkauft. Hierbei ist es Äsop selbst, der den Verkauf zustande bringt. Abgestoßen von seinem hässlichen Äußeren geht der Händler nach dem Angebot Zenas zuerst im Zorn davon, aufgrund seiner Redekünste gelingt es Äsop jedoch, gerade sein abstoßendes Äußeres ironisch als Verkaufsargument zu präsentieren:  

Esopus sprach/ Herr kaufft doch mich Es wird zwar nicht gerewen dich Wer weis was ich dir noch mcht nutzen? Setzest mich fr ein Faßnacht putzen Hastu du daheime bse kind Die zu weinen geneiget sind Woltst mir dieselben Kind vertrwen Jch weiß sie solln sich fr mir schewen/ Der Kauffman lacht/ vnd sprach wie thewr Schatztu das Vas so ungehewr? (Leben Esopi, V. 145–154).

Bei dem Weiterverkauf auf dem Markt in Ephesus ist es wiederum Lachen, diesmal von Äsop selbst, welches die Aufmerksamkeit auf ihn zieht. Als seine zum Verkauf angebotenen Mitsklaven, ein Musicus und ein Grammaticus, auf die Frage, was sie denn könnten, mit „alles“ (Leben Esopi, V. 184) antworten, lacht anderen Gewährsmänner antiker Weisheit gerückt wird. Streng ist diese Unterscheidung allerdings nicht durchgehalten“ (Esopus. Bd. 2, S. 39). Unklar bleibt auch, wie die Beschreibung der Weisheit in V. 43 f. „Also verstendig vnd erfndig | Zu allem gedicht gar außbndig“ zu verstehen ist.  

146

2 Äsopische Autorisierung

Äsop. Es sind die Schüler des am Kauf interessierten Gelehrten Xanthus, welche daraufhin ihren Lehrer drängen, Äsop zu kaufen. Zwar handelt es sich bei Äsop nicht um einen klassischen Schelm, doch gibt es Episoden, in denen er schelmenhafte Züge trägt. Am deutlichsten ist dies während der Wechselrede zwischen Xanthus und Äsop, bevor Äsop verkauft wird. Äsop antwortet absichtlich auf alle Fragen wörtlich und verdreht damit diese ad absurdum. Die Schüler von Xanthus interpretieren diese aber als „hfflich antwort“ (Leben Esopi, V. 219). Äsops Antworten ähneln in dieser Hinsicht stark dem Schwank oder der zur Zeiten der Veröffentlichung des Esopus beliebten Fazetie. Wiewohl sie schelmenhaft sind, lassen die Antworten Äsop nicht als den groben Possenreißer erscheinen, als der er etwa bei Steinhöwel in späteren Episoden dargestellt wird. Im Gegenteil erscheint gerade in der letzten Passage in der Vita bei Waldis der Gelehrte Xanthus als grober Mensch.401 Gestrichen sind im Esopus von Waldis die derben Episoden mit den Streichen Äsops. Stattdessen folgen mit den „etlich Sentenz“ (Leben Esopi, V. 243) verkürzte Lehren Äsops, von denen etwa die erste rät, Gott über alle Dinge zu stellen:402 Sonst sagt man viel seltzamer bossen Die ich kurtz halb wil bleiben lossen Allein das er etlich Sententz Seind wert das mans mit Reuerentz Jn allen ehren acht vnd halt Wie denn etlich sein der gestalt/ Hab lieb Gott vber alle ding/ Vnd halt in ehren den Kning/ Wer wol thut den soltu nicht hassen/ Vnd solt dich deiner zungen massen/ Was heimlich ist soltu den Frawen Bey deinem leibe nicht vertrawen/ Schem dichs nicht/ laß dirs sein ein ehr

401 „Die Sonn schein heiß/ darnach nicht lang | Xanthus pruntzet in dem gang/ | Esopus sahs/ Sprach weh meim leib | Bey diesem Herrn frwar nicht bleib | Der der Natur nicht leßt jr recht | Was wird geschehen mir armen Knecht | Wenns sich begeben wird ein mol | Das ich etwas außrichten sol | Vnd will mich auff das hchst befleissen | Wird ich im lauffen mssen scheissen“ (Leben Esopi, V. 231–240). Die Begründung Xanthusʼ, die etwa bei Steinhöwel wiedergegeben wird und die vorführt, dass ein solch derbes Verhalten zumindest begründet werden kann, ist bei Waldis gestrichen. Eine solche Darstellung von Gelehrten lässt sich in Verbindung zur Vorrede bringen, in welcher der Esopus gerade nicht den Gelehrten gewidmet wird. Diese sind die verkehrten Rezipienten des Fabelwerks. Die Darstellung von Xanthus, dem einzigen Gelehrten in der Vita, fügt sich in die reformatorische Polemik von den Gelehrten, den Verkehrten. 402 Diesem Rat wird im Esopus auch Folge geleistet, indem an erster Stelle im ersten Vers der ersten Fabel GOTT steht und in Majuskeln gesetzt ist.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Das du lernst alle tage mehr/ Thu nicht das dich hernach betrb/ Vnd wolzuthun dich stetes jeb. Solch schne Sprch gab er stets vor Vnd viel ander heilsamer lahr (Leben Esopi, V. 241–258).

Äsop tritt in dieser Vita nicht als Fabelerzähler auf, weder wird er als solcher dargestellt noch werden Fabeln von ihm wiedergegeben. Die Weisheit Äsops bleibt in ihrem Wirken eine durchweg positive. Zwar war sie Anlass für den ersten Verkauf Äsops, doch werden die Streiche und schwankhaften Possen nicht wiedergegeben, die Äsops Weisheit ins Zwielicht rücken würden. Die Geschehnisse während seiner Dienstzeit bei Xanthus, die daraus folgende Freilassung sowie seine Reisen, Abenteuer wie auch das Aufschreiben der Fabeln für König Krösus, wie sie bei Steinhöwel berichtet werden, werden ausgelassen oder nur knapp angedeutet. Gerade der Anschluss an das Fabelkorpus über deren Verschriftlichung durch Äsop fällt aus, auch eine potenzielle Anbindung an die Schrifttradition wird ausgeschlagen. Es wird nur darüber informiert, Äsop habe nach seiner Zeit bei Xanthus in Samos große Gunst „Durch sein geschickligkeyt vnd Kunst“ (Leben Esopi, V. 261) erworben. Die Friedensverhandlung mit Krösus wird genannt und die Ehrung Äsops durch Lycerus, der ihm eine Säule aufstellen lässt. Die Lehrtätigkeit Äsops wird lediglich im Rahmen des Berichtes von seinem Tod genannt. Nach seiner erfolgreichen Verhandlung mit König Krösus wird sie ihm bei den Bewohnern von Delphi zum Verhängnis: Da er sie lang het vnderweißt Mit guter ler zum besten greitzt Gaben sie jm das letste brodt Von einem Felß gestrtzet todt (Leben Esopi, V. 283–286).403

Beschlossen wird das Leben Esopi durch einen Verweis auf die Rache Gottes als Reaktion auf den Tod Äsops. Diese geht in der sprichwortartigen, allgemeinen Rechtfertigung, dass jeder Mord durch Gott auf Erden gestraft wird, über die Vorlage hinaus:404

403 Unerzählt bleibt in dieser Fassung die Antwort Äsops darauf, dass er in Delphi nicht mit Ehren empfangen wird. In der Langfassung von Steinhöwel findet er hingegen deutliche Worte, die die Delphier zu ihrer Intrige reizen: „Ir man von Delphen, ir synt gelych dem holcz, daz von dem mer an daz gestad würt geworffen. Die wyl das ferr ist, so bedunkt es über groß syn, wann es aber nahet, so sicht man syn klainy. Also do ich ferr von eüwer statt waz, vermaint ich, ir wären die fürnembsten ob allem volk, aber nun erkenn ich üch vil nahet die ungeschiksten syn“ (Steinhöwels Äsop, S. 73). 404 Dass hierbei in Sinneinheiten unterschieden wird, zeigt sich auch durch die Interpunktion. Ist die Virgel das häufiger gebrauchte Satzzeichen, um Sätze und Sinneinheiten zu unterscheiden,

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2 Äsopische Autorisierung

Da folget bald ein Pestilentz Nach Gots gericht/ vnd recht sententz Vber sie/ drumb das an dem Mann Hetten ein solchen Mord gethan/ Denn Gott verschaffts also auff erden Das aller Mord gestrafft mus werden (Leben Esopi, V. 287–292).

Was von Äsop laut dieser Lebensbeschreibung auf den heutigen Leser gekommen ist und was man „mit Reuerentz | Jn allen ehren acht[en] vnd halt[en]“ (Leben Esopi, V. 244 f.) soll, sind die „etlich Sententz“. Nicht der Schelm Äsop wie bei Steinhöwel wird vorgestellt:  

Waldis konzentriert sich auf den Handlungsrahmen des Äsop-Romans und lässt die zahlreichen Schwänke und Streiche des Sklaven aus. Dadurch zeichnet er ein weniger ambivalentes Bild Äsops, als der Roman es vorgibt und wie es etwa von Joachim Camerarius d. Ä. und in der Folge dann teilweise von Erasmus Alberus aufgenommen wird. Bei Waldis ist Äsop ein Ränken ausgesetzter Sklave, der sich mit seiner Lebensklugheit verschiedener Nachstellungen und Beschuldigungen zu erwehren hat.405

Statt eines Fabelerzählers wird hier ein Schöpfer von Sentenzen und Sprichwörtern vorgestellt. Es ist die Weisheit, die ihn vor allem charakterisiert und die wiederholt betont wird. Zugleich wird Äsop als gottesfürchtiger Mann gezeigt, sei es durch sein Verhalten gegenüber den Priestern der Diane oder durch die Sentenzen, die Gott selbst an die erste Stelle rücken. Wie nah seiner Vorlage Waldis dabei auch folgt, so lassen sich doch kleine, aber signifikante Veränderungen gegenüber der Vorlage ausmachen. Hat das Leben Esopi mit dem sich als Autor darstellenden Waldis begonnen, ist es Gott, mit dem das Leben Esopi beschlossen wird. Die letzten beiden Verse des Leben Esopi sind Zusätze von Waldis. Mit dem Verweis auf den gerechten, strafenden Gott wird Äsop und seine Lebensgeschichte eine Exempelgeschichte für das Wirken Gottes. Zugleich wird durch diese Ergänzung eine Verbindung zur Einleitung der ersten Fabel hergestellt, welche mit einem Verweis auf die Schöpfung Gottes beginnt.

wird der Punkt nur beim Abschluss von größeren Sinneinheiten gebraucht. So im Leben Esopi etwa in V. 8, der erste Teil des einleitenden Autorkommentars, sowie in V. 18, welcher den gesamten einleitenden Teil abschließt. In V. 240 wird ein Punkt vor der letzten ausführlicheren Episode und vor dem Erzählereinschub und den Sentenzen gesetzt. Am Ende der Lebensbeschreibung wird ein Punkt nach dem Tod Äsops und zum Abschluss der Vita gesetzt. 405 Esopus. Bd. 2, S. 38.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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2.2.2 Die Titelholzschnitte des Esopus 2.2.2.1 Der närrische Titelholzschnitt der Erstausgabe Die Druckgeschichte des Esopus gibt en miniature die Geschichte der Frankfurter Offizin wieder.406 Die erste Ausgabe von 1548 (A)407 informiert im Kolophon am Ende des Werkes über die Druckherstellung „zu Franckfurdt am Mayn/ durch Hermann Glfferichen/ in der Schnurgassen zum Krug“. Hermann Gülfferich hatte durch die Heirat der Witwe Margarethe Han am 5. Juli 1540 das Bürgerrecht in Frankfurt erhalten, der Schwur des Bürgereides ist für den 14. August nachweisbar. Im Herbst 1542 ist die Aufnahme der Drucktätigkeit bezeugt. Am 13.8.1544 hatte er von den Gläubigern seines Lehnsherrn Rudel das Haus „zum Krug“ in der Sonnenbergergasse erworben, nahm in sein Kolophon aber die angrenzende und bedeutendere Schnurgasse auf.408 Er führte die Druckerei bis zu seinem Tode am 28.6.1554, sodass der Druck der Erstausgabe des Esopus in seiner Verantwortung gelegen haben muss. Die zweite Auflage des Esopus von 1555 (B) gibt wiederum im Kolophon am Ende des Werkes auch über den Druckerwechsel Aufschluss: „Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ Durch Hermann Glfferichs seligen/ Erben“. Seine Witwe Margarethe hatte das Geschäft übernommen, ihr vierter Ehemann (Heirat am 12.2.1555), der Buchbinder und Drucker Josef Gran, brachte 1555 eigenständig Drucke heraus.409 Zu gleicher Zeit war bereits Gülfferichs Stiefsohn Weigand Han (aus der zweiten Ehe von Margarethe mit Georg Han) für die Erben tätig, bevor er die Druckerei ein Jahr später übernahm. Wer genau den Druck der zweiten Auflage des Esopus für die Erben zu verantworten hatte, ob Gran oder bereits Han, ist ungewiss. Erst ab 1556 sind die ersten Drucke mit Hans Kolophon nachweisbar, so auch in der dritten Auflage des Esopus von 1557 (C): „Gedruckt zu Franckfurdt am Mayn/ durch Wygandt Han in der Schnurgassen zum Krug“. Han führte die Offizin alleine bis 1561, ab dann ist seine Zusammenarbeit mit David Zöpfel nachweisbar. Anfang des Jahres verkauften er und seine Mutter das Haus „zum Krug“, Druckutensilien und Bücher an den Drucker Georg Rab d. Ä. und gingen 1562 einen Gesellschaftervertrag

406 Zu den folgenden Informationen zu den Inhabern der Frankfurter Offizin siehe auch Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 51), hier S. 228–232 sowie Imke Schmidt: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich-Han Weigand Han-Erben. Eine literaturhistorische und buchgeschichtliche Untersuchung zum Buchdruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 26), hier S. 28–37. 407 Auf die Erstausgabe wird mit der Sigle A verwiesen. Die Siglen sind eingeführt in Kurz: Esopus, S. XVII und übernommen in Lieb: Erzählen, S. 244 sowie Esopus. Bd. 2, S. 17. 408 Siehe Reske: Buchdrucker, S. 228. 409 Ebd., S. 229.

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mit Rab und seiner Frau ein. Während Han das Papier lieferte, bedruckte Rab dieses. Hans Tod ist im Herbst 1561 anzusetzen. Seine Erben übernahmen dann den Gesellschafteranteil der Druckervereinigung, die nach dem Einstieg von Sigmund Feyerabend im Jahr 1563 „Companei“ genannt wurde und bis 1571 bestand. 1565 heiratete Katharina, die Witwe Hans, den Jenaer Drucker Thomas Rebart, ließ sich im gleichen Jahr ihr Erbteil auszahlen und schied aus der „Cumpanei“ aus. Die „Weigand Han Erben“ waren nunmehr „die Witwe Hermann Gülfferichs und die Kinder Weigand Hans, für die Georg Rab bis 1568 [dem Todesjahr von Margarethe Gülfferich] druckte“.410 Die letzte in dieser Offizin entstandene Ausgabe, die heute noch nachweisbar ist, stammt aus dieser Zeit, genauer aus dem Jahre 1565 (E). Als einzige hat sie den doppelten Hinweis auf die Offizin sowohl im Kolophon als auch auf dem Titelblatt: „Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ bey Georg Raben vnd Weigand Hanen Erben“. Schmidt verzeichnet daneben noch eine weitere, angeblich im Original eingesehene Ausgabe von 1568.411 Das der Angabe zugrundeliegende Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek mit der Signatur 22.717-A ist jedoch nicht (mehr) nachweisbar. Verschollen ist auch ein weiterer Druck (D).412 Trotz der in jeder Auflage wechselnden Verantwortlichen bleibt der Textbestand abgesehen von leichten Korrekturen hinsichtlich Druckfehler und orthographischer Verbesserungen fest.413 Duntze weist darauf hin, dass durch die Untersuchung von Schmidt414 ein solches Ergebnis auch auf das Gesamtprogramm der Druckerei übertragen werden kann: „Dabei kann sie zeigen, dass das Programm im Laufe der Jahre durch die verschiedenen Familienmitglieder, die die Firma

410 Schmidt: Bücher aus der Frankfurter Offizin, S. 36. 411 „[R] Esopus || [S] Gantz New gemacht/ vnd || [R] in Reimen gefaßt. Mit sampt || Hundert Newer Fabeln/|| [S] vormals im Druck nicht ge || sehen/ noch außgan= || gen/ Durch || Burcardum Waldis. [Holzschnitt] || M.D.LXVIII. || A. E.: Gedruckt zu Franckfurt || am Mayn/ bey Georg Ra= || ben vnd Weygand Hanen || Erben.“ Zitiert nach Schmidt: Bücher aus der Frankfurter Offizin, S. 521. 412 „Esopus. Gantz new gemacht vnd in Reimen gefaszt. Mit sampt Hundert newer Fabeln, vormals in [!] Druck nicht gesehen, noch auszgangen. Durch Burcardum Waldis. (Frankfurt am Main durch Wygand Han) [o. J.; zwischen 1556 und 1561]“. Die Ausgabe wird von Kurz aufgeführt, siehe Kurz: Esopus. Bd. 1, S. XVII. Zu finden ist sie auch bei Erhard Heinrich Georg Klöss: Der Frankfurter Drucker-Verleger Weigand Han und seine Erben. Ein Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Buchgewerbes im 16. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2 (1960), S. 309–374, S. 350, als Exemplar unter der Nr. 43; Der Hinweis auch in Esopus. Bd. 2, S. 17 und bei Lieb: Erzählen, S. 244. Die Titelangabe folgt dem bibliographischen Eintrag im Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts unter der Nummer A 555, dort wird jedoch die Jahresangabe 1555 verzeichnet. Das einzige Exemplar, welches vor 1945 in der Landesbibliothek Kassel nachweisbar war, scheint im zweiten Weltkrieg verbrannt zu sein. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Exemplar auch den Druck C repräsentiert haben könnte, siehe Esopus. Bd. 2, S. 17. 413 Vgl. das Variantenverzeichnis in Esopus. Bd. 2, S. 359–367. 414 Schmidt: Bücher aus der Frankfurter Offizin.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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leiteten, zwar leicht modifiziert wurde, in seiner Grundausrichtung jedoch gleich blieb“.415 Die letzte Ausgabe des Esopus im 16. Jahrhundert stammt von 1584 und wurde „durch Nicolaum Basseum“ (so das Kolophon) gedruckt. Nikolaus Bassée, der bereits 1561/1562 mit dem Drucken begonnen hatte und nach einem zweijährigen Aufenthalt in Worms am 20.7.1564 um Wiederaufnahme in Frankfurt gebeten hatte, ist bis 1598 als Drucker nachweisbar. Am 16.3.1575 erwarb er von Johann Feyerabend Teile des Verlages von Sigmund Feyerabend.416 Die auffälligste Veränderung, die direkt Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Gesamtwerkes hat, ist der Wechsel des Titelbildes von der Ausgabe von 1557 (C) zur Ausgabe von 1565 (E). Der unterhalb des Titels eingefügte Holzschnitt der ersten drei Ausgaben des Esopus vermag es, bei der ersten Betrachtung zu irritieren, da er nicht auf eine Art und Weise von Titelillustration zurückgreift, wie es bis 1548 für deutschsprachige Fabelsammlungen üblich geworden ist. Es handelt sich nicht um eine Darstellung des Autors, wie sie sich in den mittelalterlichen Illustrationen und auch im Druck des Edelsteines von Boner oder zum Buch der Beispiele der alten Weisen von Anton Pforr finden.417 Auch ist es keine eindeutige Abbildung des Sklaven Äsop, wie sie seit der Fabelsammlung Steinhöwels im Druck traditionsstiftend geworden ist,418 noch sind etwa Fabeltiere abgebildet. Stattdessen ist eine männliche Narrenfigur zu sehen, die in einer Wildnis mit Bergen im Hintergrund, von drei (wohl männlichen) Kindern (zwei rechts, eines auf der linken Seite) begleitet wird. Der Narr reitet auf einem verkehrt herum gehaltenen Stecken mit eingeschnitztem Gesicht am oberen Ende, einem stilisierten Steckenpferd. Unter die Achsel des linken Armes, dessen offene Hand nach oben gerichtet ist, ist ein weiterer Stab geklemmt, der zur vorderen Seite hin eine Art Rad aufweist. Dieses wurde einerseits als Klapper bzw. Ratsche, andererseits als Windrad gedeutet.419 Die Kleidung des Narren besteht aus einem kurzen, ärmlich zerrissenem Hemd und einem einfachen Schuh auf dem rechten Fuß. Der linke Schuh fehlt ganz. Vervollständigt wird die Ausstattung durch eine ausladende Federkrone auf dem Kopf. Während das

415 Oliver Duntze: Verlagsbuchhandel und verbreitender Buchhandel von der Erfindung des Buchdrucks bis 1700. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd: 1: Theorie und Forschung. Hg. von Ursula Rautenberg. Berlin, New York 2010, S. 203–256, hier S. 229. 416 Siehe Reske: Buchdrucker, S. 233. 417 Für zahlreiche Beispiele sowie Abbildungen siehe Wagner: Gattungsstifter sowie Obermaier: Verhältnis von Titelbild und Textprogramm. 418 Siehe Wagner: Gattungsstifter, für Ausführungen zu Illustrationen in Handschriften der Fabeln von Marie de France, dem Edelstein von Boner sowie dem Erstdruck der Fabelsammlung von Steinhöwel. Zahlreiche Beispiele aus der Druckgeschichte der Äsop-Abbildung finden sich in Bodemann: Der hochbermte fabeltichter Esopvs. Für eine Zusammenstellung von illustrierten Äsop-Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts, siehe Küster: Aesop-Ausgaben. 419 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 31.

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2 Äsopische Autorisierung

Abb. 2: Titelblatt der Erstausgabe des Esopus von 1548 (A). Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 8° Poet.Germ. II, 2808 Rara.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Steckenpferd ein traditionelles Narrenattribut ist, sind die Federkrone und das Windrad selten nachweisbar. Auffällig ist auch die Begleitung durch die Kinder, die aufgrund ihrer Gesten eher abweisend bis aggressiv als dem Narren gewogen wirken. Die Interpretation des Holzschnittes ergibt einen ähnlichen Befund wie die Lektüre der Sammlung in Hinblick auf Erzähl- und Deutungsverfahren in den Fabeltexten: es eröffnet sich ein Angebot verschiedener Deutungsmöglichkeiten. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, eröffnen sich diese im Falle der Illustration, je nachdem welche Elemente der Darstellung und welche Kontexte in die Interpretation einbezogen werden. Schon was in der Szene geschieht, kann unterschiedlich aufgefasst und bewertet werden. Auf unterschiedliche Weise deuten lassen sich jeweils die Figuren – der Narr und die Kinder –, mit ihren Attributen sowie die Beziehung, in welche die Figuren zueinander gesetzt werden. Die Anwesenheit der Kinder kann als freundliche Begleitung oder als feindliche Vertreibung des Narren interpretiert werden. Die Figuren, sowohl der Narr als auch die Kinder, können mit bildexternen Größen wie dem sagenhaften Gattungsstifter Äsop, dem Autor der Fabelsammlung Burkard Waldis oder dem Betrachter und potenziellen Leser identifiziert werden. Das Bild lässt sich mit den verschiedenen Kotexten in der Fabelsammlung, sei es die Darstellung Äsops im Leben Esopi, die Peri- oder die Fabeltexte, verknüpfen. Bezieht man literatur- und kulturgeschichtliche Kontexte mit ein, kann für eine Interpretation die zeitgenössische Bedeutung und Verwendung von Narren im Allgemeinen berücksichtigt werden, oder, da es sich nicht um eine spezifische Art der Narrendarstellung handelt, nach dem Ursprung und der Verbreitung genau dieser Darstellungsweise gefragt werden. Je nach Berücksichtigung und Kombination der genannten Aspekte ergeben sich unterschiedliche Interpretationen, die im Folgenden näher ausgeführt werden. Nimmt man allein das Titelblatt der Fabelsammlung, auf dem der Werktitel in leuchtendem Rot Esopus zugleich den Sklaven Äsop bezeichnet, als Grundlage einer Deutung, mag man zu dem Ergebnis der älteren Forschung gelangen. So wurde die abgebildete Narrenfigur von August Wünsche im Jahr 1897 mit dem darüber angekündigten Esopus identifiziert: Auf dem Titelblatt reitet Esopus in Eile als Narr auf dem Steckenpferde durch die Länder, die eine Hand hat er zum Lehrvortrage erhoben, ihm voraus eilt ein Knabe, während zwei andere ihm folgen. Durch diese sinnige Illustration wollte der Verfasser sicherlich andeuten, dass die Menschen viel eher von einem Narren die Wahrheit sagen mögen und sie zu Herzen nehmen, als von irgend einer anderen Person, wess Ranges und Standes sie auch immer sei.420

420 August Wünsche: Die Pflanzenfabel in der mittelalterlichen deutschen Litteratur. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 11 (1897), S. 373–441, S. 399.

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2 Äsopische Autorisierung

Bestätigt sieht sich Wünsche durch Luthers Bewertung von Äsop. Dieser depotenziert Äsop, wie oben geschildert, als ein der Fabelsammlung vorangestellter Fastnachtsputz. Eine solche Interpretation berücksichtigt allerdings nicht, dass sich Luther bei dieser Bemerkung auf die Annahme der historischen Existenz Äsops, wie er in der Vita der Steinhöwelschen Fabelsammlung geschildert wird, bezieht. Auch blendet Wünsche damit die Darstellung Äsops im Leben Esopi von Waldis aus und geht auch nicht darauf ein, dass sich diese Interpretation mit Details der Abbildung reibt. Denn mitnichten reitet der Narr in Eile, stattdessen sitzt er verkehrt auf einem Steckenpferd. Denkt man sich die in der Momentaufnahme fixierte Bewegung des Narren ausgeführt zu Ende, so stolpert dieser oder kommt zumindest nur schwerlich voran. Auch spricht die eher aggressive Haltung der Kinder gegen eine erfolgreiche Lehrsituation. Nahezu ein Jahrhundert später kommt Ulrike Bodemann zu dem gleichen Ergebnis wie Wünsche: „Die Figur soll offensichtlich Aesop darstellen“.421 Zwar argumentiert sie mit dem Inhalt des Leben Esopi, indem sie auf die Szene in der Vita verweist, in welcher Äsop einem potenziellen Käufer sein erschreckendes Äußeres als ideale Kindererziehungsmaßnahme präsentiert: Wer weis was ich dir noch mcht nutzen? Setzest mich fr ein Faßnacht putzen Hastu daheime bse kind die zu weinen geneiget sind Wolst mir dieselben Kind vertrwen Jch weiß sie solln sich fr mir schewen (Leben Esopi, V. 147–152).

Dies wäre aber ein eingeschränkter Bezug auf Äsop, der die Ironie seiner Worte außer Acht lässt – es handelt sich um einen Scherz, den auch die Reaktion des Gegenübers, sein Lachen, als solchen ausweist. Es gibt zwar durchaus Überschneidungen bei den Abbildungen und der Gestaltung von Narrenfiguren im 16. Jahrhundert und Äsop, wie sein äußeres, missgebildetes Erscheinungsbild sowie die in den Langviten von ihm ausgehenden Schwänke, Späße und Schelmereien. Im Vergleich mit den Narrenfiguren im Sinne Brantscher Narren gibt es doch gerade hinsichtlich der geistigen Konstitution große Unterschiede. Auch stellt sich, wenn man im Narren Äsop sieht, die Frage, welche Geltung ihm und seinen Fabeln noch zugesprochen werden kann, wenn der Schöpfer der Fabeln als närrisch dargestellt wird, der von denjenigen, die von seinen Fabeln profitieren sollen, der Jugend, vertrieben wird. Die Gefahr, dass die Autorität Äsop durch seine Narrheiten an Geltung verlieren könnte, mag auch ein Grund gewesen sein, warum Waldis

421 Bodemann: Der hochbermte fabelticher Esopvs, S. 99.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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im Leben Esopi die Schilderung solcher „seltzamer bossen“ (Leben Esopi, V. 241) explizit ablehnt. Stattdessen werden Sentenzen, die auf Äsop zurückgehen sollen, wiedergegeben, wird Äsop als Urheber von Weisheiten dargestellt. Eine weitere Interpretation der Narrenfigur ergibt sich, wenn Textausschnitte aus der Fabelsammlung berücksichtigt werden. Eine solche leistet Vögel, der eine Verbindung zur Vorrede sowie zur Affabulatio der letzten Fabel zieht, in welcher der schlechte Zustand der Welt konstatiert wird. Er interpretiert den Protagonisten des Titelholzschnittes als einen Narr, der vor Kindern flieht, und sieht in diesen den in der Vorrede genannten Rezipienten der Sammlung, die Jugend. Diese komme dem Aufruf in der Affabulatio am Ende nach, in der Waldis „zur Vertreibung des Eigennutzes als Verursacher aller Sünden und Laster mahnt“.422 In der angesprochenen Affabulatio geht Waldis mit der Betrachtung des Eigennutzes auch auf den Zustand der Welt ein. Die Schilderung der verfallenen Welt erlaubt eine weitere Interpretation der Narrenfigur. So ist die Welt eine geistig närrische, sie gleicht in Altersdemenz, Bösartigkeit und in gotteslästerlichem Verhalten dem Narren in Ps 52, der nicht an Gott glaubt: So hats der Eygennutz durchecht An all jr macht so gar geschwecht Das sie Gott vnd sein wort auch lastert Jn snd vnd schandt so gar vergastert (IV 100,159–162).

Versteht man nun unter dem Narren des Titelholzschnittes die gealterte, moralisch, geistig und körperlich defekte Welt, lässt sich dies als Aufruf an die Jugend lesen, eine solche Welt mit ihren Narrheiten auszutreiben. Im letzten Interpretationsansatz soll der bisher in der Analyse des Bildes noch nicht berücksichtigte Ursprung und die Verbreitung der Narrenillustration miteinbezogen wird. Generell wird mit dem Narren eine in Mittelalter und Früher Neuzeit weitverbreitete und polysemantische Figur auf das Titelblatt aufgenommen. Um zu verstehen, wie polysemantisch der Titelholzschnitt des Esopus ist, stehen zunächst der Ursprung und verschiedene Ausformungen der Narrenfigur im 16. Jahrhundert im Mittelpunkt. In der Literatur sind Narren in diesem Jahrhundert häufig anzutreffen. Sie feixen traditionell im Fastnachtsspiel, finden über satirische Schriften wie Sebastian Brants Narrenschiff, der „unter Zustimmung und dem Beifall seiner Zeitgenossen, das allgemeine Narrentum der Menschheit zum Signum der Epoche erklärte“, mit Narrenschellen und Eselsohren Eingang in Predigtzyklen etwa bei Johannes Geiler von Kaysersberg oder in konfessionelle

422 Vögel: Natur, Gesellschaft, Moral, S. 214.

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2 Äsopische Autorisierung

Auseinandersetzungen wie in Murners Narrenbeschwörung.423 Mündlich kursieren Narren in Sprichwörtern und Redensarten. Sie finden als Erkrankte Eingang in medizinische Werke sowie Naturdarstellungen und werden an Adelshöfen als Hofnarren mit Narrenfreiheit gehalten. Im Kirchenjahr wird ihnen mit der Fastnachtszeit institutionell ein Dasein eingeräumt.424 Die Wurzeln der ‚Narrenidee‘425 reichen weit zurück in den Bereich antiker erkenntnistheoretischer Überlegungen sowie im Zuge der christlichen Aneignung solchen Gedankengutes in den religiösen Kontext der Gotteserkenntnis, der sich im biblischen Gegensatz von stultitia und sapientia konkretisiert. Die ethisch religiös negative Einschätzung der stultitia gründete sich im wesentlichen darauf, daß der Mensch durch den Sündenfall seiner ursprünglichen natürlichen Vollkommenheit beraubt worden sei und, als der Erbsünde unterworfen, eine entscheidende Schwächung seiner geistigen, sittlichen und religiösen Fähigkeiten und Gaben erfahren habe.426

Im 16. Jahrhundert zeigen sich die Narrheiten des Narren als auf weitere Bereiche des menschlichen Verhaltens ausgeweitet. Die Vorstellung des Narren ist seit 1494 stark geprägt von den Narrendarstellungen im Narrenschiff: Der Brantsche Narr ist in jeder Hinsicht das negative Korrelat zu all dem, was man in der Lehrdichtung dieser Zeit vom Menschen erhoffte, erwartete und forderte und wozu man ihn mit Ernst und unerbittlicher Strenge erziehen wollte; er ist die lebendige Verkörperung aller gefährlichen und verderbenbringenden Eigenschaften, vor denen unermüdlich gewarnt, die mit glühendem Eifer verfolgt und mit harten Strafen bedacht wurden.427

Die Narrenfigur entwickelte sich mit ihrer Ausweitung auf alle Stände und den verschiedensten moralischen und rationalen Verfehlungen „zum Inbegriff menschlicher Naivität, Hybris und Ignoranz gegen Gott, ja sogar der Erbsünde schlechthin“.428 Ein Narr auf dem Titelblatt einer äsopischen Sammlung kann daher mit einer gewissen Provokanz jeden Betrachter und potenziellen Rezipienten des Werkes darstellen, denn jedem Menschen können – spätestens seit dem 423 Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus. Wiesbaden 1966, hier S. 55. 424 Es ist kein Zufall, dass die Erstausgabe des Narrenschiffes, wie das „End des narrenschiffs“ ausweist, „vff die Basenaht/ die man der narren | kirchwich nennet“ erschien, siehe Brant: Das Narrenschiff, S. 317. 425 Der Begriff geht auf Barbara Könnecker zurück, vgl. den Titel ihres Buches zum Ursprung und zur Veränderung des Narrenkonzepts: „Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus“. 426 Könneker: Narrenidee, S. 9 f. 427 Ebd., S. 49. 428 Werner Mezger: Narr. In: EM. Bd. 9, Sp. 1202–1210, hier Sp. 1195.  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Narrenschiff literarisch etabliert – die verschiedensten Narrheiten in Formen von lasterhaften Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Um 1548 wäre ein Betrachter des Titelblattes eingeübt, nach dem Muster des Narrenschiffes den Narren mit dem Leser des Werks in Verbindung zu bringen. Eine solche Lesart, die den Narren als möglichen Leser sähe, ergäbe eine Parallele zur Deutung der ersten Fabel, von Hahn und Perle. In der Affabulatio wird der Hahn, der die im Mist gefundene Perle nicht zu schätzen weiß, als Narr gedeutet: Die vnuerstendign merck beim Han/ Kunst/ Weißheit zeigt die Perlen an/ Ein Narr achtet nicht grosser Kunst Auch ist die straff an jm vmbsunst (I 1,31–34).

Die „Kunst“ kann an dieser Stelle, auch durch Einübung durch die traditionellen Deutungen dieser Fabel in Mittelalter und Früher Neuzeit, im Sinne von Bildung und Wissen auf die Fabeln der Sammlung bezogen werden. Der ausgetriebene Narr wäre der abgewiesene Leser, der Unverbesserliche, der die Weisheit der Fabeln nicht zu schätzen weiß. Die Vertreibung durch die Kinder könnte als erwünschtes Ergebnis der Lektüre des in der Vorrede imaginierten Lesers, bevorzugt einer aus der „lieben Jugent“ (Vorrede, Z. 29), verstanden werden, der durch Fleiß und Zeitaufwand selbst den Nutzen „oder frchte“ (Vorrede, Z. 26) der Fabeln erkennen würde. Auch die weiteren Verse der Affabulatio der ersten Fabel lassen sich in diese Lesart integrieren. So folgen auf die Auslegung des Hahns und der Perle als Narr bzw. als die Kunst weitere Beispiele, wie sich Ungleiches nicht gut tut, Gleichartiges sich aber zusammenfindet: „Darumb sichs in der Welt jetzt helt/ | Zu gleichem gleich sich gern geselt“ (I 1,45 f.). Was sich bei Lektüre des Esopus idealerweise zusammengefunden hätte, so die Übertragung auf den Leser, wäre der für Weisheit empfängliche Leser und die idealerweise weisheitsspendende Fabelsammlung. Ist es im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert in satirischen und moraldidaktischen Schriften der Narr „in kuttenartigem Gewand, mit Narrenkappe, Schellen und Narrenkolben, in dem traditionellen Äußeren des Hof- und Fastnachtsnarren, wie er gerade aus dem späten Mittelalter überliefert ist“,429 der die bildlichen Darstellungen, so auch im Narrenschiff, dominiert,430 so bringt der nachweisbare Ursprung des Narrenbildes dieses gerade nicht in Verbindung mit solchen Ausformungen, auch wenn es Überschneidungen mit den traditionellen  

429 Könneker: Narrenidee, S. 6. 430 Einen Ansatz zur Deutung der verschiedenen Narrenattribute bei Mezger: Narr, Sp. 1195.

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2 Äsopische Autorisierung

Narrenattributen gibt.431 Der Ursprung der Narrendarstellung auf dem Titelblatt des Esopus geht auf die Illustration des Psalms 52 zurück. Dieser Psalm ist durch eine lange Bildtradition geprägt. Die Abbildung eines Narren zur Illustration des Psalms 52 ist bereits im 13. Jahrhundert nachweisbar, variiert aber in den Handschriften des Mittelalters.432 Angelika Groß zeigt auf, dass in jeder bildlichen Umsetzung auf je eigene Art und Weise auf Bestandteile der Psalmverse eingegangen wird. So sieht sie den als Attribut in den Handschriften des 13. Jahrhunderts nachweisbaren, geschulterten Stock, der, da nicht als Stütze und somit nicht als Wanderstab zu identifizieren sei, als Bettelstab oder als Waffe. Der Schlüssel zur Interpretation liegt für sie in dem Satz omnes qui operantur iniquitatem desselben vierten Verses [...], in dem ‚Aufrührer‘ angesprochen werden. Die Initialillustration faßt hier in einem einzigen Symbol zusammen, wofür die ältere Wortillustration eine ganze Bildfolge einsetzt. Anstelle des Mordens Unschuldiger weist der geschultert getragene Stock, der als Drohgebärde erscheint, auf diesen ursprünglichen Sinn zurück. Zu der älteren, religiös inspirierten Gestalt des

431 So erinnert das eingeschnitzte Gesicht im Steckenpferd an die langen Narrenkolben, in denen marottenartig ein Narrengesicht eingearbeitet ist, siehe etwa bei Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hg. von Manfred Lemmer. 3., erweiterte Auflage. Tübingen 1986 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 5), die Illustration zum siebten Narren: von zwytracht machen (S. 21), zum 95. Narren von verfurung am fyrtag (S. 249), auch beim 111. Narren, in der entschuldigūg des dichters (S. 310). Es ist jedoch eher davon auszugehen, dass es sich im Esopus um den nicht sehr sorgfältig ausgearbeiteten Kopf eines Steckenpferdes handelt. Als Beispiel für das Steckenpferd als Attribut des Knaben, der jedoch dem Narren gegenüber gesetzt wird, sei auf die Illustration des 68. Narren im Narrenschiff unter der Überschrift Schympf nit verston (S. 174) hingewiesen. Ein einziger Narr im Narrenschiff, der Bauer, der über seinen Stand leben möchte (Nr. 82: von burschem uffgang [S. 212]) und dies u. a. auch in seiner Kleidung ausdrücken möchte, trägt auf seiner Narrenkappe mit Eselsohren und Schellen auch lange Federn. Diese sind als Attribut des Adelstandes zu interpretieren, welchen der Bauer närrischerweise anstrebt. 432 Angelika Groß: „La Folie“. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg 1990 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), hier S. 58. Zu verschiedenen figürlichen Bildausstattungen des Psalters im europäischen Mittelalter und besonders des Psalmes 52 siehe Groß: La Folie, S. 58–71, 106–108, 139–142. So erscheint der insipiens etwa in einem Psalter, der auf 1210 datiert wird, als junger, langhaariger Mann, der einem gekrönten Herrscher gegenüber steht. Neben Beinlingen und dunklen Schuhen zeichnen ihn auf seinem Kopf zwei Federflügel aus. Es könnte sich um einen Vorläufer der Federkrone handeln, die auf eine religiöse Bildtradition hinweist, so gilt der Federschmuck „in der religiösen Kunst des Spätmittelalters gewöhnlich als Standeszeichen von Menschen, die einer besonders rohen Tätigkeit nachgehen, wie die Schergen und Henker“ (Groß: La Folie, S. 64).  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

159

insipiens als Antichristen oder Demagogen tritt eine neue, weltlich orientierte Auffassung, die mit dem Bild des Unwissenden dasjenige eines ‚Aufrührers‘ verknüpft.433

Um einen solchen Stab handelt es sich bei dem Stab des Narren im Esopus nicht. Dieser hält ein Art Windrad oder Windmühle unter dem Arm. Als ein solcher Gegenstand kann der Stab mit zeitgenössischen Bräuchen in Oberdeutschland und der metaphorischen Bezeichnung geschwätziger Menschen in Verbindung gebracht werden.434 Sowohl der Narr der mittelalterlichen Psalterillustration als auch die Abbildung auf dem Titelblatt des Esopus weisen das auffällige Attribut des Federschmuckes auf.435 Eine ikonographische Vorlage für das spätere Titelblatt der Fabelsammlung ist aufgrund der Attribute und Bildanordnung in einem Holzschnitt aus der von Di Giunta gedruckten venezianischen Malermi-Bibel von 1490 zu entdecken.436 In 433 Groß: La Folie, S. 65 f. 434 „Der Mann hat eine Ratsche oder eine Windklapper unter den linken Arm geklemmt. Die Ratsche konnte in oberdeutschen Gebieten in der Karwoche statt der Glocken zum Gottesdienst rufen; metaphorisch steht sie im Oberdeutschen für einen schwatzhaften Menschen. Ähnlich kann die Windklapper im Hessischen ‚als vergleich für ein geläufiges mundwerk‘ (DWB. Bd. 30, Sp. 309) dienen“ (Esopus. Bd. 2, S. 31). 435 Der Federschmuck lässt sich laut Groß zuerst im italienischen Raum nachweisen, so auf dem allegorischen Fresko der Stultitia von Giotto aus den Jahren 1305–1307. Er ist der Bestandteil eines 14-teiligen Tugend- und Lasterzyklus in der Capella degli Scrovegni in Padua. Groß zieht eine direkte Linie zu den Holzschnitten, die als Psalminitialien in den Psalterien von Erhardt Ratdolt in Augsburg 1494 und 1499 gedruckt wurden, in welchen der Narr in einem Gewand mit Federkrone und Stock abgebildet ist (Groß: La Folie, S. 139 f., der dortige Abbildungsnachweis ist zu korrigieren, die Psalmeninitiale ist in: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Begründet von Albert Schramm, fortgeführt von der Komission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 23: Die Drucker in Augsburg. Erhard Ratdolt, Johann Wiener, Jodokus Pflanzmann, Ludwig Hohenwang, Johann Blaubirer. Hg. von Maria Möller. Leipzig 1943, Tafel 19, Abb. 47 zu finden). 436 Die Bibel ist mit 386 Holzschnitten reich ausgestattet, von denen 210 auf das Alte und 176 auf das Neue Testament entfallen. Groß verweist auf die Herkunft von 110 dieser Holzschnitte aus der Kölner Bibel von Quentell bzw. Koberger und von 40 Illustrationen aus Kobergers Ausgabe der Postillae des Nikolaus von Lyra. Der Rest, zu dem der Holzschnitt zu Psalm 52 gehört, gilt als neu, siehe Groß: La Folie, S. 141, Anm. 388. Diese Informationen sind auch zu finden bei James Strachan: Early Bible Illustrations. A short study based on some fifteenth and early sixteenth century printed texts. Cambridge 1957, hier S. 27. Die Abbildung des Narrenholzschnittes ist ohne Bezug zur Benutzung in protestantischen Bibelausgaben bei Groß: La Folie, Abbildung 86, S. 52 zu finden; daneben auch in Strachan: Early Bible Illustrations, Abb. 34 sowie in Manfred Kästner: Die Icones Hans Holbeins des Jüngeren. Ein Beitrag zum graphischen Werk des Künstlers und zur Bibelillustration Ende des 15. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2 Bde. Heidelberg 1985, hier Bd. 2, S. 894. An dieser Stelle ist als Abbildung 670 die Narrendarstellung aus den Icones von Hans Holbein aus dem Jahr 1547 (W. 69) und unter der Nummer 669 die Abbildung aus der Lyoner Vulgata von 1520 abgebildet.  



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2 Äsopische Autorisierung

dieser Abbildung wird der Narr von vier Kindern, zwei links, zwei rechts begleitet. Es ist deutlich anhand des zweiten Knaben von rechts zu erkennen, dass es sich nicht um eine freundliche Begleitung, sondern um eine Vertreibung handelt. Der Knabe hält einen Zweig in der Hand, mit dem er den Narren antreibt. Ergänzt ist die Szene durch einen die Kinder begleitenden, den Narren jagenden Hund. Deutlich ist das Steckenpferd, noch ohne Gesicht, zu erkennen, auf welchem der Narr hier noch richtig herum reitet. Mit dem späteren Holzschnitt gemein hat er das ärmliche Gewand, das hier die Brust zur Hälfte entblößt, die Federkrone und das im rechten Arm gehaltene Windrad. Statt des einen beschuhten Fußes deutet hier ein Fetzen am rechten Bein die auf einen Fuß reduzierte Bedeckung an.

Abb. 3: Illustration des Psalmes 52 in der Malermi-Bibel. München, Bayerische Staatsbibliothek: 2 Inc.c.a. 2387-1/2, Bl. bb iiiiv, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00048363-7.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

161

Für Manfred Kästner handelt es sich eindeutig um eine Darstellung des Toren als jungen Mann, „der als Kind auftritt bzw. wie ein Kind ist und von Kindern verspottet wird“.437 Indizien für diese Interpretation sind für Kästner die Attribute des Steckenpferdes und des Windrades sowie der Hund als weiteres „Zeichen des Knabenalters“.438 Neben dem Hinweis auf die Entsprechung zur Stultitia Giottos aufgrund der Federkrone und der halbnackten Erscheinung sieht er eine „dritte allegorische Anspielung“ über die Attribute des einen Schuhs und dem zerlumpten Äußeren. Diese wiesen darauf hin, dass der Narr zu den Planetenkindern des Saturns gehöre, „zu denen neben den im Ackerbau tätigen Menschen auch die Verbrecher, die Unzüchtigen, die Bettler und Krüppel gezählt werden“.439 Die Suche nach Erklärungen für diese bildliche Darstellung verdankt sich dem Umstand, dass es im Psalmentext, dem dieser Holzschnitt eindeutig zugeordnet ist, keine offensichtlichen Ansatzpunkte für diese Art der Darstellung gibt. So kommt Manfred Kästner unter Berücksichtigung weiterer Bibelstellen, die den Narren nennen,440 zu dem Ergebnis, dass die „Erzählstruktur des Bildes mit diesem eindeutigen Inhalt […] den Schluß nahe[legt], daß es sich um eine Wortillustration handelt; es konnte allerdings keine Bezugsstelle ausfindig gemacht werden“.441 Im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert ist aufgrund zahlreicher Nachschnitte in Bibelausgaben in verschiedenen Ländern und diversen Sprachen eine weite Verbreitung dieser biblischen Narrendarstellung in Europa nachweisbar. Ein Grund ist dabei die Rezeption der Abbildung durch einflussreiche Künstler. Im Rahmen seiner Untersuchung der Verbreitung der Icones von Hans Holbein dem Jüngeren versammelt Kästner die Nachweise der Illustration des Psalms 52 in zahlreichen Bibeln. Ihren Ausgang scheint sie in Venedig in lateinischen Bibelausgaben zu haben, wo sie erstmals 1490 in der oben bereits erwähnten, von Giovanni Ragazzo für Lucantonio Giunta in Venedig gedruckten, sogenannten

437 Kästner: Icones. Bd. 1, S. 294. 438 Ebd. 439 Ebd., S. 294 f. 440 So Ps 13 (14) und die Sprichwörter 1, 7, 8, 17, 18, 21 und 22, Sir 21 und Js 32,5–6, siehe Kästner: Icones. Bd. 1, S. 448, Anm. 396. 441 Ebd., S. 294. Das Auftreten der Kinder bei der Vertreibung des Narren muss für Kästner daher aus einem anderen Kontext in die Ikonographie eingeflossen sein, er schlägt die Stelle aus Horazʼ De arte poetica über den von Kindern verfolgten überspannten Dichter vor: „ut mala quem scabies aut morbus regius urget | aut fanaticus error et iracunda Diana, | vesanum tetigisse timent fugiuntque poetam | qui sapiunt, agitant pueri incautique sequuntur (De arte poetica [= Epistulae II 3], 453–456). In Übersetzung von Eckart Schäfer, ebd.: „Wie einen, den schlimmer Aussatz befallen hat oder die Gelbsucht, Herumirren in göttlichem Rasen und der Zorn der Diana, so fürchtet, wer recht bei Verstand ist, den wahnsinnigen Dichter zu berühren, und flieht ihn; ihn hetzen die Kinder und folgen ihm unvorsichtig“.  

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2 Äsopische Autorisierung

Malermi-Bibel nachweisbar ist. Ein erneuter Druck ist für 1492 sowie von Giunta 1511 und 1519 nachgewiesen. Diese Bibelausgabe wurde zum Maßstab für Illustrationen im Bibeldruck Italiens: Bei Giunta erschien 1490 die Malermi-Bibel, die erste vollständige italienische Vulgata, von Nicola Malermi 1471 übersetzt auf dem Markt. Ihre zahlreichen kleinen Holzschnitte in sorgfältig ausgeführtem Umrißstil waren bis ins 16. Jahrhundert hinein prägend für den italienischen Buchschmuck und haben sowohl den italienischen wie auch den Lyoner Bibeldruck stark beeinflußt.442

Die Illustration zu Psalm 52 strahlt nach Frankreich in drei lateinischen Bibelausgaben aus Lyon443 und eine volkssprachliche aus. Im deutschen Sprachraum wirkt die Narrendarstellung als Rezeptionszeugnis der Bilderserie von Holbein in der Schweizer Bibelausgabe, der sogenannten Zürcher Bibel, 1531 gedruckt bei Froschauer,444 vermittelnd auf weitere deutschsprachige Bibelausgaben.445 Eine

442 Marion Janzin, Joachim Güntner: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Hannover 2007, S. 143. 443 Die lateinischen Ausgaben in Lyon 1512 (Johan Sacon für Anton Koberger), 1520 (Xarion für Koberger), und 1527 (Jean Crespin) und die volkssprachliche 1530 (Y. Lampereur in Anuwers), siehe die Anlage 1: Verzeichnis der illustrierten Textstellen des Alten Testaments und der Darstellungen aus Bibeln und anderen illustrierten Büchern Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts in Kästner: Icones. Bd. 2, S. 469–469B, Nr. 12, 13, 14 und 24. 444 Die gantze Bibel der vrsprünglichē Ebraischen vnd Griechischen waarheyt nach/ auffs aller treüwlichest verteütschet. Zürich 1531. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit dem Kurztitel Zürcher Bibel verwiesen. 445 Des Weiteren führt Kästner: Icones. Bd. 2, S. 469B eine lateinische Ausgabe aus Paris von P. Gryphius aus dem Jahr 1542 und eine weitere deutsche Ausgabe aus Basel, gedruckt bei Bryllinger von 1552, auf. Damit ist die Aufnahme der Narrenikonographie in 11 der 36 bei Kästner untersuchten Bibeln im Zeitraum von 1470–1552 nachweisbar. Zur Verbreitung der Illustration von Psalm 52 nach Manfred Kästner im Rahmen der Icones Hans Holbeins des Jüngeren siehe Kästner: Icones. Bd. 2, Anlage 1,1, S. 469–469B. Da sich die Untersuchung Kästners den Icones Hans Holbeins des Jüngeren widmet, ist damit zwar die Verbreitung der von diesem Künstler direkt abhängigen Illustrationszyklen aufgeführt, nicht jedoch die davon abhängigen Rezeptionszeugnisse und die Aufnahme des Illustrationszykluses durch weitere Künstler. Dazu gehört etwa die Great Bible aus London aus dem Jahr 1541. Laut Groß: La Folie, handelt es sich dabei um die 6. Ausgabe, die in London von Grafton und Whitchurch gedruckt wurde. In dieser ist die Narrenillustration in leichter Abwandlung vorhanden. Es fehlt der Hund aus der Malermi-Bibel und statt eines abstrakten Pferdekopfes in Form eines quer angebrachten Stockes ist das Steckenpferd mit dem ausgearbeiteten Pferdekopf als solches klar zu erkennen. Es ist dennoch zu erkennen, dass es sich um ein Rezeptionszeugnis und keine freie Erfindung handelt. Die Narrendarstellung ist in der Bibel zweimal verwendet worden. Erstens wurde sie in den Rahmen eingefügt mit 15 weiteren Holzschnitten auf dem Titelblatt des dritten Teiles der Bibel, welches den Psalter, die Proverbia sowie die Propheten beinhaltet, zweitens als eigenständige Illustration des Psalms 53.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

163

Auflistung sämtlicher Bibeln, die in ihrem Illustrationsprogramm die NarrenIllustration zu Psalm 52 aufgenommen haben, soll hier nicht geleistet werden. Doch zeigt allein das Beispiel der Verbreitung der Illustration durch Hans Holbein, dass der Narrenabbildung auf dem Titelblatt des Esopus ein hoher Wiedererkennungsgrad zugesprochen werden kann, der auch den ursprünglich biblischen Kontext, die Gegenüberstellung von Weisen und Narren aufruft.

Abb. 4: Illustration des Psalmes 53 in der Zürcher Bibel. Zürich, Zentralbibliothek Zürich: Exemplar des Großmünsters Zürich, Bl. XXVIIIv.

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2 Äsopische Autorisierung

Aus der europaweiten Verbreitung der Psalmillustration lässt sich der Holzschnitt im Esopus als recht genaue Kopie der Illustration zum Psalm über die gottlosen Toren aus der Zürcher Bibel von 1531 nachweisen.446 In dieser Bibelausgabe steht die Abbildung zwischen dem Titel des Psalms mit einer folgenden Inhaltsangabe, die den Psalm deutet (eingeleitet mit „Er zeygt“), und der Übersetzung des Psalms über die gottlosen Toren:447

446 In der Zählung der Zürcher Bibel handelt es sich um Psalm 53 auf Bl. XXVIIIv im Bch der Psalmen. Der Nachweis findet sich bereits im Kommentar der neuesten Esopus-Ausgabe zum Titelblatt in Esopus. Bd. 2, S. 31. Die Abbildung des Holzschnittes ist außerdem in Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition. Braunschweig 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 40), Abb. 131 auf S. 214 aufgenommen. 447 Dass in der Zürcher Bibel von ‚Toren‘ gesprochen wird, Waldis allerdings den Begriff ‚Narr‘ häufiger gebraucht, lässt sich auf die Sinnverwandtschaft der beiden Begriffe sowie ihre dialektabhängige Verwendung im Sprachgebrauch zurückführen. Die beiden Begriffe werden im ausgehenden 15. sowie im 16. Jahrhundert synonym verwendet. Luther etwa übersetzt ursprünglich differenzierende Begriffe im Hebräischen, Lateinischen und Griechischen zugunsten eines einheitlicheren Sprachgebrauchs verengend mit ‚Narrheit‘, ‚Narr‘ und ‚närrisch‘ bzw. synonym mit ‚Torheit‘, ‚Tor‘ und ‚töricht‘ (siehe Könneker: Narrenidee, S. 10 f., Anm. 29). Zur Wortherkunft und -bedeutung der beiden Begriffe siehe Könneker: Narrenidee, S. 15–28. Waldis selbst benutzt zwar beide Begriffe, bevorzugt aber ‚Narr‘ gegenüber ‚Tor‘. Während das Abstraktum torheit bzw. torheyt in sieben Fällen nachweisbar ist (I 32,32; I 39,39; I 93,17; IV 75,97; IV 75,111; IV 81,164; IV 90,65), findet der Begriff des Toren bzw. Thoren lediglich als Reimwort auf Ohren (I 90,71 f.; I 93,25 f.), floren (II 60,67) und forn (I 92,25 f.) Eingang in den Esopus. Der Gebrauch ähnelt dem von Brant und Murner, siehe Könneker: Narrenidee, S. 50 f. Die Wortfamilie Narr wiederum wird von Waldis 50 Mal benutzt, bevorzugt als Substantiv in 34 Fällen im Wortinneren (I 1,33; I 8,30; I 11,44; I 81,34; I 91,33; I 91,38; II 8,54; II 12,28; II 12,84; II 14,10; II 20,14; II 60,68; II 61,9; II 85,22; III 90,2; III 92,216; IV 39,76; IV 69,52; IV 69,55; IV 79,20; IV 81,31; IV 81,185; IV 84,97; IV 88,47; IV 95,10; IV 94,274) sowie als Reimwort (I 4,34; I 86,22; I 86,41; II 89,18; III 86,31; IV 80,134; IV 91,72; IV 93,165), als Verb gnarren/narren (II 63,7; IV 93,200) bzw. ge-/benarrt (I 63,22; I 63,29; I 63,36; I 86,37; II 25,37; III 57,26; IV 11,44 [vngenarret]; IV 99,402) insgesamt zehn Mal. Auch in Komposita und Genitivkonstruktionen ist lediglich die Benutzung des Substantives Narr nachweisbar, so Narrfex (I 11,68), dnarren kappen (I 11,68) bzw. Narrenkappen (IV 26,4), Narren Knig (II 61,6; II 61,14) und Narren seyl (IV 81,172). Die synonyme Semantik zeigt sich am deutlichsten in V. 68 in II 60, welcher die beiden Wortfelder zusammenbindet: „Der wer ein Narr/ fr allen Toren“, als Sprichwort auch aufgeführt bei Könneker: Narrenidee, S. 51 f. Die Präferenz von ‚Narr‘ mag auch an dessen größerer sprichwörtlicher Verbreitung liegen, wie sie sich etwa in I 4,34 zeigt: „Man sagt das hoffen/ vnd das harren | Macht manchen weisen man zum Narren“. Dieses Sprichwort wird in I 86,22 direkt auf den Wolf angewendet: „Es macht das hoffen vnd das harren | Die gantze nacht den Wolff zum Narren“ (I 86,22); in der Dichotomie zwischen dem Narren und dem Weisen explizit in III 57,25 f.: „Ein weiser Mann acht haben soll/ | Nicht werd gnarrt zum andern mal“, und I 8,30 f.: „Ein Weiser nicht das lob ansicht | Welchs jm von einem Narren gschicht“, in der Affabulatio der ersten Fabel und dem redensartlichen ‚zum Narren machen‘ (I 11,44; IV 81,185). Er findet sich auch in Sprichwörtern, die mit Salomon als Autorität eindeutig als biblisch ausgewiesen werden: „Der Narren ist kein endt noch zal | Wie Salomon der Knig  















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2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

Der Lij. Psalm. Hebre. LIII. Psalm ¶ Tit. Ein vermanlich gsang Dauids von dem erbteyl. ¶ Innhalt. Er zeygt das alle menschen sünder vnd Gottloß sygind. Die Gottlosen die gleichßnend als hettend sy die forcht Gottes/ das aber nit ist. Aber der glubigen hilff ist von Gott. [Holzschnitt] DJe leychtferigen toren sprechennd in jren hertzen/ Es ist kein Gott: Dan̅ sy sind in boßheit alle zerbrochen vn̅ grüwlich wordē/ es ist keiner d gtes thye. Gott schowt vonn him̅ el herab auff der menschen kinder/ das er sehe ob doch jeman verstendig wre vnd gott nachfragte. Da warend sy alle abgefallen: sy warēd alle miteinand faul: keiner thet etwas gts/ ja nit einer. Jsts nit offenbar dʒ sy boßheit treybēd: das sy mein volck wie ein speyß fressend: Gott nit anrffend: Das sy frchtend das nit zefrchtend das nit zefrchten ist: Aber Gott wirdt das gebein deren die dich vm̅ lgerend/ zermürsen: Du wirst sy schenden/ dann Gott verachtet sy. Wr wirt Jsraelen vō Zion heyl gebē: das Jacob frolocke/ vn̅ Jsrael frdu habe/ so Gott die gfencknuß seines volcks widerbringt.448

Einem Leser der Zürcher Bibel ist hier eine Deutungsanweisung für das Bild an die Hand gegeben. Die Gottlosigkeit, die der Narr präsentiert, ist auf alle Menschen erweitert und bildet daher auch jeden Betrachter des Bildes als potenziellen Narren ab. Für die Verwendung in der Frankfurter Offizin von Hermann Gülfferich, in der der Esopus erscheint, wird der Bilderschmuck von Hans Brosamer nachgeschnitten.449 Nachweislich war er seit 1545 als Schnitzer für Hermann Gülffe-

sagt | Vnd alle Welt darber klagt“ (IV 95,274–276), die gleiche Wendung zuvor bereits in II 8,54: „Vnzehlich ist der Narren zal“. Die Ursprünge des Sprichwortes scheinen in der lateinischen Übersetzung des alttestamentarischen Buches Kohelet durch Hieronymus zu liegen, dort heißt es in Ecl 1,15b: „stultorum infinitus est numerus“ (Vulgata, S. 987). Aufgenommen ist das lateinische Sprichwort bei Walther, Nr. 30430. Es scheint sich auch in der deutschen Übersetzung gehalten zu haben, so etwa im Narrenschiff Brants Nr. 108 Das schluraffen schiff S. 290, V. 3 f.: „Jnn allen landen über all | On end ist vnser narren zal“ (Brant: Narrenschiff, ebd.). Das Land voller Narren ist auch bei Waldis in I 81,34 zu finden: „Drumb ist das Landt auch Narren voll“. Dabei wurde der Teilvers im Buch Kohelet bereits im Mittelalter neu übersetzt: „quod deficiens est, numerari non potest“, siehe Esopus. Bd. 2, S. 350, und dementsprechend auch bei Luther: „Krum kann nicht schlecht werden/ noch der Feil gezelet werden“ (Heilige Schrifft Deudsch, S. 1138). 448 Zürcher Bibel, Ps 53 auf Bl. XXVIIIv im Bch der Psalmen. 449 Während bei Schmidt: Bücher aus der Frankfurter Offizin, S. 60 dieser Zusammenhang nicht verzeichnet ist, wird in der Sichtung der Buchholzschnitte Hans Brosamers von Bodo Gotzkowsky die Illustration im Esopus aufgeführt, siehe Bodo Gotzkowsky: Die Buchholzschnitte Hans Brosamers in Werken Martin Luthers und anderen religiösen Drucken des 16. Jahrhunderts. Ein  

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2 Äsopische Autorisierung

rich tätig.450 Er hatte mit kleineren Arbeiten begonnen,451 bevor er die Bilderreihe zur Illustration einer von Hermann Gülfferich herausgegeben dreiteiligen BIBLIA VETERIS TESTAMENTI ET HISTOriæ, Artificiosis picturis effigiata. Biblische Historien Knstlich Frgemalet, der sogenannten Brosamer-Bibel geschaffen hatte, die unter Auslassungen von Textpassagen den Bilderschmuck der Zürcher Bibel wiedergibt.452 Im Jahr 1548 lassen sich die ersten Holzschnitte des Bildprogrammes in einigen Gülfferich-Drucken nachweisen. Es ist in der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich, dass aus einer groß angelegten Bilderserie einzelne Bilder, die bereits vor Vollendung des gesamten Bestandes gerissen waren, zu einem früheren Zeitpunkt in anderen Werken der Offizin zur Illustration genutzt wurden. Aussagen zur Absicht eines Autors bei der Illustration seiner Werke, die allein aufgrund des Bildmaterials getroffen werden, sind generell problematisch, da spekulativ. Die kommerzielle Praxis des Gülfferich-Hanschen Verlags im Umgang mit Holzschnittmaterial erlaubt es zusätzlich nur bedingt, die Übernahme des Druckstocks über ein allgemeineres didaktisches Interesse hinaus interpretatorisch zu belasten. Wohl aber kann über die mögliche Wirkung des Bildes anhand des ausgewählten Schnittes, der Darstellung, Ikonographie, Herkunft, Verbreitung und der mit der Abbildung verbundenen Assoziationen nachgedacht werden. Beim Titelholzschnitt des Esopus handelt es sich um einen Druckstock, der drei Jahre vor der Erstausgabe der Brosamer-Bibel von 1551 verwendet wird.453 Es

bibliographisches Verzeichnis ihrer Verwendung. Baden-Baden 2009 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 363), hier S. 356. 450 Siehe Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 334. 451 So ein Signet, drei Titelumrahmungen und zwei Titelholzschnitte, siehe Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 334. 452 Auf die vorangestellte Deutung des Psalms wird verzichtet. Überschrieben ist der Psalm mit „PSALTES contra Iudeos excandescit, ac eos qui CHRISTVM Messiam Deum in lege promissum infideliter, [et] impiè abnegant, insipientes uovat“. Unter der Illustration folgt: „Die leichtfertigen Toren sprechen es ist kein GOTT“ (Hermann Gülfferich: BIBLIA VETERIS TESTAMENTI ET HISTOriæ, Artificiosis picturis effigiata. Biblische Historien Knstlich Frgemalet. Frankfurt 1551, Bl. Hv). Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit dem Kurztitel Brosamer-Bibel verwiesen. 453 Insgesamt beinhaltet diese Bibel 139 Bibelillustrationen, zwei kleine Prophetenfiguren am Ende des Werkes sowie eine signierte Umrahmung mit Jesaias und Micheas, mit der darunter abgebildeten Geburt Christi. Obwohl keiner der Schnitte signiert ist, werden sie alle klar Hans Brosamer zugeordnet, siehe Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 336. Neben dem Esopus sind 1548 weitere frühere Verwendungen von Titeleinfassungen und Bibelbildern in Jakob Otters Betbchlin, im Hortulus Animae und in Veit Dietrichs Kinderpredig nachweisbar, siehe Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 335.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

167

ist nicht die einzige Mehrfachverwendung des Holzschnitts im Œuvre von Waldis. Seine Übersetzung der ARGVMENTORVM IN SACRA BIBLIA [...]. Erste Theil der Summarien vber die gantz Bibel/ Nemlich vber das alte Testament/ Mit schnen Figuren geziert/ vnd in Reimen verfaßt454 von 1556 beinhaltet mit den schnen Figuren ebenfalls Holzschnitte aus der Brosamer-Bibel.455 Darunter befindet sich auch die Narrendarstellung. In den Summarien illustriert diese wie im ursprünglichen Kontext Psalm 52.456 Eingerahmt ist sie von den oberhalb abgebildeten lateinischen Versen von Rudolph Gwalther:457 Impia conqueritur teneant quod screpta tyranni, Quod non sit fidei, non pietatis honor. Opprimitur populus, tibi quem seruire dedebat. O Deus, ah tandem nos tua dextra iuuet.

Unterhalb folgt der deutschsprachige Vierzeiler von Waldis: Die Narrn verleugnen Gottes ehr/ Schenden all zeit die rechte lehr.

454 Diese wurde ursprünglich in Latein von Rudolph Gwalther verfasst und erschien unter dem Titel Argumenta Omnium, tam Veteris quam Novi TEstamenti, Capitum erstmals 1543. Zur weiteren Druckgeschichte siehe Kurt Jakob Rüetschi: Gwalther, Rudolf d. Ä. In: VL 16. Bd. 3, Sp. 136–145. 455 Sie dokumentiert damit die weitere Fremdverwendung der Holzschnitte auch nach der letzten Ausgabe der Brosamer-Bibel unter Hermann Gülfferich, welcher die Bibel 1551, 1552/1553 sowie 1554/1553 gedruckt hatte. Unter Weigand Han entstand 1561 die letzte nachweisbare Ausgabe. Gotzkowsky hält daneben noch eine weitere Verwendung in späteren religiösen Werken und Bibelausgaben fest: „Als ersten gemeinsamen Druck gaben Weigand Han und Georg Rab 1560 die von Veit Dietrich herausgegebene Hauspostill Luthers mit den Holzschnitten Brosamers in Folioformat heraus. Das Werk hatte Rab noch in Pforzheim gedruckt. Im Jahre 1562 druckten Weigand Han, Georg Rab und Sigmund Feyerabend ihre erste Luther-Bibel in Folioformat und verwendeten für die Illustration wiederum die Holzschnitte des Hans Brosamer. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir es hier mit der letzten Wiederverwertung der Brosamerschen Bibelillustrationen zu tun. Im Mittelpunkt aller dieser Bilderbibelausgaben stehen ohne Frage die kunstvollen Holzschnitte Brosamers“ (Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 336). 456 Die Wiederverwendung ist auch in Gotzkowsky: Buchholzschnitte, S. 435 f. dokumentiert. 457 Buchstabengetreu folgt die lateinische Psalmenzusammenfassung in den Summarien der Ausgabe von Gwalther aus dem Jahr 1543, siehe Rudolf Gwalther: ARGVMENTA OMNIVM, TAM VETERIS QVAM NOVI Testamenti, Capitum. Zürich 1543. Exemplar in Zürich, Zentralbibliothek Zürich: 18.1951, Bl. 77r. Abweichungen gibt es gegenüber der Ausgabe von 1547. Im ersten Vers steht Impie statt Impia, siehe Rudolf Gwalther: ARGVMENTA OMNIVM, TAM VETERIS QVAM NOVI TESTAmenti, Capitum. Zürich 1547. Exemplar in Zürich, Zentralbibliothek Zürich: VIII bis 103, Bl. 53v; und in der Ausgabe von 1554 in V. 2 pieitatis statt pietatis, siehe Rudolf Gwalther: ARGVMENTA OMNIVM, TAM VETERIS QVAM NOVI TESTAmenti, Capitum. Zürich 1554. Exemplar in Zürich, Zentralbibliothek Zürich: 18.2036,2, Bl. 53v.  

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2 Äsopische Autorisierung

Doch wirdt die hlff auß Zion kummen/ Gott trstet Jacob/ alle frummen.458

Auch in der verkürzten Wiedergabe bleibt die Abkehr des Narren von Gott Bestandteil der Psalmwiedergabe.459 Es ist somit davon auszugehen, dass Waldis der ursprüngliche biblische Kontext der Abbildung bekannt war. Die ursprüngliche Verbindung der Narrendarstellung mit dem Bibeltext ist bei der Interpretation des Titelblattes des Esopus noch nicht berücksichtigt worden. Es handelt sich hierbei nicht um eine zwingend notwendige Verknüpfung. Aufgrund der Verbreitung und der einprägsamen Art der Narrendarstellung ist aber von einem hohen Wiedererkennungsgrad des Titelholzschnittes auszugehen. Mit dem Holzschnitt kann daher bei einem bibelkundigen zeitgenössischen Leser der Inhalt des Psalms 52 und die Thematik der gottlosen Toren aufgerufen werden, zumal die Illustration der Erwartung des Lesers zuwiderläuft.460 Die Platzierung der Psalmenillustration auf dem Titelblatt des Esopus ändert die Kontextualisierung der Fabeln. Neben die Unterweisung lebensweltlicher Handlungsanleitungen, wie sie in den Affabulationes dem Leser geboten werden, tritt die Bibel als Mittel der Unterweisung vom Wort Gottes.461 Die Affabulatio der letzten Fabel stützt eine solche Lesart. Darin wendet sich der Autor mit Namensnennung in der dritten Person an den Leser und wünscht all denen ein seliges Dasein nach dem Jüngsten Gericht, „Die jren lust vnd wolgefallen | Haben an Gott vnd seinem wort“ (IV 100,216 f.). Abschließend soll aufgrund des Ursprungs der Narrenabbildung als Psalmillustration auf das Thema von Narren und Weisen und der Unterweisung Jugend 

458 Burkard Waldis: ARGVMENTORVM IN SACRA BIBLIA, A Rudolpho Gualthero carminibus comprehensorum Tomus prior in vetus videlicet Testamentum. Erste Theil der Summarien vber die gantz Bibel/ Newlich vber das alte Testament/ Mit schnen Figuren geziert/ vnd in Reimen verfaßt/ Durch Burckhardum Waldis. Frankfurt a. M. 1556. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: B. metr. 125 a-1, Psalm 53, ohne Blattzählung. 459 Auch hier ist die Verwendung des Begriffs Narrn in seiner Austauschbarkeit ein Zeichen für die Synonymität zum Toren. 460 Als kundiger Leser ist der Bibelgelehrte oder der unterwiesene Laie denkbar. 461 Die Nähe der Fabel zum Gleichnis nennt auch Erasmus Alberus in der Vorrede seines Buch von der Tugent vnd Weißheit: „ES haben alle verstendige leute fr gut angesehen vnd gelobt/ das man die einfeltigen durch Fabeln/ oder gedicht/ vnd gleichnisse vnderweise/ vnd haben recht verstanden/ das/ wie andere Creaturen dem dienen sollen/ der sie geschaffen hat/ also soll man auch der Fabeln vnd gleichnissen darzu gebrauchen/ das die leute dadurch gebessert werden. Das ich aber den Fabeln die Gleichnisse gleich mache/ ist die vrsach/ das die Fabeln nichts anders sind/ dann liebliche Gleichnissen/ vnd eben dasselb außrichten/ das die Gleichnissen thun“ (Alberus: Fabeln, S. 29).  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

169

licher näher eingegangen werden, die die traditionelle Funktion der Fabel mit Bibeltexten verbindet. Die Konstellation des sentenzenspendenden Weisen, als der Äsop im Esopus erscheint, die Jugendlichen als Rezipienten und die Vertreibung des Narren auf dem Titelblatt, weist Ähnlichkeiten auf mit Aussagen in den Peritexten zeitgenössischer Bibelausgaben zur geistlichen Unterweisung in der Vorrede zu den Proverbia, die auf den Psalter folgen. Schon in der Zürcher Bibel, die die Narrenillustration ursprünglich aufweist, wird in der Vorrede zu den Proverbia der Gegensatz von Narren bzw. Toren und Weisen sowie die Erziehung der Jugend, hier mithilfe von Sprichwörtern, zur Sprache gebracht.462 Noch mehr Raum räumt diesem Thema in seiner Bibelübersetzung Luther zu Beginn seiner Vorrede auff die Bücher Salomonis neben der Marginalie Salomo prediget allhie/ furnemlich der Jugent ein: Vnd sonderlich nimpt er [Salomon] fur sich/ die liebe Jugent/ vnd zeucht sie gantz veterlich zu Gottes geboten/ mit tröstlichen Verheissungen/ wie wol es den Fromen gehen solle/ vnd mit drewen/ wie die bösen gestrafft werden müssen.463

Weiter unten wird dann explizit neben der Randglosse „Narren. Weise“ auf diese Thematik eingegangen und der Rezipientenkreis der Jugend um den aller Stände erweitert: DARumb nennet Salomon in diesem Buch/ Narren/ alle die so Gottes gebot verachten/ Vnd Weisen/ die nach Gottes gebot sich halten. Vnd trifft da mit nicht allein die Jugent/ die er fürnemlich zu leren furnimpt/ Sondern allerley Stende von höhesten an/ bis zum alleruntersten.464

462 „Ditz sind die weysen sprüch Salomons deß suns Dauid der ein Künig ist gewesen über das volck Jsrael/ die da dienend wyßheyt vnd zucht zelernen/ vn̄ weysen radtzefinden/ vnd z überkom̅ en bericht der weyßheit vn̄ der gerechtigkeit/ deß rechten vnnd des billichen. Durch welche die jungen kinder fertig vnnd geschwind werdend/ vnnd die jungen gsellen weyß vnnd radtschlegig“ (Zürcher Bibel, Bl. LVr). 463 Heilige Schrifft Deudsch, S. 1093. 464 Ebd., S. 1094. Luther geht dabei noch weiter und verbindet Narrheit mit Lastern: „Denn gleich wie die Jugent/ jr eigen Laster hat wider Gottes gebot/ Also haben alle ander Stende auch jre Laster/ vnd wol erger denn der Jugent laster sind/ Wie man spricht/ Je elter/ je erger. Vnd abermal/ Alter hilfft fur keine Torheit. Vnd wenn sonst nichts were böses in den andern vnd hohen Stenden/ als da ist/ Geitz/ Hoffart/ Hass/ Neid etc. So ist doch dis einige Laster böse gnug/ Das sie Klug vnd Weise sein wöllen/ da sie nicht sein sollen. Vnd jederman geneigt/ anders zu thun/ denn jm befolhen ist/ vnd zu lassen/ was jm befolhen ist. Als/ wer im geistlichen Ampt ist/ der will klug vnd thettig sein in weltlichem/ vnd ist seiner weisheit hie kein ende. Widerumb/ wer in weltlichem Ampt ist/ dem wird das Heupt zu enge fur vberiger Kunst/ wie das geistlich Ampt zu regieren sey. Solcher Narren sind alle Land/ alle Stedte/ alle Heuser vol/ vnd werden in diesem Buch gar vleissig gestrafft/ vnd ein jglicher vermanet/ das er des seinen warte/ vnd was jm befolhen ist/ trewlich vnd vleissig ausrichte. Vnd ist auch keiner Tugent mehr/ denn gehorsam sein/ vnd

170

2 Äsopische Autorisierung

Die Bibel bildet generell einen wichtigen Referenztext für die Fabelsammlung von Waldis. Bibelstellen werden ausgewiesen, aber auch unmarkiert immer wieder in den Affabulationes der Fabeln herangezogen. Der angesprochene Leser des Esopus ist ein christlich reformierter, der über Bibelkenntnisse verfügt. Es wäre müßig, jede Bibelstelle heranzuziehen, die von Narren spricht, aber da der Bezug auf den Bibeltext bereits über die ursprüngliche Verwendung der Illustration gegeben ist, sei noch auf die Vorrede zum ersten Brief an die Korinther von Luther verwiesen. Luther zieht darin Parallelen aus der Entstehung und den Themen im Paulus-Brief zur Jetzt-Zeit. Im Gegensatz zum Psalm, der die gottlosen Narren zum Thema hat, geht Luther an dieser Stelle auf die Reaktionen ein, die sich „so das Euangelium an tag komen ist“ eingefunden haben:465 In der Kritik steht die Bildung von angeblichen Deutungshoheiten über die Schrift durch solche, die eigentlich nichts davon verstehen und ihre eigene absonderliche Weisheit gebildet haben: DEnn gleich wie jtzt zu vnser zeit/ so das Eungelium an tag komen ist/ finden sich der tollen Heiligen viel (welche man Rottengeister/ Schwermer vnd Ketzer heisst) die alle zu früe klug vnd gelert worden sind/ vnd können fur grosser kvnst vnd weisheit/ sich mit niemand gleich oder eintrechtig halten/ Einer wil hie naus/ der ander dort naus/ Als were es grosse schande/ wo nicht ein jeglicher ein sonderlichs furneme/ vnd seine eigen weisheit auffwürffe. Welche niemand widerumb kan zu Narren machen/ So sie doch im grunde gar nichts von der rechten Heubtsachen wissen noch verstehen/ ob sie gleich mit dem maul viel dauon plaudern.466

Er setzt die Streitigkeiten und verschiedenen Lehren, die den eigenwilligen Interpretationen „der tollen Heiligen vnd vnzeitige[n] Klüglinge[n]“467 folgten und mit denen Paulus konfrontiert war, mit denen gleich, die heutigen Tags auch zu beobachten seien. Die Reaktion darauf sei der Korintherbrief: DARUMB STRAFFET VND VERDAMPT S. PAULUS solche schedliche weisheit gar ernstlich. Vnd machet solche nasenweise Heilgen wider zu Narren/ spricht schlecht/ das sie nichts wissen von Christo/ noch von dem Geist vnd gaben Gottes/ vns in Christo gegeben/ vnd sollen noch anheben zu lernen/ Es müssen geistliche Leute sein/ die es verstehen wollen. Weise sein wöllen vnd klugheit furgeben im Euangelio/ sey eben das rechte ergernis vnd hindernis/ Christum vnd Gott zu erkennen/ Rotten vnd Zwietracht anzurichten/ da mag die kluge vernunfft vnd weisheit wol zu dienen/ das eitel tolle Heiligen vnd wilde Christen

warten/ was jm zu thun befolhen ist/ Das heissen weise Leute. Die Vngehorsamen heissen Narren/ wiewol sie nicht wöllen vngehorsam noch Narren sein oder heissen“ (Heilige Schrifft Deudsch, S. 1094). 465 Luther: Vorrede auff die erste Epistel: An die Corinther. In: Heilige Schrifft Deudsch, S. 2297. 466 Ebd. 467 Ebd.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

171

werden. Aber vnsern HErrn Christum mügen sie nimer mehr erkennen/ sie werden denn widerumb zu Narren/ vnd lassen sich demütiglich durchs einfeltige wort Gottes leren vnd füren.468

Der ‚Narr‘, zu dem man wieder werden müsse, um für die christliche Lehre offen zu sein, ist der fromme, einfältige. In Verbindung mit diesem Narrenverständnis lässt sich der Titelholzschnitt als eine Vertreibung derjenigen lesen, die als eigentliche Narren meinten, sie verstünden das Evangelium und die neue Lehre, dies aber gerade nicht tun. Vertrieben werden sie von der Jugend als hoffnungsvolle Träger der neuen Lehre, eben der Jugend, für welche Waldis die Fabelsammlung laut Vorrede schreibt.469 Religiöse Kritikfähigkeit ist damit, für den kundigen Betrachter, auf dem Titelblatt der Fabelsammlung angedeutet. Die vorgenommene Analyse der Titelillustration der ersten drei Ausgaben (1548, 1555, 1557) des Esopus diente dazu herauszuarbeiten, dass dem Betrachter des Titelblattes mit der Wahl der Narrenabbildung keine einsinnige, eindeutige bildliche Darstellung angeboten wird. Stattdessen erweist sie sich als polysemantisch. Die Illustration kann mit verschiedenen Kontexten verknüpft und in Bezug zu verschiedenen Elementen gesetzt werden. Sie ermöglicht verschiedene Interpretationen, die Frage nach der intendierten Lesart, sogar die Frage nach vermeintlichen intendierten Lesarten, kann letztlich nicht eindeutig beantwortet werden. Möglicherweise war eine solche nie vorgesehen. Die Stärke des Titelbildes liegt gerade darin, dass es vieldeutig ist und zum Deuten geradezu einlädt.

2.2.2.2 Der äsopische Titelholzschnitt in den Ausgaben ab 1565 Erst in den Ausgaben von 1565 und 1584 nach dem Tod von Waldis470 und des ersten Verlegers, als der Druck E des Esopus in der ursprünglich von Han, Rab

468 Ebd., S. 2298. Es ist kein Gegenargument für diese Interpretation, dass der Narr an dieser Stelle eine positive Konnotation bekommt, da er wieder in der Lage sei, durch Demut belehrt zu werden. Der Narr, der sich belehren lässt, ist erst dann ein positiver Narr, wenn er sich denn belehren lässt. Als vermeintlicher „Heilger“, aber eigentlich Narr ist er dazu nicht in der Lage. In diesem Kontext kann sich die Fabelsammlung auch als ein Werk präsentieren, das über das darin korrekte Verständnis der neuen Lehre in der Lage ist, solche demütigen Narren allererst zu machen. Und zuletzt lässt das Titelblatt offen, ob es sich nicht vielleicht doch um eine Begleitung des Narren durch die Kinder handelt. 469 Zur Jugend als Empfänger und Vertreter „der rechten Evangelischen Christlichen ler“ siehe Waldis: Ppstisch Reych, Zweite Widmungsvorrede, Z. 64 f. sowie das Kapitel „‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis“, besonders S. 224–227. 470 So schon bei Kurz: „Die Ausgabe von 1557 ist wahrscheinlich die letzte, die unter Theilnahme des Dichters erschienen ist; alle übrigen sind nur Abdrücke einer der drei früheren und haben  

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2 Äsopische Autorisierung

und Feyerabend gegründeten „Cumpanei“471 erscheint, ist auf dem ausgewechselten Titelholzschnitt eine kleingewachsene Äsopfigur mit aufgeblähtem Bauch und Buckel abgebildet. Die polysemantische Narrenfigur wurde zugunsten einer explizit mit Äsop verbundenen Titelprogrammatik aufgegeben. Der Druck E und die sich an dessen Holzschnitt orientierende Ausgabe F erfüllen damit auf dem Titelblatt eine Erwartung, die ein potenzieller Leser an eine äsopische Fabelsammlung rein ikonographisch seit der Fabelsammlung von Steinhöwel stellen könnte. Allerdings wurde auch der Holzschnitt von 1565 nicht eigens für den Esopus angefertigt. Auch er ist wie der Narrenholzschnitt Brosamers Teil einer Holzschnittserie, die im Ganzen erst nach dem Erscheinen des Esopus in einem anderen Werk nachweisbar ist. Es handelt sich um die Abbildung der Szene, in welcher Xanthus den gerade erworbenen Sklaven Äsop seiner Frau vorstellt. Die Darstellung folgt der traditionsstiftenden Abbildung in Steinhöwels Äsop, in welcher die namenlose Frau von Xanthus links neben diesem auf einer Bank sitzt und sich von dem am rechten Bildrand stehenden Äsop abwendet.472 Die Abbildung im Esopus stammt von einem Druckstock aus der Werkstatt des Virgil Solis. Angefertigt wurde der Druckstock als Teil eines Bildprogrammes für zwei Ausgaben von äsopischen Fabeln. Diese erschienen 1566 einerseits in der Bearbeitung von Johannes Posthius in einer rein lateinischen Ausgabe mit Illustrationen unter dem Titel AESOPI PHRYGIS FABULÆ, ELEGANTISSIMIS EICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes. HIS ACCESSERVNT IOANNIS POsthij Germershemij in singulas Fabulas Epigrammata.

Andererseits kam in der erweiterten Fassung mit Hartmann Schopper eine illustrierte lateinisch-deutsche Fabelsammlung auf den Buchmarkt mit dem Langtitel AESOPI PHRYGIS FABULÆ, ELEGANTISSIMIS ICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes, Ioannis Posthij Germershemij Tetrastichis illustratæ. CUM PRAEATIONE ET ALIQUOT Epigrammatibus Hartmanni Schopperi Nouoforensis, Norici. Schne vnnd kunstreiche Figuren vber alle Fabeln Esopi/ allen Studenten/ Malern/ Goldschmiden/ vnd Bildthauwern/ zu nutz vnd gutem mit fleiß gerissen durch Vergilium Solis/

somit für die Feststellung des Textes durchaus keinen Werth“ (Kurz: Esopus. Bd. 1, S. XIX), im Weiteren auch mit dem Verweis auf Dokumente, die helfen sollen, das Todesjahr zu erschließen. 471 Das Titelblatt von 1565 verweist ausdrücklich auf die Offizin: „Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ bey Georg Raben/ vnd Weygand Hanen Erben“. 472 So schon bei Steinhöwel, die Abbildung etwa bei Küster: Aesop-Ausgaben, Teil II: Tafel 2, Abbildung 5 oben. In der Erstausgabe der Fabelsammlung von Steinhöwel ist die Darstellung auf Bl. 34v abgebildet.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

173

so sein letzter Rissz gewest/ vnnd mit Teutschen Reimen krtzlich erklret/ dergleichen vormals in Truck nie außgangen/ Durch Hartman Schopper von Neuwmarck.473

Die Ankündigung auf dem Titelblatt, dass es sich um den letzten Riss von Virgil Solis handele, die somit auch auf den im Esopus verwendeten Druckstock zutreffen würde, wird primär zur Kaufförderung aufgenommen worden sein. Solisʼ Tod ist für den 1. August 1562 nachweisbar und es ist davon auszugehen, dass es sich um Arbeiten ‚fremder Hände‘ aus der Werkstatt gehandelt haben wird, die noch lange nach dem Ableben des Meisters von dessen Vorlagen zehrten. Trotzdem ist mit der Verwendung von Schnitten aus dieser Werkstatt eine qualitativ hochwertige Ausstattung vorhanden, deren Finanzierung wohl vor allem durch den Zusammenschluss im Rahmen der Cumpanei möglich war: Das Ausstattungsniveau der Drucke lag deutlich höher als bei den anderen Verlagswerken der Han-Erben; die Erzeugnisse der Cumpanei erschienen oft als repräsentative Foliodrucke mit hochwertigen Holzschnitten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Verlagsgesellschaft speziell zu diesem Zweck gegründet wurde, gemeinsam repräsentative Buchprojekte zu finanzieren und die vergleichsweise hohe finanzielle Belastung und das Risiko auf mehrere Partnerfirmen zu verteilen.474

Kurioserweise zeigt der Titelholzschnitt des Esopus von 1565 mit der Darstellung der Einführung Äsops in den Haushalt von Xanthus eine Szene, deren Wiedergabe sich Waldis mit Hinweis auf viel seltzamer bossen, welche in anderen Darstellungen des Lebens Äsops wiedergegeben werden, explizit verweigert.

473 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 32 f. Die Abbildung findet sich in der lateinischen Ausgabe auf Bl. 9r, siehe Johannes Posthius, Hartmann Schopper: AESOPI PHRYGIS FABVLÆ, ELEGANTISSIMIS EICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes. HIS ACCESSERVNT IOANNIS POsthij Germershemij in singulas Fabulas Epigrammata. Frankfurt a. M. 1566. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/A.lat.b. 1075. In der deutsch-lateinischen Ausgabe befindet sich die Abbildung auf Bl. 4v, siehe Johannes Posthius, Hartmann Schopper: AESOPI PHRYGIS FABULÆ [...] Frankfurt a. M. 1566. In der zweiten Ausgabe der lateinischen Fassung von 1574 wird der Druckstock auf Bl. 9r ebenfalls noch verwendet, siehe Johannes Posthius: AESOPI PHRYGIS FABULÆ, ELEGANTISSIMIS EICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes. HIS ACCESSERVNT IOANNIS POsthij Germershemij in singulas Fabulas Epigrammata. Frankfurt a. M. 1574. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: A.gr.b. 249. 474 Duntze: Verlagsbuchhandel, S. 229.  







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2 Äsopische Autorisierung

Abb. 5: Titelblatt der Erstausgabe des Esopus von 1565 (E). Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: Lo 7807.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Die Auswahl dieser Szene irritiert bei Kenntnis des Leben Esopi.475 Da sich die Illustrationsserie eng an die Darstellung hält, die seit dem Steinhöwelschen Äsop in zahlreiche Fabeldrucke und Viten-Illustrationen übernommen wurde, hat die Abbildung Äsops einen hohen Wiedererkennungsgrad. Sie führt aber bei der Lektüre des Leben Esopi im Esopus in die Irre. Die Episode, die auf dem Titelblatt angekündigt wird, wird in der Lebensbeschreibung gerade nicht erzählt. Es handelt sich bei dieser Szene um die Episode in Äsops Leben, die nach dem Abbruch der Kurzfassung der Vita Äsops bei Waldis als nächste folgen würde. Über das Medium Bild wird hier ein intertextueller Verweis gesetzt, der auf die fortsetzende Erzählung der Episode in den AESOPI PHRYGIS FABULÆ hinweist. Dieses Phänomen ist rezipientenseitig, etwa für einen kaufinteressierten Betrachter des Titelblattes, nicht von Bedeutung. Es lässt jedoch Rückschlüsse auf die Praktiken der Buchproduktion zu. Die an der Buchproduktion Beteiligten, die Autoren Schopper und Posthius und eventuell auch der Verleger Weigand Han,476 zeigen sich als Kenner der Fabelsammlung von Waldis, denn nicht nur über das Bildprogramm wird eine intertextuelle Verbindung zwischen deren Fabelsammlung und dem Esopus des Waldis hergestellt. In der deutsch-lateinischen Ausgabe von Posthius und Schopper findet sich die durch Kürzungen und Änderungen leicht bearbeitete Version des Leben Esopi von Waldis wieder. Sie ist in den Versen mitunter leicht verändert und in einzelne Episoden unterteilt, die jeweils aus einem lateinischen Text, einer Illustration und dann aus deutschen Versen bestehen. Episoden, die bei Waldis nicht wiedergegeben wurden, sind ergänzt worden, etwa die Episoden im Haus von Xanthus. Auch im Beschluß der Sammlung erweisen sich die ersten sechs Verse der insgesamt zehn als eine unmarkierte Übernahme aus der Affabulatio der letzten Fabel im Esopus des Burkard Waldis: IV 100, 225–230. Den Autoren der deutsch-lateinischen Ausgabe der AESOPI PHRYGIS FABULÆ, insbesondere Hartmann Schopper, der für die

475 Das dargestellte Motiv mag nicht der primäre Grund für die Übernahme des Holzschnittes gewesen sein, denn ein „Motiv für die Auswahl gerade dieses Kupferstichs, abgesehen von einem möglichen Bezug auf einige einschlägige Texte unter den neuen ‚Fabeln‘, ließ sich nicht feststellen“ (Esopus. Bd. 2, S. 33). Die angesprochene Verknüpfung bezieht sich auf die Deutung des Bildes als „leicht erotische Darstellung von Mann und Frau“ (ebd., S. 32). 476 Im Gesamtwerk von Waldis lässt sich nachweisen, dass Weigand Han nicht nur als Verleger in Erscheinung getreten ist, sondern auch in die von ihm verlegten Bücher eingegriffen hat. So zeichnet er als Verfasser „Wigandus Hann“ am Ende der Vorrede in den Summarien für diese verantwortlich. Dieser ungewöhnliche Umstand wird nicht vom Verfasser kommentiert, könnte aber dem Umstand geschuldet sein, dass Waldis zu dieser Zeit wohl gesundheitlich bereits sehr angeschlagen war, wie es ein Brief der Kirchengemeinde vom 3. August 1556 bezeugt, Nachweise bei Buchenau, S. 27–29, zu diesem Zeugnis auch Esopus. Bd. 2, S. 11.

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2 Äsopische Autorisierung

deutschen Reime verantwortlich war,477 war somit der Text des Esopus versgenau bekannt. So wenig wie aber dem Äsop-Holzschnitt im Esopus Hinweise auf seine Bildserie, seinen späteren Kontext oder auch nur seinen Künstler beigegeben sind, so wenig wird in den AESOPI PHRYGIS FABULÆ von Posthius und Schopper auf die Herkunft der Verse aus dem Esopus verwiesen. Eine letzte, wenn auch nur geringfüge Transformation erlebte die Titelillustration im letzten Druck des 16. Jahrhunderts. Bei dem Titelholzschnitt von 1584 handelt es sich um einen seitenverkehrten Nachschnitt des Druckstockes von 1565. Diese Ausgabe des Esopus wurde von Nikolaus Bassée gedruckt. Sie ist somit nicht in der ursprünglichen Offizin von Gülferich, Han, Rab und Erben entstanden. Statt der erneuten Fremdverwertung eines anderen Holzschnittes scheint die Schlüssigkeit des Titelblatts so hoch gewesen zu sein, dass man die Kosten für einen Nachschnitt in Kauf nahm. Die nur auf den ersten Blick plausiblere Illustration des Esopus mit der Illustration einer Szene aus dem Leben Äsops, die im Werk selbst nicht erzählt wird, hatte Bestand.478

2.2.3 Das Sprecher-Ich als Autorität im Esopus In der Fabelsammlung von Waldis beschränkt sich die Darstellung bzw. Nennung Äsops nahezu auf seine Kurzbiographie und auf die Peritexte der Sammlung. Da sowohl für das Werk wie für die Figur der lateinische Name ‚Esopus‘ benutzt wird, kommt es auf dem Titel zu einer Art metonymischem Vexierbild. Peritextuell

477 So in der Vorrede unterschrieben von „Hartmann Schopper von Neuwmarck/ auß dem Nortgauw“: „Und lustig gfaßt in Reimen weiß/ | Doch viel zu lang mit kleinem fleiß | Die hab ich auff das krtzest macht“ (Posthius, Schopper: Aesopi Phrygis fabulae, Bl. A5r). 478 Neben dem Holzschnitt ändert sich auch die Farbverteilung im Titelblatt in den späteren Ausgaben. 1565 und 1584 wird nicht mehr der Werktitel Esopus betont, dessen Namensgeber jedoch für den Kenner von Äsop-Darstellungen aufgrund seines Aussehens in dem unterhalb abgebildeten Holzschnitt deutlich zu erkennen ist. Stattdessen wurden der Novitätsanspruch, die Reimform (Gantz neuw gemacht/ vnd in Reimen ge=), der Autor (Burcardum Waldis) und, neu hinzugefügt gegenüber den älteren Ausgaben, der Druckort (Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ bey […]) in rot gesetzt. Diesem Befund kann man als übliche Kolorierung, als einfache kauffördernde Maßnahme wenig Bedeutsamkeit zuweisen. Nimmt man die farbliche Betonung auf dem Titelblatt jedoch ernst, zeigt sich neben der gleichbleibenden Hervorhebung des Autornamens eine Verschiebung weg vom vermeintlichen Gattungsstifter hin zur Betonung des New Gemacht sowie die Anbindung an den Druckort. Dieser ist damit vom Ende des Werkes in Form eines Kolophons auf das Titelblatt gewandert. Dies könnte mit der Veränderung der Offizin zusammenhängen, die sich noch mit der ursprünglichen ihren Standort in Frankfurt teilte.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

Abb. 6: Titelblatt der Erstausgabe des Esopus von 1584 (F). Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: Lo 7808.

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2 Äsopische Autorisierung

rahmt der Bezug auf Äsop und seine Fabeln die Fabeltexte in den Buch- und den Seitenüberschriften. Die Seitenüberschriften sind phrasenhaft: Die Fabeln Esopi | Das Erste Buch., Die Fabeln Esopi/ | Das Ander Buch., Die Fabeln Esopi/ | Das Dritte Buch. sowie Die Fabeln Esopi/ | DAs Vierdte Buch. Da diese Phrasen die auf dem Titelblatt angekündigte Unterscheidung der ‚alten‘ von den ‚neuen‘ Fabeln aufhebt, lässt sich die Bezeichnung ‚Fabel Esopi‘ in den Seitenüberschriften eher als Gattungs- denn als Korpuszuschreibung auffassen. Im Fabeleingang von II 31 zeigt sich, dass die Zuschreibung als äsopisch aber auch ein Korpus äsopischer Fabeln meint. Dort wird der Humanist Nikolaus Gerbelius zwar als Bearbeiter aufgeführt, als Schöpfer der Fabel gilt aber Äsop: GErbellius ein Fabel schreibt Die auch denen ist eingeleibt/ Welch erst Esopus hat gemacht Auch ander mehr nach jm bedacht (II 31,1–4).

Eine Autorisierung von Fabelauslegungen durch Verweise auf Äsop als Fabeldichter, -deuter oder -erzähler, wie in der Fabelsammlung von Steinhöwel, bleibt im Esopus aus. Lediglich als Exempelfigur dafür, dass auch ein unbedeutender Mann Angelegenheiten von Bedeutsamkeit entscheiden kann, wird Äsop und seine Rolle im Krieg mit Krösus im Fabelkorpus genannt: Es kompt offt das ein gringer Man Ein grosse sach entscheiden kan Bey grossen Herrn/ die sich nit wllen Durch Herrn lassen zu frieden stellen/ Lassen sich offt mit klugen reden Vom gringen Mann sprechen zu freden Wie Esopus der vngeschlacht Durch seine weißheit frieden macht Zwischen Crso dem Knig reich Der da zu mal het keinen gleich Das jm das Landt zu Samo danckt Vnd er damit groß lob erlangt (III 78,27–38).

Die hier angesprochene Episode wird nur in der Langversion der Vita in anderen Fabelsammlungen vollständig erzählt. In den V. 261–271 des Leben Esopi im Esopus wird die Episode nahezu im gleichen Umfang lediglich paraphrasiert: Erlangt zu Samo grosse gunst Durch sein geschickligkeyt vnd Kunst Er ward auch von den selben leuten Welch grosse krieg zun selben zeiten

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Hetten mit dem Knig Creso Der da wonet forn in Asia Gesandt zu handeln in den sachen Da thet Esopus frieden machen/ Drumb er von allen ward gelobt Vnd von den seinen hoch begobt Vnd gehalten in grosser ehr.

Die Marginalisierung Äsops ließe sich einerseits von der Vorlage her erklären. Auch im Aesopus Dorpii sind Verweise auf Äsop als Verantwortlichen für die Fabelerzählungen sowie -deutungen in den Fabeltexten nicht vorhanden. Auffälliger ist aber, dass im Esopus ein ‚Ich‘ zur Sprache kommt, das ähnliche Funktionen wie die Äsopfigur bei Steinhöwel aufweist. Es erzählt und deutet. Eine Relation zwischen der Darstellung der Äsopfigur und dem Erzähler im Esopus stellt schon Lieb fest, geht hierbei aber nicht näher auf das ‚Ich‘ ein: Ich sehe den Zusammenhang zwischen der Kürze der Vita Esopi und dem Hinweis auf die eigene Erfindung von Fabeln darin, daß die pseudohistorische Person des Äsop durch die Figur des Erzählers im Esopus substituiert werden soll. Dies könnte vielleicht auch die Auswahl der Stationen der Vita Esopi erklären. Es werden nämlich nur wenige Szenen erzählt und zumal nicht solche, die Äsop als Erzähler ausweisen, sondern hauptsächlich solche, die von den wechselnden Herren des Sklaven Äsops handeln (vom ersten Herrn zu Zenas, von diesem zu einem Kaufmann, dann zu Xanthus, schließlich zu Krösus und Lycerus).479

Damit macht Lieb auf das Phänomen des Sprecher-Ichs aufmerksam, geht aber nicht auf die Ausdifferenzierung desselben ein. Das esopische ‚Ich‘ ist mehrfach funktionalisiert. Es präsentiert sich als Autor der Sammlung sowie als Erzähler der Fabelereignisse, also als „diejenige Instanz, die die Informationen über die erzählte Welt vermittelt“,480 wie auch als Deuter, Ausleger und Kommentator der Fabelerzählungen in den Affabulationes.481

479 Lieb: Erzählen, S. 69. 480 Rosemarie Zeller: Erzähler. In: RL. Bd. 1, S. 502–505, S. 502. 481 Dies ist ungewöhnlich für eine Fabelsammlung. Als ein ähnliches Phänomen für eine Deutungsinstanz in einem mittelalterlichen Werk wäre Freidanks Bescheidenheit heranzuziehen, siehe Klaus Grubmüller: Freidank. In: Kleinstformen der Literatur. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 38–55, hier S. 49 f.: „Dieses Ich, das sich nirgends mit Namen nennt, tritt in mehrfacher Funktion auf“. Grubmüller betont hierbei die Ähnlichkeit zum Sprichwort: „In allen diesen und weiteren daraus abzuleitenden Positionen vertritt der in der ‚Bescheidenheit‘ sich manifestierende Sprecher also genau die Instanz, auf die auch das Sprichwort sich beruft: Das Wissen aus der Erfahrung und das Urteil nach Vernunft, samt den daraus wiederum vernünftig abzuleitenden Handlungsmaximen“ (Grubmüller: Freidank, S. 50).  

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2 Äsopische Autorisierung

Der zweigeteilte Aufbau der Fabel in Fabelerzählung und Affabulatio mag dazu verleiten, das Sprecher-Ich in den formal getrennten Bereichen kategorisch voneinander zu unterscheiden, im Esopus ist aber kein Anlass für eine formale Trennung gegeben. So wird in der Fabelerzählung auch gedeutet bzw. erläutert, wie der Fabeleingang in II 11 zeigt. In den ersten Versen wird der in der Überschrift angekündigte „Waldtgott“ näher beschrieben, es handelt sich um einen „Satyros“ (II 11,21). In der Vorlage ist dieser nur minimal als ehemals göttlich verehrt näher umschrieben: „Satyrus, qui deus nemorum olim est habitus“.482 Im Esopus wird zuerst eine zeitliche, dann eine räumliche Distanz zum zeitgenössischen deutschen Leser aufgebaut: VOR zeiten in den alten Jaren Viel seltzam thier auff Erden waren Dort hinden in Sarmatia Auch mancherley in Affrica Jn Wildtnussen/ vnd grossen Wlden Dahin die Leut kamen gar selten/ Sonderlich in Egypten landt (II 11,1–7).

Betont wird die Andersartigkeit des Satyrs, seine Existenz und die Tatsache, dass es sich bei ihm um ein Tier handelt, von dem in der Bibel berichtet wird: Da waren Thierlin vnbekandt/ Rauh/ vnd vierfssig wie ein Geyß Wie man das auß der schrifft wol weyß (II 11,8–10).

Ausführlich werden erst das Aussehen und dann der Umstand geschildert, dass diese von etlichen Menschen angebetet werden würden. Die Handlung beginnt, ein Wanderer verirrt sich in der zugeschneiten Wildnis. Es folgt ein Rückverweis auf die Erläuterung zu Beginn: „Begegnet jm ein solches Bildtnuß/ | Dauon wir jetzt haben geredt“ (II 11,28 f.). Zugleich gibt es Affabulationes in denen zusätzlich Erzählungen wiedergegeben werden, zu deren Beginn sich ein Erzähler zu Wort meldet. IV 23 schildert die Geschichte eines Gärtners, die dem Sprecher-Ich berichtet wurde, als dieses vor ungefähr 16 Jahren in Breslau gewesen sei. In der Affabulatio folgt auf die Aussage, dass man Personen persönlich kenne, die als Negativexempel herangezogen, ein exempelhaftes Erlebnis:  

482 Esopus. Bd. 2, S. 121.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

181

Jch weyß noch jetzt wol solche Gsellen Die sich auch bey den Glerten stellen Als ob sie weren auch gelert Vnd werden offt dafr geehrt/ Jch het ein mal ein guten Frndt Der bey mir in der Kirchen stundt Mit eim Latinschen Testament Dasselb er offtmals vmbewendt/ War etwan in der Schul gewesen Das er Latin het hren lesen Zwir geworffen mit eim Donat Da lieff er hin/ vnd het sein sat/ Wie ich dasselb mal bey jm stundt Vnd jn in schertz fragen begund Das Liber Generationis Da antwort er mir wie ein Ouis Damit er mir gab einen bscheydt Seiner grossen vnwissenheyt (IV 23,95–112).

Mit diesem anekdotenhaften Erzählen geht eine biographische bzw. pseudo-biographische Funktion einher, der aber im Rahmen der Gattung ‚Fabel‘ mit Vorsicht zu begegnen ist. Es gilt zu unterscheiden, ob sich ein Ich in den Peri- oder den Fabeltexten äußert und was für ein Status diesen Aussagen zugesprochen werden kann. Ein Kriterium ist hierbei, ob es von Ereignissen in der Fabelerzählung berichtet, sich zum Sinn der Narrationes oder zur literarischen Produktion der Fabeln äußert. So erfährt man vom Sprecher-Ich, wie es begonnen habe, sich „in den Fabeln Esopi zubemhen“ (Vorrede, Z. 6). In den Fabelerzählungen berichtet es von seinen Erlebnissen: „EJns mals gedacht zu werden fromb | Vnd zoh auß Teutschlant hin nach Rom“ (IV 24,1 f.). In den Affabulationes bewertet es Figuren, Geschehnisse oder in der Fabelerzählung geschilderte Zustände und gleicht diese mitunter mit seinen eigenen Erfahrungen ab:  

Jch kenn auch jetzt viel armer leut Doch halt ich nit/ das man jetzt heut Vnder in allen einen findt Der gleich wie dieser sey gesinnt (IV 82,113–116).

Gerade Äußerungen, in denen das Sprecher-Ich von angeblich selbst erlebten Geschichten erzählt, sind aufgrund des traditionellen Status von Fabeln als Lügen zu misstrauen. Darauf und auf die Ausformungen dieser verschiedenen Funktionalisierungen ist im Folgenden näher einzugehen.

182

2 Äsopische Autorisierung

2.2.3.1 Autor-Ich Aussagen zur Tätigkeit von Waldis finden sich in den Peritexten sowie in einzelnen Fabeln, auffallend ist aber die Rahmung der Fabelsammlung mit längeren Abschnitten zu diesem Thema. In der Vorrede an den „Erbarn/ Namhafftigen vnnd Weisen Herrn/ Ern Johann Butten/ Burgermeister der Stadt Riga in Lyfflande/ meinem gnstigen Herrn/ vnd freunde“ (Vorrede, Z. 1–3), in den einleitenden Versen des darauffolgenden Leben Esopi sowie in der Affabulatio der letzten Fabel informiert Waldis über sein literarisches Schaffen. Die Vorrede gibt Auskunft über Schaffensbeginn, -unterbrechung und -wiederaufnahme, Intention, Quellen der Fabeln und deren Bearbeitung. Der Widmungsempfänger der Sammlung weist zurück an den Anfang der literarischen Unternehmung. Die Widmung habe ihren Ursprung in der Anfangszeit der Fabelbearbeitung (deren Merkmale schon damals in der Übersetzung von Latein zu Deutsch und die Anordnung in reimenden Versen bestanden habe), als Waldis noch in Riga tätig gewesen sei und die Widmung dem Bürgermeister der Stadt versprochen habe.483 Für die Verzögerung werden mehrere Gründe wie das persönliche Schicksal in Form von „vielerley vnfelle/ widerstand vnd leibsgebrechen“ (Vorrede, Z. 10 f.) genannt, aber auch äußere Widrigkeiten wie die anhaltenden „fehrlichen Kriegshendel vnd Emprunge inn gantz Deutschen Landen“, die als „vbel vnnd plagen/ die ntzen/ vnnd notwendigen Studia pflegen zuschwechen/ auch mercklich zu verhindern“ (Vorrede, Z. 15 f.). Es sei die „bitt vieler Herrn vnd guten freund“ (Vorrede, Z. 18 f.) gewesen, die ihn dazu bewegt habe, die Arbeit an der Sammlung wieder aufzunehmen.484 Diese umfasse das Überprüfen: „vbersehen“ (Vorrede, Z. 19), die makrostrukturelle Anordnung: „form vnd ordnung gstellet“ (Vorrede, Z. 20) zu Büchern à 100 Fabeln und die mikrostrukturelle Form: deutsch, Reim und Verse der „Fabeln Esopi sampt den andern/ wie ich sie im Latin funden“ (Vorrede, Z. 20–22). Das Buch, welches sich nun dem Leser präsentiert, überbietet die ursprüngliche Intention, die Fabeln nur neu zu übersetzen und zu formen, der Autor erweitert den Fabelbestand um neue Fabeln. Diese würden von dem  





483 „Jch hab mich noch wol zu erinneren/ das ich E. E. vor etlichen Jaren da ich alda bey euch anhub/ mich in den Fabeln Esopi zubemhen/ die selbigen auß dem Latin/ inn vnsere Deutsche Sprachen zubringen/ vnd in gebundene Gedicht vnd Reimen zefassen vnderstanden/ zugsagt vnd verheissen hab/ das/ so bald das selbige Buch gefertigt/ Jchs E. E. zuschreiben vnnd also im Druck ausgehen lassen“ (Vorrede, Z. 5–10). 484 Parallelen zu einer solchen Neuaufnahme einer Tätigkeit als Fabelbearbeiter finden sich in der 1550 gedruckten Fabelsammlung des Erasmus Alberus. Dieser hatte jedoch die erstmalige Beschäftigung mit Fabeln in seiner Jugend abgeschlossen und als solche auch 1534 in geringerem Umfang publiziert: „die ich in meiner jugendt gedicht/ vnd jetzt noch ein mal vbersehen vnd corrigiert habe“ (Alberus: Fabeln, Vorrede [A], S. 30, Z. 78 f.).  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

183

bekannten Textbestand abgesondert und im vierten Buch mit ihren Deutungen wiedergegeben: zu dem hab ich noch ein Hundert Newer fabeln auch in ein sonderlich Buch/ mit jrer kurzen deutung hinan gesatzt/ Also das aus jnen allen dis Buch/ wie alhie zubesehen/ erwachssen ist (Vorrede, Z. 22–24).

Auf weitere Aussagen, etwa zum Nutzen des Werkes, verzichtet Waldis bewusst: Dasselbig nu weiter zu loben/ oder vrsach dieses schreibens/ vnd was die Fabeln nutzes oder frchte bey sich haben/ alhie anzuzeigen/ acht ich fr vnntig/ weils frhin in andern Bchern gnugsam dargethan/ vnd wird ein jeglicher fleißiger Leser selbst mit der zeit wol empfinden (Vorrede, Z. 23–25).

Den intendierten Rezipienten wiederum benennt er klar. Nicht für die Gelehrten, sondern für die Jugend hat Waldis den Esopus verfasst: hab auch solchs nicht den Gelerten/ vnd vnd die es besser knnen/ sondern der lieben Jugent/ Knaben vnd Junckfrawen zu dienst vnd frderung lassen außgehn/ vnd fast an allen enden dermassen zugesehen/ das ich jnen hiemit zur besserung dienen mcht/ vnd die zarten ohren der lieben Jugent sich an meinem schreiben nicht zu ergern hetten (Vorrede, Z. 28).

Die Vorrede wird alliterierend unterzeichnet als „E. E. Weißheit williger Burcardus Waldis“. Es gibt im Esopus keine Hinweise darauf, dass der Leser der Sammlung das ‚Ich‘, das sich in den darauffolgenden Stellen einbringt, nicht ebenfalls als textuelle Manifestation von Waldis zu verstehen habe.485 Im direkt darauffolgenden Leben Esopi werden in weiteren Ich-Aussagen Informationen zur literarischen Arbeit am Esopus wiederholt und erweitert. Auch die Darstellung des Lebens Äsops wird nun als Leistung des Autors in Anspruch genommen. Hervorgehoben wird der auf Vollständigkeit abzielende Sammlungsanspruch äsopischer Fabeln: Denn seind das ich der meinung war Desselben [gemeint ist Äsop] Fabeln gantz vnd gar Jn Reim zumachen frgenommen So viel ich hab mgen bekommen (Leben Esopi, V. 5–8).

485 Dennoch sollten Ich-Aussagen, besonders in den Fabelerzählungen, nicht unreflektiert als identisch mit dem Autor als textexterne Instanz gesehen werden. So warnt schon Lieb davor, solche Aussagen unreflektiert oder bewusst mit der des Autors gleichzusetzen, wie etwa bei Peter Hasubek: Der Erzähler in den Fabeln Lessings. In: Fabelforschung. Hg. von Peter Hasubek. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung 572), S. 363–383, hier S. 382 geschehen, siehe Lieb: Erzählen, S. 68.

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2 Äsopische Autorisierung

Dieses Sammlungsinteresse wird im Folgenden noch überboten, denn Waldis weist auf weitere lateinische Fabeln hin, die er ebenfalls in die Sammlung aufgenommen habe. Aufnahme finden sowohl Fabeln in schriftlichem Gebrauch, wie aus der Schule, aber auch aus der mündlichen Verbreitung im Volksmund. Fabeln werden als allgegenwärtig und gattungsdurchlässig dargestellt. Mündlich verbreitet seien sie in Form von Sprichwörtern, funktionalisiert würden sie wie Exempel: Auch ander/ welch gelerte leut Beschrieben haben/ die noch heut Jn Schulen teglich werden glesen Auch vnderm volck im gmeynen wesen Wie Sprichwrter offt Alligirt Gleich wie Exempeln eingefrt Jn red vnd teglichem gebrauch Welcher ich bey mir selber auch Gebraucht/ vnd gmacht/ die ich zu letzt Zu diesem buch hinan gesetzt (Leben Esopi, V. 9–18).

In den letzten drei Versen ordnet sich der Autor selbst als Partizipierender diesen verschiedenen Bereichen zu, auch er „gebraucht“486 die Fabeln in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. In seiner literarischen Tätigkeit wird er vom Fabelrezipienten und Fabelanwender zum Fabelproduzenten. Als solcher könnte er in die Reihe der Gelehrten eingeordnet werden. So „verwischt Waldis die Differenz von Leser und Autor im Leben Esopi, indem er Ursprung und Fortschreibung der Fabeldichtung als ein Kontinuum bewußt macht (V. 9–18), in dem er keinen festen Standort einnimmt“.487 Er eint in sich und seiner Fabelsammlung die schriftliche wie die mündliche Verbreitung, die gelehrte wie die alltägliche Verwendung und übertrifft zugleich sowohl die rein schriftliche als auch die rein mündliche Verbreitung. Das gmacht lässt sich auch auf die erfundenen Fabeln von Waldis beziehen, die Neuschöpfungen, auch dies wäre als Überbietungsanspruch zu verstehen, da nun sogar der Fundus an Fabeln erweitert wird.488

486 Im Kommentar der neuesten Esopus-Edition wird gebraucht mit ‚als Vorlage verwendet‘ übersetzt. Das Wort wird als Rückverweis „auf die wenn auch vagen Quellenangaben“ verstanden. Syntaktisch sei es dem gmacht zugeordnet (Esopus. Bd. 2, S. 38). Die syntaktisch mögliche Beziehung ginge noch weiter, das gmacht kann sich ebenso auf die Verse ab V. 5 beziehen und würde dann sowohl die anderen Fabeln der Gelehrten wie die Sprichwörter im Volksmund beinhalten. 487 Vögel: Natur, Gesellschaft, Moral, S. 215. 488 Vergleicht man die Autorkommentare zur literarischen Tätigkeit im Esopus mit denen in anderen seiner Werke, gewinnen die im Esopus getroffenen Aussagen an Gewicht, da sich zeigt,

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Sein literarischer Schaffensanspruch geht über die bloße Übersetzung oder Bearbeitung hinaus: „Innerhalb der Tradition des Fabelerzählens nimmt Waldis damit eine uneindeutige Position ein, die zwischen der Bearbeitung bekannter Fabeln und eigenem Erfinden changiert“.489 Das Sprecher-Ich gewinnt in diesen Versen in seiner Tätigkeit als Sammler, Ordnender, Übersetzer und Schaffender an Kontur. Äsop selbst spielt zu Beginn seiner eigenen Lebensgeschichte nur aufgrund der Fabeln, die ihm zugeschrieben werden, eine Rolle. Informationen zu diesen sind dabei stets der Darstellung des Autors Waldis untergeordnet. Nicht Äsop, dessen Fabeln bearbeitet werden, sondern der Autor, der die Fabeln Äsops in seiner Verfügungs- und Bearbeitungsgewalt hat, steht im Fokus. Er macht die äsopischen Fabeln ‚neu‘, er bestätigt darin Äsop, schreibt ihn fort, überbietet ihn aber auch durch 100 ‚neue‘ Fabeln. Er realisiert seinen Geltungsanspruch, stellt seine Souveränität über die Fabeln Äsops aus und stellt sich zu Beginn der Lebensdarstellung des pseudohistorischen Fabelschöpfers in die Reihe früherer Bearbeiter: ESopus Leben zu beschreiben Damit etlich viel wunders treiben Hab ich zu fassen auch gedacht Vnd auffs krtzest zusamen bracht (Leben Esopi, V. 1–4).

Da Waldis die Lebensbeschreibung vor den schwankhaften Episoden bei Xanthus abbricht, unterscheidet er sich explizit von den Autoren, die mit der Lebensbeschreibung Äsops viel wunders treiben: „Sonst sagt man viel seltzamer bossen | Die ich kurtz halb wil bleiben lossen“ (Leben Esopi, V. 241 f.). Stattdessen folgen direkt überlieferte Sentenzen und die Schilderung des Todes von Äsop. Auch am Ende der Sammlung finden sich Aussagen zur literarischen Tätigkeit des Autors. Nachdem sich das Sprecher-Ich in der Affabulatio der letzten Fabel über den schlechten Zustand der Welt beklagt hat, sich das Jüngste Gericht  

dass Waldis mitunter sehr genau beschreibt, welche Art der Bearbeitung er vorgenommen hat. So folgt der übersetzten Vorrede zum Regnum Papisticum eine von Waldis angefertigte Vorrede, in der er Stellung zu seiner Tätigkeit als Übersetzer bezieht. Ausgehend von dem ursprünglichen Widmungsträger der lateinischen Vorlage „das bptstische Reych“, dem Landgrafen Philip von Hessen, wird auch auf denselben als Auftragsgeber für die Anfertigung der Übersetzung hingewiesen: „Nach dem aber hochgemelter vnser gnediger Landsfürst dis Buch auß dem latein vber zu setzen/ vnd in unsere gemein Deüdsch zu bringen gnediglich mir hat befelhen lassen/ hab ich dasselbige als ein gehorsamer vndersaß angenommen und auß sonderlichen vrsachen bedacht/ Eüwern Fürstlichen Gnaden/ dise meine arbeit zu dedicieren und zu zu schreiben“ (Waldis: Ppstisch Reych, Zweite Widmungsvorrede, ohne Zählung). 489 Esopus. Bd. 2, S. 38.

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2 Äsopische Autorisierung

gewünscht und das Ende der Welt als begehrenswertes Ereignis ausgemalt hat,490 folgen ab V. 214 abschließend 21 Verse. Mit der darin getätigten Namensnennung Burcardus Waldis wird ein Bogen zur Namensnennung am Ende der Vorrede geschlagen. Nur Anfang und Ende der Sammlung weisen diese Namensmarkierungen auf.491 In den letzten Versen präsentiert sich der Autor in einer für das Mittelalter typischen Weise am Ende des Werkes: Von den vorherigen Versen der Fabel IV 100 grenzen sich diese zäsurartig durch den Wechsel von der ersten Person Singular zur dritten Person Singular ab.492 So schließt sich der nun als Autor Genannte dem zuvor formulierten Wunsch nach dem Weltende an und erweitert diesen für alle Gottesgläubigen: Das solchs geschehe/ vnd werde war Das wntscht Burcardus Waldis allen Die jren lust vnd wolgefallen Haben an Gott vnd seinem wort (IV 100,214–217).

Waldis wird noch einmal als derjenige präsentiert, der die gesamte Sammlung verantwortet. Dies umfasst alle Bestandteile, sei es die Auswahl der Fabeln, der alten wie der neuen, sei es die Form in Reim und Vers, sei es die Ausgestaltung für den intendierten Rezipientenkreis. Die traditionellen Bestandteile von Autorkommentaren zu Umfang, Bearbeitungsanspruch und erwünschten Rezipienten, die

490 „Vnd Gott mit rechtem glauben bitten | Das er doch wll sein lieben Son | Absenden/ auß seim hhsten thron | Das er der Welt einst mach ein endt | Das dieser jamer vnd elendt | Ein mal auff hr/ die tag verkrtzt | Vnd als werd in einander gstrtzt/ | Vnd vns durch seine zukunfft lab | Das wir der sunden komen ab | Vnd werden in das Reich gesetzt | Darinn wir Ewig vnuerletzt | Von allem vnflat gwaschen rein | Frumb/ selig/ heilig mit jm sein/ | Vns frewen mit der Engel schar“ (IV 100,200–213). 491 Wiederum gilt, dass es keinen textinternen Grund gibt, die zuvor in erster Person getroffenen Aussagen von dem Namen Waldis zu trennen. 492 Vgl. das Kapitel „‚Ich‘ und ‚Er‘: Praktiken der Autornennung – Paratexte avant la lettre“ in Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S. 45–65. Glauch widmet sich darin den „autorhaft[] oder anderweitig personalisierte[n] Selbstentwürfe[n]“ (ebd., S. 46). Die „Namensnennung des Autors in der dritten Person ist ein medial begründeter Usus, eine Implikation der Schriftlichkeit. Sie findet sich in geistlicher Dichtung ebenso wie in weltlicher und ist deshalb für die Konstruktion eines fiktiven Sprechers im Text nicht in Anspruch zu nehmen. Auch in der höfischen Epik ist sie zunächst eher dort verbreitet, wo die Dichter sich als schreibende und übersetzende Autoren in Pose setzen und wo Vortragsinszenierung im Text kaum vorkommt“ (ebd., S. 52). Die Namenssignatur im Text ist „ein Bedürfnis, das bis heute im performativen Akt mit seiner Präsenzlogik nicht aufkommt. Es rührt vielmehr von der Verschriftung her, die eine Trennung von Text und möglicher späterer Rezeption zur Folge hat“ (ebd., S. 49).

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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bereits in Vorrede und dem Leben Esopi behandelt wurden, werden erneut genannt: Der dis Gedicht von endt zu ort Beyd alt vnd new gemachte Fabeln Mit deutung/ gleichnuß/ vnd Parabeln Wie ers in dem Latin hat funden Zu Reim in kleine Bntel gbunden Zu gut der Jugent außgehn lassen auff das destbesser wer zu fassen (IV 100,218–224).

Waldis zeichnet verantwortlich für „dis Gedicht von endt zu ort“ (IV 100,218). Der Esopus endet mit der Bitte um den Beistand Gottes: Gott wll sein gnad dazu verleihen Das zu allm guten mg gedeien/ Vnd der meynung werdt angenomen Wie es der Jugent ist zu frommen Alleyn gemacht vnd dar gethan Das also auch werd gnomen an Gelernet vnd gebraucht recht wol/ Dazu wntscht er jetzt noch ein mal/ Ders gantze Buch hat zamen bracht Glck/ heyl/ viel tausent guter nacht“ (IV 100,225–234).

Vereinzelt finden sich auch in den Fabeln, sowohl zu Beginn der Fabelerzählungen wie auch in den Affabulationes, Verse, in denen die literarische Tätigkeit genannt wird. In II 31 wird der Bearbeiter äsopischer Fabeln genannt, dessen Fassung Waldis bearbeitet. Auf die seltene Nennung eines anderen Autors: „GErbellius ein Fabel schreibt“ (II 31,1), folgt zugleich ein Hinweis auf die Übersetzungs- und Bearbeitungstätigkeit von Waldis: Weil sie nun ist dermassen gstellt Das sie mir im Latin gefellt Wiewol sie es thet nit gar gern Hat dennoch Teudsch mußt reden lern (II 31,5–8).

Ähnlich wie im Leben Esopi weist Waldis auf die Fabeltradition und -verbreitung hin, hier, indem er den zeitgenössischen Humanisten und seine Fabel nennt, auf die zeitgleiche lateinische Fabel. Zugleich kann in den Aussagen zum literarischen Schaffen beobachtet werden, dass sich Waldis, mehr oder weniger ironisch, zurücknimmt. Weniger ist dies der Fall in der Affabulatio von III 92 in den V. 171–174, wenn er die Fabelerzählung von einem Schweinehirten, der Bischof wird, ausdrücklich als erfundene Fabel („ein gedicht“) und „nit fr ein geschicht“

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2 Äsopische Autorisierung

verstanden haben möchte. Fast schon resignierend mutet der Abschluss des dritten Buches an. Thema der Affabulatio ist die Scheinheiligkeit der Franziskaner, die durch den Augenzeugenbericht von der Pracht des Klosters in Assisi und schließlich mithilfe eines derben Exempels von der Hl. Katharina veranschaulicht wird. Der Fundus an weiteren Beispielen sei noch nicht ausgeschöpft, der Sachverhalt aber in aller Deutlichkeit dargestellt: Der stck wolt ich wol mehr anzeygen Will aber jetzt die Feder schweigen/ Denn alles ist klarer am tag Denn mans schreiben oder sagen mag (III 100,165–168).

Mehr mit einem Augenzwinkern ist schließlich der Kommentar in der Affabulatio der Fabel II 45 zu lesen. Angeblich im Dienst der Frauen möchte das Ich es unterlassen, weitere Untugenden derselben aufzuzählen, nur um es dann als praeteritio, als „rhetorische Geste dessen, der seine Erfahrung und sein Wissen zurückhält (‚ich könnte noch viel davon erzählen‘)“,493 doch zu tun: Dauon ich jetzt nit mehr will sagen Jch frcht sie mchten mich verklagen/ Vnd so jr vngunst auff mich laden/ Besser/ das ich mich ht fr schaden Behalt der Frawen gunst vnd huldt Denn das ich wrd von jn beschult/ Als der nit anderst het zu schaffen Kndt nichts/ denn nur die frawen straffen/ Wiewol die Feder jetzt gern wolt Das ich von jn mehr schreiben solt/ Das sie gut sein zu bsen sachen Jrs gfallens knnen weynen/ lachen/ Vnbstendig/ gschwetzig/ schnell zu liegen Mit bhendigkeyt den Mann betriegen/ Das will ich jetzundt alles sparn/ Mir ist schier all zuuiel entfahrn (II 45,63–78).

Die Affabulatio ist zumeist der Ort für weitere Formen der Funktionalisierung, die sich von den bisher geschilderten unterscheiden. Bereits ab der vierten Fabel der Sammlung sind Aussagen in der ersten Person Singular eingebaut, die nicht auf die literarische Tätigkeit eingehen, sondern davon unabhängig einerseits eine eigene Meinung formulieren, andererseits in Bezug auf die Fabelerzählung und auf Sachverhalte der Fabelauslegung den Leser direkt ansprechen. Anders als die

493 Esopus. Bd. 2, S. 148.

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2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

Äußerungen über die Produktion der Fabeltexte, sind diese Aussagen des Sprecher-Ichs Teil der in der Fabel erläuterten Themen, bilden diese eine Möglichkeit, auf den Sinngehalt der Fabel Einfluss zu nehmen. Formal sind diese Äußerungen nicht klar von denen des Autor-Ichs abzusetzen. Jedoch bleibt die Inszenierung eines ‚Ich, Waldis‘ in den Fabeln aus, nur in den rahmenden Kommentaren in Vorrede und in der Affabulatio der letzten Fabel wird der Name Waldis genannt, der klar dem schreibenden Ich zugehörig ist. In den Fabeltexten hingegen bleibt das deutende und erzählende Ich ungenannt.

2.2.3.2 Deutendes Sprecher-Ich In der Fabel I 30 von der Fliegen vnnd Ameyssen streiten sich die titelgebenden Tiere, wer von beiden „ein edel Thier“ (I 30,3) sei. Aufgeführt werden die Behausung, die Nahrung, sowohl Speise als Trank, Geschlecht, Erwerbstätigkeit als auch Ansehen bei den Menschen und deren Auslegung der Tiere, so in der Rede der Ameise an die Fliege: „Die faulen dich zum beispiel han | Jr eigentschafft zeigstu jn an“ (I 30,41 f.). Die Wechselrede endet mit den Worten der Ameise, der Ausgang der verbalen Auseinandersetzung bleibt in der Fabelerzählung offen. Erst in der Affabulatio wird der Streit zu Gunsten der Ameise entschieden: „Doch gib ich hie der Ameissen recht | Es ist viel besser leben schlecht“ (I 30,51 f.). Das Sprecher-Ich übernimmt eine vermittelnde Aufgabe, die traditionell textextern angesiedelt ist, die Diskussion und Bewertung der Fabelerzählung. Indem die Handlungen und Reden von Figuren in der Affabulatio positiv oder negativ bewertet werden, tritt das Sprecher-Ich als Autorität hervor, die eine nachträgliche Eindeutigkeit dessen herstellt, was in der erzählten Welt verhandelbar und unabgeschlossen bleibt. Die Bestätigung kann hierbei sehr deutlich ausfallen und als unhinterfragbar dargestellt sein, wie in II 91,25: „Der Nußbaum hie die Warheit sagt“. In IV 83 wird die Handlung einer Figur augenzwinkernd in Schutz genommen und nachträglich unter dem nun gegenüber der Erzählung zusätzlich eingebrachten Aspekt der Reformation verteidigt. Damit wird, ausgehend von der Deutung einer Figur, vom Sprecher-Ich eine Sinnstiftung vorgenommen. Das Einbinden in einen größeren Zusammenhang lässt sich schon bei der Narratio beobachten. Es handelt sich bei der Fabelerzählung um eine schwankhafte Betrugsgeschichte. Ein Kurtisan erfährt, dass „ein feyßte Thumberey | Jm Stifft zu Wrtzburg“ (IV 83,78 f.) frei geworden ist. So schnell wie möglich versucht er, nach Rom zu gelangen. Als sein erstes Pferd an der italienischen Grenze zusammenbricht, kauft er bei einem listigen Wirt ein neues. Der Wirt warnt ihn, der Gaul sei kräftig und schnell, nur müsse man ihn „rheiten das er schwitzt | Vnd das er nur ein mal erhitzt“ (IV 83,99 f.). Trotz zahlreicher Versuche das Pferd anzutreiben und zu erwärmen, bleibt es ein lahmer Gaul. Erst als der Kurtisan in Wut die  







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2 Äsopische Autorisierung

Strohballen anzündet, galoppiert das Pferd davon. Er sieht ein, dass er betrogen wurde, sich die Worte des Wirtes aber dennoch bewahrheitet haben. Die Erzählung veranschaulicht, was in den ersten 74 Versen als Thema eingeführt wurde, die als Korruption der päpstlichen Kirche interpretierte Praxis des Verkaufs geistlicher Ämter. Wie schon der Kurtisan in der Fabelerzählung sieht auch das Sprecher-Ich in der Affabulatio keinen Anlass, den Wirt zu verurteilen. Er interpretiert sein Handeln als antipäpstlich: Der Wiert hat schwerlich gsndet dran Das er ein solchen frummen Man Verhindert hat ein solche rheyß Dieweil das jederman wol weyß Das der Bapst in seim abentessen Desselben stcks nit hat vergessen Jn seiner Bull verflucht/ verdampt All die da sein so vnuerschampt Vnd jemandt an der Rmschen rheysen/ Verhindern vnd kein hilff beweisen/ Welchs dieser Wiert nit hat bedacht Oder vielleicht den fluch veracht Das er jm nit gehorsam gwesen Hat leicht des Luthers Bcher glesen Wie auch sonst jetzt die gantze Welt Auffs Bapsts gebot zwar nicht viel helt/ Jedoch will ich jn des entheben Vnd weyß jm nit viel schuldt zu geben/ Weil er jm hat die warheit gsagt Vnd der Curtisan jn nit verklagt (IV 83,135–156).

Nicht nur Fabelfiguren, sondern auch der Menschenschlag, den sie aufgrund bestimmter Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften vertreten und die in der Affabulatio genannt werden, sind Gegenstand der Bewertung durch das Sprecher-Ich, wie in I 39,26–32: Solch gesellen werden billich gescholten Vor ehrloß vnd trewlose Buben Wenn sie eins frommen mans behufen Redens freundtlich/ er vnuerdrossen Hilfft jn/ wenn sie sein han genossen Mit vntrew thun jms wider zalen Den wolt ich wntschen all zumalen Die sich mit solchen stcken neren Das am Galgen ersticket weren.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Explizit als Deutungsinstanz tritt das Sprecher-Ich in der Affabulatio von II 30 auf. Darin wird die Erzählung von dem Sänger Arion, der von Delphinen vor dem Tod bewahrt wurde, gedeutet. Ausgangspunkt der Deutung ist die Tatsache, dass man Bey den wilden vnd frechen Thieren Mehr gut/ vnd miltigkeit thut spren/ Denn bey den Leuten/ den jr hertz Jr gantze leben schimpff vnd schertz Sunst niergen mehr ist hin gestellt Denn auff das bß verfluchte gelt (II 30,137–142).

Anschließend veranschaulicht er diesen hier formulierten Unterschied am Beispiel des Lazarus: Was vnderscheidts zwischen den Leuten Vnd einem Thier/ will ich euch deuten/ Vnd ist zusehen bey den Hunden Dem Lazaro lecken die Wunden (II 30,149–152).

Auch ohne direkten Bezug auf die Fabelerzählung kann das Sprecher-Ich hervortreten, indem es Zustände und Sachverhalte in der Alltagswelt bewertet, etwa die Kaufmannschaft: „Die Kauffmanschafft mir nicht gefelt | Da man das hoffen kaufft vmb gelt“ (I 4,31 f.). Die Meinung des Sprecher-Ichs, formelhaft angekündigt als ich halt oder mich dunck, kann hierbei zu einem eigenständigen Element der Affabulatio werden, etwa in I 7:  

Von anbegin der Welt/ ich acht Das nie so groß gewesen sey Vndanckbarkeit/ vnd triegerey (I 7,36–38).

Es gibt Ratschläge, wie in I 40,45–47: Jch halt es vor den hhsten schutz Auff erdt/ vnd vor den grsten nutz Das einer grosse Freundtschafft hat,

und weist auf allgemeingültige Normen hin: „Behertzet sein/ vnd guter mut | Dunckt mich in allen sachen gut“ (I 23,39 f.). Hierbei kann er sich mit seiner Meinung auch gegen Verhaltensweisen wenden, die „jetzt in der Welt gemein“ (I 85,21) seien. Etwa werde ein Mensch, dem ein Unglück zustoße, von seinen Mitmenschen zusätzlich grob und schlecht behandelt, „Jederman fehrt jn schimpflich an | Als het er selb nie bß gethan“ (I 85,29 f.). Dies wird angemahnt:  



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2 Äsopische Autorisierung

Jch halt aber/ wenn er nem ein Liecht Vnd schawt/ wie er von innen sicht/ Da fund er auch wol etwas kleben Denn on gebrech mag niemandt leben (I 85,33–36).

Das Sprecher-Ich nennt eigene Lebensumstände und verweist auf sein eigenes Verhalten, welches vorbildlich auf den Leser wirken soll: Weil mir mein standt zu dieser frist Leidlich vnd wider Gott nit ist/ Muß ich damit zu frieden sein Jsts nicht von allen seiten rein Weil ich noch bin in diesem leben Hienehst wirdt Gott ein bessers geben (I 18,35–40).

Es führt eigene Entscheidungsprozesse vor, wie in I 28,13–17: Leibliche schne ist an zu nemen Darff sich derselben niemandt schemen/ Aber wenn ich eins auß kiesen solt Viel lieber ich denn wntschen wolt Des hertzen zier/ kunst vnd verstandt (I 28,13–17).

Des Weiteren führt es sich selbst als Beispiel überall zu beobachtender, eher negativ bewerteter Verhaltensweisen auf. Für den Umstand, dass Gerüchte schnell aufkommen und auch schnell wieder vergehen, führt er seine eigene kurze Begeisterungsfähigkeit auf: Es ist kein ding so wunderlich Wenn ichs ein kleine zeit ansich/ Das mirs denn kommet vberflssig Werd ichs zuletst doch vberdrssig (III 6,27–30).

Es wirkt bestätigend, wenn er als Augenzeuge auftritt, sei es für Sachverhalte, die als alltäglich gelten, wie die Untreue von Frauen: „Wie ich offtmals gesehen hab“ (II 45,50), oder für die Leibeigenschaft in Form von Sklaverei, die für den zeitgenössischen deutschen Leser nur in der Peripherie des Eigenen, Bekannten eine Rolle spielt: Jn Jtalien vberall Zu Lissibon in Portugall/ Die bringt man nacket Fraw vnd Man Wie ichs daselbst gesehen han (II 18,41–44).

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2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

Es tritt als Ratgeber auf, das mithilfe seines eigenen Urteilsvermögens Fabellehren nochmals aufnehmend oder bestätigend und formelhaft eingeleitet mit der Phrase ich rath494 als zu befolgende Verhaltensweisen formuliert. Dies ist beispielsweise der Fall in I 5,39 f.: „Derhalben ich eim jeden Rath | Das er mit seinem gleich vmbgath“. In der Funktion des Ratgebers spricht es auch den Leser der Fabeln direkt an: „Drumb laß dich nit eins solchen glsten | Wider den armen dich zu rsten“ (I 33,45 f.) und gibt klare Gebote vor, wie in II 80,39 f.: „Du solt nicht wten oder schelten | Jn den der dirs kan widergelten“.495 Mitunter ist es die eigene Erfahrung, auf die sich das Sprecher-Ich mehrfach beruft. Die Erfahrungswerte haben zwar den Anspruch, allgemein gültig zu sein, da es sich aber dennoch um eine Meinung handelt, die das Sprecher-Ich explizit als seine eigene präsentiert, wird der Leser vermehrt aufgefordert, dem Sprecher auch wirklich Glauben zu schenken:  





Denn jetzt die Welt so trewlich ist Bey vielen leuten glaub mir frey/ Mit warheit wirdt die lg staffiert Vnd mit Honig das gifft geschmiert/ Denn also gehts zu dieser zeit Jn gutem glauben btreugt man dleut Mit list den frommen vberfehrt Glaub mir/ ich bins mit schaden glert (I 79,25–34).

Während die zuvor aufgeführten Funktionen das Sprecher-Ich als Autorität auszeichnen, kann der Verweis auf eine fehlende, eigene Erfahrung auch zur Verunsicherung genutzt werden. In IV 82 stellt sich das Sprecher-Ich gegen das, was man sich von früher erzählt. Es wird abgewiesen, dass man heute noch einen Gastwirt fände, der einem Armen von sich aus Geld gäbe, wie es in der Fabelerzählung berichtet wird: „Wie man sagt/ das ehe sey geschehen | Jsts war/ weyß nit/ habs nit gesehen“ (IV 82,123 f.). Neben dem eigenständigen Auftreten als ‚Ich‘ und der Konstellation des Sprecher-Ichs in Beziehung zu einem ‚Du‘, dem einzelnen Leser, und der allgemeinen Masse, dem ‚man‘, ordnet sich das Sprecher-Ich auch in ein ‚wir‘ 

494 Die Phrase ist auch in I 96,19 und I 31,31 verwendet. Das Beurteilen ist in I 58,19 f. ausgesprochen: „Drumb duncket michs ein guter rath | Das einr des andern gmeynschafft hat“. 495 Ebenso in II 6,15 f.: „Wenn dir einr rth/ so sihe wol vmb | Auß was meynung der rath her kum“, II 7, 13–16: „Was du mit macht nit kanst gewinnen | Dasselb mustu mit list beginnen/ | Vnd was die sterck nicht geben hat | Dasselb muß suchen ein weiser Rath“, II 94,23–26: „Wenn du ein solchen vberwgst | Mit wolthat/ vnd auff henden trgst/ | Gen Rom/ vnd setzst jn vnsanfft nider | Bezalt ers doch mit vnthat wider“ u. ö.  





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2 Äsopische Autorisierung

Kollektiv ein, das den Leser der Fabelsammlung mit einschließt. Die gemeinsame ‚Erfahrung‘, Normen und Werte werden aufgerufen und zum Abgleich mit den Fabelerzählungen wie mit den Zuständen in der Welt des Lesers und des Autors genutzt. Die Hinwendung zum Leser in Stellen fingierter Mündlichkeit findet sich schon früh in den Fabelerzählungen, etwa in der formelhaften Wendung: „hrt was geschah“ (I 9,3).496 In der Affabulatio reiht sich das Sprecher-Ich in die Rezipientengruppe der Fabellehre ein, so zeigt die Fabel Sachverhalte auf, etwa in II 34,17: „Die Fabel lert/ das wir“, oder in III 92,176: „Vnd gibt vns gnugsam zu verstahn“.497 Auch bei Elementen der Affabulatio, wie Auszüge aus antiken Werken, wird deren Relevanz betont, indem ein Kollektiv als Rezipient angesprochen wird: „Virgilius der treflich Heyd | Gibt vns desselben feinen bscheyd“ (I 100,43 f.). Die Ratschläge, die das Sprecher-Ich erteilt, haben gleichermaßen für die Leser wie auch für ihn selbst Geltung: „Wenns vns wol geht/ soln wir Gott loben | Auff das wirn auch in nten haben“ (I 5,27 f.). Auch Verhaltensweisen werden mit Bezug auf alle Leser als anthropologische Konstanten aufgezeigt, so die Neigung zum Bösen in der Affabulatio von III 90,52: „Wie sich solchs in vns alln erzeygt“ (III 90,52). Jeder Rezipient kann so zu einem Beispiel für die verhandelten Sachverhalte werden: „Den gbrechen han wir all zu mal“ (II 8,53). Nur vage wird dieses Kollektiv näher bestimmbar, klar angesprochen ist der zeitgenössische Leser, dessen eigene Erfahrungen zeitgenössischer Umstände oder Vorkommnisse einen Referenzrahmen bilden, wie etwa der verminderte Glauben: „Der glaub ist klein zu vnsern zeiten“ (I 10,24). Das allgemein Erfahrbare, „alle Hendel“ (II 9,36), wird ein lehrhaftes Element, auf welches man sich in der Auslegung oder Deutung von Fabeln beziehen kann: „Doch wie die gmeynen leufft vns lern | Trifft vntrew gern jhrn eignen Herrn“ (II 5,45 f.). Angesprochen wird ein deutscher Leser, wie sich in der Darstellung von Kardinal Campeggio zeigt: „Der bey vns Teutschen vberall | Zu diesen zeiten ist bekannt“ (IV 17,2 f.). Passend dazu ist die Ansiedlung der Fabeln und ihrer Tiere auf den mitteleuropäischen, besonders den deutschen Raum konzentriert. Dies zeigt auch der einleitende Kommentar in II 95,5 f. über den Bekanntheitsgrad des Stachelschweins: „Die Wahlen jn Spineta nennen | Weyß nicht/ ob jn die Teutschen kennen“ (II 95,5 f.). Die einzig weitere nähere Eingrenzung des angesprochenen Kollektivs betrifft deren Glauben. Das Sprecher-Ich wendet sich an Christen, wie in II 96,11–20:  











Das sey gesagt eim jeden Christen Denck nur nit/ das man jn werd fristen/ Hans doch den Christum auß gestossen

496 Die gleiche Formel auch in I 100,4; II 11,34 und IV 60,100. 497 Ebenso in I 52,19; II 11,65 und II 26,57.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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Also muß gehn all sein genossen/ Das sein die gschenck/ vnd kstlich gaben Die wir fr vnser wolthat haben/ Wir aber warten andern lohn Da wissen jene gar nichts von/ Welchs vns verheyssen ist im Himmel Da werden sie zum Fußschemel.

Gerade in der Auseinandersetzung mit den Überzeugungen oder Handlungen der päpstlichen Kirche zeigt sich diese Christengemeinschaft als reformiert: Welchs jetzundt in gar kurtzen Jarn Teudschlandt mit schaden hat erfarn/ Wie sie vns mit dem Bann gefatzt/ Mit dem Ablaß als zu sich kratzt/ Mit jrer triegerey geschunden Das wirs auch schwerlich han verwunden/ Gott sey gelobet/ das wir han Die Augen jetzt recht auff gethan/ Allein auff Christum vns verlassen Den Bapst vnd Bischoff fahren lassen/ Fr mein person hab michs erwegen Fr Gelt kauff ich nit jren Segen/ Jrn Ablaß wil vmbsunst nicht han So schadt mir nit jr grewlich Bann/ Schadt nicht/ das sie mich darumb hassen Wenn ich mich kan auff Gott verlassen (II 75,32–48).

Mehr Merkmale der angesprochenen Rezipientengruppe sind nicht genannt. Geltung scheint allein der Glaube zu haben, Alter, Bildungsstand, Geschlecht, Stand oder Beruf des Lesers sind im Esopus nicht von Bedeutung.

2.2.3.3 Erzählendes Sprecher-Ich Etwas mehr als über den angesprochenen Rezipientenkreis erfährt man über das Sprecher-Ich. Kontur gewinnt es in den Ich-Aussagen zu Werten und Normen in den Affabulationes, in seinen Aussagen zu und Wertungen zeitgenössischer gesellschaftlicher und sozialer Zustände. Es positioniert sich klar gegen die Papstkirche. In seinen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Ansichten zeigt es sich konservativ. Nicht wenige dieser konservativen Ansichten decken sich hierbei mit protestantischen Einstellungen. Beispielsweise haben sich Bürger einer „frumb Gottfrchtig Oberkeyt“ (III 37,14) zu fügen. Untertanen sollen um des gemeinschaftlichen Wohls mit, nicht gegen die Obrigkeit arbeiten, wie es etwa in der Deutung der Fabel von Magen und den Gliedern formuliert wird:

196

2 Äsopische Autorisierung

Die Fabel zeigt vns auch der massen Das Oberkeit vnd Vndersassen Einander solln sein eingeleibt Als was die Oberkeit betreibt Mit kriegen oder Rathes mute Das es komm der gemein zu gute Mit rath vnd that sie stetes schutzen Als zu frommen vnd jrem nutzen/ Dagegen soll auch die gemein Willig vnd vnuerdrossen sein Was Oberkeit an sie begert Das sie desselben sey gewert Es sey am gschoß/ stewr oder Zoll Als vngewegert geben soll/ So bsteht Brgerlich Policey Jn jrem vorrath auch dabey (I 40,49–66).

Die Ständegesellschaft wird als Gesellschaftsideal befürwortet. Ein Verlassen des angeborenen Standes, des „beruffs“ (I 18,28), wird ausdrücklich abgelehnt: Weil mir mein standt zu dieser frist Leidlich vnd wider Gott nit ist/ Muß ich damit zu frieden sein (I 18,35–37).

Neben den Ich-Aussagen in den Affabulationes finden sich vor allem im vierten Buch in den Fabeleingängen Ich-Aussagen, die Informationen über das SprecherIch beinhalten. So präsentiert es sich als ein weit in Mitteleuropa und besonders in Deutschland umher Gereister. Wird ein Grund für die Reisen genannt, ist es die kaufmännische Tätigkeit (wie in IV 13).498 Handlungsorte sind in solchen Fabeln zumeist Städte, die für ihre Bedeutung für den Handel bekannt sind, wie Naumburg an der Saale (IV 38), für ihre Jahrmärkte, wie in Amsterdam (IV 50), oder aufgrund ihrer Messen, wie in Frankfurt am Main (IV 65). Solche Textbestandteile wurden von der bisherigen Forschung oftmals „mit übergroßem Interesse an der Vita des Autors verbunden“499 und auf Hinweise auf tatsächliche Erfahrungen reduziert: „Die persönlichen Zusätze sind nicht nur als Stilmittel zu werten, sondern weisen auf den autobiographischen Hintergrund hin, auf das wechselvolle Leben des Dichters“.500 Nun mag nicht auszuschließen sein, dass mitunter auf tatsächliche Erfahrungen des Autors angespielt wird, aber

498 In IV 28 ist der Aufenthalt in einem „kauffhauß“ (IV 28,2) genannt. 499 Lieb: Erzählen, S. 10. 500 Rehermann, Köhler-Zülch: Aspekte, S. 35.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

197

bei genauerer Betrachtung der ‚persönlichen Zusätze‘ ergeben sich einige Unklarheiten, die mit dieser naheliegend erscheinenden Begründung nicht auszuräumen sind. Wäre die Darstellung des „wechselvolle[n] Leben[s] des Dichters“ Ziel solcher Fabelelemente, ist es verwunderlich, dass viele historisch nachweisbare Stationen aus dem Leben von Waldis im Esopus vage bleiben oder verschwiegen werden. Dazu gehört etwa die Vergangenheit als Franziskanermönch, die Gefangenschaft, in welcher er konvertierte, die erneute zweijährige Gefangenschaft mit Folter durch den Deutschen Orden, die unglückliche Ehe mit und Scheidung von seiner ersten Frau Barbara Schulte oder seine spätere Tätigkeit als Pfarrer im hessischen Hofgeismar und Abterode.501 Unerklärt bleibt bei einer solchen Begründung auch, warum Waldis selbst dann eine pseudo-biographische Anbindung an die Erzählung vornimmt, wenn es sich wie im Fall der Fabel IV 38 nachweisbar um die Bearbeitung einer schriftlichen Vorlage handelt. Wer alle vermeintlichen Hinweise auf ein biographisches Ich als solche wertet, wird bei genauerer Betrachtung enttäuscht: Zumindest wenn vom Jahrmarkt im sommerlichen Amsterdam berichtet wird (IV 50), darf sich der Kundige hinters Licht geführt fühlen. Und selbst wenn sich Ich-Aussagen den historischen Nachrichten zu fügen scheinen, kann der Erzähler Unsicherheit verbreiten. So war Campeggio zwar nachweislich auf dem Reichstag zu Nürnberg 1524 (und der Erzähler Waldis kann ihm dort, aber auch schon in Rom, begegnet sein), schwerlich aber war er zehn Jahre zuvor anlässlich eines Reichstags in Augsburg, wo er die von ihm erzählte Geschichte erlebt haben soll (IV 17,29–34). Die Selbstaussagen des Ich-Erzählers in den Fabeln sind allenfalls dichterisch gebrochen und mit Fragezeichen auf Waldis’ Lebensumstände zu beziehen.502

501 Gründlich aufgearbeitet sind die historischen Quellen dieser Lebensstationen in Esopus. Bd. 2, S. 10–14, dort wird auch vor der ungeprüften Übernahme von Erzähler-Aussagen als biographische Äußerungen gewarnt, besonders S. 13 f. Ergänzungen bietet lediglich die Arbeit von Martin Arnold: Burkhard Waldis als theologischer Schriftsteller. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde (ZHG) 119 (2014), S. 26–50. Arnold verweist auf Quellen, die Auskunft über Tätigkeiten nach der Freilassung aus der Haft des Deutschen Ordens geben: „Im Jahr 1544 taucht sein Name dann in einer Hofgeismarer Hospitalrechnung auf, und zwar mit dem Zusatz pastor. Er hatte vom Hospital eine Wiese gepachtet. Möglicherweise war Waldis also schon 1543/44 übergangsweise als Pfarrer in Hofgeismar tätig. [...] Am 28.8.1544 finden wir seinen Namen überraschend unter einer von Landgraf Philipp erbetenen Stellungnahme führender hessischer Theologen zu den Möglichkeiten einer Religionsvergleichung. [...] 1545 erhielt er aus kirchlichen Mitteln eine finanzielle Unterstützung, um Melanchthons ‚Loci communes‘ und eine Ausgabe der ‚Confessio Augustana‘ zu kaufen. Am 26.5.1545 nahm er an einer Diözesansynode in Rotenburg/Fulda teil, am 1.8.1548 wurde der Dorfpfarrer sogar zu einer Generalsynode führender hessischer Theologen nach Kassel eingeladen“ (ebd., S. 43 f.). 502 Esopus. Bd. 2, S. 14.  



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2 Äsopische Autorisierung

Statt nach dem biographischen Ich zu forschen, muss vielmehr nach der Darstellung und der Funktion solcher Ich-Aussagen gefragt werden. Schon ab dem ersten Buch präsentiert sich das erzählende Sprecher-Ich in den Fabeleingängen als Rezipient schriftlich und mündlich verbreiteter Fabelstoffe, wie etwa in I 23,1 f.: „Wie ich dasselb beschrieben findt“. Die von Waldis in der Bearbeitung der Fabeln aus dem Aesopus Dorpii hinzugefügten Informationen veruneindeutigen aber auch, dass es sich um eine schriftliche Vorlage handelt, so wenn der Rezeptionsprozess mit ‚erfahren‘ umschrieben wird, wie in I 21,1 f.: „JN alten zeiten/ vor tausent Jarn | Begab sichs wie ich hab erfahrn“ (I 21,1 f.), oder mit ‚berichtet worden sein‘ wie in I 45,1–4:  





ES het ein Hirsch ein grossen streit Mit einem Pferdt vmb eine weidt/ Die wolt (wie man berichtet mich) Jedes vertheidingen vor sich.

Im Vordergrund steht nicht, den Fundus der Quellen in seiner Gesamtheit korrekt aufzudecken. Vielmehr inszeniert sich das Sprecher-Ich hier in der „Rolle eines Fabeldichters, der auf eine reiche Überlieferungs- und Stofftradition zurückgreifen kann“.503 Es tritt als souveräner Erzähler dessen auf, was „MAn sagt“ (IV 85,1 f.) und was „man beschriben“ (IV 94,1) findet oder „Wie man lißt in den alten Gschichten | Jn Fabeln/ vnd Poeten gdichten“ (IV 96,3 f.). Nur selten werden schriftliche Quellen mit Titeln genannt.504 In den wenigen Aussagen zur Rezeption von Stoffen zeigt sich, dass Altes und Neues, hier in Formen von den tradierten, althergebrachten und den neuen mündlich kursierenden Geschichten, gleichberechtigt Aufnahme in den Esopus finden und unterschiedliche Funktionen erfüllen. So kann der Verweis auf eine schriftliche Quelle genutzt werden, um die Geschichte mit Autorität zu stützen und die Aufmerksamkeit vom SprecherIch wegzulenken. Es handelt sich bei einem solchen Fall dann schließlich gerade nicht um Geschichten, die sich der Autor ausgedacht hat. So wird bei der letzten Fabel des Esopus, die das heikle Thema der Tyrannenherrschaft behandelt, auf  



503 Ebd., S. 61 f. 504 Hierbei lässt sich nicht jede Titelangabe historisch nachweisen, wie im Fall des Leymdecker Buches, welches in II 22,37 als Quelle für einen Schwank von Salomon und Markolf genannt wird. In IV 5 werden die Erzählungen im Vitas Patrum als Zeugnisse für die Wunderlichkeiten der Heiligen genannt: „MAn lißt vor dreyzehn hundert Jaren | Da die Aposteln gstorben waren | Vnd jhre Jngern auch nach jn | Der beste Kern war schon dahin […] | Darauß entstund gar seltzam wesen | Wie wir in Vitis Patrum lesen/ | Das sie viel wunder ding betrieben | Wie in dem selben Buch beschrieben“ (IV 5,1–20). Der Erzähler deckt auf, dass die Bücher der päpstlichen Kirche selbst das offenbaren, was ein reformierter Leser ablehnt.  

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

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eine schriftliche Quelle verwiesen.505 Mit dem Verweis auf das mündliche Erzählen zeigt sich das Sprecher-Ich wiederum als informierter Zeitgenosse, der über das Zeitgeschehen und das mündlich kursierende Neue bestens informiert ist und der für den Wahrheitsgehalt selbst eintritt, so in IV 84,1–3: MAn hat mich eygentlich bericht Wie ein Bawrenknecht gieng zu Beicht Dort oben in dem Schweitzer Birg.

Das inszenierte mündliche Erzählen umfasst im Esopus sowohl das Erzählen vom Bekannten, von dem, was häufig (offt) passiert, und dem Einmaligen (ein mal). In IV 2,1–6 wird der erste Aspekt betont. Das allseits Bekannte wird im Esopus lediglich im Einzelfall erneut bestätigt: VOm Fuchß man offt gesaget mir Wie er sey gar ein listig Thier Vnd pflegt die andern Thier betriegen Vmb eygen nutz jn offt fr liegen Solchs er am Hanen hat ereigt Wie diese folgend Fabel zeigt.

In IV 75 wird hingegen anhand des Einzelfalles vom Außergewöhnlichen erzählt, von einem dressierten Hofaffen, der nach mehreren Jahren vom Hof der Menschen flieht und seinen eigenen Hofstaat im Wald gründet: MJr ist gesagt wie das ein mal Ein Aff war in eins Knigs Saal/ Ein Jar zwey/ drey/ daselben sach All was zu Hof die zeit geschach (IV 75,1–4).

Mit dem Verweis auf das mündliche Erzählen wird auch an die Tradition des Erzählen im Geselligen, des unterhaltenden Erzählens beim gemeinsamen Unterwegs-Sein angeschlossen. Die Verbindung von Reisen und dem Hören von Erzählungen wird in der Affabulatio von II 100 bei der Einbindung eines Exempels benannt: „Denn ich gehrt hab auff ein fart“ (II 100,43).506 Auffällig ist in der Fabelsammlung die Einbindung des Sprecher-Ichs als Rezipient von Fabelstoffen

505 „VOn eim Tyrannen hab ich glesen“ (IV 100,1). 506 Was Waldis hier nur ansatzweise andeutet, ist im 16. Jahrhundert in literarischen Werken häufiger in Peritexten von Schwanksammlungen zu finden, so etwa im Wegkürtzer (1557) von Martin Montanus oder Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555), „dariñ vil gter schwenck vnd Historien begriffen werden̄ / so man in schiffen vnd auff den wegen/ deßgleichen in schwerheuseren vnnd badstuben/ z langweiligen zeiten erzellen mag“ (Georg Wickrams Werke. Bd. 3: Roll-

200

2 Äsopische Autorisierung

in der Fabel III 89. Die Rezeption des Erzählstoffes wird im ersten Vers sowohl mit einer Information zum räumlichen Ursprung der Erzählung als auch mit einer zeitlichen Situierung mit dem Ich als Erzähler verknüpft: „MJr ward von Straßburg newlich kundt“ (III 89,1). Im vierten Buch werden die Fabelerzählungen darüber hinaus auf weitere verschiedene Arten mit dem Sprecher-Ich verknüpft. In IV 83 geschieht dies über die zeitliche Situierung, so werden die geschilderten Ereignisse in der Lebenszeit des Sprecher-Ichs angesiedelt: „So hat sichs auch bey meinem leben | mit einem Curtisan begeben“ (IV 83,75 f.). Die Fabel einleitend wird auf den Gegensatz zwischen den positiv bewerteten früheren Zeiten des Urchristentums und der jetzigen, nur auf Titel und Reichtum bedachten christlichen Geistlichkeit eingegangen. Mit dieser Situierung wird die Erzählung dezidiert in einer Umbruchszeit angesiedelt, die von Zeitgenossen, wie eben dem Sprecher-Ich, noch bezeugt werden kann. Häufiger tritt das Sprecher-Ich als Ohren- und Augenzeuge für die geschilderten Ereignisse ein. Dies geschieht in loser Anbindung, wenn der Erzähler sich als ein Bekannter der Fabelfigur zu erkennen gibt:  

ZVr Newnburg im Dringer landt Dieselbig Stadt ist wol bekant Drumb das viel Kaufleut alle Jar Auß fernen Landen kommen dar/ Da hab ich einen Frsprech kent Jst nit not das er werd genent (IV 38,1–6).

Die Selbstdarstellung des Sprecher-Ichs als jemand, der viel gehört, gesehen und erlebt hat, geht soweit, dass es im vierten Buch auch Teil der erzählten Welt ist. Hierbei variiert die Beteiligung des Ich-Erzählers am erzählten Geschehen. In IV 31 befindet sich das Sprecher-Ich am Handlungsort der Geschichte. Unklar bleibt aber bei der Angabe: „JCh war ein mal auff einem Schloß | Da gschahe ein lecherlicher boß“ (IV 31,1 f.), ob das Sprecher-Ich zeitgleich mit den geschilderten Ereignissen anwesend war oder ein späterer Besucher des Handlungsortes ist. Die einzigen konkreten Raum- und Zeitangaben in Verbindung mit dem Sprecher-Ich finden sich zu Beginn der Fabel IV 65:  

ZV Mayntz am Rhein ich lesten war Jn dem Sechs vnd dreissigsten Jar Gegen die Franckfurdter Meß im Herbst

wagenbüchlein. Die sieben Hauptlaster. Hg. von Johannes Bolte. Tübingen 1903 [Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart CCXXIX], S. 1).

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

201

Wenn jeder Kauffman seins gewerbs Auß weiten Landen dahin zeucht Durch grosse fahr die armut fleuht (IV 65,1–6).

Auf die Reise zum gleichen Ziel hatte sich auch ein weitbekannter niederländischer Kaufmann begeben, von dem das Ich nun erfährt: „Wie man des hat berichtet mich | Er kam nit weiter denn gen Mentz“ (IV 65,14 f.). Es folgt die Erzählung, wie der Kaufmann seine Erkrankung an der Pest nicht als gravierend erkennt, vor lauter kaufmännischer Geschäftigkeit Beichte sowie die letzte Ölung ablehnt und ohne Absolution verstirbt. In IV 23 ist die Fabelerzählung ebenfalls in die Lebenszeit des Sprecher-Ichs eingebunden. Die Hauptperson der Erzählung, ein mittlerweile alter Gärtner, wird dem Sprecher-Ich in Breslau angezeigt und eine Geschichte aus seinem Leben wiedergegeben. Die zeitliche Situierung des Ausflugs nach Breslau bleibt hierbei vage und nicht näher bestimmt:  

ES ist jetzt vmb die sechtzehn Jar Das ich letstmal zu Breßlaw war Mit gsellschafft ich spatzieren gieng Vber die Ader auff den Elbinck Ein Grtner wardt mir zeyget an Der war der zeit ein alter Man Wie der war ehemals kranck gewesen (IV 23,1–7).

Als unbeteiligter Beobachter eines Geschehens stellt sich das Sprecher-Ich in IV 13 dar. Die Umstände seiner Anwesenheit auf einem Schiff nach Riga sind dem Bericht des eigentlichen Ereignisses vorangestellt: EJns mals da ich zu Lbeck war Gdacht nach Riga mit meiner wahr/ Zur Seewarts auff eim Schiff zufahrn Auff das ich mcht damit ersparn Zu landt den langen bsen weg Der mich offt gmacht hat faul vnd treg Bedinget mich auff ein Crauel (IV 13,1–6).

Die Reisegesellschaft ist, in Übereinstimmung mit einem Sprichwort, gemischt: Als man im gmeynen sprichwort redt Die Schiffleut fhrn Dieb in die Stdt Vnd manchen frummen Mann zu hauß/ Der Hencker fhrt sie wider drauß (IV 13,11–14).

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2 Äsopische Autorisierung

Dennoch eint die fromme Reisegemeinschaft bis auf eine Ausnahme die Angst vor dem Tod in einem Seesturm. „[B]ey Gotlandt“ (IV 13,17) gerät das Schiff nämlich in so schwere Seenot, dass der Kapitän die Reisenden auffordert, Gott um Beistand zu bitten. Auch das Sprecher-Ich gehört zu denen, die um ihr Leben bangen: Da kam vns all groß schrecken an Wie ein jeder abnemen kan/ Wir waren allesam erlegen Hetten des lebens vns erwegen (IV 13,27–30).

Abgesondert ist nur der Kriminelle. Ein junger Dieb trinkt munter vor sich hin, singt und ist fröhlich, da er, so offenbart er sich dem verwunderten Kapitän, sein Leben lang als Dieb tätig gewesen sei, und meint unter Berufung auf ein Sprichwort, wer „hangen soll ertrincket nicht“ (IV 13,54). Nicht immer ist die Stellung des Erzählers als homodiegetisch bis zum Ende der Geschichte beibehalten, in IV 61 und IV 92 nennt sich der Erzähler als Augenzeuge der Geschichte. Man vermag eine Art Pointe darin zu sehen, dass es sich in beiden Fällen um blinde Personen handelt: „JCh sahe ein mal ein armen Blinden | Der kundt alleyn den weg nit finden“ (IV 61,1 f.). In beiden Situationen ist klar, dass der Blinde, den der Erzähler bezeugt, auch der Blinde aus der Erzählung ist. Das Ereignis, der Blinde begegnet einem Lahmen und die beiden beschließen, eine solidarische Verbindung einzugehen, ist explizit zeitlich unbestimmt: „Da bgab es sich auff eine zeit“ (IV 61,4). Die Formulierung ähnelt der Phrase ‚es war einmal‘, die als Textsignal „die Rezeption eines Textes als fiktional wenn nicht erzwingen, so doch jedenfalls nahelegen“ kann.507 In IV 92 erscheint der Erzähler nach der einleitenden Anbindung an die erzählte Welt:  

Desgleich ich einst ein Blinden sach Wie er nit wißt die wege scheydt Het einen Knaben der jn leydt (IV 92,6–8),

mehr als ein allwissender Erzähler. Erzählt wird von Tagesablauf des Blinden, von der Anweisung des Blinden an den Knaben, ihn am morgigen Sonntag zur Kirche zu führen, vom Einsammeln von Almosen bis zu einem späteren Streit über die gerechte Verteilung der Spenden.508

507 Martínez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 18. 508 Auch die Rezeptionsgeschichte spricht gegen die Augenzeugenschaft des Erzählers. Der Stoff lässt sich im 16. Jahrhundert mehrfach in verschiedenen Volkssprachen nachweisen. Bekannt ist er als Episode im spanischen Schelmenroman Lazarillo de Tormes, siehe Esopus. Bd. 2, S. 343 mit diesem und weiteren Hinweisen zur Rezeption des Stoffes.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

203

Eine weitere Form der Einbindung des Sprechers in die Fabelerzählung, ohne zugleich Handelnder zu sein, wird in IV 17 geschildert. Das Sprecher-Ich dient hierbei als Augen- und Ohrenzeuge für einen Auftritt des Kardinals Lorenzo Campeggio in Nürnberg. Campeggio tritt in der Fabelerzählung als Binnenerzähler eines selbst erlebten Ereignisses auf, welches als Argument für den Zölibat dienen soll. Die Bezeichnung der von Campeggio vorgetragenen Geschichte als bossen, was mit ‚amüsante Geschichte‘509 zu übersetzen ist, wertet die als wirklich geschehen präsentierte Erzählung in ihrem Geltungsanspruch ab und verstärkt die negative Darstellung des Binnenerzählers: CAmpegius der Cardinal Der bey vns Teutschen vberall Zu diesen zeiten ist bekant Das macht/ das er so offt gesand Vom Bapst/ in vieln Legation Die er an Keyser vnd Frsten than Zu Nrmberg ich einst vor jm stundt Sampt andern/ da man handlen gund Von einer Reformation Der Kirchen vnd Religion/ Einer hub an on als gefehr Vnd sagt/ wie das viel besser wer Das die Pfaffen Ehefrawen hetten So wurd viel ergernus vermitten Zohe an viel vmbstendt vnd vrsachen Dauon der Cardinal wardt lachen/ [...] Hub zuuerzelen an ein bossen Den ich vnangzeygt nit kan lassen (IV 17,1–28).

Campeggio berichtet, wie er anlässlich eines Reichstages zehn Jahre zuvor in Augsburg auf einem Spaziergang von einem alten Dorfpfaffen angesprochen worden sei, der im Voraus für seine noch nicht gezeugten unehelichen Kinder rechtliche Gleichstellung erbeten habe. Die Geschichte und sein Erzähler werden vom Sprecher-Ich scharf kritisiert. Der Binnenerzähler Campeggio und die Ereignisse, von denen er lachend erzählt, werden zum Exempel für das schändliche Treiben der Papstkirche. Die stärkste Anbindung an vermeintlich reale Ereignisse findet in den Fabeln IV 24 und IV 28 statt, in denen der Ich-Erzähler selbst einer der Fabelfiguren und aktiv in das Geschehen involviert ist. Als schwankhaft-anekdotische Kurzerzählung mit witziger Pointe, dem sog. facete (bzw. facetum) dictum, der ‚witzi-

509 Esopus. Bd. 2, S. 273.

204

2 Äsopische Autorisierung

gen, auch schlagfertigen Äußerung‘, gleicht die Fabel IV 24 formal der Fazetie.510 Unterwegs mit einer Reisegesellschaft, erst in Worms, dann in Speyer, trifft das in der Wirtsstube umherspazierende Ich auf die Wirtin des Gasthauses.511 Da sich diese gerade für den Kirchgang mit einem gelben Schleier schmückt, entspannt sich ein Wortwechsel über das Schmücken und Verschleiern hässlicher Frauen, in welchem die Wirtin auf die scherzhaften Aussagen des Ich-Erzählers „ein hflich antwort“ (IV 28,44) findet und ihn zum Lachen bringt. Deutlich ernster präsentiert sich die Fabel IV 24, in welcher der Ich-Erzähler auf einer Pilgerreise nach Rom Zeuge des Treibens des Klerus in Rom wird: EJns mals gedacht zu werden fromb Vnd zoh auß Teutschlant hin nach Rom Doch ward ich auff der reiß nit bider Trug Zwibeln hin/ bracht Knobloch wider (IV 24,1–4).

Der Besuch realer Orte, wie „das Teutsche Hauß“ (IV 24,11) oder einer Gaststätte „Am Campoflor“ (IV 24,26), das Treffen alter Bekannter („Waren beid alte Schul gesellen“ [IV 24,21])512 und „Ein[em] Preus/ so ich mich recht bedenck | Der hieß Achaci von der trenck“ (IV 24,29 f.), womit wohl der 1517 als Domherr von Frauenburg nachweisbare Achatius von der Trenck gemeint ist,513 bilden den Rahmen für die Erlebnisse in der Taverne, die morgens um acht Uhr aufgesucht wird. Es wird Essen und bester Wein aufgetragen. Bald gesellen sich auch zwei Mönche hinzu, die in aller Öffentlichkeit zwei Frauen neben sich setzen, „Wie sichs gebrt Ehelichen Leuten“ (IV 24,42). Der Erzähler ist betroffen von den „groben bossen“ (IV 24,47) und möchte die Gruppe verlassen. Sein Gastgeber beschwichtigt ihn mit dem Hinweis, dies seien die normalen Zustände in Rom:  

Habt jr ewr tag von Rom nie ghort Wie man sagt im gemeynen sprichwort Das eim zu Rom kein Snd nit schad Allein so er kein Gelt mehr hat Das ist die aller grste Snd Welch nit der Bapst vergeben knd (IV 24,65–70).

510 Vgl. Wilfried Barner: Fazetie. In: RL. Bd. 1, S. 572–575. 511 „JCh zoh eins mals hinauff an Rhein | Vnd kam zu Wormbs zum kauffhauß ein | An einem Sambstag abent spt | Mit Gsellschafft die ich bey mir het/ | Am Sontag morgens tagts vns fru | Liessen das frstck richten zu | Denn es vns war das mal kein feir | Ritten den selben tag gen Speir/ | Spatziert ich in der stuben vmb | Vnd sahe die Wiertin außher kum“ (IV 28,1–10). 512 Zu den Versuchen, einer der Bekannten, der sich als „von Haustein“ (IV 24,20) zu erkennen gibt, historisch nachzuweisen, siehe Esopus. Bd. 2, S. 283. 513 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 283.

2.2 Äsop im Esopus von Burkard Waldis

205

Als Augenzeuge steht der Erzähler für die wahren Verhältnisse in Rom, etwa unmoralischer Handlungen, ein. Als Ohrenzeuge kann er bestätigen, dass dies absichtlich geschieht und die innere Einstellung römischer Christen widerspiegelt. Die individuelle Erfahrung wird in der Affabulatio als exemplarisch ausgestellt: Hie magstu mercken wie gar fein/ Wie schon/ wie zchtig/ keusch vnd rein Jst zu Rom der Papisten leben Schlangen mcht man damit vergeben (IV 24,71–74).

Aus narratologischer Sicht mögen derartige Textbausteine in der Fabel als problematisch erscheinen, denn sie widersprechen der Einordnung der Fabel als eine Erzählung, die nicht wirklich geschehen ist: „Von dem Normalfall der faktualen Erzählung deutlich zu unterscheiden ist z. B. die Erzählung im Rahmen eines Märchens oder einer Fabel, in denen in dichterischer Rede von eindeutig erfundenen Vorgängen berichtet wird“.514 Mit Zusätzen, durch die das Sprecher-Ich Bestandteil der erzählten Welt wird, nehmen solche Erzählungen auf den ersten Blick die Form eines Berichtes von realen Geschehnissen ein, könnten als ‚faktuale Erzählungen‘ bezeichnet werden, also als solche Erzählungen, die nicht erfunden und wirklich geschehen sind. Durch die besonders im vierten Buch zu beobachtende Gestaltung von Fabeln mit menschlichem Personal, mit Ortsangaben, mit Geschehnissen, die wirklich geschehen sein könnten, mit einem Sprecher-Ich, das von seinen Erfahrungen berichtet, nähert sich die Fabelwelt im Esopus der Welt des lesenden Rezipienten an, gleicht ihr teilweise, bleibt aber doch stets virtuell, also nicht wirklich. Eine solche virtuelle Erzählwelt ermöglicht eine Öffnung der Fabel hin zur Erzählung, in der auch aktuelle Geschehnisse und das eigene Erfahren zum Fundus dessen wird, was hilft, um in der Welt des Lesers zurechtzukommen.515 Indem Erzählungen als aus der Erfahrung des Sprecher 

514 Martínez Scheffel unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen ‚fiktionalem Erzählen‘ und ‚faktualem Erzählen‘, siehe Martínez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 11–22. 515 Waldis ist mit der Einspeisung solcher Elemente in die äsopische Fabel kein Einzelfall im 16. Jahrhundert, vgl. Alberus: Fabeln. Im Morale etwa äußert sich Alberus als deutendes Sprecher-Ich: „Jch halt kaum/ das auff erden sey | Ein grsser schand vnd bberey/ | Dann wann ein mensch vndanckbar ist/ Vnd aller wolthat gantz vergist“ (Alberus: Fabeln, S. 81). Dies geht noch nicht gegen das traditionelle Erzählprinzip der Fabel, handelt es sich doch um Äußerungen in der als gültig geltenden Lehre der Fabel. Dem Merkmal der äsopischen Fabel, eine erlogene Geschichte zu sein, entgehen stehen aber Äußerungen des erzählenden Sprecher-Ichs. In der 9. Fabel Von einem Raben vnd Fuchß etwa beteuert der Erzähler, es handle sich um eine ihm berichtete, wahre Geschichte: „JN der Dreieych soll diß geschicht | Geschehn sein/ wie ich bin bericht/ | Bey Egelßbach ein Buchbaum steht/ | Wann man zur Bayers Eych zu geht/ Darauff ein Rab pflegt alle

206

2 Äsopische Autorisierung

Ichs stammend präsentiert werden, wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass der eigene Erfahrungsraum als Erkenntnisraum dienen kann. Die Einleitung der Fabel IV 97 weist auf dies hin: WO man die gantze Welt durchsiht Vnd an merckt was darinn geschiht So findt man gwißlich gnug zu sehen Jn allen hendeln die geschehen (IV 97,1–4).

Die vom Sprecher-Ich erzählten Fabeln, besonders solche, in denen er als IchErzähler auftritt, dienen nicht dazu, dass ein Leser annehmen soll, ihm würden nun ‚wahre‘, d. h. tatsächlich stattgefundene Geschichten, erzählt werden. Vielmehr soll ein Leser sein eigenes Leben, eigene Erlebnisse dazu nutzen, um Erkenntnisse über die Welt daraus zu ziehen und durch die Deutung dieser Erlebnisse, auch indem er die im Esopus in den Affabulationes verwendeten Quellen für Lehre und Erkenntnisse zusätzlich heranzieht – wie die Bibel, das Sprichwort oder auch antike Werke – einen solchen „nutze[n] oder frchte“ (Vorrede, Z. 26) daraus ziehen, wie es der äsopischen Fabel traditionell zugesprochen wird.  

jar | (Man sagt/ es sey gewißlich war) | Zuhecken seine jungen Raben“ (Alberus: Fabeln, S. 59). Wohl ist aber die Qualität und Quantität solcher Elemente im Esopus besonders ausgeprägt.

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘ „Jetzt sagt man/ dwelt sey worden new“ (I 94,43)

Auf dem Titelblatt der Fabelsammlung wird dem Betrachter ein Esopus/ Gantz New gemacht angekündigt, der Hundert Newer Fabeln aufweist. ‚Neu‘ umfasst hier einerseits den Prozess der Bearbeitung, etwas Altbekanntes wird verändert. Andererseits wird mit den ‚neuen Fabeln‘ angekündigt, dass das Korpus der äsopischen Fabeln mit 100 Kurzerzählungen stark erweitert wurde. Außer dem in Reimen gefaßt ist auf dem Titelblatt nicht genauer beschrieben, welche Formen der Bearbeitung die Erneuerung der äsopischen Fasbeln umfasst. Die Hundert Newer Fabeln werden wenigstens dadurch etwas näher umschrieben, dass sie vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen seien. Damit ist aber das, was im Esopus und in weiteren Werken von Waldis als ‚neu‘ greifbar wird, noch nicht vollständig erfasst. Zu fragen, was denn ‚neu‘ am Esopus sei, eröffnet die Sicht auf drei näher zu analysierende Bereiche. Denn ‚neu‘ erscheint erstens wiederholt als Schlagwort in Waldisʼ Gesamtwerk. Auf den Titelblättern und in den Vorreden begegnet es hierbei in verschiedener Bedeutung. Zweitens ist damit das auf dem Titelblatt des Esopus unausgesprochene ‚Alte‘ noch nicht erfasst, das bei etwas ‚Neuem‘ stets mitzudenken ist und woraus sich das Verständnis des ‚Neuen‘ zumeist erst ergeben kann. Ungeklärt ist drittens die Beziehung zwischen dem ‚Alten‘ und dem ‚Neuen‘. Diese kann sich etwa als eine des Gegensatzes erweisen. ‚Neu‘ und ‚Alt‘ können aber auch komplementär auftreten, als Bereiche, die sich gegenseitig ergänzen. Waldis hat mit dem Begriff des ‚Neuen‘ eine Leitvokabel der Frühen Neuzeit aufgenommen, denn „Neues beginnt dezidiert als Neues wahrgenommen zu werden, komplementäre oder kompetitive Teilwirklichkeiten und Wissensordnungen werden als solche erfaßt“.516 Beispielshaft sei nur erinnert an die Entdeckung und Wahrnehmung und Verbreitung der Informationen über die ‚neue Welt‘ seit 1492517 und die politische Expansion der europäischen Herrscherhäu-

516 Gerhard Regn: Autorisierung. In: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität. Hg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Winfried Schulze. Münster 2003 (Pluralisierung & Autorität), S. 119–122, S. 119. 517 Siehe als eines der frühen deutschsprachigen Zeugnisse das Flugblatt Das sind die new gefundē menschē oď volcker Jn form un̄ gestalt Als sie hie stend durch dē Christenlichen Knig von Protugall/ gar wunnderbarlich erfunden von 1505/1506. Darin werden Auszüge aus dem Brief Mundus Novus von Amerigo Vespucci über die Entdeckungen und die angetroffenen Völker während seiner Amerikareise von 1501/1502 übersetzt, siehe Harms: Flugblätter, Nr. III,241. Der Aspekt des ‚Neuen‘ wird im 16. Jahrhunderts immer wieder betont, so auch auf dem Titelblatt von https://doi.org/10.1515/9783110613155-004

208

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

ser nach der Entdeckung Amerikas. Dass das, was sich im Nachhinein als ‚Neues‘, als Moment der Veränderung erweist, als solches nicht intendiert gewesen sein muss, zeigen etwa die konfessionellen Auseinandersetzungen um Luther, Zwingli und Calvin. Die Reformation propagierte nicht ‚Neues‘, sondern die Rückkehr zum ‚Alten‘. Die Liste an Veränderungen lässt sich ergänzen um weitere, nicht datierbare Prozesse wie die Veränderung sozialer Ordnungen aufgrund der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in den Städten und im Bildungswesen usw.518 Die Umwälzungen des Jahrhunderts haben Auswirkungen auf die Gestaltung der esopischen Fabeln, auf die Themen der Erzählungen und auf die Deutungsangebote. Nicht jeder der als Veränderungen, Umbrüche oder Umwälzungen beschriebenen Ereignisse und Prozesse des 15. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat die Gestaltung der esopischen Fabeln beeinflusst, jedoch zeigt sich der Einfluss derselben selektiv und partikular wiederholt im Esopus. Beispielsweise ist die Entdeckung und Eroberung Amerikas, obwohl die Nachrichten und Beschreibungen der Neuen Welt bereits über ein halbes Jahrhundert Europa durchfliegen, im Esopus nicht mit einer Silbe erwähnt. Die geographische Lebenswelt im Esopus ist die des deutschsprachigen Mitteleuropas im Spätmittelalter.519 Hingegen werden die Existenz und die Verbreitung der Lehren Luthers wiederholt als fester Bestandteil der Welt in den Fabelerzählungen wie in der Welt des Lesers dargestellt. Um

Hans Stadens Amerikabericht: Wahrhaftig Historia vnnd beschreibung einer Landtschafft der Wilden/ Nacketen/ Grimmigen Menschfresser Leuthen/ in der Newen welt Amerika gelegen/ vor vnd nach Christi geburt im Land zu Hessen vnbekannt/ biß auff dise ij. nechst vergangene jar/ Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfarung erkant/ vnd jetzund durch den truck an tag gibt. Frankfurt a. M. 1557 und auch noch im sogenannten Wagnerbuch von 1597. Dieses kündigt auf dem Titelblatt neben dem Ander[n] theil D. Johan Fausti Historien auch eine Beschreibung der Newen Jnseln an und berichtet davon, „Wie Christoff Wagener inn die new erfundene Welt fuhr/ vnd was er darinn außgerichtet“ (Das Wagnerbuch von 1593. Bd. I: Faksimiledruck des Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München. Signatur: Rar 798. Hg. von Günther Mahal, Martin Ehrenfeuchter. Tübingen 2005, S. 239). 518 Zur Auswirkung solcher Prozesse, etwa auf die Verbreitung und Gestaltung von Gattungen wie dem illustrierten Flugblatt siehe Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 29). 519 Hinsichtlich des Raumes handelt es sich, wie etwa auch noch später in der Historia von D. Johann Fausten von 1587 um eine spätmittelalterliche Lebenswelt. Der Verfasser der Historia kompiliert in seinem Werk schon zu seiner Zeit veraltetes Wissen, siehe hierzu den Aufsatz von Jan-Dirk Müller: Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts. In: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.): Literatur, Artes und Philosophie. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 163–194.  

3.1 ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Unterscheidungskriterium der Vorlagen im Esopus

209

auszuloten, was ‚neu‘ im Esopus alles umfasst, ist es daher vonnöten zu fragen, was denn ‚alt‘ umfasst. Hierbei ist auf Beurteilungen der Forschung ebenso einzugehen wie auf Peritexte und Äußerungen des Autors im Esopus wie in weiteren seiner Werke.

3.1 ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Unterscheidungskriterium der Vorlagen im Esopus Die Forschung zum Esopus orientierte sich auf der Suche nach dem ‚Neuen‘ vor allem quellengeschichtlich. Es ist hierbei zwischen der vom Autor gesetzten Trennung und dem Quellenbefund zu unterscheiden. ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Attribute zur Unterscheidung der Fabeln bezieht der Autor nicht auf die einzelne Quelle. Vorlagen für die Fabelerzählungen werden im Esopus mit wenigen Ausnahmen nicht genannt.520 Stattdessen wird, wie am Ende der Fabelsammlung in einem Exkurs, der nochmals die Tätigkeit des Autors beschreibt, grundsätzlich zwischen ‚alt‘ und ‚neu gemacht‘ unterschieden. Hier wird in der dritten Person auf den Autor verwiesen als denjenigen, Der dis Gedicht von endt zu ort Beyd alt vnd new gemachte Fabeln [...] Zu gut der Jugent außgehn lassen (IV 100,218–223).

Diese Unterscheidung ist zuerst auf die Quellen zu beziehen, die der Autor ‚vorgefunden‘ hat und damit auf den Aesopus Dorpii als lateinische Hauptvorlage im Gegensatz zu den restlichen Erzählungen. Die Trennung der Fabeln in „Fabeln Esopi sampt den andern/ wie ich sie im Latin funden“ und „noch ein Hundert Newer Fabeln/ auch in ein sonderlich Buch“ (Vorrede, Z. 20–23) ist schon in der Vorrede angesprochen. Die von Waldis formulierte Trennung weicht von der nachweisbaren Unterscheidung der Quellen ab, denn aus der Hauptvorlage Aesopus Dorpii übernimmt Waldis Fabeln nur bis zur 83. Fabel im dritten Buch. ‚Neue‘ Fabeln, auch solche, bei denen sich tatsächlich keine frühere Verbreitung nach-

520 Die Ausnahmen lassen sich wiederum unterscheiden in Nennungen ‚alter‘ und zeitgenössischer (‚neuer‘) Autoren. So wird in II 30 Vom Arione/ vnd dem Delphin auf die Noctes Atticae des antiken Autors Aulus Gellius hingewiesen: „AVlus Gellius beschreibet diß | Jn seinen Noctibus Atticis“ (II 30,1 f.). Direkt danach folgt die Fabel Von der Spinnen/ vnd Podagra, in welcher ein zeitgenössischer Bearbeiter des äsopischen Fabelstoffes – der Humanist Nikolaus Gerbellius lebte bis 1560 – genannt wird: „GErbellius ein Fabel schreibt | Die auch denen ist eingeleibt/ | Welch erst Esopus hat gemacht“ (II 31,1–3).  

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

210

weisen lässt,521 befinden sich bereits unter den letzten 17 Fabeln des dritten Buches.522 Waldis unterscheidet die im Esopus versammelten Fabeln in der Vorrede nach Verfasser, Anwendung und der Sprache, in der sie verfasst sind. So will er alle verfügbaren Fabeln Äsops in Versform bringen,523 darunter auch solche, welche in der Schule gebraucht werden und welche „gelerte leut | Beschrieben haben“ (Leben Esopi, V. 9 f.). Die Sprache der Fabeln ist in der Vorrede nicht benannt, die Bezeichnung ihrer Verfasser als gelerte leut kann, muss aber nicht als Andeutung gelesen werden, dass es sich um lateinische Fabeln handelt. Erst am Ende des Werkes bestätigt sich dies. Bearbeitet wurden Fabeln, „Wie ers [Waldis] in dem Latin hat funden“ (IV 100,221). Erweitert wird dieses Korpus um volkssprachliche Fabeln, die außerhalb der Schule „Jn red vnd teglichem gebrauch“ (Leben Esopi, V. 15) kursieren. Die unterschiedlichen Gebrauchssituationen, Schule und Alltag, sind an die Medialität der Erzählungen, schriftlich und mündlich, gebunden. Die damit unterscheidbaren Sphären von gelehrt-lateinisch und ungelehrt-volkssprachlich sind in der Person des Autors verbunden. Dieser besitzt einerseits die gelehrte Übersetzungskompetenz und rechnet sich andererseits selbst jenen zu, welche Sprichwörter im Alltag gebrauchen.524 Mit der Beschreibung seiner Tätigkeit, die auch das „selber […] gmacht“ (Leben Esopi, V. 16 f.) der Fabeln miteinschließt, weist sich der Autor als Autorität aus, die in Konkurrenz zu Äsop, dem Titelgeber der Sammlung und Gattungsgründer, gelesen werden kann. Das ‚Neu machen‘, das im Esopus auf dem Titelblatt angekündigt ist, zeigt in sich mehrere Formen der Bearbeitung. Die lateinischen Fabeln mit den ‚alten‘, Äsop zugesprochenen Stoffen, werden ins Deutsche übersetzt. Alle Fabeln werden in Versform gebracht. Mündlich kursierende Erzählungen werden erstmals schriftlich wiedergegeben. Gerade letztere gelten hierbei nicht nur als ‚neu gemacht‘, sondern als ‚neue‘ Fabeln, die vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen (Titelblatt). Eine explizite Zäsur zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ ist laut Titel 



521 Hierbei gilt die Verbreitung oder das Auftreten als schriftlich fixierte Transformationen, da nur diese noch als Untersuchungs- und Vergleichsgegenstand herangezogen werden können. 522 Siehe Lieb: Erzählen, S. 34–43. 523 „Desselben Fabeln gantz vnd gar | Jn Reim zumachen | So viel ich hab mgen bekommen“ (Leben Esopi, V. 5–7). 524 Die beiden Bereiche gehen ineinander über: „gelerte leut“ schrieben die Fabeln, die wiederum in der Schule zum Unterrricht eingesetzt werden, mündlich „vnderm volck im gmeynen wesen“ werden die Fabeln als Sprichwörter verbreitet und weitergegeben, „Gebraucht/ vnd gmacht“ (Leben Esopi, V. 9, 12, 17).

3.1 ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Unterscheidungskriterium der Vorlagen im Esopus

211

blatt der Buchdruck.525 Diese Zäsur betrifft auch die im Esopus verarbeiteten Quellen. Innerhalb der Sammlung wird die Zählung der Fabeln mit der Trennung in ‚alt‘ und ‚neu‘ kombiniert. Diese Kombination führt zu einer widersprüchlichen Ankündigung in der Buchüberschrift des vierten Buches: Das Vierdte Buch/ der Fabeln Esopi/ hat Hundert newer Fabelnn. Sie ist insofern widersprüchlich, als der Traditionsbestand an Fabeln, der Äsop zugeschrieben wird, als solcher nicht einfach erweitert werden kann. Ein Blick in die Hauptvorlage zeigt, dass ein solches Verständnis auch Waldis vorlag. Im Aesopus Dorpii wird in den Peritexten zwischen äsopischen und nicht-äsopischen Fabeln unterschieden. Wie bereits angesprochen sind die Bearbeiter der traditionellen äsopischen Fabeln durch Peritexte und Ankündigung explizit als Autoren ausgewiesen, so etwa in der Ankündigung der Fabeln von Hadrianus Barlandus auf Bl. 14r: „AESOPI FABULAE HADRIANO BARLANDO INTERPRETE“. Auf den aufgeschlagenen Buchseiten werden die Fabeln aber durch die Seitenüberschriften, auf der Versoseite jeweils AESOPI und auf der Rectoseite jeweils FABULAE, Äsop zugeordnet. Diese Seitenüberschriften bleiben bestehen, selbst wenn im Text eine explizite Quelle genannt wird, wie im Falle der Fabel von Politianus: „FABELLA EX LAMIA Politiani desumpta“.526 Erst mit der Erweiterung der Fabelsammlung um den Bestand der Fabeln von Abstemius ab Bl. 40r wird auch peritextuell auf das Überschreiten des traditionellen Bestandes an äsopischen Fabelstoffen hingewiesen. Der Ankündigung auf Bl. 40r „FABVLARVM AESOPI FINIS“ folgt bei der Wiedergabe der Fabeln von Abstemius jeweils der Hinweis: FABVLAE ABSTEMII. Dem Einschub dieser Fabeln folgt die Wiedergabe von Fabeln, die wiederum als äsopischer Stoff in der Bearbeitung von Laurentius Valla ausgewiesen sind: LAVRENTII VALLENSIS IN xxxiij. Fabularum Aesopi, e Græco in Latinum sermonem ad clarißimum virum Renaldum Fonaledae Praefatio.527 Die Seitenüberschrift ist dementsprechend angepasst, wiederum erscheint AESOPI FABVLAE.528 Die Fabeln von Abstemius unterscheiden sich auch in weiteren Peritexten von den zuvor wiedergegebenen

525 Auch diese Aussage erweist sich bei der Durchsicht potenzieller Quellen als nicht haltbar, so weist die Fabel IV 60 derartige Ähnlichkeiten mit einem Reimpaarspruch von Hans Folz in einem Nürnberger Druck von 1488 auf, dass von einer schriftlichen Vorlage ausgegangen werden kann, vgl. die Quellenangabe in Esopus. Bd. 2, S. 310. Dies mag für den zeitgenössischen Rezipienten nicht erkennbar gewesen sein, zeigt aber, dass Waldis nicht an einer genaueren Angabe seiner Quellen interessiert war. 526 Aesopus Dorpii, Bl. 36r. 527 Ebd., Bl. 69r. 528 Dies bleibt der Fall auch bei den Bearbeitungen von Rimicius bis zum Ende der Fabelsammlung.

212

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Fabeln im Aesopus Dorpii und dann in der Bearbeitung von Waldis auch im Esopus. Erstmals ändert sich bei den Fabeln aus dem Bestand, die zuerst im Hecatomythium erschienen, auch die Form der Fabelüberschriften. Im Esopus bestehen diese bis zur 44. Fabel im zweiten Buch lediglich aus der nominalen Aufzählung der Fabelfiguren. Ab II 45 finden sich auch Überschriften wie Von einer Frawen/ die jren sterbenden Mann beweynet oder wie in II 55 wie ein Jngling einen alten Mann belacht. Anlass für solche Überschriften könnte der behandelte Stoff sein, der nicht mehr der äsopischen Tradition entnommen ist, sodass die alleinige Nennung der Figuren nicht mehr einen bereits bekannten Fundus an Geschichten beim Leser aufruft. Bereits die Überschriften der Abstemiusfabeln im Aesopus Dorpii weisen einen Mehrwert an Informationen über die Handlung der Fabel auf, so die Vorlagen der eben aufgeführten Beispiele, etwa von II 45, die 14. Fabel im Bestand von Abstemius: De Muliere virum morientem flente et Patre eam consolante und De Iuvene Senis curvitatem ridente, die Vorlage von II 55. Obwohl im Lateinischen bereits ab der ersten Abstemiusfabel solche Typen von Überschriften vorkommen, werden sie im Esopus erst bei den Fabeln verwendet, die kein klassisches Fabelpersonal mehr aufweisen. Bei tierischem Personal werden die Überschriften in der Bearbeitung in die zuvor übliche Nominalform gebracht.529 Die ab Fabel II 45 mitunter vorhandenen Überschriften mit einer Verbalkonstruktion entsprechen weniger dem Typus von Fabelüberschriften antiker Fabeln in den Sammlungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als vielmehr solchen, wie sie häufig in zeitgenössischen Schwanksammlungen zu finden sind.530 Was sich in den Überschriften beobachten lässt, ist nur eine der Auswirkungen der Aktualisierungen, die Abstemius in seinen Fabeln vornimmt. Die Frage nach dem ‚Neu‘ der Fabeln führt auch in den Bereich der Gattungsreflexion. Bereits die Fabeln von Abstemius entfernen sich mitunter weit von der Gattung der klassischen äsopischen Fabel. So handelt es sich bei den Figuren etwa um Kleriker. Bereits im Ausgang des 15. Jahrhunderts findet sich mit den Abstemiusfabeln im Bereich der lateinischen Fabel somit ein Fabelerzählen in der ‚Jetzt-Zeit‘ von der ‚Jetzt-Zeit‘. Im deutschsprachigen Bereich lässt sich nahezu zeitgleich in der Sammlung von Steinhöwel die Erweiterung von Fabeln um Fazetien- und Schwankstoffe beobachten. Dort wird der Übergang von der Wiedergabe alter, tradierter, äsopischer Fabelstoffe hin zu Poggios neugeschaffenen Fazetien explizit vom Herausgeber markiert, etwa über Markierungen im Titel wie De muliere et

529 Etwa wird aus De Mure in cista nato im Aesopus Dorpii in der Bearbeitung von Waldis in II 32 Von der Mauß. 530 Vgl. etwa die Form der Überschriften in Jörg Wickrams Rollwagenbchlin von 1557.

3.1 ‚Alt‘ und ‚neu‘ als Unterscheidungskriterium der Vorlagen im Esopus

213

marito in columbario clauso. Poggii531 und in der Entschuldigung schrybens lychfertiger schimpfred, welche die Übernahme der Fazetien durch den Herausgeber zum Gegenstand macht.532 Bei Steinhöwel ist ein als genuin äsopisch angenommenes Fabelerzählen noch stark unterschieden von solchen Fabeln, die möglicherweise von Äsop stammen könnten und solche, die ihm nicht mehr zugerechnet werden. Dennoch ist auch in seiner Sammlung bereits in der Erstausgabe mit den letzten Erzählungen, die auf Monstra533 im Besitz von Zeitgenossen hinweisen, ein Erzählen in der ‚Jetzt-Zeit‘ von neuen Stoffen der ‚Jetzt-Zeit‘ zu beobachten. Die Beschreibungen Von etlichen unnatürlichen geburden und merwonder werden zeitlich und räumlich situiert: Wonder geburt sint uff das iar der geburt Christi MCCCCXXXVII mangerlay beschenhen. Hugo von Senis sagt von ainer kaczen mit zwaien köpffen. In Paduer land ward ain kalb mit zwaien köpffen, das ward ouch in dem land umgefüret ze senhen. Johannes Hucz der apotheker ze Ulm hett ain pferdlin mit sechs schenkeln, aber die mitteln zwen raichtent nicht uff die erden, doch ließ er sie ouch beschlahen.534

Die Berichte von Monstra teilen sich mit den äsopischen Fabelerzählungen das Merkmal, das einem Tier und seine Attributen Bedeutung für den zeitgenössischen Rezipienten zugesprochen wird. Konträr zum Fabelgegenstand im konventionellen Gattungsverständnis ist das tierische Wunderzeichen realer Bestandteil der göttlichen Schöpfung. Steinhöwel zählt einige Monstra auf, nennt zur Wahrheitsbeteuerung Besitzer, Ort und Zeit, verzichtet aber auf eine Deutung. Die Aufnahme von Berichten über Meerwunder zeigt, dass das Gattungsverständnis von ‚Fabel‘ bereits am Ende des 15. Jahrhunderts die Nähe zu Gattungen erlaubt, die in manchen Merkmalen stark von der äsopischen Fabel abweichen. Dies gilt auch für die Sammlung von Abstemius. In seiner Erzählsammlung befindet sich „zeitgenössisches Schwankgut, das auf die Nähe dieser Fabelkompilation zu den Fazetiensammlungen Poggios und Bebels hinweist“. Er ergänzt Fabelstoffe „aus dem äsopischen Fabelkreis“ um eigene, zuvor nicht nachweisbare Erzählungen und Fabeln mit „hin und wieder recht obszöne[m] Schwankgut“. Doch stets fügt er „jeder Fabel eine ‚applicatio moralis‘ in sentenzenhafter Form“

531 Steinhöwels Äsop, S. 335. 532 „Do ich aber dise fabel oder schimpfrede ains tails beschriben hette, nit uß aigner naigung wypliche zucht und eer, deren verpflichter diener ich allzyt syn wil, in aincherlay weg ze berüren, sonder uß bewegnus der hochberümten Pogii und anderer, die söllicher schimpfred umb straff der waichmütigern frowen on zal vil geseczet haben“ (Steinhöwels Äsop, S. 342). 533 Das sind abnorme Naturerscheinungen in Form von hybriden oder missgestalteten Geschöpfen, die als Zeichen Gottes gedeutet wurden. 534 Steinhöwels Äsop, S. 347 f.  

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

hinzu.535 Im Aesopus Dorpii sind solche Fabeln klar unterschieden vom restlichen Bestand der Sammlung. Die in der Sammlung wiedergegebenen Fabelbearbeitungen, mögen die humanistischen Bearbeiter auch Zeitgenossen sein, sind stofflich dennoch Äsop zugeschrieben. Waldis hingegen nimmt die Abstemiusfabeln, selbst solche, die aufgrund des klerikalen Personals nicht mehr Äsop zugeordnet werden könnten, unkommentiert in Das Ander Buch/ der Fabeln Esopi auf. Es liegt an den bereits angesprochenen zeitgenössischen Auffassungen, was denn eine ‚äsopische Fabel‘ sei, dass es zu solchen vermeintlichen Widersprüchen in der Terminologie kommt. Der vermeintliche Widerspruch in der Überschrift des vierten Buches löst sich auf, wenn man die Fabeln Esopi nicht mehr als Umschreibung für das Korpus der Fabeln versteht, die dem traditionellen Bestand zugeordnet werden: ‚Fabel‘ ist tatsächlich und selbstverständlich, was das Buch im Titulus (Steinhöwel) oder Titel, in seinen Gliederungsmöglichkeiten und Peritexten zur ‚Fabel‘ macht. Die Erweiterung des äsopischen ‚Werks‘ durch neue Fabeln oder ‚additiones‘, die auch eine Art Befreiung vom Kanon ist, wird sozusagen zur Formsache und ermöglicht die Wahrnehmung der Fabel als Gattung, verschiebt den Werk- zum Gattungsbegriff.536

Dass das vierte Buch Hundert newer Fabelnn aufweist und dass die äsopischen Fabeln um eigene, bisher nicht nachweisbare Erzählungen und um zeitgenössische Schwank- und Fazetienstoffe in den Narrationes ergänzt werden, ist nur ein weiterer Schritt in Richtung ‚esopischen‘ Erzählens in der ‚neuen‘ Sammlung.

3.2 ‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis Doch nicht nur im Esopus des Burkard Waldis finden ‚alt‘ und ‚neu‘ Erwähnung. ‚Alt‘ und ‚neu‘ betrifft im Gesamtwerk von Waldis auch andere Ebenen denn die Unterscheidung von Vorlagen oder die Gattungsfrage von Fabeln. Um die Möglichkeiten auszuloten, was ‚alt‘ und ‚neu‘ umfassen kann, werden im Folgenden weitere Werke von Waldis auf diese Thematik hin befragt. In seiner erstmals 1555 erschienenen Übersetzung des Regnum Papisticum, einer protestantischen lateinischen Streitschrift von Thomas Kirchmayr aus dem Jahr 1553, übersetzt Waldis einerseits die ursprünglich einzige Widmungsvorrede der Schrift an den „durchleüchtigen Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Philipsen Landgraven zu Hessen/ Graven zu Katzenelnpogen/ Dietz/ Ziegenhayn

535 Siehe Ernst Heinrich Rehermann: Abstemius, Laurentius. In: EM. Bd. 1, Sp. 30–34, Sp. 33. 536 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 138.

3.2 ‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis

215

vnd Nidda/ seinem gnedigen Herrn“.537 Er erweitert andererseits die dem Haupttext vorangestellten Peritexte, wie auch in anderen Werken, um eine eigens verfasste Vorrede. Er widmet diese, in Bezug auf das Geschlecht der Widmungsträger, komplementär „Der Edlen vil tugenthafften Frauwen Fraw Margariten/ Geborn von der Sale/ des durchleuchtigen hochgebornen Fürsten und Herrn/ Philipsen Landgraven zu Hessen etc. Ehelichen gemahln/ meiner Gnedigen frawen“.538 Darin rechtfertigt er seine Übersetzung mit Blick auf die Zustände der Gegenwart und des gewünschten Rezipientenkreises: Darin der Babst vnd sein gantzes Babsthumb/ mit allen seinen gliedern/ leben/ glauben/ Gotsdienst/ mit allen seinen secten/ gebreuchen/ haltungen und Ceremonien/ auffs aller klrste vnd deutlichste wird abgemalet vnd dargethan/ und auffs krtzeste der jungen welt zu gut beschrieben.539

Die ‚junge Welt‘ zeichnet sich gegenüber der ‚alten Welt‘ durch ihre konfessionelle Prägung aus, beschrieben wird eine Art Generationenkluft.540 Das Attribut bezieht sich auf die Generation, die das Wort Gottes ohne den Zusatz der päpstlichen Kirche kennengelernt hat: Das die jetzigen und jungen Christen/ sonderlich wlche in diesen landen/ da das reine wort Gots on allen zusatz menschlicher lehre gepredigt/ vnd gelert wird/ geborn und erwachsen sein/ und das leidige verdrießliche Babstthumb mit seiner Teuffels lehr und abgöttischen dienst nit gesehen/ noch darin erzogen/ vnnd jhre gewissen mit solchem gifftigen jrthum nit beschmeisst noch verunreinigt/ dafür sie auch Gott dem Allmechtigen/ als für eine sonderliche und himlische gabe hchlich haben zu dancken.541

Den Predigern dieser jungen Generation, denen sich auch Waldis zurechnet, ist diese Neuordnung und die Abwendung von der Lehre, in der sie erzogen wurden, die sie selbst als „beste/hchste und gttliche ler verteidingen und verfechten“ halfen,542 noch deutlich in Erinnerung:

537 Waldis: Ppstisch Reych, Anrede in der ersten Widmungsvorrede, ohne Zählung. 538 Ebd. 539 Ebd., Zweite Widmungsvorrede, Z. 11–16. 540 Der Begriff der ‚jungen Welt‘ dient als Umschreibung für „generation, vor allem mit zeitcharakterisierendem beiwort; die gegenwärtige, heutige, jetzige, junge, jüngere, neue(re) welt“, siehe DWB. Bd. 28, Sp. 1462 f. Die Nachweise sind zu ergänzen um die Belege aus den Werken von Waldis und aus dem Hug Schapler. Auf letztere, allerdings bezogen auf den Aspekt der Sprache geht Jan-Dirk Müller ein in Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘, S. 124 f. 541 Waldis: Ppstisch Reych, Zweite Widmungsvorrede, Z. 16–24. 542 Ebd., Z. 30.  



216

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

drumb ist diß fürnemlich diser vrsach halben geschehen/ das die selbigen jungen ankummende Christen/ ob sie gleich teglich von uns predigern/ die wir fast der mehrer theil in und under dem Bbstischen wesen geborn/ erwachssen und erzogen/ auch dasselbige zu jenner zeit geliebt/ geehret/ uber dem selbigen geeivert und gehalten/ und wie die beste/ hchste und gttliche ler verteidingen und verfechten helffen. Aber jetzt nach erkanten warheit/ dasselbige hren verachten/ und als eine teuffelische/ verfürische und schedlichste ler verwerffen/ zum teuffel und zur hellen/ daher sie auch erstlich kommen ist verweisen.543

Die ‚junge Welt‘ ist in ihrer neuen Ordnung eine fragile. Die Gefahr des Rückfalls in die alten Irrlehren ist gerade auch dadurch gegeben, dass es der Jugend an einer eigenen Erfahrung der alten Zustände mangelt: Ob sie nu gleich solchs (wie gesagt) in allen predigten teglich hren/ so bleibt dennoch nichts dester weniger der gemein vnd grßte hauff in dem unverstande/ das sie die propheceien und weissagung vom gemelten babsthumb und seinem verfhrischen leren/ in der heiligen gttlichen schrifft beide altes und newen Testaments/ angezeigt/ nit grndlich anmercken/ verstehn/ vnd sich dafr zu hten knnen. Die ursach aber ist diese/ das sie nit erlebt/ gesehen/ vnd seine grewel in keiner erfarung gehabt haben/ und dasselbige nicht so gros wie es dann an jm selber und in der warheit gethan ist/ achten knnen/ und wie das gemein Sprichwort laut/ kan man ein ding nit lieben noch hassen/ man wisse erst zuvor wie gut oder bß dasselbig sey.544

Die ‚alte Welt‘ und die „jrthumb vnd fhrligkeiten der Seelen jre ltern vnd vorfaren“ sollen eine Mahnung für die Jungen sein. Die ‚alte Welt‘ darf gerade deswegen nicht vollständig zurückgelassen werden: zum andern/ das man auch sehen vnd erkennen lern hierauß in wlchen grewelt/ jrthumb und fehrligkeiten der seelen jre eltern und vorfaren zur selbigen zeit gestanden/ ja wie vil tausent dadurch bßlich verfret und verdambt worden sein/ damit sie sich jre kinder nachkommen mit ernste und hchstem fleiß und vermgen/ mit der rechten Evangelischen Christlichen ler/ zu wapenen und zu rsten haben/ und dester baß die gemelten bbtischen grewel zu meiden/ vnd knfftiger zeit sich dafr zu hten wusten.545

543 Ebd., Z. 24–34. 544 Ebd., Z. 40–51. 545 Ebd., Z. 59–67. In der gereimten Vorrede, die auf die Widmungen folgt, ist diese Legitimierung mit dem Einbezug künftiger Generationen noch weiter in die Zukunft verlagert: „Wiewol diß reich nun ist bekand | Vor dreissig jarn in Teutschem land. | Doch wissens noch nit vnser kind | Die seit der zeit geboren sind. | Vnd von jhr jugend auff biß her | Gefaßt han recht/ Christliche ler. | Was würd geschehn bey jhren kinden | Die ungeborn/ noch weit da hinden. | Den kem das Babstum nit z sehen | Wüsten nit was drin wer geschehen. | Und wo auff wer sein lhr geflissen | Fürwar es wird jn nichts z wissen. | Findens in diesem buch zu lesen | Fast all/ sein art/ natur vnd wesen. | Wo sies nur selber lesen wllen | Und nicht gar in vergessung stellen“ (Waldis: Ppstisch Reych, Vorrede, V. 47–62).

3.2 ‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis

217

Diese deutliche Absatzbewegung ist in zahlreichen reformatorischen Schriften zu finden und kann als „emphatische[s] Epochenbewußtsein“546 gelesen werden, das gerade in der Frühphase der Reformation allenthalben zu finden ist. Es tritt als ein „Bewußtsein des Neubeginns, das die Reformationsgeschichtsschreibung insgesamt kennzeichnet“, auf.547 Rechtfertigt Waldis im Falle des Ppstischen Reyches in den Peritexten das Werk, in dem es in die außerliterarischen Bezugspunkte von alter und neuer Kirchenlehre eingeordnet wird, so werden ‚alt‘ und ‚neu‘ in den Fabeln im Esopus ebenfalls zu zeitlichen Wahrnehmungskriterien, die auf Weltwahrnehmung verweisen und zu Kategorien für Sinnbildungsverfahren im Fabelerzählen und -deuten werden. Die Differenz von ‚alt‘ und ‚neu‘ wird im Esopus aber zuerst auf die Textproduktion bezogen. Schon auf dem Titelblatt wird die Bearbeitung äsopischer Fabeln durch den Zusatz des Gantz New gemacht charakterisiert. Man mag dieses auf dem Titelblatt gegebene Versprechen, etwas Bekanntes neu geformt zu haben, als vorerst käuferlockendes Argument in Hinblick auf den Rezipienten sehen.548 Diese werbewirksame Maßnahme begegnet auch auf anderen Titelblättern im Waldisschen Œuvre. So beim Ritterroman Tewerdanck,549 dessen Bearbeitung von Waldis erstmals im Jahr 1553 auf den Markt kam. Darauf werden Die Ehr vnd man̅ liche Thaten/ Geschichten vnnd Gefehrlichaitenn des Streitbaren Ritters/ vnnd Edlen Helden Tewerdanck angekündigt als New zgericht/ Mit schnen Figuren vnnd lustigen Reimen volendet.550 Bei Waldisʼ Psalterbearbeitung von 1553

546 Der Begriff nach Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘, S. 143. Die Übersetzung des Regnum Papisticum ist, da 1555 erschienen, ein spätes Zeugnis der aufbruchsfreudigen ersten Welle der Reformation, denn das „emphatische Epochenbewußtsein, das die unterschiedlichsten Lebensgebiete zu Jahrhundertanfang zusammengesehen und überall den Abschied vom Alten aufgespürt hatte, zerbricht um die Jahrhundertmitte. Grund dürfte die Stagnation sein, die religionsgeschichtlich mit der Verfestigung der Orthodoxie, sozialgeschichtlich mit der Erstarrung der Ständegesellschaft in den konsolidierten Territorien, ökonomisch mit dem Niedergang Mitteleuropas zusammenhängt“ (ebd.). 547 Siehe Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘, S. 127. Dort findet sich auch die Einordnung einer solchen Bewertung in Bezug zu „Elemente[n] humanistischen Erneuerungsbewußtseins“. 548 Dieser Aspekt des ‚Neuen‘ als das Unbekannte wird in den Fabeln nur in wenigen Fällen betont, etwa wenn der Erzähler im ersten Vers die Handlung von III 89 Vonn einem Hunde als eine ihm vor kurzem noch unbekannte Erzählung ankündigt: „MJr ward von Straßburg newlich kundt“. 549 Im Folgenden wird mit dieser Namensvariante als Kurztitel auf das Werk verwiesen. Ich richte mich hierin nach dem Titelblatt der Erstausgabe. Typisch für die Frühe Neuzeit weist die titelgebende Figur allein auf den Titelblättern der verschiedenen Ausgaben eine Fülle an homophonen Namensvarianten auf, so Thewerdanck (zweite Ausgabe von 1563), Theurdanck (dritte Ausgabe von 1589) oder auch Theuerdanck (vierte Ausgabe von 1596). 550 Burkard Waldis: Die Ehr vnd man̄ liche Thaten/ Geschichten vnnd Gefehrlichaitenn des Streitbaren Ritters/ vnnd Edlen Helden Tewerdanck. [...]. Frankfurt a. M. 1553, Titelblatt. Der Reiz  

218

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

wird die neuartige Vertonung der Psalmen hervorgehoben: Der Psalter/ Jn Newe Gesangs weise/ vnd künstliche Reimen gebracht. Im Esopus wird die Neugier des potenziellen Lesers darüber hinaus gereizt, da ihm durch den Buchdruck auch Hundert Newer Fabeln/ vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen versprochen werden. Das ‚Neu machen‘ des Bekannten wird in den Vorreden von Werk zu Werk unterschiedlich dargestellt und umfasst unterschiedliche Bereiche. So kann es sich hierbei um eine sprachliche Erneuerung in Hinblick auf die Ästhetik und Verständlichkeit handeln, wie es etwa in der Widmungsvorrede des Ritterromans deutlich formuliert wird. Die Bearbeitung wird von Waldis u. a. mit der Verbesserung der deutschen Sprache seit der Publikation der Vorlage vor 34 Jahren gerechtfertigt:  

Doch weil ich solchs in gleichem vnd grsserm/ auch von grossen leuthen/ vor mir geschehen befinde/ Hab ich mich endtlich solcher mhe vnderstanden/ doch im alten Exemplar alles stehen lassen/ was ie hat mgen stehn bleiben. Wiewol die alten reimen etwas schwerlich daher gehn/ das mß man̅ aber der zeit nachgeben vnd zu gte halten. Dann die Teutsche spraach (wie allen bewust) sich in dreissig Jaren gar stadtlich vnd wolgebessert. Jn dem übersehen hab ich etlich Tausent par verß auff erforderung der not hinzgemacht/ auch etliche vm̅ geschmidet vn̅ verbessert.551

Eine Darlegung der Art und Weise der „not“ fehlt. Auch wird eine Erläuterung der Verfahren des ‚Umschmiedens‘, die hier auf die traditionelle Metapher des Verseschmiedens zurückgeht, nicht ausgeführt. Legitimiert wird die Arbeit durch die Bitte von Freunden: MEin willig dienst in alle weg berait zuvor/ Ernvester Junckherr/ wie ich vor diser zeit von etlichē gůtē freunden anglangt vn̅ gbeten/ daß ich gegenwertig bůch/ den Teuerdanck/ auffs new übersehen/ bessern vnd zum gebrlichen ende hinauß fren/ mich vnderstehn wolte/ welchs zu Augspurg vor 34 jahren außgangen/ wiewol vnuolkommen vnd vngeendet/ weil die person/ davon das bůch handelt/ die zeit noch beileben vnnd jren laufft noch

des ‚Neuen‘ wird jedoch auf den Titelblättern des Tewerdancks nicht in jeder Ausgabe im gleichen Maße als Ankündigung mittransportiert, sondern verblasst, je mehr sich die Anzahl an Ausgaben erhöht. In der zweiten Ausgabe wandert diese Attribuierung schon vom Anfang dieses Satzes an das Ende: „Mit schnen Figuren vnd lustigen Reimen auffs new zgericht“ (zitiert nach dem Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Rar 2046), in der dritten Ausgabe wird nur noch eine in dieser Ausgabe neu eingefügte Lehre als ‚neu‘ angekündigt: „Jetzundt von neuwem hinzu gethan | Die Lehre so diesem Edlen Helden/ in seiner ersten Jugendt/ durch einen seiner trefflichen erfahrnen Kriegsrte gegeben ist“ (zitiert nach dem Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek: Res 2o P.o. germ 28h). Die letzte Ausgabe von 1596 kündigt nichts ‚Neues‘ mehr an. 551 Waldis: Tewerdanck, Vorrede an Wilhelm von Dornberg, Bl. ijv.

3.2 ‚Alt‘ und ‚neu‘ bei Waldis

219

nit beschlossen. Auch dem schreiber des bůchs/ die zeit dasselbige zu fertigen vndergangen ec. Hab ich mich desselbingen zum tail geweygert/ vnnd bedacht/ keinn rhům zu sein/ daß ich eins andern arbait mir zůeygnen solte/ vnnd mich (wie die Esopische Krae) mit frem̅ den federn zieren.552

Das ‚Neu machen‘ umfasst hier drei Stadien der Textproduktion: das erneute Erfassen und Prüfen des bereits Erzählten, das Verbessern des Vorhandenen und das Beenden des Buches, insofern das, was in der Vorlage noch nicht erzählt wurde, nun angefügt wird. Die vergangenen 34 Jahre bedingen einerseits die erforderliche Verbesserung der Reime, ermöglichen aber erst die vollständige Wiedergabe der Handlung, da der „laufft“ der „person/ davon das bůch handelt“, gemeint ist das Leben Kaiser Maximilians, mittlerweile abgeschlossen ist. Wie auch in den Summarien und dem Ppstisch Reych, die jeweils den ursprünglichen Verfasser auf dem Titelblatt aufführen und auch in den Peritexten zur Sprache bringen, wird im Tewerdanck die ursprüngliche Vorrede wiedergegeben.553 Diese Vorrede von „Melchior Pfintzing/ zu Sanct Alban bei Mentz/ vn̅ Sanct Sebolt zu Nremberg/ Probst“ kann in Bezug auf die Thematik von ‚alt‘ und ‚neu‘ komplementär zur von Waldis verfassten gelesen werden. Die ursprüngliche Vorrede legitimiert den Tewerdanck mit dem Hinweis auf die „alte geschicht“, die die heranwachsende Jugend zum Vorbild nehmen soll. Das Alter und die Nobilität des Geschlechtes von Kaiser Maximilian legitimieren auch in dieser Fassung die Zuschreibung des Werkes: Aller gnedigster Herr/ Ich hab bedacht daß alle adenliche menschliche gemt begirig sein/ alte geschicht vnd tewre thaten/ durch mechtige vnd hochgeborne Fürsten vnd Herren volbracht/ so sie zu jrer sterck vnd vlligem alter kommen/ Jnen in Ehrlicher sachen nachzuvolgen/ vn̅ den geferlichaiten/ so jnen begegnen mchten/ durch empfangne gdechtnuß vorzustehn.554

552 Ebd. 553 Es handelt sich hierbei um die wortgenaue Wiedergabe der Vorrede aus der Erstausgabe des Thewerdanck von 1517 (Verglichen wurde mit dem Exemplar Maximilian: Die geuerlicheiten vnd einsteils der geschichten des loblichen streytparen vnd hochberümbten helds vnd Ritters herr Tewrdannckhs. Nürnberg 1517. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Rar 325 a). Waldis muss jedoch ein Exemplar der Ausgabe von 1519 aus Augsburg vorgelegen haben, da er in seiner Vorrede von 1553 darauf eingeht, dass er das Buch bearbeite, „welchs zu Augspurg vor 34 jahren außgangen“ sei. In die Ausgabe von 1519 wurde die Vorrede von 1517 ebenfalls wortgenau übernommen (Verglichen mit Maximilian: Die Geverlichkeiten und eins teils der Geschichten des loblich streitbaren und hochberumbten helds und Ritters Tewrdannckhs. Augsburg 1519. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: München Rar 624). 554 Waldis: Tewerdanck, Vorrede Dem Durchleuchtigsten Fürsten vnd Herrn/ Herrn Carlen, Bl. ijr.  

220

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Waldis knüpft mit seiner als zweite Vorrede gedruckten Widmung direkt an das ‚Alte‘ an, tritt jedoch zugleich als Erneuerer auf. Die Hauptfiguren der alten Geschicht behalten die ihnen zugeschriebene Autorität und ihre Vorbildfunktion. Die Abwertung der früheren Fassung beschränkt sich auf die Unvollendetheit des Inhalts und der Sprache, die nun von Zeitgenossen als negativ empfunden würde, da „die alten reimen etwas schwerlich daher gehen“. Die Sprache der Erzählung müsse vom Bearbeiter für ein neues Publikum der Zeit angemessen verändert werden. Eingelöst werde dies in der Bearbeitung von Waldis. Die von ihm verwendete Sprache, Wendungen und Ausdrücke in der traditionellen Form des Knittelverses gelten als zeitgemäß.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus 3.3.1 Jetzt-Zeit und Vergangenheit Bereits in der ersten Fabel vom Hanen vnnd Perlen wird auf die Zustände in der Welt des zeitgenössischen Lesers Bezug genommen. Auf die Erzählung folgt in der Affabulatio die Übersetzung des lateinischen Morale aus der Vorlage, ein sprichwörtlich gewordenes Bibelzitat sowie Redensarten und Sprichwörter. All das ‚Alte‘, das einen zeitlosen Anspruch besitzt, wird mit einem Sprichwort in das ‚Jetzt‘ überführt: „Darumb sichs in der Welt jetzt helt/ | Zu gleichem gleich sich gern geselt“ (I 1,45 f.). In der Affabulatio werden die Ereignisse oder der Sinn der zeitlosen Fabelerzählung als in der Gegenwart aktuell hervorgehoben: „Denn so geschicht noch heut bey tag“ (I 2,29), „Also geschicht offt in einr Stadt“ (I 3,19), „Die trew ist klein zu dieser zeit“ (I 5,35), „Es gschicht wol in der Welt auch nun“ (I 7,23), „Der glaub ist klein zu vnsern zeiten“ (I 10,24), die Beispiele sind zahlreich. Die Themen, die in den alten, Äsop zugeschriebenen Fabeln narrativ verhandelt werden, bedürfen hierbei sogar dringlicher der Verhandlung als je zuvor:  

Jn diesem Wolff wirdt vns vermelt/ Die groß vndanckbarkeit der Welt Die jetzt so hoch vnd vbermacht Von anbegin der Welt/ ich acht Das nie so groß gewesen sey Vndanckbarkeit/ vnd triegerey (I 6,34–38).555

555 Im Vorwort zu seinem Psalter greift Waldis das Thema der Undankbarkeit erneut auf, siehe Burkard Waldis: Der Psalter/ Jn Newe Gesangs weise/ vnd künstliche Reimen gebracht/ durch Burcardum Waldis. Mit jeder Psalmen besondern Melodien/ vnd kurtzen Sum̅ arien. Frankfurt a. M. 1553, Bl. aa ijr–aa iiijv. Deutlicher als bei der Bearbeitung des Themas im Esopus zeigt sich  

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

221

Zusätzlich wird in der Affabulatio die Möglichkeit genutzt, punktuell auf Zustände und Handlungen in der Vergangenheit über weitere Elemente wie Exempel, Sprichwörter und Redensarten zurückzugreifen, um die Be- und Gegebenheiten in der Gegenwart kontrastiv zu veranschaulichen, zu bewerten und mitunter zu begründen. Dies ist eine Möglichkeit, die auch in den Fabeln genutzt wird, welche explizit als nicht-äsopisch zu gelten haben, die nicht alt, sondern ‚neu‘ sind. Doch auch in ‚neuen‘ Fabeln wird ein Bezug zur Vergangenheit bereits in den Narrationes hergestellt, allerdings handelt es sich um eine Vergangenheit, die deutlich näher an der Gegenwart des zeitgenössischen Lesers in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts liegt als die Geschichten eines antiken Sklaven. Solche Bezüge geschehen in Form von Datierungen, wie etwa „DA man schrieb Tausent vnd Fnffhundert“ (IV 1,1), in Form von Verweisen auf historische Persönlichkeiten wie den Cardinal Campeggio (IV 17 und 18), also Lorenzo Campeggi (1474–1539), oder in der Nennung von historischen Ereignissen, etwa „ZVr zeit da Keyser Maximilian | Krieg het mit den Venetian“ (IV 6,1 f.). Derartige Datierungen entstehen ohne den Gegensatz von ‚alt‘ und ‚neu‘. Ein Zeitpunkt ist nicht genannt bzw. eine zeitliche Bestimmung, wann das ‚Alte‘ aufhört und das ‚Neue‘ beginnt, nicht explizit gesetzt. Anhaltspunkte für einen Umbruch sind fast nicht vorhanden. Bei der Bestimmung von ‚alt‘ und ‚neu‘ als zeitliche Angaben zeigt sich sowohl beim Zeitpunkt, welcher am weitesten in die Vergangenheit ragt, als auch bei demjenigen, welcher am nächsten an den Publikationszeitpunkt des Esopus rückt, dass die zeitliche Situierung einer Handlung nicht nur dazu dient, durch eine konkrete historische Situierung den Wahrheitsanspruch einer Erzählung zu verstärken. Der am weitesten in der Vergangenheit liegende Zeitpunkt einer Fabelhandlung findet sich in IV 96 Von den Lwen/ vnd Hasen. Erzählt wird das Vorhaben der Hasen, die tyrannischen Löwen über gerechte Herrschaft zu belehren. Die Handlung geschieht „KVrtz vor der Schpffung aller ding | Vnd eh die Welt zum erst anfieng“ (IV 96,1 f.). Markiert wird mit einer solchen Datierung, dass die Auseinandersetzung um eine Gesellschaftsordnung stattfindet, noch bevor eine Ordnung von Gott geschaffen wurde. Indem eine Fabelerzählung vor der Schöpfung spielt, ist sie zwar zeitlich situiert, zugleich aber jeglicher Zeitlich 



im Psalter aufgrund der verwendeten Exempel und ihrer Anordnung die strukturelle Nähe zu Agricolas Exempeln und Sprichwörtern in dessen Sprichwörtersammlung, vgl. Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen. 2 Bde. Hg. von Sander L. Gilman. Berlin – New York 1971 (Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts), hier II 1, S. 10–19. Zugleich ist die Vorrede insofern bemerkenswert, da Ereignisse aus dem Leben des Autors, die Inhaftierung und die Freilassung durch die vehemente Fürsprache der Brüder, zum zeitgenössischen Exempel für Dankbarkeit und Undankbarkeit werden.

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

222

keit enthoben. Denn Tag und Nacht sind als basales Instrument zeitlicher Gliederung vor der Schöpfung noch nicht vorhanden,556 die Fabelhandlung ist damit aus der geschichtlichen Zeit genommen, in deren Ablauf sich der Rezipient der Fabeln befindet. Die Fabelhandlung selbst ist von den Widersprüchen, die eine solche Situierung mit sich bringt, unberührt. So studieren die Hasen intensiv die Bibel, obgleich die Ereignisse, von denen darin berichtet wird, vor der Schöpfung noch nicht geschehen sind. Auch gibt es einen alten Hasen, der „kurtzes Graß“ (IV 96,6) frißt und „das reyne Wasser kalt“ (IV 96,6) trinkt – die Teilung von Himmel und Erde, die im Schöpfungsbericht auf die Trennung von Licht und Finsternis folgt, ist offensichtlich vollzogen. In der Welt vor der Schöpfung gilt das Recht des Stärkeren. So ist vielmehr der fiktive Status der Erzählung unterstrichen, der auch von der folgenden Quellenberufung unterstützt wird. Die zeitliche Situierung wird mit den überlieferten Geschichten, u. a. auch Fabeln, verbunden: „Wie man lißt in den alten Gschichten | Jn Fabeln/ vnd Poeten gdichten“ (IV 96,3 f.). In der Affabulatio wird die zeitliche Situierung nicht behandelt. Selbst eine solche Geschichte, die dezidiert außerhalb des Weltlaufs eingeordnet ist, ist sinnhaft für die Gegenwart des Lesers. An der befremdlichen zeitlichen Einordnung557 zeigt sich, dass selbst scheinbar unsinnige zeitliche Strukturen mehr als bloße Ausschmückungen oder Fiktionssignale darstellen.558 Waltenberger deutet in seiner Untersuchung von Paradoxien der politischen Ordnung in Tierfabeln diese „paradoxe Situierung“ als  



demonstrative Verweigerung einer naturalisierenden Invisibilisierung der politischen Paradoxie des Ursprungs. Mit ihr wird ein Rückgang auf die Vorstellung eines idealen Urzustands der Schöpfungsordnung im Rahmen der fiktionalen Weltkonstruktion dezidiert ausgeschlossen.559

Die Vergangenheit, die sich über in der Fabelerzählung genannte Ereignisse oder Daten erschließen lässt, reicht fast in die Gegenwart des zeitgenössischen Lesers hinein. Der jüngste konkret genannte Zeitpunkt ist ein vom Fuchs fingiertes

556 Diese entstehen erst: „VND Gott sprach/ Es werde Liecht/ Vnd es ward Liecht. Vnd Gott sahe/ das das Liecht gut war/ Da scheidet Gott das Liecht vom Finsternis/ vnd nennet das liecht/ Tag/ vnd die finsternis/ Nacht. Da ward aus abend vnd morgen der erste Tag“ (Gen 3–5). 557 Die Anmerkung von Kurz zu dieser Fabel berücksichtigt lediglich den Fabeleingang und bemerkt einzig: „merkwürdiger Anfang“ (Kurz: Esopus. Bd. 2, S. 184). 558 Zur Interpretation der Fabel IV 96 als „Fiktion als Urbild und Wahrheit“ siehe Lieb: Erzählen, S. 137 f. 559 Michael Waltenberger: Die Legitimität der Löwen. Zum politischen Diskurs der frühneuzeitlichen Tierfabel und Tierepik. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hg. von Andreas Höfele u. a. Berlin, New York 2013 (Pluralisierung & Autorität 40), S. 203–228, hier S. 208.  



3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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Konzil in „diesem Jar Sieben vnd dreissig“ (IV 2,61). Gemeint ist 1537 und damit ein Zeitpunkt, welcher elf Jahre vor der Erstausgabe des Esopus liegt. Dieses Beispiel für einen Rückgriff auf Vergangenheit in den Fabeln zeigt zugleich, wie schwer eine klare Trennung von ‚alt‘ und ‚neu‘ fällt. Die zeitliche Situierung dieser Fabelhandlung verweist auf die Virtualität der Erzählwelt. Vorgenommen wird die zeitliche Situierung der Fabelhandlung nicht vom Erzähler, sondern von einer Fabelfigur. Der Fuchs verweist in der Erzählung auf das bestehende Jahr, es ist 1537 in der Fabelwelt der Tiere. In der Rezeption der Fabel liegt das Jahr aber bereits im Erscheinungsjahr der Erstausgabe in der Vergangenheit. Was der Fuchs dem Hahn in seiner Lügenrede als „herrlich new Edict“ (IV 96,129) anpreist, das gerade „jetzt zu Franckfurdt in der Meß/ | Vorn Rmer [...] an die Thr“ (IV 96,139 f.) geschlagen worden sei, ist für den Rezipienten allein aufgrund des Zeitpunkts, an dem die Fabel spielt, schon länger vergangen. So markiert auch die Figurenrede des Fuchses, dass Reden, Ereignisse oder Vorgänge in der Fabelwelt von Bedeutung sind, nicht jedoch für den Rezipienten. Vermischt erscheinen hier darüber hinaus zwei Ebenen, die Fabelwelt der tierischen Fabelfiguren, die sprechen können, sowie die Welt des Lesers, in welcher die Fabel nur Relevanz in ihrer Modellhaftigkeit beanspruchen kann. Denn hier berichtet der Fuchs von Ereignissen, die von Menschen zu konkreten Zeitpunkten (1537) von konkreten Anlässen (dem Konzil) ausgehen. Diese werden nun als relevant für die Fabeltiere geschildert.560 Der umgekehrte Fall, dass erzählt wird, wie ein Fabeltier für die historisch greifbare Gegenwart relevant wird, ist, anders als etwa bei Alberus, nicht gegeben.561 Im Esopus des Burkard Waldis ist die Fabelwelt, in der Fabeltiere auf Menschen treffen, ahistorisch und zeitlich unbestimmt.  

560 Nicht nur zeitgenössische Ereignisse, auch Orte, die in der Welt des Rezipienten eine Bedeutung oder zumindest einen Ruf haben, werden in der Erzählwelt von Tieren genannt. In I 91 Vom Frosch vnd Fuchß, verweist der Frosch in seiner Lüge über seine Arztkünste auf seine Ausbildung in Frankreich: „Er sprach/ die schne kunst Artzney | Hab ich gelernt/ vnd bkennens frey/ | Zu Mompeliers in Franckenreich/ | Jn Welschlandt zu Paris dem gleich“ (I 91,11–14). 561 Dass in der deutschsprachigen Fabel des 16. Jahrhundert ein solcher Fall erzähltechnisch möglich wäre, dann aber doch abgelehnt wird, zeigt die 33. Fabel Vom Bapstesel im Buch von der Tugent vnd Weißheit von Erasmus Alberus. Wiedergegeben wird der Stoff der klassischen Fabel vom Esel in der Löwenhaut. Bei Alberus wird dieser Esel, der sich unter einer gefundenen Löwenhaut als Löwe ausgibt, zum Papst. Bei dem Mann, der den Betrug entlarvt, traditionell ein Müller, handelt es sich in dieser Fassung um Luther. Der Bruch mit der klassischen Erzählwelt einer Fabel führt jedoch auch zum Bruch mit der Gattung, wie der Erzähler selbst festhält: „Nun lieber sih/ ein solche macht | Des Lwen haut zuwegen bracht/ | Diß ist kein Fabel/ sonder war“ (Alberus: Fabeln, S. 154). Zur Kontextualisierung der Fabel und Anregung des Lesers durch „die Ordnung der Fabeln, durch ihre peritextuelle Umgebung, durch motivische und thematische Interferenzen im Erzähl- und im Auslegungsteil“ im Fabelbuch von Erasmus Alberus siehe Herfried Vögel: Erasmus Alberus in Magdeburg. In: Literatur in der Stadt. Magdeburg in Mittelalter

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Nicht leicht zu bestimmen ist die zeitliche Grenze zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘. So finden sich verschiedene Möglichkeiten von Zäsuren zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘. Eine zeitliche Unterscheidung kann zwischen ‚Antike‘ und zeitgenössischer ‚JetztZeit‘ vorgenommen werden, wie sich auf verschiedenen Ebenen – Frage nach den Vorlagen bzw. Herkunft der Fabeln, Fabelstoffe, in den in der Figurenrede in der Fabelwelt und in den Affabulationes verwendeten Sprichwörtern, historischen Exempeln – zeigt. Schon auf dem Titelblatt begegnen sich Antike und Jetzt-Zeit in der Zusammenführung des antiken Fabeldichters und der neu bearbeiteten sowie unveröffentlichten Fabeln: Esopus/ Gantz New gemacht/ vnd in Reimen gefaßt. Mit sampt Hundert Newer Fabeln. ‚Neu gemacht‘ wird durch den Autor auch die Lebensbeschreibung des Sklaven Äsops, wie zu Beginn des Leben Esopi in Selbstaussagen deutlich gemacht wird. Neben den Fabeln Äsops sind es Aussprüche und Exempel weiterer antiker Autoren, die in den Affabulationes Zustände in der Jetzt-Zeit bestätigen. Beispielsweise wird in IV 20 Vom Juden/ vnd einem Trucksessenn berichtet, wie ein Jude einen König darum bittet, dass er ihm auf einer Reise in ein anderes Land zur Sicherheit eine Begleitung mitgebe. Der ihm zugeteilte Truchsess beschließt jedoch, den Juden im Wald zu erschlagen, obwohl dieser um sein Leben bittet und zu bedenken gibt, dass kein Mordt bleibt vngerochen Von Gott/ vnd vngestrafft gar selten/ Der Krametuogel wirdt es melden (Den er jm zeygt an jener Hecken) Vnd sprach/ der wirdt den Mordt entdecken (IV 20, 31–36).

Nach Jahreswechsel begeht der König seinen Jahrestag. Als auf der Festtafel ein gebratener Krammetsvogel, das ist eine Wacholderdrossel, aufgetragen wird, verrät sich der Truchsess, weil er lachen muss. Der König will die Ursache für das Lachen erfahren, der Truchsess muss die Tat gestehen und wird vor Gericht zum Tode verurteilt. In der Affabulatio wird sowohl die Ursache der Mordtat, die Habgier, als auch die Bestrafung der Tat kritisiert. Eingegangen wird auf das

und Früher Neuzeit. Hg. von Michael Schilling. Heidelberg 2012, S. 147–171, zu den Fabeln ab S. 165, zur 33. Fabel S. 169–171. Zur weiteren Rezeption der Fabel vom Esel in der Löwenhaut und ihrer propagandistischen Verwendung in den politischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts mit dem „geläufigsten Verfahren bei der politischen Verwendung einer Fabel [durch die] aktualisierende[] Identifikation des Tierpersonals mit Personen oder Institutionen der Zeitgeschichte“ siehe Michael Schilling: Fabel, Politik und Propaganda. Zur Fabel vom Esel im Löwenfell in der Frühen Neuzeit. In: John Roger Paas (Hg.): Augsburg, die Bilderfabrik Europas. Essays zur Augsburger Druckgraphik der Frühen Neuzeit. Augsburg 2001, S. 71–78, S. 71.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

225

Thema Mord und Rache bzw. Strafe hierbei nicht unter Einbezug zeitgenössischer Rechtssprechung. Stattdessen wird auf den Fundus religiöser und moralischer Anweisungen Bezug genommen, die sich das Christentum mit dem Judentum teilt, auf die zehn Gebote Gottes im Alten Testament. Untersagt wird dort dem Menschen, das Hab und Gut des Nächsten zu begehren: Die Gottes gbot vns ernstlich leren Wir solln kein frembdes gut begeren Jeder soll sich seinr arbeit nehren Nit auff eins andern Seckel zeren (IV 20,59–62).

Dies lässt sich sowohl auf den Juden beziehen, der zu Beginn der Fabel als habsüchtiger Zinswucherer eingeführt wird,562 aber auch auf den Truchsess, der ihn aufgrund seiner Schätze erschlägt. Daran angeschlossen wird das Gebot, dass man nicht töten solle. Es wird sogleich ergänzt, wie der Verstoß gegen das Gebot vergolten werden soll, nämlich durch Menschenhand: Auch ist von Gott gar hoch verbotten Das wir kein Menschen sollen todten/ Wer Menschen blut vergeußt auff Erden Des Blut soll auch vergossen werden Denn Gott hats selb also verschafft Kein Mordt soll bleiben vngestrafft (IV 20,63–69).

V. 65 f. gibt die Worte wieder, die von Gott nach der Sintflut und vor dem Bund mit Noah verkündet wurden.563 Die Antwort, die an dieser Stelle auf die Frage nach der Reaktion auf den Mord an einem Menschen gegeben wird, ist zeitlich noch vor der Verkündung der zehn Gebote von Moses einzuordnen. Die folgenden zwei Exempelgeschichten sind nicht-christlich, beide sind durch Quellenberufung als antik markiert. Benannt ist die antike Vorlage des antiken Autors (Poet Euripides), benannt ist die ursprüngliche dramatische Gattung (Tragedi). Die beiden Erzählungen wiederholen, wie Mord durch Menschenhand gestraft wird und dass dies, im Fall des ersten Exempels explizit, auch als Handeln Gottes zu werten ist. Die erste berichtet von der Ermordung von Polydoros, dem jungen Sohn der Königin Hekuba, die diesen während der Belagerung von Troja Polymestor zum Schutz anvertraut hatte:  

562 „LAng het ein Jd gemehrt sein Schatz | Mit Wucher/ such/ Geitz vnd auffsatz/ | Vnd viele Jar zusamen gschlagen | Wie denn die reichen Jden pflegen“ (IV 20,1–4). 563 Gen 9,6: „WER MENSCHEN BLUT VERGEUSSET/ DES BLUT SOL AUCH DURCH MENSCHEN VERGOSSEN WERDEN“, siehe Esopus. Bd. 2, S. 279.

226

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Ein schn Exempel han wir des Jm Poeten Euripides Jn der Tragedi Hecuba Vom Edlen Knig Priamo/ Vnd sagt/ als Troia blegert war Von den Grecken wol zehen Jar/ Schickt sein Jngsten son Polydorum Von dann/ das er auch nit kem vmb Mit viel Silber vnd Golt beladen Geleitten ließ/ das er on schaden Schiffet zum Polymestor da Der ein Frst war in Thracia (IV 20,69–80).

Die folgende Rache der Hekuba an Polymestor wird als Beispiel für die Strafe Gottes dargestellt: „Dasselb er vor sein vntrew hat | Denn Gott strafft alle missethat“ (IV 20,136 f.). Das zweite Exempel weist neben der Vergeltung eines Mordes weitere motivliche Ähnlichkeiten mit der Fabelerzählung auf. Erzählt wird vom Mord an dem Dichter Ibykos, der im Wald erschlagen wird. Die „Legende von der Überführung seiner Mörder ist seit der römischen Kaiserzeit verbreitet [...]; in der Frühen Neuzeit war sie über Plutarch zu rezipieren“.564 Wieder sind es Vögel, welche helfen den Mord aufzudecken, diesmal handelt es sich um vorbeifliegende Kraniche. Auch die Situation, in welcher die Mörder entdeckt werden, ähnelt der Entdeckung in der Narratio. Anders als in der Fassung von Plutarch565 – dort geschieht der verräterische Ausruf des Mörders in einem Theater – geschieht der verräterische Ausspruch, wie zuvor in der Fabelerzählung, in einer geselligen Runde zu Tisch. Einer der Mörder verlässt das Haus, sieht die vorbeifliegenden Kraniche und  

Kam wider nein/ sprach on gefehr Zu seinen Gselln mit grossem glecher Da fliegen des Jbici recher (IV 20,154–156).

Das Motiv des Lachens, das in der Fabelerzählung den Mörder verrät, ist auch hier verarbeitet als Begleitung des Ausspruchs. Der „Wiert“ (IV 20,157) hört diese Worte und macht den Sachverhalt bekannt. Die Angleichung des antiken Exempels an die Fabelerzählung stärkt die Kontinuität, die dem Sachverhalt zugeschrieben wird. Die Art und Weise, wie in der Antike unter Heiden mit einem Menschenmord verfahren wurde, ist auch in der Jetzt-Zeit nachzuvollziehen und nachzuahmen.

564 Esopus. Bd. 2, S. 279. 565 Dessen Bearbeitung wurde in der Frühen Neuzeit rezipiert, siehe Esopus. Bd. 2, S. 279.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

227

In den meisten Fällen geht aus den Fabelhandlungen selbst nicht hervor, dass es sich beim Großteil der klassischen äsopischen Fabeln um alte Erzählungen handelt. Sie sind überzeitlich, da ohne zeitliche Situierungen. Die zeitliche Distanz zwischen den ersten Fassungen und der Rezeption in der Mitte des 16. Jahrhunderts ist nicht als solche markiert und bedeutungslos. Anzeichen für das Alter der Erzählstoffe und ihren Ursprung in einem anderen Kulturkreis, die sich nicht nur durch zeitliche, sondern auch durch kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Andersartigkeit auszeichnet, sind rar. Ein solches Rudiment sind etwa die antiken göttlichen Fabelfiguren, wie Venus, Juno oder Jupiter.566 Dass der Polytheismus der antiken Fabel für Waldis in der Fabelerzählung unproblematisch ist, zeigt sich in I 15 Vom krancken Weihen. Der kranke Greifvogel wendet sich an seine Mutter, damit diese die „Gtter trewlich“ (I 15,7) um seine Genesung bitte. Sie verweist allerdings darauf, dass er „Bey den Gttern [...] kein gunst“ (I 15,14) habe, denn er habe sich „Die Gtter [...] zu widern gmacht“ (I 15,16). Was der Greifvogel zu Lebzeiten versäumt, sein Leben fromm und nach göttlichen Geboten auszurichten, wird zum Gegenstand der Affabulatio. Hier sind es jedoch nicht die antiken Götter, sondern der christliche Gott, an den sich die Leser wie auch der Autor („vns“, „wir“) stets richten soll: Es ist gerathen fr vnd spat Das man Gott stets vor augen hat Der die frommen gnediglich hort Jn jrer not/ nach seinem wort Wer sich nach seinem willn nicht richt Von dem wendt er sein angesicht/ Wenns vns wol geht/ soln wir Gott loben Auff das wirn auch in nten haben/ Wer Gott verleßt wenns jm wol geht Bey dem er nicht in nten steht (I 15,21–30).

Da Fabelerzählungen traditionell und auch im Esopus als erdichtet gelten, ist die ursprüngliche Geltung der alten Götter für einen christlichen Autor problemlos.567 Mitunter werden die antiken Gottheiten zum besseren Verständnis mit dem Hinweis auf die Schriften der „Poeten“ kommentiert, wie in II 33 Vom Bawren/ vnd seinem wuntsch. Während Ceres, die römische Göttin des Ackerbaus, in der Vorlage von Abstemius unkommentiert bleibt, weist Waldis auf den in den Schriften antiker Autoren nachweisbaren Polytheismus hin und nennt die Eigenschaft und Zuständigkeit, die die Göttin auszeichnet:

566 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 55. 567 So schon ebd.

228

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

DJe Leut erstmals viel Gtter hetten Dauon viel schreiben die Poeten Vnder den war ein die Ceres hieß Die Korn vnd Weytzen wachssen ließ (II 33,1–4).

Die Anbetung antiker Götter ist hier aus der christlichen Perspektive beurteilt als Merkmal der ‚Heiden‘: DEn Apollo die Heyden fragten Denn er zuknfftig dinge sagte Dasselb jm jederman zutraut (III 30,1–3).

So problemlos das Auftreten antiker Gottheiten in den Fabelerzählungen auch ist, es bleibt eine klare Zäsur zwischen ‚heidnisch‘ und ‚christlich‘. Positionen, die ‚Heiden‘ bzw. ‚Christen‘ zugeordnet werden, können daher auch als verschiedene Antworten auf den Umgang mit einem Sachverhalt präsentiert werden. In der Affabulatio von I 7 vom Bawrenn vnd der Schlangen werden Handlungsmuster der Vergangenheit als solche benannt, präsentiert und abgewogen in Hinblick auf ihre Aktualität. In der Fabelerzählung nimmt ein Bauer an einem kalten Wintertag eine gefrorene Schlange mit nach Hause. Als diese neben dem warmen Ofen aufgetaut ist, besudelt diese „mit gifft des hauses wendt“ (I 7,12). Der Bauer erzürnt, greift nach einer Zaunlatte und „straffts mit worten vnnd mit schlegen“ (I 7,17). In der Affabulatio wird auf die Undankbarkeit in der gegenwärtigen Welt eingegangen: Es gschicht wol in der Welt auch nun/ Das eim die jhenen schaden thun Den man hat alles gut gethan Wie jetzt gemein bey jederman/ Vnd ist vndanckbarkeit so groß Erwachssen vber alle moß (I 7,23–28).

Als Handlungsanweisung, wie mit diesem Zustand umzugehen sei, der jeden zeitgenössischen Rezipienten angehe, und welcher, da Erwachssen und somit im Vergleich zu früher, aktueller denn je sei, werden in der Affabulatio zwei Möglichkeiten aufgeführt. Zuerst wird geschildert, wie in früheren Zeiten Heiden mit diesem Problem umgegangen sind. Die Lösung sei Gewalt gewesen: Die Heiden habens ehe bedacht Vnd hat vndanckbarkeit gemacht Viel bses bey den menschen geschafft Das sie wardt mit dem schwerdt gestrafft (I 7,29–32).

Dieser Schilderung werden unter Berufung auf das Neue Testament Worte eine Rede von Jesus angeschlossen. Sie ist aus verschiedenen Auszügen der Berg-

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

229

predigt zusammengesetzt.568 Darin wird nochmals auf die ‚Heiden‘ eingegangen, deren Handeln jedoch von Christus abgelehnt wird. Die Gegenposition wird, eingeleitet mit den Worten „Jch aber sag euch“, deutlich formuliert: Das Euangelion vns lert Wie Christus selber disputert Vnd sagt/ das man das gut mit gut Vorgelten vnd bezalen thut Des hat man kleinen preiß vnd lohn Das haben auch die Heiden thon/ Jch aber sag euch/ das jr solt Dem feindt vorgeben seine schuldt/ Vnd jn wie einen Freundt belieben (I 7,33–41).

Die Antike steht der Gegenwart des Lesers somit als ‚alt‘ im Sinne von ‚heidnisch‘ und ‚nicht-christlich‘ gegenüber. Keinen Eingang in den Esopus hat die Einteilung der Vergangenheit in Antike – Mittelalter – Neuzeit gefunden, wie sie in Humanistenkreisen seit der Renaissance nachweisbar ist.569 Waldis weist eine Bezeichnung der Jetzt-Zeit als eine ‚neue Welt‘, wie es allgemein verbreitet sei, unter Hinweis auf den kontinuierlich voranschreitenden moralischen Verfall sogar dezidiert ab: Man lißt/ vor zeiten bey den alten Thet einr dem andern glauben halten/ Jetzt sagt man/ dwelt sey worden new/ Gibt gute wort on alle trew/ Lach mich jetzt an/ vnd gib mich hin/ So falsch ist jetzt der Welte sinn (I 94,41–46).

Nicht ein Neuansatz in der Gegenwart des Rezipienten oder eine Art Aufbruchsstimmung ist die Grundlage für Zeitlichkeit in der Fabelsammlung, sondern unter Einbezug der ‚Alten‘ die kontinuierliche Entwicklung von der Schöpfung hin zu einer baldigen Zukunft, in der das Jüngste Gericht erwartet wird. Daher bezeichnet ‚alt‘ zweitens auch Werke und Sprüche christlicher Dichter aus dem Zeitraum, der heute mit ‚Mittelalter‘ gefasst wird:

568 In V. 33–54 finden sich der Reihe nach Analogien zu Mt 5,46 f., Mt 5,44 f., Mt 7,12 sowie Röm 13,10, siehe Esopus. Bd. 2, S. 47. 569 Zu den Zeugnissen des Jetzt-Zeitbewusstseins der Humanisten siehe Karlheinz Stierle: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–492, S. 456–462.  



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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Freydanck in seinem alten gedicht Thut von der zungen solchen bericht/ Das beste Glied/ das jemandt treyt Jst die Zung/ wie Sanct Jacob seyt (II 11,77–80).

Freidank ist im zeitgenössischen Verständnis nicht als ein ‚mittelalterlicher‘ Autor, wie es heute selbstverständlich ist, einzuschätzen, sondern als eine alte, jedoch im Druck neu vorgelegte, zeitlich unbestimmte, angesehene Autorität.570 Aufnahme in den Esopus hat das Lied über die Zunge wohl durch den ersten Band der Sprichwörtersammlungen von Johannes Agricola gefunden.571 Neben vielen weiteren Exempeln zur Ambivalenz und Zerstörungskraft der Zunge findet sich dort neben der Fabelhandlung, die auch Waldis wiedergibt, lediglich der Verweis: „Freydanck singt“ als Überschrift.572 Wie sich in den oben beschriebenen Peritexten weiterer Werke von Waldis zeigt, rückt ‚Altes‘ sehr nah an die zeitgenössische Gegenwart heran. Werke, die 34 Jahre alt sind, weisen einen veralteten Sprachstand auf, der der Bearbeitung und Anpassung an zeitgenössische Ansprüche bedarf. In Hinblick auf religiöse Lehren macht Waldis sich selbst und seine Erziehung zu einem Beispiel, wie verführerisch die „teuffelische/ verfürische und schedlichste ler“ der Papstkirche sei. Der Um-

570 Zur Verbreitung und Rezeption von Freidank im Mittelalter siehe Grubmüller: Freidank. 571 Dort sind die Verse von Freidank unter der Nr. 156 aufgeführt. 572 Agricola: Sprichwörtersammlungen, I 156, S. 110, Z. 32. Während Waldis Freidank nur namentlich erwähnt, wird in früheren Rezeptionszeugnissen der Geltungsanspruch des Autors wie seiner Verse betont, so in der 1508 von Sebastian Brant herausgegebenen Sammlung Der Freidanck. Im Folgenden wird aus dem Original zitiert, ein diplomatischer Abdruck findet sich in Sebastian Brant: Der Freidank. Hg. von Barbara Leupold. Stuttgart 2010 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Beihefte 8). Im freydanck nüwe, so die Bezeichnung auf dem Titelblatt, gibt das Werk in der Vorrede über sich selbst Auskunft. Die Bezeichnungen Freydanck, Frygedanck und ihre homophonen Varianten werden in dem Werk zugleich für das Werk wie für den Verfasser selbst benutzt und wechseln sich darin ab. Einerseits ist der Autor damit bezeichnet, andererseits begrüßt das Werk selbst den Leser und nennt sich selbst beim Namen „Ich bin genant der frygedanck“ (Sebastian Brant: Der Freidanck. Straßburg 1508, Vorrede, V. 1). Darin gleicht Der Freidanck dem Esopus, was einerseits Äsop bezeichnet, dem die Fabeln zugeschrieben werden, andererseits der Titel der Fabelsammlung ist. Auch im Freidanck wird in der Vorrede der Bearbeiter des Werks genannt. Doch ist es das Werk selbst, das Brant als denjenigen hervorhebt, der das Werk wieder zugänglich und so bearbeitet habe, dass es nun wieder stimmig sei: „Ich bin lang zeit verlegen bliben | Vnd wer noch manichen vnerkant | Het mich nit funden doctor Brant | Mich neben seim schiff lassen schwym̅ en | Vnd mir mein orgen machen stym̅ en | Mein kürtzen rymen corrigiert | Vß vinster in das liecht gefiert“ (Brant: Der Freidanck, Vorrede, V. 6–12). Das Titelblatt legt den Schwerpunkt hingegen auf den ständeübergreifenden Geltungsanspruch der Sprüche von Freidank: „Den freydanck nüwe mit den figuren | fügt pfaffen/ adel leyden buren | Man hielt etwan vff kein spruch nicht | Den nit herr frydanck het gedicht“ (Brant: Der Freidanck, Titelblatt).

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

231

schwung von der Zeit vor der Reformation zur Jetzt-Zeit „mit der rechten Evangelischen Christlichen ler“ liegt in seiner Lebenszeit.573 Eine dritte Möglichkeit der zeitlichen Trennung von ‚alt‘ und ‚neu‘ ist daher die Unterscheidung von ‚reformiert‘ und ‚nicht reformiert‘. Die Fabel IV 36 Wie einn Gsell Beichtet führt vor, wie eine solche Zeiteinteilung in einer Erzählung produktiv gemacht wird. Berichtet wird von einem „jungen Gsellen“ (IV 36,17), der einen Mönch dazu bringt, ihm die Absolution zu erteilen. Er schiebt in der Hand „zwen Schreckenberger“574 (IV 36,24) hin und her, bis er von seinen Sünden losgesprochen wurde. Als er dem Mönch dann nur einen „Creutzer“ (IV 36,29) hinwirft, durchschaut dieser zu spät, um noch handeln zu können, das Vorhaben des jungen Mannes und kommentiert: „Du bist ein Bub/ vnd bleibst ein Bub“ (IV 36,32). In den einleitenden Versen der Fabelerzählung wird von den Zuständen vor der Reformation berichtet: VOr zeiten da die Mnch vnd Pfaffen Gewalt hetten/ die Layen straffen Sonderlich/ wenns kamen zur Beicht Jn der Karwoch (IV 36,1–4).

Es wird vom Abhängigkeitsverhältnis berichtet, in welchem Laien gestanden hätten, wenn sie mindestens einmal im Jahr, in der Karwoche, zur Beichte hätten gehen müssen. Hege ein Geistlicher einen Groll auf einen Laien, müsse dieser dem Geistlichen dennoch zu dieser Zeit gegenüber treten. Nur wenn man die Geistlichen mit Gaben bestochen hätte, So liessens dennoch etwas nach Wo einr war gegen jn wolthetig Dem wardt auch vnser Herrgott gnedig (IV 36,13–16).

In der Fabel wird dargestellt, welche Auswirkungen ein solches Verhalten Geistlicher auf die Gläubigen hat. Das Handeln der Mnch vnd Pfaffen wirkt sich direkt auf die Gemeinde aus. Statt im christlichen Glauben geleitet zu werden, sei Mancher mit „armen gwissen“ (IV 36,7) vor der Beichte und dem Bußsakrament verzagt und Gott fremd.575 Auch wird gezeigt, dass als Reaktion darauf Feilschen um die Sündenvergebung und Betrügen des Gegenübers auch von den Laien praktiziert wird. Die Einleitung der Fabel verlagert diesen Zustand dezidiert in die Vergangenheit, VOr zeiten. Die Figur wiederum wird als junger Mann eingeführt,

573 Waldis: Ppstische Reych, Zweite Widmungsvorrede, Z. 32 und Z. 64 f. 574 Es handelt sich um eine „[k]ursächsische Silbermünze, geprägt seit 1498 im heutigen Annaberg“ (Esopus. Bd. 2, S. 244). 575 „Also gieng hin beid Jar vnd tag | Das er beid Beicht vnd Sacrament | Veracht/ auch seinen Gott nit kent“ (IV 36,10–12).  

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

den der Autor selbst kenne: „Da kent ich einen jungen Gsellen“ (IV 36,17). Die Vergangenheit, die in der Erzählung geschildert wird, wird mit der Lebenszeit des Autors verknüpft. In der Affabulatio wird die Thematik der käuflichen Sündenvergebung aufgenommen und es werden beide Beteiligte, Käufer wie Verkäufer, verurteilt. Die Zunahme der Habsucht wird in Bezug gesetzt zur verminderten Anerkennung des Geltungsanspruches der Bibel. Einen Umbruch hätten erst die Schriften Luthers herbeigeführt: So ist die Gttlich schrifft verkummen Vnd der Geitz vberhandt genommen Das ich glaub/ wers lenger so blieben Vnd das der Luther nit geschrieben Wern erger worden/ denn die Heyden/ Vnd ewiglich von Gott gescheyden (IV 36,39–44).

Schlimmer als die vergangene Zeit der unwissenden Heiden wäre eine Zukunft mit falsch interpretierten Bibellehren derjenigen, denen das Wort Gottes durch die Bibel offenbart worden ist. Auf den Bezug auf die Vergangenheit und die Wertung vergangener Zeiten, Ereignisse und Zustände soll im Folgenden näher eingegangen werden. Neben den zeitlichen Situierungen der Fabelerzählungen findet Zeitlichkeit Eingang in die Fabeln, wenn, vor allem in den Affabulationes, die Gegenwart in Bezug zur Vergangenheit gesetzt wird. Aktuelle Ereignisse, gesellschaftliche und soziale Zustände werden in Relation zur Vergangenheit als gleich, ähnlich oder verändert dargestellt. Je nach Thema und Bewertung wird die Kontinuität bzw. die Veränderung vergangener Zustände zur Sprache gebracht. Die drei Behauptungen von ‚alt‘ – das immer noch Gültige, das frühere Bessere und die Verderbtheit der katholischen Kirche – stehen unabgestimmt in der Sammlung nebeneinander. Eindeutig positiv bewertet wird der Bruch mit der päpstlichen Kirche. In Fabeln mit geistlichem Personal, durch Erlebnisse und Wertungen des SprecherIchs wird das Thema der Veränderung im Bereich des Religiösen, die Verbreitung der neuen „friedsam ler“ (IV 96,144) in der Gegenwart der Zeitgenossen angesprochen. So finden sich in den Affabulationes deutliche Worte für die Kritik an „betrug/ vnd falscher ler“ (IV 69,203) der römischen Kirche, an dem Verhalten ihrer geistlichen Vertreter und besonders an der Praxis des Ablasshandels. Topoi, wie die Geilheit der Pfaffen, bilden den Kern der Kritik.576 Ausführliche Kritik des 576 Beispielsweise in IV 22,41–48: „Mit was frombkeyt/ zucht vnd ehren | Die Mnch pflegen zu Termeneren | Man mag der Bawren Weiber fragen | All Welt weyß jetzt drber zu klagen/ | Wer solche bey jm hausen leßt | Der het auch warlich gerne Gest | Denn Mnche/ Motten/ Meuse/ Maden/ | Die scheyden selten one schaden“. Waldis bleibt bei der Kirchenkritik allgemeiner als

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

233

Sprecher-Ichs am Geschäft mit der Sündenvergebung findet sich erstmals in II 75 Vom Bischoff vnd einem Lotterbuben, die eine Bearbeitung von Laurentius Abstemiusʼ De Scurra et Episcopo darstellt. Die Fabel stammt aus einem Komplex von 100 Fabeln, die ursprünglich aus der Sammlung Hecatomythium577 über die Wiedergabe im Aesopus Dorpii578 Aufnahme in den Esopus fanden.579 Über dieses Korpus finden sich erstmals in der Sammlung auch Geistliche als Figuren der Fabelhandlung, so ein Cardinal (II 54), ein Kleusener (II 60), ein Bischoff (II 75),

etwa Alberus. So wird in I 90 Vom Esel der klassische Fabelstoff vom Esel wiedergegeben, der eine Löwenhaut findet, in diese hineinschlüpft und einige Menschen damit erschreckt, bis ein Müller anhand der Eselsohren erkennt, dass es sich nicht um einen echten Löwen handelt. In der Affabulatio wird vor denjenigen gewarnt, die eine falsche Lehre verbreiten. Allerdings sind die darin kritisierten Falschprediger gerade nicht explizit als Vertreter der römischen Kirche gezeichnet, vielmehr richtet sich die Kritik gegen alle Irrlehren verbreitenden Ungelehrten. Die Eselsohren sind bei Waldis mit dem Bild der Narrenkappe verbunden, Alberus hingegen nutzt in der 33. Fabel Vom Bapstesel mithilfe der Assoziation mit dem Bild des Papstesels die Verknüpfung des Esels mit dem Papst und seinen Irrlehren. Mit dem „falschen Lwen“ (Alberus: Fabeln, S. 154) in V. 88 ist Papst Leo X. gemeint. Zur Interpretation der Fabel unter dem Aspekt der Auflösung bildlicher Rede siehe Vögel: Erasmus Alberus in Magdeburg, S. 169–171. Die Verbindung von Esel und Papst hat spätestens mit der 1523 von Luther und Melanchthon herausgegebenen Flugschrift Deutung der grewlichen Figurn Bapstesel/ zu Rom funden im Kontext der Deutungen von Monstra einen festen Platz im protestantischen Schrifttum gefunden. Sie hält sich unter der Verwendung verschiedener dem Esel zugeschriebener Eigenschaften bis ins 17. Jahrhundert auch im lateinischen Schrifttum, siehe etwa das Flugblatt von 1609 SIC BENE CONJVNGVNT, ET IN UNA SEDE TUENTUR AURICULAS ASINORUM ET DIADEMA, PAPÆ, das einen Dudelsack spielenden Esel im Papstornat mit Tiara zeigt, siehe Harms: Flugblätter, Nr. II,79. 577 In der Forschung haben bisher weder das Hecatomythium, eine Sammlung von 100 lateinischen Fabeln, erstmals 1495 in Venedig gedruckt, noch dessen Autor Laurentius Abstemius bzw. Lorenzo Astemio eine nennenswerte, über Lexika hinausgehende Beachtung gefunden. Zu Werk und Leben siehe Ernst Heinrich Rehermann: Abstemius, Laurentius. In: EM. Bd. 1, S. 30–34. 578 Dort die Nr. 140a–240, siehe die Wiedergabe der Titel im Aesopus Dorpii und der Konkordanz mit dem Esopus in Esopus. Bd. 2, S. 447–458. 579 Im Esopus sind diese inklusive II 32 Von der Mauß bis zu III 26 Vom Geitzigen vnd seinem Geltsack mit einigen wenigen Umstellungen und nur wenigen Auslassungen wiedergegeben. Die erste nicht betitelte Fabel von Abstemius findet sich erst in Buch IV als 52. Fabel wieder. II 59 und II 58 sind in der Vorlage umgekehrt angeordnet, die als Nr. 179–183 im Aesopus Dorpii angeordneten Fabeln sind im Esopus als II 73; II 70; II 71; II 74 und II 72 angeordnet. II 93 und II 92 sind gegenüber der Vorlage vertauscht. II 99 ist eine eingefügte Fabel und Nr. 217–219 in der Vorlage sind im Esopus als III 4; III 5 und III 3 wiedergegeben, siehe die Wiedergabe der Titel im Aesopus Dorpii und die Konkordanz mit dem Esopus, in Esopus. Bd. 2, S. 447–458. Von Waldis nicht übernommen werden die Abstemiusfabeln, die bei Dorpius als Nr. 187, Nr. 192, Nr. 193, Nr. 195, Nr. 213 vorhanden sind.

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

ein Pfaffe (II 77) und ein Cartheuser (II 79).580 Über das Titelregister kann ein Leser so gezielt Fabeln aussuchen, die über das geistliche Personal eine Behandlung kirchlicher Themen versprechen. Beim Beispiel der Fabel II 75 beinhaltet bereits die Vorlage, eine Abstemiusfabel, Kirchenkritik, diese wird aber von Waldis detaillierter geschildert und aktualisiert. So ist bereits das Morale der Fabel De Scurra et Episcopo kirchenkritisch: „Haec fabula contra eos episcopos et sacerdotes conficta est, qui divitias et opes plures faciunt quam cuncta ecclesiae sacra atque mysteria“.581 Erzählt wird, wie ein Schmarotzer einen Bischof an Neujahr zuerst um ein Goldstück (numisma aureum), nach einer Ablehnung um ein Silberstück (numum argenteum) und schließlich um Kupfergeld (aereum quadrantem) bittet. Nachdem auch diese letzte Bitte abgeschlagen wird, bittet der Possenreiser um den Segen des Geistlichen. Als der Bischof diesem nachkommen möchte, verzichtet der Possenreiser mit dem Hinweis, wenn der Segen irgendetwas wert wäre, würde der Bischof ihn nicht austeilen. Waldis übernimmt die Handlung, ersetzt aber die unspezifischen Münzangaben mit Währungen, die zur Zeit der Abfassung im deutschen Reich im Umlauf sind (ein glden, ein Batzen und schließlich ein Pfenning), zeitlich wie räumlich wird die Fabelhandlung über die Veränderung dieser Details aktualisiert. Bei Abstemius ist das Morale zeitlich und räumlich so unbestimmt wie die Erzählung. Sie richtet sich allgemein gegen die Geistlichen, die sich mehr aus Reichtum machen als aus den Sakramenten der Kirche. Die Affabulatio im Esopus nimmt diese Kritik zwar auf: Die Fabel thut gar weydlich straffen Die Geistlich Bischoff/ Mnch vnd Pfaffen/ Die wol solten vmb ein Carlin All Geistlich gter geben hin/ Das sie ein glden mgen retten Drffen all Sacrament verwetten (II 75,27–32).

Im weiteren Verlauf wird die Kritik aber thematisch zugespitzt auf den Ablasshandel in Deutschland. Explizit ordnet sich der Erzähler in ein Kollektiv ein,

580 Schon bei Abstemius weisen die Überschriften auf die Figuren hin, so wird von dem Kardinal (Nr. 163) erzählt sowie vom Eremita (Nr. 169 und Nr. 190), Episcopus (Nr. 169) und Sacerdos (Nr. 186). Im Esopus werden die teilweise in Verbalform gehaltenen Überschriften, wie sie im Aesopus Dorpii auftreten, dem vorherrschenden Nominalstil angepasst, z. B. wird aus De Viro, qui ad Cardinalem nuper creatum gratulandi gratia accessit der Nr. 163 im Esopus in II 54 Von einem Cardinal/ vnd seinem Freunde. Über die Erzählungen von Abstemius kommt auch der Teuffel als Fabelfigur in die Fabelsammlung von Waldis hinein (so in II 64 und II 84). 581 Esopus. Bd. 2, S. 166.  

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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spricht von diesem als dasjenige, welches nun die Wahrheit erkannt und sich vom Papst und dessen Geistlichen abgekehrt habe: Welchs jetzundt in gar kurtzen Jarn Teudschlandt mit schaden hat erfarn/ Wie sie vns mit dem Bann gefatzt/ Mit dem Ablaß als zu sich kratzt/ Mit jrer triegerey geschunden Das wirs auch schwerlich han verwunden/ Gott sey gelobet/ das wir han Die Augen jetzt recht auff gethan/ Allein auff Christum vns verlassen Den Bapst vnd Bischoff fahren lassen (II 75,33–42).

Literal liest sich dies wie die Ansprache an eine reformatorische Gemeinde, die Verse enthalten über das ‚Augen auffthun‘ und den ‚Bann‘ aber ein weiteres Sinnpotenzial. Bei letzterem handelt es sich einerseits durchaus um einen Hinweis auf den realhistorischen Hintergrund des Kirchenbannes, der in Form der Exkommunikation Luthers Auswirkungen auf dessen Anhänger hatte. Zugleich handelt es sich um Stichworte, die als Verweis auf die Bibelstelle in Joh 9, der Heilung eines Blindgeborenen durch Jesus, dienen. Darin heilt Jesus am Sabbat einen blindgeborenen Jungen, der das Geschehene dann vor den Pharisäern bezeugen soll und mehrmals gefragt wird, wer wie „seine Augen auffgethan“ (Joh 9,21) habe.582 Der Junge muss ohne seine Eltern vor den Anklagenden aussagen, „denn sie [die Eltern] furchten sich fur den Jüden/ Denn die Jüden hatten sich schon vereiniget/ So jemand jn fur Christum bekennete/ das derselbige in Bann gethan würde“ (Joh 9,22). Die Verse der Affabulatio bieten so Identifikationspotenzial für einen Leser, er kann sich mit denen identifizieren, von denen Jesus spricht: „Jch bin zum Gerichte auff diese Welt komen/ Auff das die da nicht sehen/ sehend werden/ Vnd die da sehen/ blind werden“ (Joh 9,39). Die Affabulatio schließt mit einer individuellen Positionierung zum Thema ‚Ablasshandel‘. Das Sprecher-Ich informiert über seine persönliche Entscheidung, nicht weiter Ablass zu erwerben. Da er auf Gott vertraue, schade ihm auch der Kirchenbann des Papstes nicht: Fr mein person hab michs erwegen Fr Gelt kauff ich nit jren Segen/ Jrn Ablaß wil vmbsunst nicht han So schadt mir nit jr grewlich Bann/ Schadt nicht/ das sie mich darumb hassen Wenn ich mich kan auff Gott verlassen (II 75,43–48).

582 Die Wendung ‚Augen auffthun‘ findet sich aufgrund der wiederholten Fragen und Antworten allein sechsmal in Joh 9 neben ‚sehend‘.

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

236

Der in dieser Fabel angesprochene Leser ist einer, der selbst Anhänger der neuen Lehre ist. In III 100 Wie ein Barfusser Mnch Predigt werden in der Affabulatio die kritisierten Missstände explizit als augenscheinlich und für jeden ersichtlich dargestellt: Ein jeder siht jetzund Gott lob Wie vnuerschambt vnd wie gar grob Vns hat das schendtlich Bapsts geschwrm Mit allem gifft/ wie bß gewrm So vberscht vnd gar ertrenckt Vnd in jrn Teuffels dreck versenckt/ Das wir baldt (schand ists das mans redt) Jrn stanck vnd vnflat angebet/ So listig warn die selben Buben Das sie auch gegen vns auff huben/ So manchen grewl durch falsche list Das nit gnug auß zu sagen ist (III 100,53–64).

Im weiteren Verlauf der Affabulatio wird das Sprecher-Ich über die Aufzählung „Jn Teutschem Landt viel schner Gbew | Jn allen Stdten alt vnd new“ (III 100,79 f.), der „ich viel da gesehen hab“ (III 100,87), zum bezeugenden Berichterstatter über die allgegenwärtigen Missstände in der päpstlichen Kirche. Anhand seiner Rekapitulation und Beschreibung eines Besuches des prachtvollen Franziskanerklosters in Assisi wird die Offensichtlichkeit des Reichtums und der Pracht eines eigentlich dem Armutsgebot unterworfenen Ordens dem Leser vor Augen geführt. Das Sprecher-Ich führt den Leser über seine Beschreibung gleichsam im Inneren der Kirche umher. Er zeigt, dass die schon außen erkennbare Prachtentfaltung auch im Inneren fortwirkt.583 Im vierten Buch finden zeitgenössische Figuren und Positionierungen zur Reformation auch Eingang in die Fabelhandlung. Dabei kommt in der Figurenrede auch die nicht-reformierte Perspektive zum Ausdruck, etwa wenn ein „grawer Mnch ein Obseruant“ (IV 69,1), in der Fabel eine eindeutige Negativfigur, auf Petrus am Eingang des Himmels trifft und sich als ein fleißiger Vertreter der Papstkirche vorstellt:  

Sonst hab ich auch gar viel erlitten Gar hefftig widerd Ketzer stritten Wider den Luther der dieser zeit Verfhrt die einfeltigen Leut (IV 69,117–120).

583 Zur weiteren Ausführung der Metaphorik des ‚Sehens‘ in der Affabulatio von III 100 siehe Lieb: Erzählen, S. 142–150.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

237

Die Wertung einer solchen Perspektive ist eindeutig, Petrus verwehrt den Zutritt. In der Rede offenbart sich die Figur unabsichtlich als – aus protestantischer Perspektive – negativ zu bewertende Figur. Ähnlich ist dies in IV 17 Vom Cardinal vnd einem Dorffpfaffen, in der das Sprecher-Ich Ohrenzeuge der Rede von Lorenzo Campeggio ist. Die Funktionalisierung einer zeitgenössischen Figur als Exempelfigur, die im Streit und Ringen um eine „Reformation | Der Kirchen vnd Religion“ (IV 17,9 f.) auftritt, bietet sich insofern an, als für das Erzählen von der kirchlichen Reformation kein traditioneller Bestand an Exempeln existiert. Um diesen aktuellen Bruch mit der römischen Kirche zu thematisieren, wird auf gegenwärtige Ereignisse und Personen eingegangen. In den Affabulationes wird das Thema durch das Sprecher-Ich von Beginn der Sammlung an als eigene Erfahrung des Umbruchs angesprochen. Es kann die gegenwärtige Welt beschreiben, kann die geistlichen Prachtbauten bezeugen und wird als Ich-Erzähler in IV 24 Vonn einer Rmischen Rheyse selbst zum exempelhaften Rompilger, zum Reisenden ins Zentrum der päpstlichen Macht. Bereits die Rahmung des Reiseberichts zeigt, dass die Erfahrung des Sprecher-Ichs exemplarisch zu lesen ist. In den ersten Versen wird die Geschichte an ein Sprichwort angebunden, das deutlich als solches markiert wird („ein alte weiß“ [IV 24,5]). Dieses ordnet die Einzelerfahrung ein in die allgemein verbreitete Erfahrung, dass derjenige, der fromm werden möchte, in Rom nur Gegenteiliges zu erwarten habe:  

EJns mals gedacht zu werden fromb Vnd zoh auß Teutschlant hin nach Rom Doch ward ich auff der reiß nit bider Trug Zwibeln hin/ bracht Knobloch wider Denn das ist je ein alte weiß Wie jeder solches selb wol weyß Wer da gewest darff mans nit sagen Zu Rom holt man ein bsen Magen Ein leren Seckel/ bß gewissen Vnd wirdt gar offt vmbs Gelt beschissen (IV 24,1–10).

Auch der Erzähleingang, der formal als Individualerfahrung zu lesen ist, verweist mit der Wendung ‚Zwiebeln (Knoblauch) wegtragen, Knoblauch (Zwiebeln) zurückbringen‘ auf ein Sprichwort, welches auch als Ausspruch Luthers in Bezug auf Pilgerreisen nach Rom bekannt ist: „Wer gehn Rohm kam und brachte geldt, der krieget vergebung der sunden. Jch, als ein narre, truge auch zwiebeln gehn Rohm und brachte knobloch wieder“.584 Die Erzählung ist anekdotenhaft mit Details wie dem Anklopfen am „Teutsche[n] Haus“ (IV 24,11), das Erkennen eines

584 Zitiert nach Esopus. Bd. 2, S. 282.

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

alten Schulfreundes („Zuletst gab sich zurkennen mir | Wie das er einr von Haustein wer | Waren beid alte Schul gesellen“ [IV 24,19–21]) und das Treffen eines weiteren Deutschen („Ein Preus/ so ich mich recht bedenck | Der hieß Achaci von der trenck“ [IV 24,29 f.]) ausgestattet. Sie handelt von dem gemeinsamen Gasthausbesuch „beim Campoflor“ (IV 24,26). Der Verweis auf Sprichwörter, der die Geschichte rahmt, zeigt jedoch, dass nicht die individuelle Erfahrung im Mittelpunkt steht, sondern dass die Erfahrung eines Einzelnen lediglich bestätigt, was ohnehin schon bekannt ist. Die Ich-Erzählung ist exemplarisch zu verstehen. Der Bruch mit der römischen Kirche im Esopus wird immer wieder als ein vollzogener, neu etablierter auch außerhalb Deutschlands verbreiteter Zustand dargestellt: „Wie auch sonst jetzt die gantze Welt | Auffs Bapsts gebot zwar nicht viel helt“ (IV 83,151 f.). Dennoch wird, wie IV 24 zeigt, ein Bewusstsein für die Pluralität an Glaubensmeinungen formuliert und damit einhergehend ein Bewusstsein für die Bedrohung dieses neuen gesellschaftlichen Zustandes durch die bestehende Konkurrenz der römischen Kirche:  



Ja jm Geystlichen Regiment Wirdt auch gelohnt mit solchem end Das/ die das heylig Wort jetzt leren Vom Teuffel vns zu Gott bekeren/ Wie die rechten Euangelisten Die helt man jetzt vor Widerchristen Stellt jn wie falschen Ketzern nach Mit Schwerdt/ Fewr/ Bann/ vnd aberach/ Scheltens vnd lesterns vor den Leuten Die friedsam ler/ vorn auffruhr deuten (IV 96,135–144).

Trotz all der offensichtlichen Betrügereien, des schändlichen Verhaltens, der prachtvollen Gebäude der römischen Kirche muss für den Erhalt des nun eingetretenen Zustands der neuen Lehre weiter von deren Vertretern gebetet werden: Drumb wir Gott hoch zu dancken han Der vns die augen auff hat than/ Vnd bitten das er vns nit baß Jn jre Netze fallen laß Vnd vns mit jren Teuffels tcken Nit mehr hin ins verderbnus rcken (IV 69,215–220).

Wie schon bei den zeitlichen Situierungen der Fabelerzählungen lassen sich auch die Bewertungen von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen und Zuständen in einer Gesamtschau nicht als Teil einer übergeordneten Programmatik erkennen. Die Vielfalt der Vergangenheitsbezüge ist nicht abgestimmt, sie dient

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

239

nicht dazu, ein in sich stimmiges Bild der Vergangenheit zu entwerfen. Während die traditionellen Erzählstoffe nach wie vor dazu genutzt werden können, um über aktuelle Zustände zu sprechen, sind die Zustände in der Gegenwart teils negativ, teils positiv. Sie gehen auf Umbrüche wie die Reformation oder auf überzeitliche Zustände zurück wie die Undankbarkeit als soziale Konstante. Teilweise rückt das ‚Alte‘ sehr nah an die Gegenwart heran, andererseits finden sich verschiedene Möglichkeiten, um Zäsuren zu setzen. Im nächsten Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie das ‚Alte‘ in den esopischen Fabeln genauer bestimmt werden kann.

3.3.2 Formen des ‚Alten‘ im Esopus 3.3.2.1 Das ‚Alte‘ in der Affabulatio Rückgriffe auf die Vergangenheit treten im Esopus in unterschiedlicher Form auf. So werden etwa Aussprüche eingefügt, die den ‚Alten‘ zugeschrieben werden. Die punktuelle Vermittlung der Kenntnis von Zuständen, Figuren oder Geschichten aus alten Jarn erfolgt etwa im Sprichwort, wie in IV 44,41 f. „Die alten han ein sprichwort bdacht | Vnd auß erfarnheyt an vns bracht“. Obwohl das Sprichwort gerne mit der mündlichen Gebrauchssituation verknüpft wird: „Denn/ wie man in dem sprichwort redt“ (IV 74,39), auch, wenn Aussprüche antiker Autoren wiedergegeben werden:  

Der groß Philosophus Lysander Ein Rath der Lacedemonier Derselb pflag sprichworts weiß zu sagen“ (I 67,25–27),

stammen diese in nicht wenigen Fällen im Esopus aus schriftlichen Quellen wie Agricolas Sprichwörtersammlungen. Daneben finden sich jedoch Redensarten und sprichwörtliche Wendungen, die zuvor im Schriftlichen nicht nachweisbar sind und deren Verbreitung im Mündlichen nicht mehr rekonstruierbar ist. ‚Altes‘ wird nicht nur über Verweise auf die andauernde mündliche Weitergabe, sondern auch mit dem Verweis auf schriftliche Überlieferung eingebaut, z. B. „Dauon man lißt/ in alten Jarn | Da die Knig Tyrannen warn“ (IV 52,59 f.). Gerade in der Affabulatio werden mithilfe von Exempelfiguren und -geschichten aus der Vergangenheit Zustände in der Vergangenheit dargestellt. Diese Zustände können der Gegenwart des Lesers entsprechen, aber auch von ihr abweichen. Als Beispiel sei ausführlicher auf Inhalt und Aufbau von III 94 Von zweien Brdern eingegangen, welche die Geschichte zweier Erben erzählt. Die Handlung spielt im 16. Jahrhundert, wie eine Zeitangabe in der vom älteren Bruder erzählten Lüge zeigt. Schon das Vorgehen des reichen Vaters, das Erbe  



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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

gerecht in zwei gleich großen Teilen seinen Söhnen zu vermachen, wird zu Beginn der Fabel als gegenwärtige Praxis bezeichnet, denn er handelt, wie „noch manch reicher Brger thut“ (III 94,4). Der ältere Bruder kümmert sich von Beginn an sorgfältig um das, was „jm vom Erbfall war beschert“ (III 94,10). Er handelt vorausschauend („Der eltest Bruder frbaß dacht“ [III 94,11]) und ist „abents vnd morgens wacker | Bestelts als selber forn vnd hinden“ (III 94,20 f.). Sein Reichtum vermehrt sich so sehr, „Das jederman groß wunder nam“ (III 94,26). Der jüngere hingegen säuft, kommt in schlechte Gesellschaft, vernachlässigt Familie, Gesinde, Hab und Gut sowie den gesamten Besitz. Als er bemerkt, dass er verarmt ist, fragt er den Bruder um Rat. Als Ursache der Armut wird nicht das eigene Handeln wahrgenommen. Seine Frage zeigt, dass er seinen Bruder für gesegneter hält und Gott und dessen vermeintliches Eingreifen, für seine Situation verantwortlich hält:  

Vnd sprach/ sag waran ists gelegen Das dich Gott mehr denn mich thut segen Je mehr zunimpt dein hab vnd gut Je mehr sichs mein vermindern thut? (III 94,55–58).

Der ältere Bruder berichtet nun von einer Romfahrt des Vaters im Jubeljahr, „da man zelt Fnffzehn hundert“ (III 94,65), auf welcher der Vater nicht nur Ablass, sondern auch ein „Heylthumb“ (III 94,72) vom Papst persönlich erworben habe. Dieses sei dem älteren Sohn auf dem Sterbebett vom Vater überlassen worden. Anschließend habe dieser lediglich gehandelt, wie es sein Vater befohlen habe und auf Gott vertraut.585 Bei allem, was er angegriffen habe, sei „Gott allzeit selb mit im Schiff“ (III 94,104) gewesen, sodass ihm „(Gott lob) jetzt nichts gebricht“ (III 94,112). Der darauffolgenden Bitte des Jüngeren, die Reliquie auch nutzen zu dürfen, wird nachgegeben. Bedingung für ihr erfolgreiches Wirken sei jedoch, dass diese stets um den Hals getragen und auf dem gesamten Hof umhergeführt werden müsse. Als der Jüngere dieser Anweisung nachkommt, bemerkt er erst den katastrophalen Zustand seines Besitzes (V. 145–209) und beginnt sich selbst um die Wirtschaft zu kümmern. Innerhalb von drei Jahren kommt er durch Fleiß und tugendhaften Lebenswandel zu einem solchen Wohlstand, dass er dem Bruder die Reliquie „Mit grosser Reuerentz“ (III 94,239), gemeint ist wohl eine „ehrenbezeugung durch neigung und verbeugung“586 und dem Wunsch „geb dir Gott das ewig lohn“ (III 94,249) zurückgibt. Der Bruder öffnet die Reliquie und offenbart den Inhalt:

585 „Gott meinr sachen walten ließ“ (III 94,100). 586 DWB. Bd. 14, Sp. 851.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

241

Vnd zeygt dem andern was er het Fr Heylgthumb geehrt vnd angebet/ Da wars ein stck vom Encian Welchen der Hundt het fallen lan (III 94,253–256).

Die Fabel von Waldis ist der früheste Beleg für diese Geschichte. Sie ist, obwohl noch im dritten Buch gedruckt, eine jener 100 Fabeln, die vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen sind. Die Kritik, die in der Fabelerzählung an der Praxis des von der Papstkirche beförderten Reliquienkultes geübt wird, wird in der Affabulatio nicht weiter explizit verfolgt. Der Stoff steht aufgrund des Motivs des erbenden Bruderpaars und Gottes Segen biblischen Erzählungen von Brüdern nahe, wie der von Jakob und Esau, Kain und Abel oder dem Exempel vom verlorenen Sohn. Doch werden solche Anknüpfungspunkte für eine Auslegung nicht genutzt. Auch auf die Darstellung des eigenverantwortlichen und fleißigen Handelns des älteren Bruders als Gegenmodell zum Schlendrian des tugendlosen, da faulen und saufenden Bruders, der unreflektiert über Gott klagt, wird nicht näher eingegangen. Dabei birgt diese Gegenüberstellung die Möglichkeit, den jüngeren Bruder als Vertreter einer papstkirchlichen Einstellung, der als verantwortungslos und ohne reflektiertes Gottesbild dargestellt wird, zu lesen, der erst „Nach der ler vnd seins bruders wort“ (III 94,144) zu einem tugendhaften und durch Reichtum gesegneten Leben findet. Obwohl gerade die Motivierung des jüngeren Bruders durch eine Reliquie und die Verknüpfung mit dem Papst im Jubeljahr diese Lesart unterstützen, bleibt diese in der Affabulatio ausgeblendet. Im Zentrum der Affabulatio steht dagegen das gerechte Handeln, das von einem Besitzer verlangt wird, um sein Hab und Gut zu vermehren. Deutlich wird der Umgang mit dem Gesinde als zentraler Punkt der Fabel hervorgehoben: Die Fabel gibt vns diesen bericht Das man sich all zu sehre nicht Verlassen soll auff sein Gesind Auch nit zu streng/ auch nit zu lind (III 94,257–260).

Diese Thematik, dass ‚man Angelegenheiten selbst regeln muss, damit sie ordentlich ausgeführt werden‘, wird erneut anhand eines Sprichwortes illustriert: Das sprichwort sagt/ selb ist der Man/ Soll dir der Kopff recht werden zwagen Mustun selb zum Barbierer tragen (III 94,268–270).

Die Elemente ‚beispielhafte Geschichte‘, ‚Deutung‘ und ‚Sprichwort‘ werden in der Affabulatio nochmals miteinander verknüpft, hierbei aber ineinander verwoben. Hinzu kommt, dass die Thematik nun nicht-christlich, da durch ein bei Xenophon überliefertes Exempel, erneut zur Sprache gebracht wird. Auf die Ein-

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

ordnung des Dichters in vorchristliche Zeit wird deutlich über die Bezeichnung „Heyd“ verwiesen: Ein Knig einst ein Weisen fragt (Wie Xenophon der Heyd vns sagt) Vnd sprach/ sag wie soll ichs anheben Vnd was vor Futer muß ich geben Mein Hengsten/ vnd mein besten Pferden Das sie feyßt/ glat/ vnd freudig werden? Er sprach/ kein besser Futer weyß Dauon die Pferde werden feyßt Wie mich erfarnheyt hat gelert Des Herren Aug ftert das Pferdt Das heyßt/ wo man stets zusicht selb/ Das in der Axt recht steht das Helb/ So gdeien Pferdt vnd alles Viech Vnd alles gut vermehret sich (III 94,271–280).

Die Exempelgeschichte wiederholt die Bitte um einen Rat zur Haushaltsführung, in diesem Fall am Beispiel der idealen Versorgung von Pferden. Die Antwort des Weisen in der Geschichte beinhaltet die Berufung auf die Erfahrung (III 94,277– 279), die Wiedergabe eines Sprichwortes (III 94,280) und dessen Auslegung („Das heyßt“ [III 94,277]). Das Verhalten des älteren Bruders wird nun auch durch die Darstellung einer antiken Beratung gestärkt. Mit dem König als Ratsuchenden werden auch Adlige als diejenigen gezeigt, die davon profitieren, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, wie schon die zu Beginn genannten Bürger, die heute noch so vererbten, und den Fabelfiguren, die einen großen Hof bewirtschaften.587 Mit dem darauffolgenden, erneut aus der Antike stammenden Ausspruch werden dezidiert alle Leser der Fabel als Empfänger eines weiteren Exempels angesprochen. In den Rezipientenkreis „Vns“ schließt sich auch das Sprecher-Ich ein: Desgleichen Aristoteles Vns auch dermassen brichtet des Vnd sagt/ es sey kein besser Mist Vnd der dem Acker ntzer ist/ Denn den der Haußvatter selb tregt An Schuhen vnd in Acker legt/ Das heyßt/ das man selb/ selb/ zusicht/

587 Die Einbettung des Sprichworts ist in dieser Fabel von Bedeutung, es kann jedoch an anderer Stelle auch auf den hier geschilderten Zusammenhang verzichtet werden. So ist die Wendung in V. 276 in der Affabulatio von II 4 als allgemein verbreitetes Sprichwort eingebaut: „Wie auch das gmeyne Sprichwort lert | Des Herren Aug ftert das Pferdt“ (II 4,97 f.).  

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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Verlaß sich sonst auff niemandt nicht Wenns recht soll werden auß gericht (III 94,285–293).

In der Affabulatio wird durch die Auswahl und die Quellennennung der Exempelgeschichten und Sprüche vorgeführt, wie schon in der heidnischen Vergangenheit zeitlose Antworten auf die Frage nach einer erfolgreichen Führung und Verwaltung des eigenen Hab und Guts gefunden worden sind. Durch die Zitate antiker Autoren wird die Antwort überflüssig, die die Papstkirche auf diese Frage zu bieten hat. Schilderungen der Vergangenheit erfolgen in der Regel im Vergleich von ‚jetzt‘ im Gegensatz zu ‚früher‘, wobei dieses ‚früher‘ zumeist unbestimmt bleibt: „JN alten zeiten“ (I 21,1).588 In den Affabulationes wird gezeigt, dass diese Erzählungen vom Vergangenen dazu dienen können, Zustände und Ereignisse in der Gegenwart darzustellen, zu erläutern oder Handlungsanweisungen für die Zeitgenossen zu liefern. Die Unterscheidung von ‚jetzt‘ und ‚früher‘ kann unterschiedliche politische, soziale oder gesellschaftliche Zustände betreffen. In III 92 Wie ein Sewhirt zum Apte wirdt ist die unterschiedliche Bewertung von geistigem und finanziellem Reichtum Gegenstand der Fabel. Bevor die Handlung einsetzt, wird eine exemplarische Fabeldeutung vorangestellt, die den seit einer diffusen Vorzeit sich ausbreitenden Geitz (Habsucht) mit der Geringschätzung von Gelehrten in Zusammenhang bringt. Ein Antikenzitat untermauert den Wahrheitsanspruch der Aussage:

588 Lieb widmet sich den zeitlichen Situierungen von Fabelhandlungen „VOR zeiten“ unter dem Gesichtspunkt von ‚Fiktionalitätsbrechungen‘. Solche Fabeln gewännen „den argumentativen Charakter von Wirklichkeitsfiktionen, insofern sie im nicht übertragenen Sinne Aussagen über Wirklichkeit machen, gleichsam Entwürfe von Welt anfertigen“ (Lieb: Erzählen, S. 105). Lieb unterscheidet zwischen zwei Funktionen einer solchen Situierung für den „äsopischen Teil der Fabeln“. Einerseits diene dieses Erzählmuster dazu, „für das Erzählte eine historische Bestimmtheit zu fingieren, weil das Erzählte eine solche Bestimmtheit erfordere“ (Lieb: Erzählen, S. 105). Als Beispiel dienen die Fabeln, in denen „eine staatlich-politische Organisationsform der Fabeltiere entworfen wird“ (Lieb: Erzählen, S. 106). So wird jeweils in I 17 und I 71 eine Königswahl behandelt, I 34; II 52 und III 21 erzählen von einem Krieg zwischen verschiedenen Tierarten und in II 27 wird ein Tierstaat entworfen. Nicht erklärt wird, warum das Erzählte „eine solche Bestimmtheit“ erfordert. Die zweite Funktion bestehe darin, in Fabeln, in denen „das klassische Fiktionssignal der sprechenden Tiere“ fehle (Lieb: Erzählen, S. 106), „die natürlichen Einstellungen des Lesers gegenüber der Wirklichkeit abzuweisen, mithin ein Bewußtsein von der Fiktion des Erzählten zu erzeugen“ (ebd.). Mag dies für „unbekannte überirdische Wesen“ einleuchten – Lieb nennt hier II 11 und II 33, in denen der in der Überschrift als Waldtgott bezeichnete „Satyros“ (II 11,21) und die antike Göttin Ceres auftreten –, ist zu fragen, ob Fabelfiguren wie sprechende Bäume (I 39 und II 3) und schwangere Berge (I 21) nicht schon als Fiktionssignale ausreichten.

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

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Den stieß man auß/ wie man noch thut Ja wenn Homerus selber kem Vnd all sein Musas mit jm nem/ Vnd brecht kein gelt/ noch gut/ noch hab Man jagt jn auß/ vnd blieb schabab (III 92,9–14).589

Homer ist hier ein Belegbeispiel für Zustände in der Vergangenheit. Denn jeder könne „von den alten“ (III 92,15) lesen, dass schon von den damals zahlreichen Gelehrten einige nicht geschätzt worden seien. Die Geringschätzung Gelehrter wird als ein seit der Verbreitung der Habgier kontinuierlicher Zustand der Welt dargestellt, obwohl die vergangene Zeit in Bezug auf die Verbreitung der Bildung eine von der gegenwärtigen unterschiedene ist: „Da Kunst doch mehr denn jetzt thet walten“ (III 92,17). Der Topos vom kontinuierlichen Bildungsverfall wird nicht weiter verfolgt, stattdessen zeigt die folgende Erzählung, wie auch in der Gegenwart andauernd Gelehrte nicht geachtet werden. Die Fabelerzählung von dem Gelehrten, der Schweinehirt wird, ist zeitlich zwar unbestimmt, aber der Beginn: „Da sagt man von eim Glerten gsellen“ (III 92,19) suggeriert, die folgende Erzählung könne noch den Geschichten der ‚Alten‘ zugeordnet werden. Doch schon der im Titel genannte Abt lässt auf eine Situierung der Fabel in einer christlichen Vergangenheit schließen. Dessen, im Laufe der Handlung, geäußerte Wunsch „Wenn ich zu Cln jetzt wer am Rhein | Da die Magistri nostri sein“ (III 92,81 f.) nennt eine in der zeitgenössischen Gegenwart bekannte deutsche, traditionell scholastische Universität. Die Figurenrede aktualisiert die Fabelerzählung. Die Beziehung von Geld und Bildung sowie deren veränderliche Wertschätzung zeigen sich anhand der Fabelfiguren. Der junge Mann verarmt, da er sich nur dem Bildungserwerb widmet. Da sich niemand findet, „dens het erbarmt | Der jm solchs thet mit hilff vergten“ (III 92,24 f.), muss er schließlich ein Schweinehirt werden.590 Erst der Zufall, der an anderer Stelle einen finanziellen Mangel  



589 Vgl. Ovid: Ars amatoria, II 279 f.: „Ipse licet venias Musis comitatus, Homere, | Si nihil attuleris, ibis, Homere, foras“: „Magst du auch selber, Homer, in Begleitung der Musen erscheinen, | Bringst du dann aber nichts mit, weist man, Homer, dir die Tür“, zitiert nach Publius Ovidius Naso: Liebeskunst. Ars amatoria. Heilmittel gegen die Liebe. Remedia amoris. Lateinischdeutsch. Hg. und übersetzt von Niklas Holzberg. 4., überarbeitete Auflage. Düsseldorf, Zürich 1999. Zur sprichwörtlichen Verwendung siehe den Eintrag zu ‚Wenn Homer nichts mitbringt, muss er auch wieder gehen‘ in TPMA. Bd. 2, S. 102. Die Beispiele beschränken sich jedoch auf lateinische, mittellateinische und französische Zeugnisse. 590 Auch die Umschreibung für die ausbleibende Hilfe, dass niemand „mit hilff vergten“ (III 92,25) würde, weist auf die ökonomische Dimension hin. So ist vergüten an dieser Stelle primär im Sinne von ‚wiedergutmachen, einen schlechten Zustand verbessern‘ zu verstehen, doch ist  

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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auslöst, verhilft zu einem Zustandswechsel. Dem Fürsten des Landes „stieß ein vnfall an die handt“ (III 92,28), sodass er eine große Summe Geld benötigt. Er fordert „vmb etlich tauset“ (III 92,34) von einem „reichen Apt“ (III 92,32) ein. Auf dessen Versuch, sich aus der Forderung herauszureden, reagiert der Fürst, indem er dem Abt „etlich Frag“ (III 92,40) vorlegt, ihm drei Tage Bedenkzeit gibt und bereit ist, für jede gut beantwortete Frage 1000 Gulden zu erlassen. Die „bstimpten radtzol“ (III 92,63) gibt der Fürst auf, wohlwissend Das doch der Apt (wiewol er sust Reich war/ vnd grosser Prelatur) An weißheit war ein grober Bur/ (Wie sie auch jetz zu vnsern zeiten Knnen nur schlemmen/ jagen/ reiten) Solch hohe frag nicht wurd auff lsen (III 92,54–59).

Das Missverhältnis von Reichtum, Bekleidung hoher Ämter und Bildungsstand wird in die Jetzt-Zeit übertragen. Wie zuvor den gelehrten Schweinehirten zeichnet auch diese Figur die Diskrepanz von Stand und Befähigung aus. Die Tätigkeiten des Kleriker sind, wie „jagen/ reiten“ (III 92,53), Formen des adligen Zeitvertreibs.591 Auf der Suche nach den Antworten wendet sich der Abt vergeblich an die Klosterbrüder: „Da war keiner in hherm grad/ | Gelerter denn der Apt daselb“ (III 92,69 f.). Als er dem Schweinehirt bei einem Spaziergang im Feld begegnet, überzeugt ihn dieser davon, dass er ihm helfen kann. Es wird verabredet, dass die beiden am nächsten Tag die Kleider tauschen und der Schweinehirt anstelle des Abtes antwortet. Der Gelehrte beantwortet die Frage nach der Entfernung zwischen Erde und Himmel, nach der Tiefe des Meeres und wieviel Fässer man anfertigen müsse, um das Meer darin zu fassen. Das letzte Rätsel, „Wie weit glck von dem vnglck sey“ (III 92,154) beantwortet er unter Hinweis auf den eigenen, erlebten Glücksumschwung:  

Das ist/ wie ich mich hab bedacht Nit weiter denn ein tag vnd nacht Necht must ich hindern Sewen traben Jetzt bin ich zu eim Apt erhaben

auch die Bedeutung „ein ersatz in geld für gehabte mühe“ (DWB. Bd. 25, Sp. 501) wie bei ‚Vergütung‘ mitzudenken. 591 Das Reiten wird in der Affabulatio von IV 75 in einer antiken Exempelgeschichte als einzige gut erlernte Fähigkeit Adliger dargestellt: „Was gboren wirdt von hohen Leuten | Lernt keine Kunst so wol als rheiten | Vrsach ist/ das man jn stets heuchelt | [...] alleyn das Pferdt | Bey dem seins alle gleiche werdt | Vnd macht kein vnderscheydt der Leut | Drumb will der Frst ders selbig rheit | Nit auff das maul geworffen wern | So muß er fleissig rheiten lern“ (IV 75,125–136).

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Vnd der Apt ist auß seinem Orden Kummen/ vnd zu eim Sewhirt worden/ So kurtz sich das glckrad vmbwendt (III 92,157–163).

Der Fürst durchschaut die Situation. Die Rede gefällt ihm – da der Gelehrte „so weißlich gantwort het“ (III 92,166) – und er belohnt den Schweinehirten für seine „geschickligkeyt“ (III 92,167). Der Schweinehirt soll „bey all der herrligkeyt | Dazu bey all den gtern bleiben“ (III 92,168 f.), der Abt solle „die Sew heim treiben“ (III 92,170). Wiewohl in der Narratio immer wieder Ähnlichkeiten mit Zuständen in der Jetzt-Zeit betont wurden, beginnt die Affabulatio mit der Erklärung des SprecherIchs, dass es sich nicht um eine wahre Geschichte handle und er auch von keinem wolle, dass er dies glaube.592 Dennoch zeige sie auf, dass man „Weißheyt/ Kunst vnd Ler | Erzeigen soll gebrlich ehr“ (III 92,177 f.). Der in der Fabelerzählung anhand eines Einzelfalls vorgeführte Sachverhalt wird nochmal als Regelfall formuliert:  



Obs wol zum ersten wirdt geschmeht Vnd offtmals ermlich betlen geht Von vngelerten vnderdruckt So wirdts zuletst doch auff geruckt Vnd thuts zu ehren hoch erheben Nach jr gebur muß oben schweben (III 92,179–184).

Diente in der Narratio der mit Musen, doch ohne Geld beschriebene Homer ebenfalls als Einzelfall für die Geringschätzung von Bildung, so bestätigen in der Affabulatio sowohl die Schriften von Zeitgenossen als auch die Betrachtung der jetzigen Welt die Regel, dass der Verzicht auf Gelehrte „die leng nit wern“ (III 92,191) kann: Vnd muß (wie etlich dauon schreiben) Die schreibfeder Keyserin bleiben Vnd mag die Welt (wie man siht heut) Nit bstehen on Gelerte leut (III 92,185–188).593

592 „Weil diß wol sein mag ein gedicht | Vnd ichs auch nit fr ein geschicht | Dasselb jemandt zu glauben treib“ (III 92,171–173). 593 Einer der Zeitgenossen ist etwa Luther in Vom Kriege wider die Türken, dort in ähnlichem Kontext zur Erziehung der Kinder: „Niemand denckt das Gott ernstlich gebeut und haben wil die geschickten kinder zu zihen zu seinem Lob und werck welchs on die schulen nicht geschehen mag, Sondern zur weltlichen narung ist yderman itzt iach und eyle mit seinen kindern, als drffte Gott und die Christenheit keiner Pfarherrn, Prediger, Seelsorger. Und die weltliche Oberkeit keiner

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

247

Die Gelehrten, so der einzige Rat in der Affabulatio, sollten sich daher gedulden. Die Affabulatio endet optimistisch. Drumb soll sie solches nit gerewen/ Ob sie ein weil an armut kewen So werdens doch zuletst ergetzt Vnd nach gebr zun ehrn gesetzt/ Vnd gliebt wirdt/ den man vor hat ghaßt (III 92,192–197).

3.3.2.2 Die ‚Alten‘ Um wen es sich bei den ‚Alten‘ handelt und wann diese lebten, bleibt mitunter im Einzelfall unbestimmt oder variiert in der Gesamtschau der Textbelege. Ob etwa mit den ‚Alten‘ in der Affabulatio von I 48 vom Hundt vnd Schaf Vertreter des Alten Testaments, Autoritäten aus der Antike oder Vorfahren der Leser gemeint sind, bleibt offen. Der Rückgriff auf die ‚Alten‘ und deren Regeln wie Gewohnheiten ermöglicht es, in dieser Affabulatio die Praxis weltlicher Rechtsprechung als zeitlich variabel darzustellen und mit einem Ausblick in die Zukunft und einer dann stattfindenden gerechten, da göttlichen Rechtsprechung zu verbinden. In der Narratio wird erzählt, wie ein Schaf von einem Hund vor Gericht angeklagt wird. Der Hund behauptet, dass er dem Schaf ein Brot geliehen habe, doch sei „Das Schaf jm nichts gestendig“ (I 48,4). Der Hund beruft weitere Fleischfresser, nämlich „Wolff/ Geyer/ vnd Weihen“ (I 48,6) als Zeugen, die zeugten alle frey/ daher Das Schaf dem Hunde schldig wer/ Durch jre lgen vnuerschampt Wirdt vom Richter das Schaf verdampt/ Der Hundt warffs nider in das Graß Zerriß/ zerbiß/ vnd gar auff fraß (I 48,7 f.).  

Während die Vorlage De Cane et Ove im Morale das in der klassischen Fabel übliche Merkmal der Überzeitlichkeit aufweist,594 wird die in der Narratio auf-

Cantzeler, keiner Rethe, keiner Schreiber mehr. Aber davon ein ander mal: Die Schreibfedder mus Keyserin bleiben odder Gott wird uns ein anders sehen lassen“ (WA 30,2, S. 132, Z. 13–20), siehe auch Esopus. Bd. 2, S. 237. 594 „Falsis testimoniis opprimi quam plurimos, cum nemo nescit, tum haec quam optime docet fabellula“ (Esopus. Bd. 2, S. 81).

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

gezeigte Praxis, vor Gericht, falsche Zeugnisse abzugeben, bei Waldis als Zustand in der Gegenwart bezeichnet und den Geboten Gottes gegenübergestellt: Von Gott im Gsetz gebotten wardt Auch bey den alten gestraffet hart/ Wenn einer felschlich thete zeugen Vber sein nehsten jrkein lgen (I 48,13–16).

Ob das achte Gebot: „DV SOLT KEIN FALSCH ZEUGNIS REDEN WIDER DEINEN NEHSTEN“ (Ex 20,16) hierbei schon als biblisches Gesetz für die ‚Alten‘ Geltung hat, ob christliche Vorfahren gemeint sind, die dieses Gebot noch befolgten, oder ob auf antike Verfahren Bezug genommen wird, bleibt unklar. Doch wird die Vergangenheit als Zeit dargelegt, in der sowohl göttliches Gebot als auch die menschliche Ausführung eines gerechten Gerichtsverfahrens existierten. In der Gegenwart werde dem Gebot offensichtlich nicht mehr gefolgt: Wiewols mehr denn zuuiel geschicht Wie man jetzt augenscheinlich sicht Der groß den kleinen vberzeugt Vnd offt gar felschlich vberleugt Damit er jn thut vnderbrechen (I 48,17–21).

Doch behält es seine Gültigkeit, auch wenn gerechte Urteile erst wieder in der Zukunft durch Gott selbst im Jüngsten Gericht gesprochen werden: Gott wirdts aber gar weydlich rechen Ja entlich dort an jenem tag Darauff ein jeder dencken mag (I 48,22–24).

Zitate, die auf die ‚Alten‘ zurückgeführt werden, sind zuallererst in der Bedeutung ‚alt‘ ausgewiesen. Nur in wenigen Fällen handelt es sich bei markierten Zitaten, die auf die ‚Alten‘ zurückgeführt werden, um Zitate aus antiken Werken. Derartige Zitate werden auf unterschiedliche Weise eingearbeitet. Sie können die Affabulatio abschließen, wie in II 20. Thema ist die Wertung der verschiedenen Gaben, die der Mensch besitzen kann: Die gter welch der Mensche hat Sind nicht all gleich/ in einem Gradt/ Glck ist gut/ wer damit begifft/ Leiblich schnheit es vbertrifft/ Doch ist des hertzen schn/ vnd zier Besser denn ander gaben vier (II 20,19–24).

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

249

Der Verweis auf die ‚Alten‘ schließt diese Reihung: „Die alten wntschten/ das jn mcht bleiben | Ein verstendig gmt/ in gsundem Leibe“ (II 20,25 f.). Es handelt sich um die Übersetzung des lateinischen Spruchs: „Mens sana in corpore sano“,595 welcher als Sprichwort im Deutschen vor Waldis nicht nachweisbar ist.596 Waldis gibt neben der Phrase die Einbettung der Verse bei Juvenal korrekt wieder, wenn er auf das Wünschen verweist. Doch wird der nicht-christliche Kontext – es handelt sich um einen Ratschlag, welche konkreten Gaben bei Opferungen im Tempel von den Göttern erbeten werden sollen – ausgeblendet. Zitate aus antiken Schriften können sich auch als komplexer, als eine Vermengung verschiedener Textstellen, herausstellen, wie in der Affabulatio von IV 78 Vom Hundt vnd Fuchß. Waldis verarbeitet hier mehrere längere Passagen aus den Tristia von Ovid. Einleitend wird der Verfasser der Verse genannt:  

Welchs Ouidius der Poet Jn seinem leyd auch klagen thet Da er seins glcks litt ein Schiffbruch Schreibt Tristium im ersten Buch (IV 78,83–86).

Auf die Wiedergabe von Versen aus Tristia I, 9,5–14 folgt der markierte Wechsel der zitierten Stelle: „Jm selben Buch/ am andern ort/ Schreibt er auch diese folgend wort“ (IV 78,107 f.). Es folgen Verse über die Probe von Freundschaft in unglücklichen Zeiten. Das Zitatende hingegen ist nicht ausgewiesen. Die V. 121– 124 nehmen Bezug auf die Beispiele „von den alten“ für Untreue, die sich nun in der eigenen Erfahrung bestätigten:  

Solch vntrew/ vnd solch elend wesen Hab ich viel von den alten glesen Welchs jetzt wirdt auff ein hauffen gar Mit schaden an mir selber war (IV 78,121–124).

Der Textausschnitt wirkt auf den ersten Blick wie eine Berufung von Waldis auf die Schriften anderer antiker Autoren, die er mit seiner eigenen Erfahrung in der Jetzt-Zeit vergleicht. Allerdings handelt es sich noch immer um ein Zitat aus dem

595 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 130. Zitiert nach Juvenal: Satiren. Lateinisch – deutsch. Hg., übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz. München, Zürich 1993 (Sammlung Tusculum). Zur Phrase im Lateinischen siehe Walther, Nr. 14715. 596 Ursprünglich handelt es sich um ein Zitat aus den Satiren von Juvenal: „ut tamen et poscas aliquid voveasque sacellis | exta et candiduli divina thymatula porci, | orandum est ut sit mens sana in corpore sano“. In der Übersetzung der Ausgabe: „Solltest du dennoch etwas verlangen und den Heiligtümern Eingeweide geloben und gottgeweihte Würstchen vom weißen Schwein, so mußt du beten um einen gesunden Verstand in einem gesunden Körper“ (Juvenal: Satiren, S. 229).

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

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Werk Ovids. Dem Vergleich mit den Schriften der Alten wird eine Kette von Exempeln der Untreue vorangestellt, die aus verschiedenen Stellen den Tristia entnommen sind.597 Schon Ovid beruft sich auf die ‚Alten‘: „atque haec, exemplis quondam collecta priorum | nunc mihi sunt propriis cognita vera malis“.598 Die Subjektposition wird von Waldis übernommen, die Aussage Ovids wird zur potenziellen Aussage des Sprecher-Ichs. Antikenzitat und Berufung auf eigene, zeitgenössische Erfahrung verschwimmen. Die Worte der ‚Alten‘, die sich hier auf die ‚Alten‘ beziehen, werden in der Bearbeitung mehrdeutig. Die ‚Alten‘ werden als Verfasser von Liedern, Sprüchen und Sprichwörtern dargestellt. Deren Sprichwörter stehen neben solchen wie das „alt gmeyne Sprichwort“ (II 91,15), welches anonyme Erfahrung aus der Vergangenheit kondensiert, die aber durch den täglichen Gebrauch unter den Leuten noch immer aktuell ist. Die Sprichwörter der ‚Alten‘ halten ebenfalls vergangene Erfahrung fest, sie werden allerdings in die Affabulatio eingebaut, ohne dass sie noch unbedingt „vnderm volck im gmeynen wesen“ (Leben Esopi, V. 12) im Gebrauch wären. Durch deren Einspeisung kann die vergangene Erfahrung wieder zugänglich gemacht werden. Doch nicht nur Erfahrung, auch Bildungsinhalte werden mit den ‚Alten‘ verbunden, deren Geltung in der Affabulatio von II 21 Vom Fuchß/ vnd der Katzen besprochen wird. In der Fabelerzählung trifft der Fuchs die Katze und rühmt sich im Gespräch „seiner Knsten“ (II 21,3). Diese umfassen „alln betrug“ (II 21,5), „der list ein Wetscher voll“ (II 21,6) und Ratschläge zu jeglicher Angelegenheit. Die Katze erwidert, sie habe nur „ein stcklin“ (III 21,15) von ihrer Mutter gelehrt bekommen, das sie nicht mal „von jr begert“ (III 21,14) habe. Dieses habe sie bisher allerdings stets aus jeder Gefahr gerettet. Während des Gesprächs eilt plötzlich eine Hundemeute heran. Die Katze präsentiert nun ihr „einig Kunst vnd witz“ (II 21,31) und rettet sich auf einen Baum. Ihrer Aufforderung: „Wißt jr jetzt rath zu allen sachen/ | Laßt sehn/ es soll sich baldt wol machen“ (II 21,35 f.), kann der Fuchs nicht nachkommen. Er wird verängstigt von den Hunden ergriffen und diese „Zerrissen jn zu kleinen stcken“ (II 21,40). Die Unterscheidung von nützli 

597 V. 85 f. verweist auf Ovid: Tristia, I 5,36; V. 87–106 geben die Übertragung von Ovid: Tristia, I 5,9–14; V. 109–128 schließlich die Übertragung von Ovid: Tristia, I 5,25–35; V. 129–132 gibt die Verse aus Ovid: Tristia, III 5,5 f. wieder, siehe auch Esopus. Bd. 2, S. 328. 598 Ovid: Tristia, I 5,31, S. 34. In der Übersetzung der Ausgabe: „All dies, was mir dereinst das Beispiel der Alten gezeigt hat, | wurde durch eigenes Leid jetzt mir als Wahrheit bekannt“ (Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. Düsseldorf, Zürich 2005 [Sammlung Tusculum], I 5,31, S. 35).  



3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

251

chen und unnützen Fähigkeiten wird auch in der Affabulatio behandelt. Es sei wichtig, Das wir vns gute Kunst erarnen/ Die vns in nten mgen ntzen Vnd fr der fehrligkeit beschtzen Vnntze studia lassen faren Die zeit zu guten Knsten sparen (II 21,41–45).

Ein solcher Ratschlag decke sich leider nicht mit der gegenwärtigen Beliebtheit bestimmter Studienbereiche. Statt der als brotlos bezeichneten Theologie werde Jura und Medizin heutzutage den Vorzug gegeben: Der Welt ist aber nicht zusagen Nach der Theology thut niemand fragen/ Sagen/ Galenus vns reichlich nert/ Justinianus hoch her fehrt/ Zur heilgen Schrifft sagens also/ Non est de pane lucrando (II 21,47–52).

Die Aussicht, finanziell versorgt und in der Gesellschaft angesehen zu sein, gilt mehr als die Beschäftigung mit Religion. Die Autoritäten der Künste, für Medizin der antike Mediziner Galenos von Pergamon und für die Jurisprudenz der oströmische Kaiser Justinianus, der im 16. Jahrhundert wegen seines Gesetzgebungswerks (Digesta, Codex Justinianus, Institutiones) bekannt war,599 sind angesehen, während Lazarus vergessen sei. Das Gleichnis vom armen Lazarus und reichen Prasser, welches durch die Nennung des Lazarus nur angedeutet wird, eröffnet die Perspektive auf die Vergeltung der Nöte nach dem Tod. Zugespitzt ist die Verknüpfung von finanzieller Armut und heilsgeschichtlicher Bedeutung in der Geburt Christi. Der „Schpffer Himmels vnd Erden“ (II 21,57) muss in Bethlehem im Stall auf die Welt kommen. Wie dem Herrn, so ergeht es auch seinen „dienern“ (II 21,61). In der Jetzt-Zeit werden sie verlacht, die Existenz in der Gegenwart stehe im Vordergrund: Die kluge Welt sie stets belacht Mit jrer Theology veracht/ Das muß man lassen also gschehen Vnd wlln zuletst das endt besehen Man sagt/ gut rtzt/ vnd gut Juristen Seindt gemeynlich bse Christen (II 21,63–68).

599 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 130.

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Mit dieser Aussage solle aber keiner beleidigt werden. Sie wird relativiert, denn Es sindt all Knste Gottes gaben/ Durch Gottes eingeben bedacht Vnd von den alten an vns bracht/ Zu dienste Gott/ vnd seinem wort/ Wie die Schrifft zeugt an manchem ort Denn dis ist nur die eynig Kunst Die vns bey Gott erlanget gunst Das wir lernen auff dieser Erden Wie wir mgen endtlich Selig werden/ On diese sind all Knst kein ntz Jn nten gebens keine schtz (II 21,70–80).

Die ‚Alten‘ sind hier als Vermittler der Künste dargestellt. Ihren Ursprung haben die Künste jedoch bei Gott, dementsprechend sollen sie auch diesem dienen. Das von den ‚Alten‘ vermittelte Wissen sei nur dann hilfreich, wenn nicht nur das körperliche Wohl in der Gegenwart dadurch verbessert werde, sondern auch für das Wohl der Seele vorgesorgt werde. Die darauffolgenden Verse in der Affabulatio führen vor, dass auch alte Fabeltexte eine geistliche Bedeutung aufweisen können. Diese rücken davon ab, die Verhältnisse in der Welt näher zu beschreiben. Stattdessen wird davor gewarnt, das Leben nur auf „Goldt/ Silber/ vnd aller Welt gunst“ (II 21,79) auszurichten. Einzelne Bestandteile der Fabelhandlung – die heraneilenden Hunde, der Baum, auf den man sich retten kann – finden sich im Zusammenhang mit einer geistlichen Deutung wieder. Der Jäger komme mit den Hunden, wenn der Mensch im Sterben liege, führe die zahlreichen Sünden vor und „Damit vns vndersteht zu reissen“ (II 21,85). Man werde dann vom Gewissen gebissen „Gleich wie ein Hundt das aes thut nagen“ (II 21,87). Der Mensch sei dann „nacket vnd bloß | Verlassen/ aller hilff trostloß“ (II 21,91 f.). Nur wer „sich kan richten nach der Schrifft“ (II 21,94) und „kan sich an den Christum halten“ (II 21,95) und „auff den selben Baum entfliehen | Dahin kein Creatur kan ziehen“ (II 21,97 f.), der sei „warlich recht gelert“ (II 21,99). Indem diese drei Bestandteile Teil der Deutung werden, nimmt die Fabeldeutung Elemente einer geistlichen Allegorese auf, ohne jedoch eine solche zu sein.600 Denn etwa bedarf die Umschreibung des Baumes, auf welchen einem kein Tier verfolgen könne, noch einer genaueren Deutung, etwa, ob es sich um eine Anspielung auf das Kreuz Christi handeln soll. Soll mit dem Jäger am Lebensende auf den Teufel angespielt werden? Trotz der nur vage bleibenden  



600 Zur allegorischen Auslegung von äsopischen Fabeln im Spätmittelalter als „theoretisches Ärgernis“ siehe Klaus Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1990 (Fortuna vitrea 2), S. 58–76, hier S. 69–76, das Zitat S. 71.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

253

Bestandteile zeigt sich in dieser Affabulatio, dass eine Fabelhandlung Anknüpfungspunkte für eine geistliche Auslegung beinhalten kann, selbst wenn diese Fabelhandlung keinerlei Anspruch auf eine geistliche Auslegung explizit macht. So wie Sprichwörter, die den ‚Alten‘ zugeschrieben werden, vergangene Erfahrung in einem Spruch kondensieren, so können Exempelgeschichten mit antiken Figuren vergangene Zustände vorführen, wie etwa in der Affabulatio von IV 44 vom Fuchß/ vnd dem Habicht. Die Fabel ist vor Waldis nicht nachweisbar, bei den Fabelfiguren handelt es sich allerdings um klassische, d. h. tierische.601 Wiedergegeben wird ein Dialog, in dem der Fuchs den Habicht fragt, warum er „die arm einfaltig Tauben“ (IV 44,3) stets feindlich angehe. Der Habicht erwidert, er sei „zum Richter gsetzt“ (IV 44,5), damit er die Bösen strafe und die Gerechtigkeit verteidige. Die Tauben fressen „auff dem Landt den Samen | Als Weytzen/ Erbeyß/ Wicken/ Lein“ (IV 44,10 f.). Auf die Nachfrage des Fuchses, warum er denn nicht auch „die Rappen | Den Weihen/ Adlar/ Geyr/ vnd Trappen“ (IV 44,13 f.) bestrafe, die viel größeren Schaden anrichteten, gibt der Habicht selbst zu, dass ihm diese „zhoch“ (IV 44,17) seien. Würde er diesen nachstellen, würden sie sich zusammentun und ihn zu Stücken reißen. Es gelte die Absprache:  





Drumb legn wir gen einander nider Sie schonen mein/ ich schon jr wider Es ist nit ein geringe Kunst Das einer hat der Herren gunst (IV 44,21–24).

Der Habicht wiederum erinnert den Fuchs daran, dass dieser auch nur „den armen Hasen“ (IV 44,25), Hühner und wehrlose Gänse erjage. Nach diesem verbalen Schlagabtausch unter den Raubtieren, die sich ihrer Wahl der Beutetiere sehr bewusst sind, ist die Fabelerzählung zu Ende. In der Affabulatio beruft sich Waldis direkt daran anschließend nun in dreifacher Weise auf die ‚Alten‘. Auf ein Sprichwort folgt die Erfahrung, die dem Sprichwort zugrunde liegt, anschließend wird eine antike Exempelfigur eingeführt, die zu Wort kommt: Die alten han ein sprichwort bdacht Vnd auß erfarnheyt an vns bracht Vnd sagen/ wenn das Gelt zu sehr Geht vor die tugent/ zucht vnd ehr/ Vnd da die gwalt geht vbers recht Da wer ich lieber Herr denn Knecht Das zeygt vns an der alte boß Vom Heydnischen Philosophos (IV 44,41–48).

601 Unter DG 186 ist nur die Fabel von Waldis verzeichnet.

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Erzählt wird eine Anekdote von Heraklit, der hier aber nicht namentlich genannt ist.602 Heraklit, der zuvor nie gelacht haben soll, muss beim Anblick eines zu hängenden Diebes plötzlich laut lachen. Auf die Frage, warum er lache, verweist der Philosoph kopfschüttelnd und verwundert auf die Zustände in der Welt: Er sprach/ solt ich der Welt nit lachen Das sies so wunderlich thut machen Seltzamer knt mans nicht erdencken/ Die grossen Dieb die kleynen hencken/ Drumb sein die Politisch Gesetz Ein Spinnweb/ vnd ein fliegen netz/ Welchs die Vgel freflich auff heben Die Fliegen bleiben drinn bekleben (IV 44,57–64).

Die politisch brisante Aussage, welche aus der Fabelhandlung abgeleitet werden kann: ‚die Starken verfolgen bewusst die Schwachen‘, wird in der Affabulatio vom ersten bis zum letzten Vers nur mit Berufung auf die ‚Alten‘ kommentiert. Damit wird eine zeitliche Distanz zur Welt des Lesers aufgebaut. Da die Aussage der Fabelhandlung durch alte Autoritäten bestätigt wird, kann hier ein politisch brisanter Sachverhalt verhandelt werden, ohne dass es der Autor verantworten muss. Auch die Bezeichnung „alte[r] boß“ (IV 44,46) in der Bedeutung ‚Anekdote‘, ‚Posse‘ dient hierbei als ein distanzaufbauendes erzählerisches Mittel.603 Bei der schriftlichen Wiedergabe einer Fabel, die eine Deutung der Fabelerzählung mitliefert, ist der für die Wiedergabe verantwortlich Zeichnende, sei es der Verfasser oder der Herausgeber, zu einem Spagat gezwungen. Bis Lessing wird in volkssprachlichen Fabelsammlungen den Erzählungen für gewöhnlich eine Deutung beigegeben. Der anonyme Rezipient soll Wahrheiten erkennen und gegebenenfalls dementsprechend sein Handeln ausrichten. Eine zu deutliche ‚Sinnextraktion‘ oder ‚Sinnstiftung‘ eines provokanten Sinnpotenzials kann die ‚Uneigentlichkeit‘ der Fabelerzählung rückwirkend in der Affabulatio auflösen. Es besteht die Möglichkeit, dass damit die Eigenschaft der Fabel verloren geht, dass man einem Rezipienten die unangenehme Wahrheit relativ sicher, da in der Fiktion verborgen, ins Gesicht sagen könne oder wie Luther es ausdrückt:

602 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 298. 603 Stark schwingt bei einer solchen Bezeichnung der Aspekt der Unterhaltung als primäres Ziel der Schilderung mit. Sie lenkt damit ab von einer verbindlichen Lehrfunktion, wie es etwa der Begriff der Historie oder der gschicht impliziert, bei denen der Aspekt der Wahrheit im Vordergrund steht.

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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Ja zuweilen der gemalete Wolff oder Beer oder Lewe im Buch dem rechten zweifssigen Wolff und Lewe einen guten Text heimlich lieset, den jm sonst kein Prediger, Freund noch Feind lesen drffte. Also auch ein gemalter Fuchs im Buch, so man die Fabeln lieset, sol wol einen Fuchs uber Tisch also ansprechen, das jm der Schweis mchte ausbrechen, und solte wol den Esopum gern wllen erstechen oder verbrennen.604

Um dennoch ein provokantes Sinnpotenzial in Erzählung und Affabulatio zur Entfaltung zu bringen, werden im Esopus mehrere Möglichkeiten einer vom Verfasser losgelösten Kommentierung vorgeführt. Grundlegend ist hierbei das Verfahren, Elemente wie Figurenrede, Sprichwörter, Zitate etc. in die Fabeln zu integrieren. Auch traditionelle äsopische Fabeln werden von Waldis so bearbeitet, dass die Fabelerzählung mehrdeutiger wird. Gerade in solchen Fällen können die Figuren genutzt werden, um eine Wertung von Sachverhalten in die Fabelhandlung einzubringen oder um eine Position zu stützen, die gegebenenfalls mit einer in der Affabulatio formulierten Norm konkurriert. Die formulierte Meinung kann anschließend in der Affabulatio kritisiert werden, bleibt jedoch als abgewiesene bestehen. In I 17 Von Frschen vnnd jhrem Knig wird die bis in die Antike nachweisbare Geschichte von den Fröschen erzählt, die Jupiter bitten, ihnen einen König zu geben. Die Vorlage im Aesopus Dorpii konzentriert sich auf die Bitte und deren Erfüllung: Erst lachend, dann auf die wiederholte Forderung eingehend, wirft Jupiter einen Holzblock in den Teich der Frösche. Die Wellen, die der Wurf verursacht, erschrecken die Frösche und bringen sie zum Schweigen.605 Doch nach und nach treten sie heran, springen auf ihrem König herum und beleidigen ihn. Wiederum fordern sie einen König von Jupiter, jedoch einen, der tüchtiger sei.606 Diesmal wird der Storch als König der Frösche eingesetzt, der jeden Frosch, den er fassen kann, verschlingt. Seine Grausamkeit führt zu einer erneuten Klage der Frösche vor dem Gott, welche jedoch unerhört bleibt. Angeblich bis heute klagen die Frösche abends darüber.607 Die Fabel ist eine ätiologische, sie erklärt einen heutigen Zustand in der Natur mit einer Erzählung, ist aber zugleich übertragbar auf Zustände in der heutigen Menschenwelt. Waldis stellt in seiner Bearbeitung eine Situierung und eine Ratsszene der Frösche den Bittgesuchen voran. Die Handlung spielt „VOR zeiten“ (I 17,1), die

604 Luther: Etliche Fabeln, S. 453 f. 605 „territae silent ranae“ (Esopus. Bd. 2, S. 57). 606 „qui strenuus sit“ (ebd.). 607 „Vesperi enim ciconia cubitum eunte ex antris egressae rauco ululatu murmurant, sed surdo canunt“ (ebd.).  

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Frösche werden als ein „freies Volck in alten Jaren“ (I 17,2) vorgestellt. Von außen betrachtet wirkt die Gesellschaft der Frösche idyllisch: Hpffeten vnd sungen in den Lachen Theten sich teglich frlich machen Auff den Wiesen vnd in den Grthen Mit freud vnd lust jr zeit verzerten (I 17,3–6).

Dieser Zustand dauert an, bis eine Versammlung der Frösche einberufen wird: „Eins mals kamen sie vber ein | Zu halten eintrechtig Gemein“ (I 17,7 f.). Ein alter Frosch tritt auf und schildert den „lieben Herren“ (I 17,10) seine Sicht auf die Zustände im Froschteich. Einleitend weist er auf die Gesellschaftsordnung bei anderen Völkern „in der gantzen Welt“ (I 17,11) hin:  

Sprach/ lieben Herren gebt gehr Jr seht wie/ in der gantzen Welt Eim jedern Volck ist vor gestellt Ein Oberkeit von Gott gegeben Darunder es mus zchtig leben Bey ordentlichem Regiment Das nicht gebrochen/ noch getrent Mit rechten gefaßte Policey Steht eir trewlich dem andernn bey (I 17,10–18).

Die Kernbegriffe des Vergleichs verweisen bereits auf das, was in der eigenen Gesellschaft als Mangel wahrgenommen wird. Das Leben der anderen Völker unter einer Oberkeit wird als durch Strafen geregeltes (zchtig) und rechtmäßiges (ordentlich) dargestellt. Deren verfasste Ordnung des Gemeinwesens, die „recht[] gefaßte Policey“ sorge für den treuen Zusammenhalt der Gemeinde untereinander. Die eigene Gesellschaft wird hingegen als eine beschrieben, in welcher das Recht des Stärkeren gilt: Nun ist vnser ein grosse schar Jn allen pflen hin vnd her Jn allen pftzen/ lchern/ ritzen Das offt zwen auff einander sitzen Da muß der kleinst den grssern tragen Solch ordnung thut mir nicht behagen (I 17,19–24).

Die Versammlung scheint so aufgebaut zu sein, dass die Meinungen aller Teilnehmer berücksichtigt werden, denn der Frosch fordert die Zuhörer auf, bei Zustimmung vorzutreten: „Jsts euch alln lieb so tretten her“ (I 17,25). In der Versammlung scheint nicht das Recht des Stärkeren Geltung zu haben, sondern sie scheint demokratisch organisiert zu sein. Unklar bleibt nach diesem Zusatz,

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

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wie sich das Recht des Stärkeren, das sich im Alltag bemerkbar zu machen scheint, und die Ordnung in der beschriebenen Ratsversammlung, in welcher die Alten – in Gestalt des „alte[n] Frosch[es]“ (I 17,9) – gehört werden und Zustimmung erhalten, zueinander verhalten. Statt nun die „eintrechtig Gemein“ (I 17,8) dazu zu nutzen, Eintracht durch einen gewählten Herrscher herzustellen, wird vom alten Frosch vorgeschlagen, die bei anderen Völkern geltende Ordnung mit einer von Gott eingesetzten „Oberkeyt“ auch bei ihnen einzusetzen. Über allen Fröschen solle ein gerechter König stehen: Wir wlln anfallen den Jupiter Denn er ist vnser rechter Gott Der alle Frsch in achtung hott Vnd bitten das er vns wll geben Ein Knig/ das wir mgen leben Samptlich vnder einer Oberkeyt Der vns regiert mit grechtigkeyt (I 17,26–32).

Dem Vorschlag wird zugestimmt: „Den Frschen gfiel gar wol der rath/ | Jst gut/ das man ein Herren hat“ (I 17,33 f.). Wie die Gerechtigkeit aussehen solle, welche Tugenden der Herrscher haben solle, wird nicht verhandelt. Vielleicht mag das Lachen von Jupiter, als er den Wunsch der Frösche hört, darin begründet sein. Die Frösche allerdings „kerten sich nicht daran“ (I 17,39). Sie beharren auf ihrem Wunsch nach einem „Knig“ (I 17,40). Erst die Erweiterung der klassischen Fabelhandlung motiviert in der esopischen Fabel die Bitte der Frösche. Das Sinnpotential der klassischen Fabelhandlung ändert sich insofern, als das der spätere, schlechtere von den Fröschen selbst herbeigeführte Gesellschaftszustand durch die Motivation begründet ist, eine Gesellschaftsordnung, die andernorts verbreitet ist, wiewohl sie unpassend sein mag, auf die eigene Gesellschaft übertragen zu wollen. Die Beratschlagung und ihr Ergebnis werden in der auktorialen Deutung in der Affabulatio allerdings nicht behandelt. Nicht der Ursprung oder die Motivation, allein die ideale politische Herrschaft bleibt das vorherrschende Thema der Affabulatio, denn diese bezieht sich auf den weiteren Fortgang der Handlung. Wie in der Vorlage führt die Entscheidung Jupiters, einen Holzblock als Herrscher einzusetzen, auch in der esopischen Fabel zu Unzufriedenheit unter den Fröschen. Bei der zweiten Bitte nennen die Frösche konkretere Eigenschaften ihres zukünftigen Herrschers:  

Baten/ wolt jn ein Knig geben Der vernunfft het/ verstand/ vnd leben/

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3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Vnd der auch etwas strenger wer Wißt sich zuhalten wie ein Herr (I 17,59–62).

Der schwache, sich nicht wehrende Herrscher wird von den Fröschen nicht anerkannt. Es zeigt sich, dass die neue Gesellschaftsordnung nicht angenommen wird, da dieser König nach dem alten Recht des Stärkeren aus der Vorzeit keine Geltung zugesprochen bekommt. Jupiter setzt daher den Storch als König an, der sowohl in seiner ‚Bekleidung‘, seinem Auftreten – er „trat her wie ein Edelman | Vnd het zwo Rote hosen an“ (I 17,65 f.) – wie eben nach dem Recht des Stärkeren die Herrschaft beanspruchen kann. An dieser Stelle wechselt das Tempus der Erzählung in das Präsens. Dieser Herrscher hat sich gehalten, noch heute stolziert der Storch auf den Wiesen und verschlingt die Frösche:  

Thut teglich durch die Wiesen schleichen All die Frsch die er kan erreichen Mit seinem schnabel kan erdappen Eim jeden kaufft er baldt ein Kappen/ Vnd frißt sie auff wie er sie findt (I 17,67–71).

Obwohl nun ein Herrscher eingesetzt wurde, der alle Untertanen gleich streng behandelt, sind die Frösche darüber, „nicht wol zu frieden“ (I 17,72). Die von Waldis eingefügte in der Vorzeit herrschende Idylle im Froschteich ist dahin, die Frösche müssen sich zum Schutz verkriechen. Ihre Klagen zeugen allerdings jede Nacht von ihrer Unzufriedenheit über einen solchen Herrscher: wenn der Knig ist schlaffen Alle Frsch schreien waffen/ waffen/ Beschreien all mit heißer stimm Jrs Knigs Tyranney vnd grimm Jn allen lchern/ vnd Steyn ritzen Vnd in den Pflen wo sie sitzen/ Jrs Knigs sie gar gern loß wern Den alten Knig wider begern Beym Jupiter findens kein gnad Ein jeder muß bhalten was er hat/ Den frommen wolten sie nicht han Drumb leidens billich den Tyran (I 17,75–86).

Das Klagen über einen sanften Herrscher und der beständige Wunsch nach Neuem werden zum Gegenstand der Kritik in der Affabulatio:

3.3 Die Aktualität des ‚Alten‘ im Esopus

259

Wie diesen Frschen ist geschehn Thut man offt bey den menschen sehn Wenn sie haben ein Oberkeyt Die sie schtzet vor allem leydt Der selben Joch kan niemand tragen Man thut stets vber die selbig klagen Vnd spricht/ wir wlln ein andern han Das kriegen steht jm vbel an (I 17,87–94).

Die Klage der Zeitgenossen ist konkretisiert als Kritik an Kriegstätigkeiten, die in der Fabelhandlung höchstens ein Äquivalent im Fressen der eigenen Untertanen durch den Herrscher findet. Sie verweist aber auf Zustände in der Gegenwart – Waldis nennt schon in der Widmung an den Bürgermeister „die fehrlichen Kriegshendel und Emprunge inn gantz Deutschen Landen“ (Vorrede, Z. 13 f.). Die Affabulatio führt das Thema der Unzufriedenheit weiter aus, indem auf die Folgen eingegangen wird. Wer mit dem Gegenwärtigen nicht zufrieden sein kann, werde zu Recht von Gott für sein „gaffen [...] nach eim newen“ bestraft:  

Denn thut Gott an des statt verschaffen Einen der sie thut weidlich straffen Auch zu zeiten schleht gar darnider Denn wntschen sie den ersten wider Das gegenwertig thut vns stets rhewen/ Vnd gaffen jmmer nach eim newen/ Frumb Oberkeit wirdt stets veracht Wenn sie gleich als zum besten macht Thut man jr frmbkeit nimmer loben Recht ists/ das Frsch auch Strcke haben (I 17,95–104).

Die von Waldis eingeführte Beratung der Frösche wird in der Affabulatio ausgeblendet, die Wertung einer solchen Versammlung wird dem Leser überlassen. Vorgeführt wird darin ein Abgleich der eigenen mit einer fremden Ordnung, was sich auch ein Leser aneignen kann. Es ist unumstritten, dass es eine Obrigkeit geben muss, doch sollte diese auf die eigenen Gesellschaftszustände abgestimmt sein und nicht von ‚außen‘, in unangemessener Übertragung, auferlegt werden. Die Gegenüberstellung der von außen positiv dargestellten Zustände, die von Beteiligten jedoch als negativ wahrgenommen werden, lenkt den Blick auf die Wahrnehmung und Bewertung von Zuständen. Sie warnt davor, ‚neu‘ mit ‚besser‘ gleichzusetzen und Veränderungen herbeiführen zu wollen, deren Folgen nicht absehbar sind.

260

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘ Die Abgrenzung des ‚Neuen‘ vom ‚Alten‘ war in den vorherigen Kapiteln Gegenstand der Untersuchung. Hierbei ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass nicht immer zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ klar unterschieden werden kann, da diese Attribuierungen auf verschiedene Bereiche bezogen sind. Die Einordnung der Vorlagen wirft andere Fragen auf als die Untersuchung der Rückgriffe auf die ‚Alten‘. Gerade im Kommentierungsprozess in den Affabulationes kann es zur Vermischung von ‚alten‘ und ‚neuen‘ Sinnangeboten kommen, wie sie im Folgenden anhand der Einarbeitung und Kontextualisierung verschiedener Sinnangebote aufgezeigt werden soll. Die Untersuchung des in den Fabeln behandelten ‚Verneuen‘ soll schließlich den Prozess des Übergangs von alten in neue Zustände und Ordnungen und dessen Ablehnung durch Waldis in den Fokus rücken.

3.4.1 ‚Alte‘ und ‚neue‘ Sinnangebote In I 22 Vom altenn Jaghunde ist ein Jäger mit einem „alten Hundt“ (I 22,1) auf Hasenjagd. Der Hund „lieff was er leibes mocht“ (I 22,2) und „het gar gern gethan sein best | Mit mhe erwischt er jn zu letst“ (I 22,7 f.). Überwältigen kann er ihn aber nicht, denn „Sein Beyn warn jm vor alter gspannen | Sein Rcken schwach/ sein Zn verschlissen“ (I 22,10 f.), sodass der Hase entkommt. Als Lohn wird der Hund vom Jäger „mit Kntteln“ (I 22,13) geschlagen. Er rechtfertigt sich und weist auf sein jetziges Alter und die in der Jugend vollbrachten Taten hin:  



Herr/ versteht mich nun Billich soltst mirs zu gute halten Vnd sehen an/ mich schwachen/ alten/ Du weist wol als ich jnger war Gieng ich in sprngen stets daher Da dorfft ich wol dem Hasen nahen Vnd kund jn in eim sprunge fahen Jch was gantz wacker/ vnd auch risch Vnd wardt gespeißt von deinem Tisch/ Nun ich aber bin worden alt Mit kranckheit bladen manigfalt Mein Zne stumpff/ mein Beyne schwach Jetzt weigerstu mir mein gemach (I 22,14–26).

Da der Jäger nun keinen Nutzen mehr vom Hund habe, sei ihm dieser zuwider. Wäre der Jäger „ein redlich man“ (I 22,29), würde er ihm seine Taten vergelten:

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

261

Jn meiner Jugent war ich dir ntze Drumb soltst mich auch im Alter schtzen Vnd mich zum besten geniessen lan Was ich in der Jugent hab gethan (I 22,33–36).

Während sich der Hund sehr wohl seines Alters bewusst ist, verkennt dies der Jäger. Er straft ihn, als ob er den Hasen bei vollen Kräften hätte fliehen lassen. So wie er dem Alter nicht seine berechtigte Ruhe zugesteht, so verweigert er dem Hund auch die Anerkennung für die Taten in der Jugend. In der Affabulatio wird der Gegensatz von Jugend und Alter zuerst auf den Dienst in der Gemeinschaft bezogen, der im Alter häufig nicht gewürdigt werden würde: Wer der Gemein dient sein lebenlanck Verdient auffs letst gar wenig danck Leßt jn der trewe nicht geniessen Solchs mcht den Teuffel wol verdriessen (I 22,37–40).

Deutlich wird anschließend der Jäger kritisiert und zu den zahlreichen Jägern in der Jetzt-Zeit gestellt: Jch halt vom Jger zwar nicht viel Der den alten Hundt nicht bedencken will Das er in seinen jungen tagen Hat geiagt/ nach alle seim behagen Die Welt hat noch gar viel der Jger Auff jren fortheil seindt gute Pflger Dieweil sie eins geniessen mgen Thun sie jm zimlich ehr erzeigen/ Wenn er aber nicht mehr kan ntzen So leßt man jn da hinden sitzen (I 22,41–50).

Dieser Zustand wird als ein kontinuierlicher dargestellt. Schon in der Vergangenheit habe man darüber geklagt, dass in der Welt bei sozialen Beziehungen nur der eigene Vorteil gelte. Diese Klage wird mit der Wiedergabe eines Ausspruchs Ovids einer antiken Autorität in den Mund gelegt: Vnd ist nichts in der Welt so gut Das man one nutz belieben thut/ Vor zeiten hat mans auch gethan Das klagt Ouidius von Gulmon/ Wiewol es laut gantz lesterlich Spricht er/ dennoch muß sagen ich Die Welt ist jetzt so gar vergessen Freundtschafft thuts nach der wolthat messen (I 22,51–58).

262

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Mit dem Verweis auf Aussagen, Geschichten und Exempel „Vor zeiten“ (I 22,53) wird eine Kontinuität zu den Aussagen antiker Autoritäten aufgebaut. An das Antikenzitat in V. 60 f. schließt unmarkiert das zeitgenössische Sprichwort vom ‚ins Graß geschlagene Pferd‘ an,608 welches in den Kontext ‚Undankbarkeit‘ eingebaut ist. Dieses beendet die Affabulatio:  

Vnd wo die wolthat jetzundt wendt Da hat die Freundtschafft auch ein endt/ Die Pferdt/ wenns nicht knnen ziehen baß Nimmt jn den Habern/ vnd schlehts ins Graß (I 22,57–62).609

Die allgemeine Aussage von Ovid über die Bewertung von Freundschaft, je nachdem was diese für Vorteile bringe, wird anhand des sprichwörtlichen Pferdes veranschaulicht. Für einen Leser, der das Ovidzitat nicht einzuordnen und abzugrenzen weiß, gehen antikes Zitat und zeitgenössisches Sprichwort ineinander über, geht die Vorzeit in der Jetzt-Zeit auf. Dreimal wird der gleiche Sachverhalt genannt, jedoch in drei verschiedenen Formen. Die zeitlose Fabelerzählung, die einen überzeitlichen Regelfall veranschaulicht, wird verglichen mit Erfahrungen aus der Vergangenheit und der zeitgenössischen Gegenwart. Dieser Vergleich bestätigt die Aussage der Fabel durch eine Autorität der Antike und veranschaulicht sie anhand des Sprichwortes. Das Sprichwort bildet über das Motiv und die einprägsame Formulierung eine Verknüpfung innerhalb der Fabelsammlung zu einer anderen Fabel. Das Pferd, das in I 22 in der redensartlichen Wendung aufgeführt wird, tritt in IV 99 Vom Bawren/ Lindtwurm/ Pferd/ Hundt vnd Fuchß als Fabelfigur auf und bestätigt das Sprichwort als eigene Erfahrung. In der Fabelerzählung befreit ein Bauer einen Drachen aus einer Höhle, nachdem ihm dieser einen Lohn für seine Tat versprochen hat. Dieser möchte ihn als „danck“ (IV 99,109) verschlingen, der Bauer widerspricht und es wird ein Richter in dieser Streitfrage gesucht. Der erste Ansprechpartner ist ein Pferd, das mit zusammengebundenen Füßen auf einer Wiese weidet. Angesprochen auf die Frage nach Dankbarkeit in der Welt folgt eine anschauliche Schilderung der geleisteten schweren Arbeiten „Vor zeiten“ (IV 99,165), wie das Tragen des Herrn im Harnisch, das Eggen und Pflügen und die Hilfe bei der Ernte, denn „[d]en schweren Wagen kundt ich ziehen“

608 Verweise auf die Sprichwörtlichkeit der Wendung in DWB. Bd. 8, Sp. 1926, zu 8) jemand oder etwas an, auf oder in das gras schlagen. 609 Anders als es im Kommentar zum Esopus vermerkt ist: „Nimmt ihnen den Hafer und schlägt sie tot“ (Esopus. Bd. 2, S. 61), muss V. 62 mit „nimmt man ihnen den Hafer und treibt sie auf die Wiese“ übersetzt werden, wie die Hinweise im Kommentar zu II 46,24 korrekt die Wendung gemäß dem Artikel zu gras, DWB. Bd. 8, Sp. 1926, aufschlüsseln.

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

263

(IV 99,172). Nun, 20 Jahre später, sei es „von jederman verlassen | Außgeiagt/ gschlagen in das Graß“ (IV 99,184 f.).610 Die Figur wird innerhalb der Fabelerzählung selbst zu einem Exempel, das die im Sprichwort kondensierte Erfahrung bestätigend vor Augen führt.  

3.4.2 ‚verneuen‘ Neben den Oppositionen ‚alt‘ und ‚neu‘ wird in den Affabulationes auch über das prozesshafte ‚verneuen‘ gesprochen. Entgegen den mal positiven, mal negativen Bewertungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ wird ‚verneuen‘ durchweg negativ beurteilt.611 ‚Verneuen‘ meint hierbei unterschiedliche Bereiche. So kann ‚verneuen‘ als soziale Veränderung verstanden werden, als Grenzüberschreitung in einen anderen Stand. Vornehmlich wird ‚verneuen‘ dann auf den Einzelnen und dessen Willen zur und die mithilfe von list erreichte Standesänderung (I 87,33) dargestellt. Der Begriff kann bezogen werden auf den Wechsel des „beruff[s]“612 (II 49; I 87,30), auf das Verlangen nach Hab und Gut und die Frau des Anderen (I 75,47–52) sowie auf eine Veränderung im Dienstverhältnis (II 85). Es kann sich aber auch um eine Kollektiventscheidung, wie bei dem Wunsch nach einer neuen „Oberkeyt“ (I 17,89), handeln (I 17; I 18). Die getroffene Entscheidung wird dann als von allen

610 Zeitgenössisch ist die Phrase auch nachweisbar in der Sprichwörtersammlung von Agricola, dort eingebunden in den gleichen Kontext wie bei Waldis. In der im gleichen Jahr wie der Esopus erscheinenden Fortsetzung der Sprichwörtersammlung Fünfhundert Gemainer Newer Teütscher Sprüchwrter eröffnet das Thema der Undankbarkeit unter der Überschrift Also lohnt die Welt die Sammlung. Die Erzählung wird dort auch wiedergegeben und dem Pferd ebenfalls die Wendung in den Mund gelegt: „Nun ich aber gantz alt unnd unvermüglich worden bin/ schlegt man mich ins graß“ (Agricola: Sprichwörtersammlungen, II 1, S. 12, Z. 4 f.). 611 Nur in einer Fabel wird das Thema bereits in der Narratio konkretisiert und bewertet. Dies ist aber bereits in der Vorlage nachweisbar. In II 70 Von einem Reuter/ vnd seinem Pferdt tritt ein neuerworbenes Pferd mit dem alten und nun vernachlässigten in einen Dialog. Auf die Frage des jungen Pferdes, warum es denn besser behandelt werden würde als das alte, obwohl dieses schöner, mutiger und stärker sei, gibt das alte Pferd folgende Antwort: „so sindt der Menschen kindt | Frwitzig/ vnd also gesinnt/ | Grsser ehr thuns den newen Gsten | Denn den alten/ welch doch die besten“ (II 70,13–16). Der Vorlage folgend: „Haec fabula indicat hominum amentiam, qui nova, etiam si deteriora sint, solent veteribus anteponere“ (Esopus. Bd. 2, S. 163), wird diese Aussage in der Affabulatio nochmal aufgegriffen, bleibt jedoch eine allgemeine Feststellung: „Hie wirdt anzeigt die grosse Torheyt | Vnd des Menschen leichtfertigkeyt | Das newe dunckt jn stets das best | Damit das alte fahren leßt“ (II 70,17–20). 612 Gemeint ist hierbei nhd. Art, Stand, siehe Esopus. Bd. 2, S. 150. Agricola etwa fasst „beruff“ als Teil des Standes: „Standt ist eynes ygklichen menschen beruff/ handel/ wandel/ und narung die er treibt“ (Agricola: Sprichwörtersammlungen, I 259, S. 201, Z. 11 f.).  



264

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

akzeptierte Veränderung formuliert, deren Folgen für jeden der Gruppe Gültigkeit hat. Das Thema der Zustandsveränderung wird vom Verfasser als allgegenwärtig dargestellt und verurteilt. Deutlich kritisiert wird die angestrebte Veränderung des Standes in der Affabulatio der Fabel I 87 vom Schnecken vnd Adler. In der Narratio wird geschildert, wie eine Schnecke des Kriechens überdrüssig ist und den Adler bittet, sie in den Himmel zu tragen. Als sie, zurückgekehrt von der Himmelsfahrt, die versprochene Belohnung nicht vorzuweisen vermag, zertritt sie der Adler. Schon in der Vorlage im Aesopus Dorpii wird im Morale der Leser dazu ermahnt, dass man mit seinen eigenen Gegebenheiten zufrieden sein solle: „Morale. Tua forte sis contentus. Fuere nonnulli, qui, si mansissent humiles, poterant esse tuti, facti sublimes inciderunt pericula“.613 Diese allgemeingültige Aussage wird in der Bearbeitung von Waldis auf 24 Verse ausgeweitet. Es folgt eine Deutung der Fabel, wonach man „Jn seinem standt“ (I 87,24) bleiben und die darin aufgetragenen Aufgaben „ernstlich“ (I 87,24) betreiben solle. Nähme man sich eines fremden „beruff[s]“ (I 87,30) an, folge daraus nur Reue, besonders wenn die angestrebte Veränderung aufgrund von „list“ (I 87,33) vonstatten gegangen sei. Zahlreiche Beispiele von Standesveränderungen mit negativen Folgen seien bekannt und könnten augenscheinlich bezeugt werden: Denn vormals ist es offt geschehen Habens auch augen scheinlich gsehen Das etlich/ wenn sie weren blieben/ Vnd jren beruff mit fleiß getrieben Hettens gelebt/ sicher im fried Wie sie dasselb nun achten nicht/ Suchten mit list ein hhern standt Baldt sich jr vnglck selber fandt Mußten wider demtig werden Vnd nider gschlagen zu der Erden (I 87,27–36).

Das ‚verneuen‘ beinhaltet jedoch nicht nur eine soziale Grenzüberschreitung, es wird auch als Laster ausgelegt. Das Unglück, welches auf das ‚verneuen‘ folge, sei die Strafe Gottes für denjenigen, „der nach hoffart ringt“ (I 87,40). Marias eigene Worte werden als Zeugnis für diesen Sachverhalt aufgerufen: Dasselb vns klar anzeiget hat Maria im Magnificat/ Da sie von Gott dem Vatter singt

613 Esopus. Bd. 2, S. 106.

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

265

Das er dem/ der nach hoffart ringt/ Vnd prchtiglich stoltziert/ vnd lebt Mit gantzem ernst entgegen strebt/ Vnd strtzt jn hoch vom stul hernider Vnd erhhet den armen wider (I 87,37–44).

Im Esopus wird der Ausschnitt lediglich zusammengefasst, der in Lk 1,51 f. die Antwort Marias auf den Gruß Elisabeths wiedergibt. Allein Gott kann der Auslöser für Veränderung in der Welt sein, und sei es eine Verkehrung basaler Zustände wie die Hierarchie von Mächtigen und Schwachen. Darüber hinaus wird ‚verneuen‘ als ein Wunsch nach Erneuerung dargestellt, welcher als eine grundsätzliche anthropologische Konstante jedem Menschen inhärent sei:  

Wir sein all mit der plag geplagt Niemandt sein eigen standt behagt (I 18,44 f.).  

Auf die Lust nach Neuem folge daher stets Reue. Die Neugier, hier „vorwitz“, an anderer Stelle als stetes „gaffen [...] nach eim newen“ (I 17,100) bezeichnet, wird hart kritisiert: Die sich auß vorwitz gern vernewen Die mssen offt am rewel kewen/ Wenn sie was newes gnomen an Woltens das alt gern wider han (I 18,41–44).

Der „vorwitz“ wird als Grund genannt, warum sogar die Werke Gottes von manchen Menschen kritisiert würden: Es thut der vorwitz offt verschaffen/ Das wir auch Gott sein werck wlln straffen/ Vnd meynen das wir alle sachen Auch besser denn Gott wllen machen/ Des wir doch haben keinen frummen Vnd offt zu grossem schaden kummen/ Hchlich damit erzrnen Gott Vnd sein geschefft halten fr spott/ Desselben solten wir vns massen Gottes werck vngetadelt lassen/ Richten nit mehr denn wir verstnden Vnd nit wol besser machen knden (II 34,25–36).

Schon in den Bearbeitungen von klassisch äsopischen Fabelstoffen wird „frwitz“ als Grund für die Lust nach Veränderung genannt. In III 13 Vom Jupiter/ Hasen vnd Fuchß wird die Bitte nach der Veränderung bestehender Zustände

266

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

behandelt. So treten der Fuchs und der Hase vor Jupiter und bitten darum, dass der Fuchs so schnell laufen könne wie der Hase und der Hase so „witzig“ (III 13,6) wie der Fuchs werde. Der antike Gott lehnt diesen Tausch der tierischen Eigenschaften ab: Solch bitt kompt auß dem frwitz her/ Vnd sprach/ wir han von anbegin All ding auß wol bedachtem sinn/ Verordnet/ vnd den Thiern jr leben Jedem sein bsondern gaben geben/ Auff das wir keins wolten betriegen Daran laß jm ein jedes gngen (III 13,8–14).

Selbst die zaghafte Einräumung in der Affabulatio von IV 52 Vom Fuchß vnd dem Jgel, dass das ‚verneuen‘ auch erfolgreich sein könne, wird mit dem Hinweis auf die eigene Erfahrung sogleich wieder eingeschränkt: Das vernewen kan wol geschehen Jch hab aber nit offt gesehen Das man ein bessers het bekummen Des man het grssern nutz vnd frummen (IV 52,37–40).614

Auf die einzelne Erfahrung folgt eine schriftlich tradierte exempelhafte Erzählung: Drumb schweig vnd leid/ vnd wart des dein Vnd auff den bruff mit fleiß thu schawen Vnd folg der ler der armen Frawen Dauon man lißt/ in alten Jarn (IV 52,56–59).

Das Thema des ‚verneuens‘ wird also nicht als neues Phänomen der Gegenwart dargestellt, es gilt in allen Zeiten. Die vergangene Erfahrung hat, so zeigt die Wiedergabe des Exempels, auch in der Gegenwart des Lesers noch Bestand. Erzählt wird von einer armen Witwe, die zur Zeit da „die Knig Tyrannen warn“ (IV 52,60), Tag und Nacht in der Kirche für das lange Leben eines boshaften Hauptmanns betet. Auf seine Frage, warum sie so fleissig Fürbitte leiste, obwohl er ihr stets nur Leid zugefügt habe, berichtet sie von früheren Tyrannen und wie bei jedem Tod die Hoffnung auf einen besseren Regenten noch tiefer enttäuscht 614 Eine solche Einschränkung findet sich auch in der Affabulatio von II 85: „Wenn man new Herrn vnd Mntz will kiesen | So muß man vor der handt verliesen/ | Zween Herrn zu gleich/ machens nit auß | Dient nit zween Narrn in einem hauß/ | Vnd wenn man sich will offt vernewen | Muß man zuletst am Rewel kewen“ (II 85,19–24).

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

267

worden sei. Die Antwort der Frau fasst am Ende noch einmal die Einsicht zusammen, dass es besser sei, das zu behalten, was man habe: Drumb bit ich Gott/ das er dich frist/ Denn so du wurdest hin genomen So wurd gewiß ein erger komen Der vns wurd schtzen auff den grad Besser zubhalten was man hat (IV 52,90–94).

Die Geschichte lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen in den Facta et dicta memorabilia von Valerius Maximus.615 Dort ist sie historisch situiert.616 Die alte Frau stammt hier aus Syrakus und lebt zur Zeit des Tyrannen Dionysius, für dessen Wohl sie im Gegensatz zu allen anderen Einwohner betet. Das Exempel wurde in zahlreiche Sammlungen aufgenommen und erfreute sich auch unter Humanisten einer gewissen Beliebtheit.617 Eine direkte Vorlage ist für die Bearbeitung von Waldis nicht nachweisbar, wahrscheinlich erscheint jedoch die Wiedergabe in der Sprichwörtersammlung von Agricola. Unter dem Sprichwort I 128 Es kompt kein besserer ist auch diese Erzählung aufgenommen. Ähnlich wie bei Waldis wird sie als Beispielgeschichte herangezogen, auch hier findet sich ein Verweis auf die schriftlichen Quellen, genauer auf griechische: „Man findet ynn der Griechen Bücher“.618 Bei Agricola ist die Erzählung allerdings zeitlich situiert. Die Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist, zeichnet sich gegenüber allen anderen Zeiten der griechischen Geschichte dadurch aus, dass der schlimmste Tyrann Griechenlands herrschte: „zur zeyt Dionysij des grsten wetrichs/ als Griechen landt nie gehabt hat“.619 Im Esopus fehlen hingegen räumliche und zeitliche Situierungen. Die Erzählung könnte in jeder Zeit passiert sein, in der „die Knig Tyrannen“ (IV 52,60) sind, auch in der gegenwärtigen.620

615 Siehe Hans Trümpy: Gebet für den Tyrannen. In: EM. Bd. 5, Sp. 803–805 und ATU 910M „Prayers for the Tyrant“. Zur Überlieferung im Mittelalter wird dort nur festgehalten: „Literary traditions since the Middle Ages, e.g. Gesta Romanorum (N. 53)“. 616 Siehe Valerius Maximus: Memorable doings and sayings. 2 Bde. Hg. von D. R. Shackleton Bailey. Cambridge, London 2000 (Loeb Classical Library 493), S. 26–29. Ebenda findet sich auch der Hinweis zur Vorlagenfrage in Anm. 16: „Not found elsewhere“. 617 Aufnahme fand es etwa als Nr. 686 in den Apophthegmata des Erasmus von Rotterdam, gedruckt in Basel 1535. Es steht auch in Adrianus Barlandusʼ Iocorum veterum ac recentium libri tres, gedruckt in Köln, in der 2. Auflage von 1529, Bl. b 6v. Eine ausführlichere Übersicht in EM. Bd. 5, Sp. 803. Die Sammlung von Valerius Maximus erfuhr auch im 16. Jahrhundert Druckausgaben. 618 Agricola: Sprichwörtersammlungen, I 128, S. 92, Z. 5 f. 619 Ebd., Z. 6. 620 Die Bearbeitung der Geschichte bei Waldis lässt die Frage nach den zusätzlichen Informationen, der ‚Ausgestaltung‘ der Fabel aufkommen. In der Bearbeitung von Waldis ist die Antwort der  

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

268

Die Aussage, dass Neues stets begehrenswerter als das Alte sei, ist in den Fabeln, die dies behandeln, mitunter schon in der Vorlage vorhanden, wie etwa in der Fabel I 75 vom Esel. In der Bearbeitung von Waldis wird die Deutung der Fabel jedoch ausgeweitet und mit divergierenden Sinnangeboten versehen. Vergleicht man hierbei die Mehrfachverwendung etwa antiker Zitate, zeigt sich eine je verschiedene Funktionalisierung und Einbettung des Zitats in verschiedenen Fabeln. In der Narratio von I 75 verlangt ein bei einem Gärtner arbeitender Esel von Jupiter einen „andern Herrn“ (I 75,6). Doch auch die Arbeit beim Ziegelstreicher behagt dem Lastentier nicht, sodass ihn Jupiter schlussendlich zum Lederer gibt. Nun erkennt der Esel, dass er diesem Herrn nach seinem Tod sogar seine Haut wird abgeben müssen und der Hund des Herrn sein Fleisch fressen wird. Im Aesopus Dorpii wird im Morale allgemein festgehalten: „Semper damnamus, quae praesentia sunt, et nova appetimus, quae (ut dici solet) veteribus non sunt potiora“.621 Im Esopus ist die Auslegung auf 14 Verse ausgeweitet. Die Art des Esels wird auf den Menschen übertragen: „Kein mensch noch nie so bstendig wardt | Er het an jm des Esels art“ (I 75,43 f.). Daraufhin wird der allgemeine Zustand in der Welt konstatiert: „Die Welt jetzt keinen Menschen hat | Dem da  

Frau ergänzt um die Information, dass sie „vor zeiten het vier Khe“ (IV 52,79), die ihre „Kinder kleyne“ (IV 52,81) hätten ernähren können. Der Vater des jetzigen Herrschers habe ihr eine abgenommen, worauf sie Gott gebeten habe, „das ern hinnehm | Auff das ein frommer widerkem“ (IV 52,83 f.). Der Vater sei zwar gestorben, aber sein Sohn, der nun vor ihr stehende Herrscher, habe ihr „noch ander zwo“ (IV 52,87) genommen. Sie bete daher für sein Leben, „Denn so du wurdest hin genomen | So wurd gewiß ein erger komen | Der vns wurd schtzen auff den grad | Besser zubhalten was man hat“ (IV 52,91–94). Diese Ergänzung ist, das ist deutlich im Vergleich mit Agricolas Fassung, für die Aussage des Exempels nicht vonnöten. Man kann sich also fragen, welche Funktion einer solchen zusätzlichen Information zukommt. Waldis verknüpft immer wieder Elemente seiner Fabelsammlung, seien es etwa Bestandteile innerhalb einer Affabulatio oder auch Fabeln in der Sammlung assoziativ. Man fragt sich, wie weit man diese assoziative Verknüpfungen – in diesem Falle das Motiv der durch die herrschende Schicht gestohlenen Kuh – bei einem Leser voraussetzen könnte. Denkbar, nie jedoch mit Sicherheit zu belegen, wäre etwa die mögliche Verknüpfung dieser Geschichte mit einer in diesem Buch zuvor erzählten Fabel. In Kenntnis der früheren Erzählung wäre die spätere möglicherweise weiterzudenken. In IV 12 Vom Landtsknecht/ vnd einer Kuh wird nämlich von einer armen Frau berichtet, der während einer Fürstenfehde die letzte Kuh von einem Landsknecht genommen wird. Als der Landsknecht stirbt, wird er in der Hölle von einem jungen Teufel geplagt. Er fragt diesen, was er ihm denn „vor den andern than“ (IV 12,39) habe, dass er von ihm nun so gequält werde. Der Teufel erinnert ihn an die arme Frau: „ey denckstu nicht/ | Da du zur armen Frawen kamst | Vnd die eynige Kuh jr namst (IV 12,42–44). Folgte man dieser motivlichen Spur durch die Fabelsammlung, erhielte ein Leser den Verweis auf die Strafe der Peiniger im Jenseits. Was an dem Landsknecht in IV 12 vorgeführt wird, ließe sich mit Blick auf die Fabel IV 52 dann auch auf die ebenfalls Gewalt ausübenden, jedoch hierarchisch Höherstehenden, die Tyrannen, beziehen. 621 Esopus. Bd. 2, S. 99.  

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

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bengt an seinem statt“ (I 75,45 f.). Der allgemeinen Feststellung folgt nun eine Aneinanderreihung von Zitaten und Sprichwörtern, die allerdings nicht das allgemeine Sprichwort der Vorlage wiedergibt, sondern konkrete Situationen des Begehrens aufzählt:  

Was jener hat/ das wlln wir han Das vnser steht vns vbel an/ Meins nehsten Wyse hat besser Graß/ Meins nachbawrn Pferdt fttert sich baß/ Die meysten Milch gibt seine Kuhe/ Sein Weib ich sehr beliben thue/ Was sich beim andern thu erzeigen Dunckt mich besser sein denn mein eigen/ Vnd wolt gern stets ein newes han (I 75,47–55).

V. 49–51 erscheinen hier als triviale Weisheit, lassen sich aber als ein frei übersetztes, nicht ausgewiesenes Zitat aus der Ars amatoria von Ovid, I,349 nachweisen: „Fertilior seges est alienis semper in agris, Vicinumque pecus grandius uber habet“.622 Es ist integriert in die Darstellung eines Verhaltens, welches dem zehnten Gebot widerspricht und damit Bezug nimmt auf durch die Bibel gesetzte Normen. Die Sprichwortakkumulation, die verschiedene konkrete Bereiche des Begehrens nennt, wird abgeschlossen mit einem intratextuellen Verweis „Sich die achtzehend Fabel an“ (I 75,56).623 Auch in eine Affabulatio eingearbeitet, diesmal explizit als Zitat markiert und mit dem Hinweis „der Poet dauon auch sagt“ (II 49,48) Ovid zugeschrieben, erscheint die Wendung von der begehrlichen Ernte und dem Milchertrag des Nachbarn in II 49 Vom Esel/ Affen/ vnd Maulwerff. Hier beendet die Wendung eine Affabulatio, die ebenfalls das ‚verneuen‘ zum Gegenstand hat. Wieder ist der „frwitz“ Anlass des ‚verneuens‘:

622 Übersetzung: „Auf dem fremden Feld ist die Saat stets fruchtbarer, und das Vieh des Nachbarn hat ein grösseres Euter“ nach TPMA. Bd. 3, S. 120; sowie der Eintrag ‚Überbewertung der fremden Saat in TPMA. Bd. 9, S. 423 f., der Hinweis auf die sprichwörtliche Verwendung in Esopus. Bd. 2, S. 150. 623 Gemeint ist die Fabel I 18 Von den Tauben vnd Weihen, in deren Narratio sich die Tauben einen Habicht „zum schutzherrn“ (I 18,10) wählen, der „jre Ordnung im Krieg solt fhren“ (I 18,9). In der Affabulatio wird ebenfalls gewarnt vor dem ‚verneuen‘ „auß vorwitz“ (I 18,41). Auch wenn man mit dem gegenwärtigen Zustand nicht zufrieden sei, solle man in der Erwartung des Jenseits darin verharren: „Obs schon nicht geht/ wie es wol solt | Vnd das mans gerne bessern wolt | Wils doch nit recht auff allen seiten | Zugehen/ vnd vngehuncken rheiten/ | Weil mir mein standt zu dieser frist | Leidlich vnd wider Gott nit ist/ | Muß ich damit zu frieden sein | Jsts nicht von allen seiten rein | Weil ich noch bin in diesem leben | Hienehst wirdt Gott ein bessers geben“ (I 18,31– 40).  

270

3 ‚Alt‘ und ‚neu‘

Der frwitz vns so sehr geheit Verblendet also gar die leut/ Das vber sein ampt ein jeder klagt Wie der Poet dauon auch sagt/ Ein jeden dunckt seins nachbawrn Flachße Viel besser denn der sein auff wachße/ Vnd das seins nachbawrn Khu allzeit Viel mehr Milch denn die seine geit (II 49,45–52).

Wiewohl zur Verhandlung desselben Themas verwendet, ist das Zitat in den beiden Affabulationes unterschiedlich eingearbeitet und funktionalisiert. In letzterem Beispiel beendet es als ausgewiesenes, daher mit Autorität aufgeladenes markiertes Zitat die Affabulatio. Das ‚verneuen‘ hat für denjenigen, der sich „vernewert“ (II 49,34) nicht nur Konsequenzen in der Gegenwart. Nur wer „zu allen zeiten“ (II 49,43) in „seiner bruffung“ (II 49,42) bleibt, besteht „fr Gott/ vnd den leuten“ (II 49,44). Dies „ist gsagt“ (II 49,23), all denen, die „sich nach frembder bruffung sehnen“ (II 49,24): Eins frembden bruffs sie sich vermessen Damit jrs eygen thuns vergessen/ Jn jrm beruff ist jn gar ant Suchen allzeit ein bessern standt/ Jren frwitz damit zulaben/ Wenn sie sich denn vernewert haben/ Findens daselben grossen grewel Zu letzt kumpt vber sie der rewel Wenns kommen zu grsserm vnglck Vnd mgen dennoch nit zu rck/ Denn woltens/ das sie weren blieben Vnd jr gewerb mit fleiß getrieben/ Drumb rath ich eim jedern bey leib Das er in seiner bruffung bleib Vnd hab der acht zu allen zeiten/ So bsteht er fr Gott/ vnd den leuten (II 49, 29–44).

Der Rat, den das Sprecher-Ich hier dem Leser gibt, geht auf die Bibelstelle I Kor 7,20 zurück: „Ein jglicher bleibe in dem ruff/ darinnen er beruffen ist“.624

624 Als sprichwörtlich sind im 16. Jahrhundert nur lateinische Wendungen nachweisbar, so führt TPMA in Bd. 11 auf S. 106 unter dem Schlagwort Stand 3. Jeder bleibe in seinem Stand neben einem Zitat vom Stricker nur ein lateinisches Zitat von Luther: „Maneat igitur unusquisque nostrum in suo ordine“, und ein klassisches Zitat aus den Tristia von Ovid auf: „Intra Fortunam debet quisque manere suam“ (Ovid: Tristia, III 4,24 f.), dort ebenfalls die Übersetzung: „Jeder soll in seinem Stande bleiben“. Da das Zitat nicht ausgewiesen ist, könnte auch Sir 11,20 zitiert sein,  

3.4 Trennschärfenverlust von ‚alt‘ und ‚neu‘

271

Die Anweisungen für ein Leben in der Welt sind ausgerichtet auf eine gottgegebene Ordnung, die in der Welt Geltung hat. ‚Verneuen‘ ist dem Menschen nicht gestattet, es zeitigt stets Misserfolge. Bereits am Anfang der Menschheitsgeschichte steht eine solche Veränderung: Wie unser erste eltermutter Jm anfang hat verrirt die Buter Vnd vns das Muß also verschtt Das vns biß heutigs tags weh thut (I 149–152).

‚Verneuen‘ wird als ein Bruch mit einer von Gott eingesetzten Ordnung dargestellt. Wer diese Ordnung verändern möchte, handelt wider Gott. Waldis weist die Behauptung zurück: „Jetzt sagt man/ dwelt sey worden new“ (I 94,43). Die Jetzt-Zeit ist keine neue Zeit, kann als solche nicht bezeichnet und auch nicht ‚neu gemacht‘ werden.

dort wird die Veränderung des Standes ebenfalls mit einem Bruch der Gottesordnung gleichgesetzt: „BLeibe in Gottes wort/ vnd vbe dich drinnen/ vnd beharre in deinem Beruff/ Vnd lass dich nicht jrren/ wie die Gottlosen nach Gut trachten. Vertrawe du Gott/ vnd bleibe in deinem beruff/ Denn es ist dem HERRN gar leicht/ einen Armen Reich zu machen“.

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung „Es ist ein deutung in den sachen“ (IV 49,100)

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel Der zu Recht von den Herausgebern der aktuellen Esopus-Edition festgehaltene „äußere Eindruck einer gewissen Eintönigkeit“625 überdeckt die in den Fabeln im Esopus nachweisbare, mitunter stark erweiterte und zugleich komplexitätssteigernde Vielfalt an ‚Sinnangeboten‘. Diese Vielfalt tritt deutlich gegenüber den Bearbeitungen der klassischen Fabeln in der Hauptvorlage zutage, die dem Ideal der brevitas entsprechen. Die Fabel ist traditionell eine Textsorte, die nicht nur der Erzählung, sondern auch stets der ‚Sinnvermittlung‘ dient. Diese Sinnvermittlung kann je nach Vermittlungssituation verschiedene Formen annehmen. So kann in der mündlichen Situation der Fabelerzähler die Sinnvermittlung an die pragmatische Situation anpassen. In einer mittelalterlichen Handschrift können verschiedene Querverweise und Marginalien eine äsopische Fabel in Vorbereitung auf eine potenzielle Vermittlungssituation aufbereitet präsentieren. In Sammlungen, die für einen Leser aufbereitet sind, der sich selbstständig Fabeln und ihre Bedeutungen aneignen soll, – für den etwa keine Vermittlungsinstanz wie der Prediger auf der Kanzler oder der Hausvater beim Tischgespräch angedacht ist –, kann das, was die Fabel vermitteln soll, schriftlich fixiert und diesem Leser direkt angeboten werden. Erst mit Lessings Fabeltheorie, die einen mündigen Leser voraussetzt, der den Sinn selbst aus der Fabel ‚zieht‘, wird eine Gestaltung der Fabel bevorzugt, bei welcher nicht mehr in einer auktorialen Deutung formuliert wird, was der Sinn der Fabel sei.626 Der ‚Sinn‘ der Fabel sollte nun bei der Interpretation von esopischen Fabeln nicht auf die auktoriale Deutung verengt werden. Vielmehr ist generell zu fragen, wie sich der Sinn der Fabel ‚konstituiert‘. Diese Frage kann ausgehend von drei Möglichkeiten beantwortet werden. Es kann erstens von der ‚Autorintention‘ als maßgeblich ausgegangen werden, ein Autor also legt den ‚Sinn‘ einer Fabel in Erzählung und auktorialen

625 Esopus. Bd. 2, S. 3. 626 Diese auktoriale Deutung kann der Fabelerzählung vorangestellt sein, wie es etwa mitunter Steinhöwel macht, oder auf die Narratio folgen, wie es bei Waldis, Luther oder auch Alberus der Fall ist. Damit ändert sich zugleich die Wahrnehmung von Sinn und Fabelerzählung. Bei einer vorangestellten Deutung steuert diese als Leseanweisung die Wahrnehmung des Textes. Eine nachgestellte Deutung erlaubt, dass das Sinnpotenzial einer Fabelerzählung nicht von vornherein auf eine Deutung zulaufend gelesen wird. https://doi.org/10.1515/9783110613155-005

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

273

Deutung fest. Es kann zweitens, wie von Grubmüller, die Sinnkonstitution auf den Rezipienten verlagert werden, auf seine Interpretation der vom Autor vorgegebenen Sinnangebote: Es liegt offen zu Tage: Sinn entsteht stets erst aus der Interaktion zwischen Text und Leser oder Hörer (Rezipient). Er entsteht auf der Basis der vom Autor angelegten Sinnpotentiale, die seine Aktualisierungsintention, seine Instruktionsabsicht, in aller Regel übersteigen.627

Eine dritte Option rückt die Geltung und die Gemachtheit des Textes in den Mittelpunkt der Analyse. Der Sinn der Fabel ist in den Texten selbst zu suchen. Von diesen drei Möglichkeiten erlaubt es nur die dritte, die Analyse der Geltungsansprüche und der Gemachtheit des Textes, sichere Aussagen über den ‚Sinn‘ der Fabel zu treffen. Wenn man den Autor ernst nimmt und keine Ironie vermutet, vermeint man bei einsinnigen Lehrsätzen hinter dem einen Lehrsatz noch die Absicht des Autors herauslesen zu können. Bei zwei oder mehreren Deutungen ist dies schon nicht mehr der Fall. Ob und wie ein Leser die Fabel und die mit ihr einhergehende auktoriale Deutung versteht, ob er dem Sinn folgt oder diesen vielleicht sogar als widersprüchlich versteht, kann noch weniger als eine vermeintliche Autorintention analytisch gefasst werden.628 In dieser Untersuchung liegt der Schwerpunkt daher auf der Geltung und Gemachtheit der Fabeltexte. Die für Waldis spezifische Gestaltung des Fabeltextes setzt in beiden Fabelbestandteilen ein, in der Narratio mit der Wiedergabe der Fabelhandlung sowie in den expliziten, graphisch abgesetzten Affabulationes. Im Folgenden wird näher

627 Grubmüller: Pragmatik, S. 476. 628 Solche Deutungen sind für gewöhnlich nicht greifbar. Lediglich etwa Leserspuren erlauben punktuell, partikular und häufig auch kontingent Rückschlüsse auf Deutungen der Fabeltexte, die in der Lektüre entstanden sind und von den auktorialen Deutungen abweichen. In radikaler Weise deuten zwei Rezeptionszeugnisse auf die Ablehnung der kirchenkritischen Polemik einiger esopischer Fabeln in klerikalen Kreisen hin: „Im Londoner Exemplar von Druck B sind die misogynen Verse III 23,15 f. geschwärzt; herausgerissen sind die Blätter 216–218, die die Fabel III 100 enthalten hatten. Bl. 215b endet mit der Überschrift Die c. Fabel/ Wie ein Barf.…, darunter steht in sorgloser Schrift (wohl 16. Jahrhundert): Dem Componiste sollt man den halß brechen […]. Erheblichere Eingriffe hat das Münchener Exemplar von Druck F erfahren, das schon zum Bestand der in Ingolstadt vom Jesuiten-Orden gegründeten Universität gehört hat: Herausgerissen sind Bl. 111 f. (II 49,37–II 52,4); Bl. 116 (II 55,11–II 58,2); Bl. 118 (II 60,15–II 61,6); Bl. 199 f. (III 99,63– III 100,118); Bl. 213 (IV 5,5–72); Bl. 228 (IV 18,11–78); Bl. 240 (IV 24,27–IV 25 Ü); Bl. 244 f. (IV 29,9–IV 31,44); Bl. 251–253 (IV 38,11–IV 40,48). Wann diese Eingriffe erfolgten, ist nicht zu bestimmen, es gibt keine Lesespuren, die weitere Aufschlüsse erlauben würden. Besondere Ablehnung erfuhr aber offensichtlich Waldis’ Kritik an der Heiligenverehrung (II 50; IV 5), insbesondere der Franziskus-Verehrung (III 100), am Zölibat (II 60; IV 30; IV 40) und allgemein am heuchlerischen und sittenlosen Verhalten des päpstlichen Klerus (IV 24; IV 31; IV 39)“ (Esopus. Bd. 2, S. 24).  







274

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

untersucht, wie sich die spezifische Gestaltung der esopischen Fabeln auf den Sinn der Fabel auswirkt. Hierfür ist eine Betrachtung sowohl der oben schon vorgestellten Narratio vonnöten – mit der darin beobachtbaren Vielfalt von Themen, Figuren und Elementen der Ausgestaltung wie Figurenrede sowie zeitliche und räumliche Situierungen – als auch die Betrachtung der Affabulatio mit ihren verschiedenen Elementen und Argumentationsverfahren. Bereits eine stark reduzierte Wiedergabe eines Fabelstoffes kann verschiedene Sinnangebote liefern: ein und diesselbe Fabel kann bekanntlich als Beleg für die unterschiedlichsten ‚Lehren‘ verwendet werden, ohne daß der Handlungsablauf im mindesten verändert zu werden braucht. Verschiebungen ergeben sich etwa durch die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Handlungselemente oder Handlungszüge zu konzentrieren oder die Abstraktionsebene unterschiedlich hoch anzusetzen.629

Der Begriff ‚Sinnangebot‘ umfasst generell sowohl Elemente der Narratio wie auch Elemente der Affabulatio. Nicht immer sind Sinnangebote in der Narratio auch in eine auktoriale Deutung in der Affabulatio aufgenommen. Diese Sinnangebote bilden ‚Sinnpotenziale‘, welche die auktoriale Deutung stützen, erweitern oder auch von ihr abweichen oder in Konkurrenz dazu treten können. In der Narratio finden sich zusätzliche Sinnangebote etwa in den Situierungen der Handlung, die für die Motivation und den Fortgang der Handlung keine Bedeutung haben. Zum Beispiel würde für die Vermittlung der Aussage ‚handle, solange du noch Zeit dazu hast‘ in I 16 Vonn der Schwalbenn die Geschichte ausreichen, dass eine Schwalbe zu Beginn der Flachsaussaat versucht, die anderen Vögel vor dem Säen und Ernten des Flachses durch eine dreimalige Ermahnung zu warnen, da aus der Pflanze in der Zukunft Netze für den Vogelfang hergestellt werden würden. Waldis erweitert die Erzählung um eine zeitliche Situierung. Diese verweist auf eine Zeitordnung, die traditionell nicht in der Welt des Fabeltieres, sondern in der des Fabelrezipienten Geltung hat. Es handelt sich um die zeitliche Ordnung des Kirchenjahres, die über den Tag des Heiligen Johannes aufgerufen wird: „JM Sommer als mann zu Seen pflag | Den Lein vmb Sanct Johannes tag“ (I 16,1 f.). Damit ist das Datum der Heiligenverehrung, der 24. Juni, in Erinnerung gerufen,630 der von der päpstlichen Kirche mit einem Hochamt gefeiert wurde. Mit diesem Heiligen ist zugleich seine Funktion als Vorläufer Jesu aufgerufen, wie sie dem Neuen Testament entnommen werden kann. Dort wird berichtet, wie Johannes die erwartete Ankunft des Gottessohnes verkündet:  

629 Grubmüller: Pragmatik, S. 476. 630 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 56.

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

275

„Vnd Prediget/ vnd sprach/ Es kompt einer nach mir/ der ist stercker denn ich/ Dem ich nicht gnugsam bin/ das ich mich fur jm bücke/ vnd die riemen seiner Schuch aufflöse“ (Mk 1,7). Die Reaktion der ungläubigen Vögel steht in Verbindung mit diesem Kontext, sie beschimpfen die Schwalbe als einen „beschißnen Propheten“ (I 16,32). Durch die Ergänzung eines Verses erhält die Fabel eine geistliche Auslegungsebene. Über die Verknüpfung mit der Kernaussage ‚handle, solange du noch Zeit dazu hast‘ wird der kundige Leser daran erinnert, sein Leben und Handeln in der Welt auf Jesus und dessen Lehren auszurichten. Auf diese Möglichkeit, die Fabelerzählung zu deuten, wird in der auktorialen Deutung in der Affabulatio nicht eingegangen. Das Sinnangebot bleibt Sinnpotenzial, das in der Affabulatio nicht in Form einer auktorialen Deutung expliziert wird. Neben zeitlichen Situierungen werden andere Narrationes von Waldis mit Informationen zum Raum der Handlung und mit Details zu Fabelfiguren ausgestattet.631 Solche Anlagerungen systematisch als bloße ‚Ausschmückungen‘ zu betrachten, verstellt den Blick auf die Funktionen, die diese übernehmen können. Auch die Reduzierung auf den Ausweis einer dadurch entstehenden lebhaften Erzählung, eine „weitluftige und oft mssige Art zu erzhlen632 oder auf die Funktion der Unterhaltung, wie sie die Forschung zu Waldis seit der Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert begleiten, steht einer angemessenen Betrachtung im Weg. Darüber hinaus werden im Esopus Erzählverfahren benutzt, welche die Narrationes im Umfang und Sinnpotenzial aufschwellen lassen. Hierbei werden weitere Sinnangebote eingebaut, so kann in der Figurenrede ein sinnstiftendes Element etabliert werden. Dadurch treten neben die Stimme des erzählenden und deutenden Sprecher-Ichs die Stimmen der Fabelfiguren. Die Äußerungen der Handlungsträger, die mitunter bereits eine Wertung der Ereignisse der Handlung beinhalten, treten potenziell in Konkurrenz zur Wertung des Sprecher-Ichs in der Narratio. Sie können anschließend in der Affabulatio durch die Zustimmung des Sprecher-Ichs weitere Geltung erhalten. Figurenrede kann aber auch veruneindeutigend sein,

631 Vorwiegend geschieht dies in den Fabeln mit menschlichem Personal im vierten Buch. Dieses Phänomen findet sich auch in anderen Fabelsammlungen der Frühen Neuzeit, z. B. in den Fabeln von Erasmus Alberus. Um zu verstehen, dass Schwache immer unter der Tyrannei der Starken leiden werden, reicht es, wenn der Wolf das Lamm an der Flussquelle frisst. Die Information: „WENN man will gehn ins Hessenlandt/ | Von Franckfurt/ zu der lincken handt/ | Ein groß gebirg reycht biß an Rhein/ | Vnd in das Hessenlandt hinein/ | Vom Mayn ligt zwo meil oder drey/ | Was etwan da geschehen sey/ | Vnd was ein Wolff da hab gethan/ | Will ich jetzt krtzlich zeigen an“ (Alberus: Fabeln, S. 51) ist für die Kernaussage „Contra inuidiam“ (so die Marginalie) unnötig. Aber es verändert zugleich den Gegenwartsbezug dieser Aussage. Hier wird die Fabel über die Situierung der Geschichte und nicht nur über ihre Deutung mit der Gegenwart eines deutschen Lesers verbunden. 632 Gellert: Nachricht, S. 138.  

276

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

wie sich etwa dann zeigt, wenn in der Affabulatio als Reaktion auf die Rede einer Figur das Sprecher-Ich seine Deutungskompetenz abgibt. Mit ironischem Unterton geschieht dies etwa in der Fabel IV 30 Von einer Nonnen. In der Narratio trifft sich eine Nonne mit ihrer verheirateten Schwester und klagt, sie seien „wie gfangen Leut verschlossen | Vnd werden nimmer auß gelossen“ (IV 30,26 f.). Die Schwester wiederum macht darauf aufmerksam, dass sie ihres „lebens auch nit fro“ (IV 30,30) sei, sie müsse ihrem Mann gehorsam sein, hätte mit weinenden Kindern und frechem Gesinde zu tun, dem sei das Leben im Kloster vorzuziehen. Die Nonne ändert ihre Einstellung und spricht: „ich nem ein gute nacht | Vnd wolt vergessen aller klag | Vor Fnff vnd zwentzig guter tag“ (IV 30,40–42). Diese Worte schließen die Narratio ab. Wie sie zu deuten sind, bleibt spekulativ. Geht es um das Abwägen von großem und kleinem Schaden, wie es vielleicht ein ähnlicher Vergleich in IV 67,51 f. nahelegt?633 Geht es um die Bevorzugung einer guten Nacht mit Beischlaf gegenüber 25 guten Tagen sexueller Enthaltsamkeit? Dass die Deutung absichtlich vage bleiben soll, verdeutlicht die darauffolgende Stellungnahme des Erzählers in der Affabulatio: „Was sie da meynt verstehe ich nicht“ (IV 30,43). Damit aber entzieht sich die auktoriale Deutung einer verbindungsstiftenden Funktion zur Erzählung der Fabel. Abgelehnt werden darauffolgend vom Sprecher-Ich nicht nur die Worte der Nonne, sondern die gesamte Narratio als Ausgangspunkt für die Sinnproduktion. Stattdessen wird durch die Berufung: „Allein das mich die Schrifft bericht“ (IV 30,46) die Bibel Ausgangspunkt für die in der Affabulatio folgende negative Beurteilung des Klosterlebens. In dieser Fabel hat die Narratio keine sinnstiftende Funktion mehr. Diese ‚Autonomisierung‘ der Narratio, ihre „Emanzipation von der didaktischen Unterweisung“ ist ein Schwerpunkt von Lieb in seiner Untersuchung des Esopus.634 Diese macht „die erzählerische Gestaltung [...] selbst zum Gegenstand und versteht die Fabel – in heuristischer Absicht – als autonomen literarischen Text“.635 Damit wurde „die erzählerische Expansion als eine Möglichkeit der literarischen Fabel“636 als Beobachtungsfeld der Fabelforschung aktualisiert. Demgegenüber ist die Untersuchung der autorspezifischen Bearbeitung des zweiten Fabelbestandteiles, der Affabulatio, sowohl im literarischen Rezeptionsprozess wie in der Forschungsgeschichte nach wie vor stark vernachlässigt. Diese Vernachlässigung lässt sich auf die Wahrnehmung der esopischen Fabel zu Beginn der zweiten Rezeptionsphase Mitte des 18. Jahrhunderts zurückfüh 



633 Auf die Ähnlichkeit der beiden Textstellen aufgrund der Zahlen verweist Esopus. Bd. 2, S. 287. 634 Lieb: Erzählen, S. 9. 635 Ebd., S. 15. 636 Ebd.

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

277

ren. Ein Blick in die Drucke, die Waldisfabeln veröffentlichen, lässt erkennen, wie stark dieser Fabelbestandteil, der auch mit ‚Lehre‘, ‚Deutung‘ oder ‚Morale‘ bezeichnet wird, historisch differenten Gattungsvorstellungen unterworfen ist.637 Zur Veranschaulichung, wie sehr das damalige Fabelverständnis die Wahrnehmung von Waldisfabeln beeinflusste, wird exkursorisch auf das Erscheinungsbild zweier Fabeln eingegangen, die Christian Fürchtegott Gellert 1759 in seiner Anthologie wiedergibt. Der Abschnitt zu den Fabeln von Waldis in Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln konzentriert sich unkommentiert auf die Wiedergabe der Narrationes.638 Die Affabulatio der bei Waldis als I 33 vom Pferdt vnnd Esel gedruckten Fabel wurde komplett gestrichen. Die Affabulatio von II 45 Von einer Frawen/ die jren sterbenden Mann beweynet ist von Gellert teilweise gekürzt worden.639 Ein Grund für die Streichungen mag darin liegen, dass das Ideal der brevitas in vielen Affabulationes nicht eingehalten wurde, am deutlichsten in IV 93 mit einer Affabulatio im Umfang von 178 Versen. Ein anderer Grund könnte darin gesehen werden, dass perspicuitas nicht als im jeden Fall der 400 Fabeln angestrebtes Ziel der Bearbeitung von Waldis erkannt werden kann. Denn wie der Narratio kann im Esopus auch der Deutung der Erzählung eine ‚Autonomisierung‘ zugesprochen werden. Was in der Vorlage, dem Aesopus Dorpii, noch explizit mit ‚Morale‘ markiert wird, die Konkretisierung der Bildlichkeit der Fabelhandlung hin auf eine lehrsatzhafte Aussage über das, was in der Narratio ausgesagt sei oder was man daran erkenne könne, wird bei Waldis stark erweitert und entfernt sich mitunter weit von dem, was als einfache ‚Lehre‘ bezeichnet werden könnte. Es mag kein Zufall sein, dass Waldis den Begriff ‚Morale‘, obwohl dieser in seiner Hauptvorlage benutzt wird, für seine Sammlung in der formalen Gestaltung der einzelnen Fabeln nicht übernommen hat.640

637 Ausgelassen ist im Folgenden die Bearbeitung durch Ulrich Wohlgemuth 1623, die in ihrer Aneignung und Rezeption anderen literarischen Aneignungsprozessen unterworfen ist als die Wiederentdeckung der Fabeln über 100 Jahre später. 638 Siehe Gellert: Nachricht, der Druck der beiden Fabeln auf S. 138–140. 639 In diesem Vorgehen folgt ihm Freiherr von Gemmingen in seinem Druck ausgewählter Fabeln. Siehe Freiherr Eberhard Friedrich von Gemmingen: Schreiben ber Burckhard von Waldis. In: Poetische und Prosaische Stcke, von dem Freyherrn von G***. Neue, sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Braunschweig 1769, S. 82–106. 640 Im Aesopus Dorpii sind etwa alle Deutungen der Fabeln von Goudanus, Barlandus sowie Erasmus von Rotterdam mit der Einleitung Morale abgesetzt. Die Kennzeichnung und Benennung des Auslegungsteils ist autor- und nicht epochenspezifisch. Zeitgenössische Beispiele gibt es in volkssprachlichen Fabelsammlungen genug, erinnert sei nur an das „hec fabula testatur“, das Steinhöwel in seinen Fabeln widergibt und mit „als dise fabel bezüget“ übersetzt (Steinhöwels Äsop, S. 115 f.). Erasmus Alberus nennt den Fabelteil nach dem Alinea-Zeichen explizit „Morale“  

278

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Die zahlreichen, sehr wohl dem Ideal der brevitas und perspicuitas entsprechenden Fabeln vornehmlich in den ersten drei Büchern zeigen, dass Waldis diese Form der Fabel beherrscht. Er beschränkt sich nur nicht mehr darauf. Zum Register des Fabelautors Waldis zählen auch Verfahren der ‚Sinnsicherung‘.641 Mit diesem Begriff wird bei Grubmüller die Tätigkeit des Fabelautors umschrieben, der eine einzige Lehre aus der Erzählung extrahieren und stabilisieren möchte. Dessen Chance, den von ihm gemeinten Sinn bei jeweils erneuter Verwendung seines Textes zu sichern, liegt in der expliziten Kommentierung seines Textes. Die Fabel hat wie ähnliche Formen bildhaft-didaktischer Rede (Bîspel und Märe z. B.) das Instrument des Epimythions ausgebildet.642  

Festgehalten ist von Grubmüller zwar auch, dass dieser ‚Fabelkommentar‘ wiederum vom Autor nicht beabsichtigte ‚Sinnpotenziale‘ enthalten kann: „Es versteht sich, daß auch darin nur ein relatives Steuerungsinstrument für die Textrezeption liegen kann, denn auch dieser Kommentar ist Text und liefert somit erst noch zu aktualisierende Sinnpotentiale“. Die Vorstellung von der ‚Sinnsicherung‘ benötigt aber ein bestimmtes Autorbild, das voraussetzt, dass der Autor dem Rezipienten nur eine einzige Lehre anbieten will. Dafür muss ausgeblendet werden, dass es auch in der Absicht des Autors liegen kann, mehrere Möglichkeiten der Deutung dem Leser vor Augen zu führen, Möglichkeiten, die sich auch widersprechen können. Sinnsicherung ist in den esopischen Fabeln durchaus gegeben, allerdings ist diese als eine Möglichkeit der Sinnproduktion zu verstehen. Dies geschieht beispielsweise, indem auf den Lehrsatz weitere Elemente wie Sprichwörter, Antike Zitate, Bibelzitate oder Rede des Sprecher-Ichs folgen, die den in der Aussage des Lehrsatzes fixierten Sinn stützen. Auf andere Formen der Sinnsicherung, etwa peritextuell durch Überschriften oder Marginalien verzichtet Waldis im Esopus. Auffällig ist, dass er in seiner Flugschrift Ein warhafftige Historien von zweyen Mewssen, die fünf Jahre vor dem Esopus erschien, intensiv die Möglichkeit nutzt, mit verschiedenen Mitteln einen Sinn zu sichern. Um die unterschiedliche Gestaltung der Flugschriftfabeln und die mit ihr einhergehenden Konsequenzen für den ‚Sinn‘ der Fabel zu verdeutlichen, ist es von vonnöten, stichprobenartig auf zumindest eine von drei Fabeln, die in der Flugschrift erschienen sind, einzugehen. Die Untersuchung ihrer Gestaltung erlaubt erstens einen Einblick in die und erklärt in der ersten Fabel „Morale/ das ist/ Der verstandt dieser Fabel“ (Alberus: Fabeln, S. 44). 641 Grubmüller: Pragmatik, S. 476 f. 642 Ebd.  

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

279

Bearbeitung von Fabeln durch Waldis, da die Flugschrift drei Fabeln wiedergibt, die später als IV 7; IV 95 und IV 99 leicht verändert in den Esopus aufgenommen wurden, und zweitens zeigt diese Bearbeitung eine vom Autor selbst intendierte Alternative zur Gestaltung der Affabulationes im Esopus auf. Die Fabeln in der Flugschrift sind gegenüber den Bearbeitungen im Esopus inhaltlich leicht verändert und mit Peritexten ausgestattet, die den gleichen Sinn mehrfach auf verschiedene Art sichern.643 Exemplarisch für den formalen Aufbau der drei Fabeln in der Flugschrift sei die Struktur der ersten Fabel näher erläutert. In der Überschrift Von einem Pawren/ vnd von einem Lindtworm ist dem Hinweis auf die Protagonisten das Thema der Fabelerzählung und damit ein Sinnangebot vorangestellt: Wie die Welt alle wolthat mit vndanckbarkeit pflegt zu bezalen.644 Der Anfang der Fabelhandlung ist von weiteren Formen der Sinnsicherung umgeben. Nach dem Titel folgen fünf der Narratio übergeordnete und abgesetzte lateinische Verse mit der Einleitung „Argumentum sequentis fabulae“.645 Links neben dem Erzähleingang ist eine lateinische Marginalie beigegeben, in welcher über ein lateinisches Zitat eine lehrsatzhafte Äußerung wiedergegeben wird.646 Im Druck von 1543 verläuft die Marginalie entlang der ersten sechs Verse der Fabelerzählung und bildet mit dem darüberstehenden lateinischen ‚Argumentum‘ lateinische Sinnangebote, die im Lesefluss von oben nach unten und von links nach rechts, vor der Lektüre des deutschsprachigen Fabeltextes wahrgenommen werden. Ein Verstehen und Interpretieren der lateinischen Anmerkungen kann dann bereits die Wahrnehmung der Fabelerzählung im Leseprozess steuern. Das unausgewiesene Zitat: „Omnia sunt ingrata nihil fecisse benigne est“ ist im 73. Gedicht von Catull nachweisbar.647 In der Bearbeitung, die später als IV 99 Vom 643 Eine Edition der drei Fabeln ist in Esopus. Bd. 2, S. 368–392 enthalten. In der Flugschrift ist eine weitere Textsorte integriert, eine Satire. Den Fabeln vorangestellt ist die satirische Erzählung, wie ein Konzil einberufen worden sei, weil zwei Mäuse in „Dttenberge bey Wetzfalar“ Hostien gefressen hätten und nun verurteilt werden sollen. 644 Esopus. Bd. 2, S. 368. 645 Ebd. 646 Siehe B[urkard] W[aldis]: Ein warhafftige Historien von zweyen Mewssen/ So die pfaffen jm Düttenberge bey Wetzfalar haben verbrennen lassen/ Darumb das sie ein Monstrantzen Sacrament gefressen hetten. Item. Drey schoner newer Fabeln. o.O. 1542. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° P.o. germ. 213k, ohne Zählung. Ich beziehe mich an dieser Stelle, da mir die peritextuelle Anordnung wichtig ist, auf den Druck von 1543. Die Edition gibt zwar den Text mit korrekter Absetzung des lateinischen ‚Argumentums‘ wieder, die Marginalie ist hier, dem abweichenden Layout geschuldet, rechts vom Fabeltext in zwei Zeilen angeordnet. Die Ausgabe gibt damit nicht den im historischen Druck intendierten Lese- und Wahrnehmungsprozess der lateinischen Sinnangebote wieder. 647 „Desine de quoquam quicquam bene velle mereri | aut aliquem fieri posse putare pium. | omnia sunt ingrata, nihil fecisse benigne | immo etiam taedet obestque magis; | ut

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Bawren/ Lindtwurm/ Pferd/ Hundt vnd Fuchß im Esopus zu finden ist, fehlen sowohl die vorangestellte Deutung im Titel, das ‚Argumentum‘ wie auch die Marginalie. Mit dieser Gestaltung und peritextuellen Ausstattung der Fabeln im Esopus entscheidet sich Waldis für eine homogene Erscheinungsform der Fabel. Sie ist allen anderen in der peritextuellen Ausstattung angeglichen. In der Konsequenz davon entscheidet er sich zugleich gegen einen Fabeltyp, der dem Leser in mehrfacher Weise einen Sinn präsentiert, der durch die geschilderten Formen der Sinnsicherung die Fabelerzählung formal und inhaltlich rahmend umfasst. Stattdessen wird die Deutung der Fabelerzählung im Esopus mit einem aussageneutralen Alinea-Zeichen graphisch markiert, das in der früheren Fassung der Flugschrift fehlt. Der Verzicht von Waldis auf eine eigene Benennung des zweiten Fabelbestandteiles macht auf ein weiteres Problem in der Untersuchung desselben aufmerksam, die in der Fabelforschung häufig zu findende Bezeichnung desselben als ‚Epimythion‘. Dieser Konvention folgt etwa auch Lieb. Zugleich findet in seinem Begriffsinventar der komplementäre Begriff des ‚Promythions‘ Verwendung.648 Geeigneter, um den zweiten Fabelteil der esopischen Fabeln zu beschreiben – der in der Forschung mit den Begriffen ‚Kommentar‘ ‚Lehre‘ oder ‚Deutung‘ bezeichnet wird –, erscheint mir der Begriff ‚Affabulatio‘. Er entstammt einem

mihi, quem nemo gravius nec acerbius urget, | quam modo qui me unum atque unicum amicum habuit“, siehe C. Valerius Catullus: Carmina. Gedichte. Lateinisch – deutsch. Übersetzt und hg. von Niklas Holzberg. Düsseldorf 2009 (Sammlung Tusculum), S. 166; die Übersetzung nach Holzberg auf S. 167: „Hör auf, dich um irgend jemanden irgendwie verdient machen zu wollen | oder zu glauben, irgendwer könne loyal werden. | Alles ist undankbar, wohltätig gehandelt zu haben nützt | nichts, ja schafft sogar Überdruß und schadet überdies, | wie mir, dem niemand heftiger und härter zusetzt | als der, der mich eben noch als einzigen und einzigartigen Freund hatte“. 648 Zur Erläuterung der „Sprachregelungen“ siehe Lieb: Erzählen, S. 9, Anm. 1. Problematisch erscheint mir diese Verwendung der Begriffe, da diese einerseits mit ‚Promythion‘ einen der Fabelhandlung vorgelagerten, und damit einen auf der Ebene des ersten Fabelteils liegenden Eingang meint. Es wird damit suggeriert, dass Informationen im Text, die dem Beginn der Fabelhandlung vorgelagert sind, unproblematisch und klar von diesem abgetrennt werden könnten. ‚Epimythion‘ bezeichnet bei Lieb den gesamten zweiten Teil der Fabel, ohne dass hierbei, wie im Falle von ‚Promythion‘ eine weitere Trennung innerhalb des Fabelteils vorgenommen wird. Die an sich komplementären Begriffe sind damit auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Aufzugeben ist der Begriff auch, um zu vermeiden, dass damit Assoziationen aus der Märenforschung aufgenommen werden, in welcher dieser Begriff gebräuchlich geworden ist, um Aussagen über die literarische Tätigkeit sowie lehrhafte Äußerungen am Ende von Mären zu bezeichnen. Würde man allein ‚Promythion‘ aus der Begrifflichkeit streichen und den Sprachgebrauch im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse auf die alleinige Benutzung von ‚Epimythion‘ reduzieren, bliebe dies dennoch die Verwendung eines Begriffes, der seinen Ursprung in der Vorstellung einer zweiteiligen Struktur hat.

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

281

Kapitel über die Fabel von Priscian.649 Es handelt sich um die lateinische Übersetzung des Begriffes ‚Epimythion‘, und teilt sich mit diesem die Bedeutung ‚Hinzugefügtes‘.650 Mögen beide Termini den gleichen Sachverhalt bezeichnen, so besteht der Vorteil des Begriffes ‚Affabulatio‘ darin, dass er forschungsgeschichtlich unbelastet ist. In Fabelpoetiken ist er nur punktuell nachweisbar, und was den Inhalt oder die Struktur des damit bezeichneten Fabelteils betrifft, semantisch unbesetzt. Dies macht ihn ideal für die Analyse des zweiten Teils der esopischen Fabeln. Er erfasst die verschiedenartigen Elemente, Argumentationsverfahren und erlaubt die Beschreibung von pluralem Sinnangebot. Als problematisch erweisen sich hingegen die Begriffe ‚Morale‘, ‚Moral‘, oder ‚Lehre‘, da ihnen eine Vorstellung von Fabeldeutung zugrunde liegt, die darauf beruht, dass ein einziger, aus der Fabelhandlung ‚extrahierter‘ Sinn in einer Deutung wiedergegeben werde: Wie konstituiert sich der Sinn der Fabel? Ich vereinfache: aus der Handlung und der Deutung, die der Autor ihr gibt. Ich darf so vereinfachen, weil eben dies als ein weiteres, oft als das herausstechende Merkmal der Gattung Fabel gilt: daß der Autor das Gemeinte nicht in Handlungs- oder Bildkonstellationen, sondern in einer ausdrücklichen Wendung an den Leser expliziert: als Nutzanwendung, Lehre, als fabula docet.651

‚Deutung‘ oder ‚Auslegung‘ sind semantisch zwar offener, implizieren jedoch, dass die Bedeutung der Fabelhandlung von vornherein im Mittelpunkt der Affabulatio steht. Stattdessen muss die Analyse von ‚Sinnkonstitution‘ auch andere Möglichkeiten der Sinnproduktion in den Blick nehmen. Die oben wiedergegebene Definition geht von einem Paradigma der einfachen Fabel aus, bei welchem auf einen kurzen Fabeltext eine einsinnige Deutung in Form eines kurzen Lehrsatzes folgt. Die ‚Sinnproduktion‘ der Affabulatio ist aber erstens danach zu unterscheiden, ob in der Affabulatio überhaupt eine Relation zur Fabelerzählung hergestellt wird oder nicht. Es ist also darauf zu achten, ob eine ‚Sinnexplikation‘ vorhanden ist, die auf Elementen der Fabelerzählung beruht.652 Wie oben bereits

649 Aus dem lateinischen Original: „sed oratio qua utilitas fabulae retegitur, quam epimythion vocant, quod nos affabulationem possumus dicere, a quibusdam prima, sed a plerisque rationabilius postrema ponitur“, siehe Praeexercitamina. De Fabula. In: Heinrich Keil: Grammatici Latini. Bd. 3: Prisciani Institutionum Grammaticarum Libri XIII–XVIII. Leipzig 1859, S. 430 f. 650 Siehe Ibolya Tar: Promythion/Epimythion. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7: Pos–Rhet. Hg. von Gert Ueding u. a. Tübingen 2005, Sp. 210–212. 651 Grubmüller: Pragmatik, S. 476. 652 ‚Sinnexplikation‘ meint, ausgehend vom lat. explicare, im Deutschen ‚auseinanderfalten, erklären, näher erläutern, darlegen, auseinandersetzen‘, den Vorgang der Deutung, in der ein Sinn, der aus der Fabelerzählung ‚herausgezogen‘ wird, dargelegt und entwickelt wird. ‚Sinnextraktion‘ beschreibt den Umstand, dass ein Sinn aus der Fabelerzählung ‚gezogen‘ wird.  



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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

erwähnt wurde, lassen sich hierbei je nachdem, ob etwa eine Wahrheit in einer Tiergeschichte gefunden werden muss oder ob bei einer Erzählung mit rein menschlichem Personal ein Einzelfall verallgemeinert wird, „zwei Methoden der Sinnproduktion unterscheiden, die man tendenziell ‚integumental‘ und ‚exemplarisch‘ nennen könnte“.653 Demgegenüber kann bei der Sinnproduktion aber auch auf eine Anbindung an oder Bezugnahme auf die Fabelerzählung verzichtet werden. Stattdessen kann eine ‚Sinnstiftung‘ vorgenommen werden. Hierbei wird ein Sinn ‚gestiftet‘, der mit der Fabelerzählung in keiner direkten Verbindung steht. Alle Formen der Sinnproduktion können zusätzlich durch fabelfremde Elemente ausgeführt und erweitert werden. Bestimmte Gattungsvorstellungen, wie sie anhand der klassischen äsopischen Fabel entwickelt wurden, sind für die Fabel der Frühen Neuzeit auch in Bezug auf den Umgang mit der Auslegung der Fabel aufzugeben. So etwa die von Grubmüller postulierte „demonstrative Irrealität“ und die Extraktion eines Sinnes: „Kennzeichen der Fabelkonstruktion ist ihre demonstrative Irrealität, die sogleich signalisiert, daß das Augenmerk auf die Extraktion des Sinnes aus der Geschichte zu richten ist“.654 Waldis baut in die Affabulatio neben dem traditionellen Lehrsatz weitere Elemente ein, die nicht nur einer ‚Sinnextraktion‘ untergeordnet sind, sondern zugleich weiteres Textmaterial und Sinnpotenzial zur Auslegung liefern. Durch Bibelzitate oder etwa Exempelgeschichten wird Sinnpotenzial in die Affabulatio eingeführt, das vom Sinnpotenzial der Fabelhandlung abweichen kann. Die Möglichkeiten, wie die Fabel zu deuten ist, werden erweitert. So wenig wie sich ein einheitliches Fabelverständnis in den Fabelsammlungen der Frühen Neuzeit nachweisen lässt, so wenig hilfreich, wenn nicht sogar hinderlich für die wissenschaftliche Analyse von esopischen Fabeln ist die Vorannahme einer einfachen ‚Sinnextraktion‘ oder einer schlichten ‚Sinnsicherung‘. Eine solche Gattungsvorstellung kann sogar dafür sorgen, dass die Augen vor den spezifischen Gegebenheiten insbesondere bei Waldis, aber auch bei anderen Autoren frühneuzeitlicher Fabeln, verschlossen werden.655 Stärker als in den Narrationes nutzt

653 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 136. 654 Grubmüller: Fabel2, S. 556. 655 Es mag nicht überraschen, dass die für eine klare Gattungsdefinition problematischen Fabelsammlungen auch aus den Untersuchungen zu einem zeitübergreifenden Gattungsbegriff ‚herausfallen‘ können. Dies zeigt sich etwa bei der Auswahl der herangezogenen Beispiele einer Fabelpoetik zu Beginn von Grubmüllers Forschungsbeitrag zur Pragmatik der Fabel. Ausgewählt werden von ihm Teile von Steinhöwels Wiedergabe einer Fabeldefinition sowie als „beliebiges Beispiel“ die Erklärung, was ein ‚Apologus‘ sei, des Jesuitenpredigers Wolfgang Rauscher aus dem Jahr 1690. Beide Fabeldefinitionen decken sich mit dem Fabelideal, wie er aus klassischen Fabeln generalisiert werden kann. Suggeriert wird damit, dass in den zwei Jahrhunderten dazwischen keine in Bezug auf eine solch verengende Definition problematischen Fabeln entstan-

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

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Waldis in seinen Affabulationes Erzähl- und Argumentationsverfahren, die zu Sinnpluralität führen können. Statt nur einen Sinn zu ‚sichern‘, werden dem Leser in vielen Affabulationes jeweils mehrere Sinnangebote präsentiert. Diese Sinnangebote können sich gegenseitig stützen, also mehrfache Eindeutigkeit erzeugen, es kann aber die Mehrdeutigkeit einer Fabelerzählung ausgestellt werden.656 Diese Sinnangebote erfolgen etwa in Form von Wertungen eines SprecherIchs, das explizit eine Deutung formuliert. Ergänzt oder ersetzt werden diese mitunter durch Bibelzitate, die eine geistliche Sinnebene in die Affabulatio tragen. Durch eine lange und ausdifferenzierte Tradition der Bibelauslegung können diese zugleich über ihren Wortsinn hinaus weiteres Sinnpotenzial transportieren. Sinnangebote, die sich bevorzugt auf den Bereich des Weltlichen und Säkularen beziehen, finden sich in der Nennung von und im Abgleich der Narratio sowie ihrer Sinnangebote mit ‚Erfahrung‘. Dies geschieht vor allem, indem sich ein Sprecher-Ich zu Wort meldet. Dessen Aussagen wurden in früheren Forschungsbeiträgen häufig als autobiographische Aussagen von Burkard Waldis gewertet. So haben die Ereignisse der in IV 24 geschilderten Romreise, etwa das Treffen mit Achatius von der Trenck, oder die Anwesenheit bei einem Reichstag, auf dem Kardinal Campeggio gesprochen haben soll, als Station in biographischen Darstellungen des Autors Eingang gefunden. Daneben ordnet sich das Sprecher-Ich einem ‚wir‘-Kollektiv ein, in welches der Leser miteingeschlossen wird. Deren gemeinsame ‚Erfahrung‘, Normen und Werte werden aufgerufen und zum Vergleich mit den Erzählungen genutzt. Antikenzitate werden, sofern sie als Zitate ausgewiesen sind, zu Sinnangeboten, die mit Autorität der ‚Alten‘ und Geltung aufgeladen sind. Sie ermöglichen einen Vergleich mit Zuständen, die für die Vergangenheit postuliert werden und können auf weitere Möglichkeiten der Deutung aufmerksam machen. Der punktuell immer wieder aufgerufene Zeitraum des Vergangenen bleibt ohne Details und reicht nahezu an die Gegenwart des Lesers heran. Historische und biblische Exempelfiguren treten neben die Wiedergabe zeitgenössischer Zeugnisse wie Lieder. In Form von Phraseologismen finden Redensarten und Sprichwörter, sprichwörtlich gewordene Bibel- und Antikenzitate, Eingang in die Fabeln.657 Nicht immer mit dem Verweis auf ihre schriftliche Quelle, mitunter auch als ursprünglich mündlich ausgewiesen, vermischen sich hierbei die Bereiche von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Auch vom Sprecher-Ich

den seien. Der Esopus ist natürlich ein klares Gegenbeispiel, auch bietet Luther mehrfache Fabeldeutungen an und Alberus erweitert die Moralia seiner Fabeln mit Marginalien, lateinischen und griechischen Versen, mit Sprichwörtern und Bibelzitaten. 656 Dies ist etwa der Fall in der Affabulatio von II 31. 657 Für eine ausführliche Darstellung der Elemente in der Affabulatio, siehe das Kapitel „Elemente der Affabulatio“.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

gehörte, gelesene und sogar erlebte Geschichten finden Eingang in die Narrationes wie Affabulationes. Sinnangebote, wie sie in den Affabulationes in all ihrer Vielfalt auftreten, können hierbei auch das Sinnpotenzial der Fabelerzählung erweitern, indem in die Wiedergabe der Fabelhandlung handlungsunabhängige Sinnangebote eingebaut werden. Neben eventuelle Situierungen der Fabelhandlung finden durch Erzähler- und Figurenrede die bereits genannten Möglichkeiten an Sinnangebot Aufnahme auch in die Narratio. Figuren gebrauchen Redensarten oder werden zu Binnenerzählern. Fabelfiguren können selbst auf ihr allegorisches Auslegungspotenzial hinweisen (so die Ameise in I 30 von der Fliegen vnnd der Ameyssen: „Mein that all menschen zur arbeit weißt | Derhalben mich die Schrifft auch preißt“ [I 30,31 f.]) oder auch die aktuellen Geschehnisse der Fabelhandlung mit ihrer eigenen ‚Erfahrung‘ abgleichen. In der Figurenrede können die Formen von Sinnangeboten auch in listiger Absicht als Lüge funktionalisiert werden (so besonders anschaulich im Monolog des Fuchses in IV 2, 32–156). Die Einarbeitung von solchen Formen von Sinnangeboten komplexisiert schon die Wiedergabe einer einzelnen Fabelhandlung und der angeschlossenen Affabulatio. Die Sammlung von 400 Fabeln potenziert darüber hinaus diese Sinnangebote, da einer einzelnen Fabel im kontinuierlichen Leseprozess im unmittelbaren Umfeld ein Kontext durch die voran- und nachgestellten Fabeln gegeben wird, der über motivliche oder thematische Parallelen eine Zusammenschau dieser Fabeln stiften und stützen kann. Auch werden die Fabeln über explizite Verbindungen sowie fragile Verknüpfungsmöglichkeiten durch Mehrfachverwendungen von Zitaten oder Sprichwörtern über den unmittelbaren Kontext hinaus verbunden. Suchte man nun nach einem einzig geltenden Sinn einer Fabel, erscheint ein solch plurales Sinnangebot veruneindeutigend und überschüssig. Es ist daher stattdessen nach den Verfahren der Sinnkonstitution zu fragen, mithilfe derer die Elemente in der Affabulatio wirksam werden. Die vergleichende Untersuchung von Vorlage und Bearbeitung zeigt, dass Waldis bereits traditionelle äsopische Fabelstoffe auf spezifische Weise bearbeitet. Sowohl die den Umfang erweiternde Bearbeitung eines Elementes wie auch die Aneinanderreihung mehrerer Elemente bewirken eine Ausdehnung der Affabulatio. In einer Affabulatio mit mehreren Elementen müssen diese nicht alle Teil einer Deutung bzw. einer Argumentation sein. Akkumuliert werden in den Affabulationes auch mehrere in sich geschlossene Deutungen mit je eigenständigem Sinnangebot. Auf die mitunter damit einhergehende Ketten- bzw. Netzbildung von Elementen und Fabeln wird – wie auch ausführlicher auf die hier nur kursorisch aufgeführten verschiedenen Verfahren, so beispielsweise die mehrfache Bezugnahme auf die Fabelerzählung – im Kapitel zu Verfahren in der Affabulatio ausführlich eingegangen. Untersucht man die Relation, in welche die verschiedenen Elemente zueinander  

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

285

treten, so zeigt sich, dass sich diese nicht immer stützen oder gegenseitig bestätigen müssen. Sie können ebenso in Spannung zueinander treten oder sich sogar widersprechen. Ein spannungsvolles Verhältnis kann hierbei weiteres Sinnpotenzial schaffen, indem etwa die Reibung zweier Sinnangebote oder dadurch entstehende Widersprüche selbst zum sinnstiftenden Moment werden. Methodisch ist die Forschung auf diese Vielfalt an Sinnangeboten bisher allenfalls punktuell eingegangen, indem philologische Kataloge beispielsweise von nachweisbaren Phraseologismen und Zitaten angefertigt wurden.658 So hilfreich diese Übersichten der nachweisbaren Phraseologismen und Zitate auch sind, so stellen sie erst die Grundlage für eine Interpretation der Fabeln, die auch die Funktionalisierung solcher Textbestandteile berücksichtigt und falls gegeben, die Beziehung zu anderen Sinnangeboten in der gleichen Affabulatio miteinbezieht. Mit dem Nachweis und der literaturhistorischen Einordnung der von Waldis benutzten Bibelstellen, Redensarten, Antikenzitate usw. konzentrierte sich die Forschung stark auf die Ebene des Autors. Im Zentrum standen die Fragen nach den vom Autor rezipierten Quellen und die zitierten Autoritäten, die zur Herstellung des Textes von Waldis benutzt wurden. Bei der Fabel handelt es sich aber um eine literarische Gattung, bei der aufgrund des traditionellen, didaktischen Anspruchs häufig der Nutzen der Textsorte für den Leser betont wird. Eine Analyse von Fabeln hat daher stets auch nach der möglichen Rezeption der Texte zu fragen. Waldis gibt aber im Gegensatz zu Steinhöwel, Luther oder Erasmus Alberus keine Anweisungen, wie seine Fabeln zu verstehen seien. Im Gegenteil: was die Fabeln nutzes oder frchte bey sich haben/ alhie anzuzeigen/ acht ich fr vnntig/ weils frhin in andern Bchern gnugsam dargethan/ vnd wird ein jeglicher fleißiger Leser selbst mit der zeit wol empfinden (Vorrede, Z. 25–28).

658 Ein erster Schritt bestand hierbei in der positivistischen Forschung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die vor allem der Frage nach den Vorlagen mehr oder weniger erfolgreich nachgegangen ist. Hervorzuheben sind hierbei die Arbeiten von Arthur Ludwig Stiefel und die Bemühungen der Herausgeber der älteren, mittlerweile obsolet gewordenen Ausgaben von 1862 (Heinrich Kurz) und 1882 (Julius Tittmann). Auf die 1866 publizierte Sprichwortsammlung von Sandvoss wurde bereits hingewiesen, siehe Sandvoss: Sprichwörterlese. Kataloge zu geographischen Orten und Räumen sowie historischen Daten in den esopischen Fabeln finden sich auch bei Lieb: Erzählen, S. 211–215. Sehr hilfreich sind dabei der umfangreiche Stellenkommentar, der die aktuellste und präziseste Sammlung und teilweise Wiedergabe der Vorlagen enthält, und die im zweiten Band der Esopus-Edition versammelten Register zu Bibelstellen (S. 395–397), zu Zitaten aus antiken Schriften (S. 398) und zu Phraseologismen wie Sprichwörter, Redensarten u.Ä. (S. 399–418).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Die Abgabe der Deutungshoheit an den eigenständigen Rezipienten ist Teil einer Entwicklung, die seit Beginn des Buchdrucks immer mehr an Bedeutung zugenommen hatte und die Auswirkungen auf die Gemachtheit und Rezeption von Fabeln hat. Schon mit der Verschriftlichung von Fabeln werden diese ihren, falls überhaupt nachweisbaren, ursprünglichen mündlichen unmittelbaren Kommunikationsbedingungen entrissen. Mit dem anonymen Leser wird nun die Fabel in der Sammlung endgültig in eine dem Autor unbekannte Gebrauchssituation entlassen. Die von Gerd Dicke für die Inkunabelzeit und damit für den Druck von Steinhöwels Äsop konstatierte „längere[…] Einübungs- und Eingewöhnungsphase in die für die Druckverbreitung eines Textes unabdingbaren literarischen Vermittlungsweisen“ und die damit verbundene „Hinwendung zu der vom neuen Medium erforderten anonymen Öffentlichkeit“659 kann für Mitte des 16. Jahrhunderts, zumindest der Vorrede im Esopus nach, als abgeschlossen gelten. Es ist ein „Leser“, dem die Eigenlektüre im Esopus an die Hand gegeben ist (Vorrede, Z. 28). Poetologische Äußerungen zur Gattung Fabel finden sich „in andern Bchern gnugsam dargethan“ (Vorrede, Z. 27). Ein Leser könnte sich dort auch selbst informieren. Er wird vom Autor daran erinnert, dass, sollte er im Esopus nicht finden, was er erwarte, oder würde er einen Mangel feststellen, er andere Bücher zu Rate ziehen könne. Neuartig ist die in der Fabel der Frühen Neuzeit beobachtbare Ausstattung mit zusätzlichem Sinnangebot und unterschiedlichen fabelfremden Elementen nicht. Das Beispiel der Überlieferung des Edelsteins von Ulrich Boner in der Münchner Handschrift cgm 3974 aus dem Kloster St. Emmeram in Regensburg aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die Grubmüller zur Untersuchung von ‚Elementen einer literarischen Gebrauchssituation‘ ausgiebig beleuchtet hat, verdeutlicht dies.660 Auf den Seiten 124r–213r werden die deutschsprachigen Fabeln Boners wiedergegeben.661 Diverse zusätzliche Sinnangebote rahmen die Bonerfabeln. Neben dem deutschen Text ist jeder einzelnen Fabel eine Illustration mit lateinischer Beschriftung beigegeben. Lateinische Querverweise verbinden den deutschen Text mit den jeweiligen lateinischen Vorlagen aus dem Anonymus Neveleti, der in der

659 Siehe Dicke: Steinhöwels ‚Esopus‘, S. 12, dort zu Steinhöwels hohem „Maß an Bewußtheit für die kommunikationsspezifischen Erfordernisse des neuen Überlieferungsträgers“. Dicke sieht als erfolgloses Gegenbeispiel die niedrige Anzahl an Drucken von Boners Edelstein – es erschien lediglich ein zweiter Druck im Gegensatz zur zahlreichen handschriftlichen Verbreitung des Werkes – darin begründet, dass sie „ohne textlich eigens für ihn [den Druck] eingerichtet worden zu sein“ (ebd.), auf den Buchmarkt kamen. 660 Grubmüller: Elemente, S. 139–159. 661 Ich folge in der Seitenangabe Grubmüller, der sich auf die moderne Foliierung bezieht, siehe ebd., S. 143, Anm. 7.

4.1 Zum ‚Sinn‘ der Fabel

287

Handschrift auf den Seiten 216ra–234vb mit einem Kommentar ausgestattet niedergeschrieben ist. Die Zählung der Fabel, das Incipit der entsprechenden Fabel und die Nennung der Blattzahl bilden einen vom Kommentator der Handschrift nachträglich aufgesetzten Verweis. Die dortige Glossierung der lateinischen Fabeln bereichert durch die intertextuelle Verknüpfung das Sinnpotenzial der deutschen Fabel. Peritextuelle Sinnangebote bieten die lateinischen Hinweise auf ein (mögliches) „Auslegungsziel (vtilitas, fructus)“ sowie weitere kommentierende lateinische und deutsche Anmerkungen, vor allem a) Bemerkungen aus dem lateinischen Kommentar, b) lateinische Sprichwörter, c) deutsche Sprichwörter, d) deutsche Verse, die aus dem Boner-Text ausgezogen oder durch Wiederholung neben dem Schriftspiegel hervorgehoben oder der Illustration kommentierend zugefügt sind.662

Der cgm 3974 ist ein spätmittelalterliches Zeugnis dafür, wie ein schriftlich fixierter Fabeltext von einer Vielfalt an Sinnangeboten umgeben sein kann. Anders als Grubmüller, der die Randkommentare als festgelegte ‚Regeln‘ für die Deutung der Fabeln interpretiert,663 können diese auch als Möglichkeiten von Sinnangeboten gesehen werden, aus denen ein Benutzer der Handschrift frei wählen konnte. Die peritextuelle Ausstattung der Bonerfabeln führt vor Augen, dass einem schriftlich fixierten Fabeltext bereits in Handschriften ein größeres Angebot an Sinnextraktionen und -stiftungen zur Seite stehen konnte. Anders als im Druck ist jedoch von einem Benutzer auszugehen, der nicht der endgültige Rezipient der Fabel war, sondern über seine Vermittlungsfunktion als Gelehrter eine Deutungsautorität darstellte. Für die konkrete Anwendung etwa in einem Vortrag, sei es in einer Predigt oder im Schulunterricht, konnte ein gelehrtklerikaler Benutzer je nach Wirkungsabsicht auf mehr oder weniger Sinnangebote zurückgreifen, um die Lehre, die er vermitteln wollte, zu verdeutlichen und im Rahmen einer mündlichen Kommunikation flexibel anzupassen. Die frühneuzeitliche Fabelsammlung von Waldis unterscheidet sich bedeutsam von der spätmittelalterlichen Handschrift hinsichtlich der Vermittlung von Fabeln. Als spezifisch für den Esopus erweist sich u. a. die Verbindung von pluralen Sinnangeboten mit einer zugleich inszenierten Abgabe der Sinnextrakti 

662 Ebd., S. 146, dort sind die verschiedenen Erweiterungen der Bonerfabeln ausführlich dokumentiert. Untersucht werden diese Elemente auf den S. 147–152 anhand der achten Fabel vom Löwenanteil (131v–132v). 663 „In der Verbindung von Text, Vorlage und Kommentar ergeben sich durch die suggestive Art der Darbietung Regeln für die Anwendung jeder einzelnen Fabel aus einer Auswahl von abgelaufenen Anwendungsfällen: die fructus- und utilitas-Angaben der Kommentare legen die Richtung fest, in der jeweils die belehrende und ‚bessernde‘ Wirkung einer Fabel erwartet werden soll“ (ebd., S. 157).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

on.664 Diese Aufgabe haben nicht mehr die im Lehren Geübten, die „Gelerten“ inne. Sie dient zwar immer noch der „frderung“ der Ungelehrten, „der lieben Jugent/ Knaben vnd Junckfrawen“ (Vorrede, Z. 29 f.), ist aber ausdrücklich diesen überlassen.665 Der Vorgang, den Nutzen aus der Fabel zu ziehen, wird an den Leser abgegeben. Die hier vom Autor formulierte Trennung in zwei potenzielle Rezipientengruppen, macht auf ein Problem bei der Beurteilung der möglichen Rezeption der Sinnangebote in den Affabulationes aufmerksam. Viele der von Waldis eingefügten Zitate sind unmarkiert, aber sie transportieren natürlich auch wenn man den ursprünglichen Kontext nicht kennt, eine eigenständige Aussage. Wird das Zitat als ein Zitat erkannt, kann sich durch das Verständnis, dass es sich um ein Zitat handelt, und dem Miteinbezug des erkannten Kontextes ein weiteres Sinnpotenzial ergeben. Beispielsweise können bei einem Bibelzitat der Kontext der Bibelstelle oder auch Deutungen der Bibelstelle, die etwa auch Luther in seiner Bibelübersetzung einem Leser bietet, in das Sinnpotenzial der Affabulatio miteinfließen. Der Status der eingearbeiteten Sinnangebote, ob unaufgedeckt oder als Zitat ausgewiesen, stellt somit im Rezeptionsprozess der Fabel einen weiteren Grad an Komplexisierung dar. In der Zusammenschau der verschiedenen Formen von Sinnangeboten (Lehrsatz, Sprichwort, ‚Erfahrung‘, Bibelstellen, Sprecher-Ich u. a.) und den Formen, in welchen sie dem Leser präsentiert werden (ausgewiesen oder unmarkiert, als ursprünglich mündlich oder schriftliche Quelle, Rede einer Figur oder des Sprecher-Ichs etc.) ergibt sich in den Fabeln von Waldis für einen Rezipienten ein breites Spektrum an Sinnpotenzialen und Deutungsmöglichkeiten. Eine den esopischen Fabeln angemessene Analyse hat daher das Sinnpotenzial der Fabelerzählung ebenso zu berücksichtigen wie die Relation der Fabelerzählung zur Affabulatio sowie die Sinnproduktion unter Berücksichtigung der Sinnangebote, der verwendeten Elemente und Argumentationsverfahren in der Affabulatio.  



664 „[V]nd wird ein jeglicher fleißiger Leser selbst mit der zeit wol empfinden“ (Vorrede, Z. 28). 665 Die Ablehnung der Gelehrten als die nicht erwünschten Rezipienten kann in Anlehnung an das Sprichwort ‚Die Gelehrten, die Verkehrten‘ auch als unter den Reformatoren verbreitete Polemik wahrgenommen werden, zu dieser Wendung siehe Carlos Gilly: Das Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. In: Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel Cinquecento. Hg. von Antonio Rotondò. Florenz 1991 (Studi e testi per la storia religiosa del cinquecento 2), S. 229–375, besonders S. 272–325.

4.2 Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘

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4.2 Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘ In den Ich-Aussagen zur literarischen Tätigkeit in der Vorrede zeichnet Waldis für die Deutungen der letzten hundert Fabeln verantwortlich: „zu dem hab ich noch ein Hundert Newer Fabeln/ auch in ein sonderlich Buch/ mit jrer kurtzen deutung hinan gesatzt“ (Vorrede, Z. 22 f.). Am Ende der Sammlung wird dieser Anspruch wiederholt. So wird Burcardus Waldis als derjenige genannt,  

Der dis Gedicht von endt zu ort Beyd alt vnd new gemachte Fabeln Mit deutung/ gleichnuß/ vnd Parabeln Wie ers in dem Latin hat funden Zu Reim in kleine Bntel gbunden (IV 100,218–222).

Die Betonung der Deutungstätigkeit schafft eine Ähnlichkeit zwischen Waldis als Autor der Sammlung und der Darstellung Äsops im Leben Esopi, denn Äsops Begabung durch Fortuna beinhaltet gerade den Aspekt der Deutung: „Ward sich gros Weisheit in jm regen | Vnd Kunst die Fabeln aus zu legen“ (Leben Esopi, V. 109 f.). Nicht die Fähigkeit, Fabeln zu erzählen, sondern die Deutungskompetenz wird hervorgehoben. Die Kurzfassung der Vita im Esopus erzählt jedoch nicht von Äsop als Deuter. Erst gegen Ende der Vita werden, anstatt bekannte Schwänke aus dem Leben Äsops wiederzugeben, „etlich Sententz“ (Leben Esopi, V. 243) aneinandergereiht, die von Äsop überliefert und es wert seien, „das mans mit Reuerentz | Jn allen ehren acht vnd halt“ (Leben Esopi, V. 244 f.). Die als Beispiele aufgeführten Sentenzen sind „der gestalt“ (Leben Esopi, V. 246), dass es sich um Regeln zur Lebensführung mit allgemeingültigem Anspruch in ein bis zwei Versen handelt. So sei Gott über allen Dingen zu achten, der König zu ehren, wer einem Gutes tue, den solle man nicht verachten, mit Aussagen solle man sparsam sein, Geheimnisse seien Frauen nicht anzuvertrauen, lebenslanges Lernen sei ehrenvoll etc. Damit rücken nicht die Fabelerzählungen als Ziel der Lektüre in den Vordergrund, sondern das, was diese veranschaulichen, die „schne[n] Sprech“ und „viel ander heilsamer lahr“ (Leben Esopi, V. 257 f.). Während die wörtlich wiedergegebenen Sentenzen Äsops formal betrachtet als kurze Imperative, funktional als ‚konkrete Normanweisungen‘ gestaltet sind, werden in den Affabulationes der esopischen Fabeln mehrere Möglichkeiten vorgeführt, wie eine Erzählung gedeutet werden kann. Die Vielfalt der Möglichkeiten, eine Fabel zu erzählen und zu deuten, ist mitzudenken, wenn nicht die Rezeption einzelner Fabeln in Form einer punktuellen Lektüre vom Autor imaginiert oder durch den Aufbau der Sammlung unterstützt wird, sondern wenn sich Waldis einen „fleißige[n] Leser“ (Vorrede, Z. 28) vorstellt, dem sich der Nutzen der Fabeln „mit der zeit“ (Vorrede, Z. 28) im Prozess der Lektüre erschließt.  





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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Im Esopus wird auf eine Benennung des zweiten Fabelteils verzichtet, doch wird stets der an die Narratio angeschlossene Fabelteil graphisch von der Fabelerzählung mit einem Alinea-Zeichen abgetrennt. So wenig wie von einem Typ ‚Waldisfabel‘ gesprochen werden sollte, so wenig kann von einer wie auch immer näher zu bestimmenden Form der ‚Deutung‘ der Fabeln im Esopus ausgegangen werden. Um die Varianz dieses Fabelteils zu fassen, wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels der Begriff ‚Affabulatio‘ mit einer kurzen Definition eingeführt und für den zweiten Fabelteil angewandt. Im Folgenden stehen die Ausformungen der ‚Affabulatio‘ im Vordergrund, die in unterschiedlichen Kategorien individuell ausgeprägt sind und in der Gesamtschau ein Spektrum an Deutungsmöglichkeiten mit verschiedenen Elementen und Verfahren bilden. Dies zeigt sich bereits bei der Quantität, denn die brevitas klassischer Fabeln wird neben der Narratio auch in der Affabulatio nicht mehr eingehalten, der Umfang dieses Fabelteils variiert von vier Versen bis zu 178 Versen in IV 93. Über den Schreib- oder Argumentationsstil und den Inhalt der Affabulationes ist damit noch nichts ausgesagt. Dieser kann sich inhaltlich partikular auf die verschiedenen Bestandteile der Narratio beziehen, er kann sich aber auch verselbstständigen, indem verschiedene ursprünglich fabelfremde, sinnstiftende Elemente eingefügt werden, wie z. B. Sprichwörter, Bibel- und Antikenzitate. Besteht dabei schon die Möglichkeit, die Deutung zu vervielfältigen, erscheint das Sinnangebot vervielfältigt und unabgestimmt, wenn verschiedene Deutungen explizit und ohne klare Hierarchie nebeneinander stehen. Hierbei kann die Affabulatio sich vom Deuten der Ausgangserzählung entfernen und durch narrative Elemente wie Kleinerzählungen einen Kotext zur Narratio bilden. Die Autorität über die Deutung kann nicht mehr nur beim Sprecher-Ich liegen, Figurenrede oder die Nennung von Autoren, zeitgenössische wie historische, können in Konkurrenz dazu treten oder das Sprecher-Ich gleichsam verdrängen. Der Leser wird durch solche Prozesse an der Sinnproduktion der Fabel beteiligt. Die Affabulationes im Esopus sind geprägt von Grundannahmen über eine Welt, für die Waldis seine Fabeln schreibt. Die ‚Zeitlosigkeit‘ der äsopischen Fabel ist zwar teilweise noch gegeben, die Komplexitätssteigerung einfacher Fabelweisheiten ist aber eingebunden in die Wahrnehmung einer im Gegensatz zu früher veränderten und sich verändernden Welt. Die hier vorläufig nur angerissene Heterogenität und Vielschichtigkeit, die den zweiten Teil der Fabeln im Esopus auszeichnen, sind mit den traditionellen Begriffen der Fabelforschung nur ungenügend umschrieben, da diese häufig auf nur einen von mehreren möglichen Aspekten den Schwerpunkt legen. Das ‚fabula docet‘ der klassischen Fabel ist in der Fabelforschung als ‚Lehre‘ zum Signum für die Fabel schlechthin geworden. Die ‚Lehre‘, mit der eigentlich die Lehrfunktion  

4.2 Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘

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der Fabel umschrieben wird,666 ist zur literaturwissenschaftlichen Kategorie für den zweiten Teil der Fabel geworden. Die phrasenhafte Ankündigung einer Lehre in Form von: „Die Fabel lert“ (I 52,19) findet sich zwar auch im Esopus, aber nur in wenigen Fällen.667 Der Fabel werden darüber hinaus explizit weitere Funktionen zugeschrieben, wie das ‚Zeigen‘ bzw. ‚Anzeigen‘ von Sachverhalten.668 Anders als bei der Fabel, die lehrt, und damit eine Unterweisung oder Anweisung geben möchte, etwa in Form von kurzen Imperativen wie in II 40, 27 f.: „Die Fabel thut vns krtzlich leren | Wir solln vns von dem vnsern neren“, ist das ‚Anzeigen‘ wie das ‚Melden‘669 und das ‚Berichten‘670, gemeint ist die nüchterne Darstellung von Sachverhalten, nicht explizit mit der Aufforderung zur Nachahmung oder zur Vermeidung verknüpft:  

Es zeigt vns diese Fabel an Das offt mit schaden wirdt ein man Witzig/ darnach er baß zusicht Das jm der schad nicht mer geschicht (I 47,11–14).

Es kann sich, wie in diesem oben bereits näher besprochenen Beispiel, um Sachverhalte handeln, die den Status quo in der Welt beschreiben, aber auch um solche, die einen idealen Status beschreiben, der sein sollte.671 Die Fabel kann einen Rat beinhalten,672 ihr wird zugesprochen, warnen zu können673 und trostspendend zu wirken.674 An den antiken rhetorischen Gebrauch ist man erinnert, wenn der Fabel die Fähigkeit zugestanden wird, Sachverhalte zu differenzieren,675

666 Damit wird zurückgehend auf antike Rhetoriken die ‚Wirkungsfunktion‘ der Rede umschrieben. Während in der Antike aber die gleichberechtigten Möglichkeiten von docere, delectare und movere nebeneinander stehen (vgl. Ueding, Steinbrink: Grundriß der Rhetorik, S. 278–283), ist die Wahrnehmung der Wirkungsfunktion in der Fabelforschung auf das docere verengt. 667 Die Anzahl der Stellen ist überschaubar: I 12,44; I 49,23; I 52,19; I 78,15; I 83,23; I 85,17; I 87,23; II 11,65; II 26,57; II 34,17; III 43,29; II 40,27; II 46,23; IV 73,93; I 14,41; I 19,13; I 62,30 und I 78,20. 668 So in I 40,51–53; I 67,15; I 47,11; I 77,62; I 82,29; IV 2,6 sowie III 52,27. 669 I 9,82: „Wie vns hie diese Fabel meldt“. 670 So wird die Funktion der Fabel in III 94,257–259 benannt: „Die Fabel gibt vns diesen bericht | Das man sich all zu sehre nicht | Verlassen soll auff sein Gesind“. Die gleiche Bedeutung hat auch das ‚Unterricht geben‘ in I 26,27: „Die Fabel gibt vns vnderricht“. 671 Etwa in I 40,51–53: „Die Fabel zeigt vns auch der massen | Das Oberkeit vnd Vndersassen | Einander solln sein eingeleibt“. 672 „Dasselb muß suchen ein weiser Rath. | Wie die sieben vnd sechtzigst Fabel hat“ (II 7,16 f.). 673 „Es thut vns diese Fabel warnen | Das wir vns gute Kunst erarnen“ (II 21,41 f.). 674 „Die Fabel ist zum trost bedacht | Vnd den armen zu gut gemacht“ (II 41,25 f.). 675 „Die Fabel gibt vns vnderscheydt | Zwischen Freunden in lieb vnd leydt“ (II 58,19 f.).  







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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

oder ihre Beweisfunktion genannt wird.676 Hinzu treten explizit normative Funktionen, wenn die Fabel mahnt,677 verbietet678 und bestimmte Personengruppen treffen679 und strafen kann,680 indem sie moralische Verfehlungen offen legt. Auf diesen Aspekt zielt der Begriff des ‚Morale‘, einer der konventionellen Begriffe in den lateinischen Fabeln, der auch in der Hauptvorlage des Esopus benutzt wird, auf den Waldis aber konsequent verzichtet. Auch der eingedeutschte Begriff der ‚Moral‘ schürt, besonders seit der Aufklärung, einseitig die Erwartung einer lehrreichen Nutzanwendung, die sich auf die ethisch-sittlichen Normen bezieht, eine Art Sittenlehre.681 Der Begriff des ‚Epimythions‘ bietet demgegenüber zwar den Vorteil, inhaltlich nicht näher bestimmt zu sein, er ist aber Teil eines Begriffspaares, bei dem sich der komplementäre Begriff ‚Promythion‘ auf Erzähleingänge oder Deutungsansätze zu Beginn der Fabelerzählung bezieht. Das Begriffspaar ist dadurch asymmetrisch verteilt, einerseits auf den kompletten zweiten Teil und andererseits auf einen Teilbereich des ersten Fabelteils. Der der Fabelerzählung und der Fabeldeutung zugesprochenen Funktionsaufteilung wird in der Forschung auch mit der Unterscheidung von ‚Bildteil‘ und ‚Sachteil‘ der Fabel Rechnung getragen. Auch dem Wortgebrauch von Waldis lässt sich entnehmen, dass im Erzählteil ein Sachverhalt verbildlicht und veranschaulicht werden kann, der dann in der Deutung konkretisiert oder verallgemeinert wird. In I 32 wird die Affabulatio eingeleitet, indem die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Funktion der Fabelerzählung mit dem Begriff des ‚Abmalens‘ gelenkt wird.682 Doch kann für die Fabelerzählungen, bei denen der Sinn nicht als Wahrheit aus der Erzählung gezogen werden muss, sondern die etwa aufgrund von rein menschlichem Personal und weltlichen Themen exemplarisch sind, nicht mehr nur von einem ‚Bild‘ gesprochen werden, das es im zweiten Teil zu übertragen gilt. Auch wird in manchen Fabelerzählungen, sei es in Fabeleingängen oder in Erzähler- und Figurenrede, ein Sinnangebot bereits verbalisiert. Es ist davor zu warnen, pauschal von einem im Erzählteil geschaffenen sprachlichen Bild auszugehen, dessen Enthüllung oder Entdeckung erst im zweiten Teil der Fabel vonstatten geht. Das ‚Ent676 „Jn dieser Fabeln wirdt beweißt“ (II 71,21). 677 „Diese Fabel vermant vns fein“ (I 4,21). 678 „Die Fabel thut vns nit erlauben | Das wir solln allen Geystern glauben“ (II 25,41 f.). 679 „Mit dieser Fabel werden die troffen | Von den man groß ding thut verhoffen“ (I 21,21 f.). 680 „Die Fabel thut gar weydlich straffen | Die Geistlich Bischoff/ Mnch vnd Pfaffen“ (II 75,27 f.). 681 Ein Aspekt, der auf dem Titelblatt von Trillers Fabelsammlung aus dem Jahr 1740 deutlich genannt wird: „Herrn Daniel Wilhelm Trillers Philos. ac Med. D. Archiatri Nassovici. Neue Aesopische Fabeln, worinnen in gebundener Rede allerhand erbauliche Sittenlehren und ntzliche Lebensregeln vorgetragen werden“, siehe Daniel Wilhelm Triller: Neue Aesopische Fabeln. Hamburg 1740. 682 „Jn dieser Fabel wirdt abgemalt | Schmeychlen/ mit Schmeychlen wirdt bezalt“ (I 32,35 f.).  







4.2 Zur Notwendigkeit des Begriffs ‚Affabulatio‘

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decken‘ kann auch dem Erzählteil zugesprochen werden.683 Auch wird im Esopus mitunter bereits in einer Fabelerzählung gedeutet, prägnant kommt dies in IV 49,155–157 zum Ausdruck, wo das Sprecher-Ich in der Affabulatio auf eine eigene Deutung verzichtet und auf die Rede des Fuchses im Erzählteil hinweist: Die deutung vber diese Fabel Darff zwar keiner andern Parabel Denn wie sie hat der Fuchß verklert.

‚Deutung‘, so haben die oben bereits erwähnten Textstellen in der Vorrede zu Beginn und in der letzten Fabel am Ende der Sammlung gezeigt, nennt Waldis mitunter den zweiten Teil der Fabel. Auch in den Affabulationes wird das ‚Bedeuten‘ der Fabelerzählung und der Vorgang des ‚Deutens‘ in der Affabulatio benannt.684 Damit ist aber ein bestimmter Prozess in der Affabulatio umschrieben, bei dem der Sinn bei der Sinnproduktion aus der Fabelerzählung extrahiert wird. Eine ‚Deutung‘ bezieht sich stets auf die Fabelerzählung oder zumindest auf Teile von ihr. Auch dieser Prozess, einen Sinn aus der Fabelerzählung zu extrahieren, ist im Esopus gegeben, so wenn eine Fabel „solche meynung hat“ (III 30,19 f.). ‚Meinung‘ ist hier zu verstehen als „die mit etwas ausgedrücktem oder angedeutetem verbundene bestimmte vorstellung, sinn, bedeutung von etwas gesagtem oder sonst geäuszertem“, auch „sinn von etwas bildlich ausgedrücktem oder sinnbildlich oder bedeutsam genommenem“ und „sinn, lehre einer geschichte“.685 Es gibt im Esopus auch Fabeln, in denen die Deutung der Fabel vom Erzählteil ‚verdrängt‘ wird. So kann sich der zweite Teil der Fabel aus der Erzählung selbst speisen, wenn etwa Figurenrede aus der Erzählung heraus in die Deutung übergeht, wie in IV 95, in der Jesus mahnende Worte an Petrus spricht, die in die Affabulatio münden. Die Sprecher- und Empfängerposition der Rede kann hierbei nicht mehr klar zugeordnet werden und die Trennung zwischen einer möglichen Erzähler- oder Figurenrede mit wahlweise Petrus oder dem Leser als möglichen Rezipienten ist nicht mehr eindeutig zu ziehen. Die ‚Deutung‘ einer Fabel konzentriert sich auf die Bedeutung der Fabelerzählung. Der Miteinbezug von Elementen in der Affabulatio, die nicht mit der Narratio in Verbindung stehen wie Sprichwörter, Bibelzitate und weitere Narrative wie Exempelgeschichten, wirkt bei einer Betrachtung, die sich auf die Elemente der Narratio konzentriert,  

683 Ob der Erzähl- oder der Deutungsteil der Fabel ‚entdeckt‘, ist etwa in III 41,33 f. offen gelassen, wo mithilfe der Handlungsträger der Fabelerzählung auf eine andere Fabel verwiesen wird: „Wie solchs die Fabel thut entdecken | Von den Vischern/ vnd von den Schnecken“. 684 So in III 33,15: „Die Fabel thut so viel bedeuten“, in III 97,75: „Die Fabel vns diß stck bedeut“ und in I 64,23: „Etlich han auch die Fabel gdeut“. 685 DWB. Bd. 12, Sp. 1938.  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

überschüssig. Es besteht die Gefahr zu verkennen, dass der zweite Fabelbestandteil eine eigene Dynamik entwickeln kann. Eine ähnliche Problematik ist auch mit dem Begriff ‚Fabelkommentar‘ verbunden. Dieser suggeriert, dass die Fabelerzählung oder Teile davon, näher erläutert, eben kommentiert, mit kritischen Anmerkungen versehen werden würden. Demgegenüber erweist sich der Begriff ‚Affabulatio‘ als offen genug, um die im Esopus beobachtbaren Möglichkeiten von „deutung“ (Vorrede, Z. 23) zu fassen. Schon dieser kleine Überblick sollte verdeutlichen, dass die Bewertung von Reich zurückzuweisen ist: „Da die Fabeln in ihrem Deutungsspielraum sehr begrenzt sind, findet Waldis nur in Ausnahmen eine abweichende, eigenständige Interpretation“.686 Stattdessen ist gerade die eigenständige Art und Weise des Fabeldeutens im Esopus näher zu untersuchen. Die Vielgestaltigkeit der Affabulationes muss in drei Schritten, erstens anhand der Darstellung und Untersuchung der Elemente, zweitens der Beschreibung und Herausarbeitung der von Waldis genutzten Verfahren und abschließend anhand der Analyse der Folgen der von Waldis genutzten Elemente und Verfahren, der unabgestimmten Heterogenität, untersucht werden.

4.3 Elemente der Affabulatio Mit dem Begriff ‚Element‘ werden Bestandteile der Affabulatio gefasst, die sich aufgrund von Merkmalsbündeln formal, inhaltlich oder funktional als relativ einheitlich fassen lassen, wie der ‚Lehrsatz‘, das ‚Sprichwort‘, die ‚Referenz auf antike Dichter und Werke‘, ‚Bibelstellen‘, ‚zeitgenössische Werke‘, ‚Erfahrung‘, ‚Exempel und Erzählungen‘, ‚Rede von Sprecher-Ich und Fabelfigur‘ sowie ‚intratextuelle Verweise‘. Die Merkmale der Elemente sind insgesamt uneinheitlich. So trennen die Eigenschaften ‚heidnisch‘ und ‚christlich‘ die Referenzen auf antike Werke und Dichter von den Bibelzitaten. Beide sind wiederum durch den medialen Status als tradierte Schriften von den als mündlich verbreitet dargestellten Sprichwörtern abzusondern. Die Eigenschaft ‚alt‘ unterscheidet sowohl die althergebrachten christlichen Schriften wie die der Antike von den zeitgenössischen Werken, die Waldis in die Affabulationes einbezieht. Alle der soweit aufgeführten Elemente sind in ihrer Eigenschaft als rein argumentativ von den Exempeln und Erzählungen zu scheiden, die zwar argumentativ gebraucht werden, aber narrativ sind. Es lässt sich trennen zwischen Elementen, über die ein Vergleich mit der Vergangenheit ermöglicht wird, wie historische Exempel, und der Rede des

686 Reich: Burkard Waldis, S. 385, unter Verweis auf Lindemann: Studien, S. 73–76.

4.3 Elemente der Affabulatio

295

zeitgenössischen Sprecher-Ichs, der eine zeitgenössische Meinung einbringt. Alle diese Elemente sind als eigenständige Textbestandteile, die Sinnpotenzial transportieren, unterschieden von den intratextuellen Verweisen auf andere Fabelerzählungen, die lediglich als Verbindungen zu anderen Fabeln dienen, um in ihrer Verweisfunktion eine Fabelerzählung und deren Affabulatio im Ganzen als ein potenzielles, argumentatives Element zu eröffnen.687 In den esopischen Fabeln sind einzelne Elemente häufig in ein Geflecht von mehreren anders- oder gleichartigen Elementen eingebaut, im Folgenden steht aber zuerst das jeweils einzelne Element mit seinen Merkmalen im Vordergrund.

4.3.1 Der Lehrsatz Die Minimalform der Affabulatio ist der traditionelle ‚Lehrsatz‘. Bei diesem handelt es sich um den in einer Aussage im Umfang von ein bis zwei Sätzen fixierten ‚Sinn‘ der Fabel. Der Begriff ist angelehnt an die traditionelle Einleitung der lateinischen Moralia, das ‚fabula docet‘. Er teilt mit dem in der Vorlage bei Dorpius als ‚Morale‘ oder dem bei Lessing als ‚Anwendung‘ bzw. ‚moralischen Satz‘ Bezeichneten, die Kürze.688 Er umfasst bei Waldis mindestens zwei Verse, in

687 Wie im Folgenden auch aufgezeigt werden wird, erweisen sich die hier theoretisch getroffenen Differenzierungen in der Praxis im Esopus mitunter als problematisch, z. B. können Verse, die ursprünglich aus einem antiken Werk stammen, im 16. Jahrhundert als Sprichwort im Lateinischen verbreitet sein und nun von Waldis ins Deutsche übersetzt in einer Affabulatio eingefügt sein. Sind die Verse im Esopus unmarkiert, ist nicht zu klären, ob diese Verse als Antikenzitat, als Sprichwort oder einfach als Aussage einzuschätzen sind. 688 Bei Lessing ist die Fabel ganz auf den ‚moralischen Lehrsatz‘ hin geschrieben: „Der Endzweck der Fabel, das, wofür die Fabel erfunden wird, ist der moralische Lehrsatz“ (Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungen verwandten Inhalts. In: Gotthold Ephraim Lessing Werke 1758–1759. Hg. von Gunter E. Grimm. Gotthold Ephraim Lessing Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 148), S. 295–411, hier S. 357), ebenso zusammenfassend: „Ich fasse daher alles zusammen und sage: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel“ (Lessing: Fabeln, S. 376). Über die Kürze als Ideal schreibt Lessing im Rahmen des idealen Vortrags, worin er Äsop als Vorbild nimmt: „Diese Präcision und Kürze, worin er ein so großes Muster war, fanden die Alten der Natur der Fabel auch so angemessen, daß sie eine allgemeine Regel daraus machten“ (Lessing: Fabeln, S. 398), zur Kürze als Mittel der Veranschaulichung: „Einem allgemeinen symbolischen Schlusse folglich alle die Klarheit zu geben, deren er fähig ist, das ist, ihn so viel als möglich zu erläutern; müssen wir ihn auf das Besondere reducieren, um ihn in diesem anschauend zu erkennen“ (Lessing: Fabeln, S. 372).  



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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

vielen Fabeln des dritten Buches beschränkt sich die Affabulatio auf einen Lehrsatz im Umfang von vier Versen. ‚Lehrsatz‘ ist, im Gegensatz zur traditionellen äsopischen Fabel, im Esopus nicht mehr nur der zweite Teil der Fabel. Der Begriff ist daher nicht als generelle Bezeichnung für diesen Teil der Fabel zu verstehen, sondern als fakultatives Element der Affabulatio, das neben anderen Elementen von Waldis zur Sinnproduktion genutzt wird. Lehrsätze können auch häufiger als einmal pro Affabulatio vorhanden sein, sodass in diesen Fällen auch die Beziehung der einzelnen Lehrsätze zur Fabelerzählung sowie zueinander in jedem Einzelfall mit zu berücksichtigen ist. Formal präsentiert sich der Lehrsatz entweder markiert als Fabellehre, etwa in Form von „Die Fabel lert“ (I 52,19), oder ohne aufmerksamkeitssteuernde Ankündigung. In der Tradition des ‚fabula docet‘ können darin Handlungsanweisungen formuliert sein, wie in II 92,23 f.: „Laß dich mit worten nicht bethren | Mit außwendigem schein verfhren“, oder Verbote wie in I 20,21 f.: „Die Fabel thut vns nicht erlauben | Das wir solln allen/ alles glauben“. Jeder Bestandteil der Fabelhandlung kann Grundlage des Lehrsatzes werden. Er kann sich beispielsweise explizit auf Fabelfiguren beziehen, so wie dies in I 86,49–51 der Fall ist:  



Bey diesem Weib wirdt angezeigt Die liebe/ welche die Mutter tregt Zu jren vnartigen Kinden.

Er kann auf einen Aspekt der Fabelhandlung konzentriert sein689 oder sich auf die gesamte Fabelerzählung beziehen. Traditionellerweise wird auf den Einzelfall folgend ein allgemeiner Satz formuliert, der im Lehrsatz den Einzelfall verallgemeinert, der in der Narratio erzählt wurde. Dieser Lehrsatz kann, muss aber nicht auf die Fabelerzählung Bezug nehmen, wie in II 47: Die Fabel ist auff die Gesellen Die sich mit liegen rhmen wllen/

689 In I 49 etwa konzentriert sich der Lehrsatz auf den boshaften Rat des Wolfes: „Es lert vns diese Fabel eben | Solln nicht eim andern glauben geben/ | Es gibt mancher eim andern rath | Auß bsem hertzen das er hat | Vnd sucht damit sein eigen nutz“ (I 49,23–27). In der Fabelerzählung trifft ein Lamm in Begleitung eines Bockes auf einen Wolf, der es davon überzeugen möchte, den Bock zu verlassen und zu seiner Mutter zurückzukehren. Das Lamm durchschaut die List und beruft sich auf die Worte der Mutter. Diese hatte das Lamm ausdrücklich dem Bock anbefohlen. Diesem folgt es nun gehorsam, statt auf den Wolf hereinzufallen, der es fressen möchte, „Wie die Wolffe den Lemmern pflegen“ (I 49,22). Das vorbildhafte Verhalten des Lammes oder seine Einstellung, die als Aufruf genutzt werden könnten, stets auf die Eltern zu hören, werden in der auktorialen Deutung der Affabulatio nicht angesprochen.

4.3 Elemente der Affabulatio

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Was ander leut thetigs betreiben Das wllen sie jn selb zuschreiben Damit sie sich viel mehr beflecken Vnd in der lgen bleiben stecken (II 47,9–14).

Häufig wird ein Sinn aus der Fabelerzählung extrahiert und expliziert, wie in III 17. Der Einzelfall des diebischen Jünglings, der vom alten Besitzer in seinem Apfelgarten erwischt wird, und erst nach den erfolglosen Ermahnungen mit drastischeren Maßnahmen vertrieben werden kann, wird in der Affabulatio verallgemeinert: Ein weiser Mann soll als versuchen Erst gute wort/ denn schelten/ fluchen/ Wenn das nicht hilfft die Snd zustraffen Mit ernst greifft man denn zu den Waffen (III 17,25–28).

Indem im Lehrsatz ein besonderer Fall als allgemeines Erfahrungswissen präsentiert wird, kann sich dieser formal anderen kurzen Textsorten, wie etwa dem Zitat oder dem Sprichwort, annähern. Beispielsweise wird in der Fabelerzählung von I 47 einem schlafenden Metzger von einem Hund ein großes Stück Fleisch gestohlen. Bereits im Aufwachen erkennt er den Schaden und ruft dem Dieb hinterher: „Ein ander mal will baß zu sehn | Soll mir von dir nicht mehr geschehn“ (I 47,9 f.). In der Affabulatio von I 47, die oben bereits als Beispiel für die nüchterne Darstellung von Sachverhalten in der Affabulatio herangezogen wurde, wird dies als allgemein gültige Konstante auf den menschlichen Charakter übertragen:  

Es zeigt vns diese Fabel an Das offt mit schaden wirdt ein man Witzig/ darnach er baß zusicht Das jm der schad nicht mer geschicht (I 47,11–13).

Inhaltlich ist damit das Morale aus der Vorlage wiedergegeben: „Haec fabula significat plerosque omnes tum demum fieri cautiores, ubi damnum acceperint“.690 Da aber bei Waldis statt des Plurals der Singular benutzt wird, wird der allgemeine Satz zu einer Variante der Redensart ‚mit Schaden klug (gelehrt) werden‘.691 Manchmal ist ein Lehrsatz nicht mehr einzeln als solcher zu isolieren, etwa wenn die Affabulatio aus einer Anhäufung von Sprichwörtern besteht, wie in

690 Esopus. Bd. 2, S. 81. 691 Die Phrase kommt häufiger vor, siehe den Registereintrag zu ‚mit Schaden klug/gelehrt werden‘ in ebd., S. 413.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

II 88. Das Thema der Vergeblichkeit wird in fünf Redensarten wiederholt, variiert und in der vermehrten Veranschaulichung ausgeweitet: Wer einen Zigel weiß will wschen Das lere stroh im Tenne dreschen/ Dem Windt das wehen wil verbieten Vnd einr vnkeuschen Frawen hten/ Ein fliessendt Wasser will verstopffen Derselb verleußt beid Maltz vnd Hopffen (II 88,35–40).

Die Mehrheit der Affabulationes besteht aus mehr als einem Lehrsatz. Bei diesen ist erstens zu beachten, welche anderen Elemente wie Sprichwort, Referenz auf ein antikes Werk, Exempel, Aussagen des Sprecher-Ich usw. neben den Lehrsatz treten, und zweitens, in welcher Relation sie zueinander stehen. Es kann sich um eine assoziative Verknüpfung handeln, die ein anderes Element gleichwertig danebenstellt. Andere Elemente können den Lehrsatz stützen, so wie in der Aussage des Lehrsatzes in II 85,19 f.: „Wenn man new Herrn vnd Mntz will kiesen | So muß man vor der handt verliesen“, was von den folgenden Sprichwörtern bestätigt wird: „Zween Herrn zu gleich/ machens nit auß | Dient nit zween Narrn in einem hauß“ (II 85,21 f.). Umgekehrt kann der Lehrsatz ein Fundament für weitere argumentative und narrative Elemente bilden. Die allgemeine Aussage des Lehrsatzes kann bestätigt, erweitert und eingeschränkt werden. In II 96 wird die allgemeine Aussage des Lehrsatzes einem bestimmten Rezipientenkreis zugeschrieben und auf diesen abgestimmt weitergeführt. So eröffnet der Lehrsatz die Affabulatio: „Ein bses hertz thut nicht verschonen | All gut mit bsem thut belohnen“ (II 96,9 f.); Empfänger dieser Aussage sollen Christen sein: „Das sey gesagt eim jeden Christen“ (II 96,11). Mit dem Hinweis auf die Passion Christi und unter Verwendung biblischer Metaphorik wird dann auf die Verheißung des Himmelreichs eingegangen:  





Denck nur nit/ das man jn werd fristen/ Hans doch den Christum auß gestossen Also muß gehn all sein genossen/ Das sein die gschenck/ vnd kstlich gaben Die wir fr vnser wolthat haben/ Wir aber warten andern lohn Da wissen jene gar nichts von/ Welchs vns verheyssen ist im Himmel Da werden sie zum Fußschemel (II 96,12–20).

Besteht die Affabulatio aus mehreren Elementen, so ist auf die Abfolge derselben zu achten. Der Lehrsatz kann am Anfang der Affabulatio stehen, in der Mitte auf andere Elemente folgen oder eine Abfolge verschiedener Elemente abschließen.

4.3 Elemente der Affabulatio

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Damit einhergehend ist die argumentative Struktur zu unterscheiden. So können in der Affabulatio auf die Fabelerzählung Elemente folgen, die wie auch die Fabelerzählung einen einzelnen Vorfall schildern, wie ein weiteres Exempel oder die Erfahrung des Sprecher-Ichs. Ein abschließender Lehrsatz kann den erneuten veranschaulichenden Einzelfall verallgemeinern. Umgekehrt kann der Einzelfall der Fabelerzählung mithilfe des Lehrsatzes in eine allgemeingültige Aussage überführt werden, auf welchen erneut verschiedene Elemente folgen und das Allgemeine im Besonderen ausdifferenzieren. Folgen auf den Lehrsatz Elemente, die beanspruchen, allgemeingültig zu sein, wird der Lehrsatz in seiner Aussage variierend bekräftigt und ausgeweitet. Zugleich kann der Lehrsatz wie in II 33 ein Ausgangspunkt für eine eigenständige Abhandlung werden.692 Waldis nutzt all diese Möglichkeiten, sodass bei der Analyse dieses Fabelteils pauschale Aussagen zu vermeiden sind und bei der Untersuchung der einzelnen Affabulatio immer wieder aufs Neue nach diesen Möglichkeiten zu fragen ist. Beginnend mit einem Element, welches mit der Gattung Fabel eng verwandt ist, wird im Folgenden dargestellt, wie vielfältig Waldis neben dem Lehrsatz die Affabulationes ausstattet.

4.3.2 Das Sprichwort Schon die griechische Bezeichnung für Fabel deutet auf ein wechselseitiges Verhältnis dieser Textsorte mit dem Sprichwort hin: „Das griechische Wort ainos bedeutet sowohl ‚Fabel‘ als ‚Sprichwort‘“.693 Ähnlichkeiten zwischen Fabel und 692 Thema der Affabulatio ist der ‚Fürwitz‘. In der Fabelerzählung wünscht sich ein Bauer von der Göttin Ceres, dass das Getreide glatt wachsen möge, damit die Stacheln bei der Ernte nicht seine Hände zerstechen. Sein Wunsch wird gewährt, hat aber die Folge, dass die kleinen Vögel, die zuvor von den Stacheln abgeschreckt wurden, die Ernte auffressen. Die Affabulatio beginnt mit dem ratenden Lehrsatz: „Wir sollen nicht vmb kleinen gwinn | Ein grossen vortheil geben hin“ (II 33,23 f.). Die nächsten 14 Verse sind eine kleine Abhandlung über den ‚Fürwitz‘, der als Anmaßung, sich über Gott stellen zu wollen, interpretiert wird: „Es thut der vorwitz offt verschaffen/ | Das wir auch Gott sein werck wlln straffen/ | Vnd meynen das wir alle sachen | Auch besser denn Gott wllen machen/ | Des wir doch haben keinen frummen | Vnd offt zu grossem schaden kummen/ | Hchlich damit erzrnen Gott | Vnd sein geschefft halten fr spott/ | Desselben solten wir vns massen | Gottes werck vngetadelt lassen/ | Richten nit mehr denn wir verstnden | Vnd nit wol besser machen knden/ | Das man nit sag/ Schuhster fahr schon | Laß vrtheil vbern Schuh nit gan“ (II 33,25–38). 693 Direkt an das Zitat anschließend wird das Sprichwort als fabelstiftendes Element genannt: „und offenbar sind schon in der Antike so manche Fabeln nur um ein bereits vorhandenes Sprichwort herum gedichtet worden“ (Lutz Röhrich, Wolfgang Mieder: Sprichwort. Stuttgart 1977 [Sammlung Metzger 1977], S. 89). Diese Behauptung wird aber nicht genauer ausgeführt und der  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Sprichwort zeigen sich auch in der Überschneidung von Merkmalen in den Gattungsdefinitionen. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird das Sprichwort definiert als eine [l]iterarische Kleinform, die (1) zur gemeinschaftlichen Tradition alltäglicher Rede gehört und (2) in Gestalt bereits verfestigter und wiederverwertbarer Texte kursiert. Nach Form und Gehalt ist das Sprichwort (3) ein selbständiger Ein-Satz-Text, dabei (4) sprachlich oder gedanklich zugespitzt formuliert und (5) mit allgemeinem Geltungsanspruch auf typisierend wahrgenommene Situationen des menschlichen Lebens beziehbar. Diese Merkmale sind Ausdruck der kommunikativen Leistung des Sprichworts, das dazu dient, einen besonderen Fall in analogischem Rückbezug auf konsensfähiges Erfahrungs- und Orientierungswissen zu beurteilen oder zu entscheiden.694

Der Anteil an der ‚alltäglichen Rede‘ wird im Esopus auch für die Fabel formuliert. Wohl im mündlichen Gebrauch verkürzt wiedergegeben bzw. nur zitathaft angerissen muss man sich die sprichwörtliche Verwendung der Fabel im mündlichen Gebrauch vorstellen, wenn in der Vorrede erwähnt wird, dass die Fabeln, die

dortige Abschnitt zu Sprichwort und Fabel bleibt auf dem Stand, den der einleitende Satz auf S. 88 für die Forschung insgesamt festhält: „Wir wissen trotz zahlreicher neuerer Untersuchungen zur Fabel noch sehr wenig über das wechselseitige Verhältnis von Fabel, Sprichwort und Redensart“. Seit der kleinen Einführung haben sich einige Forschungsbeiträge dem Verhältnis von Fabel und Sprichwort angenommen, hervorzuheben sind hierbei Rebekka Nöcker: Volkssprachiges Proverbium in der Gelehrtenkultur. Ein lateinischer Fabelkommentar des 15. Jahrhunderts mit deutschen Reimpaarepimythien. Untersuchung und Edition. Berlin, Boston 2015 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 16) sowie Rebekka Nöcker: Fabula und proverbium. Zur textkonstituierenden und didaktischen Funktion des Proverbiums im Äsop-Kapitel des ‚Liber de moribus‘. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Henrike Lähnemann, Sandra Linden. Berlin 2009, S. 299–326; Ludger Lieb: Fabula docet? Überlegungen zur Lehrhaftigkeit von Fabel und Sprichwort. In: Von listigen Schakalen und törichten Kamelen. Die Fabel in Orient und Okzident. Hg. von Mamoun Fansa, Eckhard Grunewald. Wiesbaden 2008 (Schriftenreihe des Landesmuseums Natur und Mensch 62), S. 37–54; Proverbia in Fabula. Essays on the Relationship of the Fable and the Proverb. Hg. von Pack Carnes. Bern u. a. 1988 (Sprichwörterforschung 10); Dietmar Peil: Beziehungen zwischen Fabel und Sprichwort. In: Germanica Wratislaviensia 85 (1989), S. 74–87; Peter Grzybek: Sprichwort und Fabel. Überlegungen zur Beschreibung von Sinnstrukturen in Texten. In: Proverbium 5 (1988), S. 39–67 und Pack Carnes: The Fable and the Proverb. Intertexts and Reception. In: Proverbium 8 (1991), S. 55–76. Als weiterführend für die Sprichwortforschung sind auch die Untersuchungen von Agata Mazurek erwähnenswert. Sie analysiert Gestalt und Funktionen von Sprichwörtern in den sogenannten ‚Freidankpredigten‘, siehe Agata Mazurek: Sprichwort im Predigtkontext. Untersuchungen zu lateinischen Prothemata-Sammlungen des 15. Jahrhunderts mit deutschen Sprichwörtern. Mit einer Edition. Berlin, Boston 2014 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 142). 694 Manfred Eikelmann: Sprichwort. In: RL. Bd. 3, S. 486–489, S. 486 f.  



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4.3 Elemente der Affabulatio

in der Schule „teglich werden glesen“ (Leben Esopi, V. 11), „vnderm volck im gmeynen wesen | Wie Sprichwrter offt Alligirt“ (Leben Esopi, V. 12 f.) werden. Die äsopische Fabel und das Sprichwort eint das Merkmal, die „Gestalt bereits verfestigter und wiederverwertbarer Texte“ aufzuweisen. Der Anspruch, der im Esopus formuliert wird, die äsopischen Fabeln „gantz vnd gar“ (Leben Esopi, V. 6) zu versammeln, deutet auf das Verständnis von äsopischen Fabeln als einen begrenzten Bestand an Texten hin, der vom Autor formal überarbeitet wurde. Neben dem Bestand an Fabeln, die auf Äsop zurückgeführt werden, tritt eine weitere Textsorte. Als direkte Aussprüche Äsops werden in seiner Biographie nicht Fabeln, sondern „etlich Sententz“ (Leben Esopi, V. 243) aufgeführt, die als autorisierte, sprichwortähnliche Aussprüche erscheinen. Gerade die für das Sprichwort postulierte „kommunikative[] Leistung [...], einen besonderen Fall in analogischem Rückbezug auf konsensfähiges Erfahrungs- und Orientierungswissen zu beurteilen oder zu entscheiden‘, gilt traditionell für die Fabel. Das Phänomen von Sprichwörtern in volkssprachlichen Fabeln ist nicht neu, bereits Boner und Freidank mischen diese in ihre Fabeln. Dem Buchdruck und der Kompilationswut des ausgehenden 15. Jahrhundert geschuldet, ist wie im Falle der Fabel auch das Sprichwort im 16. Jahrhundert schriftliterarisch weit verbreitet.695 Im Esopus sind Sprichwörter in der Fabelerzählung sowie in der Affabulatio in Erzählerkommentaren, in Figurenrede und in Deutungen präsent.696 Sie gelten als gmeyn, als allgemein bekannt, und transportieren im Esopus geltendes, kollek 

695 „Das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert gelten ganz allgemein als das goldene Zeitalter des Sprichwortes“ (Wolfgang Mieder: Vorwort. In: Eucharius Eyering: Proverbiorum Copia, Etlich viel Hundert Lateinischer und Teutscher schöner und lieblicher Sprichwörter. Mit einem Vorwort von Wolfgang Mieder, 3 Bde. Nachdruck der Ausgabe Eisleben 1601–1604. Hildesheim u. a. 2003, S. 1*). Ein Problemaufriss zum „Sprichwortverständnis um 1500“ und ein Plädoyer für die „Notwendigkeit eines historischen Sprichwortverständnisses“ bietet Andreas Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin, New York 2003, S. 25–29, für einen Überblick über die Forschungsliteratur siehe besonders Anm. 15. 696 Herder betont in seinen Briefen über die deutsche Sprache die Nähe von Sprichwort und Fabeln: „Zum Spruch gehört die Fabel. Er will in einer Begebenheit dargestellt, in einem wirklichen Fall sichtbar gemacht seyn, und wie reich sind wir an treffenden Fabeln! Oft sagt, nach Deutscher Weise in wenig Worten, das Sprüchwort die Fabel selbst, oder citirt, treu wie ein Referent, die Veranlaßung, bei welcher und von wem das Sprüchwort gesagt ward; es giebt uns also auf einmal Frucht und Blüthe. Der alte Geist der Deutschen Erzählung ist so ganz der echte Geist der Fabel, daß ich glaube, Aesop selbst würde manche nicht anders als unsre alte Deutsche erzählt haben; so ruhig=heiter, so treu und ernst, oft so schalkhaft=witzig, im Ganzen aber so gemüthlich. Auch hier mögen Boners Fabeln, mancher Minne= und Meistersänger, Burkhard Waldis und in neueren Zeiten wie viele, viele für den feinen ruhigen Lehrsinn der Deutschen reden“ (Johann Gottfried Herder: 12. Briefe, den Charakter der deutschen Sprache betreffend. In:  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

tiviertes Erfahrungswissen: „Wie manns denn da gemeynlich findt | Als man im gmeynen sprichwort redt“ (IV 13,10 f.); „Doch glaubt man offt dem sprichwort auch | Welchs jetzt geht im gemeynen brauch“ (IV 86,53 f.).697 Dieses Erfahrungswissen kann als solches markiert sein, welches sich aus der Vergangenheit speist: „Die alten han ein sprichwort bdacht | Vnd auß erfarnheyt an vns bracht“ (IV 44,41 f.); „Es ist ein alt gemeyn sprichwort“ (IV 80,131); „Ein alt sprichwort ists/ vnd nit heurig“ (IV 30,15). Die Geltung von Sprichwörtern wird in II 91 in der Fabelerzählung behandelt, die darin gespeicherte Erfahrung wird zur Begründung der Fabelhandlung. So fragt eine Frau einen Nussbaum, er möge ihr „recht bedeuten“ (II 91,3), warum er umso ertragreicher sei, je öfters er mit Steinen beworfen und mit Stöcken geschlagen werde. Der Nussbaum weiß um sein sprichwörtliches Verhalten, das er der Frau lachend erst noch erläutern muss:  





Sprach/ Fraw wißt jr nit was das macht? Es ist ein alt gemeyn sprichwort Welchs jr vielleicht wol eh gehort/ Man sagt zart Fraw/ das ich vnd jr Vnd der Esel des Mllers Thier Thun vngeschlagen nimmer gut Gott geb/ was ehr man vns sunst thut Nach dem sprichwort thu ich mich richten Vnd gib die Frcht auß rechten pflichten Des gleichen sollet jr auch schaffen Das wirs sprichwort nit lgenstraffen (II 91,14–24).

Dem Sprichwort wird so viel geltende Wahrheit zugesprochen, dass man sich in seinem Handeln unhinterfragt danach zu richten hat. Das Lachen des Baumes lässt sich als Lachen über die Frau interpretieren, die mit ihrer Frage eine zweifache Unwissenheit offenbart; erstens, dass sie als Gegenstand des Sprichwortes nicht über den Sachverhalt informiert ist und zweitens nicht zum Teil des Kollektivs gehört, in dem das Sprichwort als alte, allgemein bekannte und anerkannte Erfahrung kursiert.

Adrastea IV 12. In: Herders Sämmtliche Werke, 33 Bde. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877– 1913. Bd. 24. Berlin 1886, S. 394 f.). 697 Die Erfahrung der Älteren als Kondensat im Sprichwort hebt auch Franck in seiner Vorrede der Sprichwortsammlung hervor, um den didaktischen Nutzen für die Jugend hervorzuheben: „Zum andern kan ich nit sehen/ was nützers der jugent mcht fürtragen vnnd einpleuet werden/ dann das/ das jre ltern geredt/ für war/ von der erfarung gelert/ gehalten haben“ (Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar [Leitung der Edition: Hans-Gert Roloff]. Bd. 11: Sprichwörter. Text Redaktion: Peter Klaus Knauer. Bern u. a. 1993, hier S. 7).  



4.3 Elemente der Affabulatio

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Der Fabel III 6 lässt sich entnehmen, dass Sprichwörter gerade nicht kurzweilige Novitäten zum Gegenstand haben. Eine alte Witwe formuliert in der Fabelerzählung ihre Bedenken, wie ihre Mitmenschen reagieren würden, falls sie sich, um ihr sexuelles Verlangen zu stillen, einen Mann suchen würde: „Doch frcht ich das man mich belacht | Auß mir ein gmeynes sprichwort macht“ (III 6,9 f.). Gmeynes sprichwort kann an dieser Stelle zwar verstanden werden als ‚allgemeines Stadtgespräch‘,698 doch kann man den Begriff auch wortwörtlich verstehen. Sie will nicht Ursache und Gegenstand eines Sprichworts und somit einer allgemein verbreiteten Rede sein. Sie will nicht durch ihr Verhalten den „besonderen Fall“ darstellen, der „in analogischem Rückbezug auf konsensfähiges Erfahrungs- und Orientierungswissen“ beurteilt wird.699 In diesen Kontext passt auch die Antwort der Nachbarin, die dieser Befürchtung die schnell verbreitete und schnell vergessene Rede, „das geschwetz“ (III 6,25), entgegensetzt. Die Nachbarin überzeugt die Witwe, dass wohl einen Tag lang gelacht, über die Wunderlichkeit aber schnell wieder geschwiegen werde. Als Beispiel lässt sie einen grüngestrichenen Esel „durch alle gassen“ (III 6,18) treiben, was nach besagtem geschwetz von drei Tagen wie vorhergesagt wieder vergessen ist. Sprichwörter zeichnen sich durch Bestand aus, weil sie Weisheiten transportieren, die das als unverändert wahrgenommene Verhalten der Menschen oder des Weltlaufes zum Gegenstand haben. Ihnen wird ein Wahrheitsanspruch zugesprochen: „Drumb auch das sprichwort warhafft ist“ (IV 24,91); „Drumb ist das Sprichwort allzeit recht“ (I 9,108); „Darumb das sprichwort jmmer bleibt“ (II 98,33 f.). Die Funktion der Belehrung wird den Sprichwörtern wie auch der Fabel im Esopus zugesprochen: „Wie auch das gmeyne Sprichwort lert“ (II 4,97), „Doch werden wir durchs sprichwort glert“ (IV 47,33). Während die Fabel aber lehrt, da sie eine wie auch immer geartete Aussage über die Welt veranschaulicht, indem sie einen besonderen Fall narrativ umsetzt, so funktioniert das Sprichwort, indem es eine wie auch immer geartete Aussage über die Welt gnomisch verkürzt. Daher lassen sich Sprichwort und Fabel ergänzend zusammenführen: „Jst sprichworts weiß auff die erdacht | Vnd die Fabel darauff gemacht“ (IV 54,35 f.). Die „funktionale Nähe“ zwischen Fabel und Sprichwort zeigt auch die Stoffgeschichte des Esopus.700 Einerseits finden sich zahlreiche unausgewiesene Sprichwörter, die in den Sprichwörtersammlungen Sybenhundert vnd fünfftzig Teütscher Sprichwörter (1534) und Fünfhundert Gemainer Teütscher Sprüchwrter (1548) von Johannes Agricola und Sprichwörter/ Schöne/ Weise/ Herrliche Clug 





698 So neben weiteren Vorschlägen Esopus. Bd. 2, S. 185. 699 Siehe oben ausführlich die Definition von ‚Sprichwort‘, entnommen aus Lutz Röhrich, Wolfgang Mieder: Sprichwort. Stuttgart 1977 (Sammlung Metzger 1977), S. 89. 700 Esopus. Bd. 2, S. 23.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

reden/ vnnd Hoffsprüch (1541) von Sebastian Franck dokumentiert sind, auch im Esopus.701 Andererseits wurden die Fabeln I 22; III 76; III 91; IV 1; IV 3 und IV 8 in die Sprichwörtersammlung Proverbiorum Copia (1601–1603) von Eucharius Eyering aufgenommen.702 Darin sind die Fabeln nicht mehr eigenständig, sondern werden, nach Sprichwörtern sortiert, zu veranschaulichenden Exempeln für die im Sprichwort formulierte Wahrheit. Die Vorrede von Henning Groß, dem Verleger der posthum erschienenen Sprichwortsammlung Eyerings, weist die gleichen Allgemeinplätze für den Gebrauch und den Nutzen des Sprichwortes auf wie die Vorreden zeitgenössischer Fabelsammlungen. Dem Sprichwort wird eine explizit in diesen Zeiten benötigte und ausgewiesene normative Funktion zugesprochen, die sich an alle Stände richtet und sowohl der Belehrung wie auch der Selbsterkenntnis dienen kann.703 Das Sprichwort gilt als literarisch konstant:

701 So eröffnet die Wiedergabe des Fabelstoffes, die im Esopus als IV 99 Vom Bawren/ Lindtwurm/ Pferd/ Hundt vnd Fuchß wiedergegeben ist, den zweiten Band der Sprichwörtersammlungen von Agricola. 702 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 23, besonders Anm. 47. Es handelt sich um teils wörtliche Übernahmen, die ausschließen, dass es sich lediglich um die Transformation des Fabelstoffes handelt. Schon der Langtitel auf dem Titelblatt des ersten Bandes der Sprichwortsammlung verdeutlicht die Nähe von Fabel und Sprichwort: Proverbiorum Copia, Etlich viel Hundert/ Lateinischer und Teutscher schner vnd lieblicher Sprichwrter/ wie die Teutschen auff Latein/ vnd die Lateinischen auff Teutsch außgesprochen. Mit schnen Historien/ Apologis, Fabeln vnd gedichten geziert/ menniglichen vnd kurtzweilich zu lesen. Die Darstellung der Fabeln als ‚Schmuck‘, die die Sprichwörter ‚zieren‘, finden sich auf den Titelblättern aller drei Bände und in der Vorrede zum dritten Band, siehe Eyering: Proverbium copia. Bd. 3, Vorrede, Bl. ijv. 703 „Weil es in dieser Welt mit der Menschen Leben vnd Wandel also beschaffen/ das jnen deß jenigen/ was man thun vnd lassen sol/ stete erinnerung geschehen/ darneben aber hierinne bescheidenheit gebraucht/ zwischen Personen vnterscheid gehalten/ in allem aber der gemeine nutz in acht genommen werden muß/ ists nicht ein geringes stck der Weißheit in diesem allen den rechten Weg zu treffen. [… So] gerieth ich auff die gedancken/ das nicht ein schlechtes mittel sein solte/ durch Sprichwrter oberwehnte vermanung vnnd erinnerung den Menschen bey zu bringen. Vnd zwar solches nicht allein gemeinen Leuten/ besondern durchaus in allen stnden von den niedrigsten biß auff den hchsten. | Denn obgleich mancher noch so hohes standes oder so mechtig/ also das jme die Warheit nicht ohne gefahr angezeigt werden kan/ so kan er doch durch gleichnsse vnnd Sprichwrter gantz leichtlich gewonnen werden. | Denn wann man dasjenige/ was jhm vbel anstehet/ oder zu thun nicht gebret/ an einem andern Menschen/ oder auch wol an einem vnuernnfftigen Thier weiset/ vnnd gleichsam in kurtzweiligem Muth erzehlet/ findet er nichts darinne/ dessen seine Person außdrcklich beschweret oder beschldiget wrde/ hat demnach auch keine vrsach einigen zorn zu fassen. Wann es jm aber also ohne einige Bewegung ins Gemth kmpt/ kan er es desto besser bedencken/ erwegen/ auch weil er selbst jhme am besten bekand/ sich daran spiegeln/ vnnd also vnuermerckt daraus bessern/ Welches er nicht thete/ do er seines jrrigen Wandels offentlich bezchtiget/ Sintemal niemand/ auch wol nicht ein geringer leicht zu finden/ der nicht lieber seine mengel in geheimb/ als mit offentlicher schamrthe gestrafft wissen wollte“ (Eyering: Proverbium copia. Bd. 1, Vorrede, Bl. )( ijr–)( iijv).

4.3 Elemente der Affabulatio

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„dann bey allen Vlckern die Apologen/ Beyspiel vnd Sprichwrter von alters her in gemeinem gebrauch gewesen/ –ja auch Gott selbst hat dieselben zuweilen den Menschen fürgestellet“.704 Es ist im Alten wie im Neuen Testament anzutreffen und findet von dort auch Eingang in Predigten.705 Auch seine Verbreitung und Funktion in der Antike wird mit der von Fabeln gleichgesetzt: Das bey den Heiden offt in gleichen mit Sprichwrtern/ Beyspielen/ Apologen vnnd fabeln zu den fast gemein gewesen sey/ ist vnter andern auch aus den Poeten vnnd Comædien schreibern zusehen/ welche die laster so wol an hohen als an geringen Personen in ihren Poematibus vnnd Spielen gestrafft.706

Es wäre somit zu kurz gegriffen, ginge man für die Frühe Neuzeit davon aus, dass das Sprichwort allein als Teil der ‚alltäglichen Rede‘ zu betrachten sei. Sprichwörter speisen sich, das machen die Autoren der frühneuzeitlichen Sprichwortsammlungen deutlich, sowohl aus der vorwiegend als mündlich dargestellten deutschsprachigen Tradition wie der schriftlichen lateinischen und griechischen: Darinnen zu sehen/ was weißheyt/ kunst/ verstand/ religion/ vnd verborgner gheym in der alten Teutschen/ Latiner/ Griechen vnnd Hebreer Sprichwrtern steckt/ vnd ein lust vnd lieb darz gewünn denen vnd dergleichen selbs im Herrn nachzudencken/ als einem festen wort Gots/ das Gott in aller menschen hertz vnnd mund geschriben vnnd gelegt hat/ wie in der außlegung ettlicher Sprichwrter ersehen würt.707

Das Sprichwort ist ein Ausweis für Gelehrsamkeit. Hierbei handelt es sich um eine Gelehrsamkeit, die die Kenntnis antiker Schriften umfasst. Auch Waldis weist in seiner Vorrede auf das Alter von noch immer geltenden Sprichwörtern hin. Die schon lange währende Klage über ‚Undankbarkeit‘ lässt sich auch an den überlieferten Sprichwörtern zu diesem Thema ablesen: „Daher auch die gemeynen Sprichwrter erwachsen/ vnd alle zeit inn der welt bleiben sein. Sonderlich bei den Griechen vnnd Rmern“.708

704 Eyering: Proverbium copia. Bd. 1, Vorrede, Bl. )( vr. 705 „Wil geschweigen/ das der Herr Christus selbst offt vnd vielfaltig durch Gleichnis vnd Sprichwrter geredet/ wie in den Euangelien hin vnd wider zu befinden. Dannen hero denn auch in Predigten vnnd andern offentlichen Sermonen die Sprichwrter ntzlich gebraucht werden knnen“ (Eyering: Proverbium copia. Bd. 1, Vorrede, Bl. o. Z. Custode: stus–Bl. o. Z. Custode: vnd). Als Beispiel für den Gebrauch im Alten Testament dient ein Exempel von König David: „Welcher gestalt an Keyser: Knig: Frstlichen vnd ander Herrn Hffen Sprichwrter/ Apologen vnd beyspiele ntzlich sein/ erweisen die vom Knig David droben erzehlete Exempel“ (Eyering: Proverbium copia. Bd. 1, Vorrede, Bl. o. Z. Custode: vndf.). 706 Eyering: Proverbium copia. Bd. 1, Vorrede, Bl. o. Z. Custode: vnd. 707 Franck: Sprichwörter, S. 7. 708 Waldis: Psalter, Bl. aa ijv.  



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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Während man für die lateinische und griechische Tradition auf Kompendien wie die Adagia von Erasmus von Rotterdam zurückgreifen kann, klagt noch 1534 Johannes Agricola darüber, dass er mit dem Versammeln von deutschen Sprichwörtern erst einen Anfang setze: Wie schwer es ist/ Deutsche sprichwort nicht alleine zu schreiben/ sondern auch zu deutten/ wissen die wol/ welchen kundt ist/ das wir Deutschen keine schrifft haben/ darynne solchs zuvorhyn angezeigt/ odder geleret worden were. Erasmus von Roterodam hat auß den Schreibern und Lerern/ Grichischer und Latinischer sprach einen grossen hauffen zusammen gelesen/ wir Deutschen aber haben so viel forteils nicht. Renner der gelebt hat/ Anno M. ccc. sagt von Creck/ Ywan/ Tristrand/ Konig Rucker/ Partzival und Wiglois/ wir kennen sonst den alten Hildenbrand/ Dietrich von Bern/ Herr Ecken/ Konig Fasolt/ Risen Signot/ den edlen Moringer/ Ritter Pontus/ und was die Taffelrunde vermag. Es ist gerhumet Freidanck/ Ritter vom Thurn/ Marcolphus/ die sieben Meister/ und was bey unserm gedencken ist new worden/ Centinovella/ das Narrenschiff Sebastian Brands/ der Pfaff vom Kalenberg/ Ulenspiegel/ und Thewerdanck. Aber bey den allen ist kein hilffe/ sprichworter zu holen.709

Obwohl damit zu rechnen ist, dass Waldis die Sprichwortsammlungen bekannt waren und die Benutzung von Agricolas Sammlung aufgrund der Stoffüberschneidung wahrscheinlich ist, ist dies im Esopus nicht kenntlich gemacht. Waldis äußert sich im Esopus nicht zur Gattung Sprichwort, auch werden schriftliche Quellen beim Gebrauch dieser literarischen Kleinstform nicht genannt.710 Markierte Sprichwörter werden zumeist als im mündlichen Gebrauch kursierend ausgewiesen: „Gleich wie das gmeyne sprichwort sagt“ (IV 95,9); „Drumb man auch in dem sprichwort spricht“ (IV 70,57); „Denn/ wie man in dem sprichwort redt“ (IV 74,39 f.). Problematisch sind, bei der Frage nach der zeitgenössischen Rezeption des Lesers, unmarkierte Sprichwörter oder sprichwortartige Phrasen, die als Sprichwörter nicht in Sprichwortsammlungen nachweisbar sind. Häufig bleibt offen, wie auch im Falle der Erzählstoffe im vierten Buch, ob es sich um zuvor schriftlich nicht Nachweisbares, aber mündlich sehr wohl Verbreitetes handelt oder um eine Neuschöpfung des Autors. Wie schon der Lehrsatz kann sich auch das Sprichwort formal anderen literarischen Kleinstformen oder Elementen der Affabulatio annähern oder sich mit diesen überschneiden. In die Nähe der Einzelerfahrung rückt es, indem der Ich-Erzähler sich als an dem kollektiven Wissen Teilhabenden  

709 Agricola: Sprichwörtersammlungen, I Vorrhede, S. 3 f. 710 Unkommentiert bleibt im Esopus auch die sowohl von Franck wie von Agricola in den Vorreden angesprochene außlegung bzw. das deutten der Sprichwörter. Dieses besteht, so zeigen die Abschnitte zu den einzelnen Fabeln, aus einem Auswalzen der in dem übergeordneten Sprichwort getroffenen Aussage bzw. in einer Erweiterung, in der passende Erzählungen oder ähnliche Sprichwörter aneinandergereiht werden.  

4.3 Elemente der Affabulatio

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offenbart und das Sprichwort die eigene Erfahrung bestätigt: „Sihe wie war ist das alt sprichwort | Welchs ich vor viertzig Jaren ghort“ (IV 31,57 f.). Das alte Sprichwort bedarf an dieser Stelle nicht des täglichen, aktualisierenden Gebrauchs, um als Bestätigung für aktuelle Zustände herangezogen zu werden. Im Gegenteil, da es als Bestätigung für Zustände in der Papstkirche herangezogen wird, bestätigt das Alter sogar das, was „gar gemeyn bey den Papisten“ (IV 31,51) sei. Selbst wenn das Sprichwort nur einmal vor Jahrzehnten gehört wurde, bestätigt es, dass ein sogar in der Messe noch betrunkener Pfaffe kein Einzelfall darstellte und dass darüber sogar der „gmeyne Pfel“ (IV 31,60) sprach. Von der Prägnanz, die mit der gnomischen Verkürzung einhergeht, weicht das Sprichwort im Esopus in zwei Fällen auf extreme Weise ab. Sowohl in IV 91 wie auch in IV 93 wird ein Sprichwort angekündigt, dessen Aussage priamelartig in zahlreichen Details variierend wiederholt wird. Die Affabulatio IV 91 wird mit einem Sprichwort eröffnet, das die Sorgen und Nöte des Alters gnomisch verdichtet:  

Das sprichwort sagt/ es sey das alter Ein schweres mas/ vnd bses malter/ Denn on die Jar so bringt es sonst Sorg/ kranckheyt/ mhe vnd groß vnlust/ Vnd ist also des lebens Summen Drinn all vnfell zusamen kummen/ Damit der sachen wirdt ein endt (IV 91,39–45).

Statt aber dies das Ende der Affabulatio sein zu lassen, werden darauffolgend aus verschiedenen Bereichen in Details die negativen Folgen des Alters aufgelistet. Immer wieder werden die Phrasen ‚von alter wirdt‘ und ‚Alter macht‘ in über 50 Varianten litaneiartig mit neuem Inhalt aufgeführt. Das für jedes Individuum einmalige Erlebnis des Alterns wird in zahlreiche Formen aufgefächert und als beständiges und allgegenwärtiges Phänomen vorgeführt. Altern zeigt sich verschiedentlich am Menschen, etwa an den Augen, Wangen, Haaren etc., aber auch in seiner Umwelt, die neben anderen Menschen, Tiere, Pflanzen, Metallen und vom Menschen geschaffene Gegenstände umfasst. So wird beispielsweise auß Eisen rost/ Von alter wirdt der Wein auß Most/ Das alter macht die Augen rot/ Alter macht schimmel in dem Brodt/ Von alter wirdt runtzlecht der Bauch/ Von alter wirdt das Meußlin rauch/ Von alter wirdt auß Wasser Saltz/ Von alter wirdt Gersten zu Maltz/

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Das grn Laub wird vor alter fal/ Ein krauser Kopff von alter kal/ Von alter wirdt ein starck Pferdt hincken/ Das alter macht den athem stincken (IV 91,53–64).

Wie im Kleinen alles altern und vergehen muss, so muss auch die Welt im Großen und Ganzen vergehen. So läuft die Priamel auf den Tod des Menschen wie der Welt hinaus: Alter macht auch auß Eyern Hner/ Vor alter geht man bey dem Stab/ Vor alter geht man nach dem Grab/ Vor alter geht der Topff zu scherben/ Vor alter alle ding muß sterben/ Vor alter mag kein ding bestahn/ Vor alter muß die Welt zergahn (IV 91,90–96).

Die ‚sprachliche Zuspitzung‘ des Sprichworts wird hier aufgegeben, ein Merksatz ist dies nicht mehr. Stattdessen überwiegt hier eine Lust am Sprachspiel, an der Variation des Immergleichen. Es mag einen Reiz ausgeübt haben, in einer literarischen Kleinstform, die als beständig gilt, das verändernde Moment des Alterns in immergleichen Phrasen zu wiederholen und dann mit dem Tod des Menschen und der Welt enden zu lassen, sodass auch das Sprichwort als Bestandteil dieser Welt keinen Bestand mehr hätte. Die inhaltliche Aussage ‚alles muss vergehen‘ geht dann durch die Priamelform auch mit der formalen Auflösung des Sprichworts einher. Wird ein Sprichwort nicht mehr als im Kollektiv verbreitete anonyme Erfahrung ausgewiesen, sondern als Spruch eines Autors, überschneidet es sich formal als Element mit den Referenzen auf bekannte Werke. Im Esopus dienen hierzu sowohl die Bücher der Bibel als auch Texte antiker Autoren als Fundus. Die Überlappung von Sprichwort und Referenz auf einen antiken Text zeigt sich etwa in I 67 beim Spruch ‚Wo die Löwenhaut nicht reicht, muss die Fuchshaut dazu genommen werden‘. Es erfüllt die oben genannten formalen Kriterien eines Sprichworts hinsichtlich Kürze und Prägnanz. In der Affabulatio ist der Spruch als Aussage des griechischen Philosophen Lysander zum Thema ‚Macht und Klugheit‘ ausgewiesen und lässt sich als unmarkierte Übernahme aus den Moralia von Plutarch nachweisen, welcher bereits im Morale der Vorlage unmarkiert eingebaut ist.711 Der 711 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 94 f.: „Morale. Ubi viribus quispiam destitutus fuerit, ingenio opus est. Lysander Lacedaemonius subinde dicere solebat, quo non perveniret leonina pellis, vulpinam assuendam esse [...], quod sic lucidius dixeris: Ubi virtus non satis potest, adhibenda est astutia“.  

4.3 Elemente der Affabulatio

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Aussage wird das nicht näher definierte Attribut „sprichworts weiß“ zugestanden: Der groß Philosophus Lysander Ein Rath der Lacedemonier Derselb pflag sprichworts weiß zu sagen (I 67,25–27).

Die Aussage beendet als solche nicht die Affabulatio, sondern wird im Esopus ergänzt um eine Aussage Ovids, die die Worte von Lysander bestätigt: „Ouidius sagt auch des gleichen“ (I 67,33–38). Wiewohl sich der Ausspruch aufgrund seines Gebrauchs formal dem Sprichwort annähert, sind Referenzen auf antike Dichter und Werke, wie im Folgenden, separat zu behandeln.

4.3.3 Antike Dichter und Werke Die äsopische Fabel ist eine Gattung der Antike. Die Benennung der Fabelsammlung und die Darstellung des Leben Äsops stellen dies auch im Esopus aus. Aus der mittelalterlichen Tradition heraus und durch humanistische Reformen bestärkt, ist die Lektüre der klassischen Fabeln als auch anderer klassischer Texte fester Bestandteil im Lateinunterricht in den Schulen.712 Verzichtet wird im Esopus auf die Hervorhebung der Gattungstradition, wie sie in anderen Fabelvorreden zu finden ist. Traditionell wäre der Hinweis auf bekannte antike Fabeldichter oder -übersetzer wie Romulus oder die Darstellung pragmatischer Gebrauchssituationen, die für Fabeln aus der Antike überliefert sind, etwa wie Menenius Agrippa die aus Rom ausgezogenen Plebejer besänftigte, indem er ihnen die Fabel vom Magen und seinen Gliedern erzählte.713 Waldis nennt zwar die Schule als einen Gebrauchsort der Fabel, die „gelerte leut“ (Leben Esopi, V. 9) geschrieben haben, er sammelt und übersetzt seine Fabeln aber dezidiert nicht für Gelehrte: „hab auch solchs nicht den Gelerten [...] lassen außgehn“ (Vorrede, Z. 28–30). Alle Zitate aus antiken Werken

712 Vgl. Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ‚Fabulae‘ Avians und der deutschen ‚Disticha Catonis‘. 2 Bde. Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 44) sowie Grubmüller: Meister Esopus, S. 87–96. 713 Vgl. die Vorrede von Steinhöwel, die mehrere antike Fabeldichter auflistet, die in der Sammlung ebenfalls gedruckten Vorreden von Romulus zu den vier ihm zugeschriebenen Fabelbüchern sowie Alberus: Fabeln, S. 29: „Liuius im ersten buch/ Decade secunda schreibt/ das Menenius Agrippa die brger zu Rom mit dem Rath durch die Fabel vom Bauch vnd den andern gliedern/ vereiniget habe. Desgleichen hat Themistocles die Brger zu Athen mit dem Rath durch ein Fabel zufriden gestellt“.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

werden übersetzt und in paargereimten Versen wiedergegeben, sodass sie sich formal in den restlichen Teil der Waldisfabel einfügen. Bei den Bezugnahmen auf antike Werke und Autoren im Esopus handelt es sich vornehmlich um Auszüge aus lateinischen Werken. Ungewöhnlich ist das Anspielen oder die Bezugnahme auf ein komplettes Werk, wie in der Affabulatio von IV 20. Als Exempel für die Rache Gottes an Mördern wird in den V. 69–136 nach der Nennung des Verfassers die Handlung der Tragödie von Hekuba und ihrem in der Obhut von Polymestor ermordeten Sohnes knapp erzählt: Ein schn Exempel han wir des Jm Poeten Euripides Jn der Tragedi Hecuba Vom Edlen Knig Priamo/ Vnd sagt/ als Troia blegert war Von den Grecken wol zehen Jar (IV 20,69–74).

Die Anzahl der zitierten Autoren ist überschaubar und über die gesamte Sammlung verteilt. Nachweisbar sind Textstellen aus den Werken von Ovid, Horaz, Vergil, Aristoteles, Cicero, Juvenal, Lukian, Platon, Plautus, Plinius, Plutarch, Properz, Sallust, Terenz, Theokrit, und Xenophon.714 Die Einbettung der Textstellen in die Affabulationes variiert. Wird die Textstelle als antik markiert, geschieht dies zumeist unter Nennung des Autornamens: „Wie Naso sagt“ (IV 90,202), „Des sich Ouidius beklagt“ (I 12,58), „Horatius ein buben blacht“ (I 62,25) oder „Flaccus lert“ (II 35,35). Selten wird zusätzlich das Werk wie in I 21,31 f. genannt: „Vber die selben Horatius klagt | In arte Poetica da er sagt“. Nicht immer sind die Textstellen als Zitate markiert oder werden anonymisiert einem Kollektiv wie in II 20,25 f. den ‚Alten‘ zugeschrieben: „Die alten wntschten“ (II 20,25), oder einem einzelnem Dichter, wie in II 49,48: „Wie der Poet dauon auch sagt“. Die hier als Referenzen, Anspielungen oder auch als ‚Zitate‘ bezeichnete Wiedergabe von fremden Texten im Esopus weicht vom heutigen Verständnis des ‚Zitates‘ ab. Definitorisch handelt es sich bei einem Zitat um eine „wörtliche Übernahme und Einfügung aus fremden Texten, meist mit Markierung und Nachweis der Quelle“.715 Bei der Verwendung des Begriffs ‚Zitat‘ für die Bezugnahme von Waldis auf antike Werke, wie im Falle der meisten Referenzen, muss von einem erweiterten Zitatbegriff ausgegangen werden. Hierbei stehen der „strengen Einschränkung auf wortlautliche Einzeltext-Referenzen [...] begrifflich Tendenzen einer entdifferenzierten Ausweitung auf jegliche Form von Bezugnahmen gegen 



714 Vgl. das Register ‚Zitate aus antiken Schriften‘ in Esopus. Bd. 2, S. 398. 715 Rudolf Helmstetter: Zitat. In: RL. Bd. 3, S. 896–899, S. 896.

4.3 Elemente der Affabulatio

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über“.716 Im Umgang mit der Wiedergabe fremder Texte sind die Punkte der wortwörtlichen Wiedergabe und der Nachweis der Quelle auch für die zeitgenössische deutschsprachige Literatur nachweisbar. Im Esopus handelt es sich stets um übersetzte, in Paarreime versifizierte Übernahmen aus fremden Werken. Die Übersetzung erfolgt nach Sinn, nicht nach Wortlaut, was sich gerade bei der mehrfachen Wiedergabe derselben Textstelle zeigt. Horazʼ Oden II 10,9–12: Saepius ventis agitatur ingens Pinus et celsae graviore casu Decidunt turres feriuntque summos Fulgura montis.717

wird sowohl in der Affabulatio von I 36 eingefügt: Welchs Flaccus vns anzeiget schon Jn einem kurtzen Saphicon Vnd sagt/ die grossen hohen Tannen Mit sturm der Windt thut weydlich zannen/ Jhe hher die Thrn gebawen werden Jhe grssern fall bringens zur Erden/ Der Donder trifft die hohen Berg (I 36,43–49),

als auch in II 3,53–57: Horatius sagt/ die hohen zynnen/ Wenn die zu fallen einst beginnen/ Darab erschttert sich die Erdt/ Der Donder auch gemeinlich fehrt Jn hohe Berg/ vnd groß gebew Vor jm sindt sicher im stall die Sew.

Die Vermittlung der Stelle lässt sich in beiden Fällen auf die Dorpiusfabeln in der Vorlage zurückführen. Sowohl die Fabel De Cervo, Vorlage von I 36, als auch De Abiete et Dumo, Vorlage von II 3, geben die Strophe bzw. einen Teil der Strophe wortgetreu wieder.718 Im Esopus hingegen variieren Umfang, Inhalt und, da

716 Ebd. 717 Q. Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Hg. und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2002 (Sammlung Tusculum), S. 104, in der Übersetzung von Gerhard Fink, ebd., S. 105: „Häufiger wird vom Wind gezaust die gewaltige | Pinie, ragende Türme stürzen in schwererem Fall | Zusammen und es treffen die Gipfel der | Berge die Blitze“. 718 In der Vorlage von I 36 lautet das Zitat: „Pulchre id significat Lyricus ille noster: Saepius ventis agitatur ingens pinus et celsae graviore casu decidunt turres feriuntque summos fulgura

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Waldis bei der Bearbeitung von I 36 den Autornamen ergänzt, aber mit einem anderen Namen als in II 3, auch die Namensangaben des Autors. Der reduzierte Nachweis des Zitats – nur der Autorname und in I 36,44 zusätzlich die Odenform werden genannt – mag im ursprünglichen Kontext der lateinischen Fabel für einen gebildeten oder sich gerade bildenden Leser als Stütze für den referierten Text, der im Wortlaut wiedergegeben wird, genügen. In der Übersetzung im Esopus ist die Reduktion der Quellennennung auf den Autor ein mangelhafter Zitatnachweis. Sie dient vielmehr dazu, den Status des zitierten Autors als Autorität zu betonen. Mit der Frage, auf welche Art und Weise ein Zitat Eingang in den Esopus gefunden hat, ist die gleiche methodische Unsicherheit wie im Fall der Sprichwörter angesprochen. Dies betrifft insbesondere unmarkierte Referenzen und solche Antikenzitate, die nicht schon im Aesopus Dorpii vorhanden sind. Das schon bei den Sprichwörtern herangezogene Beispiel in II 20,25 f.: „Die alten wntschten/ das jn mcht bleiben | Ein verstendig gmt/ in gsundem Leibe“ verdeutlicht dies. Es handelt sich um die Übersetzung der Textstelle „Mens sana in corpore sano“ aus den Satiren Juvenals (10, 356). Die Wendung ist im Lateinischen sprichwörtlich geworden, vor Erscheinen des Esopus im Deutschen aber nicht nachweisbar. Es ist nicht zu klären, ob das Zitat als Sprichwort, sei es über den mündlichen Gebrauch oder durch Sprichwortsammlungen, Eingang gefunden hat oder ob Waldis die Stelle aus Juvenals Satiren übernommen hat. Eingang gefunden haben die Verse aufgrund ihrer eigenständigen Aussage, der ursprüngliche Kontext in den Satiren – die Verurteilung von Opfergaben – ist nicht von Bedeutung. Im Fall von II 44 Vom Schwan vnnd dem Storchen dient ein einleitendes Antikenzitat dazu, naturkundliche Informationen zu liefern, die nicht bei jedem Rezipienten des Esopus vorausgesetzt werden können. Waldis fügt seiner Bearbeitung der Fabel De Cycno in morte canente comprehenso a Ciconia aus dem Aesopus Dorpii eine naturkundliche Erklärung des in der Fabelhandlung behandelten Schwanengesanges bei. So hört der Storch den Gesang des sterbenden Schwanes und wundert sich, dass dieser, so die Interpretation des Storches, freudig singe, obwohl er doch reichlich Grund hätte, betrübt zu sein. In der lateinischen Vorlage wird dieser Vorgang unkommentiert wiedergegeben, im Esopus wird hingegen zu Beginn Plinius als Autorität für dieses Wissen herangezogen:  

PLinius schreibt/ wie das der Schwan Die art vnd eygenschafft soll han/

montes“ (Esopus. Bd. 2, S. 73), in der Vorlage von II 3 folgendermaßen: „Horatius canit in lyricis: Celsae graviore casu decidunt turres feriuntque summos fulgura montes“ (ebd., S. 117).

4.3 Elemente der Affabulatio

313

Das/ wenn er mit dem Todt soll ringen So hebt er lieblich an zu singen (II 44,1–4).

Die hier wiedergegebene Erzählung geht auf die lateinische Fabel von Abstemius im Aesopus Dorpii zurück.719 Mit der Angabe des antiken Autors und dem naturkundlichen Wissen wird im Esopus humanistisches Bildungswissen angerissen. Was für den gelehrten Autor und intendierten gelehrten Rezipienten der Fabeln des lateinischen Werks Hecatomythium als Wissen vorausgesetzt werden kann, wird von Waldis im Esopus einem breiteren Rezipientenkreis verständlich gemacht.720 Zumeist handelt es sich bei den antiken Textstellen um Phrasen, in die eine Weisheit lehrsatzartig eingebaut ist und denen aufgrund der Markierung als Zitat eines antiken Autors zusätzlich Geltung zugesprochen wird. Die sprichwortartigen Phrasen, die unmarkiert Textstellen aus antiken Werken wiedergeben, verdeutlichen ein für die Frühe Neuzeit typisches, methodisches Problem. Nicht jede Textstelle, die sich ursprünglich in den Werken eines antiken Autors nachweisen lässt, sollte als intertextueller Verweis gewertet werden, bei dem der ursprüngliche Kontext der Textstelle mitgedacht werden muss. Im Gegenteil ist es mitunter wahrscheinlicher, dass die Textstellen auf die ubiquitäre kompilierende Florilegienkultur des ausgehenden Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zurückzuführen sind. So können sprichwortartige Wendungen ihre Einfügung ihrem Aphorismencharakter verdanken, der schon Ausgangspunkt für die Aufnahme in schriftliche Kompendien war. Nicht unbedingt muss von einem gedruckten Florilegium ausgegangen werden, ein Autor kann in der Produktion auch auf sein Bildungswissen aus dem Lateinunterricht zurückgreifen. In diesem wurden einerseits Aphorismensammlungen verwendet, andererseits war die eigene Blütenlese aus den klassischen Werken fester Bestandteil in der Aneignung der lateinischen und griechischen Sprache. Diese Beobachtung gilt auch, wenn Werke antiker Autoren als Fundus für historische Exempelgeschichten oder Exempelfiguren wie Ikarus dienen, etwa in I 63,21–36. Antike Zitate finden sich schon in den lateinischen Fabeln der Vorlage. In der Bearbeitung von Waldis erweisen sie sich als fakultative Bausteine. In der Affabu-

719 Dicke, Grubmüller listen in ihrer Übersicht lediglich die Waldisfabel als weitere Fassung auf, siehe DG 525. 720 Dieses Verfahren lässt sich auch beobachten, wenn antike Sitten erläutert werden. So fügt Waldis in der Fabel III 30, die von einem Jungen handelt, der Apoll überlisten möchte, eine einleitende Erklärung ein: „DEn Apollo die Heyden fragten | Denn er zuknfftig dinge sagte | Dasselb jm jederman zutraut/ | Zu Delphis war ein Tempel bawt/ | Da kam ein bser Bub verflucht | Denselben weisen Gott versucht“ (III 30,1–6).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

latio von I 13 sind Antikenzitate gestrichen, die sich in der Vorlage, der Dorpiusfabel De Cane et Asino, finden. In deren Morale werden mehrere antike Autoritäten aneinandergereiht: Morale. Non omnia possumus omnes [Vergil, Bucolica 8,63] (ut ait Virgilius in Bucolicis) nec omnes omnia decent, id quisque velit, id tentet, quod possit. Non simus id, quod graece significantius dicitur ὅνος λυρας, id est asinus lyrarum vel lyrae. Sic autem Boetius: asinus ad lyram positus. Repugnante natura irritus est labor. Tu nihil invita facies dicesve Minerva (teste Horatio).721

Hierbei wird über das Vergilzitat das Thema der von der Natur vergebenen Gaben zum schon in der Antike verbreiteten Motiv des singenden bzw. leierschlagenden Esels übergeleitet, um dann mit einem Horazzitat aus De arte poetica und dem Verweis auf die römische Göttin Minerva, die u. a. auch als Schutzgöttin der Dichter angerufen wurde, beim literarischen Handwerk zu enden. Das Morale wird somit zu einem Beispiel selbstreflexiver humanistisch-gelehrter Dichtkunst. Wiewohl im Deutschen der gleiche Fabelstoff wiedergegeben wird – der Esel ist auf die Zuneigung, die der reiche Herr dem Haushund entgegenbringt, neidisch und möchte sich mit einer Gesangseinlage und dem Versuch, ihm auf den Schoss zu klettern, einschmeicheln –, weicht die Affabulatio (V. 43–56) im Esopus stark von der Vorlage ab. Das Vergilzitat, das als solches im Lateinischen, nicht jedoch im Deutschen sprichwörtlich geworden ist, wird zwar übernommen und übersetzt: „Denn nicht all ding ein jederman | Außrichten/ vnd bestellen kan“ (I 13,45 f.). Die Thematik, dass nicht jeder zu allem beschaffen sei, wird aber in den Kontext der gottgegebenen Ständeordnung eingearbeitet, wie der einleitende Lehrsatz verdeutlicht: „Ein jeder sehe auff sein beruff | Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff“ (I 13,43 f.). Zwar wird auch der Esel aus der Fabelerzählung in der Affabulatio nochmals genannt, doch nicht mehr als literarisches Motiv. Stattdessen wird der Esel zusammen mit der zweiten Fabelfigur zum Beispiel von natürlich verteilten (Auf-)Gaben:  





Wo die Natur thut widerstreben Dahin soll sich niemandt begeben/ Der Esel kan nicht Hasen jagen Der Hundt kan auch kein secke tragen (I 13,47–50).

Im Kontext der gottgegebenen Ordnung wird die Lehre daran anschließend um den Bereich von Herrschaft und Dienst und die Verkehrung der hierarchischen Verhältnisse erweitert. Diese mag in der Fabelerzählung aufgrund der Konstellati-

721 Esopus. Bd. 2, S. 53.

4.3 Elemente der Affabulatio

315

on von Hausherr, Hund und Esel zwar angelegt sein, es wird aber kein Bezug dazu hergestellt. Vom kleinen individuellen Dienstverhältnis wird der Bogen zur Ordnung im gesamten Land geschlagen: Vorwar glaub mir es steht nicht fein Wo der Knecht vbern Herrn will sein/ Die Magd/ die Fraw verechtlich helt Solche haußhaltung mir nicht gefelt/ Ein jeder bleib bey seinem standt So steht es wol im gantzen Landt (I 13,51–56).

Das unmarkierte Vergilzitat ist in dieser Reihung von Lehren nur noch ein Lehrsatz unter mehreren. Die inhaltliche Aussage ist eine Art ‚Anker‘ für die folgende Lehre, die Autorität Vergils als antikem Autor wird aber nicht benötigt und daher auch nicht angezeigt. Die einzige Autorität in dieser Affabulatio ist die des Fabelautors: „Vorwar glaub mir“ (I 13,51). Zwei gegensätzliche Tendenzen lassen sich im Umgang mit den antiken Zitaten beobachten. Einerseits greift Waldis Zitate auf, vornehmlich von Horaz, die auch schon in den Dorpiusfabeln zu finden sind.722 Hierbei variiert die Markierung der Textstelle als Zitat. So übernimmt er mitunter die Autornennung aus der Vorlage, er präzisiert, so in der Affabulatio von I 36, das unbestimmtere „Pulchre id significat Lyricus ille noster“723 mit dem Autornamen: „Welchs Flaccus vns anzeiget schon | Jn einem kurtzen Saphicon“ (I 36,43 f.), oder er ergänzt den Autornamen, der schon in der Vorlage vorhanden ist um den Werktitel, wie in I 21,32.724 Demgegenüber findet sich aber auch die Tendenz, bei der Übernahme von Zitaten den Autornamen nicht anzugeben, wie in I 81,37. Von der ausgewiesenen Aussage Theokrits in der Vorlage: „Et alibi apud Theocritum in eglo [...]: Quae minime sunt pulchra, ea pulchra videntur amanti“,725 wird nur der Inhalt übersetzt: „Was an jm selber ist heßlich | Das macht die liebe seuberlich“, und um die Bildlichkeit von Rosen ergänzt: „Vnd fellt die lieb so baldt in kat | Als  

722 Etwa in I 18,38; I 21,31–34; I 36,45–49; I 45,31–38; I 62,25–38; I 63,18 und II 3,53–57. Im vierten Buch sind zwar auch Horazzitate vorhanden, vgl. Esopus. Bd. 2, S. 398, verglichen werden konnten aufgrund der Quellenlage aber nur Fabeln in den ersten drei Büchern. Ebenso gilt, dass auch schon in den Fabeln der ersten drei Bücher Horaz an Stellen zitiert wird, die nicht auf eine Vorlage zurückgehen. 723 Esopus. Bd. 2, S. 73. 724 Vgl. die Vorlage im Aeosopus Dorpii: „Hanc fabellam tangit Horatius“ (Esopus. Bd. 2, S. 60) mit der Markierung der Textstelle in I 21,31 f.: „Vber die selben Horatius klagt | In arte Poetica da er sagt“. 725 Esopus. Bd. 2, S. 102.  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

auff ein rotes Rosen blat“ (I 18,39 f.).726 Andererseits fügt Waldis in die Affabulatio Zitate ein, die sich in der Vorlage nicht nachweisen lassen. Besonders häufig gilt dies für Zitate aus oder Verweise auf Werke Ovids.727 Bedeutsamer als der Ursprung der Textstellen sind bei Zitaten ihre Einbettung, ihre Funktion und ihre Relation zur Fabelerzählung wie zu anderen Elementen in den Affabulationes. Der Umgang mit lateinischen Phrasen scheint zumeist assoziativ zu erfolgen und an den aktuellen Kontext angepasst, wie im Falle der Aussage über Homer, dem mitunter auch eine Ungeschicklichkeit unterlaufe: „Der gut Homerus auch wol stmmert“ (IV 76,56). Im Deutschen nicht als Sprichwort belegt, scheint Waldis hier die Aussage Horazʼ aus De arte poetica: „quandoque bonus dormitat Homerus“ zu übersetzen.728 Es ist nicht dem Zwang der Paarreimverse geschuldet, dass Homer nun stammelt bzw. stottert anstatt zu schlafen. Stattdessen fügt sich dies in den Kontext, in welchen das Sprichwort eingebaut ist. In der Fabelerzählung Vonn einem jungen Redner wird von diesem berichtet, wie er fleißig studiert, promoviert und sich besonders der Redekunst widmet:  

Doch trug er sonderlichen gunst Zur Rhetorick vnd redenheyt Wie man mit Kunst vnd gschickligheyt Mit worten soll ein sach auß fhren Nach glegenheyt all vmbstend rren (IV 76,4–8).

Als er in einer bedeutenden Angelegenheit „Vor Herrn vnd vor Landtsfrsten“ (IV 76,13) vortragen soll, präpariert er sich zuhause, indem er auf „hltzen Schsseln/ Teller/ Bret/ | Leffel vnd Molten was er het“ (IV 76,19 f.) die Namen der Zuhörer schreibt und vor diesen wochenlang seine Reden übt. In der tatsächlichen Redesituation bleiben dem jungen Redner jedoch die Worte weg. Die Fabel wird in der Affabulatio auf den bezogen, der, kaum studiert, sich schon für einen Weisen hält und „Des Lerambts sich zu baldt annimpt“ (IV 76,51). Sie bezieht sich also auf jene, die beruflich viel mit Reden zu tun haben. Auf das an diesen Kontext angepasste Sprichwort folgt eine Exempelgeschichte ähnlichen Inhalts,  

726 Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass es sich um Aussagen handelt, die aufgrund ihrer sprichwörtlichen Verbreitung als allgemeine Erfahrung schon genug autoritative ‚Beweiskraft‘ haben und der zusätzlichen Autorität eines antiken Dichters nicht bedürfen, wie das sprichwörtlich gewordene, nicht markierte man „Messe sich mit seinen eignen Fssen“ in I 63,18, welches in der Vorlage als Horazzitat ausgewiesen ist: „Tuo te pede metire, inquit Horatius“ (Esopus. Bd. 2, S. 91). 727 Etwa in I 63,21–26; I 67,35–38; II 12,85; II 49,49–52; III 8,23–26 sowie III 86,45–48. 728 Esopus. Bd. 2, S. 326.

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4.3 Elemente der Affabulatio

von einem jungen Lehrer, der seine erste Lektion vor kleinen Knaben halten muss und am Ende so durchgeschwitzt ist, Als wer er auß eim Ofen gschloffen Vnd sprach/ box grindt/ vnd heylger Wund Was ghrn viel wort zu einer stundt Jetzt ist mirs alles auß geschworn Was ich hab glernt in zwentzig Jarn (IV 76,66–70).

Die veränderte Metaphorik fügt sich in den Kontext der gescheiterten Rede. Zugleich lässt sich die Abweichung vom lateinischen Sprichwort selbstreflexiv interpretieren, da in dieser veränderten Wiedergabe Waldis unterstellt werden könnte, dass er bei der Wiedergabe selbst „stmmert“.729 Neben den Merkmalen ‚alt‘, wie es bei der Attribuierung von Aussagen als von ‚den Alten‘ augenfällig ist, und der Konnotation ‚Gelehrtenwissen‘ werden die referierten Autoren wiederholt als heidnisch ausgewiesen, so „Horatius der weise Heyden | Thut vns auß rechter kunst bescheyden“ (I 45,29 f.), „Virgilius der treflich Heyd | Gibt vns desselben feinen bscheyd“ (I 100,43 f.), „Es sagt Ouidius der Heyd | Von diesen sachen guten bscheyd“ (II 12,85 f.), „Drauff sagt der Heyd Carneades“ (IV 75,124) und „Wie Xenophon der Heyd vns sagt“ (III 94,272). Dieser Aspekt rückt in den Vordergrund, wenn der heidnische Autor ungenannt bleibt: „Das zeygt vns an der alte boß | Vom Heydnischen Philosophos“ (IV 44,47 f.) bzw. „Wie man von einem Heyden lißt“ (IV 62,50) bzw. nicht mal mehr der einzelne  







729 Einschlägige Untersuchungen zur Übersetzungstätigkeit Waldisʼ sind noch immer ein Desiderat. Doch zeichnet sich bei der stichprobenartigen Untersuchung der lateinischen Vorlagen und der Berücksichtigung von Aussagen des Autors in den Peritexten ab, dass je nach Inhalt und ursprünglicher Autorschaft unterschiedlich mit dem lateinischen Originaltext umgegangen wurde. So werden die äsopischen Fabeltexte des Aesopus Dorpii im Esopus mitunter recht genau übersetzt, aber doch deutlich häufiger mit verschiedensten Zusätzen versehen nachgedichtet und sogar in erheblicher und signifikanter Weise erweitert. Zugleich betonen Titelblatt, Vorrede und Erzählerkommentare in den Fabeln mehrfach die literarische Schaffenstätigkeit des Autors Waldis. Ein Gegenentwurf dürfte das von Waldis ins Deutsche übersetzte Regnum Papisticum darstellen. Waldis tritt darin nicht als Autor, sondern lediglich als Übersetzer auf. Thomas Kirchmayr, der Autor der lateinischen Ausgabe, ist der einzige auf dem Titelblatt genannte Autor: Das Ppstisch Reych. Ist ein Buch lüstig zu lesen allen so die warheit lieb haben/ Darin der Babst mit seinen gelidern/ leben/ glauben/ Gottsdienst/ gebreüchen vnd Cerimonien/ so vil mglich/ warhafftig vnd auffs kürtzeste beschrieben/ getheilt in vier Bcher/ Durch Thomam Kirchmayr. Von Waldisʼ Schaffen am Werk erfährt man nur in der zweiten, von ihm ge- und unterschriebenen Vorrede, in der er über seine Motivation informiert: „Nach dem aber hochgemelter unser gnediger Landtsfrst diß Buch auß dem latin uber zu setzen/ vnd in unser gemein deutsch zu bringen gnediglich mir hat befehlen lassen/ hab ich dasselbige als ein gehorsamer undersaß angenommen“ (Waldis: Ppstisch Reych, S. 13).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Autor, sondern eine Gruppe von Heiden für das Geschriebene bzw. Überlieferte bürgt: „Dauon auch viel die Heyden schreiben“ (IV 81,144) und „Es hielten auch viel weiser Heyden | Die sonst nit waren vnbescheyden“ (IV 95,85 f.). Die Aussprüche und Werke antiker Autoren bieten die Möglichkeit, in Abgleich mit der Bibel die kontinuierliche Geltung von Verhaltensweisen zu betonen. In IV 68,49– 54 geschieht dies ohne die Nennung konkreter Bibelstellen oder antiker Autoren:  

Ein gut gercht weit vbertrifft All edle Salb/ das zeugt die Schrifft Die Heyden haben auch beschlossen Daß einr soll Leib vnd leben lassen Vnd lieber alle not entpfinden Eh ers laß an der ehr erwinden.

Ergänzen können sich aber auch konkrete Aussagen und Autoren. So wird die Anweisung ‚lerne in der Jugend und arbeite fleißig‘ in II 17 erst mithilfe einer ausgewiesenen Bibelstelle (II 17,53–62) und dann mit dem Verweis auf Vergil (II 17,63–66) dargeboten: Der Prophet Jeremias sagt Jn seinem Liede da er klagt/ Vnd spricht/ es ist dem menschen ntz Das er seinen verstandt vnd witz/ Dahin richte in seiner jugent Sich fleiß zur arbeit/ vnd zur Tugent/ Vnd trag all zeit das Joch des Herrn/ Vnd thu sich seiner arbeit nehrn Nach Gottes gbot/ vnd seinem willen Damit dieselben thut erfllen/ Virgilius dasselb auch meldt Vnd spricht/ wer sich zur arbeit helt Leßt jm Kunst vnd tugent gefallen Erlanget lob/ vnd preiß bey allen.

Wie so häufig im Esopus bleibt es auch bei der Relation von Antikem und Christlichem nicht einfach bei einem simplen Nebeneinander. Cicero wird nur einmal nachweislich im Esopus herangezogen, in der Affabulatio von IV 95 warnt Christus Petrus davor, überheblich zu sein. Er tut dies u. a. mithilfe eines ungewöhnlich ausführlichen Verweises auf Cicero: „Der Cicero sagt diesen Spruch | Am neunden Brieff im ersten Buch“ (IV 95,301 f.). Eine derartige Vermischung eines antiken Textes und den Reden Jesu bleibt im Esopus aber singulär.  



4.3 Elemente der Affabulatio

319

4.3.4 Die Bibel Reformatoren des 16. Jahrhunderts betonen in den Vorreden ihrer Fabelbücher gerne die Nähe von Bibel und (äsopischer) Fabel. Diese besteht nicht etwa in einer christlichen Auslegung der heidnischen Fabelerzählungen.730 Verglichen werden Fabel und Bibel vielmehr über die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung, der ihnen zugeschriebenen lehrhaften Funktion und aufgrund der Vergleichbarkeit der Fabel mit Textsorten in der Bibel. So führt Luther, wie oben im Zitat aus einem Brief vom 23. April 1530 an Philipp Melanchthon ersichtlich,731 während seines Aufenthaltes auf der Veste Coburg die Beschäftigung mit den äsopischen Fabeln als gleichrangig mit der Beschäftigung des Psalters und der Texte der Propheten auf. Der Hinweis auf Fabeln in der Bibel, wie die Jotamfabel im Buch der Richter im Alten Testament, der schon vor den reformatorischen Entwicklungen, etwa bei Steinhöwel, Teil von Vorreden von Fabelsammlungen ist,732 wird auch in Sammlungen des 16. Jahrhunderts aufgeführt, so u. a. bei Alberus.733 In seinem Buch von der Tugent vnd Weißheit werden auch Christus und seine Gleichnisse in Zusammenhang mit der Fabel gebracht.734 Die funktionale Nähe von Gleichnis und Fabel ist für Alberus sogar Anlass, beide Textsorten gleichzusetzen: „Das ich aber den Fabeln die Gleichnisse gleich mache/ ist die vrsach/ das die Fabeln nichts anders sind/ dann liebliche Gleichnissen/ vnd eben dasselb außrichten/ das die Gleichnissen thun“.735 Waldis geht in den Peritexten des Esopus nicht auf die Bibel ein. Sie ist aber, das zeigt sich schon anhand der zahlreichen eingefügten Bibel 

730 Allegorische Auslegungen von Fabeln sind zwar im Mittelalter nachweisbar, für Beispiele siehe Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese, S. 69–76, sie stellen aber eine Ausnahme da. 731 Das Zitat siehe S. 135. 732 „[A]lso sind die fabeln Esopi uf die sitten der menschen geordnet. Und wir finden des glychen in dem buoch der richter, do die boum ains künigs begerten, und redten mit dem ölboum, figenboum, winreben und brunber studen“ (Steinhöwels Äsop, S. 6). 733 „Jm buch der Richter cap. 9. braucht auch der fromme Jothan ein Fabel/ da er den gotlosen Sichimitern jre undanckbarkeit frwirfft/ vnd die zuknfftige straff verkndiget. Die Bume (spricht er) giengen hin/ das sie ein Knig vber sich salbten/ vnd sprachen zum Olebaum/ sey vnser Knig etc.“ (Alberus: Fabeln, S. 29 f.). 734 „[A]lso muß man vns arme groben/ halßstarrige Leut/ mit fabeln vnd bildern betriegen vnd fangen/ dann sie gehn sß ein wie zucker/ vnnd sind gut zubehalten. Sie sind wie ein liecht an eim dunckeln ort/ Darum sich auch heilige Leut vnd Propheten nit schemen/ in jrer lere Gleichnissen vnd bilder zubrauchen/ ja vnser lieber Herr Christus (der die ewige weißheit Gottes ist) hat selbst sein heiliges Euangelium durch Gleichnissen gelert“ (ebd., S. 29). 735 Ebd.  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

stellen,736 die über die gesamte Sammlung verteilt sind, einer der wichtigsten fabelfremden Bezugspunkte. Die neue Zugänglichkeit der Bibel, etwa aufgrund der Übersetzung des Evangeliums, sodass die Schriften auch für Laien verständlich sind, wird von Waldis als eines der Merkmale der Gegenwart im Gegensatz zur Vergangenheit formuliert: „Das Euangeli da nit war | Wie es (Gottlob) jetzt offenbar“ (IV 4,15 f.). In I 90 wird anlässlich der Fabel vom Esel in der Löwenhaut auf die zahlreichen zeitgenössischen Irrlehren und ihre Prediger eingegangen. Der Vergleich mit dem Bibeltext ermögliche das Erkennen solcher Lehren als falsch:  

Der sein jetzt viel die vmbher streichen Zum armen Volck in dwinckel schleichen/ Viel ergerlich Artickel rren Damit das vnglert Volck verfhren/ Wenn man jr Ler im grundt besicht Helts bey die heilig Schrifft ans liecht/ Findt sichs vom Teuffel sein entsprossen Vnd durch ein Esels kopff geflossen/ Denn ragen auß die Esels Ohren Dabey man kennen mag den Thoren/ Zeuht man jm ab die Schmeychel haut So findt man drinn ein Teuffels braut Vnd ein bses verdampt gewissen Durch miß verstandt der Schrifft zerrissen (I 90,63–76).737

Die meisten Bibelstellen werden im Esopus in die Affabulationes eingebaut, doch finden sich auch einige in Fabeleingängen, die Themen der Fabelerzählung vorwegnehmen, wie etwa der Spruch ‚Gewalt geht vor Recht‘ aus Hab 1,3 in IV 97,7 oder die Anspielung auf das neunte Gebot in IV 14,3. Auch Fabelfiguren verfügen über Bibelkenntnisse, wie aus Figurenreden ersichtlich wird. So ermahnt der alte Besitzer eines Apfelgartens einen stehlenden Jüngling unter Berufung auf das zehnte Gebot: „Weyßt nit/ was dich die Schrifft thut lern? | Solt nicht deins nehsten gut begern“ (III 17,7 f.). In der Antwort des studierten Schweinehirten auf die Frage „Wie weit hinauff gen Himmel ist“ (III 92,46), in der er auf Christi  

736 Für eine Dokumentation sämtlicher im Esopus nachweisbarer Bibelstellen siehe Esopus. Bd. 2, S. 395–397. Nachzureichen sind lediglich für III 16,39 die Hinweise auf Mt 14,3 f., I Reg 16,28–33 sowie Apk 2,20–23, siehe Esopus. Bd. 2, S. 192. 737 Das hier beschriebene Vorgehen, Lehren selbst mit der eigenen Lektüre abzugleichen, kann als lutherisch umschrieben werden, denn „Die heilig Schrifft als Referenz und Korrektiv erinnert an das lutherische Prinzip sola scriptura, das darauf abzielte, alle theologischen Positionen auf den Bibeltext zurückzuführen“ (Esopus. Bd. 2, S. 109).  

4.3 Elemente der Affabulatio

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Himmelfahrt eingeht, werden mehrere Bibelstellen (Lk 24,50 f., Mt 28,20 und Act 1,9) miteinander verbunden:  

Mit gmeynem spruch ich das bewer Da Christus seinen Jngern schwur Darnach hinauff zum Vatter fuhr/ Gschahe vor Mittag am heilgen ort Denselben abent war er dort (III 92,142–146).738

Auch tierische Fabelfiguren beziehen sich auf die Bibel. Im Gerichtsstreit zwischen Wolf und Fuchs in IV 94 weist der Storch die Strafe ab, dem Fuchs die Haut abzuziehen, indem er sich auf die Bibel beruft: Mit grossem ernst die Schrifft gebeut Das/ wenn vorm Recht die armen leut/ Vom gegentheyl wern vberwunden Das sie jr Kleydt zur selben stunden Ablegen musten/ soll der ander (Will er anderst rechtmessig wandern) Das Kleydt bey tag zu voller gng Heym schicken/ dmit sich decken mg/ Oder zu seinr notturfft verkeufft (IV 94,209–217).

Der Storch scheint sich hier auf Ex 22,26 f. zu berufen: „WEnn du von deinem Nehesten ein Kleid zum pfande nimpst/ Soltu es jm widergeben/ ehe die Sonne vntergehet/ | Denn sein Kleid ist sein einige decke seiner haut/ darin er schlefft“.739 Im Abgleich von Figur und Figurenrede wird die Differenz zwischen Kenntnis der Bibel und Leben nach der Bibel zur Darstellung und Wertung der Figur benutzt. In IV 69 ist ein fetter Franziskanermönch gestorben und begehrt laut polternd Zugang zum Himmel. Noch bevor ihm Petrus den Bauch aufschneidet und der Inhalt sein angebliches Fasten als Lüge offenbart, entlarvt für einen christlichen Leser die argumentative Einbindung der Bibel in seine Rede den selbstgerechten Franziskaner. Er begründet den Umstand, dass er nie bei Armen, sondern nur bei Reichen gespeist habe, mit der Berufung auf das Leben Jesu:  

Denn/ wie die Euangeli deuten Hat Christus selb bein heylgen Leuten

738 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 237. 739 Ebd., S. 347. Eine solche Interpretation der Rechtsregel birgt ein gewisses Komikpotenzial, da die Haut des Fuchses hier wie ein beliebig austauschbares Kleidungsstück behandelt wird.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Verdient nit all zu grossen danck Das er mit sndern aß vnd tranck (IV 69,113–116).

Er beruft sich damit auf die Bibelstelle, in der beschrieben wird, wie Jesus eines Tages mit Zöllnern und Sündern isst und seine Jünger von den Pharisäern auf sein Verhalten angesprochen werden.740 Erstens reduziert der Franziskaner hier die Bibelstelle entscheidend, indem er ausblendet, dass Jesus in Mt 9,12 f. als Reaktion auf die Kritik der Pharisäer explizit dazu auffordert, mit Sündern zu speisen:  

Da das Jhesus höret sprach er zu jnen/ DIE STARCKEN DÜRFFEN DES ARTZTES NICHT/ SONDERN DIE KRANKEN. | Gehet aber hin/ vnd lernet/ was das sey (Jch habe wolgefallen an Barmhertzigkeit/ vnd nicht am Opffer) Jch bin komen die Sünder zur busse zu ruffen/ vnd nicht die Fromen.

Zweitens deutet die Bezeichnung der Pharisäer als heilige Leute auf ein verkehrtes Bibelverständnis hin. Für einen kundigen Leser der Bibel ist damit der vom Franziskaner benutzte Begriff der heylgen Leuten mit der Konnotation von ‚Heuchler‘ verbunden, wie es für die Pharisäer im Neuen Testament üblich ist.741 Da sich der Franziskaner als Ordensmitglied selbst zu den Heiligen rechnet: „Weil ich doch bin von heylgen Leuten“ (IV 69,71) „Vnd so ein heyligs leben gfhrt | Auff das ich dadurch selig wrd“ (IV 69,79 f.), wird somit die Bedeutung ‚Heuchler‘ auf den Franziskaner übertragbar. Auch das erzählende Sprecher-Ich zitiert die Bibel, wie in IV 84,18 f.: „(Wie Christus sagt) ein newer Must | Leßt sich in alte schleuch nit fassen“ zur Verdeutlichung, dass ein junger Bauerssohn trotz intensiver Versuche nicht zur Unterweisung durch den Pfarrer geeignet ist. In IV 83 wird auf Gebote Christi hingewiesen, um die Simonie, den Ämterverkauf des Papstes, zu verurteilen:  



Drumb jn das Gbot gar nit anficht Das Christus zu sein Jngern spricht/ Weil jrs vmbsunst entpfangen haben Solt jr dafr begern kein gaben (IV 83,47–50).

740 So in Mt 9,10 f.: „Vnd es begab sich/ da er zu tisch sass im Hause/ Sihe/ da kamen viel Zölner vnd Sünder/ vnd sassen zu tische mit Jhesu vnd seinen Jüngern. | Da das die Phariseer sahen/ sprachen sie zu seinen Jüngern/ Warumb isset ewer Meister mit den Zölner vnd Sündern?“. 741 Vgl. Mt 23, besonders Mt 23,27–29: „WEh euch Schrifftgelerten vnd Phariseer/ jr Heuchler/ Die jr gleich seid wie die vbertünchte Greber/ welch auswendig hübsch scheinen/ Aber inwendig sind sie voller Todtenbein/ vnd alles vnflats. | Also auch jr/ von aussen scheinet jr fur den Menschen from/ Aber inwendig seid jr voller heucheley vnd vntugent. | WEh euch Schrifftgelerten vnd Phariseer/ jr Heuchler/ Die jr der Propheten greber bawet/ vnd schmücket der Gerechten greber“.  

4.3 Elemente der Affabulatio

323

Am häufigsten sind Bibelstellen im Esopus aber als Elemente in der Affabulatio vorhanden. Referiert werden sowohl Textstellen, die auf das Alte und Neue Testament sowie, als einzigen apokryphen Text, auf das Buch Sirach zurückgehen. Ihre Markierung als ‚biblisch‘ variiert. Neben zahlreichen unmarkierten Versen wird allgemein auf die ganze Bibel als „Schrifft“ (II 14,19), „Gttlich Schrifft“ (IV 18,66; IV 38,39), „heilig Schrifft“ (I 90,68) bzw. „heilgen Schrifft“ (II 21,51; IV 96,17; II 8,23), „wort Gotts“ (IV 5,90) bzw. „das Gottswort“ (IV 6,50), Gottes „wort vnd gantze Schrifft (IV 6,58) und „alt vnd newem Testament“ (IV 96,81) verwiesen. Daneben tritt der Verweis auf Teile der Bibel, wie das „Gottes gebot“ (II 40,31), das „Euangelio“ (I 7,33; II 41,35; IV 18,34) bzw. „die Euangeli“ (IV 69,113) oder auch „im Psalm“ (III 18,28). Eine dritte Form des Verweises ist die Nennung von biblischen Autoritäten in ihrer Funktion als Sprecher, wie „Das klaget Dauid in der Schrifft“ (II 11,104), „Das lobet Dauid“ (I 58,25), „Der Prophet Jeremias sagt | Jn seinem Liede da er klagt“ (II 17,53 f.), „Sanct Paulus sagt“ (I 9,89; II 26,89), „Maria im Magnificat/ | Da sie von Gott dem Vatter singt“ (I 87,38 f.) und „Es spricht der Herr Christus also | Jm Euangelisten Mattheo“ (I 80,31 f.). Derart vage Markierungen der Bibelstellen fordern nicht zum Nachschlagen auf, vielmehr wird hier das Merkmal ‚christlich‘ oder ‚basierend auf einem Bibeltext‘ hervorgehoben. Eine Markierung, die ein einigermaßen zielgerichtetes Nachlesen ermöglicht, findet sich nur an einer Stelle: „Wie vns Sanct Paulus auch thut lern | Am dreyzehenden zun Rmern“ (I 40,69 f.). Auf zwei Autoritäten der Bibel wird am häufigsten hingewiesen. Aus dem Alten Testament ist dies aufgrund seiner Sprüche und Gleichnisse „Der grosse Knig Salomon | Welcher wirdt in der Schrifft gepriesen“ (IV 75,62 f.). In Epitheta wird seine Nobilität: „Wie Salomon der Knig sagt | Vnd alle Welt darber klagt“ (IV 95,275 f.) und seine Weisheit: „Salomon den edlen weisen | Den seiner zeit all Welt thut preisen“ (IV 81,161 f.) hervorgehoben. Genannt werden auch seine Lehren: „So lert der weise Salomon“ (III 40,58), „Wie der weiß Salomon vns lert“ (IV 11,40) und „Der weise Knig Salomon | Dasselb durch gleichnus zeiget an“ (II 1,43 f.). Aus dem Neuen Testament stammt die wichtigste Lehrautorität, Christus: „Es lert vns Christus Gottes Son“ (I 14,59). Die Lehre und die Nennung der beratenden, warnenden oder gebietenden Rede Christi bilden wiederholt die Markierung von Bibelstellen: „Das Euangelion vns lert | Wie Christus selber disputert“ (I 7,33 f.), „Ht euch (sagt Christus)“ (I 90,81), „Wie Christus selb thut rathen das“ (II 35,42) und etwa „Gleich wie vns Christus selb bericht“ (IV 64,67) und „Wie vns heyßt Christus vnser Herr“ (IV 62,85). Der angesprochene Rezipient der Fabel ist christlich:  

















Drumb spricht auch Christus das er wolt Jn aller noth/ angst/ vnd elendt

324

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Bey vns sein biß an der Welt endt Das wlln wir jm als Christen glauben (II 50,64–67).

In der Fabelsammlung, die dezidiert nicht für Gelehrte vorgesehen wurde, wird der Kenntnis, dem Studium und dem Befolgen der „Schrifft“ zugesprochen, das einzige zu sein, was erlernt werden sollte: Denn dis ist nur die eynig Kunst Die vns bey Gott erlanget gunst Das wir lernen auff dieser Erden Wie wir mgen endtlich Selig werden […] Vnd steht der Mensch nacket vnd bloß Verlassen/ aller hilff trostloß/ Wo er das rechte ziel denn trifft Vnd sich kan richten nach der Schrifft/ Vnd kan sich an den Christum halten […] So ist er warlich recht gelert Hat all sein lebtag wol studiert (II 21,75–100).

Die Berufung auf die Bibel und das Befolgen von christlichen Geboten dienen wiederholt der Abgrenzung von Klerikern der Papstkirche. So wird etwa in der Affabulatio von IV 18 auf das scheinheilige Verhalten von Franziskanern eingegangen. Diese sehen sich zwar in der Nachfolge der Apostel: „Denn das wir des Herrn Christi ler | Nach folgen/ wie die Aposteln theten“ (IV 18,22 f.). Ihre Berufung auf das Armutsgebot:  

Lassen vns stets an dem gengen Was vns heute Gott thut zu fgen Dencken nit/ was wir sollen morgen Essen/ lassen wir Gott vor sorgen Gedencken das der morgend tag Auch vor sich selber sorgen mag/ Denn vnser thun ist anderst nicht Denn auff das Euangelj gricht (IV 18,27–34),

deckt sich jedoch nicht mit deren in der Fabelerzählung geschilderten Verhalten. Die Abweichung ist Gegenstand der Affabulatio: Hie siht man/ wie der Geystlich standt Die Gttlich Schrifft helt vor ein tandt Wenden dieselb nur fr zum schein Vnd muß jr snden deckel sein (IV 18,65–68).

Bibelstellen werden auf unterschiedliche Weise in den Esopus eingebracht. Zahlreiche sprachliche Ausdrücke gehen auf Bibeltexte zurück, etwa lässt sich: „ein

4.3 Elemente der Affabulatio

325

sß Placebo singen“ (I 55,35) als Umschreibung für ‚schmeicheln‘ zurückführen auf den lateinischen Ps 114,9 (bei Luther Ps 116,9): „placebo Domino in regione vivorum“.742 Das Bild, dass die Ungerechten im Himmel „zum Fußschemel“ (II 96,20) werden, rührt von Ps 110,1: „Setze dich zu meiner Rechten/ Bis ich deine Feinde zum schemel deiner Füsse lege“. Typisch für die Übernahme von Redensarten kann der ursprüngliche Kontext zugunsten einer neuen Einbettung oder eines neuen Bezuges vernachlässigt werden, wie bei dem Ausdruck „Jn jrem eygen Netz behangen“ (III 54,28). Er lässt sich zurückführen auf Ps 9,16: „Die Heiden sind versuncken in der Gruben/ die sie zugericht hatten/ Jr fus ist gefangen im Netz/ das sie gestellet hatten“. Subjekt sind im Esopus statt der Heiden „die Gesellen | Die sich mit lgen decken wllen“ (III 54,25 f.). Wie schon bei den meisten Antikenzitaten ist der ursprüngliche Kontext nicht von Bedeutung, Ausgangspunkt für den Eingang in die Fabeln ist zumeist die Aussage der einzelnen Bibelstelle. Weil Angaben zur Bibelstelle vage oder nicht vorhanden sind, ist auch nicht immer mit Sicherheit die Referenzstelle zu ermitteln oder es gibt verschiedene Möglichkeiten. In III 39,55–58 etwa ist zwar Salomon als Urheber genannt, die Textstelle aber nicht genauer eingegrenzt:  

Die straff kumpt den Kindern zu gute Wenn mans zchtigt mit einer rhuten/ Bey zeit/ weil sie sich straffen lahn So lert der weise Salomon.

In Frage käme sowohl Prov 13,24: „WER SEINER RUTEN schonet/ der hasset seinen Son/ Wer jn aber lieb hat/ der züchtiget jn bald“, als auch Prov 23,13 f.: „LAS NICHT AN DEN KNABEN zu züchtigen | Denn/ wo du jn mit den Ruten hewest/ So darff man jn nicht tödten. | Du hewest jn mit der Ruten/ Aber du errettest seine Seele von der Hellen“.743  

742 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 109. 743 Ebd., S. 206. Solche Unbestimmbarkeiten finden sich noch häufiger, nicht genauer einzugrenzen ist etwa auch der Verweis auf einen Psalm in III 18,28–30: „Gleich wie im Psalm geschrieben steht/ | Das dem/ ders frommen nicht verschont | Mit gleicher bzalung werdt gelohnt“. Laut Esopus. Bd. 2, S. 193 könnte sich dies auf Ps 107,42 beziehen: „Solchs werden die Fromen sehen vnd sich frewen/ Vnd aller Bosheit wird das maul gestopfft werden“, oder auf Ps 58,7–11: „GOtt zubrich jre Zeene in jrem maul/ Zestosse HERR die Backenzeene der jungen Lewen. | Sie werden zergehen wie Wasser/ das da hin fleusst/ Sie zielen mit jren Pfeilen/ Aber dieselben zubrechen. | Sie vergehen wie eine Schnecke verschmachtet/ Wie ein vnzeitige Geburt eines Weibes/ sehen sie die Sonne nicht. | Ehe ewre Dornen reiff werden am Dornstrauche/ Wird sie dein zorn so frisch wegreissen. | DEr Gerecht wird sich frewen/ wenn er solche Rache sihet/ Vnd wird seine füsse baden in des Gottlosen blut“.

326

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Des Weiteren dient die Bibel als ein Fundus für Exempelfiguren wie Jakob (II 16,38; III 93,217–221), David und Goliath (I 59,46–48; II 26,67–82; III 7,35 f.), „Herodias vnd Jesabell“ (III 16,39), Lazarus (II 21,56), Simon, der die Gabe des Heiligen Geistes kaufen möchte (IV 83,34–36), der kreuztragende Simeon (II 37,16) sowie Exempelgeschichten:  

Die Schrifft sagt von dem Knig Saulen Der sucht mit fleiß seins Vatters Maulen/ Vnd fandt das Reich zu Jsrael Wie jm anzeigt der Samuel (III 50,19–22).

Die Art und Weise, wie Exempelfiguren und ihre Geschichten eingebaut werden, variiert ebenso wie das, wofür sie als Beispiele herangezogen werden und wie sie gedeutet werden. Sie können lediglich genannt werden, wie Jakob als Beispiel dafür, wie ungeliebte Kinder häufig von Gott begabt werden: „Den Jacob han wir des zur prob“ (II 16,38), in einer anderen Fabel können hingegen ihre Geschichte oder Teile davon ausgewählt und wiedergegeben werden, wie in III 93,217–224: Jacob dient Laban zwentzig Jar Mit trew/ vnd frummen hertzen zwar/ Das er seint halben wardt gar reich/ Doch theylet er mit jm vngleich Sein lohn jm zehen mal verwandelt Vnd gar vnfreundtlich mit jm handelt Jedoch schickt Gott die sach des fugs Das Labans gut an Jacobs wuchs.

Jakobs Geschichte vom Dienst bei Laban ist in dieser Affabulatio verknüpft mit einer vorangestellten Aussage zum Dienst bei Geizigen und Gottes gerechtem Lohn: Denn so schaffts Gott stets mit den argen Was sie mit schinden/ schaben/ kargen An jren dienstbotten ersparn Das muß doch als zum Teuffel fahrn Wies kumpt so gehts auch wider hin Eitel verlust/ vnd kein gewin/ (III 93,211–216).

Zugleich ist die Bibel Quelle zahlreicher Sprichwörter. Der Spruch: ‚Ein Blinder führt den anderen‘ etwa, welcher auf Mt 15,14: „Wenn aber ein Blinder den anderen leitet/ so fallen sie beide in die Gruben“, zurückgeht, findet sich in IV 46,65: „Da fhrt ein blindt den andern blinden“. „Ja die sich halten fr die besten | Werden vor Gott die aller letsten“ (IV 3,83 f.) lässt sich zurückführen auf  

4.3 Elemente der Affabulatio

327

Mt 19,30: „Aber viel die da sind die ersten/ werden die letzten/ Vnd die letzten/ werden die ersten sein“. Viele dieser unmarkierten sprichwörtlichen Wendungen sind im 16. Jahrhundert zugleich unabhängig von ihrem Ursprungstext im mündlichen und schriftlichen Gebrauch nachweisbar. Dies gilt etwa für sämtliche Bibelstellen, die im Register der Esopus-Edition für das Buch Sirach aufgelistet werden. So geht das sprichwörtliche „Also wenn einer Bech anrrt | So wirdt er von dem Bech beschmiert“ (I 53,19 f.) auf Sir 13,1: „WER PECH ANGREIFFT/ DER BESUDELT SICH damit“ zurück.744 Die Sprüche können in ihrer Anwendung nahezu beliebig variiert, erweitert, verkürzt und mit anderen Elementen kombiniert werden. Sir 27,28 f.: „WER DEN STEIN IN HÖHE WIRFFT/ DEM fellet er auff den kopff/ Wer heimlich sticht/ Der verwundet sich selbs. | Wer eine Grube grebt der fellt selbs drein. Wer einem andern stellet/ der fehet sich selbs“ bietet vier Sprüche. Von diesen wird in II 80,41 f. leicht variiert der erste Teil von Sir 27,28 wiedergegeben: „Wer einen Steyn wirfft oben auß | Dem fellt er auff sein eygen Hauß“. In I 35,41–44 ist der Spruch hingegen kombiniert mit dem ersten Teil von Sir 27,29:  





Wer einen Steyn wirfft vbersich Felt auff jn selb gemeyniglich Wer seinem nehsten ein gruben grebt Darff selbs wol das man jn draus hebt (I 35,41–44).

Beide Sprüche gelangen in der Frühen Neuzeit für sich zu sprichwörtlichem Gebrauch.745 In II 9,33 f. ist der erste Teil von Sir 27,29: „Die grub welch er hat selber graben | Muß er zur Rach offt selber haben“ wiederum in eine Sprichwortkette eingebaut, die aus insgesamt vier Redensarten und Sprichwörtern besteht, von denen II 9,30: „Mit jrem eigen schwerdt geschlagen“ auf den Bericht in I Sam 17 zurückgeht, nach welchem David Goliath mit dessen eigenem Schwert erschlagen hat. Die Verse: „Ein strick offt einr dem andern stellt | Darinn zu letst er selber fellt“ (II 9,31 f.) ist dem zweiten Teil von Sir 27,29 entnommen. Der letzte Vers der Sprichwortkette: „Vnd schleht vntrew jrn eigen Herrn“ (II 9,35), ist als ‚Untreue fällt zuerst auf den Untreuen zurück‘ ebenfalls sprichwörtlich nachweisbar.746 Die Kombination mehrerer Sprüche ist nicht einfach, wie im obigen Beispiel, schon in der Bibel vorgegeben, wie die Verbindung zweier Sprichwörter in I 88,11–14 zeigt:  



744 Esopus. Bd. 2, S. 84. 745 Siehe ebd., S. 72. 746 Siehe ebd., S. 120 mit weiterführenden Hinweisen zum sprichwörtlichen Gebrauch.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Sunst sagt man/ Artzt/ sihe deinen feyl Mach erst dein eigen wunden heyl/ Auß deinem Aug den Balcken fhren So magst darnach den Splitter rren (I 88,11–14).

Hier wird die in der Bibel schon in Lk 4,23 als Sprichwort markierte Aussage: „Vnd er sprach zu jnen/ Jr werdet freilich zu mir sagen dis Sprichwort/ Artzt hilff dir selber“ mit dem Bild vom Splitter im Auge des Anderen und dem Balken im eigenen in Mt 7,5 verbunden: „Du Heuchler/ zeuch am ersten den Balcken aus deinem auge/ Darnach besihe/ wie du den Splitter aus deines Bruders auge ziehest“. Die Form eines Ratschlages oder einer Verhaltensanweisung kann bereits in der Bibel vorgegeben sein, wie in der sprichwörtlich verwendeten Stelle aus Sir 7,40: „WAs du thust/ so bedencke das ende/ So wirstu immer mehr vbels thun“, welches in I 18,51 f. aufgeführt ist: „Was du anfahst des hab gut acht | Hebs weißlich an das endt betracht (I 18,51 f.).747 Umgekehrt kann eine Bibelstelle als Aussage des Sprecher-Ichs verpackt sein, wie in II 49,41 f.: „Drumb rath ich eim jedern bey leib | Das er in seiner bruffung bleib“. Dieser Rat findet sich in Sir 11,20 f.: „BLeibe in Gottes wort/ vnd vbe dich drinnen/ vnd beharre in deinem Beruff/ Vnd las dich nicht jrren/ wie die Gottlosen nach Gut trachten. | Vertrawe du Gott/ vnd bleibe in deinem beruff“, und I Kor 7,20: „Ein jglicher bleibe in dem ruff/ darinnen er beruffen ist“. Der Rückgriff auf die Bibel erscheint assoziativ, das eingebrachte Sinnangebot der Bibelstelle kann sich verselbstständigen:  







Waldis beruft sich auf Worte des Evangeliums, wo immer er einen Anknüpfungspunkt in der erzählten Fabel oder ihrer Lehre findet. Häufig kommt es hierbei jedoch nicht zu einer rechten Konkordanz, vielmehr leitet die höhere Autorität der Heiligen Schrift dann die eigentliche Thematik der Fabel auf ein zwar benachbartes, aber das Verständnis doch in eine andere Richtung führendes Gleis. So wird durch die Berufung auf eine Stelle im 1. Brief des Apostels Paulus an Timotheus aus der Alternative zwischen einem genügsamen Leben in Sicherheit und einem üppigen Leben unter ständiger Bedrohung in der Fabel „Von der Stadtmaus und der Feldmaus“ (I,9) der Gegensatz zwischen Verdammnis und Gottseligkeit.748

Es lassen sich aber thematische Tendenzen zu gewissen Themen ausmachen, die über Bibelstellen eingebracht oder durch diese argumentativ gestützt werden. Die Welt gilt als Schöpfung Gottes, die auf „Gotts Ordnung“ (IV 30,52) basiert. Diese zeigt sich in gesellschaftlichen Ordnungen, wie die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau in einer Paarbeziehung, die in Gen 1,27 f. verhandelt  

747 Zu Nachweisen des sprichwörtlichen Gebrauchs siehe Esopus. Bd. 2, S. 59. 748 Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel, S. 83.

4.3 Elemente der Affabulatio

329

wird.749 Dieser wird in Form der Ehe von Waldis Bestand bis zum Ende der Welt zugesprochen: Allein das mich die Schrifft bericht Gott schuff dem Menschen seel vnd leib Von anfang/ das sie Mann vnd Weib Solln sein/ im Ehestandt Kinder beren Segnets/ hieß wachssen vnd vermehren Dasselb also nu vor sich geht Vnd biß zum end der Welt besteht (IV 30,44–50).

Ebenso werden Beurteilungen über Vorgänge und Zustände in der Welt mit Berufung auf die Bibel als konstant dargestellt. In III 90,49–51 betrifft dies die Bösartigkeit des Menschen, die als anthropologische Konstante dargestellt wird: Vnd ist das menschlich hertz frwar (Wie die Schrifft zeuget offenbar) Mehr auffs bß denn auffs gut geneygt (III 90,49–51).750

Kontinuität zeigt sich auch bei der Bewertung des Lebens als Mühsal. Nicht wenige der Urteile über die Welt, die als pessimistische Einstellung des Autors gewertet werden könnten, gehen auf indirekte Bibelzitate zurück, wie die wiederholte und hierbei variierte Verurteilung des Menschen beim Sündenfall in Gen 3,19: „Jm schweis deines Angesichts soltu dein Brot essen/ Bis das du wider zu Erden werdest/ da von du genomen bist/ Denn du bist Erden/ vnd solt zu Erden werden“, die in II 14,22 formuliert ist: „Jm schweyß solln wir das Brodt geniessen“ (II 14,22), und IV 55,58: „Durch sauren schweyß die kost gewinnen“ (IV 55,58). In III 48 ist die Wendung wiederholt, variierend wird sie aber eingebunden in die Gedankenfigur, dass, wer sich nach seinem Vermögen um Nahrung bemüht, sich keine Sorgen machen muss, da er zur Genüge versorgt werde: Ein jeder soll sein vnuerdrossen Zur arbeit/ vnd Gott sorgen lassen/ Wer sich im schweyß seins angsichts nehrt Jm glauben dem wirdt gnug beschert (III 48,23–26).

Zugleich dienen Bibelstellen auch der Formulierung von Positionen zu zeitgenössisch aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen wie der durchlässiger gewordenen Ständeordnung. Die wertkonservative Einstellung:

749 Esopus. Bd. 2, S. 287, dort auch der Verweis auf die Predigten Luthers über die Stelle. 750 Ebd., S. 234 verweist auf Gen 6,5 und 8,21 als mögliche Referenzstellen.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Ein jeder soll zu frieden sein Mit seim befelh/ Ampt/ vnd beruff Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff (I 4,22–24),

ist identisch mit dem oben schon zitierten, sprichwörtlich gewordenen Spruch in Sir 11,20 f. Den Aussagen, Waldis entwerfe „ein düsteres Bild seiner Zeit“ und das „Bild von der ‚Schlechten Welt‘ ist ein Topos, entspricht aber auch der eigenen Anschauung des Dichters“,751 kann entgegen gehalten werden, dass in den Fabeln durch die aufgenommenen Bibelstellen zugleich ein profundes und hoffnungsvolles Gottvertrauen zu Wort kommt. In II 14,17–19 wird die Versorgung des Menschen durch Gott zur Sprache gebracht:  

Zu vnderhalt des Menschen leben Hat Gott bestendige mittel geben Wie er vns in der Schrifft thut weisen.

Diese Aussage lässt sich auf Gen 1,29, Gen 9,3, Ps 136,25 und Mt 6,26 zurückführen.752 Die Begabung Gottes gilt als gerecht, dies zeigt sich in III 13,17 f.: „Gott hat sein gaben auß getheylt | So weißlich das an keinem feyhlt“, welches sich auf I Kor 1,7: „Also/ das jr keinen mangel habt an jrgent einer Gaben“ zurückführen lässt.753 Die Geltung dieser Aussage wird in der Affabulatio anschließend ausdrücklich betont: „Dabey wlln wirs auch lassen bleiben | Als seiner gt vnd gnad zuschreiben“ (III 13,19 f.). Der sprichwörtliche Vergleich des Lebens mit einem Kampf, der sich auch in Hi 7,1 findet: „MVS nicht der Mensch jmer im Streit sein auff Erden“, wird in der Affabulatio von II 93 als Prüfung Gottes dargestellt und mit der zweiten Bitte des Vaterunsers (Mt 6,10) beendet:  



Diß leben ist ein steter kampff Nach dem Sonnenschein folgt ein dampff/ Das leßt vns Gott zum besten gschehen Als thet er durch die finger sehen/ Auff das wir gfegt werden recht frumb Vnd bitten das sein Reich zukumm (II 93,37–42).

751 Rehermann, Köhler-Zülch: Aspekte, S. 36. 752 So Esopus. Bd. 2, S. 124. Vgl. Gen 1,29: „VND Gott sprach/ Sehet da/ Jch hab euch gegeben allerley Kraut/ das sich besamet auff der gantzen Erden/ vnd allerley fruchtbare Bewme/ vnd Bewme die sich besamen/ zu ewr Speise“, Gen 9,3: „Alles was sich reget vnd lebet/ das sey ewre Speise/ wie das grüne Kraut/ hab ichs euch alles gegeben“, Ps 136,25: „Der allem Fleisch speise gibt/ Denn seine güte weret ewiglich“, und Mt 6,26: „Sehet die Vogel vnter dem Himel an/ Sie seen nicht/ sie erndten nicht/ sie samlen nicht in die Schewnen/ Vnd ewer himlischer Vater neeret sie doch“. 753 Esopus. Bd. 2, S. 190.

4.3 Elemente der Affabulatio

331

Auf die Nöte des Lebens sei mit Bitten zu begegnen, es sei fest auf die göttliche Zusage zu vertrauen: Da solln wir bitten Gott den Herrn Er wll vns hilff vnd trost beschern/ Vnd vns in aller not vertretten Auß fahr Leibs/ vnd der Seel erretten/ Das thut er denn/ on allen btrug Gewißlich/ vnd on alln verzug/ Nach seiner Gttlichen zusag/ Jst gwiß/ vnd war/ darff keiner frag (II 14,37–44).754

Zahlreiche Gebote und Vorschläge zur Lebensführung werden mit dem Verweis auf die Bibel eingebracht oder unterstützt. Ausgangspunkt bilden vor allem die zehn Gebote sowie die Reden Christi in den Evangelien. In IV 20 wird die Affabulatio mit dem Hinweis auf die zehn Gebote eröffnet. Das zehnte Gebot (Ex 20,17) wird um die Alternative ergänzt, ‚man soll sich durch die eigene Arbeit ernähren‘ – dies lässt sich zurückführen auf II Thess 3,10 –, um dann das fünfte Gebot (Ex 20,13) zu nennen und auf die gerechte Strafe Gottes einzugehen, die auf Mord folgt, wie es in Gen 9,6 behandelt wird: Die Gottes gbot vns ernstlich leren Wir solln kein frembdes gut begeren Jeder soll sich seinr arbeit nehren Nit auff eins andern Seckel zeren/ Auch ist von Gott gar hoch verbotten Das wir kein Menschen sollen todten/ Wer Menschen blut vergeußt auff Erden Des Blut soll auch vergossen werden Denn Gott hats selb also verschafft Kein Mordt soll bleiben vngestrafft (IV 20,59–68).

Für sich gestellt mag diese Auswahl an Bibelstellen zufällig wirken, sie ist jedoch abgestimmt auf die Ereignisse in der Fabelerzählung. Darin wird wiedergegeben, wie ein reicher Jude von seinen Begleitern, die ihn schützen sollten, aus Habgier umgebracht und ausgeraubt wird. Die beiden Mörder verraten sich ein Jahr später, weil sie lachen müssen, werden vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nachträglich wird die Geschichte in der Affabulatio durch den Einbezug

754 Ebd., S. 124 stellt einen Bezug zu Joh 16,23 her: „WARLICH/ WARLICH/ JCH SAGE EUCH/ SO JR DEN VATER ETWAS BITTEN WERDET IN MEINEM NAMEN/ SO WIRD ERS EUCH GEBEN“.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

der Bibelstellen so gedeutet, dass sich in dem Schicksal der Mörder das Wirken Gottes zeigt. Ein Thema wie die Mildtätigkeit gegenüber den Armen kann mithilfe verschiedener Bibelstellen in den Esopus eingebracht werden. Eine alttestamentarische Textstelle kann ebenso eine Referenz sein wie eine aus den Evangelien. Zugleich wird das Thema unterschiedlich in die Affabulatio eingebaut und weiterentwickelt. Mildtätigkeit gegenüber den Armen wird einerseits in I 98 unmarkiert eingefordert: „Man weyß wol das man sich der armen | Jn jren nten soll erbarmen“ (I 98,18 f.). Es lässt sich in dieser Form auf Prov 14,31 zurückführen: „Aber wer sich des Armen erbarmet/ der ehret Gott“. Im weiteren Verlauf der Affabulatio wird das Verhalten begründet, indem auf die möglichen weltlichen Folgen hingewiesen wird:  

Wer in der not den armen fleuht Vnd jm sein mglich hilff entzeuht/ Dazu noch weiter vnderdrckt Weils dem mißgeht/ vnd vngelckt/ So kans doch wider kommen offt Das der (wenn man sichs nit verhofft) Welcher erst wardt verdrcket gar Mit freuden schwebt wider empor/ Vnd jener denn auch schaden nemen Vnd sich seinr vorigen that muß schemen (I 98,20–28).

In IV 62 wird Mildtätigkeit hingegen explizit als Lehre Christi ausgewiesen: Wir Christen aber han die Ler Wie vns heyßt Christus vnser Herr Das wir solln vnser milde gaben Mittheyln alln dies von nten haben (IV 62,85–88).

Die Aussage ist die gleiche wie im Prov 14,31. Da die Rede Christi als Kontext genannt wird, könnte auch Lk 12,33 aufgerufen sein: „Verkeuffet was jr habt/ vnd gebt Almosen“. Es bleibt in dieser Affabulatio nicht bei nur einem christlichen Gebot. Die Mildtätigkeit als Gebot der Nächstenliebe wird in den nächsten Versen erweitert um die Feindesliebe: „Auch vnsern Feinden lieb beweisen | Damit den Himlisch Vatter preisen“ (IV 62,89 f.).755 Die Begründung für ein solches Verhalten ist nicht der weltliche Lohn, sondern die Rechenschaft, die einen am Jüngsten Tag erwarte:  

755 Vgl. Lk 6,27: „ABer ich sage euch/ die jr zuhöret/ Liebet ewre Feind. Thut denen wol die euch hassen“.

4.3 Elemente der Affabulatio

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Warten dafr ein grssern lohn Denn jrkein Mensch hie geben kan Haben den trost/ vnd die zusag Das vns nit bleibt an jenem tag Ein Wassertrunck eim armen bracht Vnuergolten/ oder vnbedacht (IV 62,91–96).

Auch die abschließende Aussage findet sich in der Bibel, etwa in Mt 10,42: „Vnd wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kaltes Wassers trenckt/ in eines Jünger namen/ Warlich ich sage euch/ Es wird jm nicht vnbelohnet bleiben“.756 Der Ungerechtigkeit in der Welt wird die Hoffnung auf die Gerechtigkeit Gottes gegenübergestellt. Beispielsweise seien Untreue und ungerechte Behandlung durch Dienstherren zwar alltäglich und häufig anzutreffen, aber „Das straffet Gott zu seiner zeit/ | Verdienter lohn in Himmel schreit“ (I 57,45 f.). Der Kommentar der neuesten Esopus-Edition weist darauf hin, dass Waldis hier zwei Vorstellungen kombiniert, die sich auf das Alte Testament zurückführen lassen. Die Strafe Gottes zu seiner Zeit ist in Dtn 32,35 angesprochen: „DJE RACHE IST MEIN/ JCH WIL VERGELTEN/ Zu seiner zeit sol jr fuss gleitten/ Denn die zeit jres vnglücks ist nahe/ vnd jr künfftiges eilete erzu“.757 V. 46 der Fabel erinnert an den Mord Kains und dessen Entdeckung durch Gott in Gen 4,10: „Er aber sprach/ Was hastu gethan? Die stim deines Bruders blut schreiet zu mir von der Erden“. Zugleich begegnet hier die von Waldis häufiger eingebrachte Gedankenfigur, wonach auf jedes Werk der verdiente Lohn folge.758 Dies gelte spätestens beim Jüngsten Gericht:  

Drumb werden auch am Jngsten tag All Creaturn fhren jr klag Vber die/ der wolthat vergessen Jrs nehsten not jn nit anmessen

756 So Esopus. Bd. 2, S. 312. In Frage käme auch Mk 9,41: „Wer aber euch trencket mit einem Becher wassers/ in meinem Namen/ darumb das jr Christum angehöret/ Warlich/ Jch sage euch/ Es wird jm nicht vnuergolten bleiben“. 757 Die Rache Gottes wird durch Zitate der Stelle auch Thema im Neuen Testament, so in Röm 12,19: „Rechet euch selber nicht/ meine Liebesten/ sondern gebet raum dem zorn (Gottes) Denn es stehet geschrieben/ DIE RACHE IST MEIN/ JCH WIL VERGELTEN/ SPRICHT DER HERR“, und Hebr 10,30: „Denn wir wissen den/ der da saget/ DIE RACHE IST MEIN/ JCH WIL VERGELTEN/ SPRICHT DER HERR. Vnd abermal/ Der HERR wird sein Volck richten“, siehe Esopus. Bd. 2, S. 88. 758 Die Beobachtung schon in Esopus. Bd. 2, S. 88. Dort auch der Hinweis auf das Sprichwort ‚Wie die Leistung (Handlung), so der Lohn‘, welches sich auf Hi 34,11, Ps 62,13 und Sir 35,24 zurückführen lässt.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Den wirdt die seligkeit gar theur Sie werden hin zum helschen Fewr/ Von Christo ewiglich verweißt/ Vnd spricht/ jr habt mich nicht gespeißt/ Das ist/ meiner elenden armen Habt jr euch nit lassen erbarmen (II 30,159–168).

4.3.5 Zeitgenössische Werke Waldis nimmt auch zeitgenössische Werke bzw. Auszüge daraus in die Affabulationes auf und gebraucht diese argumentativ oder illustrativ. Sie verdeutlichen, dass als Bedingung für die Aufnahme in die Affabulationes vor allem ein assoziativer Anknüpfungspunkt ausschlaggebend ist. So wird mit Eulenspiegel in IV 75,145 f. eine literarische Figur zitiert, die nachweislich erst seit ungefähr 1510 im Druck enorme Verbreitung fand: „Wie Vlenspiegel auch einst klagt | Vnd sprach“.759 Ihm werden mehrere Aussprüche, darunter auch Sprichwörter, in den Mund gelegt, die davon handeln, dass ein Rechtschaffener keinen Ruhm erhält, sondern nur diejenigen geschätzt werden, die  

Das bß loben/ das gute schenden Brillen verkauffen/ schleiffen wenden/ Vnd kan vor beiden Augen zylen Der schalckheyt vnderm htlin spielen (IV 75,153–156).

Von Bedeutung ist bei diesem Zitat weniger eine wortgetreue Wiedergabe, als vielmehr die Funktion von Eulenspiegel als Autorität für die Benennung und Beurteilung von Zuständen in der Welt.760 Da die Rede aus einer Kette von Sprichwörtern besteht, ist unklar, wo die Eulenspiegel zugeschriebenen Wertun-

759 Zur Überlieferung siehe Anna Mühlherr: Ulenspiegel. In: VL. Bd. 9, Sp. 1225–1233, Sp. 1225 f. 760 Die Funktionalisierung der Schwankfigur als Autorität verdeutlicht, dass die Beurteilung der Geltung dieser Aussagen vom Vorwissen des Lesers abhängig ist. Die Klage, die auf die Inquitformel folgt: „wer jetzt die warheyt sagt | Fleißt sich des rechten wie die frummen | Der kan kein Herberg niergend bkummen“ (IV 75,146–148), passt zur Außenseiterrolle des Schelmen Eulenspiegel, wie sie in den Historien, die von ihm berichten, dargestellt wird. Das Motiv des UmherStreichens, die mangelnde Seßhaftigkeit ist konstituierend für die Figur. Die schwankhaften Merkmale, die die Figur aufgrund der bösartigen und derben Streiche aufweist, sind im Esopus jedoch nicht angedeutet. Ein Leser, dem die Historien von Eulenspiegel bekannt sind, mag die Aussagen aufgrund des Status der Figur in den Historien abweisen. Die im Vorwort der Ausgabe von 1519 genannte Wirkungsabsicht der aufgeschriebenen Historien unterläuft ebenfalls die Funktion von Eulenspiegel als lehrhafte Autorität: „Nun allain umb ein frölich Gemüt zu machen in schweren Zeiten, und die Lesenden und Zuhörenden mögen gute kurtzweilige Fröden und  

4.3 Elemente der Affabulatio

335

gen enden und ob er etwa selbst zum Abschluss nochmal ein Sprichwort heranzieht: Man sagt das ist ein trewer Man/ Bleiben/ so Affen fr vnd fr/ Alleyn das mans nit sagen tr (IV 75,164–166),

oder ob die Rede zuvor beendet ist und Waldis ein eigenständiges Sprichwort an das Ende der Affabulatio stellt. Zugleich zeigt sich, wie der Nachweis von Quellen problematisch, sogar unmöglich wird, wenn ein Autor werk- und medienübergreifend rezipiert. In III 92 und IV 96 werden eigenständige Lieder angekündigt. Deren Verse sind abgesetzt, die Strophen markiert. Die formalen Abweichungen vom paargereimten Knittelvers im Esopus sind augenfällig, die Lieder sind strophisch und kombinieren einerseits Paarreime mit Binnenreimen der Halbverse, weisen aber andererseits Haufenreime auf. Im zweiten Fall lenkt die Einrückung der Verse zusätzlich den Blick auf die formale Abweichung. In beiden Fällen nennt Waldis die Verfasser nicht namentlich, stattdessen wird im ersten Fall die Hinzunahme durch Waldis betont: „Welchs ich auch hab hiezu gethan“ (III 92,200).761 Im Vordergrund scheint hier der angegebene Status des Dichters als deutscher Gelehrter zu sein, der direkt mit dem Inhalt der Affabulatio wie des Liedes verbunden werden kann. Das Lied ist in die Argumentation eingebaut, dass die Welt nicht auf Gelehrte verzichten könne und diese es daher einige Zeit in Armut aushalten sollten, letzten Endes würden sie doch „ergetzt | Vnd nach gebr zun ehrn gesetzt/ | Vnd gliebt wirdt/ den man vor hat ghaßt“ (III 92,195– 197). Das folgende dreistrophige Lied wiederholt die Aussage. Versehen mit einem solchen Verfasserhinweis kann das Lied so verstanden werden, als spräche ein zeitgenössischer Gelehrter aus der zuvor in der Affabulatio geschilderten Situation den Leser des Esopus direkt an: WJewol vmbsunst/ jetzt alle Kunst An tag wirdt frey gegeben

Schwänck daruß fabulleren“ (Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 2001 [RUB 1687], S. 7). 761 Ungeklärt muss bleiben, ob der zeitgenössische Leser in dem Hinweis zu dem einen Lied: „Zu Nrmberg durch ein Glerten Man“ (III 92,199) den zeitgenössischen Dichter Georg Forster erkannte. Mit der Angabe Nürnberg kann 1548 sowohl auf den Druckort des ersten Teils seiner Frischen teutschen Liedlein, in welchem das dreistrophige Lied als Nr. 120 aufgeführt ist, wie auf seinen 1548 frisch bezogenen Wohnort angespielt sein: „Der erste Teil von Georg Forsters Liederbuch erschien 1539 bei Johannes Petreius in Nürnberg [...]. Forster, der nach einer musikalischen Ausbildung in Heidelberg in Ingolstadt und Wittenberg Medizin studiert hatte (Promotion 1544 in Tübingen), lebte von 1548 bis zu seinem Tod (1568) als Arzt in Nürnberg“ (Esopus. Bd. 2, S. 237).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Kein wundern soll/ ob er gleich wol Glert Leut siht elendt leben/ Denn merck nur auff/ bey allem kauff So wirstu gwist befinden Das wolfeyl macht/ all ding veracht Vnd bleibt also dahinden. 2. Doch schweig vnd beit/ ein kleine zeit Wirdt sich schon spiel erheben/ Laß gfallen dir/ der Welt manier Wart doch deinr schantz daneben Denn weil die Kunst/ hat schlecht kein gunst Jetzundt auff dieser Erden So muß zum endt das Regiment Mit Narrn besetzet werden. 3. Darnach auß not/ dich auß dem kot Das glck herfr wirdt rcken Vnd geben gnug/ durch guten fug So du dich vor must schmcken/ Darumb ich rath/ doch schier zu spat Das man nach Kunst wll streben Denn wolfeyhl Brodt/ soll man zur noth Jn grosser ehr auff heben (III 92,201–224).

In diesem Fall kann aufgrund der fehlerfreien Wiedergabe des Liedes – es gibt keine Abweichung von der Druckfassung Forsters –, von einer schriftlichen Vorlage und nicht von einer mündlichen Vermittlung ausgegangen werden. Quellenkundliches Kopfzerbrechen bereitet hingegen die Aufnahme des „Liedlin“ in IV 96,127–134. Wiederum ist das Lied inhaltlich passend ausgesucht und eingefügt. Zuvor wird die Verachtung für denjenigen, der die Wahrheit am Adelshof ausspricht, angesprochen. Die Wahrheit wird mit den in der Fabelerzählung von den Löwen getöteten Hasen verglichen, denn „Wo sie sich nit baldt dannen packt | So wirdts verfolgt/ gezwackt/ gesackt“ (IV 96,123 f.). Es folgt das Lied, das die Thematik vom verfolgten und verhöhnten Gerechten verallgemeinert:  

Denn wer gedecht Zu leben schlecht Gantz frumb vnd grecht Was guts frbrecht Der wirdt durchecht Vnd gar geschwecht Gehnt vnd gschmecht Vnd blieb allzeit der andern Knecht (IV 96,127–134).

4.3 Elemente der Affabulatio

337

Wieder ist der Name des Dichters verschwiegen, es wird lediglich verwiesen auf: „Wie jener in seim Liedlin singt“ (IV 96,126). Es ist letztlich nicht zu klären, über welche Rezeptionswege die Strophe Eingang gefunden hat. Die erweiterte Inquitformel stützt die Annahme, dass das Lied durch mündliche Vermittlung in den Esopus aufgenommen worden sein könnte. Bei „Jene[m]“ handelt es sich um Luther, im Druck sind die acht Verse erstmals in der Fabelsammlung von Waldis nachweisbar. Die Strophe ist Teil eines mehrstrophigen Liedes, welches erst posthum 1565 als D. Martini Luthers Beschreibung des Hoflebens oder Hofe Vers erschienen ist.762 Nicht die Form der Quelle, sondern die Bestätigung der Erfahrung ist bei der Paraphrase eines als ‚alt‘ bezeichneten Liedes in IV 81 von Bedeutung. Das Lied wird als allgemein bekannt präsentiert, so wie ‚man‘ im Sprichwort spricht, singt ‚man‘ dieses Lied: Drumb singt man noch das alte Liedt/ Der Schfer in der Newenstadt Sein Rßlin außgeboten hat Eim vnuerzagten Mann zu geben Dem nit sein Weib darff widerstreben/ Findt aber kein/ ders SO begert Derhalb behelt er wol sein Pferdt (IV 81,190–196).763

Während die Lieder sich mit den Fabeln noch den literarischen Status teilen, zeigen die V. 175–182 in der gleichen Fabel, dass auch andere Medien bzw. der

762 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 351, dort auch die Wiedergabe der zweiten Strophe des Lutherliedes. Das gesamte Lied findet sich in WA 35, S. 591, dort auch der Hinweis, dass es „als Füllsel am Schluß im zweiten Eislebener Ergänzungsband nach Aurifaber auf Bd. 501b–502a mit der Randbemerkung „Diese Verse sind zuvor nicht gedruckt“ kommentiert wurde. Die V. 1–3 und 5–8 der Strophe im Esopus sind identisch bis auf den in Hinblick auf die Semantik irrelevanten Austausch von frumb gegenüber from. Eine Abweichung stellt V. 5 dar, welcher in der späteren Fassung „Die warheit brecht“ lautet, vgl. WA 35, S. 591. Solche Arten von Abweichungen sind typisch für die mündliche Verbreitung eines Liedes. Ein früherer Nachweis des Lutherliedes scheint sich lediglich in einer alten Abschrift Röhrers zu finden, „die eine kürzere Form (Entwurf?) Luthers aufbewahrt hat“, sie „steht in Luthers Handexemplar des Neuen Testaments von 1540“ (WA 35, S. 591). 763 Mit dem gleichen Problem ist man bei der Wiedergabe eines Liedes in I 65,13–28 konfrontiert. Die Verfasserangabe: „Der Schweitzer singt“ (I 65,13) konnte nicht aufgelöst werden, siehe Esopus. Bd. 2, S. 93. Es handelt sich aber um den „Unbekannte[n] Verfasser eines im 16. Jh. öfter erwähnten, nicht überlieferten Gedichts“ (Esopus. Bd. 2, S. 93), vgl. z. B. Agricola: Sprichwörtersammlungen I 52, S. 43, Z. 20 f.: „Es schreibt der Schweitzer in seinem liede von der welt untrew im letzten stuck also“, I 66, S. 54, Z. 14: „Der schweitzer singt also“, I 303, S. 261, Z. 13: „gleich wie Schweitzer singt“, und Alberus: Fabeln, Vorrede, Z. 68: „der Schweitzer“.  



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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Verweis auf diese, sofern sie für die Veranschaulichung eines Sachverhaltes geeignet sind, Bestandteil der Affabulatio werden können. So verweist Waldis auf die bildliche Umsetzung der Thematik von der Herrschaft der Ehefrau über den Ehemann in einem „gmld“: Vmbsunst ist nit das gmld erdacht/ Da man ein magern Mann gemacht/ Der allen Mnnern stets nachgeht Vnd sie zufressen vndersteht Die sich nit frchten vor jrn Weiben Wirdt aber wol so mager bleiben Deshalben auch verschmachten mußt Er findt jr kein/ es ist vmbsunst (IV 81,175–182).

‚Gemälde‘ bezeichnet auch im 16. Jahrhundert „wesentlich wie heute zeichnung, jede darstellung mit zeichen, einerlei ob mit farben im engern sinne, wie denn malen (von mal gleich zeichen) noch von den kindern gebraucht wird, die sich z. b. auf ihre schiefertafel ein haus malen“.764 Im 15. und 16. Jahrhundert meint die Bezeichnung auch Bilder „in holzschnitt oder kupferstich“.765 Unklar bleibt bei dieser Textstelle, ob es sich um eine Referenz auf eine wirkliche Abbildung handelt, denn nachweisbar ist kein derartiges Bild.766 Vielmehr scheint die Nennung des angeblichen Bildes mit der behaupteten Allgegenwart des Themas verbunden zu sein. Der Verweis auf das „gmld“ steht in der Affabulatio inmitten einer Kette von argumentativen Elementen zu den „bsen Weiben“ (IV 81,143). All die Beispiele (die Bibel, der Sündenfall verursacht durch Eva, die Exempelfiguren Samson und Salomon, der augenscheinliche Zustand der „Welt jetzunder“ [IV 81,169], das „gmld“ [IV 81,175], das „alte Liedt“ [IV 81,190], in dem jemand sein Pferd denjenigem geben würde, der keine Angst vor seiner Frau hat) dienen dazu, die Allgemeingültigkeit der Aussage ‚Frauen sind betrügerisch‘ zu beweisen. Dieser Umstand ist zeitlos gültig und so allgegenwärtig, dass er mündlich, schriftlich, literarisch und eben auch bildlich festgehalten worden ist. Die Gemachtheit dieser Affabulatio zeigt auf, dass die Fabelerzählung und die Affabulatio eine Möglichkeit der Sinnvermittlung neben vielen, wie der Bibel, dem Lied  

764 DWB 5, Sp. 3160–3163, Sp. 3160. 765 Ebd. 766 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 332. Denkbar ist, dass das „erdacht“ (IV 81, 175) eine zusätzliche Pointe bietet: So wie der angebliche Gegenstand, der magere Mann, der verschmachten, also verhungern und vergehen muss, weil er nur Männer zur Nahrung hat, die ihre Ehefrauen nicht fürchten, existiert auch die Abbildung nur in Gedanken, nicht aber wirklich. Wiewohl nicht ohne Grund in Gedanken ausgemalt, könnte man dennoch so wenig wie einen furchtlosen Ehemann dieses Gemälde finden.

4.3 Elemente der Affabulatio

339

oder dem Bild darstellt. Die Stärke der esopischen Fabel besteht darin, dass sie diese Möglichkeiten aufnimmt und dem Leser als solche aufzeigt.

4.3.6 Erfahrung Mit ‚Erfahrung‘ ist im Esopus ein Element vorhanden, welches generell in der Literatur der Frühen Neuzeit, besonders im Prosaroman, an Verbreitung und Bedeutung gewonnen hat. Dort ist sie eingebettet in die „pragmatische[n] Funktionen der Prosaromane insgesamt: Wissensvermittlung und lebenspraktische Anleitung“.767 Erfahrung ist Bestandteil der Erzählwelt, sei es in Verbindung mit der zumeist negativ bewerteten curiositas, verbunden mit einer Lust des Weltbesehens wie in der Historia von D. Johann Fausten (1587), als Teil der Kontingenzerfahrung der Figuren im Fortunatus (1509) oder in Form von Erfahrungswissen wie etwa im frühen pikarischen Roman, das als Bestandteil pikarischer Erzählverfahren mit anderen Formen von Wissen konkurriert.768 Grundlegend ist für das Verständnis die Definition von ‚Erfahrung‘, basierend auf der Etymologie des Wortes, die zwei Bedeutungsaspekte zusammenschließt, und die seit dem Ahd. für ir-faran/ar-faran und die dazugehörige Wortfamilie nachweisbar sind: das Durchlaufen eines Weges auf ein Ziel hin bzw. eine bestimmte Form sinnlich vermittelter Erkenntnis. Um diese beiden Pole lagern sich – hier nicht näher zu kommentierende – Bedeutungsvarianten, die von ‚einholen‘, ‚erreichen‘, ‚überfahren‘, ‚ausgehen‘ auf der einen Seite bis zu ‚wahrnehmen‘, ‚sich (z. B. durch Hören) kundig machen‘, ‚prüfen‘, ‚erforschen‘ auf der anderen reichen; dabei kann auf der einen Seite das Moment des Erkennens, auf der anderen das des Fahrens verblassen oder ganz entfallen.769  

Im 16. und 17. Jahrhunderts ist der Prozess des ‚Erfahrens‘ in Erzähltexten wie der Historia von D. Johann Fausten (1587) oder Fortunatus (1509) im Vordergrund. In der traditionellen äsopischen Fabel ist Erfahrung nicht primär auf Handlungs-

767 Jan-Dirk Müller: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Ludger Grenzmann, Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, S. 252–271, S. 254. 768 Für Aegidius Albertinusʼ Der Landstörtzer Gusman von Alfarche (1615), Martinus Frewdenholds Der Landstörtzer GVSMAN [...] Dritter Theil (1626) und Die Landstörtzerin IUSTINA DIETZIN PICARA genandt (1626/1627) siehe Carolin Struwe: Episteme des Pikaresken. Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman. Berlin, Boston 2016 (Frühe Neuzeit 199), zum ‚Erfahrungswissen‘ siehe S. 24–27. 769 Jan-Dirk Müller: Erfarung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos. In: Daphnis 15 (1986), S. 307–342, S. 308. Siehe auch die Nachweise des Verbs erfaren in DWB 3, Sp. 788–794.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

oder Figurenebene umgesetzt,770 sondern eine traditionell der Fabel zugesprochene Funktion. So gilt als eines ihrer Merkmale, dass die Fabelerzählungen und die darin geschilderten Ereignisse und der Nachvollzug dessen, was aus der Geschichte an Sinn zu extrahieren sei, eigene Erfahrungen des Lesers oder Hörers geradezu ersetzen können. Diesem blieben schlechte Erfahrungen erspart, der Lerneffekt, den solche Erlebnisse zeitigen, aber erhalten. So könne „man klglich und friedlich unter den bsen Leuten in der falschen, argen Welt leben“.771 Die sprichwortartige Phrase ‚mit Schaden klug werden‘ bringt dies auf den Punkt, wenn in der Affabulatio auf die eigene Erfahrung des Autors verwiesen wird: „Glaub mir/ ich bins mit schaden glert“ (I 79,34). Dieses Beispiel macht auf ein Merkmal des Esopus aufmerksam. So wird ‚Erfahrung‘ zusätzlich zu der als der Fabel zugesprochenen Funktion als argumentatives Element eingebracht. Schon in Figurenrede und Erzählerkommentar in der Fabelerzählung,772 besonders aber in der Affabulatio kommt „Erfarung“ (IV 15,50) bzw. die von Waldis häufiger synonym benutzte „Erfarnheit“ (I 92,30) zur Sprache. Sie speist sich aus eigenen, alltäglichen Erlebnissen,773 auf die sich Figuren und Sprecher-Ich berufen, die aber zumeist nicht näher beschrieben werden. Es ist das, was man selbst schon mehrfach erlebt hat, das Nicht-Singuläre, das man selbst sehen kann: „Wie man teglich vor augen sicht“ (II 16,24)774, und bezeugen kann: „Denn solchs zu mehrmaln ist geschehn | Als wir erfarn/ vnd selb gesehen“ (I 93,33 f.).775 Nicht überraschend ist es daher, dass Erfahrung dem Alter zugeschrieben wird. In IV 99 wird ein ausgedientes Pferd von einem Drachen gebeten, Schiedsrichter in einem Streit zu sein:  

770 Im Erzählfundus des Esopus finden sich natürlich auch Fabelerzählungen, die Erfahrung behandeln, wie in III 88, in welcher „SJch zu versuchen ein junger Knab | Weit hin in frembde Landt begab/ | Das er viel sehe/ hrt mancherley“ (III 88,1–3). Das ‚sich zu versuchen‘ ist hier zu verstehen als ‚um Erfahrungen zu sammeln‘, siehe Esopus. Bd. 2, S. 233. 771 Luther: Etliche Fabeln, S. 452. 772 So beginnt die Fabel II 4 mit einem Hinweis, dass die Ausgangssituation der Erzählung auch heute noch vielfach zu beobachten sei: „EJn Wachtel het eins mals jr Kindt | Jm Korn (wie man noch teglich find)“ (II 4,1 f.). 773 Vgl. II 27,103 f.: „Derhalben es noch teglich kumpt | Wie man auß erfarnheit vornimpt“, und „Wie tegliche erfarnheyt lert“ (I 51,24). 774 Die eigene Anschauung wird auch in I 44,31 f. als weiteres Argument herangezogen: „Man sicht teglich das messig gut | Den menschen baß erfrewen thut“. 775 An Allgemeinheit kaum zu übertreffen mag die Aussage in der Affabulatio von IV 75,109 f. sein: „Es lert erfarnheyt all zu wol | Das die Welt jetzt ist Affen voll“. Spezifik gewinnt die Aussage erst, wenn man die hier angesprochenen Affen rückbezüglich mit den Affen in der Fabelerzählung gleichsetzt, die den Königshof nachahmen, sich ihrer Lächerlichkeit nicht bewusst sind und offene Kritik an ihrem Lebenswandel hart strafen.  







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4.3 Elemente der Affabulatio

Vns dunckt/ du seist nun alt von Jarn Geyebt vnd vnglcks wol erfarn Viel ghrt vnd gsehen nach der leng Was in der Welt ist geb vnd geng (IV 99,149–152).776

Erfaren im Sinne von ‚gelehrt‘ kann man durch die Erziehung werden, insbesondere den Umgang mit Schrift, wie in IV 97 angesprochen wird. In der Fabel muss ein frommer Untertan dem Befehl des Tyrannen gehorchen und einen jungen Esel unterrichten: Ob dus am Esel auch versuchtst Vnd jn die Schrifft auch leren muchtst/ Das er still sß/ wurd zchtig/ bendig/ Erfaren/ vnd der Schrifft verstendig (IV 97,31–34).

In IV 1 lässt Waldis den Esel sich dieser Eigenschaft, seiner eigenen Ungelehrsamkeit im Gegensatz zur Schriftkundigkeit des Fuchses, sogar bewusst sein: „Jch bin ein vngelerter Man | Jr seit der Schrifft viel baß erfahrn“ (IV 1,88 f.).777 Die Rezeption von Fabelerzählungen wird im von Waldis eingefügten Fabeleingang von I 21 floskelhaft im Sinne von ‚in Erfahrung bringen, hören‘ unter dem Stichwort der Erfahrung genannt: „JN alten zeiten/ vor tausent Jarn | Begab sichs wie ich hab erfahrn“ (I 21,1 f.). Fast schon programmatisch formuliert, zeigt sich in der Affabulatio von III 1, dass das Lesen von Büchern als Er-fahren, als Erkenntnisgewinn durch die damit einhergehende Reise und der metaphorischen Unterhaltung mit Büchern verstanden werden kann. Ausgangspunkt für die Behandlung von Erfahrung ist die Geselligkeit. Anhand der Ruhestörung des Gelehrten durch einen Bauern wird ein unterschiedliches Verständnis von Zeitvertreib aufgezeigt. In der Erzählung sitzt ein „glerter Mann/ ein Poet“ (III 1,1) in dem „Sommer gmach“ (III 1,3), das er „Jn seim Garten gebawet het“ (III 1,2). Die Sommerlaube des Gelehrten dient dezidiert als Ort des Studiums: „da zu vertreiben | Die zeit mit lesen/ dichten/ schreiben“  



776 In diesem Kontext gewinnen die Worte Jesu an Petrus in IV 95, der meint, die Welt beurteilen zu können, an Komikpotenzial. So wird Petrus als jung und unerfahren bezeichnet: „Weil du der ding bist vnerfahrn/ | Gar viel zu toll/ vnd jung von Jarn“ (IV 95,183 f.). 777 Gerade in Fabelerzählungen ist Erfahrung das argumentative Element, welches Figuren bei der Deutung von Vorgängen anführen. So deutet in IV 58,27–30 ein benachbarter Bauer das Ausbleiben von Kälbern, nachdem sich ein Bauer zwei Stiere gekauft hat: „Das ewre Kuh versigen blieb | Der ein es auff den andern schieb | Damit sich nit vermehrt das Viech | Das hat erfahrnheyt gleret mich“. In IV 77 überredet der Fuchs den Löwen, als Heilmittel das Fell des Wolfes auszuprobieren, da dieses Hitze erzeuge. Er verweist auf die Sitte von Adligen, die aufgrund ihrer Erfahrung den Pelz mit der Fellseite nach außen tragen: „Denn das hat sie erfarnheyt glert | Das sie das rauh nit knnen leiden | Vor grosser hitz mssen sies meiden“ (IV 77,66–68).  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

(III 1,3 f.).778 Zufällig („On gfehr“ III 1,5) kommt ein Bauer zu ihm hinein und fragt den Gelehrten: „Herr/ wie sitzt jr so allein?“ (III 1,6). Die Antwort ist eine abweisende: „seidt du bist kommen rein | Heb ich erst an allein zu sein“ (III 1,7 f.). Die folgende auktoriale Deutung der Erzählung führt die Antwort des Gelehrten weiter aus:  



Ein glerter Mann/ wenn er studiert Vnd in den Bchern Conuersiert/ So thut er weiter vmbher wandern Denn wenn er lieff von eim zum andern (III 1,9–12).

Die Fabel ist aus der Perspektive des Gelehrten geschrieben, der Bauer wird als Störung empfunden und abgewiesen.779 An den Anredeformen zeigt sich die asymmetrische Beziehung zwischen dem vom Bauern mit ‚Ihr‘ angesprochenen Gelehrten und dem vom Gelehrten gedutzen Bauern. Ausgeblendet ist die Motivation des Bauern, den Gelehrten in der Sommerlaube zu besuchen, oder seine Sicht auf den Gelehrten und dessen Verhalten. Durch die auktoriale Deutung wird er zu denen gerechnet, die ziellos umher wandern und ungelehrt von einem zum andern laufen. Mit seiner Frage offenbart der Bauer, dass ihm der produktive, aber stille Zeitvertreib des Gelehrten in Form von „lesen/ dichten/ schreiben“ (III 1,4) unbekannt ist. Die Affabulatio benennt einem Leser diese Einsicht in den gelehrten Zeitvertreib. Sie kann darauf bezogen werden, dass der gerade Lesende selbst mit dem Esopus „Conuersiert“ und darin „weiter vmbher wandern“ solle (III 1,10 f.). Was wie die Schilderung einer trivialen Begegnung erscheint, lässt sich, platziert als zweihunderterste Fabel genau zu Beginn der zweiten Hälfte, als Aufforderung an den Leser verstehen, der seinen (stillen) Lektüreprozess, sollte er auch abgelenkt oder in seiner Lektüre in Frage gestellt werden, weiterführen soll. Im Esopus lässt sich zwischen individueller und kollektiver Erfahrung unterscheiden. Die Kollektiverfahrung wird zur Bestätigung allgemeiner Regeln und Vorgänge in der Welt herangezogen: „Doch bringts das glck on alle schwer |  

778 Die Laube ist nicht grundsätzlich ein Ort für den stillen Rückzug. In IV 59 ist die Sommerlaube von Bürgersfrauen in einer Stadt voller reicher Kaufleute „HArt bey der Ostse“ (IV 59,1) an das Bürgershaus gebaut und dient den Frauen dem gemeinsamen Sehen und Gesehen werden und dem Verhöhnen der Passanten: „Da sein die Heuser bey der Thr | Gebawt mit einem Steynen schr | Mit gsessen/ zwifach/ dreifach hoch | Das habens vor ein Sommer gmach | Mit grnem Laub gedecket fein | Vor die hitz vnd den Sonnen schein | Daselb sitzen die Brgers Frawen | Mit jren Tchtern lan sich schawen | Vnd wer hingeht die selbig strassen | Der muß allzeit ein Feder lassen“ (IV 59,13–22). 779 Für das Frühneuhochdeutsche ist der Ausdruck sozialer Beziehungen über Anredeformeln mit denen im Mittelhochdeutschen vergleichbar. Schon dort „steht das Duzen in Opposition zum Ihrzen“ (Hilkert Weddige: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 6. Auflage. München 2004, S. 64).

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4.3 Elemente der Affabulatio

Erfarnheyt han wir des zu ler“ (III 50,17 f.),780 aber auch für spezifische Probleme, die alle angehen, wie die Käuflichkeit des papstkirchlichen Klerus. Dafür wird auf die von den Deutschen als negativ erlebten Vorgänge der letzten Jahren verwiesen:  

Welchs jetzundt in gar kurtzen Jarn Teudschlandt mit schaden hat erfarn/ Wie sie vns mit dem Bann gefatzt/ Mit dem Ablaß als zu sich kratzt (II 75,33–36).

Veranschaulichung, Lehre und Beweis sind Funktionen der Kollektiverfahrung, die im Esopus genannt werden: „Des vns erfarnheit zeiget viel“ (II 39,34), „Erfarnheit han wir des zu ler“ (I 92,30), „Erfahrnheyt wir des zeugnus haben“ (IV 84,120). Als subjektive Wahrnehmung objektiv abstrahierbarer Regeln ähnelt Erfahrung dem im Sprichwort festgehaltenen und kondensierten Wissen. Mit diesem teilt es zwar den Aspekt der Erfahrung, das Sprichwort aber erscheint als die phrasenhaft verfestigte Kollektiverfahrung, die sich bewährt hat: „Die alten han ein sprichwort bdacht | Vnd auß erfarnheyt an vns bracht“ (IV 44,41 f.). Direkt aneinandergekoppelt sind Erfahrung und Sprichwort in einem Exempel in der Affabulatio von III 94. Das Beispiel zeigt, wie Elemente formal ineinander übergehen können. Der von Xenophon um Rat bei der Hauswirtschaft gefragte Weise bestätigt ein Sprichwort mit seiner eigenen Erfahrung: „Wie mich erfarnheyt hat gelert | Des Herren Aug ftert das Pferdt“ (III 94,279 f.). Die Einzelerfahrung kann bestätigen, was schon gängig ist. So stimmen die in II 31 von der Spinne aus ihren Erlebnissen im Haus des Reichen gezogenen Schlüsse – sie wurde von der Magd bis zur Erschöpfung gejagt, die ihre Spinnweben immer wieder zerstört hat, und kann sich erst im Haus des Armen in Ruhe niederlassen –, überein mit dem schon lange von den Spinnen gepflegten Brauch, bei den Armen zu wohnen:  



Das solchs gut wer/ het sie gelert Erfarnheit/ vnd der lange brauch/ Das haltens noch/ drumb siht man auch/ Die spinnen bey den armen bleiben (II 31,188–191).

Erfahrung bestätigt ebenso Verhaltensweisen, die als ‚natürlich‘ begründet werden, wie die Lebensweise von Mann und Frau in Paaren:

780 Ähnlich in II 64,1–6, in der schon im Fabeleingang die Erfahrung die folgende Erzählung in ihrem Lehrgehalt stützt: „AVß der erfarnheyt sich befindt | Das die Menschen gmeynlich gsinnt/ | Wenn jr frnemen/ wort vnd thaten | Jn selb zu vnglck thun gerathen/ | Das sie dasselb dem vnglck pflegen | Oder dem Teuffel zu zu legen“.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

DJe erfarnheyt lert jederman Wies der Natur ist angethan Das sie bey paren komen zamen Sich mehren mssen/ vnd besamen (II 60,1–4).

Erfahrung im Sinne von ‚praktischer Anschauung‘ wird als Aspekt von Lehre verstanden. In der in II 22 in der Affabulatio eingefügten Exempelgeschichte von Markolf und Salomon ist die Katze von Salomon „mit arbeit“ (II 22,40) dahin gebracht worden, dass sie entgegen ihrer „gewonheit“ (II 22,42) während des Essens das Licht hält. Um zu beweisen, dass „Natur hoch vber gwonheyt fehrt“ (II 22,52), wählt Markolf nicht die verbale Auseinandersetzung, sondern will direkt in das Geschehen eingreifen: „Er sprach/ ich wils anderst bewern | Vnd anderst durch erfarnheit lern“ (II 22,45 f.). Sein Vorgehen, eine Maus über den Tisch laufen zu lassen, damit die Katze in ihre natürliche Verhaltensweise zurückfällt, geht auf. Die zu beweisende Regel ist unmittelbar erfahrbar. Erfahrung wird zum Instrument bei der Beurteilung der Vorgänge in der Welt im Abgleich mit anderen lehrhaften Elementen, wie etwa auch der Heiligen Schrift: „Es lert erfahrnheyt vnd die Schrifft | Vntrew jrn eygen Herren trifft“ (IV 71,51 f.), oder dem einträchtigen Beschluss von Gelehrten:  



All Glerten eintrechtig beschliessen Vnd wirs auch auß erfarnheyt wissen/ Sein hertz eim jeden selber zeugt Die Conscientz keinem vorleugt (IV 98,121–124).

Die Einzelerfahrung kann sich aber auch von der allgemein verbreiteten Erfahrung unterscheiden, dieser sogar gegenläufig sein, wie in der Affabulatio IV 15,47–52. In der Fabelerzählung ehelicht ein Kürschner eine junge Frau, deren Eltern gestorben sind. Das Erbe der Schwiegereltern führt dazu, dass der Kürschner das Geld verprasst, erst spät nach Hause kommt und seine Frau schlägt. Sein treuer Knecht erkennt den Lebenswandel und die drohende Gefahr des Ruins und stellt ihn zur Rede. Der Kürschner zeigt sich uneinsichtig. In der Affabulatio wird zuerst ein Sprichwort wiedergegeben, welches geschenktes Geld, für das man nicht zu arbeiten habe, als das beste Gut ausweist. Dem widerspricht das Sprecher-Ich unter Verweis auf die eigene Erfahrung: Man sagt/ es ist kein besser gut Denn das man vmbsunst schencken thut Das will ich widersprechen frey Auß erfarung red ich dabey/ Besser ein glden den man werbt Denn Zehen die jm an geerbt (IV 15,47–52).

4.3 Elemente der Affabulatio

345

Widerspruch aufgrund der eigenen Erfahrung wird auch in II 27 in der Beurteilung der in der Fabelerzählung geschilderten Begebenheit geäußert. Am Ende der Narratio wird bezweifelt, dass die zeitgenössischen Eulen mit der Eule aus der Fabelerzählung zu vergleichen wären. Diese warnt alle Vögel vor dem Vogelfänger und möchte sie überzeugen, in einer Baumhöhle zu quartieren: Jchs aber zwar dafr nicht halt/ Das solch verstandt bey jnen leit Wie bey den Ewlen zu jener zeit/ Wie man bey jrm gesang jetzt hrt Vnd solchs teglich erfarnheit lert (II 27,120–124).

Die eigene Erfahrung des Sprecher-Ichs legitimiert auch die Aufnahme scherzhafter Ereignisse und Erzählungen. Ihnen wird durch die Erfahrung des SprecherIchs Wahrheit zugesprochen: Der bossen sein wol mehr geschehen Der ich hab selb erfahren viel Die ich krtz halb nach lassen wil (IV 84,98–100).

Die Ereignisse, die die Erfahrung des Sprecher-Ichs als geltende Wahrheit begründen, werden selbst nicht wiedergegeben. Trotzdem haben sie Geltung, wie sich in IV 19 zeigt, in der in einer Aussage über trunksüchtige und faule Ehefrauen auf die eigene Erfahrung des Sprecher-Ichs verwiesen wird: Von den will ich hie angezeygt Haben/ das sie allzeit geneigt Zum sauffen/ vnd zum mssig gahn Des ich zum theyl erfahren han (IV 19,155–158).

Die vom Sprecher-Ich dargestellte Erfahrung lässt sich in Verbindung bringen mit den Informationen von ihm in den Erzähleingängen der Fabeln. In diesen präsentiert er sich als weit umher Gereister, etwa in Lübeck (IV 13), in Nürnberg auf einem Reichstag in Anwesenheit des Kardinals Campeggio (IV 17), in Breslau (IV 23), in Rom (IV 24), in Worms und Speyer (IV 28), auf einem Schloss (IV 31), in Naumburg an der Saale (IV 38), in Amsterdam (IV 50) und in Mainz (IV 65). Als Ohren- und Augenzeuge (IV 13; IV 17; IV 23; IV 24; IV 31; IV 38; IV 50; IV 61; IV 65) sowie Beteiligter (IV 28) steht das Sprecher-Ich für den Wahrheitsgehalt der wiedergegebenen Erzählungen ein. Über diese Schilderungen ist ein Bogen zur oben beschriebenen Form der Erfahrung während des fahrens geschlagen, in dem das ‚Erforschen‘ und das ‚sich durch Hören kundig machen‘ wirksam wird.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

4.3.7 Exempel Auf Altbekanntes greift Waldis in der Regel zurück, wenn er in den Affabulationes Exempel einbaut. Allgemein und unter Ausschluss der rhetorischen Tradition sowie der historischen Pragmatik wird ‚Exempel‘ allgemein definiert als eine in einem argumentativen oder narrativen Zusammenhang ‚von außen‘ beigezogene, durch ihn in Sinn und Funktion festgelegte und von ihm isolierbare, zumeist narrative (kurze) Texteinheit, die über ein tertium comparationis auf den Kontext bezogen ist. Inseratcharakter, Isolierbarkeit und ein sinnstiftendes Analogans zum Verwendungszusammenhang sind die konstanten Merkmale des Typus.781

Im 16. Jahrhundert ist ‚Exempel‘ ähnlich wie ‚Fabel‘ weder als Begriff noch als Gegenstand eindeutig und allgemeingültig definiert oder im Gebrauch. Noch vom Mittelhochdeutschen geprägt, wird das lateinische exemplum auch als bilde, fabel, gleichnus oder auch beispiel bezeichnet.782 Auch im Esopus gilt, dass damit zuerst einmal ein Text umschrieben wird, „der für etwas ein Beispiel gibt“.783 Exempel in den Affabulationes sind vornehmlich illustrativ, es macht

781 Gerd Dicke: Exempel. In: RL. Bd. 1, S. 534–537, hier S. 534. 782 Ebd., S. 535. Auch im Esopus begegnet diese Begriffsvielfalt. Als ein Wanderer im Wald auf einen der zuvor ausführlicher beschriebenen Satyrn trifft, „Begegnet jm ein solches Bildtnuß“ (II 11,28). Im Streit von Ameise und Fliege nennt die Ameise die Faulheit der Fliege beispielhaft: „Die faulen dich zum beispiel han“ (I 30,41). Der Begriff ‚Gleichnis‘ wird in II 1 gebraucht: „Der weise Knig Salomon | Dasselb durch gleichnus zeiget an“ (II 1,43 f.). Im Exempel von Albertus Magnus in II 54 wird durch die Bezeichnung der Status als historische Begebenheit hervorgehoben: „Ein ander gschicht muß hie anzeigen“ (II 54,35). Siehe auch Peter von Moos zur Begriffsbedeutung von exemplum in der Mediävistik und den lateinischen Termini des Mittelalters in Peter von Moos: Das argumentative Exemplum und die ‚wächserne Nase‘ der Autorität im Mittelalter. In: Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature. Hg. von Willem J. Aerts, Martin Gosman. Groningen 1988 (Mediaevalia Groningana 7), S. 55–77, hier S. 55 f. 783 Dicke: Exempel, S. 534. Der Begriff wird in I 59,45; II 26,65; IV 17,70; IV 20,69 und IV 53,38 benutzt. ‚Exempel‘ gilt im weiteren Sinne auch als Funktionstyp (Beispielgeschichte), damit ist ein „Prinzip der Instrumentalisierung kleiner Texttypen“ (Dicke: Exempel, S. 534) gemeint, womit neben z. B. Historia, Legende oder Mirakel auch die Fabel umschrieben werden kann. Auf diese Nähe von Exempel und Fabel als instrumentalisierter kleiner Texttyp wird auch im Esopus aufmerksam gemacht. Zu Beginn des Leben Esopi werden bei der Darstellung der im Esopus versammelten Fabeln auch solche genannt, die mündlich verbreitet seien und wie Sprichwörter angewendet würden. Solche würden „Gleich wie Exempel eingefrt“ (Leben Esopi, V. 14). Auf den Beispielbegriff soll hier nicht näher eingegangen werden, es bietet sich ein ähnliches semantisches „Konfusionskneuel“, wie es für den Exempelbegriff beobachtet wurde (von Moos: Das argumentative Exemplum, S. 57). Zu den Schwierigkeiten einer Systematisierung des Begriffes ‚Beispiel‘ siehe Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel. Episte 





4.3 Elemente der Affabulatio

347

„am faktischen Einzelfall eine schon bekannte Regel erfahrbar oder bringt diese in einem auf sie zugeschnittenen fiktiven Fall zur Anschauung“.784 Formal variiert die Exempelwiedergabe. So wird mitunter bloß der Name einer Exempelfigur genannt, Eigenschaften oder Geschichte derselben werden als Wissen vorausgesetzt, wie im Falle von Lazarus in II 21,55: „Der Lazarus bleibt wol vergessen“. Manchmal werden Attribute oder Verhaltensweisen genannt, die die Exempelfiguren auszeichnen, wie bei Hiob: „Der solche Predigt leiden kan | Jst wie Sanct Job ein dldig Man“ (IV 20,145 f.), oder es werden Teile der mit der Figur verknüpften Geschichte berichtet, wie im Falle von Ikarus:  

Der Jcarus solt fliegen nach Seim Vatter Dedalo/ vnd flohe zu hoch Welchs jm der Vatter widerrathen Das jm die Sonn auffweycht die knoten/ Das jm das gfider krafftloß wardt Jm Meer vertranck zur selben fart (I 63,21–26).

Die ausführlicheren Exempelgeschichten geben Kontext und Teile der Geschichte der Exempelfigur wieder, die über das tertium comparationis hinausreichen. Dies geschieht mit dem Tragödienstoff um Hekabe in IV 20,69–136. Vor der Handlung werden der Verfasser und die ursprüngliche Gattung genannt: Ein schn Exempel han wir des Jm Poeten Euripides Jn der Tragedi Hecuba Vom Edlen Knig Priamo (IV 20,69–72).

Mögen die Exempel formal unterschiedlich sein, haben sie doch ähnliche Funktionen. Neben der Illustration gilt, dass „nicht die Darstellungsart – Erzählung oder bloße Nennung – das Exemplum logisch zum Exemplum macht, sondern die Absicht, menschliche Vergangenheit für einen aktuellen Zweck (argumentativ oder moralisch-pädagogisch) zu nutzen“.785 Die Veranschaulichung und argumentative Unterstützung von Aussagen verstärkt sich, wenn Exempel kombiniert werden. Die geschieht etwa durch Exempelfigurenpaare, wie Samson und Salomon als Liebesnarren (IV 81,153–16), Krö-

mologie des Exemplarischen. Hg. von Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes. Berlin 2007 (LiteraturForschung 4), S. 7–59. 784 Dicke: Exempel, S. 534. 785 Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim u. a. 1988 (ORDO Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), S. 67.  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

sus und Midas: „Kein mensch so mechtig oder Reich | Wer er auch Creso vnd Midi gleich“ (I 40,37 f.), oder die Königinnen Herodias und Isabel:  

Wem solcher vnfall ist beschert Das jm ein solche widerfehrt/ Als Herodias vnd Jesabell Der hat hie mehr denn eine Hell (III 16,37–40).786

Für die Exempel im Esopus kann dezidiert nicht von einem Exempelbegriff im „strikt terminologischen Sinne“ ausgegangen werden. Für diesen „sollte der Begriff ungeachtet seiner historischen Extensionen Geschichtsbeispielen vorbehalten bleiben, Schilderungen vergangener ‚wahrer‘ Geschehnisse, die in persuasiver Funktion vergleichend zur Klärung aktueller Problemfälle beigezogen werden“.787 Waldis bezieht sich zwar auch auf historisches Geschehen: „Wie in den Historien zubesehen“ (I 14,54), beschränkt sich aber bei der Wahl exemplarischer Figuren und Geschichten bei weitem nicht nur auf historische. So bilden bereits die Fabelerzählungen einen Fundus an exemplarischen Erzählungen. In der Affabulatio von IV 53 wird das Verhalten der Fabelfigur als exemplarisch für den rachsüchtigen Mann, der nur drohen kann, beschrieben: Vnd wenn er selb nicht ist der Man Oder zur rach nit komen kan So klt er doch sein muth mit drawen Folgt dem Exempel dieser Frawen Vnd stellt es Gott in sein gericht (IV 53,35–39).

Auch äsopische Fabelstoffe und –akteure werden in der Affabulatio als exemplarisch herangezogen, wie der Verlust der Beute des habgierigen Hundes in der Affabulatio von I 68: Wie dem geitzigen Hundt geschicht Mit dem stck Fleisch/ welchs jm im Bach Entfiel/ das ers nicht wider sach (I 68,28–30).

Auf die im Bach schwimmenden Pferdeäpfel, deren Geschichte in II 47 erzählt wird, wird in der Affabulatio von II 47 verwiesen:

786 Die Aneinanderreihung von Exempeln beschränkt sich nicht auf solche, die auf den gleichen Kontext, wie etwa aus der Bibel, zurückzuführen sind. In IV 77 kombiniert Waldis als Beispiele dafür, dass ein neidischer Mensch sich in seinem Hass mitunter selbst zugrunde richtet, das biblische Exempel von Haman im Buch Ester (IV 77,113–116) mit der antiken Erzählung des Metallkünstlers Perillus (IV 77,117–134). 787 Dicke: Exempel, S. 534.

4.3 Elemente der Affabulatio

349

Der Roßdreck als er gflossen kam Vnd vndern schnen pffeln schwam/ Het er sich nit zum Apffel gmacht/ Er wer wol blieben vnbelacht (II 47,15–18).

Sogar Äsop selbst wird aufgrund seiner Taten als Exempelfigur aufgeführt: Wie Esopus der vngeschlacht Durch seine weißheit frieden macht Zwischen Crso dem Knig reich Der da zu mal het keinen gleich Das jm das Landt zu Samo danckt Vnd er damit groß lob erlangt (III 78,33–38).

Zumeist sind es aber fabelfremde Figuren und Texte, die zum Vergleich mit oder zur Veranschaulichung einer im Lehrsatz getätigten Aussage herangezogen werden. Häufig begegnen antike und biblische Exempelfiguren und -geschichten: „Exempel han wir auß der Schrifft | Welch auch gar eben hie auff trifft“ (II 26,65 f.). Gerade wenn Exempel als antik oder biblisch ausgewiesen werden, wäre es verkürzt, die Exempel auf ihre Beispielfunktion zu reduzieren, denn in  

Mittelalter und Früher Neuzeit sucht man bei Autoritäten nach Orientierung für das eigene Handeln. Dabei spielt das Anführen von Exempeln, exemplarischen Figuren oder Sachverhalten eine zentrale Rolle, die eine Übersetzung mit ‚Beispiel‘ nur unzureichend wiedergeben würde.788

Die Anbindung an Autoritäten findet sich sowohl für antike: „Horatius ein buben blacht | Der sich offt kranck frn leuten macht“ (I 62,25 f.), als auch für biblische Exempel:  

Der weise Knig Salomon Dasselb durch gleichnus zeiget an/ Ein dreydratiger Strick/ er spricht Leßt sich mit sterck zerreissen nicht Also/ wenn Freundt zusamen halten Lassen sich nit durch zwitracht spalten/ Dieselben vnberwintlich sind Wenn man sie stets einmtig findt (II 2,44–50).

Die Angabe von altbekannten und historischen Exempelfiguren und die Wiedergabe ihrer Geschichten unterstützen die kontinuierliche Geltung von Aussagen,

788 Esopus. Bd. 2, S. 38.

350

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

wie etwa in I 95. In der Fabelerzählung wird einem Reiter bei einem Ausritt sein angeklebtes Toupet durch den Nordwind vom Kopf geweht. Er reagiert auf das Lachen der umstehenden Menge, indem er selbst lacht und scherzhaft darauf zu antworten weiß.789 Zu Beginn der Affabulatio wird ein solches Verhalten als nachahmenswert hervorgehoben: Also/ wenn vns ein kleiner schad Geschicht/ des man zu lachen hat/ Das wir vns denn des zorns auch massen Nicht vmb ein kleins erzrnen lassen (I 95,25–28),

und nochmal an Sokrates als Vorbild veranschaulicht: Socrates der groß/ vnd weise Jst gantz hchlich darumb zu preisen/ Das er eins mals auff einen tag Vor gricht/ mit einem backen schlag Wolt nicht lassen erzrnen sich Verantworts aber gar hflich/ Vnd sprach/ es ist vor augen schein Die Menschen nicht frsichtig sein/ Nicht treffen knnen drechte zeit Wenn sie solln gehn zu rath/ oder streit Denn mchten sie ein Helm auffsetzen Das man jr angsicht nicht mcht letzen (I 95,29–40).790

Im gleichen Maße, wie ein Exempel in der Affabulatio die Geltung eines Lehrsatzes in die Vergangenheit ausweiten kann, kann ein Exempel eine Fabelerzählung für Zeitgenossen aktualisieren wie in III 51. In der Fabelerzählung betet ein armer,

789 „Es ist kein wunder fr euch allen | Das mir die frembden har entfallen | Weil mir entfallen sein zuuorn | Die mir zum Kopff gewachssen warn“ (I 95,17–20). 790 Neben die positiven Exempelfiguren treten auch Negativfiguren aus der Vergangenheit, wie etwa Sorostrates in III 85. Thema der Affabulatio ist der Versuch, durch schandhaftes Verhalten Ruhm zu erwerben. In der Fabelerzählung ist dies die Begründung der Hornisse für das Verhalten, welches ihr die Biene vorwirft: „Mit boßheyt gwint man auch offt ruhm/ | Jch wolt (wie durch tugent der frommen) | Auch gern durch schand zu ehren kommen“ (III 85,22–24). Diese Aussage wird direkt darauffolgend in der Affabulatio als allgemeine Aussage für zeitgenössische Zustände wiederholt: „Die Welt ist jetzt so gar verrcht | Das sie durch schandt offt ehre scht“ (III 85,25 f.), und im Exempel erneut als Einzelfall dargelegt: „Thut gleich/ wie Sorostrates thet | Seinr tugent halb kein rhum nit het/ | Der zndt den schnen Tempel an | Zu Epheso in Asian | Der hoch berhmt/ vnd weit bekandt | Der Diane in gantz Griechen Landt/ | Da man jn fragt/ warumb ers than | Er sprach/ ich must ein gdechtnus han/ | Auff das man in zuknfftgen tagen | Auch etwas wißt von mir zusagen“ (III 85,33–42).  

4.3 Elemente der Affabulatio

351

kranker Mann zu Jupiter. Wenn er ihn erhören möge, dann opfere er ihm 20 fette Ochsen. Jupiter ist verblüfft über das Versprechen, gewährt dem Armen aber aus Neugier, wie dieser sein Gelübde einhalten wird, seine Bitte. Als der Arme geheilt ist, sucht er auf dem Acker die Knochen von Ochsen zusammen, opfert diese und meint, sein Gelübde eingehalten zu haben. Aus Zorn schickt ihm Jupiter einen Traum von einem Schatz unter einer Eiche. Als der Arme den Schatz am nächsten Morgen suchen geht, begegnet er drei Räubern, die ihn umbringen. Die Affabulatio beginnt mit einem Lehrsatz im Umfang von zwei Versen: „Jn nten offt die Leut geloben | Das sie doch nit zu geben haben“ (III 51,33 f.). Direkt daran angeschlossen wird ein Exempel erzählt: „Wie der Holender auff dem Meer“ (III 51,35). Als das Schiff in zwei Stürme zugleich gerät, ruft er den Heiligen Nikolaus an und verspricht ihm für die Rettung in der Not eine Wachskerze in der Größe des Hauptmastes. Sein Sohn ermahnt ihn, eine solche Kerze könnten sie sich nicht mal mit der Hilfe aller Freunde und Verwandten leisten. Der Vater weist ihn zurecht, er solle schweigen, schaffe man es nur ans Land, dann könne man nochmal verhandeln und den Heiligen „mit eim kleyn zu frieden stellen | Geben jm was wir selber wllen“ (III 51,59). Die Affabulatio endet mit dem Exempel. Die Fabelerzählung ist mit 32 Versen nur minimal länger als die Affabulatio mit 30 Versen. Narratio und Exempel sind fast gleich lang, der Lehrsatz dient als Scharnier zwischen der heidnischen Geschichte, die ebenfalls von der Rache des Gottes erzählt, und der christlichen Anrufung des Heiligen, der ebenfalls betrogen werden soll. In der Kombination beeinflussen sich Fabelerzählung und die Geschichte des Holländers. Das Exempel aktualisiert das Thema des Verhandelns mit und Betrügens von Gott in einem christlichen Kontext, zugleich wird die Heiligenverehrung in einen direkten Vergleich mit der heidnischen Götterverehrung gesetzt. Wie unterschiedlich ein Exempel kontextualisiert und wiedergegeben werden kann, zeigt sich anhand des im Esopus dreimal eingebauten Kampfes zwischen David und Goliath. In III 7,35 f. wird das Exempel nur in zwei Versen angerissen: „Der klein Dauid gefellet hat | Den grossen Rysen Goliath“ (III 7,35 f.). Es wird als Beispiel dafür herangezogen, dass auch „Klein leut“ (III 7,32) oft Großes gelingen kann. Der in dieser Fassung des Exempels nicht genannte Stein aus der Schleuder Davids könnte Ausgangspunkt gewesen sein für das darauffolgende Bild vom umstürzenden Wagen: „Ein kleiner Steyn strtzt wol ein Wagen | Der dreissig Centner kan ertragen“ (III 7,38 f.). In I 59 wird in der Affabulatio auf die Tyrannei eingegangen, die „Die armen schwachen Vnderthan“ (I 59,36) ertragen müssen. Dieser Zustand kann mithilfe von Gott verändert werden:  







Zu zeiten thuts auch Gott wol fgen Das von dem schwachen wird gefellt Der sich Tyrannisch hat gestellt (I 59,42–44).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Das Exempel von David und Goliath wird als Beispiel göttlicher Hilfe herangezogen: Das man zu eim Exempel hat Den grossen Rysen Goliath Des hohmut strtzt Dauid der kleyn Auß seiner schleuder/ mit eim steyn (I 59,45–48).

Auch in der Affabulatio von II 26 wird auf den göttlichen Beistand eingegangen. Die Affabulatio beginnt mit der Warnung, dass man den Geringen nicht verachten solle, da dieser „mit list“ (II 26,60) ausgleichen könne, was ihm an Macht fehle. Veranschaulicht wird dies durch den Erfolg von David: Exempel han wir auß der Schrifft Welch auch gar eben hie auff trifft/ Der groß vnd freche Goliath Ein Philister geborn von Gath/ Gantz Jsrael honsprechen thet Als obs nit einen Kriegsman het/ Der sich auß knheit drffte wagen Vnd sich mit dem Philister schlagen/ Da kam zu jm Dauid der kleyn Erlegt jn baldt mit einem steyn/ Mit einem steyn er jn erschreckt/ Das er zur Erden lag gestreckt/ An seinem eigen Schwerdt er starb Damit Dauid den preiß erwarb/ Als er den Goliath erschlug Sein kopff gen Hierusalem trug/ Damit wardt Jsrael getrst Vnd von Philistijm erlst (II 26,65–82).

Das Exempel wird nun als schriftlich in der Bibel überliefert ausgewiesen. Der historische Kontext, die Genealogie von Goliath, der historische Schauplatz, die Kampfparteien, die Schilderung des Kampfablaufs (erst Schleuder, dann Köpfen mit dem Schwert des Feindes, die Präsentation des Kopfes) betonen, dass es sich um ein historisches Exempel handelt. Wie bei der Stoffauswahl für die Fabeln im vierten Buch, zeigt sich auch bei der Auswahl an Exempeln im Esopus ein großes Spektrum. In der Affabulatio von II 54 wird eine Exempelgeschichte als gegensätzliches Beispiel zur Fabelerzählung genutzt.791 Die Narratio dient der Ver-

791 Es wird auch als gegensätzlich markiert: „Ein ander gschicht muß hie anzeigen | Jst diesem gantz vnd gar entgegen“ (II 54,35 f.).  

4.3 Elemente der Affabulatio

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anschaulichung, dass Reichtum zu Hochmut führt. So fragt ein in Rom zu Würden gekommener Kardinal einen alten Freund, der ihn eigentlich beglückwünschen wollte, höhnisch nach seinem Namen. Das Exempel in der Affabulatio zeigt hingegen, dass Reichtum ausnahmsweise nicht zu Hochmut führt. Berichtet wird die „geschicht“ (II 54,35), wie Albertus Magnus, der „hoch gelerte[] Philosoph[] | Ein Schwab geborn von Laugingen“ (II 54,38 f.), „durch sein Kunst zu hohen dingen“ (II 54,40) kommt und Bischof von Regensburg wird. Als ihn seine ungewöhnlicherweise herausgeputzten Eltern besuchen, erkennt er diese nicht, weil er sie nur als armes Müllerpaar „Mit staub vnd kley besteubet gar“ (II 54,72) kennt. Der „lecherliche[] bossen“ (II 22,53) von Markolf und Salomon dient in der Affabulatio von II 22 zur Bestätigung, dass „Natur hoch vber gwonheyt fehrt“. Neben Exempelfiguren, die für den Sachverhalt oder die Eigenschaft, aufgrund der sie herangezogen werden, zeitgenössisch weit verbreitet sind, treten Erzählungen mit namenlosen Figuren, die wie Exempel funktionieren. Die zeitlich nicht näher einzuordnenden Geschichten werden ausgewiesen als schriftlich überliefert: „Wir lesen von eim jungen Gsellen“ (IV 32,46) sowie mündlich kursierend: „Man sagt von einem jungen Knaben“ (II 32,29). Auch die Erfahrung des Sprecher-Ichs wird in den Affabulationes in Form von anekdotenhaften Geschichten eingebracht, bei welchen das Sprecher-Ich Augen- bzw. Ohrenzeuge ist. In II 100 erzählt das Sprecher-Ich von einer Unterhaltung, die es auf einer Fahrt zu hören bekommen habe: „Denn ich gehrt hab auff ein fart | Ein alter Mann gescholten wardt“ (II 100,43 f.). Auf die Fabelerzählung in IV 50, in welcher das Sprecher-Ich bereits unter den Zuhörern am Verkaufsstand eines Trickbetrügers anwesend war, folgt die Schilderung eines weiteren Einzelfalls: „Jch sahe desgleichen einst zu Eymbeck | Auch von eim solchen Gsellen keck“ (IV 50,69 f.). Bei der Geschichte, die in der Affabulatio von IV 23 wiedergegeben wird und die beispielhaft dafür ist, dass manche Menschen meinen, sie verstünden Latein, es aber nicht tun, handelt es sich um ein Erlebnis zwischen dem Sprecher-Ich und einem Bekannten: „Jch het ein mal ein guten Frndt | Der bey mir in der Kirchen stundt“ (IV 23,99 f.). Anknüpfungspunkt ist wie bei einem Exempel ein tertium comparationis. Die Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit wird mitunter in der Einleitung betont, wie in III 88,63 f.: „Sonst gehts jm wie dem Edelman | Der nam sich grosser lgen an“ (III 88,63 f.), in IV 16,53: „Wie jenem alten Mann geschahe“, in IV 61,29: „Gleich wie der Kelner sprach zum Koch“, oder auch IV 76,59: „Wies auch ist eim Locaten gahn“ (IV 76,59). Anders als historische Exempel und solche, die mit Figuren, Geschehnissen oder Sachverhalten der Vergangenheit diachron eine allgemeine Regel bestätigen oder diese nochmal veranschaulichen, verstärken Geschichten ohne zeitliche Situierung die Geltung von Regeln, indem der Einzelfall der Fabelerzählung nicht als einziges Beispiel für eine Regel gezeigt wird.  











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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

4.3.8 Rede von Sprecher-Ich und Fabelfiguren Eines der Merkmale bei der Ausgestaltung der esopischen Fabeln ist der im Vergleich mit den Vorlagen eingeführte oder deutlich ausgeweitete Anteil direkter Rede. Es lassen sich hierbei verschiedene Sprecher und Sprecherpositionen unterscheiden. Neben den Reden der Fabelfiguren, sowohl als Dialog als auch in Monologform, meldet sich ein Sprecher-Ich sowohl in den Fabelerzählungen als auch in den Affabulationes zu Wort. Dieses tritt eigenständig als ‚Ich‘ auf, setzt sich daneben in Beziehung zu einem ‚Du‘, dem einzelnen Leser, sowie einer unspezifischen Rezipientengruppe, dem ‚man‘. Schließlich finden sich auch Kollektivaussagen. Dieses ‚wir‘ verbindet das Sprecher-Ich und den Leser der Fabelsammlung. In den Aussagen des ‚Ichs‘ werden individuelle und kollektive Erfahrung, Normen und Werte verhandelt und zum Vergleich mit den Fabelerzählungen wie mit den Zuständen in der Welt des Lesers und des Autors genutzt. Im Rahmen der mehrfachen Funktionalisierung des Sprecher-Ichs wurde bereits auf seine deutende Funktion als eine unter den verschiedenen Funktionen – Autor-Ich, deutendes Sprecher-Ich und erzählendes Sprecher-Ich – eingegangen.792 Da seine Deutungen und Kommentare aber ein eigenständiges Element der Affabulatio bilden, werden im Folgenden die Art und Weise der Darstellung des Sprecher-Ichs und seine Funktionen kurz zusammengefasst, um abschließend näher auf weitere Formen von Rede im Esopus einzugehen. Das Sprecher-Ich bewertet und deutet, es gibt Ratschläge und benennt Normen. Punktuell nennt es eigene Lebensumstände und verweist auf sein eigenes Handeln bzw. führt Entscheidungsprozesse vor. Es nennt sich selbst als Beispiel auch negativer Verhaltensweisen. Augenzeugenschaft und die Schilderung der eigenen Erfahrung machen es zu einer Deutungsautorität. Zugleich gibt es aber auch die Deutung von Ereignissen ab oder verunsichert, indem es sich einer Deutung entsagt. Es ist Rezipient von Fabeln. Indem es von Ereignissen berichtet, an dem es beteiligt war (als Ohren- und Augenzeuge und als Beteiligter) ist es aber auch Teil der esopischen Fabelwelt. Einige Aussagen des Sprecher-Ichs beinhalten auch Informationen über das Sprecher-Ich. Es erscheint in seiner Rede antipäpstlich und wertkonservativ. Es präsentiert sich als weit in Mitteleuropa und besonders in Deutschland umher gereist. Häufig ist es die kaufmännische Tätigkeit, die die Reisen (wie in IV 13) und den Aufenthalt in zahlreichen mitteleuropäischen und besonders deutschen Städten begründet.793 Mit der Selbstdarstellung als ‚erfahren‘ stützt es seine Aussagen, 792 Ausführlich zu den verschiedenen Funktionalisierungen des Sprecher-Ichs siehe das Kapitel „Das Sprecher-Ich als Autorität im Esopus“. 793 Biographische Hinweise auf tatsächliche kaufmännische Tätigkeiten von Waldis fehlen. Lediglich die bürgerliche Existenz als Handwerker ist gesichert. Im Druck seines 1527 aufgeführ-

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4.3 Elemente der Affabulatio

wenn es als Augenzeuge auftritt. Elaboriert geschieht dies in III 100,89–114, wenn es das „Closter zu Asseis“ (III 100,89) und besonders seine prächtige Innenausstattung zum Beweis für die Scheinheiligkeit des Bettelordens beschreibt. Es tritt als Ratgeber auf, der mithilfe seines eigenen Urteilsvermögens Fabellehren nochmals aufnehmend oder bestätigend, formelhaft eingeleitet mit der Phrase ich rath, als zu befolgende Verhaltensweise formuliert, wie etwa in I 5,39 f.: „Derhalben ich eim jeden Rath | Das er mit seinem gleich vmbgath“. In der Funktion des Ratgebers spricht es auch den Leser der Fabeln direkt an:  

Darumb rath ich on allen spot Das man vertraw allein auff Gott Vnd sich allein auff jn verloß Am glauben ist die menschheit bloß/ Vnd ist diß fals das fleisch kein nutz Verlorn ist all sein hilff vnd schutz/ Vnd ist in allen sachen feyl Glaub mir/ ich habs versucht zum theyl (I 94,59–66).

Über das Sprecher-Ich wird ermöglicht, in die Affabulatio eine autorisierte Diskussion und Deutung der Fabelhandlung einzubringen. Indem die Handlungen und Reden von Figuren in der Affabulatio positiv oder negativ bewertet werden, tritt das Sprecher-Ich als Autorität hervor, die in der Affabulatio eine nachträgliche Eindeutigkeit dessen herstellen kann, was in der Fabelerzählung verhandelbar und unabgeschlossen geblieben ist. Auch ohne direkten Bezug auf die Fabelerzählung kann das Sprecher-Ich hervortreten, indem es Zustände und Sachverhalte in der Alltagswelt bewertet oder bestimmte Verhaltensweisen verurteilt, wie in I 13,51 f.: „Vorwar glaub mir es steht nicht fein | Wo der Knecht vbern Herrn will sein“. Zugleich kann das Sprecher-Ich dezidiert die Deutung von Ereignissen, Verhaltensweisen oder Aussagen abgeben, wie es am Ende der Fabel IV 90 in Bezug auf eine eingeschobene Erzählung geschieht. Diese handelt von einem Konsul, der, statt zu regieren, lieber weiter seinen Acker umgegraben hätte: „Was er damit hat wolt bedeuten/ | Bfehl ich zu sagen ander Leuten“ (IV 90,229 f.).  



ten Dramas De parabell vam verlorn Szohn nennt er sich selbst „Borchardt waldis, kangeter tho Ryga ynn Lyfflandt“ (Burkard Waldis: De parabell vam verlorn Szohn. Die Schaubühne im Dienste der Reformation. Erster Teil. Hg. von Arnold E. Berger. Leipzig 1935 [Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Reformation 5], S. 143–206 [Text], S. 207–220 [Kommentar], S. 144). Als Zinngießer wird er auch in den städtischen Akten geführt, siehe mit weiterführenden Hinweisen Esopus. Bd. 2, S. 10. Es ist nicht zu belegen, ob Waldis das Handwerk wirklich ausgeübt hat oder ob sich im Verkauf von Zinnwaren die beiden Tätigkeiten zusammenführen lassen.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Neben der Ausgestaltung des Sprecher-Ichs ist auch die Art und Weise der Figurenrede in der Fabelerzählung im Vergleich mit traditionellen äsopischen Fabeln auffällig. Im Esopus wird nicht nur schlicht Handlung wiedergegeben, Rede und Gegenrede der Fabelfiguren nehmen mitunter einen großen, wenn nicht sogar den größten Teil der Fabelerzählung ein, beispielsweise sind von den 14 Versen der Fabelerzählung von III 33 zehn Verse direkte Rede. Neben der Interaktion mit anderen Fabelfiguren wird die Rede in Monolog- oder Dialogform zur Bewertung der Situation genutzt. In II 51 etwa legt ein Koch drei noch lebende Fische in eine Pfanne voll heißem Schmalz. Die Fische beschließen sich aus dieser Situation zu befreien, indem sie ins Feuer darunter springen. Im Feuer (trocken und heiß) enden sie in einer Umgebung, die sich vom eigentlichen Lebensraum Wasser (flüssig und kalt) noch radikaler unterscheidet als das Schmalz in der Pfanne (flüssig und heiß). Die Reue über die Entscheidung wird in direkter Rede wiedergegeben: Sprachen/ wir sein eim kleynen schaden Entgahn/ vnd han auff vns geladen Ein grsser pein/ vnd das verderben Mit schmertzen mssen wir all sterben (II 51,13–16).

Dass die Reden und Meinungen von Fabelfiguren auch in der Affabulatio mitzuberücksichtigen sind, wird vorgeführt, wenn auf diese in der Affabulatio nochmals eingegangen wird. In I 30,51 f. wird im Streit von der Ameise und der Fliege in der Affabulatio eindeutig Position bezogen: „Doch gib ich hie der Ameissen recht | Es ist viel besser leben schlecht“ (I 30,51 f.). In IV 49 Vom Wolffe/ vnd Fuchsse wird die „deutung in den sachen“ (IV 49,100) sogar zum Gegenstand der Fabelerzählung, der Fuchs wird zum Ausleger von Ereignissen, die ihm der Wolf berichtet. Die Narratio wird nicht primär zur Wiedergabe einer Erzählung, sondern einer Deutung genutzt. Die Verkehrung traditioneller Fabelbestandteile zeigt sich auch anhand der Figuren. Traditionell werden die nicht-menschlichen Protagonisten aufgrund ihrer Eigenschaften in der äsopischen Fabel zum Gegenstand der Deutung, so etwa in I 2,27 f.: „Der Wolff zeigt die Tyrannen an | Das Lamb die armen Vnderthan“. Im Esopus übernimmt in IV 49 ein Fabeltier die Funktion, die der Erzähler in der Affabulatio einnimmt, er deutet einen Vorgang und die daran Beteiligten. Nicht mehr die ‚alten‘ Tiere der äsopischen Fabel und deren Eigenschaften wie Handlungen werden zum Gegenstand einer Deutung, sondern das vom Wolf beschriebene menschliche Äußere wird vom Fuchs gedeutet.794 Provokativ ist die  





794 Zur Interpretation der Fabel im Rahmen einer „Depotenzierung des Fabel-Erzählens“ siehe Lieb: Erzählen, S. 169–179, dort schon die Beobachtung, dass die „interne Erzählsituation […] ein

4.3 Elemente der Affabulatio

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Deutung des Fuchses insofern, als diese sich auf die menschliche Gesellschaftsordnung bezieht. Der Wolf trifft „in einem Winter kalt“ (IV 49,1) auf den Fuchs, der vom Wolf als Reynhart begrüßt wird und welchem er „ein seltzam ding verzelen“ (IV 49,20) muss. Er, der Wolf, sei Zeuge eines städtischen Festumzugs prachtvoll gekleideter Frauen und Männer geworden und könne sich die Erscheinung der Teilnehmer nicht erklären. Die roten „kstlich Kleyder“ (IV 49,60) und die „silbern Kleynot gulden Ketten“ (IV 49,59) der Frauen sowie die „glden hauben | Seidene Wammes/ kstlich Schauben“ (IV 49,65 f.) der Männer erklären sich ihm noch, auch wenn sie ihn über die Ungleichheit in der Welt nachdenken lassen:  

Jch dacht/ wie ists so vngleich theylt Vnd solchs so manchem armen feyhlt Die offt das Brodt nit zessen haben Mssen den durst mit Wasser laben Als du vnd ich vnd vnsers gleichen An einem hauffen hans die reichen Mit Zobeln gftert vnd mit Lchssen Etlich mit Mardern/ etlich Fchssen Viel sahe ich von den besten Leuten Die trugen Beltz von Wolffes heuten (IV 49,67–76).

Die Art und Weise, wie manche der Reichen den Wolfspelz trügen, kann er sich nicht erklären. So hätten manche die Pelze mit der haarigen Seite nach außen getragen, andere kerten das rauhe innen Die selben hielt ich baß bey sinnen Denn je die Beltz darumb bedacht Zur wrm vnd nit zum schein gemacht (IV 49,79–82).

Ob diese, in den Augen des Wolfes, Unsinnigkeit darum besteht, Ob sie des nit wern baß gelert Oder ob sies sonst von vorwitz theten Oder sunst vor ein gewonheyt hetten (IV 49,84–86),

spiegelverkehrtes Abbild der externen Erzählsituation [erzeugt], insofern der Wolf als Fabeltier zum Erzähler der internen Erzählsituation wird und der Gegenstand des Erzählens der außerliterarischen Wirklichkeit kongruent ist“ (Lieb: Erzählen, S. 173).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

kann sich der Wolf, der die Haare ja selbst nach außen trägt, einfach nicht erklären. Er habe sich bei einem in der Nähe liegenden Hund danach erkundigt, aber obwohl dieser in der Stadt zuhause sei, konnte dieser dem Wolf keine Auskunft geben. Nun bitte er den Fuchs, ihm doch zu erklären, „Woher doch solcher wechssel kum“ (IV 49,94), es sei wohl „ein groß Mysterium“ (IV 49,106). Der Fuchs muss „gar spttisch lachen“ (IV 49,99). Er vergleicht den Wolf mit einem „Bawr“ (IV 49,102), die gleichfalls die Bedeutung der Erscheinung nicht verstünden. Statt jedoch eine Erklärung für die Praxis zu nennen, wie etwa Mode, deutet der Fuchs das Äußere – der entweder nach innen oder nach außen gekehrte Pelz – zeichenhaft für das Innere der Pelzträger. Es handle sich um die „Gsellschafft von zweierley leuten“ (IV 49,108), um Adlige und um Kaufmänner. In beiden Fällen verrate der „Wolffes balck“ (IV 49,148) auch wölfische Verhaltensweisen. Die Adligen trügen die Pelze offen, denn „Solch Wolff helt jetzt die Welt in ehren“ (IV 49,131). Ihr gegenwärtiges Verhalten sei unverbesserlich, Hoffnung auf Besserung gebe es nicht. Im Gegenteil, Sie wten stets wie die Tyrannen Wenn mans vnfreundtlich thut anzannen So schlahens/ beissens/ vmb sich her Gleich einem Lwen oder Beer/ Sie schemen sich des mausens nicht (IV 49,113–117).

Ihre räuberische Art sei genauso bekannt wie die des Wolfes: Rauben/ vnd nemens wo sies finden Vnderdrucken beid Leut vnd Landt Vnd sind jrs raubens wol bekant Gleich wie du deine grawen har Außkerst/ vnd tregst sie offenbar (IV 49,120–121).

Die Kaufmänner wiederum trügen zwar auch Wolfshäute, doch wüssten diese ihr Verhalten gut zu verbergen: Sein Wolff/ vnd wllens doch nit sein Schmcken den Wolff mit fromen schein Vndr einr Schafs haut vnd frommen schalck Verbergen sie den Wolffes balck Mit gutem gwandt vnd seiden Rcken Sie alle zeit den Wolff bedecken Vnd sein so Wolff von beyden theylen (IV 49,145–151).

Waldis benutzt eine alt tradierte Erzählkonstellation der äsopischen Fabel, die Fuchs-Wolf-Beziehung und die traditionelle Kompetenz des gelehrten Fuchses,

4.3 Elemente der Affabulatio

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um in dieser Fabel nicht nur von diesen Figuren zu erzählen, sondern den Deutungsprozess selbst in den Vordergrund der Erzählung zu rücken. Der Fuchs wird in dieser Fabel als intimer Kenner des Wolfes gezeigt, der als guter Bekannter häufig Kontakt mit dem Wolf hat. Er ist daher auch in der Lage, die wölfische Art der reichen Menschen zu erkennen. Das „verzelen“ (IV 49,20), das der Wolf ankündigt, täuscht darüber hinweg, dass die Fabel vornehmlich aus Deutung besteht. In der Affabulatio wird keine auktoriale Deutung vorgenommen. Dezidiert wird die Deutung der Fabel, was denn der „Wolffesbeltz außweißt“ (IV 49,154) vom Autor dem Fuchs überantwortet. Diese zeige eine solche Gelehrsamkeit auf, dass es nichts an der Aussage auszusetzen gebe: Die deutung vber diese Fabel Darff zwar keiner andern Parabel Denn wie sie hat der Fuchß verklert Der ist die zeit wol so gelert Das er den Wolff kent vor den Schaffen Derhalben weyß jn nit zu straffen So jemandt nit gefelt sein deuten Der ht sich vor den Wolffes heuten Vnd hab mit solchen nit gemeyn Will er vom Fuchß vngscholten sein (IV 49,155–164).

In all den aufgeführten Beispielen bleibt die formale Trennung von Fabelerzählung und Affabulatio durch das Alinea-Zeichen strikt eingehalten. In der Affabulatio wird die Rede von Fabelfiguren lediglich nachträglich noch einmal herangezogen, argumentativ gestützt oder abgewiesen. In einigen wenigen Fällen ist nun zu beobachten, wie Figurenrede in unterschiedlichem Grad in die Affabulatio hineinreicht, wie etwa in IV 21 und IV 95. Beide Male handelt es sich um Figuren, denen aufgrund ihres Amtes oder ihrer Persönlichkeit Autorität zugesprochen wird. In IV 21 wendet sich ein Schultheiß, der nach der Begegnung eines Pfaffen mit zwei Landsknechten die Anklage des betrügerischen Pfaffen überprüft, an die Umstehenden. Die Rede beginnt in der Fabelerzählung und endet in der Affabulatio. Er rät dem Pfaffen, wie mit Landsknechten bei einer weiteren Begegnung umzugehen sei. Ausgestellt ist die Lehrfunktion der Rede: „Vnd habt euch dis von mir zur ler“ (IV 21,212). In IV 95,269–328 ist die gesamte Antwort von Christus an Petrus in die Affabulatio verlegt, auch hier wird der Rede eine Lehrfunktion zugesprochen: Wer diese lere wol kan fassen Der wirdt jm leichtlich gngen lassen An seim Ampt wenn ers wol wirdt knnen Vnd seinem nehsten nichts mißgnnen (IV 95,325–329).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

In II 63 wird nach dem Alinea-Zeichen die Geschichte weitererzählt, indem ein unbeteiligter Beobachter eingeführt wird, der das Verhalten der Stadthunde kommentiert. Diese verfolgen einen Dorfhund, bis dieser sich knurrend herumdreht: Das sahe ein Haubtman ongefehrlich Er sprach zu seinen Knechten wehrlich/ Das spiel wir sehen von den Hunden Thut vns ermanen vnd erkunden/ Wenn wir an vnser Feinde ziehen Behertzet seien/ vnd nit fliehen/ Das vnglck thut den eh verheren Der fleuht/ denn der sich denckt zu wehren/ Denn wer da fleuht denselben jagt Ein jeder (wie das sprichwort sagt) (II 63,11–20).

Die Deutung der Ereignisse ist an eine Figur in der Fabelwelt abgegeben, die ungewöhnliche Anordnung der Rede nach dem Alinea-Zeichen verändert aber den Status der Figurenrede. Sie ist nicht mehr nur gültig innerhalb der esopischen Fabelwelt, sondern sie hat Geltung für den Rezipienten der Fabel. Dadurch dass die Deutungsfigur nicht Teil der Ereignisse ist, sondern nachträglich als Beobachter wertet, wird der Kreis derer, die Ereignisse werten dürfen, erweitert. Jeder Beobachter der Ereignisse kann zu einer bewertenden Autorität werden, wenn er seine Deutung – wie der Hauptmann an dieser Stelle mithilfe eines Sprichwortes – nicht nur auf die reine Beobachtung stützt. Diese Affabulatio führt vor, wie die Fabelerzählung aus sich selbst heraus Deutungsanspruch für die Welt des Rezipienten beanspruchen kann. Bei den Reden von Sprecher-Ich und Fabelfiguren handelt es sich um ein Element der Affabulatio, das durch die Subjektposition des Sprechers geprägt ist. In Form einer individuellen Meinung können, wie im oberen Beispiel, weitere Elemente wie Sprichwort oder Referenzen auf antike Werke bewertet, angenommen oder abgewiesen werden. Bei der direkten Ansprache des Lesers kann ein gemeinsamer Wert- und Normhorizont formuliert werden.

4.3.9 Intratextuelle Verweise Abschließend wird anhand der intratextuellen Verweise auf ein Element in den Affabulationes eingegangen, welches sich funktional von den bisher besprochenen Elementen unterscheidet. Anders als bei den Sprichwörtern, Zitaten, der Rede des Sprecher-Ichs usw. beinhaltet der Verweis an sich kein eigenes Sinnpotenzial, auch wenn er hilft, Sinnpotenzial in eine Affabulatio einzuspeisen. Er bildet statt dessen eine Brücke zu früheren Fabelerzählungen und deren Affabu-

4.3 Elemente der Affabulatio

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lationes. Auch ohne explizite Markierung können sich wiederholende Elemente, die ein hohes Wiedererkennungspotenzial haben, etwa bestimmte Sprichwörter oder Zitate, die unmarkiert über ihren doppelten oder mehrfachen Gebrauch Verweise zu anderen Affabulationes bilden, eine Verknüpfung mit einem weiteren Kontext bewirken. Im Folgenden werden solche Verweise im Mittelpunkt stehen, die, explizit vom Autor in den Affabulationes gesetzt, Verbindungen zu anderen Fabeln herstellen. Es handelt sich stets um Rückverweise, der Leser ist aufgefordert, sich an Sinnangebote in früheren Fabelerzählungen und Affabulationes zu erinnern oder diese Lektüre zumindest nachzuholen. Rückbezüglich wird so für die einzelne Fabel der gesamte Esopus zum Speicher für Sinnpotenzial. Formal sind die Verweise danach zu unterscheiden, wie und auf welche Bestandteile früherer Fabeln verwiesen wird. Im Rahmen ihrer verknüpfenden Funktion wurde bereits auf Verweise eingegangen, die mithilfe des numerischen, von Waldis eingeführten Ordnungssystems eine explizite Verbindung herstellen, etwa in I 75,56: „Sich die achtzehend Fabel an“, und solche, die diese mit der Angabe von Fabelfiguren kombinieren, wie im Verweis von I 61 auf I 2: „Vom Wolff vnd Lamb ist oben ghrt“ (I 61,29).795 Wird das numerische Ordnungssystem nicht herangezogen, so können der Inhalt der Fabelerzählung, die Ereignisse oder Figurenrede in der Fabelhandlung den Ausgangspunkt für die Verknüpfung bilden. Diese unterschiedlichen Formen der Verknüpfung eignen sich für unterschiedliche Rezipienten. Der Verweis auf das numerische System kann auch ein Leser nutzen, welcher mit dem Esopus und/oder den äsopischen Fabelstoffen nicht vertraut ist oder der einzelne Fabeln der Sammlung punktuell liest. Manche der Verweise sind hingegen nur für den Leser verständlich, der mit den Fabeln bereits vertraut ist oder das Register der Sammlung zu Rate zieht. Beispielsweise wird in III 41 anhand des Fabelpersonals über die Buchgrenze hinweg auf eine andere Fabel verwiesen. Ausgangspunkt ist die Schadenfreude eines Geschädigten, wenn er andere mit ins Unglück ziehen kann, als Beispiel werden in der Affabulatio die Fischer genannt, die eine Menge Muscheln gesammelt haben: „Wie solchs die Fabel thut entdecken | Von den Vischern/ vnd von den Schnecken“ (III 41,33 f.). Verwiesen wird hiermit auf II 23 Von zweien Vischern/ vnnd Mercurio. Das in der verweisenden Textstelle angesprochene Fabelpersonal deckt sich nur teilweise mit den im Titel genannten Figuren, kann aber mithilfe des Registers erschlossen werden.  

795 Siehe das Kapitel „Formen der Verknüpfung im Esopus“ mit den Verweisen in I 77 auf I 9, in I 78 auf I 10 und der nur in der ersten Ausgabe vorhandene Verweis in II 7 auf I 67.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Fabelfiguren werden geradezu als Zeugen herangezogen, um eine Aussage zu stützen, wenn der Leser aufgefordert ist, sich an diese zu wenden, wie im Verweis von III 45 auf II 91: „Gut ists/ das solche werden gschlagen | Frag den Nußbaum/ er wirdt dirs sagen“ (III 45,19 f.). Mit dem Verweis auf eine frühere Fabel geht nicht nur eine Intensivierung der Aussage durch Wiederholung einher, das in einer Affabulatio behandelte Thema kann auch erweitert werden. In II 4 wird erzählt, wie eine Wachtel entscheidet, wann es Zeit ist, ihre Küken zur Erntezeit aus dem Nest im Kornfeld in Sicherheit zu bringen. Ohne Folgen bleiben die Pläne des Bauern erst seine „Nachbawren“ (II 4,24), dann „die blutgwanten“ (II 4,47) um Hilfe bei der Ernte zu bitten. Erst als der Bauer sich vornimmt, die Arbeit mit seinem Sohn selbst zu erledigen, flieht die Wachtelmutter mit ihren Kindern. In der Affabulatio wird eine Fabelerzählung referiert, in der eine Fabelfigur die menschliche Untreue am eigenen Leib erfährt:  

Dis sey dir gsagt jetzund zuuorn/ Es ist mit menschen thun verlorn/ Wiltu mir hie nit glauben stellen/ So gehe hin/ vnd frag den Gesellen Der sich ins Laub verkrochen het/ Vnd was der Ber da mit jm redt/ Wer auffs fleisch sein vertrawen stellt (II 4, 101–108).

Der Verweis führt zur Fabel I 94 Von zweien Gesellen/ vnd dem Beren. Darin schwören „ZWen Gsellen“ (I 94,1) zu Beginn einer Wanderschaft einander rechte trew Mit Eydes pflicht/ on alle rew/ Zu leiden beide todt vnd leben Vnd was Gott vnd das glck wurd geben (I 94,3–6).

Als ein Bär die beiden überrascht, kann sich der eine auf einen Baum retten, während der andere Geselle sich nur zu helfen weiß, indem er sich in eine Wagenspur legt, sein Gesicht mit Laub bedeckt und sich tot stellt. Der Bär „kert jn vmb“ (I 94,19), prüft ihn genauestens, hält ihn für Aas und entfernt sich wieder. Als der Begleiter vom Baum geklettert ist, fragt er den anderen: „Was hat der Ber mit dir geredt | Da er dir heimlich rawnt ins Ohr?“ (I 94,28 f.). Die Antwort beendet die Fabelerzählung:  

er thet mich warnen zwar/ Das ich eim solchen trewlosen gsellen Frbas nicht mehr soll glauben stellen (I 94,30–32).

4.3 Elemente der Affabulatio

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Die Affabulationes sowohl der verweisenden Fabel, als auch der Fabel, auf die verwiesen wird, behandeln das Thema, wie unzuverlässig und treulos der Mensch handelt. Die Affabulatio von II 4 beschränkt dies auf die Hilfe bei Arbeiten, die man am besten nur selbst erledigen kann.796 Durch den Verweis auf I 94 wird die Anwendung der Undankbarkeit erweitert, sie ist hier auf die Hilfe in lebensbedrohlichen Situationen bezogen und ergänzt um die Alternative, auf Gott statt auf den Menschen zu vertrauen: Darumb rath ich on allen spot Das man vertraw allein auff Gott Vnd sich allein auff jn verloß Am glauben ist die menschheit bloß (I 94,59–62).

In II 15 bleibt es nicht bei einem Verweis, der auf eine Fabel Bezug nimmt. Eine Art Verweiskette findet sich ausgehend von der Affabulatio, in welcher auf zwei Fabeln, auf I 68 Vom alten Apffelbaum und I 4 vom Hundt vnd stck Fleischs verwiesen wird: Wer seine augen nicht kan fllen Sein geitz settigen/ oder stillen/ Vnd all zuuiele thut begeren/ Der mag bey dieser Enten leren/ Beim Apffelbaum/ vnd von dem Hundt/ Wie oben gnugsam ist verkundt (II 15,17–22).

Geht man dem Verweis auf I 68 nach, findet sich in der dortigen Affabulatio ein weiterer Verweis, wiederum auf die I 4. Das alle drei verknüpften Fabeln einende Thema ist die Habgier. Die Verweiskette ermöglicht es, dass in der varriierenden Wiederholung verschiedene Aspekte der Habgier ausgeführt werden. In II 15 legt die Ente eines Bauern wöchentlich ein goldenes Ei. Als der Bauer meint, einen Schatz zu erlangen, indem er die Ente schlachtet, muss er feststellen, dass sich in ihrem Inneren keine Eier befinden. I 68 ähnelt dieser Fabelerzählung. Ein Bauer bringt seinem Herrn jährlich einen Korb der besten Äpfel von seinem alten, gepflegten Apfelbaum. Dies genügt dem Herrn nicht und er lässt den Baum in seinen eigenen Garten versetzen, damit er sich „mg der Frucht ergetzen“ (I 68,10). Der Baum aber verdorrt nach der Verpflanzung. In der Affabulatio wird die Habgier verurteilt und wie schon in II 15 auf die Fabel I 4 verwiesen:

796 „Drumb/ wiltu etwas han gethan | Das auffs fleissigst werd auß gericht | Schaw selber zu/ das es geschicht“ (II 4,92–94).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Wer allweg zu viel haben will Vnd setzt dem Geitz kein maß noch ziel Derselb verleurt offt das er hat Vnd kompt zum andern auch zu spat Das er gern het/ erlanget nicht Wie dem geitzigen Hundt geschicht Mit dem stck Fleisch/ welchs jm im Bach Entfiel/ das ers nicht wider sach (I 68,23–30).

Auch in I 4 ist es das Verlangen nach mehr, das zum Verlust dessen führt, was man bereits besitzt. Ein Hund hat ein Stück Fleisch gestohlen und läuft durch einen Bach. Als er sein Spiegelbild mit dem Fleisch im Maul sieht, glaubt er, einen anderen Hund mit einem größeren Stück zu sehen. Er schnappt nach dem vermeintlich größeren Stück und verliert sein eigenes. Alle drei Fabelfiguren reut der Verlust und sie beklagen ihre Habgier.797 Habgier eint die Fabeln. Die Verweise, die den Leser gezielt zur Wahrnehmung einer steigernden Variation des Themas anregen, ermöglichen es, dass das Abstraktum kontextuell variiert aufgezeigt wird. Die Variation des Themas betrifft den Status des Objekts des Begehrens. In II 15 ist es das eigene Gut, von dem man nicht genug haben kann, in I 68 ist es das legitim erworbene Gut, in II 15 ist es das gestohlene Gut. Auch die Grundaussagen der Affabulationes variierten. Während es in I 68 und II 15 in den Affabulationes bei allgemeinen Aussagen zum Maßhalten bleibt, bezieht die Fabel I 4 die Habgier auf soziale Zustände: Diese Fabel vermant vns fein Ein jeder soll zu frieden sein Mit seim befelh/ Ampt/ vnd beruff Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff/ Vnd das wir vns des Geitzes massen An vnserm kleinen gngen lassen Jn fahr nicht setzen vnser gut Wie denn offt mancher Kauffman thut (I 4,21–28).

Eine weitere Variation betrifft die Fabelfigur und ihre Übertragbarkeit sowie die Verbreitung der Fabelstoffe. Von den drei Fabeln ist die Erzählung vom Hund und seinem Stück Fleisch der verbreitetste und bekannteste Fabelstoff in Mittelalter

797 Der Hund in I 4,15–20: „Sprach/ du elendt/ betrbter fraß | Wustest deins Geitzes keine maß | Dir gschicht gar recht/ vor hettest ichts | Jetzt hastu minder denn gar nichts | Das du das vngewiß mochtest han | Hast das gewisse fahren lan“, der Herr in I 68,19–21: „Ach het ich meinen Geitz kundt stillen | Mit den pffeln die Augen fllen | So wers darauß genug gewesen“, und der Bauer in II 15,11 f.: „Groß leydt/ sprach er/ ist mir geschehen/ | Jch hab mich vbel fr gesehen“.  

4.3 Elemente der Affabulatio

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und Früher Neuzeit.798 Im Esopus hat sie, wie auch in vielen anderen Fabelsammlungen, etwa bei Steinhöwel oder Alberus einen Platz unter den ersten Fabeln der Sammlungen. Der Verweis auf den Hund dient als Exempel für den Habgierigen. Zugleich wird mit dem Verweis auf den Hund die Veranschaulichung der Habgier verschoben, weg von den menschlichen Fabelfiguren Bauer und Dienstherr, verengend hin zum exempelhaften habgierigen Hund. Dieser bietet in der Übertragung der an sich menschlichen Eigenschaft ein Bild der Habgier, von dem sich jeder Leser angesprochen fühlen kann. Bei Verweisverfahren, die auf die traditionellen äsopischen Fabelfiguren Bezug nehmen, kann in der Lektüre über die peritextuelle Ausstattung der Fabeln leicht die Verbindung mit den Referenzstellen hergestellt werden. Am einfachsten geht dies bei Angaben, die die Zählung berücksichtigen. Bei der Nennung der Fabelfiguren, die in den Überschriften wiederzufinden sind, kann das Register, das die Überschriften auflistet, am Ende des Buches benutzt werden. Schwieriger ist die Herstellung zwischen referierender Fabel und referierter Fabel, wenn nicht Fabelfiguren, sondern die Lehre der Fabel den Referenzpunkt bildet wie in I 56,75–78: Besser ist fried bey kleinem gut Denn reichthumb der offt schaden thut/ Vnd manchem grossen vnfall tregt Wie oben gnugsam angezeigt.

Nur über eine inhaltliche Ähnlichkeit, indem ebenfalls behandelt wird, dass es besser sei, im eigenen Haus frei zu sein anstatt in Abhängigkeit reich, ließe sich eine Verbindung etwa zu I 9 herstellen. In der Affabulatio von I 9 wird der Reichtum, der Sorgen bringt, in verschiedenen Elementen wie einem Pauluszitat, Sprichwörtern etc. wiederholt und variiert, wie in I 9, 81: „Groß mhe/ vnd sorg/ gebert groß gelt“ oder in den V. 97–99: Ein trucken Brodt mit frieden gessen Jst besser denn mit sorgen gsessen Bey grossen Herrn am hohen Tisch.

Da der Verweis, anders als in der Fabel I 77, in welcher explizit die Dorfmaus in der Fabelerzählung als Zeuge genannt wird, offen ist, kann es sich aber auch um eine Referenz auf I 29 handeln. Diese handelt von dem Häher, der sich Pfauenfe-

798 Vgl. die Anzahl der Einträge zum ‚Hund am Wasser‘ in DG 309 gegenüber der ‚Gans mit goldenem Ei‘ in DG 229, die Erzählung vom verpflanzten Apfelbaum ist nicht in den Fabelkatalog aufgenommen.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

dern ansteckt und meint, sich nun auch wie ein Pfau verhalten zu können. Die Pfauen bemerken jedoch den Betrug und reißen ihm die Federn wieder raus. In der Affabulatio wird u. a. geraten:  

Wenn einer will mit den vmbgahn Die jm zu reich/ vnd zu hoch gethan Zu letst wenn ers hat vbermacht Wirdt in armut dazu belacht (I 29,17–20).

Die Vagheit der Phrase in I 91,39: „Wie oben offtmals ist bedacht“, gibt Anlass für die Überlegung, ob dies als Verweis gelesen werden kann.799 Im Vordergrund steht nicht mehr die Verweisfunktion auf eine konkrete Fabel, sondern wohl die Bedeutung und die Ubiquität des Themas, in diesem Falle der Narrheit. Ein Mittel, um derartige Verweise zu stärken, ohne den Verweis explizit zu machen, liegt in der Gestaltung der Affabulatio, indem andere Elemente die Ähnlichkeit der Stellen stärken. In der Affabulatio von I 83 geht es um die Unsicherheit der Zukunft, auf die man nicht bauen soll. Der Verweis auf eine frühere Fabel ist vage: Es lert ein jeden die vernunfft Das wir nicht hoffen auff zukunfft Es ist gewiß das gegenwertig Was wir solln han/ ist noch nicht fertig Besser ein Sperling in der handt Denn ein Schwan daussen auff dem sandt Es begibt sich zwischen des menschen mundt Manch fall/ vnd zwischen dem becher rundt Dadurch der trunck offt wirdt verstrt Wie vns ein ander Fabel lert (I 83,14–23).

Auch in I 4 wird das Hoffen angesprochen und die Kaufmannschaft als Beispiel herangezogen: Die Kauffmanschafft mir nicht gefelt Da man das hoffen kaufft vmb gelt/ Man sagt das hoffen/ vnd das harren Macht manchen weisen man zum Narren (I 4,31–33).

799 Es könnte sich um einen Verweis auf I 63 und I 90 handeln, siehe Esopus. Bd. 2, S. 111. Ein ähnlicher vager Verweis findet sich in III 33,15–18: „Die Fabel thut so viel bedeuten | Das man jr viel findt vndern Leuten/ | Die guts bezaln mit bsen gaben | Dauon wir oben gschrieben haben“, wofür sich die Fabel II 94 als referierte Fabel anbieten würde, siehe Esopus. Bd. 2, S. 202.

367

4.3 Elemente der Affabulatio

Ein direkter Bezug ergibt sich zwischen I 4 und I 83 durch die doppelte Verwendung eines leicht variierten Sprichworts (I 83,18 f.), das die Affabulatio von I 4 abschließt: „Besser ein Sperling in der handt | Denn ein Ganß daußen auff dem Sandt“ (I 4,35 f.). Neben dem Inhalt von Fabelerzählung und Affabulatio können auch Phrasen und die verwendete Bildlichkeit als verweisstützende Bestandteile dienen. In III 2,15 f. wird zu Beginn der vier Verse umfassenden Affabulatio auf die bereits getroffene Aussage hingewiesen: „Jst oben gsagt/ mit schnem schein | Wllen die Leut betrogen sein“. Die beiden letzten Verse: „Hilfft nicht das wirs von Wolffen schrecken | Die gmeynlich in der Schafshaut stecken“ (III 2,17 f.), nehmen einerseits direkt Bezug auf die Fabelerzählung, in der ein Wolf in eine Schafshaut schlüpft, die er gefunden hat, und Schafe reißt. Der Schäfer hängt den Übeltäter an die höchsten Zweige eines Baumes. Als ihn die anderen Schäfer fragen, warum er dies getan habe, begründet er seine Handlung mit dem Unterschied zwischen dem Aussehen und den Taten des Übeltäters.800 Andererseits kann der sprichwörtliche Gebrauch vom Wolf in der Schafshaut auch metaphorisch für die menschlichen Betrüger verwendet sein. Intratextuelle Verweise am Ende einer Affabulatio machen einen Leser darauf aufmerksam, dass selbst die eigenständige, abgeschlossene Deutung in einer Affabulatio, folgt man dem Verweis, aufs Neue eröffnet werden kann oder dass das Thema oder die Themen einer Affabulatio in ähnlicher, erweiterter oder anderer Weise nochmal verhandelt und bewertet werden können. Eröffnet ein Verweis eine Affabulatio, wie hier im Fall von III 2, ist der Rückbezug zwar auch vorhanden, das Verfahren in der Affabulatio ist aber ein anderes. Dann wird präsent gemacht, dass es eine frühere Verhandlung gab, die hier erneut aufgenommen und nun anders akzentuiert wird. Stichworte bilden in der Affabulatio von III 2 der „schne[] schein“ (III 2,15) und „betrogen sein“ (III 2,16), die die Verbindung zu den Fabeln II 76 und II 92 stützen. So wird in II 76 der Adler, der bei einer Hochzeit den stinkenden Wiedehopf aufgrund seines schönen Äußeren zum Missvergnügen aller anderen Vögel einen Ehrenplatz an der Tafel zuweist, mit denjenigen verglichen, die sich vom Äußeren blenden lassen: „Der Adlar hat sein gleich auff Erden | Leut die durch schein betrogen werden“ (II 76,15 f.). In II 92 ist neben dem „schein“ (II 92,24) auch das Motiv des Wolfs im Schafpelz erwähnt:  









Laß dich mit worten nicht bethren Mit außwendigem schein verfhren/ Vndern Schafskleidern sindt verborgen Groß Wolffe welch die Schaf erworgen (II 92,23–26).

800 „Er sprach/ ein Schafspeltz er an hat | Ein Wolff war aber mit der that“ (III 2,13 f.).  

368

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Die Beurteilung des Themas vom äußeren Schein bei der erneuten Behandlung in III 2 variiert ebenfalls. Sie ist nicht mehr als Warnung formuliert, sondern erscheint resignierend. Diese Veränderung lässt Rückschlüsse auf das Fabelverständnis zu: Es zeigt sich hier eine Tendenz, die vor allem im neuen Teil des Esopus manifest wird, das Problem des Scheins bewußt zu machen, d. h. Mechanismen, Motivationen und Funktionen des Betrügens durchschaubar zu machen, weil nur das ‚hilft‘. Die Fabel löst sich damit aus dem Bereich der Lebensklugheit, die den ‚Gegner‘ mit seinen eigenen Waffen schlägt; sie ist nicht mehr Instrument, denjenigen Moral ‚einzuflösen‘, die die Wahrheit nur verhüllt annehmen wollen, sondern sie wird ein Instrument, die im Schein verhüllte Wahrheit zu enthüllen.801  

Was Lieb hier für die Einzelfabel festhält, lässt sich auf die Affabulationes in der gesamten Sammlung übertragen. Der Verweis, der Verbindungen herstellt, ermöglicht es auf den ersten Blick in der Affabulatio auf die wiederholte Behandlung von Themen aufmerksam zu machen. Mit dieser Intensivierung geht aber auch eine Differenzierung einher, da die Wiederholung im Esopus immer auch in der Variation besteht. Diese Komplexisierung kann u. a. durch eine etwas andere Bewertung des Sachverhalts, im Einbezug anderer Elemente wie Sprichwort, Bibelzitat etc. bestehen. Diese erlauben etwa andere Formen der Autorisierung und schaffen die Grundlage, ein Bewusstsein für die Komplexität von Themen, die in der Welt des Lesers von Bedeutung sind, zu schaffen bzw. zu schärfen.  

4.4 Verfahren in der Affabulatio Die vorhergehende Darstellung der Elemente konzentrierte sich isolierend auf einzelne Bestandteile der Affabulatio. Damit sind aber noch nicht Verfahren beschrieben,802 die mithilfe solcher Elemente im Esopus zur Sinnkonstitution

801 Lieb: Erzählen, S. 61. 802 Der Begriff ‚Verfahren‘ wird im Folgenden terminologisch unscharf verwendet. Er ist bewusst gewählt gegenüber der zweckgerichteten ‚Strategie‘, welche auf die Beweggründe und Absicht zielt. Der Begriff ‚Verfahren‘ hat den Vorteil, dass sich damit die Gemachtheit der Texte, sowohl quantitative wie qualitative Effekte als auch die Textherstellung damit fassen lassen. Unter den Ansätzen, die versuchen, den Begriff für Erzähltexte fruchtbar zu machen, sind vor allem Robert Matthias Erdbeer: Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46 (2001), S. 77–105; und die Einführung in Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin 2015, S. 11–30 hervorzuheben.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

369

genutzt werden. Für die folgende Untersuchung gilt, wie zu Beginn des Kapitels ausführlicher dargestellt,803 dass der ‚Sinn‘ der Fabel sich darin konstituiert, wie der Text Geltung zuschreibt und wie sich dies in der Gemachtheit der Fabel zeigt. Verfahren der Sinnkonstitution erschließen sich durch drei verschiedene Perspektiven auf die esopischen Fabeltexte. Diese konzentrieren sich jeweils auf unterschiedliche Relationen. Die Relation der ersten Perspektive ist eine diachrone. Gemeint ist die Relation von Vorlage und der Bearbeitung im Esopus. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen nachweisbaren Vorlagen sind am sichersten anhand der esopischen Fabeln und den Fabeln der Hauptvorlage im Aesopus Dorpii zu beschreiben. Bei dem Rückgriff auf einen Vorlagentext kann man von diesem ausgehend bei der Bearbeitung zwischen ‚Übersetzen‘ und ‚Nachdichten‘ bzw. ‚Umformen‘ unterscheiden. Bereits in den ersten 283 Fabeln im Esopus, die sich auf Fabeln im Aesopus Dorpii zurückführen lassen, lässt sich auch das ‚Erweitern‘ bzw. ‚Neu schreiben‘ insbesondere des zweiten Fabelteils beobachten. Dies ist in beiden Fabelteilen, Narratio wie Affabulatio, der Fall, der Schwerpunkt liegt in dieser Untersuchung aber auf dem zweiten Fabelteil. Die beiden weiteren Perspektiven konzentrieren sich auf Verfahren der Textherstellung in der einzelnen esopischen Fabel. Wie gestaltet Waldis die Einzelfabel hinsichtlich Fabelerzählung und der zugeordneten Affabulatio? Betrachtet wird die Relation von Narratio und Affabulatio. So ist danach zu fragen, in welchen Bezug die Affabulatio zur Fabelerzählung gesetzt wird. Inwiefern wird das Sinnpotential der Fabelerzählung Teil der Affabulatio? Der Bezug von der Affabulatio auf die Fabelerzählung kann etwa explizit durch Auslegung hergestellt werden und die gesamte Fabelerzählung oder auch nur Teile davon umfassen. Daneben kann ein Bezug durch Sinnexplikation in Form eines Lehrsatzes hergestellt werden oder in loser Verknüpfung durch ein tertium comparationis mit einem anderen Element als dem Lehrsatz. Es ist zu unterscheiden, ob die gesamte Affabulatio auf die Fabelerzählung bezogen wird oder ob es Anknüpfungspunkte gibt, von denen aus sich die Affabulatio verselbstständigt. Es ist hierbei genauer zu verfolgen, in welchen Zirkulationen oder Austauschprozessen sich ‚narratio‘ und Lehre in Waldisʼ alten und neuen Fabeln generieren, in welchen Schreib- und Argumentationsstilen sie sich bewegen, inwiefern auch die Moral die ‚Grenzen der Fabel‘ berühren und durchbrechen kann, indem sie sich vom ‚fabula docet‘ löst und aus anderen Quellen Erkenntnis und Lehre schöpft.804

803 Siehe das Kapitel „Zum ‚Sinn‘ der Fabel“. 804 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 134. Ein „derartiger Ansatz müsste Fragen nach Vorbildern und Gattungstraditionen zurückstellen gegenüber Fragen ‚nach synchronen Zusammenhängen‘,

370

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Die dritte Perspektive, die im Folgenden eingenommen wird, richtet sich auf nur einen der beiden Fabelteile, auf die Affabulatio und die Verfahren der auktorialen Deutung. Über die Untersuchung der Relationen einzelner Elemente innerhalb der Affabulatio lassen sich Argumentationsbewegungen ausmachen. Im Esopus wird nicht mehr nur, wie bei der traditionellen Fabel, ein Sinn in Form eines Lehrsatzes expliziert. Zusätzlich wird etwa ein Sinn der Fabelerzählung anhand mehrerer Elemente dargestellt. Diese können die Affabulatio mit zusätzlichem Sinnangebot, als aus der Narratio zu extrahieren wäre, ausstatten.

4.4.1 Übersetzung Die einfachste Form der Bearbeitung stellt die Übersetzung dar. Für seine ersten 283 Fabeln hat Waldis nachweislich auf Fabeln im Aesopus Dorpii zurückgegriffen und diese aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Anhand dieses Korpus lässt sich beobachten, wie Waldis in der Bearbeitung mit Vorlagen umgeht. Übersetzung bedeutet hierbei neben der Veränderung der Sprache auch stets die Veränderung von Prosa zur Versgestalt in paargereimte Knittelverse, eine form- oder wortgetreue Interlinearversion ist daher von vornherein ausgeschlossen. Der zeitgenössischen Übersetzungspraxis folgend, handelt es sich bei den Übersetzungen der Moralia zumeist um ‚sinnwahrende Paraphrasen‘805, wie etwa der Anfang der Affabulatio der Fabel I 1 zeigt: „Die vnuerstendign merck beim Han/ | Kunst/ Weißheit zeigt die Perlen an“ (I 1,31 f.). Dieser geht auf den ersten Satz des Morale der Dorpiusfabel De Gallo gallinaceo zurück: „Per gemmam artem sapientiamque intellige, per gallum hominem stolidum et voluptarium“.806 Die Grenzen von der ‚sinnwahrenden Paraphrase‘ zur ‚Nachdichtung‘, die in Gestalt und Aussage von der Vorlage abweicht, sind fließend. So kann die Aussage vollständig übernommen werden, die Gestalt aber leicht verändert werden wie bei der Übersetzung des Morale der Dorpiusfabel De Vulpecula et Ciconia. Die Aussage: „Risus risum, iocus iocum, dolus dolum, fraus meretur fraudem“,807 wird als Lehrsatz in der Fabel I 27 im Esopus eingearbeitet:  

hätte die Fabel weniger als Form der Wissensproduktion denn als Raum der Verarbeitung literarischen, kulturellen und sozialen Wissens wahrzunehmen, dabei ‚die stets interpretationsbedürftige Relation von Erzählung und Auslegung‘ zu beachten“ (ebd.). 805 Zu den Begriffen und der Übersetzungspraxis im 15. und 16. Jahrhundert siehe Anette Kopetzki: Übersetzung. In: RL. Bd. 3, S. 720–724. 806 Esopus. Bd. 2, S. 41. 807 Ebd., S. 64.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

371

Ein lachen bringt das ander lachen Mit schertz thut man mehr schertzes machen Ein begangne list/ vnd Bberey Die bringt ein ander schalckheit bey (I 27,33–36)

Übernommen werden alle drei der sich hinsichtlich der Intensität steigernden Bestandteile – Lachen, Scherzen und Betrug –, die Syntax wird aber so verändert, dass statt eines einzigen Prädikats (meretur), jedes Subjekt ein Prädikat erhält. Das letzte Substantiv in dieser Kette wird intensivierend ausdifferenziert. Statt ein Substantiv zu wiederholen, wird fraus dreimal aufgeteilt und ausgeweitet in list, Bberey und schalckheit. Eher als ‚Nachdichtung‘ denn als ‚Übersetzung‘ lassen sich die Affabulationes solcher esopischer Fabeln beschreiben, die in der Bearbeitung allgemeine Aussagen der Vorlage veranschaulichen oder allgemeine Sachverhalte, Rezipientengruppen etc. aus dem Aesopus Dorpii weiter ausführen oder durch Beispiele veranschaulichen. Das Morale der Dorpiusfabel De Vespis, Perdicibus et Agricola besteht etwa aus dem Lehrsatz mit der Aussage, dass denen nicht zu helfen sei, die unnütz und unwert seien: „Fabula significat non esse illis subveniendum, qui nauci et inutiles sunt“.808 In III 80 werden diese von Waldis präzisiert als Faule und diejenigen, die sich von der Arbeit anderer ernähren: Wer sich legt auff die faule seiten Will sich nehren von andern leuten Dem schadts nit/ das sein anschlag feyhlt Vnd nit allzeit wirdt mit getheylt (III 80,23–26).

Die Übernahme von Moralia der Fabeln im Aesopus Dorpii variiert in einer Weise, dass neben der Übersetzung die Übernahme der Aussage bei formaler Umgestaltung zu beobachten ist. So werden Lehrsätze durch andere Elemente ersetzt. Vom Morale der Vorlage von III 71: „Fabula significat, quod, quae suo tempore non fiunt, ea diu stare nequeunt“809, wird zwar die Aussage übernommen, dass ‚wenn es nicht zu seiner Zeit geschieht, es lange Zeit nicht geschehen wird‘, statt mithilfe eines Lehrsatzes wird dies durch ein Sprichwort und eine Bibelstelle ausgedrückt: Ein eynig Schwalb macht keinen Sommer Ein bissen Brodt stillt nit den kummer/ Ein jeglich ding hat sein bescheidt Wenn es geschicht zu rechter zeit (III 71,15–18).

808 Ebd., S. 228. 809 Ebd., S. 223.

372

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Das erste Sprichwort ist dezidiert auf die Fabelerzählung bezogen und gibt die Erfahrung der Fabelfigur wieder. Ein junger Mann, der sein gesamtes Erbe verprasst hat, besitzt nur noch einen Mantel. Als er zufällig eine Schwalbe sieht, meint er, der Sommer käme bald und versäuft auch den Mantel. Es folgt aber eine erneute Kältewelle. Völlig verfroren findet er eine tote Schwalbe: „Er sprach/ jetzt mht mich nit mein schad | Weil die auch jren lohn jetzt hat“ (III 72,13 f.). Beim darauffolgenden V. 16 handelt es sich um ein umgekehrtes Sprichwort, wonach, wer Brot habe, nicht an Hunger sterbe müsse.810 Den Abschluss bildet die sprichwörtlich gewordene Bibelstelle aus Koh 3,1: „EJN JGLICHS HAT SEINE ZEIT“.811 Die Bearbeitung von Waldis resultiert nicht selten in einer Umdeutung der lateinischen Moralia. Die Übernahme der Moralia ist fakultativ, so kann Waldis ein einzelnes Morale nur in Teilen übernehmen oder die Aussage eines Morale so sehr umformen, dass der Ausgangstext in der Affabulatio kaum noch zu erkennen ist, wie etwa in der Fabel I 4 Vom Hundt vnd stck Fleischs. Das Morale der Vorlage mahnt, der Tugenden Bescheidenheit und Klugheit zu gedenken, um dann zu raten, nicht das Sichere für das Unsichere aufzugeben. Abgeschlossen wird das Morale mit einem ausgewiesenen Ausspruch von Terenz: „Morale. Monemur hac fabella modestiae, monemur prudentiae. Ut et cupiditati sit modus, ne certa pro incertis amittamus. Astute certe Terentianus ille Sannio: ‚Ego‘, inquit, ‚spem pretio non emam‘“.812 Nur noch die einleitende Formel und die allgemeine Aussage des zweiten Satzes sind in die Affabulatio in V. 25–27 eingebaut:  

Diese Fabel vermant vns fein Ein jeder soll zu frieden sein Mit seim befelh/ Ampt/ vnd beruff Dazu jn Gott erwelt/ vnd schuff/ Vnd das wir vns des Geitzes massen An vnserm kleinen gngen lassen Jn fahr nicht setzen vnser gut Wie denn offt mancher Kauffman thut Durch hoffnung eins kleinen genieß Macht er sein gwisses vngewiß/ Die Kauffmanschafft mir nicht gefelt Da man das hoffen kaufft vmb gelt/ Man sagt das hoffen/ vnd das harren Macht manchen weisen man zum Narren Besser ein Sperling in der handt Denn ein Ganß daußen auff dem Sandt (I 4,21–36).

810 Siehe ebd. 811 Zu den Nachweisen der Sprichwörtlichkeit siehe Esopus. Bd. 2, S. 155. 812 Ebd., S. 44.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

373

Die Affabulatio behandelt statt der Tugendlehre die Einhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Statt der Ich-Aussage des antiken Autors Terenz, der sich über den Vorzug des Sicheren äußert, wird die Meinung des Sprecher-Ichs wiedergegeben, das die Kaufmannstätigkeit bewertet. Erst in den zwei daran angefügten Sprichwörtern wird das Thema ‚Sicherheit‘ angesprochen. Die Beispiele verdeutlichen, dass Waldis bei der Gestaltung von Fabelerzählung wie Affabulatio eigenständig Bearbeitungen und Erweiterungen vornimmt, die Auswirkungen auf den Sinn der Fabel haben. Im Folgenden ist daher eine Relation in den Blick zu nehmen, welche für alle 400 Fabeln im Esopus untersucht werden kann, die Relation von Narratio und Affabulatio.

4.4.2 Partikularisierung Bei der zweiten einzunehmenden Perspektive auf die Affabulatio ist der Blick auf die Relation von Affabulatio und Narratio zu richten. Der Bezug des zweiten Fabelteils zur Fabelerzählung kann variieren zwischen einer losen Verknüpfung, einer indirekten Bezugnahme etwa über ein tertium comparationis oder einer direkten Bezugnahme. Hier wird die Unterscheidung verschiedener Methoden von Sinnproduktion, wie sie oben schon angesprochen wurde, von Bedeutung.813 Aufgrund der unterschiedlichen Erzählstoffe mit unterschiedlichem Personal, so mit äsopischen oder rein menschlichen Figuren, sind diese Methoden der Sinnproduktion zu unterscheiden in solche, die man „tendenziell ‚integumental‘ und ‚exemplarisch‘ nennen könnte und die den Status der Wahrheit oder Lehre berühren“.814 Verschiedene Anknüpfungspunkte bietet jede Narratio. Egal, wie kurz eine Fabelerzählung auch sein mag, sie kann stets in verschiedene Elemente wie Fabelfigur, das Ereignis bzw. die Handlung und sofern vorhanden Requisiten sowie Figurenrede zerlegt werden. Hinzu kommen mitunter Fabeleingänge mit räumlicher oder zeitlicher Situierung und, in wenigen Fällen, der Narratio vorangestellte Deutungsansätze wie in III 98,1–16. In den Affabulationes wird bei Sinnextraktion nach dem Prinzip der Auswahl und Isolation einzelner Bestandteile der Narratio vorgegangen. Dies ist der Fall bei der traditionellen Möglichkeit der Fabeldeutung, bei der in Lehrsätzen etwa Verhaltensweisen einer einzelnen Fabelfigur verallgemeinernd auf bestimmte Personengruppen übertragen werden. Bereits in der Affabulatio der ersten Fabel der Sammlung begegnet die Gleichsetzung einer Fabelfigur mit einer Eigenschaft, die dem Menschen eigen ist. So ist der

813 Siehe das Kapitel „Zum ‚Sinn‘ der Fabel“. 814 Vögel: Fabelhafte Schwänke, S. 135.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Hahn, der nichts mit einer wertvollen Perle anzufangen weiß, weil er auf der Suche nach Nahrung ist, der Unverständige: „Die vnuerstendign merck beim Han“ (I 1,31). Derartige Zuordnungen können ausgehend von geschildertem Verhalten der Figuren vorgenommen werden, doch auch Elemente die nicht an der Handlung beteiligt sind, dienen der Sinnkonstitution. In I 1 folgt in der Affabulatio auf die Auslegung des Hahnes die Gleichsetzung eines Requisits in der Fabelerzählung mit einem Abstraktum: „Kunst/ Weißheit zeigt die Perlen an“ (I 1,32). Desweiteren kann der in der Fabelerzählung als Einzelfall geschilderte Vorgang verallgemeinernd als verbreitete Handlungsweise präsentiert werden, wie dies in I 61 zu beobachten ist. In der Fabelerzählung nimmt sich eine Katze grundlos vor, den Hahn zu fressen, und greift ihn zuerst verbal an. Der Hahn weiß auf jeden Vorwurf eine gute Antwort, bis ihn die Katze zuletzt nicht mehr antworten lässt. In der Affabulatio ist die Handlung der Fabelerzählung verallgemeinert: Wenn der boßhafft ein frommen Man Denckt mit schaden zu fechten an So findt er wol vrsach dazu Damit er jm den schaden thu (I 61,25–28).

Die verallgemeinernde Setzung in der Affabulatio greift häufig auf Eigenschaften zurück, die bereits dem Tier zugesprochen werden, oder auf Oppositionen, die sich etwa wie in diesem Beispiel durch die Beziehung Jäger und Beutetier ergeben. Traditionelle Zuschreibungen in Fabeldeutungen haben aber auch metaphorische Umschreibungen für menschliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen geprägt, die dann wiederum losgelöst von der Fabel verwendet werden. So ist die Zuschreibung des Fuchses als schlaues, listiges, häufig boshaftes Tier redensartlich geworden, nicht mehr nur werden dem Fabeltier menschliche Züge verliehen, sondern ein Mensch kann in Analogie zum Fabeltier etwa einen füchsischen Charakter haben. Derartige redensartliche Wendungen werden bewusst in die Affabulationes eingebaut. In III 12 gelingt es einem Fuchs, einen Hund, der ihn verfolgt, davon zu überzeugen, er solle doch lieber das süße Fleisch des Hasen erjagen, welcher in einer nahen Hecke läge. In der Affabulatio ist die redensartlich gewordene Eigenschaft des Fuchses, sich in Situationen zu seinen Gunsten und auf Kosten anderer herausreden zu können, als menschliche Charaktereigenschaft aufgeführt: Viel Leut haben solch Fchssisch gmte Das sie wol vnderm schein der gte/ Wenn sie ein auch auffs hhste preisen Ein Fchssisch schelmenstck beweisen (III 12,25–28).

4.4 Verfahren in der Affabulatio

375

Daneben gibt es auch überraschende, da nicht traditionelle Setzungen, wie etwa die Zuordnung vom knarrendem Wagenrad und klagenden Kranken. Die Zuordnung geschieht hier bereits in der Fabelerzählung von dem Wagenrad selbst. Der Fuhrmann spricht das knarrende Wagenrad missmutig an, warum es so viel mehr „geschrey“ (III 10,3) mache als die drei anderen Wagenräder. Das Wagenrad erklärt sich und sein Verhalten selbst: „Der Wagen sprach/ wir hans so funden | Die Krancken klagen jr leydt den gsunden“ (III 10,5 f.). Diese Aussage wird in der Affabulatio wiederholend bestätigt und ausgeweitet auf die Mühe, die man mit den Kranken habe:  

Ein alte Weiß ists/ das die Krancken Stets krchtzen/ sehnen/ kreisten/ ancken. An jn mit trsten/ etzen/ laben Mehr denn an gsunden zuschaffen haben (III 10,7–10).

Waldis belässt es jedoch nicht bei diesem einsinnigen Verfahren des Deutens. In manchen Fabeln werden mehr als ein Bezug auf die Fabelerzählung vorgenommen. Der mehrfache Bezug auf die Narratio wird nicht nur dazu genutzt, einen Sinn mehrfach zu stützen. Stattdessen kann jeder Bezug auf die Narratio eigenständig einen Sinn generieren, es kommt zu einem Nacheinander verschiedener Deutungen. In I 64 etwa werden dezidiert zwei Deutungen der Fabelerzählung gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Die Erzählung vom neidischen Hund, der in einer Futterkrippe voller Heu liegt und einem hungrigen Rind nicht erlaubt zu fressen, wird zuerst verallgemeinert in Hinblick auf das Sozialverhalten von stolzen Menschen: Es sind viel Leut von stoltzen sinnen Das sie jrm nehsten das nicht gnnen Dauon sie selber gar nicht wissen Vnd haben sichs auch nicht geflissen Vnd wenn sie sehn das dem gelingt Das jn sein Kunst zu ehren bringt So hassens wie ein offner feindt Das jm die Sonn ins Wasser scheint (I 64,15–22).

Anschließend wird mit Referenz auf frühere Deutungen: „Etlich han auch die Fabel gdeut“ (I 64,23), der Vergleich der Situation in der Narratio mit der Ehe ungleicher Eheleute wiedergegeben: Als wenn im Ehestandt vngleich leut Ein alt Mann nimpt ein junges Weib Welcher er nicht zu jrem Leib

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Nach notturfft kan den Zehend geben Vnd gan auch nicht/ das sonst daneben Ein ander solch arbeyt außricht Dazu er selber war verpflicht Sondern gleich wie den Hundt verdreußt Ders Hw verwart/ des er nicht gneust (I 64,24–32).

Neben der mehrfachen Auslegung der gesamten Fabelerzählung wird im Esopus auch in einzelnen Affabulationes partikular mehrfach auf die Narratio zugegriffen. Im mehrfachen Zugriff wird diese in Einzelbestandteile zerlegt. Es wird nicht mehr nur ein Thema zur Sprache gebracht, in der Erzählung narrativ und in der Deutung argumentativ, sondern mehrere Themen werden aus der Narratio abgeleitet. Statt einen Sinn zu sichern, wird das Sichern aufgegeben zugunsten einer mitunter ausgestellten Mehrdeutigkeit der Fabel. Statt einer ‚Sinnsicherung‘ könnte hierbei von ‚Verunsicherung‘ gesprochen werden. Diese explizite Mehrdeutigkeit ist nicht in sich abgestimmt, sondern jede der Sinnextraktionen ist eigenständig, kann sich durch den Einbezug fabelfremder Elemente weiterentwickeln und gegenüber der Narratio wie den anderen Deutungsansätzen verselbstständigen. Es kommt zu einem unabgestimmten Nebeneinander eigenständiger Deutungen. Besonders deutlich ist dieses Vorgehen in der Affabulatio von II 31 Von der Spinnen/ vnd Podagra nachvollziehbar. In der Narratio wird von der gemeinsamen Wanderschaft der Spinne und der Podagra, das ist die Krankheit Gicht, in eine neue Stadt erzählt. Sie beschließen, jeweils bei demjenigen unterzukommen, der sie zuerst einlädt. So landet die Spinne im Haus eines reichen Bürgers, die Podagra hingegen bei einem armen Bauern. Die Unterkunft erweist sich für beide als wenig gemütlich. Die Spinne findet keine Ruhestätte, wo immer sie sich „zu weben regt“ (II 31,37) wird sie von der Magd mit einem Besen verscheucht. Die Podagra wiederum erhält zum Abendessen nur ärmliches Essen, wird krank und findet trotz Müdigkeit auf dem unbequemen Holzbett keinen Schlaf. Als die beiden sich am nächsten Morgen wieder treffen, beschließen sie, die Gastherren zu tauschen. Im Haus des Armen stört sich niemand an den Spinnweben. Die Podagra wird beim Reichen hofiert und mit edlen Speisen und Weinen verwöhnt. Als sie sich nach einer Weile durch Zufall wiedersehen, stellt sich heraus, dass beide mit ihrer Herberge mehr als zufrieden sind. Die Zufriedenheit der Spinne ist der Grund dafür, dass man heute noch die Spinnen im Hause von armen Menschen sieht: So mocht der Spinn nicht baß gelingen Denn das sie sich zum armen kert/ Das solchs gut wer/ het sie gelert Erfarnheit/ vnd der lange brauch/ Das haltens noch/ drumb siht man auch/ Die spinnen bey den armen bleiben (II 31,186–191).

4.4 Verfahren in der Affabulatio

377

In der Affabulatio wird nun einleitend hervorgehoben, dass neben dem Unterhaltungswert die Erzählung verschieden gedeutet werden kann:815 Man mag diesen Apologon (Der an jm selb lstig vnd schon) Ziehen zu mancher sachen gstalt (II 31,199–201).

Die erste Deutung bezieht sich darauf, dass Spinne und Podagra nach einer gemeinsamen Wanderschaft in der Stadt eine neue und schlussendlich glückliche Bleibe finden: Doch erstlich er ein solchs inhalt/ Das einer offt in einer Stadt Mehr glcks denn an der andern hat (II 31,202–204).

Die nächste Deutung behandelt das Verhalten der Reichen, als die Podagra ins Haus einkehrt, im Gegensatz zum Verhalten der Armen: Vnd das Kranckheyt gemeynlich pflegen Sein bey den reichen/ da thut mans hegen/ Auff weychen Betthen deckets warm Vnd nimpts gar freundtlich an den arm/ Leßt jn keins dings gebrechen nicht Solchs bey den armen nit geschicht (II 31,205–210).

Der nächste Aspekt bezieht sich auf die Erfahrung der Spinne, nachdem sie einige Zeit beim Armen gewohnt hat. Gleich beim Einzug hatte sie begonnen, in aller Ruhe ihre Netze zu weben: „Begundt gemchlich an zu heben | Zu spinnen/ haspeln/ splen/ weben“ (II 31,157 f.). Als sie die Podagra nach einiger Zeit wieder trifft, hat sie nur Gutes von ihrem Aufenthalt zu berichten:  

Die Spinn auch jre freiheit rhmet Mit vielen worten hoch verblmet/ Wie sie im gantzen hauß regiert Mit Spinnweb alle winckel ziert (II 31,175–178).

In der Affabulatio ist der Aspekt der Freiheit und des geruhsamen Lebens, da man weniger Sorgen habe, verallgemeinert zum allgemeinen Attribut der armen Leute:

815 Der Unterhaltungswert könnte auch Teil des Gefallens des Autors an der Fabel sein, welches er zu Beginn der Fabelerzählung als Grund für die Übersetzung nennt: „Weil sie nun ist dermassen gstellt | Das sie mir im Latin gefellt | Wiewol sie es thet nit gar gern | Hat dennoch Teudsch mußt reden lern“ (II 31,5–8).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Noch eins han wir drauß zu verstehn Wllns auch nit lahn frber gehn/ Wiewol Gelt/ Gut/ sind Gottes gab/ Doch siht man offt bey kleiner hab Grsser freiheit/ ruhsamer leben Denn bey/ dem/ Gott groß reichthumb geben (II 31,211–221).

Der abschließende Rat lässt sich zurückführen auf die ätiologische Pointe der Fabel. So wie die Spinne ihr Glück in der Freiheit und Geruhsamkeit im Haushalt der armen Leute gefunden hat und „nit dafr das Keyserthumb“ (II 31,180) nehmen würde, so soll ein jeder Arme mit seinem Zustand zufrieden sein: Endtlich will ich also beschliessen/ Der arm soll seiner freiheit gniessen/ Haben ein frischen freien muth/ Laß den reichen mit seinem gut/ Sein leben engstigen/ vnd worgen/ Der Hundt darff fr die schuh nit sorgen (II 31,217–222).

In der Affabulatio dieser Fabel wird nicht nur eine mehrfache Deutung der Fabelerzählung vorgenommen, die sich auf verschiedene Teile der Narratio bezieht, die verschiedenen Deutungen werden als solche präsentiert. Es wird gezeigt, dass durch Partikularisierung eine Narratio Sinnpotenzial für verschiedene Deutungen bereithält. Es wird auf so verschiedene Bereiche eingegangen wie die Abhängigkeit eines jeden von den Lebensumständen, die er nicht immer selbst beeinflussen kann (‚manchem geht es in einer Stadt besser als einem anderen‘[II 31,203 f.]), oder auf die sozialen Unterschiede von Armen und Reichen, so können die Reichen sich ausgiebig einer Krankheit widmen (V. 205–210), die Armen wiederum leben geruhsamer (II 31,212–216). Die Fabel kann sich in einer Handlungsanweisung an eine Rezipientengruppe richten (diese soll die Vorteile ihrer Lebensumstände genießen). Das Verfahren, eine Geschichte („diesen Apologon“ [II 31,199]) mehrfach in Hinblick auf verschiedene Themen zu deuten („Ziehen zu mancher sachen gstalt“ [II 31,201]) wird zu Beginn angekündigt und durch leserlenkende Phrasen „erstlich er ein solchs inhalt“ (II 31,202), „Vnd das“ (II 31,205), „Noch eins han wir drauß zu verstehn“ (II 31,211), „Endtlich will ich also beschliessen“ (II 31,217) derart markiert und hervorgehoben, dass es zur Nachahmung anregt. Es wird dazu aufgefordert, nicht nur einsinnige Deutungen aufzunehmen, sondern aktiv nach den Möglichkeiten von Deutungen zu fragen und zu suchen.  

4.4 Verfahren in der Affabulatio

379

4.4.3 Akkumulierung Die Untersuchung von Verfahren abschließend ist die dritte Perspektive auf die Affabulationes einzunehmen. Hierbei stehen die Gemachtheit der Affabulatio, die Akkumulierung von Elementen, deren formale und logische Verknüpfungen sowie die damit einhergehenden Argumentationsbewegungen und leserlenkenden Strukturen im Mittelpunkt. Kürze (brevitas) und Prägnanz, damit einhergehend möglichste Klarheit und Deutlichkeit (perspicuitas) sowie Einprägsamkeit sind Merkmale traditioneller Fabeldeutungen im Mittelalter und in der Antike. Die kurzen Sentenzen im Imperativ, die im Leben Esopi als Aussagen Äsops präsentiert werden, zeigen wie knapp und deutlich Anweisungen für die Lebensführung gegeben werden können. Sie beanspruchen nur ein bis zwei Verse, an Klarheit sind sie nicht zu übertreffen: Hab lieb Gott vber alle ding/ Vnd halt in ehren den Kning/ Wer wol thut den soltu nicht hassen/ Vnd solt dich deiner zungen massen (Leben Esopi, V. 247–250) usw.

In nicht wenigen Fällen sind auch die Affabulationes der Fabeln im Esopus kurz, das Minimum liegt bei vier Versen,816 aber eben nicht nur.817 Kurze und prägnante Moralia, die Waldis für die ersten 287 Fabeln im Aesopus Dorpii vorlagen, schwellen in der Bearbeitung aufgrund verschiedener Verfahren auf. Die Akkumulierung verschiedener Elemente erfolgt zumeist assoziativ, häufig folgt ein Bestandteil in loser Aneinanderreihung ohne formale Verknüpfung auf einen anderen. Werden Bestandteile formal verknüpft, geschieht dies einerseits zumeist, indem die Ähnlichkeit betont wird. Typisch ist hierbei die Überleitung mithilfe der Partikel wie auch, gleich wie oder wie, wenn der Lehrsatz mit der Fabelerzählung verbunden wird, wie in I 9: „Wie vns hie diese Fabel meldt“

816 So etwa bei den Fabeln II 42; II 57; II 71; II 76; II 78; II 82; II 83; II 87; II 89; II 92; II 95; II 97; III 1–6; III 10–17; III 19–23; III 27; III 28; III 30–38; III 40; III 45; III 46; III 49; III 54–60; III 62–65; III 67–72; III 76; III 77; III 80–83, siehe Esopus. Bd. 2, S. 8. 817 „Zum anderen kann das Morale der Ort sein, an dem Waldis eine weitere Erzählung unterbringt, die die aus der Narratio abgeleiteten Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln bestätigt oder variiert (siehe z. B. I 62, 77, 95; II 12, 22, 26, 32, 45, 54, 100; III 51, 85, 88, 93, 94; IV 16, 20, 23, 32, 44, 50, 52, 61, 62, 76, 77, 84, 90, 95). Zweimal ist auch ein Lied ins Morale inseriert (III 92,201–224, und IV 96,127–134). Nicht selten greift das Morale weit aus und nimmt die Gestalt und Funktion einer kleineren ethisch-moralischen Abhandlung an. Folgende Fabeln haben daher ein Morale mit mehr als 30 Versen, ohne dass eine weitere Erzählung präsentiert wird: I 7, 40, 55, 80, 90, 94; II 11, 17, 18, 21, 30, 50; III 99, 100; IV 1, 3, 19, 75, 78, 80, 81, 91, 94, 96, 99, 100. Das mit 178 Versen längste Morale weist die Fabel IV 93 auf“ (Esopus. Bd. 2, S. 8).  

380

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

(I 9,82), bei der Nennung von Beispielen für einen allgemeinen Lehrsatz wie in I 4: „Wie denn offt mancher Kauffman thut“ (I 4,28), etwa in der Berufung auf antike Autoren: „Wie auch solchs die Poeten schreiben“ (IV 80,120), bei der Anknüpfung an ein Sprichwort: „Wie auch das gmeyne Sprichwort lert“ (II 4), beim Verweis auf die allgemeine Erfahrung wie in I 7: „Wie jetzt gemein bey jederman“ (I 7,26), auf die nun offensichtlichen Vorgänge und Zustände in der Welt: „Wie man jetzt augenscheinlich sicht“ (I 48,18), bei der Berufung auf die Rede Christi: „Wie Christus selber disputert“ (I 7,34), oder auf historische Geschichten: „Wie in den Historien zubesehen“ (I 14,54) u. ö. Andererseits setzen Konjunktionen die akkumulierten Bestandteile in Beziehung zueinander, etwa begründend mithilfe von drumb, darumb,818 weil oder denn,819 konzessiv, etwa durch ob schon,820 oder auch adversativ, wie aber.821 Unter dem Begriff der ‚Akkumulierung‘ lassen sich sowohl die Erweiterung eines einzelnen Elementes wie auch die Anhäufung mehrerer Elemente fassen. Schon in kurzen Fabeln lässt sich beobachten, wie Waldis das Morale einer Vorlage umformt, weitere Bestandteile einfügt und dadurch eine komplexere Form der Fabellehre schafft. Beispielhaft wird dies an der insgesamt zwölf Verse umfassenden Fabel III 66 gezeigt. In der Fabelerzählung wird die Antwort der Löwin wiedergegeben, die stets vom Fuchs verlacht und verhöhnt wird, weil sie nur ein Junges pro Wurf gebiert. Sie verteidigt sich mit der Berufung auf die Dignität ihres Nachwuchses: „Sie sprach/ es ist war/ aber gar schon | Vnd ist dazu eins Lwen Son“ (III 66,5 f.). Das Morale der Vorlage erklärt in einer allgemeinen Aussage, dass Schönheit nicht in der Fülle, sondern in der (inneren) Qualität der Dinge bestehe.822 Auch bei Waldis beschränkt sich der zweite Fabelteil auf ein Thema: ‚klein und gut ist besser als groß und gewöhnlich bzw. schlecht‘. Die Affabulatio ist im Vergleich mit der Vorlage formal verändert: erstens wird die Sicht des Sprecher-Ichs wiedergegeben und dies zweitens durch eine Aussage ergänzt, die als Sprichwort markiert ist. In der argumentativen Abfolge lassen  



818 Beispielsweise: „Drumb/ wie das sprichwort melden thut“ (II 18,99), „Drumb wers noch gut wie Momus redt“ (II 29,41), „Drumb rath ich eim jedern bey leib“ (II 49,41), „Darumb so gsell dich zu den guten“ (I 60,31), „Drumb spricht auch Christus das er wolt“ (II 50,64) oder bei der Überleitung von einem Lehrsatz zu einem Rat: „Drumb bleib ein jeder in seim standt“ (II 87,19). 819 Z. B. „Weils in der Welt so vbel steht“ (III 95,39), „Weil wir der gburt einerley leut“ (II 18,85) oder in I 89,27: „Denn vormals ist es offt geschehen“. 820 Beispielsweise in IV 70,53: „Ob schon der Mann des Weibes Herr“. 821 Z. B. in IV 93,35: „Welch aber einst der Geitz hat troffen“ oder auch „Aber ein frommer Mann auffrichtig“ (IV 94,313). 822 „Fabula significat, quod pulchritudo haud in copia rerum, sed in virtute consistit“ (Esopus. Bd. 2, S. 221).  



4.4 Verfahren in der Affabulatio

381

sich drei formal nicht miteinander verknüpfte, im Umfang gleich große Bestandteile unterscheiden. Auf eine allgemeine Aussage folgen zwei Beispiele: Was kleine ist/ vnd doch gantz gut Mir baß denns groß behagen thut/ Jch nem ein kleine Muscatnuß Fr eine grosse Rben sß/ Man pflegt zu sagen groß vnd faul Jch sah mein tag kein schlimmern Gaul (III 66,7–12).

Die ersten beiden Verse fungieren, obwohl es sich um die Aussage des SprecherIchs handelt, aufgrund der allgemeingültigen Aussage wie ein Lehrsatz. III 66,9 f. veranschaulicht die Aussage anhand des Gegensatzes von Muskatnuss – dem kleinen, exotischen, kostbaren Gewürz, dem Heilkräfte zugesprochen werden – und der zwar großen und süßen, aber alltäglichen Rübe ohne besondere Kräfte. Dieser Vergleich veranschaulicht die Regel ‚klein und gut ist besser als groß und gewöhnlich bzw. schlecht‘ bereits eigenständig, das Motiv der Muskatnuss eröffnet aber zusätzliche Deutungsmöglichkeiten. Sie erinnert an die Redensart von der Kuh und der Muskatnuss, wie sie Waldis in der Affabulatio von I 1 eingebaut hat: „Der Muscat wirdt die Khu nicht fro | Jr schmeckt viel baß grob Haberstro“ (I 1,39 f.). Daher ermöglichen diese Verse drei Möglichkeiten der Rezeption. Erstens lässt sich die Stelle ohne die Wahrnehmung weiterer Konnotationen rein fabelintern lesen. Zweitens kann die Redensart unabhängig von ihrer Verwendung im Esopus oder etwa bei Luther mitgedacht werden.823 Drittens ermöglicht die Muskatnuss als Motiv eine intratextuelle Verbindung zur Fabel I 1 vom Hanen vnnd Perlen. Bei letzterer Möglichkeit ist für die Muskatnuss in ihrer Analogie zur Perle aus der Narratio die Bedeutung als Weisheit aufgerufen. Da die auktoriale Deutung offen lässt, wie viele Anknüpfungspunkte an die Bedeutungen der Muskatnuss und ihres argumentativen Gebrauchs an dieser Stelle mitzudenken sind, würde hier je nach Interpretation das Sinnpotenzial des Motivs ‚Muskatnuss‘ in ihrer Verwendung im Esopus anerkannt oder als eine Art ‚Sinnüberschuss‘ abgelehnt werden, der über das tertium comparationis in dieser Anwendung hinausreicht. Die darauffolgenden Verse in der Affabulatio von III 66, die zwar wie ein Sprichwort markiert sind, als solches aber nicht nachweisbar sind,824 veranschaulichen den Gegensatz von ‚klein und gut vs. groß und gewöhnlich bzw. schlecht‘ ebenfalls, jedoch in der umgekehrten Gedankenfigur, indem nicht das hervorgehoben wird, was vorzuziehen sei, sondern was – so der  



823 Zur Verwendung und zum Nachweis der Redensart siehe ebd., S. 42. 824 Esopus. Bd. 2, S. 221.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Hinweis auf den großen, aber faulen Gaul – abzulehnen sei. In der bisherigen Untersuchung ist noch nicht der Bezug der Affabulatio zur Fabelerzählung berücksichtigt worden. Hierbei wird aus der fiktiven Geschichte eine Wahrheit gezogen. Der Einzelfall der Fabelerzählung wird abstrahiert zu einer allgemeingültigen Aussage. Dies ist auch der Fall in der lateinischen Vorlage. Im Esopus sind die letzten beiden Verse nun zusätzlich rückbezüglich auf die Fabelerzählung. Der letzte der beiden Beispiele – der Verweis auf das schlimme, weil große und zugleich faule Pferd – ist ein tierischer Gegenentwurf zum äsopischen Löwenjungen, das zwar klein, aber eben ein Löwenjunges ist und daher herrschaftlich und edel. Schon an diesen sechs Versen zeigt sich, dass bei der Analyse längerer und komplexerer Affabulationes mehrere Ebenen zu beachten sind. Es muss unterschieden werden zwischen Inhalt und Form der einzelnen Bestandteile, ihrer Abfolge und argumentativen Verknüpfung. Sowohl die den Umfang erweiternde Bearbeitung eines Elementes wie auch die Aneinanderreihung mehrerer Elemente bewirken eine Ausdehnung der Affabulatio.825 Hierbei gilt, dass in einer Affabulatio mit mehreren Bestandteilen diese nicht alle Teil einer Deutung bzw. einer Argumentation sein müssen. Akkumuliert werden in den Affabulationes auch mehrere in sich geschlossene Deutungen mit je eigenständigem Sinnangebot. Die Erweiterung eines Elementes durch Kombination verschiedener zusätzlicher Bestandteile kann etwa für das Antikenzitat in der Affabulatio von IV 78 beobachtet werden. Waldis verarbeitet hier unter Berufung auf den Autor und seines Werks in den V. 83–132 mehrere längere Passagen aus den Tristia von Ovid. Waldis markiert sogar den Wechsel zwischen den zitierten Stellen in V. 107 f. Die Kombination verschiedener unmarkierter Einzelstellen erfolgt besonders häufig bei Bibelstellen, wie im Falle der V. 57–78 in der Affabulatio von II 50:  

Denn Gott hat gsetzt sein lieben Son Neben sich in den hhsten Thron/ Vber Himmel/ Erden/ Todt/ vnd Leben Alln Gttlichen gewalt gegeben/ Vnd auff der hhe des Bergs Thabor Befahl er/ das man jm gehr

825 Diese zwei Möglichkeiten gelten ebenso für die Narratio, die im Umfang wächst, weil einerseits Bestandteile ausgestaltet werden, die für die Erzählung verbindlich sind, so wird eine Fabelfigur mit Merkmalen, Attributen oder auch Details aus ihrer Biographie näher beschrieben. Andererseits werden fakultative Elemente eingearbeitet, die dann wiederum im Umfang variieren, wie Figurenrede, die eine Meinung vermitteln können, oder Informationen zur räumlichen und zeitlichen Situierung.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

383

Jn allen nten geben solt/ Drumb spricht auch Christus das er wolt Jn aller noth/ angst/ vnd elendt Bey vns sein biß an der Welt endt Das wlln wir jm als Christen glauben/ Vnd jm sein herrligkeit nicht rauben/ [...] Er ist der Felß wer auff jn bawt Vnd seinr Gttlichen hilff vertrawt Der ist erlßt auß aller noth Vnd sicher vorm ewigen Todt.

Es handelt sich hierbei um insgesamt fünf Bibelstellen, welche sich auf Eph 1,20 f. (V. 57–59), auf Mt 17,1–9 (V. 60 f.), auf Mt 17,5 (V. 62 f.), auf Mt 28,20 (V. 64–66) und auf Mt 7,24 sowie der dazugehörigen Marginalie Luthers in der Lutherbibel (V. 75–78) zurückführen lassen.826 Für das Sprichwort wurde die Akkumulierung durch Aneinanderreihung von einzelnen Beispielen oben bereits anhand der III 71 beschrieben. In IV 93 wird dieses Vorgehen ins Extrem getrieben. Es handelt sich hierbei nicht um Kettenbildung in Form von aneinandergereihten Sprichwörtern mit ähnlichem Inhalt oder ähnlichen Gedankenfiguren. Die Akkumulierung lässt sich in diesem Falle eher als ‚Auswalzen‘ eines Sprichworts umschreiben, bei der ein Kettenglied massiv erweitert wird. So beginnen die Verse mit einer für den Gebrauch von Sprichwörtern typischen Einleitung: „Drumb auch das alte sprichwort sagt“ (IV 93,44). Daran angefügt werden in den V. 45–205 in Form von nicht eigenständigen Satzteilen die verschiedensten Beispiele wie  





Ein grosser Schatz vnd vngefunden/ Ein alte Orgel vngepfiffen/ Ein Badstuben thr vnbegriffen/ Ein alter Schornsteyn one Ruß (IV 93,168–171).

Die Aussagen stammen aus den verschiedensten Lebensbereichen und stehen ungeordnet nebeneinander. All die unterschiedlichen Beispiele werden mit dem Halbsatz „Jst als wider Natrlich art“ (IV 93,206) gegen Ende der Affabulatio zusammengeführt. Die Erweiterung oder Auswalzung eines Elementes kann aufgrund der thematischen oder argumentativen Ausweitung oder Repetition zur Intensitätssteigerung führen, die formalen Merkmale der Aussage bleiben aber einheitlich, da nur eine Sorte Element wie Sprichwort, Lehrsatz, Erfahrung etc. ausgeweitet wird. So

826 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 152.

384

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

wird mit der Akkumulierung der Sprichwörter in IV 93 das, was alles widernatürlich ist, ausgeweitet und ausdifferenziert, die Merkmale sind aber immer die des Sprichworts. In diesem Fall eint alle Aussagen, dass es sich um konsensfähiges Erfahrungs- und Orientierungswissen handelt, welches im alltäglichen, mündlichen Gebrauch kursiert. Das Attribut alt betont, dass es sich um althergebrachtes Wissen handelt. In der Akkumulierung durch Aneinanderreihung verschiedenartiger Elemente ist dies nicht der Fall. Mag die Elemente eine thematische Ähnlichkeit einen, so kann das konsensfähige Erfahrungs- und Orientierungswissen der alltäglichen Rede im Sprichwort neben dem Gelehrtenwissen in Form des Zitats althergebrachter Schriften der Antike, dem Bibelwissen oder auch der Meinung des Sprecher-Ichs stehen. In II 11 führt ein solches Verfahren zu einer Affabulatio im Umfang von 54 Versen. Anlass ist die Behandlung der Zunge. In der Fabelerzählung trifft ein Satyr in einem kalten Winter auf einen Menschen und lädt ihn zu sich nach Hause ein. In der Wohnung pustet der junge Mann auf seine Hände, um diese aufzuwärmen. Diese Geste muss er dem Satyrn erklären. Als dieser anschließend ein heißes Mus serviert, will der Gast dieses abkühlen und pustet auf den Brei. Als er dieses Verhalten ebenfalls dem Satyrn erklärt, erzürnt dieser und wirft ihn aus seiner Höhle: Jch mag zwar kein gemeinschafft haben/ Mit Leuten die zu einer stundt Kalt/ warm blasen/ auß einem mundt (II 11,61–63).

Die relationalen Eigenschaften der Zunge – sie kann sich in Bezug zum Gegenstand anpassen – werden hier nicht als positive Eigenschaften verstanden, die sich komplementär ergänzen, sondern als sich ausschließende Verhaltensweisen, deren gemeinsames Auftreten auf einen zwiespältigen Charakter schließen lassen. Die Affabulatio der Fabel ist gegenüber dem kurzen Lehrsatz der Dorpiusfabel, die als Vorlage nachweisbar ist, stark erweitert. Das Verständnis der Redensart ‚kalt und warm aus einem Mund blasen‘ im Sinne von ‚bald so, bald so reden‘827 wird zum Thema des Lehrsatzes, der die Affabulatio eröffnet. Aber worauf genau bezieht sich dieser? Die Fabel lert/ das wir vns hten Fr der falschen zungen wten Jm mundt nicht zwifach Zungen tragen Die ja/ vnd neyn zu gleich sagen (II 11,65–68).

827 Zur Redensartlichkeit dieser Phrase siehe Esopus. Bd. 2, S. 122.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

385

Was mit dem ‚Wüten der Zunge‘ gemeint ist, wird nicht näher genannt. Handelt es sich um das wörtliche „von sinnen, in leidenschaftlicher erregung sein“.828 Wenn ja, bezieht sich dies auf die Wirkung von Worten, also Wüten, das beim Zuhörer hervorgerufen wird oder auf die Sprachmacht eines sprachgewandten Redners? Oder soll der Leser der Fabel über die Phrase in V. 68 die Verbindung zu Mt 5,33 „Ewer rede aber sey Ja/ ja/ Nein/ nein/ Was drüber ist/ das ist vom vbel“ herstellen? Diese Wendung kann ihrem redensartlichen Gebrauch folgend verstanden werden im Sinne von ‚man soll zu seinem Wort stehen‘ und nicht die Aussage ändern. In Mt 5,33–37 ist die Phrase auf einen bestimmten Kontext festgelegt. Sie ist darauf bezogen, dass man nicht schwören soll. In einer Marginalie von Luther wird dies erläutert und relativierend weitergedacht: (Schweren) Alles schweren vnd eiden ist hie verboten/ das der Mensch von jm selber thut. Wens aber die liebe/ gebot/ not/ nutz des Nehesten oder Gottes ehre foddert/ ist es wolgethan. Gleich wie auch der zorn verboten ist/ vnd doch löblich/ wenn er aus liebe vnd zu Gottes ehre erfoddert wird.

In der Affabulatio folgt auf diese unmarkierte Anspielung auf eine Textstelle im Neuen Testament die Aussage einer Autorität aus dem Alten Testament. Auf die Macht der zwiespältigen Zunge wird unter Berufung auf einen Spruch Salomons (Prov 18,21) eingegangen: Denn des Menschen sterben vnd leben Kan die Zunge nemen vnd geben/ Wie Salomon vns des bericht (II 11,69–71).

Der Verweis auf die Augenscheinlichkeit dieses Zustands („Vnd mans in allen sachen sicht“ [II 11,72]) bildet eine Überleitung dazu, dass nicht nur das Leben, sondern auch das Seelenheil davon abhänge, ob man zu rechter Zeit schweigen könne: Wer seinen Mundt zur zeit kan sparen Der thut damit sein Seel bewaren/ Wer vnzeitig herauß her fehrt Sich selb an Leib vnd Seel beschwert (II 11,73–76).

Argumentativ gestützt werden diese Aussagen in den V. 78–106, indem wiedergegeben wird, was „Freydanck in seinem alten gedicht“ (II 11,77) von der Bösartig-

828 Art. zu wüten in DWB. Bd. 30, Sp. 2492.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

keit der Zunge berichtet.829 Über die Auswahl der Verse werden Bezüge auf Autoritäten aus der Vorlage in die Waldisfabel übernommen, wie „Sanct Jacob“ (II 80) und „Dauid in der Schrifft“ (II 80,104). Neben verschiedenen negativen Auswirkungen im Alltag: Sie reitzet manchen Mann zu zorn Dadurch wirdt Leib vnd Seel verlorn/ Die Zunge trewe scheidet/ Das lieb dem lieben leydet/ Des gleichen han die bsen Zungen Die frommen leut gar offt verdrungen/ All boßheit von der Zungen fehrt/ Das man gar manchen meineyd schwert (II 80,85–92),

wird sogar die Kreuzigung Christi mit der bösartigen Zunge in Verbindung gebracht: „Von neides Zungen das ergieng | Das Christus an dem Creutze hieng“ (II 80,101 f.). Darauffolgend wird unter Berufung auf die Worte Christi nochmal das korrekte Verhalten aufgezeigt:  

Der Herr Christus thut selber kundt Wie wir solln zemen vnsern munt/ Jn vnser red bestendig sein/ Das ja sey ja/ vnd nein sey nein (II 80,107–110).

V. 110 steht in direktem Bezug zur Aussage des Sprecher-Ichs am Anfang, die vor der Zunge warnte, die zugleich ja und nein sagt. Die Rede Christi ist in sich wiederum eine Aneinanderreihung von verschiedenen Bibelstellen. Auf die Wiedergabe von Mt 5,37 in V. 110 folgt in den V. 111–118 Mt 7,12 und Röm 13,8. Die Akkumulierung der gesamten Affabulatio lässt sich in diesem Fall als eine Art assoziativ versammelnde Aneinanderreihung beschreiben. Gleichberechtigt stehen verschiedene Elemente nebeneinander, die aus verschiedenen Quellen Erkenntnisse und Lehren zum Thema der zwiespältigen Zunge bieten. Dies ist nicht die einzige Form argumentativer Abfolge, die sich in den Affabulationes im Esopus beobachten lässt. Berücksichtigt man die Positionen der Elemente (Anfang, Mitte, Ende) und ihre Relation zueinander, lassen sich Akkumulationen beschreiben, in denen verschiedene Elemente nicht einfach aneinandergereiht werden, sondern sich argumentativ oder thematisch entfalten. Die akkumulierten Bestandteile können hierbei gegensätzlich, komplementär

829 Mit geringen Abweichungen wird hierbei aus Agricolas Sprichwörtersammlungen zitiert, siehe Esopus. Bd. 2, S. 122.

4.4 Verfahren in der Affabulatio

387

oder repetitiv sein. Die Argumentation kann steigernd, intensivierend oder sich in verschiedene Bereiche ausbreitend erfolgen, wie etwa in I 90. Es handelt sich um die in Mittelalter und Früher Neuzeit weit verbreitete Fabel vom Esel in der Löwenhaut. Ein alter Esel entwischt dem Müller und findet im Wald eine Löwenhaut, in die er hineinschlüpft. In dieser Verkleidung erschreckt er, während er ins Feld läuft, Tiere und Menschen. Der Müller, welcher der Sache auf den Grund gehen möchte, erkennt den Esel an seinen Ohren, die aus dem Löwenfell herausragen, und an der Eselsstimme. Er fängt ihn ein, prügelt ihn zur Strafe und bringt ihn an seinen früheren Platz im Stall zurück. Die Affabulatio beginnt mit Bezug auf den Esel mit einem Aufruf zur Selbstreflexion: „Der grobe Esel solt vns leren | Das wir selb sehen/ wer wir weren“ (I 90,51 f.). Es folgt die Veranschaulichung anhand eines alltäglichen Negativbeispiels:  

Denn mancher jetzt hoch einher fehrt Thut sich herfr/ als sey er glert/ Sagt/ wie er knn Griechisch/ Ebreisch/ Latin/ Arabisch/ vnd Caldeisch/ Schwatzt viel daruon beim gmeynen man Der siht jn vor ein Doctor an/ Wenn er aber bey Glerte kompt Mit seinen sprachen gar verstumpt (I 90,53–60).830

Damit ist einerseits das Thema von Schein und Sein veranschaulicht, andererseits ist dieses Beispiel über Motivähnlichkeit mit der Fabelerzählung verknüpft. So wie der Esel an seinem als unangenehm empfundenen Brüllen als Esel erkannt und die Maskierung dadurch beendet wird, so erkennt die Gelehrtenrunde den Unkundigen und bringt ihn zum Verstummen. Das Thema von Schein und Sein wird in diesem Beispiel anhand der Unterscheidung von gelehrt und ungelehrt veranschaulicht. Die hier als Bildung aufgezeigte Gelehrsamkeit entspricht dem humanistischen Bildungsideal, in welchem, der Maxime ad fontes verpflichtet, eine Vielzahl an Fremdsprachenkenntnissen für das Verständnis fremdsprachiger Texte im Original erstrebenswert ist. In den nächsten Versen wird das Thema von Schein und Sein zur Gegenwartskritik genutzt. Wiederum geht es um die Differenz von gelehrt und ungelehrt. Kritisiert werden in den V. 63–80 die Prediger von Irrlehren, die „das vnglert Volck verfhren“ (I 90,66). Im Vergleich mit der Bibel erweist sich aber, dass deren „Ler“ (I 90,67) „vom Teuffel sein entsprossen | Vnd durch ein Esels kopff geflossen“ (I 90,69 f.). Damit ist aber ein anderes Bildungsideal angesprochen, das sich an der Kenntnis der Bibeltexte orientiert und mit der  

830 Das Nichtwissen wird mit zwei redensartlichen Wendungen zusätzlich ausgemalt: „Von Knsten hat ein lere Taschen | Kan nicht zur sach ein Lffel waschen“ (I 90,61 f.).  

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

reformatorischen Maxime sola scriptura gleichgesetzt werden kann. Wiederum greift die Metaphorik der Kritik Bestandteile der Fabelerzählung auf. So sind die Falschprediger wie auch der Esel in der Narratio an den „Esels Ohren“ (I 90,71) zu erkennen. Aufgrund dieser Situation sei es notwendig, das der Mller kum Vnd treib ein solchen gESELLen vmb Zum Gersten stroh/ das er nicht mehr Die leut verfr mit seiner ler (I 90,77).831

Einmalig in der Sammlung wird hier die Typographie zur Veranschaulichung der Lehre genutzt. Durch die Hervorhebung der Buchstabenfolge ‚esell‘ im Wort ‚Geselle‘ ist hervorgehoben, dass sich in jedem derartigen Gesellen ein Esel verbirgt, den es zu entdecken gilt. Ohne Überleitung, aber assoziativ verknüpft, werden als Rat die Worte Christi in Mt 7,15 f. wiedergegeben:  

Ht euch (sagt Christus) seht euch wol fr Wenn sie euch komen fr die thr/ Wie Schaf mit euch reden beginnen So zeigt die frucht den wolff von innen (I 90,81–84).

Diese Bibelstelle erweitert einerseits das bisher Behandelte um die Autorität der Bibel, vereint andererseits erneut die Metaphorik vom Tier in der Haut eines anderen mit dem Thema von Schein und Sein in Verbindung mit Beredsamkeit. Der seit langem im Schriftlichen überlieferte Rat aus der Predigt Jesu ist aktualisiert und direkt auf die zuvor geschilderten Zustände in der Gegenwart anwendbar. Zum Abschluss der Affabulatio wird das Thema von Schein und Sein mit den Beispielen, dass manche den Adelstand oder die Kenntnis mehrerer Wundertätigkeiten vortäuschen, in Hinblick auf weltliche Gebiete behandelt. Die abschließende Deutung der Fabelerzählung ist in sich eigenständig, bietet ein neues Sinnangebot und hat in einer anderen Situation Geltung als die vorherige Deutung.832

831 Offen gelassen ist, ob mit dem Müller eine nicht näher genannte Instanz gemeint ist, ob sich etwa der Leser als Müller betätigen soll, oder ob damit auf zeitgenössische Autoritäten angespielt wird wie Luther. Eine solche Auslegung der Fabel vom Esel in der Löwenhaut schreibt Erasmus Alberus in seiner 33. Fabel Vom Bapstesel in den V. 109–116 fest: „Der Man ist warlich ehren werdt | (Wiewohl er nicht der ehrn begert) | Der vns vom Esel hat erlost/ | Vnd angezeigt den rechten trost/ | Den frommen Heylandt Jhesu Christ/ | der aller menschen Heylandt ist/ | Martinus Luther ist der Man | Der solchen dienst vns hat gethan“ (Alberus: Fabeln, S. 155). 832 „Also auch in Weltlichen sachen | Thut sich mancher herfr machen | Rhmt seinen Adel/ vnd hohen standt | Damit sich machen will bekandt | Er sey von hohen/ grossen leuten | Hab viel gethan in sturm vnd streiten | Jn frembden Landen viel gesehen | Was wunders hie vnd dort geschehen/ | Knn bawen/ hawen/ schnitzen/ giessen/ | Knn Bchssen leuten/ Glocken schies-

4.4 Verfahren in der Affabulatio

389

Bei der Untersuchung der Affabulationes im Esopus ist bei der Analyse der einzelnen Bestandteile und ihrer Abfolge die Logik der Argumentation näher zu untersuchen. Damit ist gemeint, ob es sich bei den einzelnen Bestandteilen um solche handelt, die das Besondere behandeln – sei es in Form eines Einzelfalles, eines Beispiels, eines Exempels, einer Erfahrung des Sprecher-Ichs oder etwa einem veranschaulichendem Sprichwort – oder um solche, die Allgemeines zur Sprache bringen – sei es in einem Lehrsatz, einer Bibelstelle, einem Antikenzitat u.ä. Die Akkumulierung von Elementen führt in Hinblick darauf zu verschiedenen Argumentationsbewegungen. In den Affabulationes, die dem traditionellen Fabelaufbau entsprechen, entsteht eine erste Relation zwischen Fabelerzählung und Affabulatio. So folgt im Normalfall auf den Einzelfall der Fabelerzählung im Lehrsatz der Fabel eine allgemeine Aussage. Auf die Variationsmöglichkeiten, die für diesen Bezug in den esopischen Fabeln versammelt sind, wird im nächsten Abschnitt zur ‚Partikularisierung‘ eingegangen werden. In der Akkumulierung vermehren sich nun durch die Häufung an Elementen auch die Anzahl von Einzelfällen und allgemeinen Aussagen sowie deren Relationen zueinander. Das Argumentationsverhältnis von Besonderem und Allgemeinem tritt in vier Varianten auf – vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Besonderen zum Besonderen, vom Allgemeinen zum Allgemeinen. Diese Varianten werden in der Affabulatio beliebig kombiniert. Die Argumentationsbewegung vom Besonderen ins Allgemeine zeigt sich etwa in der Affabulatio von IV 75 in den V. 124–144. In V. 124–138 wird der Ausspruch des griechischen Philosophen Karneades von Kyrene wiedergegeben, wonach die einzige Kunst, welche Adlige wirklich beherrschen würden, das Reiten sei. Grund sei, dass Pferde weder heucheln noch schmeicheln würden, Vnd macht kein vnderscheydt der Leut Drumb will der Frst ders selbig rheit Nit auff das maul geworffen wern So muß er fleissig rheiten lern (IV 75,133–136).

Von diesem anschaulichen Beispiel wird auf den allgemeinen Zustand der Welt eingegangen, in welcher nur Heuchler beliebt seien:

sen/ | Vnd was sonst in der Welt vmb fehrt | Das hab er alles auß gelert/ | Vnd brengt ein sollicher Bub mit listen | Gar offt viel pfennig von den Christen | Wenn er den solchs hat außgericht/ | Zu letst kompt einer der thut bericht/ | Deckt auff sein sach/ vnd macht sie bar | Das man den btrug mag sehen klar | Vnd zeuht jm ab den Lwen balck | Findt sich ein Esel vnd grosser schalck“ (I 90,85–104).

390

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Wie man nun sicht/ gemeinlich sichs helt So fleißt sich heuchlens alle Welt Von nimpt vntrew in allem Landt Jetzt so gar hefftig vberhandt/ Das/ wer sich der weyß nit zu nieten Der ist bey niemandt wol gelitten (IV 75,139–144).

Vom Allgemeinen ins Besondere wird etwa gegangen, wenn nach der Abstraktion eines Einzelfalles im Lehrsatz ein weiterer Einzelfall z. B. in Form eines Exempels oder einer Erzählung folgt. In der Fabel III 51, die oben schon als Beispiel für die Narrativierung der Affabulatio durch eine Exempelgeschichte herangezogen wurde, lässt sich beobachten, wie der am Anfang der Affabulatio stehende Lehrsatz wie ein Scharnier zwischen dem Einzelfall der Fabelerzählung und dem erzählten Einzelfall in der Affabulatio dient. Die Fabelerzählung handelt von einem kranken Mann, der Jupiter durch ein nur mit List einlösbares Gelübde dazu bringt, ihn wieder gesund zu machen. Er stirbt durch die Rache des Gottes schließlich doch noch. Zu Beginn der Affabulatio folgt die Abstraktion: „Jn nten offt die Leut geloben | Das sie doch nit zu geben haben“ (III 51,33 f.). Nach diesem allgemeinen Satz geht es wiederum in die Darstellung des Besonderen, indem in der Exempelgeschichte vom „Holender auff dem Meer“ (III 51,35) ein zwar ähnlicher, aber dennoch einmaliger Vorfall geschildert wird. Vom Besonderen zum Besonderen führen etwa Ketten von Redensarten und Sprichwörtern wie in I 1,37–44:  



Das Heilthumb ist nicht fr die Hundt/ Perlen seindt Schweinen vngesundt/ Der Muscat wirdt die Khu nicht fro Jr schmeckt viel baß grob Haberstro/ Ein Alter sich zum Alten findt Auch mit einander spieln die Kindt/ Ein Weib geht zu der andern Frawen Ein Krancker will den andern bschawen.

Hierbei ist zu fragen, inwiefern die verschiedenen Einzelfälle innerhalb einer Affabulatio zusammenhängen: Bestätigen sie einander, ergänzen sie sich, reiben sie sich oder handelt es sich um Gegensätze? Mehrfach lässt sich die Aneinanderreihung vom Allgemeinen zum Allgemeinen in der Affabulatio von IV 80 beobachten. In der Narratio wird von einem Bettler erzählt, der unter einem Baum liegt und sich ausmalt, was alles geschähe, wenn er in dem Wald ein Reh fangen könnte. Dies würde nach einer Reihe unternehmerischer Tätigkeiten dazu führen, dass er sich „in einem Dorff | Jn Dringen/ heißt obern Orf“ (IV 80,78 f.) niederlassen könnte und „Gsind halten/ die den Acker pflgen“ (IV 80,86). Vom Fenster aus würde er seine Kälber mit dem Schrei „zehe/ zehe | Herab das euch vnglck  

4.4 Verfahren in der Affabulatio

391

bestehe“ (IV 80,93 f.) scheuchen. Angeregt von der Vorstelllung, ruft er unbedacht so laut, dass er alles Wild im Umkreis verscheucht und sein Vorhaben damit zunichte macht. Die Affabulatio beginnt mit der allgemeinen Aussage, dass Gedanken in der Schöpfung Gottes zollfrei sind (V.100 f.). Wären Gedanken zu verzollen, „Wißt nit/ wo mans zuletsten wolt | Zusamen bringen so viel Gelt“ (IV 80,102 f.). An diese allgemeine Aussage wird eine weitere allgemeingültige Aussage über die Unzufriedenheit, die ein Herz voller Gedanken auslöst:  





So voll gedancken ist das hertz Jst nit zfrieden/ denckt jmmer frwertz Sich der wol hundert vndersteht Der doch wol nit eins vor sich geht (IV 80,105–108).

Wiederum verallgemeinert wird nun das Verhalten des Bettlers in der Narratio dargestellt als Verhalten von Menschen, die nachts im Bett liegen und vor lauter Gedanken und Pläne, die sie doch nicht ausführen, nicht zur Ruhe kommen (V. 109–118).833 Aufgrund der Akkumulierung von Elementen in der Affabulatio ändert sich gegenüber den Fabeln, deren Affabulatio aus einem Lehrsatz besteht, auch die inhaltliche Struktur der Affabulatio. Nicht mehr ein knapp formuliertes Sinnangebot der Fabelerzählung wird dem Leser präsentiert, sondern ein Sinnangebot kann ‚aufschwellen‘, indem etwa verschiedene, ähnliche Sprichwörter aneinandergereiht werden. Die mit den Elementen einhergehenden Kontexte, Sprachbilder und leicht variierenden Inhalte führen das Sinnangebot inhaltlich weiter oder ermöglichen es, dass neue Akzente gesetzt, teils auch neue Themen eröffnet werden. Diese mit der Kombination mehrerer Elemente einhergehenden Strukturen, im Sinne von ‚Sinngefüge‘, die für die Leserlenkung von Bedeutung sind, lassen sich unterscheiden in ‚Ketten‘ und ‚Netze‘. So werden verschiedene Bestandteile zu einem Thema zusammengefügt. Diese veranschaulichen kettenartig ein Thema in verschiedenen Aspekten oder bieten Betrachtungen eines Themas aus verschiedenen Perspektiven. Dies ist schon der Fall bei kurzen Affabulationes, wie in II 95, die das Thema der Vorsicht in Friedenszeiten in drei Lehrsätzen variiert: Zum vnfall rst dich in dem sieg Jm fried betracht knfftigen Krieg

833 „Manchen des nachts auff seinem lager | Machen gedancken md vnd mager | Das er dafr nicht ruhen kan | Nimpt sich vnmuter sorgen an | Jn seim hertzen ein kram auffbawt | Den er mit gdancken fein anschawt | Vnd wol auff Tausent glden schatzt | Damit er sich nur selber fatzt | Des morgens wenn ern soll bewegen | Hat nit ein Pfennwert auß zu legen“ (IV 80,109–118).

392

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Der ist ein kluger weiser Mann Der in die zeit sich schicken kann (II 95,23–26).

Häufig werden auch verschiedene Elemente wie eine Kette aneinandergereiht wie in IV 16. In der Fabelerzählung erfährt ein alter Landsknecht, der sich schon viel zu Schulden hat kommen lassen, in der Hochzeitsnacht von seiner weinenden Frau, dass sie keine Jungfrau mehr ist. Unter Betrachtung seiner eigenen Verfehlungen nimmt er das Mädchen trotzdem zur Frau. Die Narratio wird vom Landsknecht mit einem Beispiel beschlossen: Eim Metzger ists wol ehe geschehen Der teglich mit dem Viehe vmbgeht Sich auff allerley fleisch versteht Dennoch dem gleich betrogen ist/ So kum doch her wie du denn bist (IV 16,40–44).

In der Affabulatio wird das Thema in einer kettenartigen Aneinanderreihung verschiedenster Redensarten und Sprichwörter variiert: Wer sich mit frembden kleidern deckt Sein Brodt ins Nachbawrn Ofen beckt/ Steckt sein Messer in frembde Scheyden/ Leßt seine Schaf ein andern weyden/ Steckt seine Pfeil in frembden Kcher/ Vnd bort in frembde Bretter lcher/ Vnd graßt in seines Nachbawrn Wiesen Der muß an gleicher Mntz verliesen (IV 16,45–52).

Diese Kette wird abgeschlossen durch ein analoges Exempel, welches, wie die Narratio, mit der Einsicht des betrogenen Ehemannes endet, er hätte früher nicht anders gehandelt: Wie jenem alten Mann geschahe Der teglich jung Gesellen sahe Zu jm vnd seiner Frawen kommen Die er erst newlich het genomen/ Vnd kundts nit keren/ sprach zuletst/ So/ lieben Gsellen thut das best/ Was ich nit kan/ ein ander bstell Da ich auch war ein junger Gsell Pflag bey ewrn Vttern so zuthan/ Vor das muß ich auch diß nun han (IV 16,53–62).

4.4 Verfahren in der Affabulatio

393

Netzstrukturen entstehen, indem die akkumulierten Bestandteile weitere Aspekte in die Kette einbringen, die in der Affabulatio eine andere Argumentation oder ein weiteres Themengebiet einbringen. Dies geschieht allein schon durch die Variation des Themas, wenn ein Bestandteil sich zwar thematisch in die Reihe fügt, hierbei aber zugleich andere Aspekte einbringt, wie etwa in II 100. Die Fabelerzählung handelt von einem alten, unkeuschen Mann, dessen frommer Freund versucht, ihn von seinem Laster abzubringen. Aufgrund seiner Unkeuschheit ist er an der Schwindsucht erkrankt. Weil er daher unter Impotenz leidet, schwört er endlich dem Laster ab. In der Affabulatio ist dies verallgemeinert zu der Aussage, dass niemand in der Welt von seinen Sünden ablasse, bis er sterbe. Nicht Tugend, sondern das Gesetz – „Galg vnd Schwerdt“ (II 100,38) – verhindere, dass „jeder mcht seins willens walten“ (II 100,39). Als Beispiel führt das Sprecher-Ich eine Unterhaltung auf, die es selbst auf einer Reise gehört habe. Die Erwiderung eines Mannes, dem vorgeworfen wird, ein Wucherer zu sein, eint mit der bisherigen Affabulatio das Thema, dass Tugend und Frömmigkeit lasterhaftes Verhalten nicht verhindere. Dies wird aber an dem neuen ökonomischen Aspekt, beim Verleihen von Geld einen unverhältnismäßig hohen Gewinn erzielen zu wollen, konkretisiert: Denn ich gehrt hab auff ein fart Ein alter Mann gescholten wardt/ Fr einen Wuchrer/ sprach der alt Vnd antwort dem/ der jn da schalt/ Mit Wucher thut sichs gut vermehrn Weyß wol du Wuchertst selber gern Vnd fehlt dir zwar nicht an dem mut Sondern es fehlt dir an dem Gut/ Das du nit hast die haubt Summen/ Drumb kanst nit auch zu Wuchern kummen/ Man sagt es sein nicht alle Buben Die gelts begern/ vnd gelts behuben/ Sunst wrd man manchen frummen gsellen Offt fr ein grossen Buben zelen (II 100,43–56).

Netze bilden sich auch, wenn ein Element sich nicht vollständig einem Thema unterordnet, sondern Aspekte etwa aus anderen Quellen der Erkenntnis oder Lehre einbringt. Dies kann die zeitgenössische Erfahrung vs. der Lehrsatz der äsopischen Fabel, die Bibelstelle gegenüber dem Antikenzitat u. a. sein. In der Affabulatio von I 7 sorgt im Rahmen eines Vergangenheitsbezuges der Gegensatz von heidnischen und christlichen Normen zur Vernetzung eines Themas. Undankbarkeit wird einleitend durch den Verweis auf die Zustände in der Welt als allgegenwärtig dargestellt. Im Folgenden werden zwei Optionen im Umgang mit Undankbarkeit geschildert. Zuerst die Strafe durch das Schwert, wie es die „Hei 

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

den“ (I 7,29) früher taten, und dann im Gegensatz dazu, anhand der Lehren Christi, christliche Normen. Die Gewichtung ist klar, die heidnische Option wird abgewiesen. Netze entstehen in der einzelnen Affabulatio ebenfalls, wenn eine Fabelerzählung mehrfach ausgelegt wird und die Bestandteile sich zwar auf die gleiche Narratio beziehen, hierbei aber verschiedene Aspekte beleuchten wie in II 86 Wie ein Fraw fr jhren Mann sterben wolt. In der Fabelerzählung klopft der Tod an die Tür und möchte eine junge Frau, wie ihre Klagen es einforderten, statt des sterbenskranken Ehemannes mitnehmen. Sie erschrickt und möchte sich nicht an ihre Worte halten: „Du hast den rechten hie nicht funden | Nim die Krancken/ gib frist den gsunden“ (II 86,25 f.). In der Affabulatio wird zuerst über den Wert des Lebens gesprochen, welcher von vielen nur gering geschätzt werde. Um den Tod zu vermeiden, soll man alles ertragen, was notwendig sei. Als nächstes wird ein Bezug zur Klage der Frau hergestellt und damit zur Untreue von Frauen übergeleitet, die im Bild von der unsicheren Brücke, die aus ihren Klagen geknüpft würden, veranschaulicht wird.834 Abgeschlossen wird die Affabulatio, indem, zwar verknüpft mit der Fabelerzählung, aber eigenständig, festgestellt wird, dass ein jeder sich selbst mehr liebe als seinen Nächsten: „Niemandt liebt wie sein eygen leib | Seinen nehsten/ dabey es bleib“ (II 86,41 f.). Netze, die über die einzelne Fabel hinausgehen, entstehen, wenn Bestandteile Verbindungen zu anderen Fabeln herstellen können, sei es durch Wiederholung, indem ein Sprichwort u. a. mehrfach verwendet wird, oder indem eine Art ‚Sinnüberschuss‘ eines einzelnen Elementes oder in der Verbindung zu einem anderen, der über das tertium comparationis in der Verbindung hinaus, vorhanden ist. In der Affabulatio von III 97 wird das Bild vom Krebsgang genannt, dem die Vorstellung zugrunde liegt, der Krebs laufe rückwärts:835  





Die Fabel vns diß stck bedeut/ Was tolle/ vnuerstendig leut Mit jren Kindischen anschlegen/ Anheben/ brengen nichts zu wegen/ Weils im anfang nicht wol bedacht Wardts nit zu gutem ende bracht/ Man sagt/ ein vnweißlich anfang Gewint gemeynlich den Krebsgang (III 97,75–82).

834 „So man die klag/ welch sie so treiben | Wolt fassen/ vnd gar fleissig schreiben/ | Fest knpffen/ vnd zusamen stcken | Vnd denn drauß machen eine Brcken/ | Vbers Wasser fest zu bestehn | Wolt ich zwar nicht gern drber gehn“ (II 86,35–40). 835 Vgl. Esopus. Bd. 2, S. 243.

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4.4 Verfahren in der Affabulatio

Das Motiv des Krebsganges aus der als Sprichwort markierten Stelle kann sowohl rückbezüglich in Verbindung zur Fabel I 88 oder in Bezug zur Fabel IV 97 Vom Hecht/ vnd Krebs gelesen werden. Je nachdem ändert sich auch die Wertung des Krebsganges. In I 88 will der alte Krebs dem Sohn törichterweise einen anderen Gang lehren. Der Sohn bittet ihn, dies erstmal selbst vorzuführen: Der Son sprach/ Vatter/ wenn ich sehe Wie dir das lauffen selb anstndt Dest besser ichs denn lernen kndt (I 88,6–8).

In der Affabulatio wird dies zum Rat verallgemeinert: „Es soll niemandt straffen den andern | Vnd das darin er selb thut wandern“ (I 88,9 f.). In der Fabel IV 97 wird der Krebsgang durch die Verteidigung des Krebses sogar positiv bewertet. Hecht und Krebs treffen aufeinander, weil ein Fischer beide gefangen und an Land geworfen hatte. Der Hecht verhöhnt den Krebs für seinen Gang: „Der Krebs kroch/ wie sie gmeyniglich | Zu kriechen pflegen/ hindersich“ (IV 79,7 f.). Der Krebs aber setzt dem sinnlosen Auf und Abspringen des Hechtes sein langsames Kriechen in Richtung Wasser entgegen:  



Drumb wenn ichs gleich mit dir versuch Sprng auff ind Lufft/ oder vor mich kruch/ So wurd mir doch/ wie dir/ nit baß Wurd mit dir in der Pfannen naß (IV 79,31–34).

In der Affabulatio wird dies verallgemeinert zum Gegensatz vom spöttischen Stolzen und dem Geringen, die beide in den gleichen Nöten stecken. Der Spötter wird, wenn der Geringe einen Ausweg aus der Not gefunden hat, einsehen, dass er ihm besser gefolgt wäre. Während eine solche Vernetzung nur für den aufmerksamen Leser sichtbar ist, wird dieses Verfahren durch intratextuelle Verweise, wie es oben beschrieben wurde, geradezu ausgestellt. In IV 81 wird nach der Schilderung einer Ehebruchsgeschichte ausführlich auf „bse[] Weiben“ (IV 81,143) eingegangen. Statt einen Bezug zur Fabelerzählung herzustellen, wird das Thema umfassend in einer Art eigenständigen Abhandlung behandelt. Auch dieses Vorgehen ist nicht singulär, so hält Mohr fest: „Gelegentlich emanzipiert sich das Fabulieren von dem Fabelstoff wie auch von einer lehrhaften Funktionalisierung (etwa 3,94; 4,91; 4,93)“.836 In IV 81 wird, beginnend mit dem Hinweis auf das schriftlich überlieferte Wissen, das von den „Heyden“ (IV 81,144) bekannt sei, das Thema netzartig mit in der Vergangenheit

836 Mohr: Waldis, Sp. 452.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

liegenden sowie gegenwärtigen Beispielen in verschiedenen Medien verknüpft. Es sei „Mit diesem Jar nit worden new“ (IV 81,146), wovon „wir von vieln in Bchern lesen“ (IV 81,148) könnten. Der von Eva verursachte Sündenfall (IV 81,149–152), die Exempelfiguren Samson (IV 81,153–160) und Salomon (V. 161–166), von denen „die alten“ (IV 81,167) berichten, an welche aber „der Puel dencket selten“ (IV 81,168), steht gleichberechtigt neben den gegenwärtigen Zuständen: „Man sehe die Welt jetzunder an“ (IV 81,169). Von der betrügerischen Frau zeugen sowohl die Welt selbst (IV 81,169–174) als auch die Abbildung der Welt in einem angeblichen „gmld“ (IV 81,175) vom mageren Mann, der nur Männer frisst, die sich nicht vor Frauen fürchten (IV 81,175–189), und im noch immer gesungenen „alte[n] Liedt“ (IV 81,190) vom Schäfer, der einem Mann, der es wagen würde, seiner Frau zu widerstreben, sein Pferd geben würde, aber keinen Abnehmer findet (IV 81, 190–196). Die alleinige Geltung der aus der (äsopischen) Fabel gezogenen Lehre wird aufgegeben zugunsten verschiedener Deutungsverfahren. Die Akkumulierung hat neben dem rein quantitativen Aufschwellen der Affabulatio Folgen für den Rezeptionsprozess der Fabel. Es kommt zu einem Verlust von Prägnanz und Merkfähigkeit. Indem die Affabulatio deutlich komplexer als ein einfacher Lehrsatz ist, rückt nicht nur die Deutung, sondern auch das Deuten in den Fokus. Anders als in der mündlichen Lehrsituation, in welcher kurze, prägnante Sentenzen von Vorteil sind, die eingängig und einprägsam sind, begegnet im Esopus einem Leser ein vielfältiges Angebot, wie eine Fabelerzählung verallgemeinert, übertragen oder gedeutet werden kann. Es wird zugleich vorgeführt, dass nicht nur der in der Fabelerzählung geschilderte Einzelfall eine Quelle für Erkenntnisgewinn und Lehre liefert.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt Wie die Untersuchung der Elemente und Verfahren verdeutlicht hat, unterscheiden sich die vielgestaltigen Affabulationes im Esopus mitunter stark von den Lehren traditioneller äsopischer Fabeln. Die Anbindung an die Gattungstradition zeigt aber, dass trotz der Spezifika seiner Fabeln auch für Waldis eine traditionelle Funktion der äsopischen Fabel eine gewünschte Wirkungsabsicht der Fabel gewesen ist: Die Möglichkeit, Aussagen über die Welt zu treffen und Anweisungen für den Umgang mit dieser Welt zu geben – Punkte die unter dem Stichwort der Lehre versammelt werden könnten. Mehrere Besonderheiten im Erzählen und Deuten seiner Fabeln bewirken jedoch, dass seine Fabeln nicht mehr einfach äsopisch und somit einsinnig lehrhaft sind, sondern sich durch unabgestimmte Vielfalt und Komplexität auf mehreren Ebenen auszeichnen. Diese zeigt sich in den diversen Fabelerzählungen und den damit einhergehenden unterscheidbaren Methoden

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

397

der Sinnproduktion sowie der Gestaltung der Affabulationes mithilfe unterschiedlicher Quellen der Erkenntnis und Lehre und verschiedenartiger Verfahren. Wiederholt lässt sich die Gestaltung des Esopus unter dem Stichwort ‚unabgestimmte Vielfalt‘ fassen. Dies gilt bereits für einzelne Verse in einer Fabel, die auf eine konkrete Vorlage zurückzuführen sind. Bei der literarischen Bearbeitung der Abstemiusfabel De Nautis sanctorum auxilium implorantibus zu II 50 Von Schiffleuten/ welche in nten die Heiligen anrieffen wird auf die Übernahme des ursprünglichen Lehrsatzes verzichtet und die Affabulatio neu geschrieben. Ein Phänomen unabgestimmter Vielfalt zeigt sich bereits in der Narratio. Darin gerät eine Gruppe Reisender auf See in ein schweres Unwetter und ruft zur Unterstützung Heilige an: Da rieff der ein Sanct Barbarn an/ Sanct Niclas/ vnd Sanct Kilian/ Sanct Adolff den grossen Sehefahrn Sanct Clementen thetens nit sparn/ Vnd wer sonst ein Heilgen thet kennen Oder jn mit namen wißt zu nennen/ Den rieffens an in solchen nten Welch sie daselb vor augen hetten (II 50,9–18).

In seiner Bearbeitung stellt Waldis unabgestimmt mehrere Heilige nebeneinander, wo in der Vorlage nur von „diversorum auxilium“837 die Rede ist. Die versammelten Heiligen ergeben in der Zusammenschau aber kein stimmiges Bild im Esopus. Die Anrufung der Heiligen Barbara passt zu ihrer zeitgenössischen Beliebtheit als eine der 14 Nothelfer. Der Hl. Nikolaus von Myra „war Patron der Schiffer, weil er der Legende nach drei Pilger aus Seenot errettete“.838 Nicht erklären lassen sich der Hl. Kilian, ein „iroschottischer Missionar im ostfränkischen Gebiet um Würzburg im 7. Jh.“ und der Hl. Adolf, ein Zisterzienser aus dem 13. Jhd., der erst 1651 heiliggesprochen wurde. Fast schon ironisch mutet die Anrufung des Heiligen Clemens von Rom an, welcher „der Legende nach von Kaiser Trajan mit einem Anker am Hals im Meer ertränkt“ wurde.839 Der Kapitän reagiert ablehnend und ermahnt die Reisenden, nicht die Heiligen anzurufen, diese hätten „keine macht | Sie habens denn von Gott erbeten | Ehe denn sie samptlich zu jm tretten“ (II 50,22–24). Bis dies geschehen sei, sei die Reisegruppe aber bereits ertrunken. Daher solle man Gott anrufen, der als Einziger helfen könne. Dies geschieht und nach einer Weile legt sich der Sturm. Das

837 Esopus. Bd. 2, S. 151. 838 Ebd. 839 Ebd.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Morale der Vorlage gibt lediglich den Rat, man solle, wo man die Hilfe der Mächtigen haben könne, sich nicht zu den Schwächeren flüchten.840 Dies übernimmt Waldis nicht, stattdessen wird im Esopus die Affabulatio zur deutlichen Kritik an der Papstkirche und der Heiligenverehrung genutzt. Die „Papisten“ (II 50,41) gelten als die rechten widerchristen Die Gott wol bey dem Namen kennen Vnd mit dem mundt ein Vatter nennen/ Sprechen/ den rechten Gott wir meynen Doch mit der that jn stracks verneynen (II 50,42–46).

Die Fürbitte der Heiligen und der Anspruch, diese „knnen vns fr Gott vortretten“ (II 50,52), sei „die grst Gotts lesterung | So reden mag Menschliche Zung“ (II 50,53 f.). Nur auf Christus sei zu vertrauen. Unabgestimmte Vielfalt zeigt sich zugleich in den sammlungsübergreifenden Phänomenen, die Gegenstand der bisherigen Untersuchung waren, wie etwa Raum- und Zeitangaben sowie Figurengestaltung in den Fabelerzählungen, in Bezug auf die Autorität der Fabelsammlung oder auch den Geltungsanspruch des Lehrsatzes. In der traditionellen äsopischen Fabel genügt die Angabe eines Lehrsatzes zur Belehrung. Die Deutung der äsopischen Fabel hat genug autoritativen Eigenwert: „Die Fabel gehört – nach allgemeinem Vorverständnis – zu jenen narrativen Textsorten, deren Zweck darin liegt, Regeln zu vermitteln, welche immer schon allgemeingültig sind und auch ohne Narration formuliert werden können“.841 Die traditionelle äsopische Fabel ist das Gegenteil einer heterogenen und in der Vielfalt unabgestimmten Fabel. Die im ‚fabula docet‘ formulierten, geltenden Regeln gehen auf die Autorität, Äsop, zurück. Dieses Modell ist auch im Esopus wirksam, aber nicht mehr nur. Schon auf dem Titelblatt, in der Vorrede und zu Beginn des Leben Esopi tritt Waldis als konkurrierende textexterne Autorität auf. Auf dem Titelblatt wird in den ersten Ausgaben (1548, 1555, 1557) zusätzlich die Option, die Autorität Äsops mithilfe einer Äsopdarstellung zu stützen – wie dies etwa bei Steinhöwel oder Alberus geschieht – abgewiesen zugunsten des Angebots verschiedener konkurrierender Deutungsmöglichkeiten. Die Fabeln Äsops werden nicht nur gesammelt und übersetzt – so der Anspruch etwa von Heinrich Steinhöwel –, sie werden ‚neu gemacht‘, ergänzt durch alle Fabeln, die dem Autor zugänglich waren – auf der Straße, in der Schule, gedruckt  

840 „Fabula indicat, ubi potentioris auxilium haberi potest, ad imbecilliores non fugiendum“ (Esopus. Bd. 2, S. 151). 841 Lieb: Erzählen, S. 9.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

399

oder nur mündlich verbreitet –, und es werden von ihm neue Fabeln geschrieben. All diese Texte werden unter dem Stichwort ‚Fabel‘ unabgestimmt nebeneinander gestellt. Das Vorgehen, diverse äsopische und fabelfremde Stoffe unter ‚Fabel‘ zu versammeln, ist nicht neu, wie oben aufgezeigt tut dies schon Steinhöwel.842 Er aber zeigt die Pluralität der äsopischen Fabeln auf, stimmt diese ab und kategorisiert sie, peritextuell ausgestellt, klar nach der Zugehörigkeit zum Korpus der äsopischen Fabeln. Die auch in der Fabelsammlung aufgenommenen Erzählungen von Poggio Bracciolini sind dementsprechend nicht als Fabeln, sondern als lychtfertige schimpfred ausgewiesen.843 Die Aufnahme von Stoffen, die nicht dem äsopischen Korpus zugehörig sind, hat Auswirkungen auf weitere Merkmale der Fabel, wie die Erweiterung und starke Ausdifferenzierung der handelnden Figuren. Schon die anthropomorphisierten äsopischen Tiere – Wolf, Lamm, Hund, Fuchs –, die zumeist eine Charaktereigenschaft, Tugend oder Laster verkörpern, werden ergänzt um die handelnden Tiere aus der Tierepik. In den Fabeln mit rein menschlichem Personal handeln nicht nur typenhafte Figuren wie der Bauer, der Ehemann, der Adlige, der Student, wie es in Schwankerzählungen häufig der Fall ist, das menschliche Personal wird stark ausdifferenziert in verschiedene berufliche und soziale Gruppen. Für die Affabulatio bedeutet dies, dass neben die integumentale Sinnproduktion, bei welcher die Wahrheit einer Geschichte in ihr entdeckt und in einer Regel formuliert wird, die exemplarische Sinnproduktion tritt. Hierbei kann der Einzelfall der Fabelerzählung in der Affabulatio nicht nur in einer Regel verallgemeinert werden, sondern als Einzelfall neben einen anderen Einzelfall gestellt werden, der in der Affabulatio argumentativ oder narrativ eingebracht wird. Als vielfältig und unabgestimmt zeigt sich die Affabulatio, wenn die darin formulierte Regel nicht mehr eigenständig oder allgemeingültig ist. Die Regeln, die aus den Fabeln gezogen werden, sind im Esopus sowohl in diachroner wie in synchroner Perspektivierung verhandelbar. Der wiederholte Jetzt-Zeit-Bezug und der Abgleich mit Zuständen und Regeln in der Vergangenheit sowie Exempeln können die zeitlose Gültigkeit der Fabellehre unterlaufen, stützen oder zumindest als nicht alternativlos darstellen. Zugleich wird nicht mehr nur ein Lehrsatz geboten, sondern dieser wird ersetzt mit oder ergänzt durch verschiedene zeitgenössisch verbreitete Quellen von Erkenntnis und Lehre. Statt die traditionelle Autorität Äsops durch die Berufung auf ihn und seine Lehren in der Affabulatio zu stärken, wird eine Vielfalt an unterschiedlichen Autoritäten herangezogen wie

842 Siehe den Abschnitt zur Fabelsammlung von Steinhöwel im Kapitel „Äsopdarstellungen bei Heinrich Steinhöwel und Martin Luther“, S. 118–134. 843 Steinhöwels Äsop, S. 342.

400

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

biblische, sowohl alttestamentarische – Salomon und David – als auch solche aus dem Neuen Testament – etwa Paulus und besonders Christus. Antike Autoren wie Ovid und Horaz werden ebenso eingebaut wie zeitgenössische Autoritäten, etwa Luther. Aus der Fabelerzählung wird nicht mehr nur eine Wahrheit extrahiert oder eine Regel verallgemeinert, Figurenrede wird zusätzlich aufgenommen oder in der Affabulatio mitberücksichtigt. Ein Sprecher-Ich kommentiert Regeln, Zustände und Ereignisse der gegenwärtigen Welt. Der autoritative Anspruch der (einzelnen) Erfahrung wird ebenso eingebracht wie das kollektive Erfahrungswissen, welches im Sprichwort kondensiert. Der Geltungsanspruch der Elemente ist unabgestimmt und in jeder Affabulatio potenziell aufs Neue verhandelbar. Dies gilt auch für die Relationen verschiedener Elemente, die jeweils beliebig neu gestaltet werden. Die Affabulatio ist aufgrund verschiedener Formen der Akkumulierung nicht statisch, sondern prozesshaft. Die bisherige Beschreibung von unabgestimmter Vielfalt im Esopus hat diese auf verschiedenen Ebenen berücksichtigt. In der Affabulatio wird unabgestimmte Vielfalt sowohl bei der Betrachtung eines einzelnen Elementes wie bei der Untersuchung verschiedener Deutungen in einer Affabulatio greifbar. Als Beispiel für ein einzelnes autoritatives Element, welches in Konkurrenz zu anderen, mit Autorität aufgeladenen Elementen tritt, ist näher auf das Bibelzitat einzugehen. Die Verbindung von Fabel und Bibel, sei es in der Fabelauslegung oder in der Predigt, ist schon im Mittelalter gängige Praxis. Hierbei ist diese aber Teil der Deutungskompetenz des zumeist lateinkundigen, gelehrten Sprechers in der mündlichen Anwendungssituation. Neu ist in den esopischen Fabeln, dass die Kenntnis der Bibel für den Leser des Esopus nicht nur zugänglich ist, sondern – so zeigt die mehrfache Berufung auf die Bibel – auch vorausgesetzt wird. Die Verbreitung der Lutherschen Bibelübersetzung und damit einhergehend ihr normsetzender Sinnhorizont ist in den esopischen Fabeln in den Affabulationes wahrnehmbar. Luthers Bibelübersetzung ist nicht nur ein konfessionspolitisches, sondern auch ein literarisches Datum, und sie bestimmt nachdrücklich die volkssprachliche Literatur im 16. Jahrhundert, und zwar in drei Hinsichten: Sie belegt erstens für Luthers Anhänger – und das sind in Deutschland neun Zehntel der Intelligenz – die Konkurrenzfähigkeit der Volkssprache mit dem traditionsgeheiligten Latein. Sie prägt zweitens durch ihren Gegenstand, das Wort Gottes, die Hierarchie literarischer Gattungen, indem jeder Texttypus sich an seinem Beitrag zu einer letztlich religiös fundierten Wahrheit messen lassen muss. Und sie gibt drittens eine stilistische Norm für eine noch zu entwickelnde Literatursprache vor.844

844 Müller: Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung, S. 21.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

401

In den esopischen Fabeln treten Bibelstellen neben das Alte, das schon da war, den Lehrsatz der äsopischen Fabel.845 Bibelstellen werden außerdem mit anderen Elementen kombiniert, wie der Erfahrung,846 den heidnischen Schriften antiker Autoren847 oder Sprichwörtern.848 Neben der Kombination mehrerer Bibelstellen, die eine in sich geschlossene Einheit bilden, werden auch verschiedene Bibelstellen, welche als eigenständige Stellen markiert sind, akkumuliert, etwa wenn auf das Exempel „auß der Schrifft“ (II 26,65) von David und Goliath folgend zusammengefasst wird, was „Sanct Paulus“ (II 26,89) schreibt. In der Affabulatio von IV 30 wird sogar in Bezug auf die Worte der Nonne in der Narratio auf eine Deutung ihrer Worte verzichtet und vom Sprecher-Ich allein der Bibel Geltung zugesprochen: „Was sie da meynt verstehe ich nicht | Allein das mich die Schrifft bericht“ (IV 30,43 f.). Des Weiteren ist auf Phänomene, die auf unabgestimmte Viefalt hinweisen, in der Affabulatio in Bezug auf Fabeldeutungen einzugehen. Im einfachsten Fall, dem ‚fabula docet‘, das aus einem Lehrsatz besteht, gibt es keine unabgestimmte Vielfalt. Im Esopus treten daneben weitere Möglichkeiten der Deutung auf, in welchen erstens eine Autorität gestärkt bzw. bekräftigt wird, in welchen zweitens Deutungen aufgezeigt werden, die in verschiedenen Situationen Geltung haben, und drittens Deutungen, in denen für die Fabel neue, ehemals fabelfremde Elemente und nicht mehr nur der Lehrsatz, wie in der traditionellen äsopischen Fabel, Geltung beanspruchen. Die Autorität der äsopischen Fabel wird gestärkt, wenn etwa ein Lehrsatz durch weitere Elemente gestützt wird, sei es durch die Auslegung oder Variation des Lehrsatzes in allgemeinen Aussagen oder durch Veranschaulichung desselben in weiteren beispielhaften Einzelfällen. In II 49 werden etwa für diejenigen, „Die sich nach frembder bruffung sehnen“ (II 49,24), die Folgen dargestellt, die sich ergeben, wenn man nicht mit dem zufrieden ist, was man hat, und sich nach vermeintlich Besserem  

845 „Die Fabel thut vns krtzlich leren | Wir solln vns von dem vnsern neren/ | Essen daheime was wir han/ | Lassen den Leuten jr Hner gahn/ | Gottes gebot vns warnen thut | Slln nicht begeren frembdes gut | Damit gebotten wirdt eim jeden | Das er soll sein mit dem zufrieden/ | Was jm Gott hat auß gnaden geben | Das ghrt zum Gottseligen leben“ (II 40,27–36). 846 „Doch bringts das glck on alle schwer | Erfarnheyt han wir des zu ler/ | Die Schrifft sagt von dem Knig Saulen | Der sucht mit fleiß seins Vatters Maulen“ (III 50,15–20). 847 „Die Schrifft sagt offt von bsen Weiben | Dauon auch viel die Heyden schreiben“ (IV 81,143 f.). 848 „Zu vnderhalt des Menschen leben | Hat Gott bestendige mittel geben | Wie er vns in der Schrifft thut weisen | Daran solln wir vns stetes preisen/ | Der mhe vnnd arbeit sein geflissen | Jm schweyß solln wir das Brodt geniessen | Vnd nicht so lang am rcken ligen | Das gbraten Tauben ins maul vns fliehen | Gott gibt dir wol beim Horn die Khu | Du must aber selb auch greiffen zu“ (II 14,17–26).  

402

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

sehnt.849 Mithilfe von Antikenzitat und Sprichwort wird diese Aussage als konstant gültig dargestellt.850 Ebenso kann die Geltung der Fabelerzählung durch Partikularisierung gestärkt werden, indem diese mehrfach und in Bezug auf verschiedene ihrer Elemente ausgelegt wird wie in IV 94. In der Narratio dieser Fabel versucht der Wolf, sich in einer Gerichtsverhandlung für die Betrügereien des Fuchses zu rächen. Er kommt aber trotz Bestechung des als Richter eingesetzten Hirsches und geschickter Zeugenauswahl nicht gegen die Taktik des Schmeichelns an, die der Fuchs verfolgt. Die Affabulatio bezieht sich mehrfach auf einzelne Bestandteile der Fabelerzählung. So wird der Hirsch zum Beispiel „Eins vngrechten Richters Person“ (IV 94,264), der sich bestechen lässt. Der „Geitz“ (IV 94,267) als Ursache für Bestechlichkeit wird im Weiteren näher ausgeführt. Dieser mache auch nicht vor Königen und Göttern halt, die sich, so sagt man, mit Geschenken lenken lassen würden. Die Folgen für den Einzelnen, der bestechlich ist, werden in den V. 285–298 näher ausgeführt. Es folgt ein erneuter Zugriff auf die Fabelerzählung. Der „Wolff thut vns auch witzig machen“ (IV 94,299), dass diejenigen, die Böses tun, lügen und betrügen (IV 94,300–304). Eine weitere Deutung, diesmal des Fuchses, zeigt auf, dass wenn man die Taten eines Bösen lobt, man ebenfalls gelobt wird.851 Abschließend wird im Gegensatz auf das richtige Verhalten aufmerksam gemacht: „Aber ein frommer Mann auffrichtig | Der acht solch ehr vor nt vnd nichtig“ (IV 94,313 f.).852 Mit der mehrfachen Auslegung der Fabel geht einher, dass die Fabeldeutungen in verschiede 

849 „Mit jrm eygen wesen vnd leben | Knnen sich nit zu frieden geben/ | Dieselben sein gleich wie die Affen | Die auff eins andern wesen gaffen/ | Eins frembden bruffs sie sich vermessen | Damit jrs eygen thuns vergessen/ | Jn jrm beruff ist jn gar ant | Suchen allzeit ein bessern standt/ | Jren frwitz damit zulaben/ | Wenn sie sich denn vernewert haben/ | Findens daselben grossen grewel | Zu letzt kumpt vber sie der rewel | Wenns kommen zu grsserm vnglck | Vnd mgen dennoch nit zu rck/ | Denn woltens/ das sie weren blieben | Vnd jr gewerb mit fleiß getrieben“ (II 49,25–40). 850 „Der frwitz vns so sehr geheit | Verblendet also gar die leut/ | Das vber sein ampt ein jeder klagt | Wie der Poet dauon auch sagt/ | Ein jeden dunckt seins nachbawrn Flachße | Viel besser denn der sein auff wachße/ | Vnd das seins nachbawrn Khu allzeit | Viel mehr Milch denn die seine geit“ (II 49,45–52). 851 „Beim Fuchß han wir zumercken nun | Wo man eim lobt sein bses thun/ | Vnd seine bse sachen schmckt | Da ist er baldt also geschickt | Mit lob jn wider hoch beschwert | Vnangesehn/ ob ers sey werd | Einander grosses lob zuschreiben | Wie die Esel einander reiben“ (IV 95,305– 312). 852 Graphisch hervorgehoben wird die mehrfache Deutung einer Fabelerzählung in III 48. Darin überlässt ein alter Weingärtner seinen Söhnen einen Weinberg und behauptet auf dem Sterbebett, er hätte einen Schatz im Weinberg vergraben. Als sie Söhne danach suchen und fleißig die Erde umgraben, resuliert dies in einer reichen Ernte. Zwei Alineazeichen verdeutlichen nun die Aufteilung der Affabulatio in zwei Deutungen. Die erste argumentiert, dass man faule Menschen

403

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

nen Situationen Geltung haben. Die Auslegung des Hirsches warnt in Bezug auf Gerichtsprozesse. Die Warnung vor der Habgier zeigt diese als ständeübergreifendes moralisches Problem. Anhand des Fuchses wird auf die Reziprozität des lügnerischen Schmeichelns aufmerksam gemacht. Neben dieser Möglichkeit, bei welcher die Autorität der Fabelerzählung wie bei der klassischen äsopischen Fabel weiterhin Geltung beansprucht, treten solche Fabeln, in denen, in den oben aufgezeigten Formen der Akkumulierung, zuvor fabelfremde Elemente Geltung beanspruchen. In IV 90 wird ein „lecherlicher boß“ (IV 90,191) von den „tollen zu Dlpelbach“ (IV 90,192) gedeutet. Die Geschichte von Martin Beck, einem Bäcker, der zum Bischof gewählt wird und infolgedessen seine Ehefrau nicht mehr erkennt, wird als Beispiel gedeutet, dass es eine Sitte der Menschen sei, dass wenn jemand aufsteigt, er hoffärtig wird und den gesunden Menschenverstand verliert.853 Diese Deutung wird durch ein Ovidzitat bestätigt.854 Im Anschluss daran wird die anonymisierte Anekdote eines Kleinbauern wiedergegeben, der zum römischen Konsuln gewählt wurde (IV 90,203–228). Als er eines Tages gefragt wird, wie er früher die Schwere seiner Armut habe ertragen können, verweist er auf die Mühe und Bedrängnis, die er nun zu leiden habe. Diese Geschichte wird nicht an die Fabelerzählung oder an die Deutung derselben rückgebunden, stattdessen weist das Sprecher-Ich, auf die Worte des Konsuls Bezug nehmend, eine eigene Deutung ab: „Was er damit hat wolt bedeuten/ | Bfehl ich zu sagen ander Leuten“ (IV 90,229 f.). Besonders deutlich zeigt sich die Geltung neuer, ehemals fabelfremder Elemente, wenn eine Deutung nach dem Muster der äsopischen Fabel aufgegeben wird und auf einen kurzen Lehrsatz, der aus der Fabelerzählung abgeleitet ist, verzichtet wird. Bei der Fabel IV 44 handelt es sich um eine jener Fabeln, für die keine Vorlage nachweisbar ist, die aber traditionelles äsopisches Tierpersonal aufweisen. Statt einen Sachverhalt in einer Handlung darzustellen, die im Anschluss Gegenstand einer Lehre wird, ist die Darlegung von Gründen für einen Sachverhalt Gegenstand der Fabelerzählung. Der Fuchs möchte vom Habicht wissen, warum er die Tauben angreift und nicht, wie es sein Richteramt ermöglichen würde, „die Rappen | Den Weihen/ Adlar/ Geyr/ vnd Trappen“ (IV 44,13 f.), also die Raubvögel, die größeren Schaden anrichten würden. Der Habicht gibt zu, dass ihm in diesem Fall aufgrund der Stärke der Raubvögel der Tod drohe. Er  



vertreiben solle, in der zweiten ist jeder aufgefordert, solange er mit Fleiß arbeite, auf Gott zu vertrauen. 853 „Wenns einem armen etwan glckt | Das er zun ehrn wirdt auff gerckt | Der wirdt baldt durch Hoffart betaubt | All seiner sinn vnd witz beraubt/ | Der torheyt wird gar vbergeben/ | Vber sich selb thut hoch erheben“ (IV 90,195–200). 854 „Denn ein starck gmt ist bß zu tragen | Wie Naso sagt/ mit guten tagen“ (IV 90,201 f.).  

404

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

verweist auf das Verhalten des Fuchses, da dieser selbst nur Hasen, Hühner und Gänse jage und nicht den Wolf, der Schafe reiße. Aus der Unterhaltung der Tiere liesse sich ableiten, dass auch in einer Welt, in der durch Verwaltung und Recht Befugnisse geklärt sind (schließlich ist der Habicht als ‚Richter‘ eingesetzt), das Recht des Stärkeren gilt. Weitere potentielle Sinnangebote der Erzählung bestehen in der Feststellung, dass jemand, obwohl er ein verwerfliches Verhalten beim Gegenüber in Frage stellt, selbst verwerflich handelt (so der Fuchs), dass Recht noch lange nicht Gerechtigkeit bedeutet (so der Vergleich von Einsatz und Handeln des Habicht) sowie der pauschalen Erkenntnis, dass die Schwachen immer unter den Bösen werden leiden müssen. In Analogie zu I 2, in welcher in der Affabulatio auf die Verfolgung der Tauben hingewiesen wird: „Der Weih die Tauben thut bekriegen | Vnd leßt schedliche Rappen fliegen“ (I 2,39 f.), ließe sich dies auf die Beziehung von Tyrann zu Untertan übertragen. Es wäre aus der Erzählung des Weiteren zu schlussfolgern, dass das Leiden der Schwachen unter den Bösen kein Zufall, sondern beabsichtigt ist. Stattdessen wird die Affabulatio von IV 44 ohne Bezug zur Narratio mit einem alten Sprichwort eröffnet, welches die Beziehung von Geld und Recht thematisiert:  

Die alten han ein sprichwort bdacht Vnd auß erfarnheyt an vns bracht Vnd sagen/ wenn das Gelt zu sehr Geht vor die tugent/ zucht vnd ehr/ Vnd da die gwalt geht vbers recht Da wer ich lieber Herr denn Knecht (IV 44,41–46).

Dieses Sprichwort, welches eine allgemeingültige Regel formuliert, wird anhand einer Anekdote aus dem Leben Heraklits veranschaulichend bestätigt: „Das zeygt vns an der alte boß | Vom Heydnischen Philosophos“ (IV 44,47 f.). Heraklit, der sein Leben nie gelacht haben soll, lacht beim Anblick eines Diebes, der zum Galgen geführt wird. Gefragt nach der Ursache seines Laches nennt er die verkehrten Verhältnisse in der Welt:  

Er sprach/ solt ich der Welt nit lachen Das sies so wunderlich thut machen Seltzamer knt mans nicht erdencken/ Die grossen Dieb die kleynen hencken/ Drumb sein die Politisch Gesetz Ein Spinnweb/ vnd ein fliegen netz/ Welchs die Vgel freflich auff heben Die Fliegen bleiben drinn bekleben. (IV 44,57–64).

Wie schon bei der Fabelerzählung handelt es sich um eine Erzählung, die einen Sachverhalt nicht (nur) erzählt, sondern belehrend kommentiert. Eine inhaltliche

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

405

Verknüpfung ergibt sich zwischen Narratio und boß durch die Beurteilung eines Rechtssystems und der Feststellung, dass die Schwachen, nicht die Mächtigen den Rechtsbruch zu spüren bekommen. Die Worte Heraklits bilden eine Lehre, die formal die Affabulatio beendet. Wiewohl auch in dieser Affabulatio Regeln formuliert werden, ist der autoritative Eigenwert der Fabelerzählung nicht mehr von Bedeutung für diese Regel, sondern es sind die neuen, ursprünglich fabelfremden Elemente Sprichwort und Anekdote, welche wiederum Aussagen über die Verhältnisse in der Welt aufweisen. Eine Verknüpfung zwischen Narratio und ursprünglich fabelfremden Elementen in der Affabulatio ist häufiger gegeben. In I 65 ersetzt die Paraphrase eines zeitgenössischen Liedes vom „Schweitzer“ (I 65,13) den Lehrsatz. Er singt davon, dass die Schwachen die Starken ertragen müssten, „So lang biß Gott der Richter kmpt | Die Bcke von den Schaffen nimpt“ (I 65,21 f.). Diese Verse gehen einerseits auf Mt 25,31–46 zurück, bilden aber zugleich eine Verknüpfung zum Schaf in der Narratio, welches die Krähe ertragen muss, die aus vollem Herzen singend, auf ihm reitet.855 In den Affabulationes kann es auch zu einer Mischung der hier vorgestellten Möglichkeiten kommen. In I 29 wird sowohl die Autorität des Lehrsatzes gestärkt als auch eine weitere Deutung präsentiert. So wird zu Beginn der Affabulatio der Lehrsatz wiedergegeben, der dazu anleitet, dass jeder in seinem Stand bleiben solle, da jemand, wenn er mit solchen Umgang pflege, die reicher oder mächtiger seien, letztlich neben seiner Armut auch noch das Lachen über ihn zu ertragen habe (I 29,15–20). Dies wird durch den Verweis auf die Komödie Aulularia von Plautus gestärkt (I 29,21–26).856 Darauf folgt eine weitere Deutung, die von den vorherigen Versen durch einen Punkt am Ende von V. 26 abgesondert ist und zusätzlich als weitere, nicht von Waldis verantwortete Deutung markiert ist:  

Auch haben etlich hohe leut Diese Fabel auff die gedeut

855 Dieses assoziative Verknüpfen von Bestandteilen der Narratio und Elementen in der Affabulatio ist immer wieder zu beobachten, in II 17 ist etwa das Joch, das ein starker Ochse täglich tragen muss und für welches er von einem übermütigen Kalb verhöhnt wird, verbunden mit der Metapher im Lied des Propheten Jeremias, das in den V. 53–62 wiedergegeben wird: „Vnd trag all zeit das Joch des Herrn“ (II 17,59). 856 „Ein jederman soll halten sich | Das er bleibt bey seinem gleich | Wenn einer will mit den vmbgahn | Die jm zu reich/ vnd zu hoch gethan | Zu letst wenn ers hat vbermacht | Wirdt in armut dazu belacht/ | Welchs meysterlich verkleret da | Plautus in Aulularia | Wer sich vermißt zu steigen hoch | Der fellt mit schanden hinden noch | Drumb thu sich selbs ein jeder kennen | Vnd bey seym eigen namen nennen“ (I 29,15–26).

406

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Als etlich sein so vnbescheyden Sich in eins andern ehr vorkleyden Mit ander leute Kunst herprangen Vnd wlln damit groß lob erlangen (I 29,27–32).

Mit den hier aufgezeigten Möglichkeiten der Einarbeitung unterschiedlicher Wissensbereiche, die sich im Esopus greifen lassen, geht zugleich der Verlust von Programmatik einher. Statt eine Zielsetzung zu verfolgen, wird an Themen, an Erzählstoffen, an fabelfremden Quellen der Erkenntnis und Lehre, an Formen der Deutung, an Verfahren in der Affabulatio das aufgenommen und angewendet, was in jeder der 400 Einzelfabeln passend erscheint. Abschließend ist anhand einer Analyse der II 18 zu untersuchen, wie der als ‚gleiche‘ oder zumindest ‚ähnliche‘ äsopische Fabelstoff auf unterschiedliche Weise erzählt und in der Affabulatio einerseits traditionell behandelt wie andererseits losgelöst von der einsinnigen Deutung im Lehrsatz entfaltet werden kann. Bei der Untersuchung müssen alle oben angesprochenen Perspektiven auf die Affabulatio eingenommen werden. Es ist sowohl der Vergleich von Vorlage und Bearbeitung vorzunehmen, das Verhältnis von Narratio und Affabulatio näher zu beleuchten sowie die Argumentation in der Affabulatio zu verfolgen. Zusätzlich ermöglicht die Auswahl von II 18 einem Vergleich mit einer Doppelbearbeitung des Fabelstoffes im Esopus. In der Fabel II 18 Vom Hundt vnd Lwen wird anhand der Begegnung von Hund und Löwe der Gegensatz von Freiheit und Dienst behandelt. Der Stoff gehört zum traditionellen Korpus der äsopischen Fabeln und ist sowohl im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit in zahlreichen Fassungen nachweisbar.857 In veränderter Weise wird der Stoff im Esopus zuvor schon mal wiedergegeben, als Bearbeitung der Dorpiusfabel De Lupo et Cane, bei Waldis als I 56 vom Wolff vnnd Hunde. Beide Fassungen werden im Fabelkatalog von Dicke und Grubmüller unter der Nr. 625 aufgelistet, variieren aber hinsichtlich Figuren, Handlungsausgestaltung und weisen im Esopus auch unterschiedliche Sinnexplikationen auf. Statt Hund und Löwe begegnen sich in I 56 ein Wolf und der Hund eines Bauern in einem kalten Winter in einem Wald ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang. Die Tiere sind sich ähnlicher als Hund und Löwe, der Wolf spricht den Hund sogar mit „Bruder“ (I 56,6) an. Das Gespräch geht vom Wolf aus, der den Hund verwundert darauf anspricht, wie wohlgenährt der Hund und wie glatt sein Fell sei. Der Hund berichtet von der Sorgfalt seines Herren:

857 Vgl. Esopus. Bd. 2, S. 4 f., dort wird die Fabel zu denen gerechnet, „die man heute noch mit dem Namen Äsops verbindet“.  

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

407

Mein Herr tegliche sorg fr mich Das wol gespeiset werde ich Von seinem Tisch/ vnd schlaf auch nimmer Jm Regen/ Frost/ oder jrkeim kummer/ Dazu beim gantzen haußgesindt Jch stete gunst vnnd freundtschafft findt (I 56,9–14).

Der Wolf preist das Glück des Hundes und wünscht sich selbst ein solches Leben. Der Hund ist bereit, sich bei seinem Herrn für den Wolf einzusetzen, sofern dieser einige Regeln einhalten würde: Mit dem beding das du dich massest Genß/ Hner vngebissen lassest Vnd meinem Herren dienest trewlich Auffrecht in allen sachen freundtlich/ Wilt das halten vnd trewlich than So magst von stunt wol mit mir gahn (I 56,27–32).

Der Wolf willigt ein. Als die Sonne aufgeht, wird der Wolf auf eine kahle Stelle am Nacken des Hundes aufmerksam. Erst jetzt geht der Hund auf seine Erziehung ein und kommt auf die Strafen zu sprechen, die er aushalten müsse, wann immer er sich ungebührlich verhalte.858 Die Spuren der Bestrafung dienen als Erinnerungszeichen: „Dauor muß ich diß zeichen han | Das ich den leuten schaden than“ (I 56,55 f.). Auf das zeitlich versetzte Erkennen des Zeichens folgt die Erkenntnis von den Hintergründen der scheinbar besseren Lebensweise. Dies schreckt den Wolf so sehr ab, dass er sich lieber wieder in die Wildnis begibt:  

Sprach/ lieber bruder Marcolff Deins Herren freundtschafft also thewr Will ich vorwar nicht kauffen hewr/ Ade mein Freundt/ ich ziehe dauon Zu Holtze will ich wider gahn/ Vnd essen was der lieb Gott geit Denn das ich leb in fehrligkeit/ Drumb bleib du eigen wie du bist Mein freiheit mir viel lieber ist (I 56,58–66).

858 „Es antwort jm der Hundt/ das macht | Sprach er/ das ich offt vnbedacht | Die Kelber vnd die Kindt anfhr | Beid auff dem Feldt/ vnd vor der thr | Thet den Nachbawrn gar viel zu leydt | Wie den frembden on vnderscheydt/ | Das thet mein Herren sehr verdriessen | Musts offt mit meinem halse bssen/ | Des hat mich gar entwent mein Herr | Das ich hinfurt kein menschen mehr | Anfall/ wie ich zu thunde pflag/ | Sonder/ zusehe nacht vnd tag | Das nicht ins hauß schleich jrkein Dieb | Vnd den Wolff von den Schaffen trieb“ (I 56,41–54).

408

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Die Affabulatio ist ohne Irritationen oder Brüche in der Argumentation abgestimmt auf die Fabelerzählung. Die zu Beginn stehende Regel verallgemeinert die vom Wolf getroffene Entscheidung als Handlungsempfehlung, überträgt sie auf die Freiheit im eigenen Heim und betont das moralische Fehlverhalten, welches mit dem Aufenthalt an einem Adelshof einhergehe: Es ist viel besser sein ein Herre Jm kleinen hauß/ denn das man were Groß gehalten ins Frsten Saal Da mans veriahet all zu mal/ Muß offt nicht sehn/ das man doch sicht Das hie vnd da vnrecht geschicht/ Dadurch offt die frommen gewissen Werden zerrttet vnd zerrissen (I 56,67–74).

Die letzten vier Verse gehen auf Freiheit und Dienst noch einmal in verallgemeinernder Weise ein, diesmal ausgehend vom geruhsamen Leben im eigenen Heim, und verbinden das Thema Freiheit mit dem Vorteil von wenig Besitz. Die Norm wird abschließend mit dem Verweis auf frühere Fabeln argumentativ gestützt: Besser ist fried bey kleinem gut Denn reichthumb der offt schaden thut/ Vnd manchem grossen vnfall tregt Wie oben gnugsam angezeigt (I 56,75–78).

Die Fabelerzählung ist demgegenüber in II 18 stark reduziert, einen Erkenntnisprozess wie in I 56 gibt es nicht, die Positionen der Figuren sind statisch. Die gesamte Handlung wird schon in den ersten zwei Versen zusammengefasst: „ZV einem Lwen kam ein Hundt | Schertzweis mit jm reden begundt“ (II 18,1 f.). Die darauffolgenden Verse (II 18,3–34) geben die Rede des Hundes und die Gegenrede des Löwen wider. Jedes der Tiere bewertet hierbei seinen eigenen Zustand und den des Anderen. Der Hund wundert sich, warum der Löwe über Berg und Tal und durch die Wildnis laufe. Davon sei sein Äußeres betroffen, er sei „zerrissen vnd zerhudelt/ | Beregnet/ vnd mit kath besudelt“ (II 18,7 f.). Auch leide er an Hunger und habe jagend selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Er, der Hund, habe hingegen ein glattes Fell und sei schön. Dies erwerbe er mit Müßiggang, er fresse Fleisch und Brot und schlafe öfters den ganzen Tag.859 Der Löwe geht auf das Argument des Unterhalts ein, weist aber sogleich auf die Kette des Hundes  



859 „Seht wie bin ich so glat vnd schon | Das verdien ich mit mssig gohn/ | Jß fleisch vnd Brodt/ so viel ich mag | Vnd schlaff offt wol den gantzen tag“ (II 18,11–14).

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

409

ist: „Wiewol du jßt die beste speiß | So bistu doch zu allen stunden | An eine Ketten hart gebunden“ (II 18,16–18). Der Gegensatz zwischen einem in mühevoller Entbehrung lebenden Freien und dem fettgewordenen Müßiggänger an der Kette ist schon in der lateinischen Vorlage, eine Goudanusfabel im Aesopus Dorpii, vorhanden. Waldis übernimmt diesen, verändert und erweitert ihn aber signifikant. In der Goudanusfabel begegnen sich die Fabeltiere im verbalen Schlagabtausch auf Augenhöhe: Occurrit canis leoni, iocatur: „Quid tu, miser, exhaustus inedia percurris silvas et devia? Me specta pinguem ac nitidum! Atque haec non labore consequor, sed otio.“ Tum leo: „Habes tu quidem tuas epulas, sed habes, stolide, etiam vincula. Tu servus esto, qui servire potes. Equidem sum liber nec servire volo“.860

Waldis behält in seiner Bearbeitung den dialogischen Aufbau bei, verändert aber das Verhältnis der Sprecher zu einem hierarchischen, das in der Anrede sichtbar wird. Der Hund ihrzt den Löwen gemäß den Anredegewohnheiten gegenüber einer ständisch höheren Person.861 Der Löwe hingegen duzt den Hund. Die Vokative ‚Elender‘ (miser) vom Hund für den Löwen und ‚Dummer‘ (stolidus) vom Löwen für den Hund werden ersetzt durch die höfliche Anrede mit „Herr Lw“ und dem, die Rede des Löwen eröffnenden, Tadel des Hundes: „du bist nit weiß“ (II 18,15). Die an sich durch die Wahl der Fabelfiguren – Hund und Löwe – angelegte Nobilitätsdifferenz wird im Sprachgebrauch als eine Differenz sichtbar gemacht, die auch in der Erzählwelt der Tiere Geltung hat. Diese Differenz ist aber keine gesellschaftliche, wie es bei der Schilderung vom Hof der Tiere mit dem Löwen als Herrscher der Fall wäre, sondern eine moralische. Die Rede des Löwen wird im Esopus nach dem Hinweis auf die Kette erweitert. Es folgt das Argument, dass man im Dienst Gewalt zu ertragen habe. Der in der Vorlage nicht näher beschriebene Dienst des Hundes wird als moralisch verwerflich bewertet und die aus dem Dienst resultierende Lebensqualität mit der eines leibeigenen Bauers in Livland verglichen: Wirst offt mit prgeln wol zurschlagen Das mußt von deinem Herrn vertragen/ Mit Fuchßschwentzen/ vnd augendienst Du deines Herren huld gewinst/ Damit macht dir dein leben sawr Bist eigen/ wie ein Lifflendich Bawr (II 18,19–24).

860 Esopus. Bd. 2, S. 126. 861 „Jch bitt/ sagt mir/ woher es kumpt | Das jr Berg/ Thal/ laufft auff vnd nider | Durch manche Wildtnus hin vnd wider/ | Vnd seit zerrissen vnd zerhudelt/ | Beregnet/ vnd mit kath besudelt/ | Dazu verhungert vnd verschmacht | Noch laufft jr teglich auff die jagt“ (II 18,4–10).

410

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Sein eigenes Leben in Freiheit wird vom Löwen als frei von moralisch bedenklichen Taten und im Einklang mit dem Wohlwollen Gottes geschildert. Die Bewertung ist klar, sein Leben sei stets dem faulen Leben des Hundes vorzuziehen: So lauff ich bloß vnd frey daher Durch alle Hecken on gefehr Von augendienern weyß ich nicht Die essen mancherley gericht/ Dauor den Herrn die Meuler schmieren Dasselb laß ich mich gar nit jrren/ Dauor iß/ was der lieb Gott gibt Was ich nit hab/ entfelt mir nit/ Mein freiheit ist mir lieber zwar Denn dein gut leben/ glaub frwar (II 18,25–34).

Dieser Zusatz von Waldis (II 18,19–34) ist nicht nur eine inhaltliche Erweiterung, sondern auch eine stilistische Aktualisierung der Figurenrede. Mit Vokabeln wie Fuchsschwentzen, um das Umschmeicheln eines Höhergestellten, und Augendienst, einer Handlung, die nur getan wird, damit sie gesehen wird, zu umschreiben und negativ zu bewerten, werden dem Löwen idiomatische Ausdrücke in den Mund gelegt, die typisch für die Mitte des 16. Jahrhunderts sind.862 Neben dem allgemeinen Gegensatz von Freiheit und Dienst ist damit ein weiteres Sinnpotenzial in der Fabelerzählung angelegt, die Unterwürfigkeit und das Schmeicheln von Günstlingen am Hofe. Dazu trägt einerseits der Löwe bei, der klassischerweise als Herrscher der Tiere am Königshof gilt – so auch im Esopus in den Fabeln I 12; II 27; III 21; IV 96 –, wie andererseits die Konnotation von ‚Augendienst‘ als typische Verhaltensweise von Höflingen, wie sie etwa Agricola zum Lemma ‚Augendienst‘ in seinen Sammlungen aufführt: „Augendienst und Orenblasen/ Seind z Hofe/ die besten Wasen“.863 In der Affabulatio ist dieses Sinnangebot nicht als Gegenstand einer Deutung extrahiert.

862 Siehe die Belege zu fuchsschwänzeln und fuchsschwänzen in DWB. Bd. 4, Sp. 354 f. und bei Röhrich. Bd. 1, zum Fuchsschwanz, S. 483 f., sowie zu Fuchs im TPMA. Bd. 4, S. 170–172, S. 100. Zur Verbreitung des Motivs auf Flugblättern der Frühen Neuzeit siehe Esopus. Bd. 2, S. 51. Die Wendung wird in den esopischen Fabeln häufiger benutzt, sie ist typisch für die Charakterisierung des Fuchses und sein Talent, umschmeicheln zu können. Hierbei deckt sich die Metaphorik des Ausdrucks zugleich mit einem seiner Körperteile. So in der Fabel III 58 in der Rede des Affen, der erkennt, dass er mithilfe einer List bewusst in eine Falle gelockt wurde: „Er schalt den Fuchß/ hast mir gelogen | Mit deinen Fuchßschwentzen betrogen“ (III 58,20 f.). 863 Agricola: Sprichwörtersammlungen, II 79, S. 68, Z. 2 f. Die Wendung schon in Kol 3,22: „JR Knechte/ seid gehorsam in allen dingen ewern leiblichen Herrn/ Nicht mit dienst fur augen/ als den Menschen zugefallen/ sondern mit einfeltigkeit des hertzen/ vnd mit Gottes furcht“. Während das servitium oculis (in der Vulgata: ad oculum servientes) bei Luther mit dienst fur augen übersetzt  







4.5 Unabgestimmte Vielfalt

411

Das allgemeine Thema von Freiheit und Dienst aufgreifend ist die Affabulatio deutlich erweitert gegenüber dem Morale der Vorlage, in welchem lediglich dem Löwen zugestimmt und in einem Lehrsatz formuliert wird, dass die Freiheit den Dingen vorzuziehen sei. Im Esopus werden verschiedene Elemente – ein Bezug auf die Vergangenheit neben der Beschreibung der Jetzt-Zeit, Nennung schriftlicher Quellen, Sprichwort, Rede von Sprecher-Ich und Bezugnahme auf Figurenrede – in 65 Versen aneinandergereiht. Das Thema ist nicht verallgemeinernd ‚Freiheit‘, sondern es wird auf konkrete Formen der Unfreiheit eingegangen. Der Hauptteil der Affabulatio dient hierbei der Darstellung und Bewertung einer Thematik, die schon in der Rede des Löwen beim Vergleich des Hundes mit einem livländischen Bauern angedeutet ist, die Leibeigenschaft. Die Affabulatio ist nicht explizit mit der Fabelerzählung verknüpft. Übergangslos wird auf eine Form der Leibeigenschaft eingegangen, die im 16. Jahrhundert in dieser Form in Deutschland nicht mehr als verbreitetes Phänomen nachweisbar ist,864 auf die Sklaverei und ihre Überlieferung: Man lißt/ das in den alten Jaren Auch eigen Leut auff Erden waren/ Die man verkaufft vmb Gelt vnd gut (II 18,35–37).

Eine genaue Quellenangabe bleibt aus, der Verweis auf die schriftlichen Quellen dient dazu, die Behauptung zu legitimieren und in die nicht näher beschriebene Vergangenheit zu verlegen. Die mit dem Vergangenheitsbezug einhergehende zeitliche Distanz wird in den nächsten Versen aufgehoben, da der Zustand in der Jetzt-Zeit andauert: „Wie man noch in viel Landen thut“ (II 18,38). Die darauffolgende Beispielkette einzelner Völker verortet das Phänomen an die süd- und südwestliche Peripherie der „Teutschen Landen“ (II 18,69), so werden die „Moren auß Affrica“ (II 18,39) in Spanien, Italien, Portugal verkauft.865 Die räumliche Distanz wird verringert, indem für das Phänomen der Leibeigenschaft im nächsten Vers das Sprecher-Ich als zeitgenössischer Augenzeuge einsteht: „Die bringt man nacket Fraw vnd Man | Wie ichs daselbst gesehen han“ (II 18,43 f.). Weitere Beispiele in der Kette erweitern die Verkaufsgebiete an den östlichen und nördli 

wird, und auch Agricola vom Augendienst spricht, hält Adelung bereits fest, das Wort sei ein „wenig mehr gebräuchliches Wort“ (Adelung. Bd. 1, Sp. 562). 864 „Prototyp des Leibeigenen ist der weitgehend rechtlose, antike Sklave, der in dieser Form, trotz Weiterverwendung desselben Begriffs (servus), nach vorherrschender Ansicht schon seit der Spätantike an Bedeutung verlor und schließlich seit dem 9./10. Jh. nicht mehr anzutreffen ist“ (Hans-Werner Goetz: Leibeigenschaft. In: LexMA. Bd. 5, Sp. 1846). 865 „Man bringt Moren auß Affrica/ | Verkaufft sie in Hispania/ | Jn Jtalien vberall | Zu Lissibon in Portugall“ (II 18,39–42).

412

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

chen Rand Deutschlands, so werden in Polen und Preussen Menschen aus östlichen und nordöstlichen Ländern verkauft866 und in Schweden sei es Brauch, die Finnen in Riga und Reval zu verkaufen.867 Mit „eigen Leut“ (II 18,36), die „man verkaufft vmb Gelt vnd gut“ (II 18,37) ist eine Form der Leibeigenschaft geschildert, die im 16. Jahrhundert in Deutschland nicht mehr üblich war.868 Generell ist das Phänomen der Leibeigenschaft historisch nur schwer zu greifen. Erstens werden in der Forschung verschiedene Begriffe wie ‚Unfreiheit‘, ‚Leibeigenschaft‘, ‚Knechtschaft‘ oder ‚Hörigkeit‘ zur Beschreibung der herrschaftlichen Abhängigkeit der bäuerlichen Bevölkerung von Leib- Grund- und Gerichtsherren gebraucht, zweitens ist die Definition von ‚Leibeigenschaft‘, wie etwa auch von ‚Hörigkeit‘ unscharf.869 Da Waldis selbst nicht näher auf die Bedeutung eingeht, ist es nicht eindeutig zu klären, was im Esopus mit den Bezeichnungen „eigen“ (II 18,24;51) bzw. „eigen Leut“ (II 18,36;72) genau gemeint ist. Das Phänomen der Leibeigenschaft umfasst 1548 in Deutschland verschiedene Aspekte, die regional unterschiedlich ausgeprägt waren und auf

866 „Auß Samigeten/ Littawen/ Reussen/ | Fhrt man die Leut in Poln vnd Preussen/ | Zuuerkauffen vmb gringes gelt“ (II 18,45–47). 867 „Jn Schweden sichs dermassen helt | Sie bringen die Finnen zuuerkauffen | Zu Rige vnd Reuel mit grossen hauffen“ (II 18,48–50). 868 Formen der Leibeigenschaft, in denen der Herr über den Leibeigenen dermaßen verfügte, dass er ihn auch verkaufen konnte, sind im Frühmittelalter durchaus nachweisbar. Die Abhängigkeit der Unterschichten äußerte sich damals in zwei, sich überschneidenden Formen: „v. a. in der rechtl. Unfreiheit [...], die am ehesten als L[eibeigenschaft] angesehen werden kann, seit dem 9. Jh. jedoch ihre sachl., nicht ihre rechtl. Bedeutung verlor, dann aber auch in der grundherrschaftl. Hörigkeit“. Im Laufe des Mittelalters sind diese Formen nicht mehr trennschaft voneinander abzugrenzen: „Innerhalb der Grundherrschaft kann man funktional wie auch von der Entstehung her zw. leibeigenen, der Hausherrschaft des Herrn unterstehenden Unfreien am Herrenhof (servi non casati) und auf grundherrschaftl. Land angesiedelten Zinsbauern (servi casati) unterscheiden, doch relativierte sich dieser Unterschied bald, insofern er sich vom Rechtsstand löste, es Übergangsformen gab und die Hörigen sich im Verband der familia zusammengeschlossen fühlten. Die L[eibeigenschaft] ging damit in der ma. Hörigkeit auf, in der die Unterschiede zw. persönl. und sachl. Abhängigkeit [...] verblaßten. Die Hörigen, die eine sehr unterschiedl. Stellung bekleiden konnten, waren gewissermaßen Eigentum des Herrn und konnten verkauft oder verschenkt werden, sie unterstanden dessen Vormundschaft und Strafgewalt, waren nur beschränkt rechtsfähig, zu grundherrschaftl. Diensten und Abgaben verpflichtet und nicht ohne Erlaubnis des Herrn freizügig“ (Hans-Werner Goetz: Leibeigenschaft. In: LexMA. Bd. 5, Sp. 1846). 869 „Der Begriff der ‚Hörigkeit‘ wird in der wiss. Lit. in unterschiedl. Bedeutung gebraucht. Die Unschärfe der Definition hängt v. a. damit zusammen, daß mit der Hörigkeit vielfältige rechtl. soziale und wirtschaftl. Formen bäuerl. Abhängigkeit benannt werden, die in den einzelnen Regionen sehr verschiedenartig in Erscheinung treten“ (Werner Rösener: Hörige, Hörigkeit. In: LexMa. Bd. 5, Sp. 125).  



4.5 Unabgestimmte Vielfalt

413

unterschiedliche Entwicklungen zurückgingen. Generell lässt sich sagen, dass seit dem 14./15. Jahrhundert eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die Abwanderung von leibeigenen Bauern in die Städte zu beobachten war. Die Intensivierung von Herrschaftsrechten und die Forderung zusätzlicher Dienste ermöglichen es, die „konkreter faßbaren rechtl[ichen] Folgen“ der Leibeigenschaft zu beschreiben. Diese umfassen eine beschränkte Rechtsfähigkeit, die Unauflösbarkeit des Abhängigkeitsverhältnisses ohne Einwilligung des Herrn, der Herrenanspruch auf Arbeitsleistung des Leibeigenen, eine beschränkte Freizügigkeit sowie Heiratsbeschränkungen: Die Herren suchten die Heirat auf den Kreis der eigenen Leibeigenen einzugrenzen und die sog. ungenoßsame Ehe zu verbieten. Wirtschaftl. Folgen waren – im Umfang eher geringe Abgaben und das Fehlen eigenen Besitzrechtes am Boden, der im Todesfall samt eines Teils des Nachlasses (beispielsweise Halbteil) an den Herrn zurückfiel; an die Stelle des Erbfalls trat bei der Frau die Abgabe des besten Kleides [...], beim Mann des besten Stück Viehs.870

Auch zeitgenössische Chroniken behandeln die ‚Leibeigenschaft‘, wie etwa Sebastian Franck in seiner Chronica, Zeÿtbch vnd geschÿchtbibel (1536) in Unterscheidung von der ‚Knechtschaft‘ in seinem Abschnitt Vnderscheydt vnder leybeigen vnd knechtschaft. Merkmal der Leibeigenschaft ist der Verlust der Freizügigkeit: Nun leybeigen sein (das du auch die vnderscheid wissest) heißt gleich wol eygen gtter haben/ aber seinen leib nit drffen verrucken vnder ein andere herrschaft/ on seines herren vergunst/ wissen/ vnd willen/ Knecht aber/ welche die Walchen Sclauos nennen/ seind mit leib/ weib/ kind vnd gt jres herren/ vnd alles das sie gewinnen/ so lang er jhn nit frey sagt/ vnd mit freiheyt begabt/ Doch lst der herr jhm etwas aus dem vich.871

Die Merkmale der Beispiele im Esopus, die Verfügbarkeit über die nackte Person, die unabhängig vom Land, auf der sie lebt und welches sie bestellt, verkauft werden kann, sind ebenso ungewöhnlich wie die Verfügbarkeit über den Körper der Leibeigenen, wie sie in dem in der Affabulatio folgenden Beispiel des livländischen Bauers ausgeführt wird. Der livländische Bauer, auf dessen Leben sich schon der Löwe in der Fabelerzählung bezogen hatte, weicht hierbei von der bisherigen Reihe von leibeigenen Bevölkerungsgruppen ab. Erstens besteht die Verfügbarkeit nicht darin, dass man die Menschen verkauft, sondern in der körperlichen Versehrung. Wenn einer drohe widerspenstig wegzulaufen, folge für gewöhnlich der Verlust eines Fußes:

870 Hans-Werner Goetz: Leibeigenschaft. In: LexMA. Bd. 5, Sp. 1847. 871 Franck: Chronica, S. cclxxvjbf.

414

4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Jn Lieflandt sind die Bawren so eygen Das/ wenn sich einer thut erzeygen/ Widerspennig mit lauffen drewt Baldt man jm einen Fuß abhewt (II 18,51–54).

Zweitens wird nun eine Ursache der Leibeigenschaft genannt, eine Charaktereigenschaft der Bevölkerungsgruppe. Aufgrund der Widerspenstigkeit sei die Leibeigenschaft ein vererbter und daher unveränderlicher Zustand: „Daselbst mssen all Bawren gleich | Von Kindt zu Kindt dienen ewiglich“ (II 18,55 f.).872 Diese Charaktereigenschaft als Ursache für die Leibeigenschaft verbindet das Beispiel der livländischen Bauern mit der folgenden Aufzählung von Völkern, die von Deutschland nun wegführend zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer, größtenteils sagenumwobene Völker umfasst, die im Gebiet zwischen dem Baltikum und Kleinasien vermutet wurden:873  

Biß in Trckey vnd Phrygiam/ Getz/ Sawromate/ Muscabite/ Tartern/ Walachen/ vnd frechen Scythe/

872 Es mag sich hierbei um Schilderungen handeln, die sich nicht mit den realen Bedingungen deckten, vgl. Marten Seppel: Die Entwicklung der „livländischen Leibeigenschaft“ im 16. und 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 54 (2005), S. 174–193. Die Darstellung bei Waldis deckt sich aber mit der zeitgenössischen Beschreibung in der Cosmographei (1550) von Sebastian Münster: „Es ist das gemein bawerß volck in dissem land fast ein leib eigen volck/ vnnd wirt gar rach vnnd hert gehalten von jren oberherren/ sonderlich von ettlichen Edelleüten vnnd der ordenßherren amptleütenn oder lantknechten. […] Entlaufft inen ein bawr/ wie sie offt hungers/ marter vnnd ellends halbenn thn mssen/ vnnd jn darnach wider überkommen/ hawen sie im ein bein ab/ do mitt er inen nit mehre entlafft“ (Sebastian Münster: Cosmographei oder beschreibung aller lnder/ herschafften/ fürnemsten stetten/ geschichten/ gebreüchē/ hantierungen etc. ietz zum dritten mal trefflich sere durch Sebastianum Munsterū gemeret vnd gebessert/ in weldtlichē vnd naturlichen historien. Jtē vff ein neuws mit hübschen figuren vnng landtaflen geziert/ sunderlichen aber werden dar in contrafhetet sechs vnnd viertzig stett/ vnder welchē bey dreissig auß Teutscher nation nach jrer gelegenheit dar z kommē/ vnd von der stetten oberkeiten do hin sampt jrenn beschreibungen verordnet. Basel 1550. Nachdruck mit einer Einführung von R. Oehme. Amsterdam 1968 [Mirror of the World I 5], S. 929). Eventuell geht die Darstellung auf ein Missverständnis zurück: „Wahrscheinlich wurde hier die Bezeichnung ‚Einfuß-Bauern‘ missverstanden, deren Status nicht völlig geklärt ist (womöglich hießen sie so, weil sie nur ‚mit einem Fuß‘ Bauern waren und ‚mit dem anderen Fuß‘ einem anderen Beruf nachgingen); vgl. Heinrich Bosse: Der livländische Bauer am Ausgang der Ordenszeit (bis 1561). Riga 1933 (Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 24, Heft 4), S. 339–350. Auf archivalische Quellen gestützt berichtet Bosse (S. 381–383) von sklavenähnlicher Leibeigenschaft der Drellbauern (bis um die Mitte des 15. Jhs.), die allerdings von den späteren Hörigen zu unterscheiden sind. Das Aufkommen der Einfüßlinge scheint mit der Auflösung der Drellschaft zusammenzuhängen“ (Esopus. Bd. 2, S. 127). 873 Siehe Esopus. Bd. 2, S. 127.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

415

Biß ans gebirg Hyperborim/ Riphei/ am Wasser Thanaim/ Denselben kreiß gantz rundt vmbher An Pontum/ vnd ans Caspier Meer (II 18,58–64).

Das Verhalten der Bevölkerung legitimiert Tyrannei, Zwang und Gewaltanwendung als Methoden der Herrschaftssicherung: Das sind allsam vnbendig Leut Darumb muß mans mit dienstbarkeit/ Mit Tyranney zymen/ vnd zwingen Vnd mit schlegen zur arbeit dringen (II 18,65–68).

Erst nach dieser Abhandlung über Leibeigenschaft als Phänomen am Rande der „Teutschen Landen“ (II 18,69) und über ihre Ursache kommt Waldis auf Deutschland zu sprechen, wo dieser Zustand nach dem Kenntnisstand des Sprecher-Ichs mit wenigen Ausnahmen nicht vorhanden sei: Jn Teutschen Landen (muß bekennen) Weyß man dieselben nit zunennen/ Denn in Westphalen/ vnd in Schwaben Daselbst sie eigen leute haben (II 18,69–72).

Diese Aussage hat nur Bestand, wenn man die soweit aufgeführten Beispiele als Norm für Leibeigenschaft hinnimmt und die Diskussion über und die Auflehnung gegen die Leibeigenschaft, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts im vollen Gange waren, ausblendet. Zeitgenössische Schriften und Ereignisse zeugen von der Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Folgen der Argumentation Luthers in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), die Rezeption von Luthers Bibelübersetzung oder die Forderungen in den Grundtlichen Vnd rechten haupt Artickl/ aller Baurschafft vnd Hyndersessen der Gaistlichen vnd Weltlichen oberkaytē/ von wlchen sy sich beschwert vermainen (1525) im Bauernkrieg, welche im dritten der zwölf Artikel die Abschaffung der Leibeigenschaft forderten,874 sind bei der Argumentation in der Affabulatio nicht von Bedeutung. Stattdessen werden noch die zuvor für das Ausland geschilderten und für die Vergangenheit

874 „Zm dritten/ Ist der brauch byßher gewesen das man vns für jr aigenleüt gehalten haben wlch z erbarmen ist/ angesehē das vns Christus all mit seynem kostparlichen plt vergssen/ erlßt vnnd erkaufft hat/ Den Hyrtten gleych alls wol alls Den hchsten/ kain auß genommē/ Darumb erfindt sich mit der geschrifft das wir frey seyen vnnd wllen sein/ Mit das wir gar frey wllen seyn/ kain oberkait haben wellen“ (Grundtlichen Vnd rechten haupt Artickl/ aller Baurschafft vnd Hyndersessen der Gaistlichen vnd Weltlichen oberkaytē/ von wlchen sy sich beschwert vermainen. Augsburg 1525, Der drit Artickel, ohne Blattzählung).

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

verbürgten Ursachen, der Hang zum Aufruhr und Widerspenstigkeit, formuliert als eigene Meinung des Sprecher-Ichs, das sich auf historische Berichte beruft, auf die Zustände in Deutschland übertragen: Wiewol derselben sindt gar wenig Jch halts darfr/ das sie abtrennig/ Vnd widerstrebig gwesen sind/ Wie man in den Hystorien findt/ Darumb die Oberkeit fr zeiten Hat solche burd denselben leuten Auffgelegt/ sie zu vnderhalten Vnd vber sich sie lassen walten (II 18,73–80).

Damit endet die Darstellung, wo und warum Leibeigenschaft nachzuweisen ist. In den nächsten Versen wird die Perspektive gewechselt von historischen Gründen hin zur Bewertung eines solchen Lebens: Es ist aber ein herter zwang Das der mensch vngern/ on sein danck/ Muß eygen sein/ vnd vnderthan Vnd mag nit/ wo er will hin gahn (II 18,81–84).

Erst hier deckt sich mit dem Merkmal der untersagten Freizügigkeit das Verständnis von Leibeigenschaft im Esopus mit der zeitgenössischen Definition bei Franck. Zugleich wird hier erstmals Kritik an der Leibeigenschaft geübt. Die Meinung des Sprecher-Ichs eröffnet die Einwände. Unter Berufung auf den Zustand bei der Geburt spricht Waldis über „das göttliche Recht der Freiheit mit Bezug auf das Alte Testament“.875 Waldis verknüpft in diesem die Vorstellung von der naturrechtlichen Freiheit, ohne diese auszuführen, als Begründung für den im Alten Testament aufgeführten und damit als göttliches Gesetz legitimierten Brauch des Jubeljahres in der jüdischen Rechtsprechung: Weil wir der gburt einerley leut Jm Gsetz/ den Jden Gott gebeut/ Das sie jr Mgd/ vnd eigen Knechte Nach jrem Gsetz/ vnd gschribnen Rechte/ Jm Jubel jar solten frey lassen Vnghindert ziehen jre strassen (II 18,85–90).

Der Brauch ist in Lev 25,10 nicht mit dem Naturrecht verbunden, sondern feiert die Ankunft im Gelobten Land, die alle sieben Jahre bedacht werden soll und bei

875 Esopus. Bd. 2, S. 128.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

417

der siebten Feier besonders zelebriert wird: „Vnd jr solt das Funffzigst jar heiligen/ vnd solts ein Erlasiar heissen im Lande/ allen die drinnen wonen/ denn es ist ewr Halliar/ Da sol ein jglicher bey euch wider zu seiner Habe/ vnd zu seinem Geschlecht komen“. Waldis verknüpft diesen Brauch mit dem Gedanken „der ursprünglichen Gleichheit oder Freiheit aller Menschen“, wie er bereits seit dem 12. und 13. Jahrhunderts nachweisbar ist.876 Das Jubeljahr weist zwar auf eine politische und gesellschaftliche Entwicklung hin, denn die auf den ersten Blick sehr überzeugend formulierten, die Beseitigung der Unfreiheit befürworteten Prinzipien [verdeckten] in der Regel sehr reale Interessen [...], welche die wirkliche Triebkraft im Prozeß der Zurückdrängung dieser Form der Abhängigkeit waren. Das spricht dafür, die praktische Bedeutung dieser ideologischen Komponente, die reale Wirksamkeit der rhetorisch stilisierten Prinzipien nicht zu überschätzen. Die Leibeigenschaft wurde in großen Teilen Europas im 13. Jahrhundert nicht etwa deshalb abgebaut, weil man sich jetzt zum naturrechtlichen Freiheitsideal bekannte, sondern weil sehr reale Gründe in dieser Richtung wirksam waren.877

Mit der Leibeigenschaft nimmt Waldis in die Fabelsammlung ein Thema von zeitgenössischer Brisanz auf. Es wird aber nicht mithilfe von Beispielen oder Argumenten aufbereitet, die die traditionelle äsopische Fabel bietet. Die Lebensgeschichte Äsops berichtet schließlich vom Werdegang eines Sklaven. Die einführende Darstellung Äsops nennt direkt nach seiner Herkunft seinen rechtlichen Status: Esopus ist auß Phrigia Geborn vom Fleck Amoria Ein gekauffter Knecht/ leibeygen (Leben Esopi, V. 21–23).

Die Stelle macht erneut auf die definitorische Unschärfe des Begriffs ‚leibeigen‘ aufmerksam. Knechtschaft und Leibeigenschaft, welche in der Chronica von Franck definitorisch getrennt wurden, sind hier zusammengefügt. Unklar ist, ob damit der Status als Unfreier besonders betont wird, also beide Aspekte, die Franck nennt, hervorgehoben werden, oder ob es sich um eine synonyme Wiederholung handelt. Der Zustand Äsops wird in der Lebensbeschreibung nicht weiter bewertet noch wird ein Bezug zur zeitgenössischen Gegenwart hergestellt.878

876 Der Gedanke ist aber „in eine überaus theoretische Ideenwelt einzuordnen, wie sie sich vor allem an höheren Schulen und an den aufkommenden Universitäten entwickelte“ (Bernhard Töpfer: Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie. Stuttgart 1999 [Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45], hier S. 261). 877 Töpfer: Urzustand und Sündenfall, S. 289. 878 Im Leben Esopi ist der rechtliche Status im Gegensatz zu Äsops intellektuellem Vermögen von Bedeutsamkeit: „Doch thet sich sein gemt erzeigen | Als wer er frey vnd vnuerrckt | Zu aller

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Stattdessen wird in der Affabulatio bei der Argumentation mithilfe einer Beispielkette und Ursachennennung auf Argumente zurückgegriffen, wie sie in anderen zeitgenössischen Werken nachzuweisen sind. Auf Ähnlichkeiten im Vergleich mit dem Absatz zur Leibeigenschaft in der zeitgenössischen Chronik von Franck wurde schon hingewiesen. In der esopischen Fabel weist die Quellenangabe „in den Hystorien“ (II 18,76) bei der Behandlung der aufständischen Völker in Richtung dieser Textsorte. Der Vergleich mit der Behandlung des Themas in der Chronik von Franck zeigt weitere Möglichkeiten der Begründung und Argumentation in Bezug auf die Leibeigenschaft auf. So widmet Franck knapp eine Seite in seiner Chronica dem Thema Von der knechtschaft vnd leibeygenschaft/ waher sy fliesse.879 Die Einleitung des Autors zeigt, dass es sich um ein kontroverses Thema handelt: „Die fragen/ von wannen doch die leibeygenschafft vnd knechtschaft herkumme/ Dauon solt man die Juristen vnd Rechtweisen fragen/ ich will mein vnd etlicher meynung sagen“.880 In der Beschreibung der Ursachen sind ebenfalls Beispiele aufgenommen, jedoch antike und alttestamentliche Figuren und Ereignisse. Neben übergroßer Armut wird auch bei Franck Tyrannei als Ursache für die Leibeigenschaft aufgeführt, die Herrschaft von Nemroth dient aber an dieser Stelle als Negativexempel eines Tyrannen: Erstlich kumpt es her auß tyrannei/ das z der zeit Nemroth die gwaltigē mit gwalt fren/ vnd wen sy übermochtē/ mit gwalt vnder sich warffen/ vnd also einander eygen leüt zkauffen gaben/ etwas darumb kriegten/ vnd einander mit gewalt namen (dann sy ein begird zherschen hett ankum̅ en) das von rechts wegen keyns war.881

Tyrannei als herrschafts- und gesellschaftsstabilisierender Einfluss erscheint bei Franck erst im Abschnitt Von dem gewalt/herrschaft/ren̅ t/zinß/gült/steür vnd vngelt. Die Rechtfertigung der Tyrannei als Behandlung gesetzloser Zustände, die bei Waldis nicht weiter ausgeführt ist, wird darin breiter verhandelt. Franck führt die Existenz der oberkeyt und der tyrannen auf die gesetzlosen Zustände nach dem Sündenfall zurück und legitimiert diese mit dem Verweis auf ihre Einsetzung von Gott: Also ordnet er die tyran̅ en vnd bse oberkeyt zur straff vnd rt seines volcks. Derhalt ist alle oberkeyt von Got zgleich gt vn̅ bß/ darumb ließ Got die oberkeyt erstlich im alten Testament z/ vn̅ ordnet die gtē zum heyl vn̅ wolfart der welt/ gmeinen frid zhandthaben/ die bsen braucht er als eyn rt der welt. Also seind beide oberkeyt von got/ vn̅ allen

weißheit wol geschickt“ (Leben Esopi, V. 24–26). Implizit scheint mit dem Status der Leibeigenschaft eine verringerte geistige Leistungsfähigkeit verbunden zu werden. 879 Franck: Chronica, S. cclxxvjbf. 880 Ebd., S. cclxxvjb. 881 Ebd.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

419

menschen z gt geordnet/ […] also dz die oberkeyt das mittel ist/ dadurch Got dz wild thier viler kpff/ die welt meyn ich/ vn̅ den wilden vngezmpten pofel in eygner ordnung vn̅ regiment behielte.882

Bei Franck ist der Ungehorsam nur einer von mehreren Ursachen für die Leibeigenschaft. Die Kriegsnot als Folge der Stadteinnahme wird anhand der Bewohner von Karthago und der Juden in Jerusalem exemplarisch verhandelt. Erst der letztgenannte Grund bei Franck ist ökonomisch legitimiert, der Leibeigene als Handelsware: „so man sy von andern als andere war vnd kauffmanschatz erkaufft/ als vil aus priester Johan̅ sland in andere lnder/ als Persien/ Arabien/ vnd Indiam verkaufft werdē aus den Christen“.883 Die Beispiele beschränken sich bei Franck stets auf die Vorzeit. Die Beantwortung der Frage, ob es einem Christen erlaubt sei, dauerhaft einen Leibeigenen zu halten, weist er zurück und kommt, wie auch Waldis, auf die Siebenjahresregel unter den Juden zu sprechen: Ob nun eyn Christ ewig eygē leüt mg haben/ zweifeln vil/ ich laß es andere vrteilen/ vnd gibs jn ztreffen. Es war je den Juden nit zgeben/ vil weniger vns/ im sibenden jar/ ward ihr ledig jar. War ist es/ eyn Christ kann eyn knecht sein/ So hat Abraham eygen leüt gehabt/ weyß aber nit/ obs gng ist zum exempel. Doch ist gehorsam/ in fllen nit wider Gott/ in allweg recht/ herschen aber nit.884

Wertet Franck die jüdische Rechtsprechung, benennt Zweifel und überlässt letztendlich dem Leser die Entscheidung der Frage, ob ein Christ dauerhaft Leibeigene besitzen dürfe, so gibt Waldis dieses Argument kommentarlos wieder. Es ist dem Leser überlassen, wie er dieses Argument wertet. In den letzten neun Versen wird die Leibeigenschaft nicht mehr angesprochen. Die Affabulatio mündet in eine fabeltypische Argumentation. In gültigen verallgemeinernden Sätzen wird ein Lehrsatz formuliert, der die Freiheit als edles Gut wertet. Waldis übernimmt den Aufbau des Lehrsatzes aus der Vorlage. Das Morale der Vorlage besteht aus der Zustimmung zur Rede des Löwen und einem darauffolgenden Lehrsatz: „Morale. Pulchre respondit leo. Quibuslibet enim rebus potior est libertas“.885 Im Esopus aber wirkt der Lehrsatz wie ein Scharnier zwischen dem letzten Argument bei der Behandlung des Themas Leibeigenschaft und der Rückbindung an die Fabelerzählung. Während die Zustimmung in der lateinischen Vorlage ohne explizite Sprecherposition formuliert ist, wird der Zuspruch als Meinung des Sprecher-Ichs formuliert: 882 883 884 885

Ebd., S. cclxxv. Ebd., S. cclxxvib. Ebd., S. cclxxvib. Esopus. Bd. 2, S. 126.

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4 Affabulatio: Möglichkeiten von Deutung

Freiheit ist gar ein edel kleinot/ Wol dem der sie mit frieden hat/ Ob er schon nit hat viel dabey/ Es ist jm gnug/ das er sey frey Darumb halt ichs hie mit dem Lwen Der wolt nit seine freiheit geben/ Fr des Hundts gute faule tag Weil er da an der Ketten lag (II 18,91–98).

Abgeschlossen wird die Affabulatio mit einem Sprichwort, das inhaltlich die Bewertung der Freiheit wiederholt und diese hierbei noch positiver bewertet. In der Rede des Sprecher-Ichs wird die Freiheit mit der Bezeichnung als gar edel kleinot metaphorisch dem ökonomischen Gut zumindest gleichgestellt, das Sprichwort stellt die Freiheit explizit über alle irdischen Güter. Zugleich ändert sich formal der Status der Aussage. Auf die subjektive Meinung folgt eine objektiv gültige Aussage, die die Meinung des Sprecher-Ichs und die Rede des Löwen bestätigt: „Drumb/ wie das sprichwort melden thut/ | Freiheit geht fr all zeitlich gut“ (II 18,91–100). Damit ist die Affabulatio am Ende wieder in einer traditionellen Deutung des Fabelstoffes abgefangen, wie sie etwa Steinhöwel, allerdings als einziges Sinnangebot, seiner deutschen Fabelfassung voranstellt: „Dise fabel bezöuget, wie süß und lustig sie in fryhait und aigen willen leben menglichen unverbunden“.886 Die Affabulatio von II 18 dient, ungewöhnlich für den äsopischen Fabelstoff, dazu, zuerst einmal nicht über die Abstrakta Freiheit und Dienst zu sprechen, sondern um einen speziellen, problematischen und komplexen Zustand der Gegenwart, der sich dem Thema der Freiheit zuordnen lässt, zu behandeln. Das Sprechen über Leibeigenschaft ist im Esopus auch im Vergleich mit zeitgenössischen Quellen ungewöhnlich, da die Form der Leibeigenschaft mit der größten Verfügbarkeit über den Leibeigenen als Norm im Ausland der Gegenwart dargestellt wird. Die Argumente für und gegen die Leibeigenschaft in Form von Beispielketten und Ursachennennung bilden keine in sich geschlossene oder ‚runde‘ Argumentation, sondern bilden assoziativ verknüpfte Ketten, die verschiedene Aspekte beleuchten. Waldis gibt hierbei Argumente wieder, die bei der Behandlung des Themas Leibeigenschaft zum zeitgenössischen Standard gehören, wie die Siebenjahresregel der Juden im Alten Testament. Während bei Franck aber etwa Leibeigenschaft anhand dieser als problematisch und verhandelbar aufgezeigt wird, z. B. „Ob nun eyn Christ ewig eygē leüt mg haben/ zweifeln vil/ ich laß es andere vrteilen/ vnd gibs jn ztreffen“ und die jüdische Rechtspre 

886 Steinhöwels Äsop, S. 161.

4.5 Unabgestimmte Vielfalt

421

chung auch als Handlungsanweisung für einen Christen gewertet wird: „Es war je den Juden nit zgeben/ vil weniger vns“, enthält sich Waldis solcher rezeptionssteuernden Momente.887 Zu Wort kommt das Sprecher-Ich nur, um in Bezug auf die Fabelerzählung eine Wertung vorzunehmen, die in ein unverfängliches Lob der Freiheit mündet, und um für den Sachverhalt der verkauften Menschen als Augenzeuge aufzutreten. So wird die krasseste Form der Leibeigenschaft vor Augen geführt, die am stärksten in das Leben der Leibeigenen eingreift. Die Situation in Deutschland wird demgegenüber abgewertet und eine Bewertung traditioneller Argumente nicht vorgenommen. Einem Leser wird keine differenzierte Auseinandersetzung, sei es mit verschiedenen Ursachen der Leibeigenschaft oder der Unterscheidung von rechtlichen und sozialen Aspekten, geboten. Bei unkommentierten Bestandteilen von Argumenten ist unklar, was damit angesprochen wird, wie etwa die Tatsache, dass Leibeigenschaft nur in Westfalen und in Schwaben vorhanden sein soll. Eine einsinnige Handlungsanweisung ist diese Affabulatio nicht mehr. Die explizite Leserlenkung in der Argumentation, etwa durch das Sprecher-Ich, ist nur schwach ausgeprägt. Mündlicher Bericht, Berufung auf schriftliche Quellen, vergangene und gegenwärtige Zustände, die Situation im Ausland und im eigenen Land, mit all dem ist der Leser dieser Fabel konfrontiert. Die Affabulatio beinhaltet keine klare Handlungsanweisung, die die aufgeworfenen Aspekte des Themas ‚Leibeigenschaft‘ umfasst. Der traditionelle Lehrsatz der äsopischen Fabel wird zwar zur abschließenden Beurteilung der Fabelerzählung herangezogen, er erscheint aber angesichts der aufgeworfenen Aspekte phrasenhaft.

887 Franck: Chronica, S. cclxxvib.

5 Fazit „Ende aller Fabeln“ (Explicit)

Mit der Fabel, zumal der äsopischen, nimmt sich Waldis einer der prominentesten Gattungen der Frühen Neuzeit an. Einem Autor des 16. Jahrhunderts bietet sich ein Nebeneinander verschiedener Traditionen der deutschen (Ulrich Boner) sowie lateinischen (Joachim Camerarius) und griechischen Fabel (Rinuccio da Castiglione) an, die mitunter mehr als einmal ins Deutsche übersetzt wurden. Neben Fabelsammlungen aus dem Spätmittelalter haben solche aus der Inkunabelzeit (Heinrich Steinhöwel), die in der Tradition der lateinischen Romulusfabeln stehen, auf dem Buchmarkt in zahlreichen, häufig bearbeiteten und vermehrten Ausgaben (Sebastian Brant) Bestand. Autoren, die die Fabel von Jugend an aus dem Lateinunterricht in der Schule kennen, bedienen sich ihrer punktuell (Angelo Poliziano),888 bearbeiten sie in Monographien (Nathan Chyträus) oder in Sammelprojekten (Aesopus Dorpii). Sie funktionalisieren die äsopische Fabel für die Unterweisung im Privaten (Erasmus Alberus), in der geselligen Gesprächsrunde (Martin Luther), in der Schule und der akademischen Rede (Philipp Melanchthon) oder in der Predigt (Thomas Münzer).889 Nahezu unüberschaubar ist erstens die Vielzahl an Fabelbearbeitungen in Erzählsammlungen, welche neben schwankhaften Texten auch Fabelstoffe wiedergeben (Michael Lindner, Martin Montanus),890 in Sprichwortsammlungen (Johannes Agricola, Sebastian Franck, Eucharius Eyering), auf Flugblättern (Hans Sachs) und in Flugschriften (Burkard Waldis) und zweitens der Gebrauch der Fabel als nicht-selbstständiges Element in Erzähltexten und in der sog. Gebrauchsliteratur, wie Reden und Predigten (Johannes Mathesius).891 Für die Zeitgenossen von Waldis muss eine Faszination von dieser Gattung ausgegangen sein, die heutzutage nur noch schwer nach-

888 Er verarbeitet in einer Art Antrittsvorlesung mit dem Titel Lamia die Fabel von der Eule und den anderen Vögeln, die bei Waldis als II 27 Von der Ewelen vnd andern Vgeln über den Auszug Fabella ex Lamia Politiani desumpta aus dem Aesopus Dorpii Eingang gefunden hat, siehe Angelo Poliziano’s Lamia. Text, Translation, and Introductory Studies. Hg. von Christopher S. Celenza. Leiden, Boston 2010, S. 191–254. 889 Siehe Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel, S. 53. 890 Zur Rezeption von esopischen Fabeln in den Schwankbüchern siehe Michael Lindener: Schwankbücher: Rastbüchlein und Katzipori, 2 Bde. Hg. von Kyra Heidemann. Bern u. a. 1991 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache 20). Bd. 2, Register; sowie Martin Montanus: Schwankbücher (1557–1566). Hg. von Johannes Bolte. Tübingen 1899 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 217), S. XIVf. 891 Grundzüge einer Geschichte der Fabel in der Frühen Neuzeit, so der Titel des zweiten Bandes, bietet Elschenbroich: Deutsche und lateinische Fabel.  

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zuvollziehen ist. Es zeichnet die äsopische Fabel aus, dass die äsopischen Stoffe als das schon Bekannte, das immer Gleiche, doch immer wieder aufgegriffen und stark variiert werden – sei es beim Medienwechsel etwa zum Flugblatt, beim Gattungswechsel etwa zum Sprichwort oder als Teil von Dramen,892 im Rahmen der Ausgestaltung (Vers vs. Prosa, kurz vs. lang) oder der Umdeutung, etwa zur politischen Fabelallegorie. Da die Fabel als unterhaltsam und lehrhaft gilt, passt sie, wie Sprichwort oder Predigt, in die Vorlieben des zeitgenössischen literarischen Marktes. Dessen Interessen sind u. a. stark von Luthers Bibelübersetzung geprägt. Diese „hat in der Volkssprache die Bevorzugung bestimmter Gattungen zur Folge: Es dominieren religiös oder moralisch-didaktisch instrumentalisierbare Texte wie die Bibeldichtung, das Schuldrama, die Fabel, das Exempel und die Exempelsammlung, das religiöse Lied u.ä.“.893 Fabeln genießen das Ansehen von zeitgenössischen Gelehrten ebenso wie sie sich an ein volkssprachliches Publikum jeglichen Alters und jeglichen Bildungsstandes richten. Mit seinem Anspruch, eine äsopische Fabelsammlung für „die zarten keuschen ohren der lieben Jugent“ (Vorrede, Z. 32) zu schreiben, löst Waldis die Forderung nach einer gesäuberten Ausgabe äsopischer Fabeln ein, die Luther in seiner Vorrede formuliert hatte. Explizit schließt Waldis auf dem Titelblatt, der Vorrede und im Leben Esopi an die Gattung der äsopischen Fabel und an Äsop an. Im Vergleich mit früheren und zeitgenössischen Fabelsammlungen zeigt sich, dass der Gattungsanschluss und die Anbindung an und die Darstellung von Äsop als Fabelübersetzer, -erzähler, -schöpfer, -deuter stark variiert und vom einzelnen Autor zur Selbstdarstellung nach Belieben gestaltet werden kann. Der Esopus erweist sich hinsichtlich der Anbindung an Äsop als gegensätzlich zum deutschsprachigen Fabelbestseller des 16. Jahrhunderts, der Fabelsammlung von Steinhöwel. Statt sich wie dieser auf die Autorität Äsops zu stützen oder diese sogar zu stärken, bietet im Esopus schon die titelillustrierende Narrendarstellung, die auf eine Psalmillustration zurückgeht, einem Betrachter des Titelblattes mehrere Anknüpfungsmöglichkeiten für verschiedene Deutungen. Statt in den Fabeltexten dem antiken Weisen das Erzählen und Deuten zu überlassen, meldet sich ein mehrfach funktionalisiertes Sprecher-Ich zu Wort. Im Esopus sind nicht nur Fabeln versammelt, die dem humanistischen Ideal von Kürze und Prägnanz entsprechen. Zusätzlich nutzt Waldis Möglichkeiten inhaltlicher und formaler Erweiterung und Varianz, die die Fabel der Frühen Neuzeit erlaubt, die gattungstheoretisch noch nicht so strikt  

892 Der „Zürcher Glasmaler und Dichter Christoph Murer lässt die Figuren in seinem (ungedruckten) Drama Edessa (um 1611) mehrere Waldis-Fabeln als Exempla anführen“ (Esopus. Bd. 2, S. 23). 893 Müller: Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung, S. 21.

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festgelegt ist wie etwa die Fabel von Lessing. Deutlich formuliert schon der Titel Esopus/ Gantz New gemacht/ vnd in Reimen gefaßt. Mit sampt Hundert Newer Fabeln/ vormals im Druck nicht gesehen/ noch außgangen den Anspruch, neugemachte Fabeln und neue Fabeln zu bieten. Dieses Angebot an Neuem lässt sich zwar auch als werbewirksame Maßnahme auf die boomende Fabelliteratur und die Gegebenheiten des Buchmarkts um 1550 zurückführen, der beständig das Neue anpreist: „Wichtigster Antrieb des kapitalistischen Buchmarkts ist die Innovation. Er reagiert auf neue Interessen und Bedürfnisse, schafft sie aber auch selbst“.894 Das ‚Neu machen‘ der äsopischen Fabeln lässt sich aber auch auf mehreren Ebenen in der Sammlung beobachten, die über potenzielle werbewirksame Maßnahmen hinausgehen. Bei den Fabelerzählungen, besonders der ‚neuen Fabeln‘ im vierten Buch, schafft Waldis neue Erzählungen mit äsopischen Figuren und bearbeitet zeitgenössische Kurzerzählungen, die eine unabgestimmte Vielfalt an Figuren sowie Themen, wie etwa den Ehebruch oder die typisch reformatorische Verurteilung der Papstkirche einbringen und welche die Konventionen der äsopischen Tiergeschichten erweitern. Es ist schon in den ersten Rezeptionszeugnissen der esopischen Fabeln im 18. Jahrhundert mit Verwunderung festgehalten worden, dass sich unter den Fabeln auch derbe, zotige Erzählungen befinden.895 Durch die Aufnahme schwankhafter Stoffe rückt Waldis die esopische Fabel mitunter inhaltlich in die Nähe des Märes, der Novelle und der schwankhaften Kurzerzählungen, die in zahlreichen zeitgenössischen Erzählsammlungen kursieren. Mag in der Fabelerzählung dadurch der Unterhaltungswert in den Vordergrund rücken, so bewirkt die stete Beigabe der Affabulatio, dass die formale Ähnlichkeit und die Funktion der äsopischen Fabel, die Lehre, erhalten bleiben. Hierbei gilt es zu bedenken, dass in frühneuzeitlichen Erzählsammlungen bei Kurzerzählungen in der Praxis nicht trennscharf zwischen lehrhaft und unterhaltsam unterschieden wurde896

894 Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Marina Münkler, Werner Röcke. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte von der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 463–506, hier S. 463. 895 So hält Zachariä in seinem Vorwort fest: „Die zarten keuschen Ohren der lieben Jugend mßen dazumal anders beschaffen gewesen seyn; itzo knnte ihnen eine ziemliche Anzahl von seinen Erzehlungen nicht wohl vorgelegt werden“ (Zachariä: Fabeln, S. LII). 896 Beispielhaft sei auf Johannes Paulis Schimpf und Ernst (1522) hingewiesen: „Bereits in den noch von Pauli selbst verantworteten ersten Ausgaben von ‚Schimpf und Ernst‘ wird die geistlichhomiletische Funktion durch derlei Schwankerzählungen verwischt. In den späteren Ausgaben und Erweiterungen, insbesondere in den ab 1550 unter dem Titel ‚Schertz mit der Warheyt‘ erschienenen, tritt sie ganz zurück, und der Text gleicht sich immer mehr den Fazetien- und Schwanksammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts an, aus denen die moralisch-lehrhafte ‚Ernst-

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und sich Autoren auch des lehrhaften Potenzials vorrangig unterhaltsamer Texte zu bedienen wussten.897 Berücksichtigt man die Vorreden anderer Werke von Waldis, so zeigt sich, dass der Geltungsanspruch des ‚Neuen‘ nicht singulär ist. Er begegnet in den meisten Vorreden, wird aber auf unterschiedliche Bereiche bezogen. Er umfasst die literarische Tätigkeit, etwa das Zu-Ende-Bringen der Erzählung und die Erneuerung der Sprache wie im Ritterroman Tewerdanck und lässt sich dabei auf ausgeprägtes Sprachbewusstsein zurückführen. Das ‚Neue‘ ist ein Signalwort bei der Wahrnehmung von Umbrüchen, wenn im Ppstisch Reych von der neuen, reformierten Jugend gesprochen wird. Mit dem ‚Neuen‘ im Gegensatz zum ‚Alten‘ ist zugleich ein zeitgenössischer Diskurs aufgenommen, der die Bewertung der Welt zum Gegenstand hat. Im Esopus zeigt sich dabei ein ausgeprägtes Jetzt-Zeit-Bewusstsein. Behandelt werden in Abgrenzung zu Vergangenem und, mal positiv, mal negativ bewertet, verschiedene Themenbereiche, wie das soziale Miteinander, der Umgang mit der Obrigkeit, die Geltung christlicher Normen oder die Bedeutung von Handel und Kaufmannschaft. Die Erzählung, dass eine Schnecke, die des Kriechens überdrüssig ist, einen Adler überredet, sie auf einen Flug mitzunehmen und bei ausstehender Belohnung des Adlers von diesem zerschmettert wird (I 87), mag, literal gelesen, unterhaltend sein, weicht aber deutlich von der textexternen Welt des Autors oder des Lesers ab. In den Affabulationes der Fabeln wird das in der Narratio in Form einer Erzählung behandelte Thema auf Zustände in der Gegenwart und Verhaltensweisen der Menschen übertragen. Dieser Fabelteil nimmt explizit Bezug auf soziale, gesellschaftliche, religiöse und politische Normen und Werte. Nicht die Lehrhaftigkeit der Fabelerzählung, die für so manche Fabel nicht oder nur mit Zwang gefunden werden kann, sondern die ausgestellte Übertragung der Erzählung in die Gegenwart des Lesers im Deutungsprozess zeichnet die Fabel aus. Dies ist keine neue Erkenntnis. Ein solcher Nutzen der Fabel wird in den Vorreden zeitgenössischer Fabelsammlungen, wie bei Luther, verbalisiert. Denn um von eusserlichem Leben in der Welt zu reden, wsste ich ausser der heiligen Schrifft nicht viel Bcher, die diesem uberlegen sein sollten, so man Nutz, Kunst und Weisheit und nicht

Heiterkeit‘ nahezu ausnahmslos verschwunden ist“ (Röcke: Fiktionale Literatur, S. 477). Vgl. auch den scheiternden Versuch einer trennscharfen Differenzierung in der peritextuellen Ausstattung, wie er von Waltenberger und von Ammon in von Ammon, Waltenberger: Wimmeln und Wuchern, besonders S. 276–286, als „Erfahrung des Ordnungsverlustes“ (ebd., S. 280) und als „Pluralisierungs-Phänomen“ (ebd., S. 281) herausgearbeitet worden ist. 897 Vgl. etwa für die Predigt in der Frühen Neuzeit die Arbeit von Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes. Berlin 1964.

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hochbedechtig Geschrey wolt ansehen. Denn man darin unter schlechten Worten und einfeltigen Fabeln die allerfeineste Lere, Warnung und Unterricht findet (wer sie zu brauchen weis), wie man sich im Haushalten, in und gegen der Oberkeit und Unterthanen schicken sol, auff das man klüglich und friedlich unter den bösen Leuten in der falschen, argen Welt leben müge.898

Den Weltbezug der Fabel schätzt auch Schwitzgebel als ein „charakteristisches Motiv der Gattung“ ein. Die Fabel hält der Welt „einen Spiegel vor“.899 Aufgrund dieser Leistung aber wird die Fabel zum Textzeugnis zeitgenössischer Weltwahrnehmung. Die Grundannahmen über die Welt, für die Waldis seine Fabeln schreibt und die er auch für seine zeitgenössischen Leser als gegeben sieht, lassen sich aus diesem Fabelteil herauslesen. Im Esopus ist dies eine Welt, in welcher Bestandteile des mittelalterlichen Weltbildes, wie die Ständegesellschaft, das Miteinander von Mann und Frau in der Ehe und die Erwartung des Jüngsten Gerichts, gelten. Zugleich ist diese von Kontingenzerfahrung und der Wahrnehmung religiöser, gesellschaftlicher wie politischer Umbrüche geprägt. Die Darstellung der personifizierten Frau Welt am Ende der Sammlung in IV 100 ist ein anschauliches Beispiel, wie Waldis tradierte Inhalte und Sprachbilder bearbeitet. In aller Deutlichkeit wird ausführlich die Vergänglichkeit der irdischen Schönheit und Gesundheit vor Augen geführt. Die Welt ist vom Leben gezeichnet, sie ist nicht nur alt geworden, sie ist hässlich, körperlich wie geistig krank und verfallen. Waldis greift damit auf ein schon im Mittelalter verbreitetes Bild zurück, um über die Gegenwart zu sprechen. Er gibt aber die mittelalterliche Gleichzeitigkeit einer auf der Vorderseite schönen, auf der Rückseite von Tieren angefressenen Frau Welt auf. Die esopische Frau Welt muss nicht mehr gedreht werden, damit man ihre Hässlichkeit erkennt. Zugleich ist eine gealterte Personifikation höchst ungewöhnlich. Eine Personifikation mag in ihrem Aussehen oder in den sie begleitenden Attributen von Epoche zu Epoche oder von Region zu Region variieren, so kann Fortuna mit einem Rad als Attribut auftreten, aber auch auf einem Ball die Balance halten. Eine Personifikation hat jedoch keine Geschichte in dem Sinne, dass sie eine Biographie hätte. Genau dies schreibt Waldis aber der esopischen Frau Welt zu, wenn er deren durch das Alter verursachte Krankheit und Wahnsinn an ihrem Lebensende schildert. Um sich in einer solchen Welt zurechtzufinden, schreibt Waldis Fabeln, die quantitativ wie qualitativ weit über die traditionelle ‚einfache Form‘ mit dem ‚fabula docet‘ hinausgehen.

898 Luther: Etliche Fabeln, Vorrede, S. 452. 899 Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 64.

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Er bearbeitet nicht einfach nur eine äsopische Fabelsammlung, er schafft ein ‚esopisches‘ Erzählwerk. ‚Esopisch‘ umfasst die Beschreibung einer Erzählwelt, in der die Figuren neben den äsopischen Fabelfiguren, den sprechenden Tieren und heidnischen Gottheiten wie Venus, Ceres, Juno und Jupiter aus einem ausdifferenzierten Figurenarsenal mit Klerikern, Bauern, städtischem Bürgertum und Adel bestehen, welches die Stadt- und Landbevölkerung des 16. Jahrhunderts widerspiegelt. Die Fabelwelt im Esopus nähert sich damit der Welt des lesenden Rezipienten an, gleicht ihr teilweise, bleibt aber doch stets virtuell, also nicht wirklich. Die zeitlichen Situierungen der esopischen Fabeln sind ein Merkmal, anhand dessen sich dies nachzeichnen lässt. So bilden neben den vielen zeitlosen Erzählungen und Erzählungen mit Jahreszeiten, die schon Bestandteil äsopischer Fabeln sind, auch das Kirchenjahr, historische Ereignisse und die Lebenszeit des Sprecher-Ichs den zeitlichen Horizont der Fabelerzählungen im Esopus. Geradezu ausgestellt wird in IV 96 aber die Virtualität dieser Welt. Das darin erzählte Ereignis findet „KVrtz vor der Schpffung aller ding | Vnd eh die Welt zum erst anfieng“ statt (IV 96,1 f.). ‚Esopisch‘ meint ebenso die oben mit der im Sterben liegenden und wahnsinnigen Frau Welt schon angesprochene Weltwahrnehmung. Im Esopus zeigt sich der Anspruch, zeitgenössische Ereignisse, Zustände, Begebenheiten, Normen und Werte abzubilden und auf diese zu reagieren, es bleibt aber eine mögliche Wahrnehmung und bildet nicht einen einzig wahrnehmbaren Ist-Zustand ab. Aufgrund des Merkmals der Fabel, neben einer fiktiven Geschichte auch stets eine Deutung der Erzählung mit Wirklichkeitsbezug zu bieten, beschreibt der esopische Schreibstil nicht nur einen spezifischen Erzähl-, sondern auch einen Argumentationsstil. Neben der Autonomisierung des Erzählteils greift Waldis im zweiten Teil der Fabel, der Affabulatio, auf zahlreiche verschiedene, ursprünglich fabelfremde Elemente zurück. Diese dienen teilweise auch in zeitgenössischen Fabeln und anderen epischen Kurzformen der Sinnexplikation oder -konstituierung. Die Menge und Vielfalt an Sprichwörtern, Zitaten aus und Anspielungen auf antike und zeitgenössische Werke, Bibelstellen, Erfahrung, Exempel und Erzählungen, Reden eines Sprecher-Ichs und von Figuren sowie der Vernetzung einzelner Fabeln durch intratextuelle Verweise unterscheidet den Esopus von allen anderen bisherigen und zeitgenössischen deutschsprachigen Fabelsammlungen. Die Vielgestaltigkeit der Affabulationes ergibt sich aus den verschiedenen Verfahren, mit denen die Elemente wirksam werden. Auf Vorlagen greift Waldis beim ‚Übersetzen‘ und ‚Nachdichten‘ bzw. ‚Umformen‘ zurück. Das einfache ‚fabula docet‘ der klassischen Fabel wird erweitert, indem einerseits ursprünglich fabelfremde Elemente aufgenommen, erweitert und akkumuliert werden. Fabelerzählungen werden nicht nur in einem Lehrsatz in einer Regel verallgemeinert, sondern mehrfach gedeutet. Sei es, dass auf eine gesamte Narratio in der Affabulatio  

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mehrere eigenständige Deutungen folgen oder dass in der Affabulatio partikular mehrfach auf Einzelbestandteile der Narratio zugegriffen wird. Indem Waldis sich einer Erzählform annimmt, die traditionell der Normvermittlung und Handlungsanweisung dient und diesen Gattungsanschluss in den Peritexten und vereinzelt in den Fabeltexten auch hervorhebt, übernimmt er auch diese konventionelle Wirkungsabsicht für seine Fabelsammlung.900 Die traditionelle ‚einfache Form‘ reicht ihm aber hierzu nicht. Typisch für die deutschsprachige Literatur des 16. Jahrhunderts, lässt sich auch im Esopus beobachten, wie tradierte Muster brüchig werden, wie sie neue Elemente aufnehmen, ohne sie schon integrieren zu können, wie sie sich gegen ihre eigenen Voraussetzungen kehren, aber auch umgekehrt, wie kühne Neuansätze stecken bleiben, wie man sich um Kompromisse zwischen heterogenen Normen bemüht, wie Konflikte prozessiert werden und wie auf diese Weise hybride Formen entstehen.901

Die im Esopus versammelten Fabeln sind auf den verschiedensten Ebenen nicht homogen, sondern heterogen und vielfältig. ‚Fabel‘ fasst nicht mehr nur die klassischen äsopischen Fabelstoffe, die weder wirklich geschehen noch möglich sind, sondern auch Geschichten, die nicht unbedingt wirklich geschehen sind, aber doch möglich sind (wie etwa die Ehebruchsgeschichten) und solche, die – dafür bürgen historische Situierungen oder das Sprecher-Ich – ausdrücklich als wirklich geschehen wahrgenommen werden sollen. In den Fabelerzählungen agiert neben den sprechenden Tieren, Pflanzen und Gegenständen rein menschliches Personal. Damit einher geht ein Nebeneinander unterschiedlicher Erzählkonzepte. Während der Fuchs am Ende einer Fabel stirbt (I 36; II 21) und in einer

900 Wolfgang Stammler nennt die Lehre als Ziel des Esopus: „Politische und konfessionelle Anspielungen fehlen bei dem überzeugten Lutheraner natürlich nicht; aber in erster Linie will auch er sittlich sein Volk erziehen und zu höheren Anschauungen bringen. Dabei ist er stark von der antiken Weisheit beeindruckt, humanistisch-weltbürgerliche Ansichten liegen ihm fern, aber er weiß sie mit deutscher Gesinnung zu vereinen“ (Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock 1400–1600. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 1950, S. 226). 901 So Müller: Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung, S. 28, der dies als Leistung der Sozialgeschichte von Marina Münkler, Werner Röcke: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte von der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1) benennt. Nimmt man traditionelle Erzählmuster als Norm, irritieren die Resultate eines solchen Erzählens: „Durch die Agglomeration von Heterogenem und Disparatem, durch die ‚Verwilderung‘ konventioneller Strukturmuster des Erzählens stellen sich nicht selten Inkohärenzen ein, die zuweilen bis zur Auflösung textueller Ordnungen gehen“ (Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider: Einleitung. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider. Berlin, New York 2011 [Frühe Neuzeit 136], S. 4).

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anderen Erzählung wieder quicklebendig ist (II 40; III 12; III 27; III 41; III 58 u. ö.), kann vom Sterben des Landsknechtes, der sich selbst „den schwartzen Trck“ (IV 6,13) nennt und in Offenburg geboren wurde, nur einmal erzählt werden. Neben heidnischen Göttern der Antike wie Juno und Jupiter und ihren Anhängern sind die von reformatorischer Seite abgelehnte Heiligenverehrung und Ordensgemeinschaften wie die Franziskaner in der Sammlung präsent. Auch die Figurenbewertung ist nicht eindeutig, so werden die Franziskaner in den meisten Fällen negativ beurteilt (III 100; IV 69), der Franziskaner in IV 21 verhält sich hingegen vorbildhaft. Der Fuchs wird einerseits positiv (IV 49), andererseits negativ bewertet (IV 9). Auch inhaltlich decken sich in der Gesamtschau die in den Fabeln getroffenen Aussagen nicht immer, ergeben kein stimmiges Gesamtbild oder zeigen Widerständigkeiten und Brüche auf. Einerseits wird aufgerufen, die Obrigkeit wertzuschätzen (I 17) und ihr zu vertrauen (I 40),902 andererseits ist tyrannische und despotische Herrschaft ein Thema (IV 52; IV 96; IV 100) und wird dazu aufgefordert, ein tyrannisches Verhalten zu ahnden.903 Christliche Normen gelten als Grundlage für das eigene Verhalten (I 7), eines der allgegenwärtigen Merkmale der Gegenwart ist aber die Undankbarkeit der Mitmenschen (I 7; I 22; I 40). Ein Diener hat seinem Herrn stets zu gehorchen (I 14), Dienstherren können sich aber auch durch Untreue auszeichnen (I 58).904 In manchen Fabeln wird die Erziehung betont (III 39; IV 85), in anderen die natürliche Unveränderlichkeit der Art (IV 93). In der letzten Affabulatio wird ausgesprochen, was die Welt verbessern würde – „Wenn Eygennutz/ vnd selb genieß | Vertrieben weren auß der Welt“ (IV 100,110 f.) –, dies aber als reale Möglichkeit klar ausgeschlossen, denn die Welt „ist durch Eygennutz verdorben | Jst lebend todt/ vnd halb gestorben“ (IV 100,157 f.). Solche Widersprüche oder Widerstände zeigen sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits wird die Heiligenverehrung strikt abgelehnt (II 50), andererseits bilden Heiligentage eine unhinterfragte zeitliche Situierung (I 16; I 84). Einerseits wird wiederholt die Kauf 





902 „Die Fabel zeigt vns auch der massen | Das Oberkeit vnd Vndersassen | Einander solln sein eingeleibt | Als was die Oberkeit betreibt | Mit kriegen oder Rathes mute | Das es komm der gemein zu gute | Mit rath vnd that sie stetes schutzen | Als zu frommen vnd jrem nutzen/ | Dagegen soll auch die gemein | Willig vnd vnuerdrossen sein | Was Oberkeit an sie begert | Das sie desselben sey gewert | Es sey am gschoß/ stewr oder Zoll | Als vngewegert geben soll“ (I 40,51–64). 903 „Die Fabel lert/ das wir den sllen | Die der vnschuldt bßlich nachstellen | Vnd sich an Tyranney thun preisen | Jm rechten keine gnad beweisen“ (II 34,17–20). 904 Dagegen man auch teglich heut | Findt gar viel vngeschickter leut | Die jhrer diener trewen rath | Jren fleiß vnd alle wolthat | Mit Tyranney/ abgunst/ vnd schelten | Jn allem bsen widergelten | Stellen dem offt nach Leib vnd Gut | Der jn all trew von hertzen thut“ (I 58,31–38).

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mannschaft negativ bewertet (I 4; IV 49), andererseits ist das Sprecher-Ich, das diese Kritik formuliert, selbst als Kaufmann unterwegs (IV 13). Unabgestimmte Vielfalt zeigt sich auch in den Affabulationes der esopischen Fabeln, die nicht mehr nur, wie bei der klassischen äsopischen Fabel aus je einem Lehrsatz bestehen. Die Akkumulierung in der Affabulatio, sei es, dass ein Element erweitert wird oder dass mehrere Elemente aneinandergereiht werden, schafft Möglichkeiten von Deutung, in denen die Autorität der äsopischen Fabel nur mehr eine Option ist. Diese Autorität kann durch ursprünglich fabelfremde Elemente gestärkt werden, indem der Lehrsatz nach dem Muster der äsopischen Fabel mithilfe anderer Elemente bestätigt wird oder indem die Deutungen der Fabelerzählung in verschiedenen Situationen Geltung haben. Es können aber auch die neuen, ehemals fabelfremden Elemente und nicht mehr nur der Lehrsatz, wie in der traditionellen äsopischen Fabel, Geltung beanspruchen. ‚Esopisch‘ schreibt Waldis nun für einen mündigen Leser und dessen Privatlektüre, denn „was die Fabeln nutzes oder frchte bey sich haben/ [...] wird ein jeglicher fleißiger Leser selbst mit der zeit wol empfinden“ (Vorrede, Z. 25–28). Anders aber als etwa Lessings intendierter Rezipient, dem als aufgeklärter Leser zugetraut wird, den Sinn der Fabel selbst aus der Fabelerzählung ziehen zu können,905 bietet Waldis einem Leser mithilfe verschiedenster Elemente und Verfahren unterschiedliche Sinnangebote. Er führt in seinen Fabeln vor, wie Sinn aus der Erzählung extrahiert oder unabhängig von ihr gesetzt werden kann. Er zeigt auf, wie Sinn mithilfe verschiedenster Elemente aus fabelfremden Quellen der Erkenntnis und Lehre gestiftet sowie von außen an die Fabel herangetragen werden kann. Er verwirklichte dies in vierhundert Fabeln und schuf eine Fabelsammlung, die quantitativ wie qualitativ singulär geblieben ist. Es bleibt zu hoffen, dass dieses „Zeugnis lustvollen Wiedererzählens und selbstbewussten Neuerfindens“906 wieder mehr solche Leser findet, wie es Waldis sich bereits 1548 für seinen Esopus wünschte.

905 In der ersten Fabel Die Erscheinung im ersten Buch seiner Fabeln lässt Lessing einen idealen Leser sprechen, der vom Autor für seinen Einwand gelobt wird. Erzählt wird, wie der Autor an einem locus amoenus unter Anstrengungen vergeblich versucht, Fabeln zu verfassen, bis ihm „die fabelnde Muse“ erscheint und ihn anweist, nicht noch „das Gewürze [zu] würzen“. Als berichtet wird, wie die Muse verschwindet, mischt sich ein skeptischer Leser ein: „Ich wollte antworten, aber die Muse verschwand. „Sie verschwand?“ höre ich einen Leser fragen. „Wenn du uns doch nur wahrscheinlicher täuschen wolltest! Die seichten Schlüsse, auf die dein Unvermögen dich führte, der Muse in den Mund zu legen! Zwar ein gewöhnlicher Betrug –“ Vortrefflich, mein Leser! Mir ist keine Muse erschienen. Ich erzehlte eine bloße Fabel, aus der du selbst die Lehre gezogen“ (Lessing: Fabeln, S. 302). 906 Esopus. Bd. 2, S. 3.

6 Literaturverzeichnis 6.1 Historische Drucke und Editionen Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen. 2 Bde. Hg. von Sander L. Gilman. Berlin, New York 1971 (Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts). Erasmus Alberus: Die Fabeln. Die erweiterte Ausgabe von 1550 mit Kommentar sowie die Erstfassung von 1534. Hg. von Wolfgang Harms und Herfried Vögel in Verbindung mit Ludger Lieb. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 33). Die gantze Bibel der vrsprünglichē Ebraischen vnd Griechischen waarheyt nach/ auffs aller treüwlichest verteütschet. Zürich 1531. Exemplar in Zürich, Zentralbibliothek Zürich: Exemplar des Großmünsters Zürich. Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, 2 Bde. Hg. von Robert Weber OSB. 3., verbesserte Auflage besorgt von Bonifatius Fischer OSB zusammen mit H. I. Frede, Jean Gribomont OSB, H. F. D. Sparks und W. Thiele. Stuttgart 1983. Ulrich Boner: Der Edelstein. Faksimile der ersten Druckausgabe Bamberg 1461. Einleitung von Doris Fouquet. Stuttgart 1972. Ulrich Boner: Der Edelstein. Hg. von Franz Pfeiffer. Leipzig 1844 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 4). Sebastian Brant: Der Freidanck. Straßburg 1508. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: P. O. germ. 64r. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hg. von Manfred Lemmer. 3., erweiterte Auflage. Tübingen 1986 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 5). Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. I: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 1: Ethica. Physica. Hg. von Wolfgang Harms und Michael Schilling zusammen mit Barbara Bauer und Cornelia Kemp. Bd. II: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 2: Historica. Hg. von Wolfgang Harms zusammen mit Michael Schilling und Andreas Wang. Bd. III: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, Teil 3: Theologica. Quodlibetica. Bibliographie. Personen- und Sachregister. Hg. von Wolfgang Harms und Michael Schilling zusammen mit Albrecht Juergens und Waltraud Timmermann, Tübingen 1985–1989 [Bd. II, München 1980]. Esopus von Burkhard Waldis. 2 Bde. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Heinrich Kurz. Leipzig 1862 (Deutsche Bibliothek 1; 2). Esopus. Von Burchard Waldis. 2. Bde. Hg. von Julius Tittmann. Leipzig 1882 (Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 16; 17). Nachdruck Nendeln 1974. Eucharius Eyering: Proverbiorum Copia, Etlich viel Hundert Lateinischer und Teutscher schöner und lieblicher Sprichwörter. Mit einem Vorwort von Wolfgang Mieder, 3 Bde. Nachdruck der Ausgabe Eisleben 1601–1604. Hildesheim u. a. 2003. Fabularum quae hoc libro continentur interpretes, atque authores sunt hi. Guilielmus Goudanus. Hadrianus Barlandus. Erasmus Roterodamus. Aulus Gellius. Laurentius Valla. Angelus Politianus. Petrus Crinitus. Ioannes Antonius Campanus. Plinius s[e]cundus nouocomensis. Nicolaus Gerbelius Phorcensis. Laurentius Abstemius. Rimicius Iam denuo additus Aesopi uita ex Max. Planude excerpta, et aucta. [Hg. von Martinus Dorpius]. Straßburg 1522. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: A.gr.b. 222.  



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432

6 Literaturverzeichnis

Sebastian Franck: Chronica. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Ulm 1536. Darmstadt 1969. Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar [Leitung der Edition: Hans-Gert Roloff]. Bd. 11: Sprichwörter. Text Redaktion: Peter Klaus Knauer. Bern u. a. 1993. Hermann Gülfferich: BIBLIA VETERIS TESTAMENTI ET HISTOriæ, Artificiosis picturis effigiata. Biblische Historien Kuͤ nstlich Fuͤ rgemalet. Frankfurt 1551. Exemplar in Regensburg, Staatliche Bibliothek: 999/Hist.pol.1022 angeb.1. Juvenal: Satiren. Lateinisch – deutsch. Hg., übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz. München, Zürich 1993 (Sammlung Tusculum). Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungen verwandten Inhalts. In: Gotthold Ephraim Lessing Werke 1758–1759. Hg. von Gunter E. Grimm. Gotthold Ephraim Lessing Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 148), S. 295–411. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 73 Bde. [wechselnde Herausgeber]. Weimar 1883–2009. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. 2. Bde. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur. München 1972. Martin Luther: Etliche Fabeln aus Äsop. 1530. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Bd. 50. Weimar 1914, S. 432–460. Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. Düsseldorf, Zürich 2005 (Sammlung Tusculum). Johannes Posthius, Hartmann Schopper: AESOPI PHRYGIS FABULÆ, ELEGANTISSIMIS ICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes, Ioannis Posthij Germershemij Tetrastichis illustratæ. CUM PRAEATIONE ET ALIQUOT Epigrammatibus Hartmanni Schopperi Nouoforensis, Norici. Schoͤ ne vnnd kunstreiche Figuren vber alle Fabeln Esopi/ allen Studenten/ Malern/ Goldschmiden/ vnd Bildthauwern/ zu nutz vnd gutem mit fleiß gerissen durch Vergilium Solis/ so sein letzter Rissz gewest/ vnnd mit Teutschen Reimen kuͤ rtzlich erklaͤ ret/ dergleichen vormals in Truck nie außgangen/ Durch Hartman Schopper von Neuwmarck. Frankfurt a. M. 1566. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/A.gr.b. 198. Johannes Posthius, Hartmann Schopper: AESOPI PHRYGIS FABVLÆ, ELEGANTISSIMIS EICONIBVS VERAS ANIMAlium species ad viuum adumbrantes. HIS ACCESSERVNT IOANNIS POsthij Germershemij in singulas Fabulas Epigrammata. Frankfurt a. M. 1566. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/A.lat.b. 1075. Steinhöwels Äsop. Hg. von Hermann Österley. Tübingen 1873 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 117). Burkard Waldis: Das Paͤ pstisch Reych. In: Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. VI/6: Regnum Papisticum. Deutsche Fassung von 1555. Das Paͤ pstisch Reych von Burkhard Waldis. Berlin, Boston 2015 (Ausgaben des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Burkard Waldis: Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548. 2 Bde. Hg. von Ludger Lieb, Jan Mohr, Herfried Vögel. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 154). Burkard Waldis: Die Ehr vnd man̅liche Thaten/ Geschichten vnnd Gefehrlichaitenn des Streitbaren Ritters/ vnnd Edlen Helden Tewerdanck. Zuͦ Ehren dem Hochloblichen Hause zuͦ Osterreich/ vnd Burgundien/ [et]c. Zum Exempel aber vnnd Vorbilde allen fürstlichenn Bluͦ t vnnd Adels genossen Teutscher Nation. New zuͦ gericht/ Mit schoͤ nen Figuren vnnd lustigen Reimen volendet. Frankfurt a. M. 1553. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/2 P.o.germ. 27 m.  









6.2 Forschungsliteratur

433

Burkard Waldis: Der Psalter/ Jn Newe Gesangs weise/ vnd künstliche Reimen gebracht/ durch Burcardum Waldis. Mit jeder Psalmen besondern Melodien/ vnd kurtzen Sum̅ arien. Frankfurt a. M. 1553. Exemplar in München, Bayerische Staatsbibliothek: Res/B.metr. 261.  

6.2 Forschungsliteratur Frieder von Ammon, Michael Waltenberger: Wimmeln und Wuchern. Pluralisierungs-Phänomene in Johannes Paulis Schimpf und Ernst und Valentin Schumanns Nachtbüchlein. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der frühen Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2010 (Pluralisierung & Autorität 21), S. 273–301. Ulrike Bodemann: Der hochberuͤ mte fabeltichter Esopvs. In: Fabula docet. Illustrierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten. Ausstellung aus Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und aus der Sammlung Dr. Ulrich von Kritter. Hg. von Ulrike Bodemann. Braunschweig 1983 (Austellungskataloge der Herzog August Bibliothek 41), S. 88–104. Gerd Dicke: Exempel. In: RL. Bd. 1, S. 534–537. Gerd Dicke: Heinrich Steinhöwels ‚Esopus‘ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 103). Reinhard Dithmar: Die Fabel. Geschichte, Struktur, Didaktik. 7., völlig neu bearbeitete Auflage. Paderborn, München u. a. 1988 (Uni-Taschenbücher 73). Klaus Doderer: Fabeln. Formen, Figuren, Lehren. Zürich, Freiburg i. Br. 1970. Oliver Duntze: Verlagsbuchhandel und verbreitender Buchhandel von der Erfindung des Buchdrucks bis 1700. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd: 1: Theorie und Forschung. Hg. von Ursula Rautenberg. Berlin, New York 2010, S. 203–256. Adalbert Elschenbroich: Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Tübingen 1990. Josef Gassner: Über Zachariäs „Fabeln und Erzählungen in Burchard Waldisʼ Manier.“, 8. (34.) Jahresbericht des K. K. Staatsgymnasiums in Leoben 1905/1906. Leoben 1906, S. 3–40. Walter Gebhard: Zum Mißverhältnis zwischen der Fabel und ihrer Theorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 122–153. Christian Fürchtegott Gellert: Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln (1746). In: Christian Fürchtegott Gellert: Schriften zur Theorie und Geschichte der Fabel. Historischkritische Ausgabe bearbeitet von Siegfried Scheibe. Tübingen 1966 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 18), S. 125–148. Freiherr Eberhard Friedrich von Gemmingen: Schreiben uͤ ber Burckhard von Waldis. In: Poetische und Prosaische Stuͤ cke, von dem Freyherrn von G***. Neue, sehr vermehrte und verbesserte Auflage. Braunschweig 1769, S. 82–106. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch von Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M., New York 1989. Bodo Gotzkowsky: Die Buchholzschnitte Hans Brosamers in Werken Martin Luthers und anderen religiösen Drucken des 16. Jahrhunderts. Ein bibliographisches Verzeichnis ihrer Verwendung. Baden-Baden 2009 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 363). Angelika Groß: „La Folie“. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg 1990 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte).  



434

6 Literaturverzeichnis

Klaus Grubmüller: Fabel2. In: RL. Bd. 1, S. 555–558. Klaus Grubmüller: Freidank. In: Kleinstformen der Literatur. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 38–55. Klaus Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1990 (Fortuna vitrea 2), S. 58–76. Klaus Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel. Der Situationsbezug als Gattungsmerkmal. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hg. von Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 473–488. Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. München 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 56). Klaus Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert. In: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. Hg. von Peter Kesting. München 1975 (Medium Aevum Philologische Studien 31), S. 139–159. Regine Hilpert: Bild und Text in Heinrich Steinhöwels „Leben des Hochberümten Fabeldichters Esopi“. In: Der Äsop-Roman. Motivgeschichte und Erzählstruktur. Hg. von Niklas Holzberg. Unter Mitarbeit von Andreas Beschorner und Stefan Merkle. Tübingen 1992 (Classica Monacensia 6), S. 131–154. Karl Heinrich Jördens: Burkard Waldis. In: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Bd. 5. Hg. von Karl Heinrich Jördens. Leipzig 1810. Nachdruck Hildesheim, New York 1970, S. 186–194. Manfred Kästner: Die Icones Hans Holbeins des Jüngeren. Ein Beitrag zum graphischen Werk des Künstlers und zur Bibelillustration Ende des 15. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2 Bde. Heidelberg 1985. Erich Kleinschmidt: Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), S. 1–17. Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus. Wiesbaden 1966. Christian Ludwig Küster: Illustrierte Aesop-Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil I: Text. Teil II: Katalog und Abbildungen. Hamburg 1970. Ludger Lieb: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum ‚Esopus‘ des Burkard Waldis. Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Mikrokosmos 47). Hans Lindemann: Studien zu der Persönlichkeit von Burkard Waldis. Masch. Diss. Jena 1922. Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Auflage. München 2012. Werner Mezger: Narr. In: EM. Bd. 9, Sp. 1202–1210. Gustav Milchsack: Burkard Waldis. Nebst einem Anhange: Ein Lobspruch der alten Deutschen von Burkard Waldis. Halle, Saale 1881 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 30). Jan Mohr: Waldis, Burkart. In: EM. Bd. 14, Sp. 450–457. Jan Mohr, Ute Mennecke-Haustein: Waldis, Burkhard. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 12: Vo–Z. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin, Boston 2011, S. 94–96.  



435

6.2 Forschungsliteratur

Peter von Moos: Das argumentative Exemplum und die ‚wächserne Nase‘ der Autorität im Mittelalter. In: Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature. Hg. von Willem J. Aerts, Martin Gosman. Groningen 1988 (Mediaevalia Groningana 7), S. 55–77. Jan-Dirk Müller: Die Frühe Neuzeit in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Hg. von Marcel Lepper, Dirk Werle. Stuttgart 2011 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 1), S. 15–38. Jan-Dirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 121–144. Sabine Obermaier: Zum Verhältnis von Titelbild und Textprogramm in deutschsprachigen Fabelbüchern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Gutenberg-Jahrbuch 77 (2002), S. 63–75. Ernst Heinrich Rehermann, Ines Köhler-Zülch: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und Burkhard Waldis. In: Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. Hg. von Peter Hasubek. Berlin 1982, S. 27–42. Angelika Reich: Burkard Waldis. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Hg. von Stephan Füssel. Berlin 1993, S. 377–388. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51). John Lancaster Riordan: The Status of the Burkhard Waldis Studies. In: Modern Language Quarterly 2 (1941), S. 279–292. Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Marina Münkler, Werner Röcke. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte von der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 463–506. Franz Sandvoss: Sprichwörterlese aus Burkhard Waldis mit einem Anhange: zur Kritik des Kurzischen B. Waldis und einem Verzeichniss von Melanchthon gebrauchter Sprichwörter. Friedland (Mecklenburg) 1866. Michael Schilling: Macht und Ohnmacht der Sprache. Die Vita Esopi als Anleitung zum Gebrauch der Fabel bei Steinhöwel. In: Europäische Fabeln des 18. Jahrhunderts zwischen Pragmatik und Autonomisierung. Traditionen, Formen, Perspektiven. Hg. von Dirk Rose. Bucha bei Jena 2010 (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 26), S. 39–54. Kattrin Schlecht: Fabula in situ. Äsopische Fabelstoffe in Text, Bild und Gespräch. Berlin u. a. 2014 (Scrinium Friburgense 37). Imke Schmidt: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich-Han Weigand Han-Erben. Eine literaturhistorische und buchgeschichtliche Untersuchung zum Buchdruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 26). Klaus Speckenbach: Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 178–229. James Strachan: Early Bible Illustrations. A short study based on some fifteenth and early sixteenth century printed texts. Cambridge 1957. Paul Thoen: Aesopus Dorpii. Essai sur l’Esope latin des temps modernes. In: Humanistica Lovaniensia 19 (1970), S. 241–320.  

436

6 Literaturverzeichnis

Bernhard Töpfer: Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie. Stuttgart 1999 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45). Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. 5., aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011. Herfried Vögel: „mit jrer kurtzen deutung hinan gesatzt“. Fabelhafte Schwänke im Esopus des Burkard Waldis. In: Ordentliche Unordnung. Metamorphosen des Schwanks vom Mittelalter bis zur Moderne. Festschrift für Michael Schilling. Hg. von Bernhard Jahn, Dirk Rose, Thorsten Unger. Heidelberg 2014, S. 131–147. Herfried Vögel: Erasmus Alberus in Magdeburg. In: Literatur in der Stadt. Magdeburg in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Michael Schilling. Heidelberg 2012, S. 147–171. Herfried Vögel: Natur, Gesellschaft, Moral und die Ambivalenz der Sprache in Fabeln des Erasmus Alberus. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Wolfgang Harms u. a. Stuttgart 2003, S. 207–223. Marion Wagner: Der sagenhafte Gattungsstifter im Bild. Formen figurierter Autorschaft in illustrierten äsopischen Fabelsammlungen des 15. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 37 (2004), S. 386–433. Walter Wienert: Die Typen der griechisch-römischen Fabel. Mit einer Einleitung über das Wesen der Fabel. Helsinki 1925 (FF Communications 56). Friedrich Wilhelm Zachariä: Fabeln und Erzaͤ hlungen in Burkard Waldis Manier. Neue Ausgabe mit einem Anhange von ausgewaͤ hlten Original=Fabeln des Waldis, und dazu noͤ thigen Spracherklaͤ rungen begleitet von Johann Joachim Eschenburg. Hg. von Johann Joachim Eschenburg. Karlsruhe 1782.  

6.3 Nachschlagewerke Adelung Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 4 Bde. Zweite vermehrte und verbesserte Ausgabe. Mit einer Einführung und Bibliographie von Helmut Henne. Leipzig 1793–1801. ATU Hans-Jörg Uther: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson. 3 Bde. Helsinki 2004 (FF Communications 284–286). DG Gerd Dicke, Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60). DWB Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. [wechselnde Bearbeiter]. Leipzig 1854–1960, Quellenverzeichnis, Stuttgart 1971, Nachdruck in 32 Bänden und Quellenverzeichnis [Bd. 33]. München 1984. EM Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. 14 Bde. Hg. von Kurt Ranke, ab Bd. 6 (1990) mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin, New York 1977–2014.

437

6.3 Nachschlagewerke

LexMA Lexikon des Mittelalters. 9 Bde [wechselnde Herausgeber]. München, Zürich 1980–1998. RL Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und JanDirk Müller, hg. von Klaus Weimar. Bd. 2, gemeinsam mit Georg Braungart u. a., hg. von Harald Fricke. Bd. 3, gemeinsam mit Georg Braungart u. a., hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997–2003. Röhrich Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1991–1992. TPMA Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, 13 Bde., Quellenverzeichnis. Begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin, New York 1995–2002. VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 13 Bde. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hg. von Kurt Ruh, zusammen mit Gundolf Keil u. a. Berlin, New York 1978–2007. VL 16 Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. 6 Bde. Berlin, Boston 2011–2017. Walther Proverbia sententiaeque Latinitatis Medii Aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung. Gesammelt und hg. von Hans Walther. 6 Bde. Göttingen 1963–1969 (Carmina Medii Aevi posterioris Latina II 1–6).  







7 Register 7.1 Autoren, historische Personen, Werke Abstemius, Laurentius 23 f., 211–214, 233 f., 313 Aesopus Dorpii 22–26, 89, 90, 179, 198, 209–214, 233 f., 277, 313, 409 Agricola, Johannes 267, 303–306 Alberus, Erasmus 6, 33, 277 Anonymus Neveleti 129–131, 286 Äsop (s. Begriffe, Motive, Sachen: Lebensbeschreibung Äsops) Avianus 131 f.  







Barlandus, Hadrianus 23, 25, 30, 139, 211, 267, 277 Bassé, Nikolaus 151, 176 Boner, Ulrich 18, 21, 27 f., 65, 88, 90, 116, 151, 286 f., 301 Brant, Sebastian 121, 154–156, 158, 164 f., 230

Leo X. (Papst) 11, 233 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 254, 272, 295, 424, 430 Luther, Martin 6, 134–138, 142, 154, 170 f., 232, 319, 337, 383  

Maximilian I. 44, 100 f., 105, 219, 221  

Naogeorg, Thomas (s. Päpstisch Reych [Waldis]) Narrenschiff (s. Brant, Sebastian) Ovidius, Publius Naso 32 f., 249 f., 261 f., 269, 309 f., 316  













Päpstisch Reych (Waldis) 95–97, 214–217, 317 Poggio Bracciolini 132, 212 f., 399 Posthius, Johannes 172 f., 175 f. Psalter (Waldis) 217–219  



Campeggio, Lorenzo 46, 194, 197, 203, 221, 237, 283 Cicero, Marcus Tullius 310, 318 Dorpius, Martinus (s. Aesopus Dorpii) Eyering, Eucharius 37, 304 f.  

Forster, Georg 335 f. Franck, Sebastian 301, 303–305, 413, 416, 418–421 Freidank 179, 230  



Quintilianus, Marcus Fabius 64, 135 Rab d.Ä., Georg 149 f., 171 f. Regnum Papisticum (s. Päpstisch Reych [Waldis]) Romulus 18, 27, 117, 129–131, 133, 138, 309 Rotterdam, Erasmus von 267, 277  



Schopper, Hartmann (s. Posthius, Johannes) Solis, Virgil 172 f. Steinhöwel, Heinrich 18, 26 f., 42, 66, 86, 90, 118–134, 138, 140, 145–148, 172, 175, 178f, 212 f., 272, 277, 309, 319, 420  



Gellert, Christian Fürchtegott 11 f., 275, 277 Goudanus, Guilielmus Hermannus 23, 25, 30, 139, 277, 409 Gülfferich, Hermann 149 f., 165–167  



Han, Weigand 149 f., 166, 171 f., 175 f. Herder, Johann Gottfried 12, 301 Holbein, Hans 161–163 Horatius, Quintus Flacus 316 f., 349  







https://doi.org/10.1515/9783110613155-008



Tewerdanck (Waldis) 10, 217–220 Waldis, Burkard 7–16, 85, 134, 182–189, 196– 198, 215–220, 232, 285, 289, 424

439

7.2 Begriffe, Motive, Sachen

7.2 Begriffe, Motive, Sachen Ablass 45 f., 107 f., 232–235, 240 f. Affabulatio 1, 4, 280–283, 289–296, 370–396 Akteur (s. Figur) Anekdote 40, 56 f., 181, 237, 254, 353, 403– 405 Autor 115–117, 142, 179, 182–189, 289 Autorität 127, 130, 135–140, 154, 189, 193, 198, 247, 251, 287, 310, 312, 314, 323 f., 349, 354 f., 386, 388, 398, 400, 430  











Fazetie 56 f., 94 f., 132, 146, 203 f., 212–214 Figur 24, 28 f., 34 f., 42, 52–54, 68 f., 73–86, 321, 354–360, 382 Franziskaner (s. Mönchstum)  











Gegenwart (s. Zeit) Geld 47–51, 89, 109, 193, 234, 244–247, 344, 393, 404 Geltung 44, 50, 63, 137, 140, 154, 185, 203, 248, 250, 256 f., 271, 273, 302, 313, 350, 353, 369, 396, 400–403, 425, 430  

Bibel 158–168, 170 f., 228 f., 247 f., 283 f., 298 f., 319–334, 321 f., 347, 352, 383, 385–388, 416 f. Bibelausgaben – Brosamer-Bibel 166–168 – Malermi-Bibel 159–162 – Zürcher Bibel 162–166

Habgier 47, 224, 244, 331 f., 348, 363–365, 403 Heiligenverehrung 44–46, 90 f., 142 f., 198, 240 f., 273 f., 322, 351, 397 f., 429 f. Heuchler 235, 322 f., 328, 389 f.

Chronik 87 f., 413, 418

Ich (s. Sprecher-Ich)





















Deutung 70–73, 75, 77, 126, 137, 153, 191, 252–254, 276 f., 287, 289 f., 293 f., 354 f., 357–360, 367, 375–379, 381, 388, 396, 401, 425, 430 Didaxe (s. Lehre) Diegese (s. Erzählwelt) Druckgeschichte 12, 119, 149–151, 165–176  





















Jugend 2, 59, 62, 91 f., 97, 101–103, 112 f., 136 f., 154 f., 168–171, 216–219, 260 f., 302, 318, 425  









Kaufmann 50 f., 84, 191, 196, 201, 354, 358, 366 f., 425, 430 Konflikte 42, 55, 58, 86, 94, 428 Kontingenzerfahrung 18, 42–44, 46, 51 f., 63 f., 197, 330 f., 336, 339, 426 Krieg 1, 42–44, 51, 55, 58, 100–105, 126, 134, 178, 182, 221, 243, 259, 391 f., 404, 418 f.  





Ehe 52, 57 f., 60–63, 84, 94, 125, 329, 338, 345, 392, 394–396, 403, 428 Eigennutz 47–49, 155 Enthaltsamkeit (s. Sexualität) Epimythion (s. Affabulatio) Erfahrung 2, 102, 194, 237 f., 250, 266, 297, 302, 306, 337, 339–345, 384 Erzähler (s. Sprecher-Ich) Erzählwelt 40–43, 45 f., 49, 54, 72, 74, 200, 202 f., 205 f., 223, 339, 409, 427 Exempel 80, 178, 188, 225 f., 242 f., 253, 262 f., 266 f., 304, 316, 326, 343 f., 346– 353, 390  





















Lebensbeschreibung Äsops 23, 64, 116 f., 120–128, 132, 134–136, 138–148, 153– 155, 172–179, 183 f., 224, 289, 349, 398 Lehre 31, 104, 125 f., 295–299, 315, 344, 365, 379 f., 396, 403, 405 Lüge (s. Wahrheit)  











Mehrdeutigkeit (s. Deutung) Mönchstum 46, 50, 53, 60, 188, 204, 231, 234, 236, 321 f., 324, 429 Morale 55, 205, 234, 277 f., 281, 292, 295, 371 f., 379 f. Mündlichkeit 65, 87, 184, 194, 199, 239, 286  

Fabel 28, 64–87, 104, 132–137, 145, 187 f., 205, 214, 223, 272–294, 299–301, 319 f., 339 f., 346 f., 370–406, 422–430  















440

7 Register

Narr 151–171 Normbruch 57 f., 60

Tierepik 22, 34–40, 82 f., 399 Titelei 23–27, 119 f., 122, 138–140, 149–178, 207, 210 f., 224  







Ordnung 25 f., 41, 43, 53 f., 105 f., 129, 131, 138, 196, 216, 257–259, 263–265, 271, 314 f., 328–330, 357–360, 373  







Überschrift (s. Peritext) Übersetzen 133, 182, 185, 370–373, 311–317 Undankbarkeit 42, 220 f., 228 f., 239, 260– 263, 305, 363 f., 393 f., 429 Unfreiheit 143, 192, 407–421 Unsicherheit (s. Kontingenzerfahrung)  

Papstkirche 44–46, 85, 95–97, 107 f., 189 f., 195, 197, 203–205, 215–217, 223, 230– 237f., 240 f., 283, 307, 321 f., 324, 343, 353 f., 397 f. Peritext 28, 54, 117, 119 f., 130 f., 140, 149– 178, 182 f., 187, 207, 210–212, 214–220, 234, 279 f., 317, 361, 365  

























Raum 39, 54 f., 72, 89 f., 107 f., 110, 194, 196, 200, 204–206, 208, 213, 234, 267, 274 f., 373, 382, 398, 411, 414 f. Reformation 41, 44, 134, 215–217, 230–238, 388 Register 24 f., 42, 53, 86, 120, 130–132, 233 f., 361, 365 Reichtum 42, 46, 50 f., 200, 234, 236, 240 f., 244–247, 353, 365 f. Reliquie (s. Heiligenverehrung)  











Vergangenheit (s. Zeit) Verknüpfung 29–40, 72, 128, 153, 262, 268, 284, 360–368, 405 Verweis (s. Verknüpfung) Vielfalt 21, 24, 46, 52 f., 56, 58, 63 f., 69, 114, 238 f., 272, 274, 285, 290, 294, 396–406, 427, 430 Vorlage (s. Autoren, historische Personen, Werke: Aesopus Dorpii)  













Wahrheit 57, 67, 85, 100, 104, 106, 133, 142, 181, 200, 205 f., 213, 221, 227 f., 233, 235, 243 f., 302–304, 321, 345, 348, 382 Weisheit (s. Narr) Welt 1 f., 18, 31, 33, 40–51, 54, 58, 71–74, 81– 85, 93, 99, 107–114, 155–157, 185 f., 191– 194, 205–208, 215–217, 220–223, 228 f., 237 f., 244, 246, 251–256, 261, 262, 265, 268, 271, 274 f., 290 f., 303, 308, 328– 330, 332–342, 344, 354 f., 357 f., 360, 368, 389 f., 393 f., 396, 400, 404 f., 418 f., 425–427, 429 f.  







Sammlung 22, 27–29, 40, 86, 108, 113, 115, 132, 139, 183 f., 211–214, 289 Schriftlichkeit (s. Mündlichkeit) Sexualität 53, 57, 59 f., 276, 303 Sinn 29 f., 71, 95, 103, 189, 254 f., 257, 260– 263, 268, 272–288, 295, 297, 360 f., 369, 375–378, 381 f., 391–397, 399, 404, 406, 410, 427, 430 Sprecher-Ich 73, 84 f., 104, 108, 112, 179–206, 354–360, 411, 415 Sprichwort 299–309, 326–328, 343, 367, 384, 411, 420  





































Zeit 45, 72, 86–114, 105, 201, 220–253, 258, 274 f., 320, 353, 411, 415 f., 425, 427 Zitat 309 f., 312, 334 Zölibat 58, 63, 203