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German Pages 392 Year 1998
Jörg Paulus Der Enthusiast und sein Schatten
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
13 (247)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1998
Der Enthusiast und sein Schatten Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800
von
Jörg Paulus
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1998
D 83
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt Du Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsatifnahme
Paulus, Jörg: Der Enthusiast und sein Schatten : literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800 / von Jörg Paulus. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 13 = (24 ) Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1996 ISBN 3-11-015908-2
ISSN 0946-9419 © Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhalt Einleitung
l
I. Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt. . 12 1. Die vier Disziplinen des Okkulten
12
2. Ermöglichung des Unmöglichen: Das »große Universal« als Wunsch und Wirklichkeit in Sachprosa und Literatur 14 2.1. 2.2. 2.3.
Hermetische Rechtfertigungsrhetorik 14 Repliken der Aufklärung 18 Hermetische Fingerabdrücke im Werk Christoph Martin Wielands und Johann Heinrich Jung-Stillings 34 2.3. l. Hermetische Chiffren im Zwielicht: Wielands Erzählung >Der Stein der Weisen< 34 2.3.2. Die Pforte in der Mauer der Inkommensurabilität: JungStillings Roman >Theobald oder die Schwärmen 45 3. Begreifen des Unbegreiflichen: Das entschleierte Bild der Seele und der physiognomisch-metaphorische Sinn des Genies 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Die »allgemeine Chifer« und das »große Universal« Physiognomische Initiationen: Schleier und Spiegel der Seele . Das Sagbare und das Unsagbare in der Physiognomik Das physiognomische Genie und die Unendlichkeit der Gesichtszüge 3.5. Bewährungsproben des physiognomischen Sinns: Die >Physiognomischen Reisen< des Karl August Musaeus 3.5.1. Der physiognomische Zirkel 3.5.2. Das physiognomische Alphabet und seine Anwendung auf Teufels- und Engelsphysiognomien 3.5.3. Probleme der Übersetzung aus der »Sprache der Geberden« in die »Wörter-Sprache«
55 55 58 62 64 66 66 70 75
VI
Inhalt
3.5.4. Ideen zu einer physiognomischen Metaphorik 4. »Die Magie des Spiels schafft eine neue Welt« 4. l. 4.2. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.4. 4.4. l. 4.4.2.
Lotteriesucht und Physiognomie Das Zahlenlotto und seine Verbreitung Lotto-Apologie und Lotto-Kritik im Zeitalter der Spätaufklärung Podien der Diskussion Die »Entdeckten Geheimnisse der Zahlen« Biographien Lottosüchtiger Friedrich Nicolais >Sebaldus Nothanker< Zureichende Gründe im Roman der Spätaufklärung Zureichender Grund eines Lotto-Treffers
5. Verwilderte Institutionalisierung der okkulten Disziplinen unter dem Dach hermetischer Geheimbünde 5.1. 5.2. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3. 5.4.4.
78 83 83 86 87 87 91 92 96 96 97
103
Esoterische Körperschaften und masonischer Geheimnis-Sinn im realen und im fiktiven Kontext 103 Schleier, Vorhang und Hieroglyphe in exoterischer und esoterischer Perspektive 107 Autonomie und Desillusionierung: Karl Philipp Moritz zwischen Bruder-Redner-Amt und dichterischem Anspruch . 114 Maurerische Introspektion 114 Maurerische Symbolik zwischen Illusion und Desillusionierung 115 Kompensation durch Musik 119 Zerrüttungen im Alphabet der maurerischen Enzyklopädistik: Theodor Gottlieb von Hippeis >Kreuz- und Querzüge des Ritters A.-bis Z.< 120 Lineare Ableitung der Kreuz- und Quer-Biographie 120 Rechenkunststücke des Erzählers vor maurerischem und außermaurerischem Publikum 122 Verheißung und skeptische Einschränkung 127 Eldorado und der Honigtopf der Geheimnisse 129
II. Der Ensoph zwischen den Welten
136
1. Einleitung: Der Zeitgeist und sein Geisterbanner
136
1.1.
Revolutionierung des Ich
136
Inhalt
l .2. 1.3.
Poetologische Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt 139 Der Sinn des Grenzenlosen und das Idealische in der Poesie . 144
2. Hermetische Informationsdefizite des hinkenden Informators: Die >Unsichtbare Loge< und ihre Bewohner 2. l. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.
Der Ensoph in der Maurer-Schürze Der Fall Doppelmaier Satirische Retrospektive Rückkehr in die Gegenwart der >Unsichtbaren Loge< Die auktoriale Macht des Unendlichen Undeutliche Doppeldeutigkeit Der Informator und seine rhetorisch-pädagogische Verantwortung Profane und höhere Geheimnisse Der Ort der Unsichtbagen Loge zwischen den Welten Der Kontrakt des Erzählers mit dem Leser Gustavs Fall und die rhetorische Ohnmacht des Informators Hypochondrie und Verschwinden des Erzählers Physikalischer Rest bei der »Vergleichung«
3. Das große Los und der Teufel 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2.
Das Säkulumsphänomen Das große Los im beschränkten Leben Satirisch-diabolische Rechnungen Übertragung von der satirischen auf die epische Rechnung Zufall und Notwendigkeit zwischen Beschränkung und Entgrenzung im >Siebenkäs
Hesperus< 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3.
VII
146 146 149 149 159 161 161 164 166 171 171 173 174 175 179 179 179 181 183 184 190
Maßstäbe physiognomischen Erzählens 190 Physiognomische und linguistische Zeichnung 190 Physiognomische Etüden 191 Innerer und äußerer Mensch im Roman 197 Der wahrhaftige physiognomische Erzähler im >Hesperus< . . 200 Der exterritoriale Physiognomist 200 Traditionen physiognomischen Erzählens 202 Physiognomische Ternen, Quaternen und Auszüge 206
!
Inhalt
4.3.4. Auflösung der physiognomischen und der >höheren< Romangeheimnisse 5. Zwei Welten in einer Romanwelt 5.1. Neue Synthese des »Gewürkes der Imaginazion« 5.2. Natur, Welt und Viel-Icherei im >Titan< 5.2.1. Fichtes Ich-Philosophie als welthistorisches Sekundärphänomen 5.2.2. Die >Wissenschaftslehre< als hermetischer Schlüssel zu Leibgebers hermetisch-satirischem Bewußtsein 5.2.3. Physiognomie des höfischen Ich 5.2.4. Natürliche Wunder 5.3. Elektrostatische, optische und sprachliche Ich-Wechselwirkungen in und um Pestitz 5.3.1. Schoppe und Roquairol 5.3.2. Liane und Albano - Adam und Isis 5.3.3. Die Sphinx als versteinerte Isis 5.3.4. Realisierung der zweiten Welt
212 214 214 219 219 222 224 226 229 229 234 238 240
III. Potenzierung und Logarithmisierung der physikalisch-moralischen > Vergleichung < 242 1. Überdruß des Zeitgeistes am Zeitgeist 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3.
Selbstaufhebung des Schwärmers im Frühwerk Ludwig Tiecks Poetologischer Vorsprung Selbstaufhebung des Effekts William Lovell als Opfer des Umbruchs
2. »Das Ich hat eine hieroglyphische Kraft« 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2.
Jenseits der Naturalisierung Überdruß und Neubewertung »Wahnsinn nach Regeln und mit vollem Bewußtsein« Der »Sinn für Poesie« als Organ der Darstellung des Undarstellbaren 2.3. Artistisches Fichtisieren als Erfüllung der schwärmerischen Ansprüche 2.3.1. Verhältnis von Poesie und Philosophie 2.3.2. Die höhere Magie der Einbildungskraft 2.3.3. Grenzen der Psychologie
242 243 243 245 248 251 251 254 254 256 258 258 259 260
Inhalt
2.4. Die okkulten Disziplinen in der »Sfäre« der Reflexion 2.4.1. »Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren«: Romantische Physiognomik 2.4.2. »Nichts ist dem Geist erreichbarer, als das Unendliche« 2.4.3. Hermetische und poetische Approximationsprinzipien 2.5. Approximation an den moralischen Sinn 2.6. Die Vorzeit in esoterischer und romantischer Perspektive .. .
IX
261 261 263 265 269 273
3. Die Lehrlinge zu Sais 3.1. Der Lehrling als Beschreiber in der ersten Person 3.2. Unvollständige Induktion: Der Beschreiber in der dritten bis -ten Person 3.3. Induktionsschritt vom Beschreiber zum Erzähler 3.4. Hermetische Opazität und allegorische Transparenz
283 287 290
4. Voraussetzungen zur Annihilation des Philister-Geistes: Zum Standort des romantischen Erzählers um 1800
297
4. l. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.3.
Schwärmerei-Kritik als »poetischer Atheismus« Der Roman der Poesie Klingsors Poetik Empirische Basis der poetischen Wundererscheinungen . . . . Optische Erzähler-Kompetenz und erotische Erfüllung des Unaussprechlichen in Clemens Brentanos >Godwi< 4.3.1. Optische Magie der Einbildungskraft 4.3.2. Philister-Satire 4.3.3. Erotische Allegorese: Die schönste Vollendung unserer Eigentümlichkeit
277 277
297 298 298 299 304 304 305 307
IV. Retrospektive: Welt der Schwärmer und Philister
310
1. Nach der Sonnenwende
310
2. Aufklärung im Zwielicht der Gegenwelt
311
2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.3. 2.4.
Skeptische Rechtfertigung der Täuschung Gedämpfte Täuschung Spätantike und Gegenwart Initiation in die höhere Ernüchterung Teilhabe des Autors Zwei Welten des ästhetischen Wunders Das Unendliche im beschränkten Vorelysium
311 313 313 318 320 321 327
X
Inhalt
3. Welt im Nebel 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6.
Die gegenläufige Bahn des Kometen der Einbildungskraft . . Nikolaus Marggraf Ebenen der Retrospektive Exkurs: Vervielfältigung des Wunderbaren: Der Zeitgeist nach der »moralischen Sonnenwende« Natürliche Wunder ohne rhetorische Resonanz Musik und Natur
329 329 332 333 334 336 339
4. Der »Glanz der halbentschleierten Welt« und ein fernes Echo der Philosophie
341
V. Anhang: Exkurse
348
Literaturverzeichnis
357
Register
377
Einleitung Wie alle anderen Epochenbegriffe beruhen auch die geläufigen Konzepte von >AufklärungKlassik< und >Romantik< auf interpretativen, und das heißt: perspektivischen Prämissen. Die Integration unterschiedlicher, zum Teil gegenläufiger Äußerungen eines Zeitgeistes unter eine richtungsweisende Zeitgeist/endtfnz ist zugleich Ausdruck und Konsequenz dieser geistesbeziehungsweise literaturgeschichtlichen Perspektivierung. Diese integrativen Interpretationsmuster lassen sich ihrerseits - unter erweiterten, geschichtsphilosophischen Rahmenbedingungen - zu Werten in einer Integration höherer Ordnung machen; so zum Beispiel, wenn der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in Anschluß an Foucault häufig als >Sattelzeit< bezeichnet wird, in der die Kompensation der kopernikanischen Kränkung des neuzeitlichen Individuums zugleich auf die Spitze getrieben und ihrem Vorzeichen umgekehrt wurde. Solche höheren geistesgeschichtlichen Integrationen sind als Interpretationen von Interpretationen (bzw. von Interpretationsmustern) zu betrachten. In ihnen werden paradigmatische Modellvorstellungen vom >Lebenslauf< des neuzeitlichen Subjektes geprägt, wobei das erwähnte als das heute weitgehend etablierte >Standardmodell< (um die Terminologie der Kosmologen anklingen zu lassen) gelten kann: der Lebenslauf des Subjekts wird als eine dem cartesianischen »cogito« entspringende parabolische Kurve angesehen, die jedoch am Raum-Zeitpunkt »hier und jetzt« in einer singulären Definitionslücke abbricht, eine Unstetigkeit, die zuweilen als nicht weniger denn als der »Tod des Subjektes« gedeutet wird; ob es sich bei dieser Interpretation nicht um eine Überinterpretation des altbekannten, jede Selbstreflexion begleitenden >toten Winkels< der Subjektivität handelt, muß bis auf weiteres offen bleiben. Die vorliegende Arbeit unternimmt - gemessen an den erwähnten großzügig integrierenden Modellen zur Onto- bzw. Pathogenese des neuzeitlichen Subjekts - den Versuch einer differenzierenden Betrachtung. Gegenstand dieser Differenzierung bilden in Texten dokumentierte Ausschnitte aus den Grenzbereichen des wissenschaftlich-weltanschaulichen Lebens im Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie deren Niederschlag in der Literatur dieser Zeit. In diesem Rahmen wird eine - in der Terminologie des
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Einleitung
18. Jahrhunderts - >Vergleichung zwischen der physikalischen und der moralischen Weltx (als voneinander abhängigen symbolischen Repräsentationsformen der Totalität des Lebens) angestrebt. Die »physikalische Welt«, die mit der »moralischen Welt« der Literatur zu vergleichen ist, wird in der Arbeit auf vier (thematische, metaphorische, sozialgeschichtliche) Felder reduziert. Diese Felder stehen paradigmatisch für die politischen, biographischen, geographischen, technischen, philosophischen etc. Kontexte und repräsentieren dabei den Zeitgeist in seiner ambivalenten Gestalt zwischen der Vernunft und ihren enthusiastischen Antagonisten, den >unteren< Seelenkräften. Diese Felder sind im Einzelnen: 1.) das Feld der >hermetischen< Wissenschaft 2.) das Feld der physiognomischen >Offenbarungen< 3.) das Feld der >magischen< Berechnung künftiger Lotterieziehungen 4.) das Feld der Institutionalisierung dieser Künste unter dem Dach >mystischer< Geheimbünde. Als Grundmuster der Interpretation, das diese Kontexte miteinander verbindet, werden die von den Apologeten der >höheren Wissenschaften stereotyp formulierten transrationalen Ansprüche auf eine Darstellung des Undarstellbaren (des >Arkanumshöheren< Erkenntnisansprüchen festgehalten. Der chronologische Fortschritt der physikalisch-moralischen >Vergleichung< wird in den ersten drei Teilen der Arbeit in einen Dreischritt aufgelöst. Er setzt im Kontext der Sachprosa der >spätaufklärerisehen< Publizistik ein (der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, des Teutschen Merkur, des Deutschen Museums und anderer Zeitschriften dieser Zeit und diesen Geistes) und wird am Beispiel von thematisch ausgewählten, auf die genannten Felder bezogenen Romanen Wielands, Musaeus1, Nicolais und Hippeis reflektiert. Mit dem zweiten Schritt wird das weite Feld von Jean Pauls literarischer Weltbeschreibung betreten. Dabei bilden zunächst die Exzerpthefte Jean Pauls den Hintergrund, in dem die physikalische Welt repräsentiert wird. Die ausufernde Materialität der Exzerpte wird auf die vier genannten Kontexte fokussiert, die gleichzeitig auf die Poetik von Jean Pauls Romanen bezogen werden, nämlich
Einleitung
3
auf die darin sich artikulierende Spannung zwischen der Beschränktheit der sinnlichen (beziehungsweise literarisch-sinnlichen) Erfahrung und dem »Sinn des Grenzenlosen« als dem Medium, in dem das Bewußtsein des Erzählers mit dem seiner Helden korrespondiert. Im dritten Schritt werden - nach wie vor im Rahmen der vier thematischen Felder- im Frühwerk Tiecks und in den Fragmenten von Novalis Indizien für eine Geistesgeschichte des Überdrusses und des Verschweigens gesucht, die als Aporien des Erzählens in die von >frühromantischen< Autoren entworfenen fiktionalen Kontexte hinein fortgeschrieben werden; sie können somit als Belege für das Fortwirken einer neben beziehungsweise hinter den transzendentalen Reflexionen wirkenden, eigendynamischen Grundspannung des aus dem Geiste anthropologischen Denkens entsprungenen Erzählens gelten. An den vielfältigen Metamorphosen, Variationen und Erweiterungen, denen das Motto der Göttin Isis in den Schriften der behandelten Autoren unterworfen wird, und an der jeweils spezifischen Form, in der das Motiv in narrative Kontexte integriert wird, läßt sich der geistesgeschichtliche Übergangszustand zwischen Spätaufklärung und Romantik auf differenzierte Weise darstellen. Die differenzierende Betrachtungsweise kann also als Versuch verstanden werden, eine erzählhistorische Rekonstruktion an die Stelle der üblichen philosophiehistorisch orientierten zu setzen. Der seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts verbreitete Begriff von >Subjektivität< wird daher in der vorliegenden Arbeit nicht vorausgesetzt und auf die Spätaufklärung zurückprojiziert; die Bewußtseinsformen von Individuen lösen sich vielmehr im Lauf der Untersuchung erst Schritt für Schritt aus dem Bann einer vom anthropologischen Zeitgeist festgeschriebenen Verfassung; das Verhältnis von Vernunft und Einbildungskraft wird dabei als bestimmend für den Stand der Vermittlung von Welt und Bewußtsein betrachtet. Die Schemata in diesem bewußtseins- und erzählgeschichtlichen Schattentheater treten dabei zunächst im Licht des psychologischen Schematismus der anthropologischen Diskussion in Erscheinung; gegen Ende der Arbeit wird die aus dem Geiste des Erzählens hervorgehende Ablösung des ersten dieser Schattensubjekte durch ein anderes transparent gemacht; beide Schattensubjekte erscheinen somit ausdrücklich als >zwei entgegengesetzte Gestalten des BewußtseinsSchwärmerPhilister< genannt.
4
Einleitung
Im Unterschied zum Herr-und-Knecht-Paar Hegels haben jedoch der Schwärmer und der Philister nicht zur gegenseitigen (geistesgeschichtlichen) Anerkennung gefunden. Wie unser heutiges Bild von der in den ersten drei Teilen dargestellten Bewegung des Zeitgeistes ihrerseits von einer bestimmten, dem 19. Jahrhundert entsprungenen Interpretation geprägt ist, wird im abschließenden und zusammenfassenden Argumentationsschritt der Arbeit deutlich: Die Selbstreflexion der beiden kontrastierten Bewußtseins-Schemata (des Schwärmers beziehungsweise des Philisters) wird dort in der Retrospektive des 19. Jahrhunderts, der Zeit nach der >moralischen Sonnenwende< (Jean Paul), dargestellt, wobei sich der >Dreischritt< unter veränderten Rahmenbedingungen wiederholt. Das ausgehende 18. Jahrhundert mit seinen Ambivalenzen tritt dabei in rückblickenden Erzählungen Wielands (in der antiken Verkleidung des Agathodämori), Jean Pauls (im Spätwerk Der Komet) und der romantischen Schule< (in Erzählungen bzw. erzählerischen Darstellungen Arnims, Tiecks und E. T. A. Hoffmanns) erneut in Erscheinung. Dabei wird deutlich, in welcher Form die retrospektive Deutung der >romantischen Schule< die alternativen Interpretationen überstimmte und für die Nachzeit bis hin zu den eingangs dargestellten, am geistesgeschichtlichen >Standardmodell< orientierten Interpretationsmustern prägend blieb: Das Schattentheater von Schwärmerei und Philisterei wird von der Ebene der Erzählungen auf die Ebene der Erzähler gehoben. Der Aufklärer (als reales Individuum) wird in die Gestalt des Philisters gedrängt und als solcher in die Schattenrißsammlung der Literaturgeschichtsschreibung aufgenommen, während der Schattenriß des Aufklärers als eines Schwärmerkritikers für lange Zeit unterschlagen blieb. Damit endet der historisch-rekonstruktive Dreischritt mit anschließender Retrospektive. Es läßt sich jedoch von diesem Punkt aus eine Querverbindung zum gegenwärtigen Stand der germanistischen Forschung zu den behandelten Themen und Autoren ziehen; daher soll hier eine - ihrerseits großzügig integrierende - Beschreibung der gegenwärtigen Forschungskonstellation eingerückt werden, ehe die Schwelle zur eigentlichen, differenzierenden Untersuchung - zum argumentativen Teil der Arbeit - überschritten wird. Auf dem soeben kartierten Forschungsfeld lassen sich nach Ansicht des Verfassers im Wesentlichen zwei Haupttendenzen ausmachen: Auf der einen Seite finden sich Positionen, die den oben beschriebenen integralen Ansatz mehr oder weniger direkt auf die Probleme der Literaturwissenschaft rückübertragen und eine vorausgesetzte allgemeine geistesgeschichtliche >Funktion< mit dem Wandel literarischer Texte in Hinblick auf deren Metaphorizität, Thematik, Erzählhaltung etc. zur Deckung zu bringen versuchen. Die Interpreten mil dieser Grundtendenz sehen entweder in der Romantik oder bereits in der (in diesem Zusammenhang häufig so bezeichneten) >Vorromantik< eine fun-
Einleitung
5
damentale Wendung beziehungsweise (in einem anderen Bild) einen Einschnitt, der die Vor-Moderne von der Moderne grundsätzlich trennt.1 Damit sind in der Sicht dieser Interpreten hermeneutische Tatsachen geschaffen, hinter die die Gegenwart nicht wieder zurückgehen kann, so wie - um eine Analogie aus einem Bereich aufzurufen, in dem wissenschaftliche Einstellungen direkter mit öffentlichen Handlungen verknüpft sind - in der Musik bestimmte Hörgewohnheiten von den Vertretern einer >modernen< Aufführungspraxis als vom Standpunkt des nachromantischen Hörers aus nicht reversibel angesehen werden. Im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Phänomene werden von den Vertretern dieser Richtung insbesondere die reflexionsphilosophisch angeregten »transzendentalpoetischen« Systementwürfe und Fragmente der Zeit um 1800, die in den Kant- und Fichtestudien des Novalis und in den Schlegelschen Fragmenten einerseits, in Hölderlins philosophischen Schriften andererseits ihren prägnantesten Ausdruck fanden, zu einem Ganzen zusammengesetzt, das dann die Folie für die so orientierten Überlegungen bilden kann.2 Auch die als >vorromantisch< bezeichneten poetologischen und literarischen Phänomene der Zeit zwischen 1750 und 1790 werden dem Klangbild dieser integrierenden Betrachtungsweise angepaßt und sozusagen modern instrumentiert. Auf der anderen Seite des Forschungsspektrums steht eine stärker historisch-positivistisch orientierte Wissenschaft, die den >Originalklang< des Zeitgeist-Hintergrundes in einer voridealistischen Perspektive aus den erhaltenen Dokumente zu rekonstruieren bemüht ist. Insbesondere ist es dieser Forschungstendenz zu verdanken, daß die vielstimmigen Argumentationsebenen der Schwärmerei-Diskussion wieder ans Licht gebracht wurden. Ausgangspunkt bildeten auch hierbei philosophische Diskussionen, die nachcartesianischen Aporien in Folge der Substanzentrennung, die Spielarten spinozistischer und leibniz-wolffianischer Holismen, die Wechselwirkung der >offiziellen< Metaphysik mit hermetisch-neuplatonischen Traditionen.3 Mit der
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Die rekursive Definition der >Vorromantik< findet sich bereits bei Viatte (1928), Boguin (1937), Brunschwig (1947), und S0rensen (1963). In begriffsgeschichtlicher Sicht zurückhaltender und in der Abwägung des kontextuellen Gewichts differenzierter argumentiert die wichtige Studie von R. Immerwahr (1972). Vgl. insbesondere die Arbeiten von Behler (1987, 1989), Menninghaus (1987) und M. Frank (l987, 1988). Mustergültig in ihrer begrifflichen Präzision sind nach wie vor die Jean-Paul-Studien von Wilhelm Schmidt-Biggemann (1975) und Wolfgang Pross (1975). Vgl. hierzu den Literaturbericht zum zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.
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Einleitung
Wiederentdeckung der anthropologischen Diskussionen, in denen diese Fragestellungen unter zunächst primär empiristischer Perspektive aufgenommen werden, eröffnete sich ein weites Forschungsfeld: Der Roman der Spätaufklärung wurde in den Kontext der Frage nach der Natur des Menschen (und insbesondere nach seiner psycho-physisehen Verfassung, dem commercium mentis et corporis) gerückt, zunächst in pathologischer und therapeutischer Perspektive (als Teil der sich entwickelnden >ErfahrungsseelenkundeKlassiker< und das von ihnen induzierte Schwerefeld der Weimarer Kunstanschauungen hinaus wirksam geblieben seien. Die Rehabilitation der vom idealistischen mainstream abweichenden oder ihm sogar entgegensteuernden (im Falle Herders und Jean Pauls, mit Einschränkung auch Goethes) Diskurse griff von da aus auf die Deutung und Einordnung der Jenaer, Berliner und Münchener Romantiker über und machte schließlich auch vor der säkularen >Sonnenwende< nicht halt. In dem in mancherlei Hinsicht als Zusammenfassung der Gesamttendenz zu verstehenden Werk Helmut Pfotenhauers Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes* führte sie schließlich bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts: Strindberg, Stendhal, Nietzsche und noch Proust werden historisch - nämlich im Sinne der Fortschreibung der anthropologischen Unterströmungen durch die autobiographische Feder - reinstrumentiert. Es liegt aber wohl in der Natur von Rückbesinnungen wie der beschriebenen (wie auch der als Folie hinterlegten musikalischen), daß sie nach einiger Zeit eine eigene Dynamik entwickeln, die selbst das Kernzeitalter, also 4 5
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7 8
Vgl. Schings (1977 und 1980). Einen Überblick über die Forschung seit 1975 bietet die Bibliographie von A. Kosenina (in Schings [1994]), S. 755-768. Vgl. Reuchlein (1983), Neumann (1992), Riedel (1985), Schings (in: Wittkowski [1984]), S. 42-68. Riedel (1985), S. 3. Pfotenhauer (1987).
Einleitung
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in diesem Fall die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, zunehmend wieder »vieldeutig« erscheinen läßt, so daß die zunächst in Opposition vereinten Kräfte mit der Zeit »in unzählige Forschungsweisen und in die verschiedensten Bereiche« der anthropologischen Thematik9 auseinanderfallen. Diesen divergierenden Tendenzen versuchte zuletzt ein voluminöser Berichtsband mit dem Titel Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert entgegenzusteuern,10 der die Präsenz von Gegenströmungen des > Anderen der Vernunftx gegenüber der Reflexions- und Transzendentalphilosophie, die das »Erbe der res cogitans antreten«,11 in "eindrucksvoller Breite dokumentiert. Häufig aber vollzieht sich gerade dann, wenn ein szientifischer oder ästhetischer Prozeß das Stadium der enzyklopädischen Absicherung und Codifizierung erreicht hat, eine Verwandlung des Prozesses der theoretischen Neugierde in einen Prozeß des theoretischen Überdrusses, der überraschende Koalitionen und theoretische Kurz- und Zirkelschlüsse hervorbringt.12 Das > Andere der Vernunftx erschöpft sich ebenso wie die Vernunft selbst, und so hat neuerdings Manfred Engel mit seiner Studie zum Roman der Goethezeit eine Verbindung zwischen den beiden Seiten der Vernunft (und ihren wissenschaftlichen Repräsentationsformen) herbeizuführen versucht, indem er die Entstehung eines neuen Romantypus der Goethezeit unter der Bezeichnung >Transzendentalroman< statuiert, dessen Ausbildung jedoch ausdrücklich mit anthropologischen Mustern des Romans der Zeit in Verbindung gebracht wird.13 Von diesem in der Abfolge der Argumentation der vorliegenden Arbeit nahestehenden Versuch (dessen Fortschreibung einstweilen noch aussteht) gilt es sich nun abzugrenzen. Wie bei Engel geht es auch in der vorliegenden Untersuchung zum Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts darum, Grenzwerte, Grenzverläufe und Grenzüberschreitungen neu zu bestimmen. Im Unterschied zu Engel werden diese Grenzverläufe und Grenzüberschreitungen jedoch ausdrücklich nicht als >transzendentale< Feldlinien entworfen, sondern aus der Bewegung des Erzählens und dessen metaphorischen Diskontinuitäten selbst abgeleitet: »das Fürstentum Scheerau stoßet wie def menschliche Verstand überall auf Grenzen«, so formuliert es Jean Paul in einer Parenthese im zweiundzwanzigsten Sektor seiner Unsichtbaren Loge. In genau diesem Sinne ist die Analyse der Arbeit als Methode der wechselseitigen Differenzierung zu verstehen: Die 9 10 11
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So Werner Krauss( 1979), S. 9. Schings [Hrsg.], (1994). Ebd. S. 5. Insofern reflektiert die Forschungsgeschichte ein Kapitel der in dieser Arbeit abgehandelten Prozesse. Engel (1993, Bd. I). Vgl. auch Pfotenhauer (1992), S. 72-97.
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Einleitung
Grenzverläufe des Imaginären werden zunächst nach den wirkenden Seelenkräften - Vernuft, Verstand, Einbildungskraft, Urteilskraft usw. - abgeleitet, die von der Anthropologie der Zeit als diskrete Größen postuliert wurden. Im Licht dieses Vergleichs erscheint dann die Frage, wie sich eine Körperschaft wie das Fürstentum Scheerau (das hier als Beispiel für die fiktionalen geographischen, biographischen, politischen und physikalischen Größen der Zeit stehen soll) von seinen Nachbarländern abgrenzt, beziehungsweise wie sich die sonstigenyü/tfi'ona/en Fakten von den Biographien der Zeitgenossen, den physikalischen Entdeckungen, den philosophischen, politischen und technischen Innovationen unterscheiden, als Maßstab zur Beantwortung der Fragen, die den menschlichen Verstand (als das Analogen des imaginären Fürstentums) betreffen: Welcher Art sind die Grenzen, auf die dieser bei seinem Anrennen gegen die Verstandesgrenzen stößt, setzt er sie selbst, bildet er sie sich nur ein, setzt er sie, indem er sie sich einbildet, überschreitet er sie, indem er ihren imaginären Charakter durchschaut? Und wie grenzt er sich vom Bereich der Einbildung ab? Ist das Territorium des Verstandes ein Nachbarland der Einbildungskraft, oder ist diese eine Enklave des Verstandes, oder dieser eine Enklave der Einbildungskraft? Damit wird das anthropologische Paradigma zwar überschritten, aber - im Unterschied zu Engel - nicht nach dem erneuerten Modell der >kopernikanischen Wende< (in Gestalt einer transzendentalistischen Innovation), sondern nach einem Reflexionsmodell des Erzählens, dessen metaphorische und kontextuelle Parameter bereits dargestellt wurden. Der philosophische Letztbegründungsanspruch der Transzendentalphilosophie wird in dieser erzählhistorischen Rekonstruktion bewußt hintergangen: Wenn man die Form der transrationalen Ansprüche, wie sie von den Apologeten der >höheren Wissenschaftern stereotyp formuliert werden, mit Fichtes in einem Brief an Jacobi geäußerter Ansicht vergleicht, daß »dem Wissen immer etwas vom Begriff nicht zu Durchdringendes, ihm Inkommensurables und Irrationales« anhafte, welches gerade das eigentliche Feld der philosophischen Reflexion auszumachen habe, so daß »gerade in dieser Einsicht das Wesen der Philosophie läge und diese ganz und gar nichts anderes wäre als das Begreifen des Unbegreiflichen als solchen«,14 dann wird seinerseits begreifbar, in welcher Form die reflexionsphilosophische Innovation als eine Form der Forterzählung des hier dargestellten Zeitgeistes verstanden werden kann. Die Vermischung dieser beiden Perspektiven muß als der Grundfehler aller Untersuchungen gelten, die sich der Rekonstruktion unter wesentlicher Berücksichtigung der >kopernikanischen Wende< des Idealismus widmen. Um nichts anderes als eine Korrektur dieser Sicht geht es Fichte (l862) 2, S. 176.
Einleitung
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der vorliegenden Arbeit: Der »sogenannte Irrationalismus des 18. Jahrhunderts« schreibt sich in rhetorischen und poetologischen Mustern bis über die Jahrhundertwende fort; ihn als »Vorstufe« des idealistischen bzw. reflexionsphilosophischen »Hochsubjektivismus des letzten Jahrhundertdrittels« zu begreifen15 hält einer differenzierten Betrachtungsweise nicht Stand. In Abgrenzung von den großzügig integrierenden Beschreibungen orientiert sich der vorliegende Versuch einer literaturhistorischen Differenzierung am mikrologischen Modell von Walter Benjamins Differenzierung von Sach- und Wahrheitsgehalten der Literatur.16 Nur wo Vernunft- und Einbildungskraftkonzepte sich gegenseitig stützen, entsteht ein kohärentes erzählerisches Weltbild. Im Sinne einer solchen Kohärenztheorie des Imaginären17 versucht er, fiktionale Phänomene - Personen, Handlungen, Ereignisse - untereinander in Verbindung zu setzen. Ihre Subjektivität bestimmt sich vom Erzähler her, dessen Weltbild aus heuristischen Gründen auf die genannten Kontexte eingeschränkt wird. Dieser Einschränkung steht die von der kohärenztheoretischen Prämisse induzierte Erweiterung entgegen, die die Grenzen der eingeschränkten Romanwirklichkeiteri auflöst. Ein solches Verfahren kann sich zunächst auf poetologische Voraussetzungen der Zeit selbst berufen: »Alleine da dieser Zusammenhang der würcklichen Dinge, den wir die gegenwärtige Welt nennen, nicht lediglich nothwendig ist, und unendlich vielmahl könnte verändert werden«, so schreibt Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst, »so müssen ausser derselben noch unzehlbar viele Welten möglich seyn, in welchen ein anderer Zusammenhang und Verknüpfung der Dinge, andere Gesetze der Natur und Bewegung, mehr oder weniger Vollkommenheit in absonderlichen Stücken, ja gar Geschöpfe und Wesen von einer gantz neuen und besondern Art Platz haben. Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche
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Langen (1964), S. 26. Zwar ist bekanntlich auch Benjamins Grundgesetz des Schrifttums aus romantischen Prämissen abgeleitet. Daß dabei aber - im Gegensatz zu vielen, die sich auch in seiner Nachfolge auf die Romantik berufen - kein integrierendes, sondern ein differenzierendes Verfahren gemeint ist, geht daraus hervor, daß Benjamin im Wahlverwandtschaften-Aufsatz den Wahrheitsgehalt an den Sachgehalt, und nicht umgekehrt, gebunden sieht, wobei der Wahrheitsgehalt eines Werkes desto bedeutender ist, je unscheinbarer und inniger er an seinen Sachgehalt geknüpft ist. Vgl. Benjamin (1922, in ders. 1977, S. 63 f.) Als Erweiterung einer Kohärenztheorie der~Wahrheit. Vgl. hierzu Davidson (in Henrich [1983], S. 423-38).
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Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frey ist, und in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist.«18 Die Kohärenzbedingungen der imaginativen Wahrheit, die das schöpferische Vermögen des Autors limitieren, werden (im Unterschied zur göttlichen Schöpferkraft) zusätzlich von der Natur des Menschen diktiert. Daß der vom Autor eingesetzte Erzähler, der sich am göttlichen Ideal mißt, unabhängig von seinem philosophischen Glaubensbekenntnis seine Subjektivität, um sie zu beschränken, zugleich erzählerisch überschreiten muß (nämlich - unter dem Druck sowohl ästhetischer als auch moralischer Normen - in Hinblick auf das Ideal der göttlichen Schöpfung), macht seine Zweigesichtigkeit aus, die im geschichtsprägenden Schattenriß der romantischen Retrospektive unterschlagen wird. Der Poetik der >möglichen Welten< antwortet eine (auf Kohärenzprinzipien gegründete) Vergleichung von >Interpretationswelten Grundthese des Interpretationismus< gilt, »daß wir uns immer schon in Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen befinden und daß diese Verhältnisse als >interpretativMeßfehlers< unter den Tisch gekehrt. Allerdings: Schon Jean Paul stellte fest, daß »gegen Philosophie und die Nymphe Echo [...] niemand das letzte Wort [behält]«,20 und so wird auch das hier vorgetragene Unternehmen einer literaturhistorischen Differenzierung des Zeitgeistes um 1800 (nach den methodologischen Parametern einer Kohärenztheorie des Imaginären) mit philosophischen Vergeltungsansprüchen zu 18 19 20
Breitinger, Critische Dichtkunst, I, S. 56 f. Abel (1996), S. 271. H1/3, S. 1013 (zur Zitierweise bei Jean Paul vgl. Fußnote l im 2. Teil der vorl. Arbeit).
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rechnen haben, die ihrerseits dies Projekt als Ausdruck verschwindender oder verschwundener Subjektivität in ein geistesgeschichtliches Koordinatensystem höherer Ordnung zu integrieren versuchen könnten. Um solchen Ansprüchen zuvorzukommen, wird der Leser an dieser Stelle gebeten, hinter die Schwelle seiner (möglicherweise) geschichtsphilosophisch präformierten Weltanschauung zurückzutreten und ins Zwielicht der von der ausschweifenden Subjektivität kabbalistischer Lottospieler, betrügerischer Alchemisten, reisender Physiognomisten und intrigierender Geheimbundemissäre beherrschten Zeit im Ausgang des 18. Jahrhunderts einzutauchen, sowie die Grenze zum 19. zunächst auf dem Schleichweg der Literatur zu hintergehen und erst in der Retrospektive des vierten Teils den (hegelianischen) Grenzverlauf und die angebliche Landeshoheit der aufklärerischen Philister über das 18. Jahrhundert anzuerkennen.
L Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt l. Die vier Disziplinen des Okkulten KARL VON ECKARTSHAUSEN,1 Geheimrat und enttäuschter Illuminat, erklärt in seinen Entdeckten Geheimnissen der Zauberey, einem jener ambivalenten Texte, die sich genau auf der Grenzlinie zwischen aufklärerischer Kritik und Schwärmerei-Apologie bewegen, im Brustton aufgeklärter Überzeugung: Das Wunderlichste ist, daß Menschen, deren Geist einmal auf Ausschweifungen gerät, nie mit einer Narrheit zufrieden sind. Daher associrt sich zur Goldmacherey die Schatzgräberkunst, die Lotterieabrechnungen und Teufelsbeschwörung; mit einem Worte: eine Menge Hirngespinste einer erhitzten Einbildung.2
Der von ECKARTSHAUSEN verworfene Apostel, der Gründer des Illuminatenordens, ADAM WEISHAUPT, hatte bereits einige Jahre zuvor in seiner Apologie die folgende Confessio formuliert: Ich kann sagen, ich habe beinahe den ganzen Cursus aller menschlichen Wahrheiten durchgemacht; ich habe Geister beschworen, Schätze gegraben, die Cabale befragt, Lotto gespielt, ich mußte in allen diesen Thorheiten selbst eingeweiht werden, an sie
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Zu ECKARTSHAUSEN vgl. Struß (1955). Im Haupttext der Untersuchung werden nur natürliche Personen (sofern ihre Namen sich nicht auf Literaturverweise beziehen) und die apologetischen und kritischen Publikationsorgane der Zeit durch Kapitälchen als Elemente der raum-zeitlichen Welt ausgezeichnet, imaginäre Personen der hermetischen, kritischen und fiktionalen Welt aber nicht. Weiterhin werden alle Primärtexte (mit Ausnahme der in Werkausgaben enthaltenen) mit vollem Titel, die Sekundärliteratur hingegen nur mit Kurztiteln angezeigt. K. v. Eckartshausen, Entdeckte Geheimnisse der Zauberey. Zur Aufklärung des Volkes über Aberglauben und Irrwahn, München 1790, S. 164.
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glauben, um ihre Nichtigkeit zu erfahren. Nur Metalle habe ich nicht verwandelt, und daran war der Mangel schuld, in welchem ich allzeit gelebt habe.3
Hier sind bereits drei der vier Phänomene, die das historisch-metaphorische Netz dieser Arbeit knüpfen sollen, in einen verbürgten Zusammenhang gebracht: Die >GoldmachereyMagia naturalisMagienStein der Weisem In WIELANDS Aufsatz Gedanken über die Ideale der Alten wird das Bild des Schleiers zu Sais ausdrücklich in den Zusammenhang der Figur einer Erklärung des Unerklärlichen gestellt. Dabei wird auch auf die hermetische Naturwissenschaft angespielt, aber das Unerklärliche ist, wie WIELAND betont, jetzt nicht mehr das >höhere< Geheimnis der Natur, sondern das unergründliche Wirken der Phantasie: Aber müssen wir denn alles erklären wollen? und ist es nicht genug, wenn wir wissen, so ist die Sache! - Man sage mir nicht, das heiße ohne Noth die weislich verbannten Qualitates occultas zurück berufen; denn ich will nichts damit erklären; ich will nur, daß man nicht durch unzulängliche Data, und durch Heischesätze, denen man mehr Ausdehnung giebt als sie haben, zu erklären meine was sich nicht erklären läßt. Der Weg des Genies ist aer fünfte zu den vier Wegen, die dem König Salomon zu wunderlich vorkamen. (Sprichw. Sal. Kap. 30. v. 18. 19.) Aristoteles und zwanzig andre konnten wohl über die Werke Homers filosofieren; aber keiner von ihnen hat uns noch ein Recept geschrieben, wie man eine Ilias machen könne, oder uns erklärt, wie die Ilias in Homers Schädel entstanden ist. Warum sollte es mit dem Jupiter des Fidias nicht eben so seyn? (W 24, S. 226 f.)
In »aller Bescheidenheit«, wie er sagt, vertritt also WIELAND die Auffassung: Die Imaginazion eines jeden Menschenkindes, und die Imaginazion der Dichter und Künstler insonderheit, ist eine dunkle Werkstatt geheimer Kräfte, von denen das ABC Buch, das man Psychologie nennt, gerade so viel erklären kan, als die Monadologie von den Ursachen der Vegetazion und der Fortpflanzung. Wir sehen Erscheinungen - Veranlassungen - Mittel - aber die wahren Ursachen, die Kräfte selbst, und wie sie im Verborgenen wirken, - über diesem allen hängt der heilige Schleier der Natur, den kein Sterblicher je aufgedeckt hat. (Ebd. S. 228 f.)
WIELAND war sich dabei der Tatsache bewußt, daß das Motto zu seiner Zeit von theosophischen, mystischen und hermetischen Schwärmern aller Art in Anspruch genommen wurde. »Die Wahrheit läßt sich nur Adepten gewandlos sehen«, schreibt er im Epos Idris und Zenide (AA 1/7, S.208), und er meint
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damit natürlich - der Sperrdruck hebt die Ironie hervor - daß sich die reine Wahrheit den Sterblichen überhaupt nicht ohne Schleier offenbart. In diesem Sinne äußert sich auch der Romanheld im 16. Buch des Agathon: Unsre größte Angelegenheit ist, zu wissen, wer wir selbst sind, wo wir sind, und wozu wir sind. Hierin fuhren uns unsre Sinne mit Hülfe unsrer Vernunft gerade so weit, aber nicht einen Schritt weiter, als nöthig ist um einzusehen, daß wir in diesem kurzen Daseyn unsern Wünschen und Bestrebungen kein höheres Ziel setzen können, als selbst so glücklich zu seyn, und so viel Glück als möglich um uns her zu verbreiten. Weiter reicht unser Vermögen nicht. Den undurchdringlichen Schleier, der auf dem Geheimnisse der Natur liegt, aufdecken zu wollen, wäre ebenso vergeblich als vermessen. (W 3, S. 376)
Agathon sagt dies im Gespräch mit dem Philosophen Archytas, im Rückblick auf die »schöne Schwärmerei« seiner Jugend, zu der er in der Hingabe an die orfisch-hermetischen Mysterien verführt wurde. Archytas gibt ihm recht: »Nichts ist gewisser, Agathon, als daß den heiligen Schleier, der das Geheimnis der Natur verhüllt, kein Sterblicher aufzudecken vermag.« (W 3, S.380) Allen diesen skeptischen Beteuerungen scheint es nun allerdings zunächst zu widersprechen, wenn WIELAND in der Vorrede zu seiner Märchensammlung Dschinnistan das Verhältnis von Verschleierung und Wahrheit in folgende Worte faßt: Man fand, daß Witz und Laune, ja sogar Philosophie und selbst Philosophie von der esoterischen Art sich mit dieser populären, von aller Prätension so weit entfernten Dichtart sehr wohl vertrage; und daß sie eine sehr gute Art sey, gewisse Wahrheiten, die sich nicht gern ohne Schleyer zeigen, in die Gesellschaft einzuführen; oder solche, die in einem ernsthaften Gewände etwas abschreckendes haben, gefällig und beliebt zu machen. (AA/18, S. 7)
Der scheinbare Widerspruch zwischen ernsthaft agnostischer Resignation und leichthändiger Verschleierungs- und Enthüllungslaune löst sich jedoch auf, wenn man das beiden Einstellungen gemeinsam zugrundeliegende Verfahren des Dichters untersucht, das darin -besteht, aus den Schlagworten der erwähnten >esoterischen Philosophie< den metaphorischen Stoff seiner Erzählung zu weben, um die »Wahrheiten, die sich nicht gern ohne Schleier zeigen«, zuletzt durch den metaphorischen Schleier hindurch als Hintersinn zu offenbaren. Bereits in den journalistischen Arbeiten der 80er Jahre hatte WIELAND die Methode der Umdeutung der zwielichtigen Schlagworte des hermetischen Okkultismus erprobt. Den schon erwähnten Aufsatz über PAUL LUKAS und NICOLAS FLAMEL nahm Wieland später in die Ausgabe seiner Werke auf und stellte ihm die Märchenerzählung Der Stein der Weisen zur Seite, die er als
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eines von zwei Stücken der Dschinnistan-Sammlungen für eigenhändig erklärte. Der Erzähler dieses Werkes ist janusköpfig wie die Bezeichnung »Märchenerzählung« selbst. Zwar sind zahlreiche Anleihen aus französischen Feen- und orientalischen Wundermärchen (die gleichfalls im Umweg über Frankreich rezipiert wurden) unübersehbar. Aber in doppelter Hinsicht entstammt jener Erzähler doch einer anderen Welt als die Mutter Gans oder die vielfach berufene Scheherazade. Mit seiner Erzählung beweist er nämlich die Kenntnis zweier Romane, die für den neuen Isis-Kult, der in den verschiedenen Geheimbund-Logen der Zeit blühte,95 von entscheidender Bedeutung waren: Es handelt sich dabei um den Roman Sethos von JEAN TERRASON sowie um den Goldenen Esel des APULEIUS. In Hinblick auf diesen episch-ägyptisierenden Erzählhorizont soll die Märchenerzählung im folgenden interpretiert werden,96 während der Interpret der anderen Blickrichtung des janusköpfigen Erzählers, die nach Westen, ins französische Feenland weist, nur eingeschränkt folgt (ohne sie allerdings vollständig zu vernachlässigen, da sie für das Verständnis der romantischen Umdeutung hermetischer Figuren bedeutsam wird).97 Ich fasse kurz den Handlungsverlauf von WIELANDS Erzählung zusammen, als Folie, auf der die Berührung des Erzählers mit dem Bewußtsein des Protagonisten und seines betrügerischen Verführers sprachliche Fingerabdrücke hinterläßt:
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Vgl. Journal für Freymäurer 2.3. (1785), S. 215, 3.1. (1786), S. 190. Die bisherigen Interpretationen des Stückes haben demgegenüber den Anspielungshorizont des Märc/ien-Erzählers im Blick, mit der Folge, daß die Anspielungen auf die beiden genannten Romane bisher kaum erwähnt, geschweige denn in ihren Valenzen deutlich gemacht wurden. Vgl. Apel (1978), Nobis (1976). Zum unterschiedlichen Status des Wunderbaren in Abhängigkeit von Erzählhaltung und Dichtungsgattung vgl. Oettinger(1970),S. 108 ff. Die Affinität von Märchenerzählungen und hermetischen Abenteuern ist dabei in Wielands Sicht keineswegs zufällig. Immer wieder betont er in den Sachprosa-Beiträgen der 80er Jahre den Märchenton der hermetischen Bekenntnisse. So beginnt zum Beispiel die schon erwähnte Schrift zu Nikolas Flamel mit den Worten: »Unter allen angeblichen Besitzern des Steines der Weisen, von welchen man mehr oder weniger umständliche Nachrichten hat, ist meines Wissens keiner, dessen Geschichte [...] einem Mährchen der redseligen Sultanin Scheherezade ähnlicher sähe, und dennoch wegen des sonderbarsten Zusammentreffens beglaubigender Umstände mehr Aufmerksamkeit verdiente, als die Geschichte des berühmten Adepten Nikolas Flamel, welche ich in gegenwärtiger Abhandlung näher zu beleuchten gesonnen bin.« (W 30, S. 204 f.) Und auch im Aufsatz Vermuthliche Erklärung des Problems wie der Graf Cagliostro seine hermetische Weisheit von Egyptischen Priestern bekommen haben könne werden die Bekenntnisse des Grafen als »neue arabische Mährchen« bezeichnet. (AA 1/15, S. 120 f.)
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Am Hof des zur Schwärmerei neigenden Königs Mark gehen die »Schatzgräber, Geisterbeschwörer, Alchymisten und Beutelschneider«, die sich »Schüler des dreimal großen Hermes« nennen, ein und aus; eines Tages erscheint ein ägyptisierender Schwindler mit Namen »Misfragmutosiris«, der von sich behauptet, in die hermetischen Geheimnisse eines ägyptischen Ordens eingeweiht zu sein, welche die Fähigkeit, niedere Metalle in Gold zu verwandeln, miteinschließen. Mark schenkt den unglaublichen Versprechungen Glauben und richtet für Misfragmutosiris ein alchemistisches Laboratorium ein, zu dem allen Uneingeweihten der Zutritt verwehrt ist. Zur verabredeten Stunde, in der Mark erscheinen soll, um das Resultat des großen Werks, das »große Universal«, in Empfang zu nehmen, ist der Magier mit den vom König eingesetzten Schätzen jedoch plötzlich verschwunden, und anstelle des Steins der Weisen findet Mark einen Stein, der ihn bei Berührung in einen Esel transmutiert. Als solcher irrt er durch die Wildnis seines Landes und findet auf dem Weg märchenhaften Zufalls zum Unterschlupf des Misfragmutosiris (der eigentlich Gablitone heißt)98 und seiner hermetischen Komplizin. Der königliche Esel belauscht das Gespräch der Betrüger und erkennt sich als Opfer der Intrige, ohne aber in seiner Selbsterkenntnis bis zum Grund seiner schwärmerischen Verblendung vorzudringen. Erst ein visionärer Traum kuriert ihn schließlich, indem er ihm das erhoffte Unmögliche als reale Möglichkeit vor Augen führt: Er sieht sich im Besitz des großen Universals und ist doch infolge dieses Besitzes der unglücklichste Mensch seines Landes. Er erkennt den illusionären Charakter seiner Hoffnungen, und mit dem hermetischen Schleier der Verblendung fällt auch die Eselshaut von ihm ab. So findet Mark zu seiner vernachlässigten Frau zurück, und das einfache Leben mit ihr in der idyllischen Natur wird ihm zu seinem wahren »Stein der Weisen«. Das Dreigestirn von Erzähler, Betrüger und Betrogenem ist in Hinblick auf das hermetische Bewußtsein dieser Subjekt-Trias von unterschiedlicher Transparenz. Der König Mark ist ein typischer Schwärmer; in der Konstellation seiner Seelenkräfte trägt die Einbildungskraft stets den Sieg über die Vernunft davon." Aber gerade sein von paradoxen Begriffen und Wünschen getrübtes Bewußtsein wird vom Erzähler vollständig transparent gemacht. Mit jeder vergeblichen Hoffnung, in den Besitz des »großen Universals« zu gelangen, nimmt die Eintrübung seines Geistes zu:
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So hieß auch JOHANN CASPAR LAVATERS >spiritus familiarise Vgl. J. G. Gruber, Wielands Leben, Leipzig 1827/28, S. 266 f. Zu LAVATERS Protokoll ebd. S. 284. Zur Figur des Schwärmers bei WIELAND liegen zahlreiche Arbeiten vor; vgl. V. Lange (1962), G. Geyer (1969), J. Viering (1976), H. J. Schings (1977), S. 197-203, J. Heinz (1994).
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt Einem ändern wären vielleicht nach so vielen verunglückten Versuchen die Augen aufgegangen; aber Mark, dessen Augen immer trüber wurden, wurde desto hitziger auf den Stein der Weisen, je mehr er sich vor ihm zu verbergen schien. Seine Hoffnung den allgestaltigen Proteus endlich einmahl fest zu halten, stieg in eben dem Verhältnisse, wie die Schale seines Verlustes sank: er glaubte, daß er nur noch nicht an den rechten Mann gerathen sey; und indem er zehn Betrüger fortjagte, war ihm der eilfte neu angelangte willkommen. (W 30, S. 278 f.)
Die Verschleierung seines Blicks auf die Welt bei gleichzeitiger Transparenz seiner naiven Hoffnungen macht deutlich, daß sich der Erzähler auf die Perspektive des Schwärmers einläßt. Demgegenüber bleibt der Charakter des Betrügers Misfragmutosiris, der sich als der lange erwartete »rechte Mann« darzustellen versucht, zunächst opak. Er wird nur äußerlich vorgestellt, so wie er dem hermetisch eingetrübten Blick des König erscheint, und stellt sich dabei als ein beliebiges Exemplar aus der Klasse der »Schatzgräber, Geisterbeschwörer, Alchymisten und Beutelschneider« dar, wenn auch in märchenhafter Überzeichnung: Er nannte sich Misfragmutosiris, trug einen Bart der ihm bis an den Gürtel reichte, eine pyramidenförmige Mütze, auf deren Spitze ein goldner Sfmx befestigt war, einen langen mit Hieroglyfen gestickten Rock, und einen Gürtel von vergoldetem Bleche, in welchen die zwölf Zeichen des Thierkreises gegraben waren. (W 30, S. 279)
Geheimnisvoll genug also erscheint der Magier - sowohl für Mark, um die »Neugier des leichtgläubigen Königs hoch hinauf zu schrauben«, (ebd.) als auch für den Leser, um dem König wenigstens ein Stück weit auf der Spirale des Unbegreiflichen zu folgen: Hieroglyphe, Sphinx, astrologische Zeichen mithin alle von der hermetischen Ideologie in Anspruch genommenen okkulten Verschleierungsinsignien der »höheren Vernunft« - sind am Magier befestigt und machen ihn zu einem wandelnden esoterischen Geheimnisversprechen. Der Erzähler, indem er sich selbst des magischen Wortschatzes bedient (jener Begriffe also, in denen Mark denkt, wenn er vom allgestaltigen Proteus spricht), macht dem Leser das >höherehöhere Mächte< im Spiel sein konnten, die ihn in Gestalt einer »Kugel vom reinsten gediegenen Feuer« (W 30, S. 282) in die Brunnentiefe im Zentrum der Pyramide hinunterführen. Seine ganze Geschichte wird von sich gegenseitig überbietenden transzendenten Attributen getragen, die den Unfaßbarkeits-Topos des Okkultismus mit den rhetorischen Figuren der Enthusiasmus-Ästhetik kurzschließen:107 Eine »unendliche Menge von Karfunkeln« schmückt die unterirdische Halle, an den goldenen Säulen befinden sich »unzählige« Hieroglyphen (W 30, S. 286), die Edelsteine schimmern in »allen möglichen Farben«. (Ebd.) Alle rationalistischen Einschränkungen des Sethos-Romans werden außer Kraft gesetzt, alle natürlichen Wunder ins Übernatürliche gesteigert. Indem er sich vollkommen dieser Traumerzählung einer angeblichen IsisInitiation hingibt, verstrickt sich der König vollends in den Schleier hermetischer Weltsicht. »Ich möchte da wohl an euern [sie] Platze gewesen seyn« (W 30, S. 286) ruft er aus - und befindet sich doch geistig bereits am Platz des falschen Mystagogen, womit er genau jenen Anspruch erfüllt, den WIELAND in der Vorrede zu Dschinnistan an den Leser gestellt hatte, nämlich »die fremden Empfindungen [...] unvermerkt zu eigenen werden zu lassen«. (AA 1/18, S. 11.) Des Königs Empfindungen sind dementsprechend ganz in der Traumwelt des Betrügers aufgegangen, während sein Körper »versteinert« in der Wirklichkeit zurückbleibt: König Mark, der in der Stellung eines versteinerten Horchers, den Leib schräg vorwärts gebogen, mit straff zurückgezogenen Füßen, beide Hände auf die Knie gestützt, ihm gegenüber saß, und furchtsam nur eine Sylbe von der Erzählung zu verlieren, wiewohl
"* Terrassen (1777-1778), S. 153. 107 Vgl. hierzu den Abschnitt »Das >Unendliche< und das Wunderbare« bei Viering (1976), S. 99 ff. Viering zeigt dort, wie der Eindruck des >Unendlichen< und >Unermeßlichen< den Wielandschen Schwärmer in seinem Glauben ans Wunderbare bestärkt.
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt unter beständigem Schaudern vor dem was kommen würde, mit zurückgehaltenem Athem und weit offnen Augen zuhörte. (W 30, S. 282)
Da Mark jetzt das Unglaubliche glaubt und sich mit der Anschauung des Unendlichen, das sich jeder Anschauung entzieht, identifiziert, scheint seiner überhitzten Einbildungskraft nichts mehr unmöglich. Auch die feuerspeienden Drachen und die magisch-hermetischen Figuren, mit denen Misfragmutosiris seine Erzählung ausschmückt, bringen ihn nicht wieder zu sich. Und als der Magier schließlich die Wundergeschichte in einen Traum auflöst, reagiert Mark keineswegs ernüchtert, sondern deutet auch dies noch als ein Moment des Wunderbaren: »Wunderbar! seltsam, bey meiner Ehre!« ruft er »mit allen Zeichen des Erstaunens und der Überraschung« aus. (W 30, S. 290) Er glaubt jetzt alles, was man ihm erzählt, und Misfragmutosiris kann ihn »mit seinem gewöhnlichen Kaltsinne« belehren: »Alles ist möglich« (W 30, S. 292). Der Erzähler macht sich in gewohnt lapidarer Weise diese vermessene Behauptung zu eigen: »König Mark, der einen Mann, dem nichts unmöglich war, zum Freunde hatte, glaubte den Stein der Weisen schon in seiner Tasche zu fühlen«. (W 30, S. 293) Die Ermöglichung des Unmöglichen, der paradoxe Anspruch des Alchemisten, wird somit als Erzählfigur realisiert, indem der betrügerische Anspruch des Okkultisten (der für die ganze hermetische Brüderschaft steht) beim Wort genommen und mit dem aufklärerischen des Erzählers kurzgeschlossen wird. Die Verblendung des Königs erreicht ihren Höhepunkt in seiner Metamorphose in die Eselsgestalt. Doch auch dieser Einfall des Erzählers entstammt nur bedingt der »dunklen Werkstatt geheimer Kräfte« oder ihrem heiteren Gegenbild, der Werkstatt des von WIELAND so häufig berufenen übermütigen »Geistes Capriccio«, sondern kann als Faden im Anspielungsgewebe des Textes isoliert werden, und zwar auf der selben Ebene und im selben Gegensinn, in der Misfragmutosiris' Traum auf die Isis-Initiation des SethosRomans von TERRASSON antwortet: Auch in den Metamorphosen des APULEIUS wird der Romanheld in einen Esel verwandelt und erst im elften Buch seines Roman-Lebens auf dem Wege der Initiation in die Mysterien der Isis wieder erlöst,108 worauf er sich auf Geheiß der Göttin zum Dienst an ihren Mysterien verpflichtet. Während also Lucius, indem er sich der Isis weiht, aus seiner Eselsgestalt befreit wird, hat der Glaube des Königs Mark an die Initiationsgeschichte des falschen Isis-Priesters Misfragmutosiris die genau entgegengesetzte Wirkung. Bezogen auf das Motto läßt sich dieser Sachverhalt dahingehend reformulieren, daß der vermessene Anspruch auf mystische
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* Vgl. Lucius Apuleius, Metamorphosen oder Der goldene Esel, hrsg. von R. Helm, Berlin2 1956. Zu APULEIUS vgl.: TM Oktober 1782, S. 94 f.
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Entschleierang die reale Verschleierung und Verblendung schließlich vollständig macht. Denn auch der Esel denkt hermetisch und sieht die Welt durch einen mystischen Schleier, aber der Erzähler hält ihm auch in der tiefsten Not die hermetische Treue und läßt sein getrübtes Weltbild anteilnehmend transparent erscheinen: Das seltsamste bey dem allen war, daß er die unselige Grille, die ihn so theuer zu stehen kam, das Verlangen nach dem Besitze des Steins der Weisen, auch in seinem Eselsstande nicht aus dem Kopf kriegen konnte. Den Tag über dachte er an nichts andres, und des Nachts träumte ihm von nichts anderm. (W 30, S. 316)
Nun greift ein »wohltätiger Genius« ein, der Mark zu heilen gewillt ist, indem er sich »diese Disposizion seines Gehirns zu Nutze« macht. Diese therapeutische Intention verbindet den »Genius« mit dem journalistischen Aufklärer und Popularphilosophen WIELAND, der im Aufsatz über den natürlichen Hang des Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben gleichfalls vorgeschlagen hatte, die mystischen Dispositionen der menschlichen Natur nutzbar zu machen, um sie nicht hermetischen Taschenspielern wehrlos ausgeliefert sein zu lassen.109 Der Genius im Märchen überreicht dem König im Traum eine Zauberlilie und verspricht, mit diesem Werkzeug lasse sich alles in Gold verwandeln. Der schwärmerische König - als einen solchen träumt sich Mark trotz seiner Eselsgestalt immer noch - gerät in einen wahren Goldrausch und transmutiert, soviel er nur transmutieren kann: Es fanden sich Künstler und Arbeiter aus allen Enden der Welt bey ihm ein, und alle nur ersinnliche Produkte und Waaren wurden ihm aus Italien, Griechenland und Ägypten in unendlichem Überfluß zugeführt. Er ließ Berge abtragen, Thäler ausfüllen, Seen austrocknen, schiffbare Kanäle graben; er führte herrliche Paläste auf, legte zauberische Gärten an, erfüllte diese oder jene mit allen Reichtümern der Natur, mit allen Wundern der Künste, und das alles, so zu sagen, wie man eine Hand umwendet. (W 30, S. 318 f.)
Die geträumte mögliche Welt führt sich in ihren transzendenten Attributen selbst ad absurdum: Die hermetischen Ansprüche erweisen sich als empirisch sinnlos und als logisch widersprüchlich. Die inflationäre Goldproduktion stürzt das Land in grenzenlose Armut, statt ihm zu unendlichem Reichtum zu verhelfen. Der König, noch immer aufs Gold fixiert, hat in dieser Situation keine bessere Idee, als an das notleidende Volk Gold verteilen zulassen, das doch längst nichts mehr wert ist. So ruiniert er sich und sein Volk allmählich im Traum, denn so wie dieses schließlich gänzlich verarmt, so wird er vom grenzenlosen Genuß zugrunde gerichtet:
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W 24, S. 71-92.
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt In diesem Zustande merkte König Mark, daß es noch ein elenderes Geschöpf gebe als einen halb tod geprügelten Esel, und daß dieses elendeste aller Geschöpfe ein König sey, dem irgend ein feindseliger Dämon die Gabe Gold zu machen gegeben, und der unsinnig genug habe seyn können, ein so verderbliches Geschenk anzunehmen. (W 30, S. 322)
So findet die Umwertung aller bisher für den Schwärmer gültigen Werte statt: Aber wie unbeschreiblich war dafür auch seine Freude, da er mitten in diesem peinvollen Zustand erwachte, und im nehmlichen Augenblicke fühlte, daß alles nur ein Traum, und er selbst glücklicher Weise der nehmliche Esel sey, wie zuvor. Er stellte jetzt, in der lebhaften Spannung, die dieser Traum seinem Gehirne gegeben hatte, Betrachtungen an, wie sie vermuthlich noch kein Geschöpf seiner Gattung vor ihm angestellt hat; und das Resultat davon war, daß er aus voller Überzeugung bey sich selbst festsetzte, lieber ewig ein Esel zu bleiben, als ein König ohne Kopf und ein Mensch ohne Herz zu seyn. (W 30, S. 322 f.)
Im Traum noch wird also die Seele des königlichen Esels umgestimmt, und erwachend muß er nur noch die logischen und psychologischen Konsequenzen ziehen, um zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Von dieser Erkenntnis führt ihn dann ein gerader Weg in die schäferliche Idylle, in welcher er seine Erfüllung finden soll. Da er innerlich gewandelt ist, wird auch die apuleische Maske überflüssig. Das märchenhafte Standardverwandlungsmittel der Lilie, die er verzehrt, genügt, um seine Rückverwandlung in menschliche Gestalt zu bewerkstelligen. Des Königs Einsamkeitsbedürfnis ist gestillt, und die schwärmerischen Zeiten sind vorüber. In der ländlichen Idylle findet er erst eigentlich zu sich selbst: »Nun war er selbst ein Mensch, und nichts als ein Mensch; und wie hätte er das seyn können, als er König, und, was noch ärger ist, ein thörichter und lasterhafter König war?« (W 30, S. 329) So ist auch hier die in WIELANDS Werk vielfach variierte These eingelöst, daß »das eigentliche Wunder der Mensch« sei. In der Erfüllung der titelgebenden Metapher vom »Stein der Weisen« löst sich schließlich der doppelte Sinn der Erzählung ins anthropologische Konzept der beschränkten Eudämonie auf; alles, was der König in seinen Verwandlungen durchmachen mußte und was der Erzähler hintersinnig in der Sprache der Magie kommentierte, war bereits vorausweisend gerechtfertigt. durch die umfassende Umdeutung hermetischer Bedeutungen in moralische. Retrospektiv wird also auch die doppeltsinnige Rede als Vorgriff auf die gelungene Metapher des Endes gerechtfertigt, in welcher der König in der Wildnis den Stein der Weisen (W 30, S. 338) eines arkadischen, von allen paradoxen Ansprüchen befreiten Lebens findet.
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2.3.2. Die Pforte in der Mauer der Inkommensurabilität: Jung-Stillings Roman >Theobald oder die Schwärmen Der ontologische Überschuß des Erzählens vor dem Erleben, der die Voraussetzung von WIELANDS Umdeutung hermetischer in moralische Metaphorik bildete, wird in JOHANN HEINRICH JUNG-STILLINGS Roman Theobald oder die Schwärmer, der im selben Jahr wie der Stein der Weisen erschien, nicht berührt. Die »wahre Geschichte« eines Schwärmers mit immer wieder neu erwachendem »Hang zum Wunderbaren« (JS W/6, S. 223),110 die JUNGSTILLING dem Untertitel des Romans zufolge erzählen will, soll nach Auskunft des Verfassers dem Zweck dienen, »zu belehren, daß der Weg zum wahren zeitlichen und ewigen Glück zwischen Unglauben und Schwärmerei mitten durchgehe« (JS, IV/ 6, S. 8), und die Realien, die diesen Sachverhalt demonstrieren sollen, sind »aus lauter wahren Geschichten zusammen[gesetzt], so daß eigentlich nichts erdichtet, sondern nur der Gang der Dinge anders geordnet ist«. (Ebd.) Anders als in WIELANDS märchenhafter Welt erfüllen die hermetischen »Hieroglyphen« bei JuNG-STiLLING nicht die Funktion rhetorischer Wegweiser, die dem Leser die Tendenz des erzählten Lebenswegs zwischen den Polen der Schwärmerei und der Vernunft anzeigen.111 Das bedeutet jedoch nicht, daß die Bilder als autonom und für sich stehend betrachtet werden können. Eine hintergründige Wahrheit hinter den hermetischen Chiffren wird auch bei JUNG-STILLING ausdrücklich angenommen: Die egyptischen Priester, welche ihre geheimnißvolle Wahrheiten unter Hieroglyphen versteckten und sie dem Volk vorstellten und durch Parabeln erklärten, gaben dadurch zur Abgötterei, und zwar zur niedrigsten, die sich denken läßt, Anlaß: denn anstatt sich um die Wahrheiten zu bekümmern, welche unter dem Symbol des Ochsen Apis und des Hundes Anubis und der Göttin Isis vorgestellt wurden, nahm das Volk den Ochsen, den Hund und das Bild der Isis für die Sache selbst. Die Schwärmerei des Volks steckte endlich sogar die Priester an, und so ging das hohe Ideal der reinen Natur und Schöpfungsdienstes verloren, und Aberglauben und Dummheit traten an die Stelle. (JS, IV/6, S. 150)
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Der Roman wird zitiert nach: Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, Sämmtliche Schriften (im Folgenden abgekürzt JS Abt./Band), Stuttgart 1835-1838, Bd. 6 (1837), Neudruck Hildeshem - New York 1979. Rätselhafterweise ist die Forschung zur Schwärmer-Thematik einer Berücksichtigung von JUNGS-STILUNGS Romanen bisher weitgehend ausgewichen. Während zu WIELAND (vgl. Fußnote 99), WEZEL (Knautz, 1990) und HIPPEL (Kohnen, 1968) gründliche Einzeluntersuchungen vorliegen, beschränkt sich die Beschäftigung mit JUNG-STILLING auf die historisch unzureichenden und interpretatorisch kryptischen Hinweise in StennerPagenstecher 1985), S. 51-94.
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Der Kapuzinerpater, der dem Schwärmer Theobald dies nahelegt, will das Bild der Isis durch die »geoffenbarte Hieroglyphe«, das bildlose »Urbild, das Original aller Symbole« ersetzt sehen (JS IV/6, S. 153). Hinter dem Schleier zu Sais offenbart sich für ihn das offenbare Geheimnis der christlichen Heilslehre.112 Der Erzähler läßt keinen Zweifel daran, daß er sich dieser Forderung anschließt. Sowohl das hermetische wie auch das theologische »Original aller Symbole« ist in seinem Besitz, er verfügt über die hintergründige Wahrheit der hermetischen »Hieroglyphen« und der christologischen Figuren, so wie er über die Sachgehalte der Dichtung verfügt, die er allein aus Rücksicht auf die Betroffenen verschleiert. (JS IV/6, S. 8). Aber anders als WIELAND nützt JUNG-STILLING diese auktorial-rhetorische Allmacht nicht dafür, den hermetischen Hieroglyphen einen neuen Sinn zuzuschreiben. Die Schlagworte des Okkultismus bleiben ambivalent - entweder stehen sie für sich und bleiben damit »unaussprechlich«, oder sie müssen ersetzt werden. Substituierbar sind sie allein durch die offenbarten Wahrheiten der Religion: Hört all ihr guten Leute! die ihr euch durch dergleichen Bücher bethören laßt, den Stein der Weisen zu suchen und euren Beruf zu versäumen, ich rede gewisse Wahrheit, glaubt mir so fest als wenns euch ein Engel gesagt hätte; kein Mensch in der Welt kann das große Universal kennen lernen, viel weniger machen, als durch mündliche Anleitung; und wenn ihr alle Bücher und Schriften der Welt durchleset, so hilft euch das Alles gar nichts! Da hilft euch keine Mühe, kein Suchen, -ja, ich sage euch die Wahrheit, nicht einmal das Gebet hilft euch! Denn dies große Geheimniß ist euch ganz und gar nicht nöthig; lebt in eurem Berufe getreu, und seyd wahre Christen, so werdet ihr jenseits des Grabes mehr besitzen, als euch hier der Stein der Weisen geben kann. (JS IV/6, S. 130)
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Bereits in JuNG-SriLLiNGS erstem, anonym im TEUTSCHEN MERKUR veröffentlichten poetischen Versuch, der orientalischen Erzählung< Ase-Neitha (TM September 1773, S. 220-237 und TM Oktober 1773, S. 119-134) stand eine Variation des Isis-Mottos im Zentrum, die das hieroglyphische Geheimnis mit der biblischen Offenbarung kompatibel erscheinen lassen sollte (Neith war die ursprünglich in Sais verehrte Gottheit, vgl. R. Schlichting, Lexikon der Ägyptologie, IV, 3 [1980], Sp. 392-394). Die Erzählung beginnt mit der Frage: »Sage mir, Schnitter, weißt du den Weg nach Sais?« (TM September 1773, S. 220) und zeigt den alttestamentarischen Helden Joseph auf dem Weg von Memphis ins Heiligtum zu Sais, wo er das Rätsel der Neitha-Priesterin AseNeitha zu lösen hat, um deren Liebe zu gewinnen. Das verschleierte Bild der Göttin taucht im Traum Ase-Neithas auf, und sie bittet die Göttin: »Komm thue den Schleyer hinweg, daß ich dich liebe.« (TM Oktober 1773, S. 121) Joseph enthüllt das Rätsel, das auf das Wirken von Abrahams Weisheit in Ägypten verweist, und gewinnt auf diese Weise die Liebe der Priesterin.
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Neben diesem exoterischen Bewußtsein, das sich diesseits der hermetischen Geheimnisse auf dem festen Boden christlicher Heilserwartung befindet, verbirgt sich in der Person des Erzählers jedoch zugleich ein esoterisches, das die Wahrheit der Hieroglyphen anerkennt. Dieses Bewußtsein wird durch die Erzählermaske hindurch vernehmbar, wenn der Erzähler ein Wort an die »wahren Forscher der Natur«, also die rosenkreuzerisehen Anhänger der hermetischen Kunst, anfügt: Euch, wahren Forscher der Natur, sage ich nur ein paar Worte: alle Weisheit hilft nichts zur Sache, wenn man nicht die sieben reine[n] Flämmchen vor dem Thron Gottes kennt; wer die noch nicht ganz gewiß und ohne zu irren in jedem Theilchen der Schöpfung wirken sieht, der zünde nur ja keine Kohle an, den Stein der Weisen zu suchen!!! Ich habe da Worte gesagt, welche von Pol zu Pol durch alle Himmel schallen, und irre nicht; wer da sagt, ich schwärme, der verstehts entweder nicht, oder er ist hochmüthig oder ein Freigeist; Ihr versteht mich, verborgene Freunde Gottes und der Natur. (JS IV/6, S. 130 f.)
Zwischen den beiden Seiten des Erzählerbewußtseins findet keine Kommunikation statt, und daher setzt sich die Bewußtseinsspaltung des Erzählers in einer Spaltung des potentiellen Lesepublikums in zwei Klassen fort. Der gewöhnliche, geneigte und gutchristliche Leser bleibt außerhalb der hermetischen Wahrheit, der eingeweihte >höhere< Leser wird der >höheren Geheimnisse< teilhaftig. Und so wie es für den Erzähler zwei Klassen Leser gibt, verfügt er auch über zwei Formen verschleierter Geheimnisse: Die der profanen Sachverhalte und die der geheimen, hermetischen. Im Namen der geneigten Leser setzte sich der kritische Leser der ALLGEMEINEN LITERATURZEITUNG gegen die zweite Form der Verschleierung zur Wehr. Zu Beginn des zweiten Teils seines Romans antwortet JUNG-STILLING dem Rezensenten und verteidigt seine Erzähler-Konstruktion, in Hinblick auf die »sieben Flammen« und den Einwurf des Rezensenten schreibt er: Diese Stelle [...] zielt auf eine Klasse Menschen, die mich besser verstehn, als der Rezensent, und denen ich dadurch einen so lichtvollen und bedeutenden Wink gebe, daß er sie von einer gefährlichen Schwärmerei heilen muß, wenn sie nur Augen haben und sehen wollen. Da nun der rechtschaffene Beurtheiler meines Buchs, so wie ich aus Allem sehe, jene Leute und ihr System nicht kennt, so konnten ihm freilich die sieben Flämmchen auffallen, die aber ein Terminus technikus sind, den die Leute, für die der Gedanke hingeworfen ist, sehr wohl verstehen. Verzeihen Sie also, edler Mann! wenn ich Sie ersuche, solche Stellen, deren Bezug Sie nicht wissen, mit Stillschweigen zu übergehen. (JS IV/6, S. 217)
Die Dichotomic in einen exoterischen und einen esoterischen Teil des Publikums wird also offen affirmiert. Die exoterische Verschleierung, die den
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exoterischen Teil der Leser betrifft, bezieht sich auf die Pseudonymität der Romanfiguren; der profane Schleier des Pseudonyms, so äußert sich der Erzähler, wäre entbehrlich, wenn die Schwärmerei in der Welt besiegt werden könnte, wozu der Roman seinerseits beitragen will. Dahinter steht die: Ahnung, es werde viele vorwitzige Leser geben, die gern die versteckten Namen meiner aufgerührten Schwärmer enträthseln möchten; dieß wäre aber gerad meiner Absicht zuwider, nicht Personen, sondern Fehler wollt ich zur Schau ausstellen, und man wird's mir nicht übel nehmen, wenn ich Jeden derb auf die Finger klopfe, der sich untersteht, den Vorhang vor den Gesichtern wegzuziehen, die ich mit Sorgfalt verstecken wollte. Würde aber irgend eins von meinen Originalen vorwitzig seyn und hervorgucken, oder mir wohl gar Vorwürfe machen wollen, -so muß ich es seinem Schicksal überlassen, rathe aber wohlmeinend, lieber seinen Schmutz abzuwaschen, damit kein Schleier mehr nöthig seyn möge! (JS IV/6, S. 218)
Was bedeutet diese Bewußtseins-Verdopplung (auf Seiten des Erzählers) und die dadurch bedingte Entzweiung der Leserschaft in einen esoterischen und einen exoterischen Teil nun für den im Roman dargestellten Gang der Dinge? Ich wähle zur Demonstration eine Episode, die starke Motiv- und Handlungsverwandtschaft zu den Initiationsszenen im Sethos und im Stein der Weisen aufweist: Theobald hat sich den hermetischen Künsten zunächst von der theoretischen Seite her genähert. PARACELSUS, JAKOB BÖHME (JS //6, S. 115) und VON HELMONT Vater und Sohn (JS IV/6, S. 155) sind die Lichtgestalten seiner Naturanschauung; in der Bibliothek des ihm befreundeten Rosenkreuzers Rosenbach findet er »rosenkreuzerische, alchymistische und astrologische Schriften der Reihe nach, so mannigfaltig, als man sie sich nur denken konnte«. (JS IV/6, S. 124) Der junge Theobald vertieft sich in diese Schriften, die hermetische Philosophie wird sein Glaubensbekenntnis und J. V. ANDREAES theosophische Schrift »Christian Rosenkreuzers« wird sein Brevier. Ein ortsansässiger Schmied weiht ihn schließlich auch in die Anfangsgründe der hermetischen Praxis ein: Theobald hatte noch niemals einen eigentlichen Alchymisten gesehen, viel weniger mit einem gesprochen: sobald er also hörte, daß der Meister Athanasius ein solcher Mann sey, so besuchte er ihn an einem Abend heimlich, so daß es Niemand merkte; er wurde bald mit ihm bekannt, Athanasius besuchte ihn wieder, und so wurden sie nach und nach ganz vertraut mit einander. Der Schmid machte es wie alle seinesgleichen, er wollte seine Sache sehr geheim halten, und doch erfuhr ein Jeder alle seine Geheimnisse, sobald er nur vertraulich mit ihm umging. (JS IV/6, S. 127)
Das alchemistische Geheimnis des Schmieds wird jedoch schnell als grob sinnliche Beutelschneiderei entlarvt, während die >höhere< hermetische Geschwätzigkeit sich hinter der Maske der Ernsthaftigkeit und Verschwiegen-
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heit zu verbergen versteht. Auf seiner schwärmerischen Wanderschaft begegnet Theobald einem Anhänger der hermetischen Philosophie, der sich als ein »hochwürdiger Bruder des echten Rosenkreuzes« ausgibt und den ägyptisierenden Ordensnamen »Osiris« führt. »Die erhabene Miene, womit der Mann von den größten Geheimnissen sprach« (JS IV/6, S. 132) und der hieroglyphische Name (ebd.) lassen Theobald in jene Haltung schwärmerischer Erwartung verfallen, die von der Erfahrungsseelenkunde der Zeit als Voraussetzung mystischen Wirklichkeitsverlustes angesehen wird. Innerhalb eines Jahres, so verspricht Osiris, werde er Theobald in die rosenkreuzerischen Geheimnisse einweihen, um »alsdann - ohne zu fehlen, den Stein der Weisen machen, mit ihm alle Glückseligkeit erhalten, und mit der Geisterwelt vertraulich umgehen zu können«. (JS IV/6, S. 133) Die Initiationsprüfung, der sich Theobald zu unterziehen hat, ist mit derjenigen des Sethos und der angeblich geträumten des Misfragmutosiris über weite Strecken verwandt. Allein die ägyptischen Kulissen sind ausgetauscht gegen die okzidentalen einer wilden und bedrohlichen Gebirgswelt, welche jedoch die gleiche Funktion erfüllt wie die himmelhoch aufragenden Pyramiden: Einschüchterung des Initianten vor der Unermeßlichkeit, um ihn für die paradoxen Ansprüche auf Ermessen des Unermeßlichen und Begreifen des Unbegreiflichen anfällig zu machen. Der Weg ins Gebirge führt Theobald über »grauenvolle Brücken« (JS IV/6, S. 137), unf die »himmelhohen Felswänden« (JS IV/6, S. 136) und »abscheulichen Abgründe« (ebd.) kommen ihm »so grausend vor, daß er von ganzem Herzen betete« (ebd.). Unter strengem Schweigegebot findet ein Abstieg in eine »schimmernde Höhle« statt, »die mit allerlei sonderbaren mineralischen Gestalten tapeziert« scheint. (JS IV/6, S. 137) Der Mystagoge kündigt dem Initianten an, er werde jetzt »allerhand unbegreifliche Dinge sehen und hören« (JS IV/6, S. 137), aber bezeichnenderweise lassen gerade die unbegreiflichen Wunder bei Theobald auch noch die »entfernteste[n] zweiflende[n] Gedanken« schwinden, »daß er könnte betrogen werden«. (Ebd.) Im Inneren der Höhle vollzieht sich dann das in der Realität der Geheimbünde und im Echo der Literatur in unzähligen Variationen reproduzierte Zwiegespräch zwischen den unsichtbaren Ordensoberen und dem Geheimbundemissär: Theobald wird als »rohe Materie zum Mikrokosmos« bezeichnet (JS IV/6, S. 139) und stellt sich den anstehenden Prüfungen. Er ist »vor Freuden und hoher Erwartung außer sich« und - wie WIELANDS Mark- »zu Allem bereit«. (JS IV/6, S. 127) Die Ernüchterung aus diesem schwärmerischen Erwartungsrausch findet bei JUNG-STILLING jedoch kein rhetorisches Gegengewicht wie bei WIELAND, die Chiffren vom »Mikrokosmos«, vom »großen Universal« u.s.w. rufen kein Echo auf einer zweiten Sinnebene hervor. Die Aufklärung kommt daher auch von außen, nicht von innen heraus oder aus einem Traum wie bei WIELAND: Soldaten erscheinen,
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Theobald wird mitsamt der um den falschen Osiris geschälten betrügerischen Rosenkreuzerbande verhaftet und »in abscheuliche Kerker gesteckt« (JS IV/6, S. 140). Es bleibt offen, in welchem Grad die phantastische Gebirgsszenerie und der Anschein hermetisch-hieroglyphischer Ausmalungen der unterirdischen Welt nun der Phantasie des Helden und der Einbildungskraft des Anteil nehmenden Erzählers zuzurechnen sind und in welchem Grad sie der Wirklichkeit entsprechen. Nur theoretisch wird die Fähigkeit der Einbildungskraft, »die Vorstellung der innern Sinne für die äußern» zu halten, (JS IV/6, S. 207) berufen, aber einer Reflexion auf die erzählte Realität verschließt sich der Erzähler. An seiner Stelle wird ein barmherziger Kapuziner-Pater in Anspruch genommen, um dem Schwärmer die Wahrheit von der Grundlosigkeit der alchemistisch-hermetischen Hoffnungen auf Erlangung des »großen Universals« zu offenbaren. Er vergleicht das Streben nach dem Stein der Weisen mit der Leidenschaft derer, die auf die Berechnung des Unberechenbaren »große Summen in die Lotterien setzen« (JS IV/6, S. 144), und er fordert in der bereits zitierten Passage, das »Original aller Symbole« an die Stelle der abergläubischen, chiffrierten Heilsansprüche zu setzen. Trotz dieses Zeugnisses für die Offenbarungsreligion aus berufenem Munde läßt sich die hermetische Seite des Erzählerbewußtseins nicht vollständig verdrängen. Gegen Ende seines schwärmerischen Romanlebens wird Theobald, dessen Hang zum Wunderbaren indessen durch ein Studium der Medizin, eine bürgerliche Ehe und den Tod seiner Frau gedämpft wurde, in die Sphäre freimaurerischer Geheimnisse eingeweiht. Die vom Kapuzinerpater verworfenen rosenkreuzerischen Hieroglyphen erhalten in diesem Kontext zuletzt eine neue Legitimation: Ein anonymer Fremder läßt sich bei Theobald melden. Seine Erscheinung ist - im Gegensatz zu der des Rosenkreuzers »Osiris« - unprätentiös, und gerade dies macht auf Theobald einen »ungemeinen Eindruck«. (JS IV/6, S. 298) An die Stelle der pseudonymen, hieroglyphischen Geheimnisse treten die anonymen, unaussprechlichen der Maurerei: »eben darum«, so erklärt der Fremde, »hat der Orden Hieroglyphen, weil seine Wahrheiten keiner Worte fähig sind; ein Bild, eine Figur, ein Emblem ist von sehr großem Umfang; es stellt sehr viel vor. Zudem spannen die Hieroglyphen Forscherkräfte an, man möchte gern wissen, was dahinter steckt; man wird also eifrig und thätig«. (JS IV/6, S. 306) Nur in einem »Gleichnis« glaubt er zuletzt das »Freimaurer-Geheimnis« offenbaren zu können: Gesetzt: ein Freund führte Sie durch ein kleines Pförtchen in einer sehr hohen Mauer in einen Hof; hier fänden Sie Steine von wunderbarer Art und Gattung; nun sähen Sie wohl, daß das Steine wären, aber für ihre wunderbaren Eigenschaften hätten Sie keine Worte? wie wollten Sie dem, der sie nicht gesehen hat, diese Steine beschreiben? Ferner: man führte Sie nun wieder durch ein enges Pförtchen in einen zweiten Platz, und nun
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sehen Sie obige Steine polirt und zu Säulen, Gesimsen und Zierrathen von mancherlei Art gebildet; endlich kämen Sie in den dritten Hof, und nun stände da ein Gebäude von unbeschreiblicher Schönheit, Pracht und Mannigfaltigkeit; sagen Sie mir, wie wollten Sie das Alles Einem, der die Sache nicht kennt, begreiflich machen? (JS IV/6, S. 305 f.)
Die Mauer der Inkommensurabilität zu den okkulten Qualitäten der Dinge wird durchbrochen, aber die Qualitäten selbst bleiben im Rahmen des Buches unbegreiflich. Erneut hat das orthodoxe Bewußtsein des christlichen Erzählers das häretische des okkultistischen verdrängt: Von den »geheimen Geschäften« der Maurerei will er daher kein Wort sagen (JS IV/6, S. 328), und ebenso verbietet er sich jede Äußerung zu der von Theobald gegründeten Freimaurerloge (JS IV/6, S. 308). Somit endet das Buch in einer Art Vakuum: Zwar sind die Schwärmer von ihrer Schwärmerei geheilt, aber der Erzähler folgt ihnen nicht durch das »Pförtchen in der sehr großen Mauer« in den utopischen Raum der offenbaren hermetischen Bedeutungen. Damit bleibt ihm nichts mehr zu sagen übrig: Weil keine weiteren Schwärmereien in Theobalds Leben vorfallen, ist es von nun an nicht mehr weiter erzählenswert. (JS IV/6, S. 357 f.) In diesem Resonanzraum des unausgesprochen Unaussprechlichen findet der Mystizismus Refugien - in JUNG-STILLINGS späteren Werken spricht sich dieser verdrängte Mystizismus ähnlich wie bei ECKARTSHAUSEN immer offener aus, und das offenbare Bild der Isis tritt wieder an die Stelle der skeptischagnostischen Verschleierung und Vermauerung. Konsequenterweise gehört dann auch in JUNG-STILLINGS ausufernd allegorischem Roman Das Heimweh (1794-1796) die Entschleierung des Isis-Bildes zu den Initiations-Aufgaben, die der Romanheld zu erfüllen hat.113 Die Sinnlichkeit ist hier der Schleier, der den Blick der »Sterblichen« trübt (JS, /4, S. 60). Insofern ist WIELANDS Romankunst mit ihrem Bekenntnis zur Unhintergehbarkeit der Sinnenwelt das richtig getroffene Gegenbild, das JUNG-STILLING statuiert: Die Lektüre von WIELANDS Agathon im falschen Moment führt den Romanhelden Eugenius auf seiner Initiationsreise nach Osten zwischenzeitlich vom Pfad der Sittlichkeit ab (JS, /4, S. 91). Wie auch in JEAN PAULS Unsichtbarer Loge wird die Danae-Episode des Agathon zum Vorbild des moralischen Falls des Helden. Im Gegensatz zu WIELAND und JEAN PAUL läßt aber JUNG-STILLING seinen Helden unbefleckt aus der sinnlichen Verführung hervorgehen.114 Auch die Anfechtungen der hermetischen Philosophie, die in der Figur des Rosenkreuzers Saphienta (eine anagrammatische Personifikation der »Phantasie«!)
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Zum Heimweh informiert am ausführlichsten immer noch Stecher (1913). Auch im weiteren Verlauf des Romans taucht WIELAND als Verführer auf, vgl. JS S. 697.
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an Eugenius herangetragen werden, prallen von seiner stählernen Sittlichkeit ab. Über Frankfurt, München, Wien und Konstantinopel gelangt Eugenius nach Ägypten und wiederholt dort den Weg des Sethos und des Misfragmutosiris ins Innere einer Pyramide; aber im allegorischen Raum des Romans sind alle Hieroglyphen offenbar. Die mit Chiffren beschriebene hermetische Tafel über dem Eingang der Initiations-Pyramide wird vom Initianten spielend enträtselt. Sie lautet: »Wenn du den Halbgeborenen aus seinem Ei erlösest, so wirst du den Schlüssel zum großen Geheimniß finden«. (JS, III/4, S. 326) Wie Sethos und Misfragmutosiris fährt nun auch Eugenius in die Tiefe eines runden Brunnens hinunter, aber die natürliche Magie hat indessen Fortschritte gemacht, der Initiant kann jetzt den Abstieg in einem bequemen hermetischen Fahrstuhl vollziehen. Auch das Isis-Standbild ist ein mechanisches Wunder der natürlichen Magie< geworden: Der Schleier läßt sich »wie eine Falltür aufschlagen«; er offenbart ein vierköpfiges Haupt, zusammengesetzt aus den Gesichtern einer Frau, eines Adlers, eines Löwen und eines »Apis oder Ochsen« (JS, /4, S. 336). Das Motto der Isis ist ergänzt. Der plutarchische Anteil: »Ich war, ich bin und werde seyn, noch nie hat ein Sterblicher meinen Schleier aufgedeckt« setzt sich in einem theosophischchristlichen fort: »Derjenige, der todt war, nun aber lebendig ist und in Ewigkeit regiert, hat mein Angesicht zuerst enthüllt; und jeder mit seinem Geist und mit Feuer Getaufte kann meinen Schleier aufdecken«. (JS, III/4, S. 335 f.) Die Antwort auf die hermetischen Paradoxien findet sich in einer theologischen Rückbesinnung und in einer esoterischen Interpretation der kantischen Philosophie und deren Antinomien, wie sie dem Initianten im folgenden gelehrt wird. Der Romanheld berichtet, daß er durch die Demonstration der Widersprüche der sinnlichen Vernunft »vollkommen überführt wurde, daß das, was wir Raum, Größe, Ausdehnung und Figur heißen, nicht außer uns in den Dingen selbst existiere, sondern daß wir eine anerschaffene Vorstellung in unserer Seele haben, die wir Raum nennen, und daß wir daher Größe, Ausdehnung und Figur in die Dinge außer uns übertragen«, während die Dinge selbst okkulte Qualitäten, »unbekannte Eigenschaften« besitzen (JS, HI/4, S. 344), die den Sterblichen verschlossen sind: »Hätten unsere Augen eine andere Struktur, so wären die Figuren, Räume und Größen aller Dinge auch ganz anders«. (JS, III/4, S. 344 f.). Die Grenzen der reinen Vernunfterkenntnis lassen das Reich der esoterischen >höheren Vernunft< aber umso begehrenswerter erscheinen. Im Studium der kantischen Philosophie, so schreibt JUNG-STILLING im Schlüssel zum Heimweh, habe er »den Schlüssel zum Halbgeborenen« gefunden: [J]etzt erkannte ich im Lichte der Wahrheit und mit der festesten Gewißheit die entsetzlichen Fehlschlüsse, welche die Vernunft macht, sobald sie sich ins Übersinnliche
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wagt, und hier entstanden nun die Demonstrationen, die ich hin und wieder im Heimweh, besonders in den egyptischen Einweihungen, und im Unterricht auf dem Berge Sinai, eingewebt habe. (JS, /5, S. 267)115
Zwar ist die »Geisterwelt [...] den Menschen verschlossen« (JS, III/4, S. 387), aber »wie durch ein dunkles Glas« (JS, IU/4, S. 239, S. 378) ahnt derjenige, der vom »Heimweh« affiziert ist, die Wahrheit der offenbarten Mysterien.116 Der Leser soll von diesem Heimweh des Erzählers und seines Helden seinerseits affiziert werden (JS, /4, S. 468 f.),· so wie der Leser Wielands von der Schwärmerei affiziert werden soll.117 Aber trotz, ja gerade wegen der an BUNYANS Christenreise angelehnten Allegorisierung des Lebenslaufs fehlt der Doppelsinn, der für WIELANDS Poetik so grundlegend war, hier vollständig. Im Schlüssel zum Heimweh wird die natürliche Magie der erzählten Wunder - die elektrischen, optischen und mechanischen Kunststücke - einer Offenbarung nicht für wert befunden. Unter der Hülle der Allegorisierung enthebt sich der Autor der Pflicht zur Erhellung der natürlichen Wunder, wo es ihm um die übernatürlichen geht. So erläutert JUNG-STILLING die Isis-Initiation seines Romanhelden mit ihren mechanischen Wundern: [...] was sieht er nun? - nichts anders als eine verschleierte Gottheit, die kein Sterblicher aus eigener Kraft entschleiern kann; diese Isis ist die metaphysische Gottheit, welche die sich selbst überlassene, nicht durch die göttliche Offenbarung erleuchtete Vernunft, nach langem Suchen endlich findet, und da sie ihren Schleier nicht aufdecken kann, folglich sie in ihrer wahren Gestalt nicht sieht, so hält sie diese Isis für die wahre ewige Gottheit selbst, und sie glaubt fest, es gebe keine andere; eben dieses ist nun auch der Gott, den der Geist unserer Zeit wieder an die Stelle Jesu Christi erheben will. (JS, /5, S. 351).
Der »Geist unserer Zeit«, auf den JUNG-STILLING hier anspielt, läßt sich aus dem Kontext unschwer als der Geist der französischen Revolution erkennen. Die Isis-Kulte der Zeit der französischen Revolution, in denen die Gestalt der
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Zur Kant-Erfahrung vgl. GW HI/5, S. 234, S. 267. Von sich selbst sagt der Erzähler, sich beim Namen seines Schöpfers nennend: »[Man] wird sagen: Stilling ist hypochondrisch, er sieht den gegenwärtigen Gang der Dinge durch ein trübes Glas, und er nimmt zu in der Schwärmerei« (JS III/5, S. 250). Anders als bei WIELAND interferieren die Perspektive des Helden und die des Erzählers nicht, sondern decken sich vollständig; somit entsteht anstelle des holographischen ein eindimensionales Bild; daher auch ändert der Wechsel vom Ich-Erzähler zur Perspektive der dritten Person nichts am Weltbild des Romans; wenn sich Eugenius als Erzähler am Ende des zweiten Teils mit den Worten: »Halleluja! rief ich und fiel ohnmächtig an ihren Busen« (JS, HI/4, S. 480) verabschiedet, dann ist die Ohnmacht des Erzählers präzise charakterisiert: Das >IchEr< wieder erwacht, bleibt mit sich selbst identisch.
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verschleierten Gottheit verehrt wurde, sind das Zerrbild, gegen das sich JUNGSTUJJNG zur Wehr setzt.118 KANT und die Französische Revolution - auf diese beiden Erschütterungen reagiert also die Wendung des Isis-Mottos bei JUNGSTILLING in den 90-er Jahren. In beiden Fällen ist seine Wendung konservativ: KANT erscheint als ein seiner Erbschaft unbewußter Erbe der hermetischen Weisheit, gegen die äußerlichen Kulte der Revolution steht die allegorische Initiantion ins Innere der Pyramiden und der Natur, die leibhaftige Entschleierung der Isis und das Bekenntnis zur Offenbarungsreligion. An die schwärmerische Theosophie der vorrevolutionären Zeit wird dennoch nicht unmittelbar angeschlossen. Das Heimweh wird von der Schwärmerei geschieden, und gegen die rosenkreuzerische Interpretation der ägyptischen Mysterien (zum Beispiel in der oben zitierten Form FRIEDRICH JOSEPH WILHELM SCHRÖDERS) äußert sich der Erzähler ebenfalls polemisch: Nicht ohne Ursache hat die Vorsehung so lange über die Erhaltung der egyptischen Pyramiden und Hieroglyphen gewacht: zu seiner Zeit werden noch beide zu brauchen seyn. Freilich nicht um das Geheimnis des Steins der Weisen daraus zu erlernen, sondern etwas weit Wichtigeres. (JS III/4, S. 321)
Allein unter der Obhut eines autoritären Staates, wie ihn der Fürst Eugenius im vierten und fünften Teil des Heimwehs in Zentralasien gründet, werden auch die hermetischen Versprechungen empirisch wahr (soweit die empirische Evidenz, die auf die Glaubwürdigkeit des Erzählers gründet, für diese Prädikation hinreicht) und moralisch gerechtfertigt. Der Stein der Weisen wird ex kathedra auf der Hochschule des utopischen Staates gelehrt; eine Art Numerus Clausus regelt den Zugang derer, die des hermetischen Geheimnisses vom >großen Universal· teilhaftig werden dürfen (JS III/5, S. 118). Subversive Alchemisten, wie der rosenkreuzerische Brenndorf, werden in diesem Wüstenstaat, dessen Ordnung durch eine Unzahl von Vorschriften reglementiert wird, nicht geduldet: Nicht denen, die das große Universal oder den Stein der Weisen suchen, kann er jemals zu Theil werden, sondern denen, die seiner würdig sind; wer dies unaussprechlich vielwirkende und eben deswegen in der Hand des Unkundigen oder von irgend einer Leidenschaft beherrschten, höchst gefährliche Werkzeug sucht, der kennt es entweder nicht, oder wenn er seine Wirkungen kennt, so traut er sich selbst erstaunlich viel zu; in
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Zu den Isis-Kulten der Revolutionszeit vgl. Starobinski (1989) und Baltruäaitis (1967). Zur französischen Revolution vgl. auch JS /5, S. 182., sowie das allegorische Gespräch des Erzählers mit der »Madame Aufklärung« und ihrem Sohn, dem »Genius unserer Zeit«, ebd., S. 605- 609.
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beiden Fällen ist er also des Besitzes dieses höchsten irdischen Guts ganz unwürdig (JS HI/5, S. 222)119
Der Wandel vom Schwärmer-Roman Theobald zum Offenbarungs-Roman Das Heimweh zeigt paradigmatisch eine Tendenz innerhalb der deutschen Spätaufklärung im Schatten der Französischen Revolution und der Königsberger Philosophie: Erleuchtung statt Aufklärung (JS /4, S. 576) ist die Parole des Buches, die Errungenschaften der Vernunft fallen wieder dem Okkultismus zu, so wie die Errungenschaften der Natürlichen Magie der wiederbelebten Magie ECKARTSHAUSENS und seiner Proselyten.
3. Begreifen des Unbegreiflichen: Das entschleierte Bild der Seele und der physiognomisch-metaphorische Sinn des Genies 3.1. Die »allgemeine Chifer« und das »große Universal« In ZEDLERS Universallexicon wird die Physiognomie als die »Kunst, welche aus der äußerlichen Beschaffenheit der Gliedmaßen oder den Lineamenten des Leibes eines Menschen dessen Natur und Gemüths-Disposition zu erkennen giebt«, definiert.120 »Man nimmt das Wort in weiterm und engerm Verstand: nach jenem bezühet sie sich auf alle Glieder des Leibes, und werden daher die Metoposcopie, welche mit der Stirne zu thun hat, die Chiromantie, so auf die Linien in den Händen gerichtet; die Podoscopie, welche die Füsse betrachtet, als gewisse Arten davon angesehen«.121 Im »engeren Verstand« hingegen beschäftige sie sich ausschließlich mit den Lineamenten und Proportionen des Gesichts und seiner Teile.122 Die neuen Apologeten dieser »alten Kunst«, die in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts wieder auflebte, betonten zunächst einstimmig, ihre Wissenschaft habe nichts mit den übertriebenen Hoffnungen der Alchemisten, das große Universal zu erhalten, gemein. So beteuert JOHANN CASPAR LAVATER, der Prophet aller neueren Physiognomen, im ersten Band seiner Physio gnomischen Fragmente: »Ich lehre nicht eine schwarze Kunst, ein Arkanum, das ich hätte für mich behalten mögen, [...] die Physiognomik ist
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Vgl. Keller (1989) S. 27-39. Zedler (1741), Art. Physiognomie, Bd. 27, Sp. 2239 f. Ebd. Sp. 2240. Ebd. Sp. 2240.
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dafür da, aufgedeckt zu werden«.123 Und im Physiognomischen Cabinet aus dem Jahr 1777 wird der »prognostischen Physiognomik« abgeschworen, die zwar »von ungeheurem Nutzen sein würde, wenn sie recht zur Vollkommenheit gebracht werden könnte«, aber für den Physiognomen für immer »eben das ist und bleibt [...], was der Stein der Weisen für die Chymisten bleibt: Eine nie zu erlangende Kunst«.124 Die Aufklärer strikter Observanz weigerten sich dennoch, zwischen den hermetischen Hoffnungen auf Gewinnung des großen >Universals< und LAVATERS Suche nach einer »allgemeinen Chifer«125 in der Natur einen Unterschied zu machen. Ausdrücklich nimmt JOHANN CHRISTOPH ADELUNG die »Zeichen- und Liniendeuter« auf in den langen Katalog verdächtiger Subjekte seiner Geschichte der menschlichen Narrheit, bestehend aus »Teufelsbannern«, »Sterndeutern«, »Alchemisten«, »Geistersehern« und »Religions-Spöttern«. Unter der verächtlichen Überschrift »Bartholomäus Codes, ein Liniendeuter« schreibt er: Solche zufälligen Umstände, als die Züge des Gesichts und die Linien an den Händen und anderen Theilen des Körpers sind, zu Bestimmung der Gemüthsart und wohl gar der künftigen Schicksale eines Menschen anzuwenden, ist ein solcher Mißbrauch des gesunden Menschenverstandes, oder vielmehr ein solcher Mangel desselben, daß die darauf gegründeten Künste nur in sehr rohen und ungebildeten Zeitaltern, oder nur unter ganz sinnlichen und unaufgeklärten Menschen ihr Glück machen können.126
WIEGLEB hingegen unterscheidet einen Teil der Physiognomie, der auf Einbildung und Schwärmerei gegründet ist, und einen anderen, der »im engeren Sinn« Physiognomie genannt werden könne und der auf Erfahrung beruhe. Von dieser Form der Physiognomie sei zu bedauern, daß sie »mit den Wahrsagerkünsten ganz weggeworfen ist worden, da sie doch in der Natur
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124
125 126
J.C. Lavater, Physiognonüsche Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Erster bis Vierter Versuch, Leipzig und Winterthur 1775- 1778 (Repr. Zürich 1968, im folgenden abgekürzt als: PhF/Band), hier: PhF/I, S. 165. Physiognomisches Cabinet für Freunde und Schüler der Menschenkenntniß, Frankfurt am Main - Leipzig 1777-79, Bd. I, S. 224 f. Lavater hatte hingegen dem Genie durchaus die Fähigkeit zur »weißagenden Physiognomik« zugetraut: »Das physiognomische Genie sieht solche Schicksale vorher, die sich aus dem Charakter des Menschen ergeben. Wenn es bisweilen sagt: Diesem Menschen steht der Galgen auf der Stirne, dann sagt es damit nichts mehr und nichts weniger, als: Ich sehe Leidenschaften, Plane, Trugsinn in diesem Gesichte, die zu Thaten führen können - welche des Todes werth sind.« (Lavater, Fragmente, IV, S. 132.) Lavater, PhF/I, S. 56 f., PhF/IV, S. 478. J. C. Adelung (1785), 1. Theil, S. 1.
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gegründet ist, und [wohl] verdient [...], daß sie in einen besseren Stand gebracht würde«. Im gleichen Sinne warnt auch HENNINGS davor, einen allzu weit gefaßten Begriff der Physiognomie in der Wissenschaft Fuß fassen zu lassen,127 und KARL PHILIPP MORITZ urteilt im DEUTSCHEN MUSEUM: Wer sieht nicht ein, daß Lavaters Physiognomik immer ein vortrefflicher Beitrag zu einer Erfahrungsseelenkunde bleiben wird, und daß dieselbe vielleicht nur darauf wartet, in ein größeres Ganzes eingeschrieben zu werden, um ihre völlige Nutzbarkeit zu zeigen.128
Zwar werden auch in GEORG CHRISTOPH LICHTENBERGS berühmter Streitschrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen LAVATERS Versuche zur »Aufsuchung physiognomischer Grund-Regeln« mit den »ihnen ähnlichen« Bemühungen, den Stein der Weisen zu finden«, verglichen;129 aber auch LICHTENBERG gesteht zu, daß beide »Universalwissenschaften«, von der Grundlosigkeit ihrer Hoffnungen abgesehen, »auf nützlichere Dinge leiten können, als ihr Zweck« ist. Im Falle der Physiognomie bedeutet das für LICHTENBERG, daß sie »in diesen traurigen Tagen der falschen Empfindsamkeit Beobachtungsgeist aufwerten, zu Selbsterkenntnis führen und den Künsten vorarbeiten« könne.130 Auf der anderen Seite sieht LICHTENBERG es aber als seine Aufgabe im sich anbahnenden Physiognomik-Streit an, zu »hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feineren Welt verbannt ist, sich nicht klügelnder an dessen Statt einschleiche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe«.131 Diese subtilste und gefährlichste Form des mit der »Maske der Vernunft« getarnten Aberglaubens gilt ihm wesentlich als eine Fortsetzung der magischen Zeichendeutungskünste vergangener Jahrhunderte: »Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehmals waren es Zeichen am Himmel«132 - so lautet sein berühmtestes Diktum wider die Physiognomen.
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Hennings (1780), S. 94. Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, DM 1.5 (1782), S. 490. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. IU, S. 264. Ebd. Ebd. S. 257. Ebd. S. 258.
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3.2. Physiognomische Initiationen: Schleier und Spiegel der Seele Aus dem ungefähr zur gleichen Zeit wie LICHTENBERGS Polemik entstandenen Roman Physiognomische Reisen von KARL AUGUST MUSAEUS fällt Licht auf die von LiCHTENBERG hervorgehobenen hermetischen Wurzeln des neuen Bedeutungsglaubens als einer Unterabteilung der okkulten Bibliothek des 18. Jahrhunderts: Der von physiognomischem Reisefieber entflammte Erzähler teilt zu Beginn seines physiognomischen Tagebuchs mit, daß vor wenigen Jahren wieder anfing aufzuleben eine der verlernen Künste; - war die Physiognomika; - davon die alten Philosophi viel zu sagen wußten; ist auch wohl zu unsrer Väter Zeiten manch dick Buch davon geschrieben worden, das in rusigen Bücherschränken, wie alte Rüstungen im Zeughaus, modert. Denn da sind etliche gekommen, die diese herrliche Wissenschaft für eine Grund- und bodenlose Kunst und eitel Fratzen ausgeschrien.133
Tatsächlich ging aber die soziale und wissenschaftliche Anerkennung der Physiognomik mit ihrem »feinen Aberglauben« ungleich weiter als die der übrigen hermetischen Geheimwissenschaften. Von allen Trieben der älteren magia naturalis war sie am wenigsten darauf angewiesen, unter dem Schutzmantel geheimbündlerischer Verschwiegenheit ihre Wahrheiten gedeihen und offenbar werden zu lassen. Das schloß aber umgekehrt den Versuch nicht aus, die Physiognomik in den Kanon initiatorischer Rituale zu integrieren; nicht zufällig ist bei LICHTENBERG - wenn auch nur im übertragenen Sinn - von der »Einweihung in die Mysterien der Physiognomik« die Rede.134 Und zur initiatorischen Ausbildung in JUNG-STILLINGS Heimweh gehört gleichfalls eine gründliche Unterweisung in der Wissenschaft der Physiognomik: Bei einem Menschenfreund und Menschenkenner mit dem sprechenden Eigennamen »Forscher« lernt der Romanheld Eugenius, aus allen Gesichtszügen die »Quintessenz« zu ziehen;135 in Forschers umfangreichem Kabinett aus Schattenrissen und vollplastischen Statuen wird der physiognomische Sinn des Initianten geweckt, gefestigt und auf die Probe gestellt. Der in dieser Ausbildung ein- und ausgeprägte physiognomische >Genieblick< weist von da an Eugenius den Weg, die »Hieroglyphen auf dem Gesicht« und
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134 135
Zitiert nach: K. A. Musaeus, Physiognomische Reisen. Voran ein physiognomisch Tagebuch. Heftweis'herausgegeben, Altenburg 1778-1779, Reprint Mannheim 1803, im Folgenden zitiert als: PR Bd, S., hier: PR I, S. 7) Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd. III, S. 259. Diese hermetische Redeweise ist auch noch in der aufgeklärten physiognomischen Literatur verbreitet. Vgl. z. B. das Physiognomische Cabinet, I (1777), S. 26.
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»an der Stirn« aller Fremden werden ihm zum physiognomischen Ordenskreuz, dessen Bedeutsamkeit stets vom Gang der Dinge bestätigt wird.136 Zwar kommt dem Bild vom Isis-Schleier in diesen Kontroversen keine vergleichbar zentrale Bedeutung zu wie in den oben dargestellten Debatten um die Möglichkeiten und Grenzen eines Zugangs zum »Inneren der Natur«. Insbesondere beim Theologen LAVATER tritt an die Stelle dieses paganen Bildes bevorzugt das vom Siegel, das die innere Natur auf der äußeren abdrückt; es wird geradezu zur Zentralmetapher seiner Fragmente.137 Mit dieser Metaphern-Variation ist zugleich ein Schritt weg von der naturmagischen und hin zur aufgeklärten Physiognomik vollzogen, denn im Siegel ist das Bezeichnete sinnlich manifestiert und damit stets schon offenbar, während der Schleier die Quintessenz der Seele als okkulte Qualität verhüllt. Aber auch dann, wenn der »unermeßliche Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele«138 nach der Metapher der Entschleierung gedacht wird, hat das Bild eine andere Valenz als im Kontext der naturmystischen Enthüllungen. In der Erklärung eines Oldenburgischen Gelehrten über die Physiognomik, die LAVATER in den dritten Band der Physiognomischen Fragmente einrückte, heißt es: Ich bin von der Wahrheit der Physiognomik, von der Allbedeutsamkeit jedes Zuges unserer Gestalt, so lebhaft als Lavater überzeugt. Es ist wahr, daß sich der Umriß der Seele in den Wölbungen ihres Schleyers bildet, und ihre Bewegungen in den Falten ihres Kleides.139
Die Physiognomik läßt die Bedeutsamkeit der Seele Gestalt werden, der materielle Körper ist ihr gewölbter Schleier. Im Gegensatz dazu wird im TEUTSCHEN MERKUR - in Hinblick auf die Anfänge von LA VATERS physiognomischen Forschungen - die Verschleierung mit der »Unachtsamkeit des Menschen« erklärt: Des Verfassers Absicht geht dahin, den Menschen auf den Menschen aufmerksamer, die inneren Schönheiten der Natur in ihrem Äusseren lesbarer zu machen, und von einigen sehr offenen, sehr bestimmten und leuchtenden Zügen und Mienen der Menschheit den Schleyer, womit Unachtsamkeit des Menschen sie bedeckt hat, mit bescheidener Hand wegzurücken - und das größtentheils confuse Gefühl aller Menschen von dem
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Vgl. JS, HI/4, S. 127-130, S. 184, S. 318, S. 591. Vgl. z.B. Lavater, PhF/IV, S. 461, S. 474, S. 478. Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd. III, S. 258. Lavater, PhF/III, S. 89, vgl. Lavater PhF/ , S. 293, wo der Körper als »Gewand der Seele« bezeichnet wird.
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt Ausdrucke der Physiognomie einigermaßen zu anvisieren, und auf einige bestimmte Züge zurückzufuhren.140
Diese »aufgeklärte Physiognomik« hatte bereits einige Jahre vor LA VATER der Wolffianer CHRISTIAN ADAM PEUSCHEL in seiner 1769 erschienenen Abhandlung von der Physiognomie, Metoposcopie und Chiromantie vertreten,141 worin, dem Titel zufolge, »die Gewißheit der Weissagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich dargethan« wird: »Je mehr sich die Unwissenheit ausgebreitet hat, desto schwerer fällt es, durch die finstern Wolken durchzusehen und das Licht der Wahrheit zu erblicken«,142 und die »auserlesensten heroischen Köpfe gehören dazu, diesen Vorhang wegzuziehen«.143 Die Verhüllung der auf die Stirn gemeißelten Wahrheiten besteht also auch für PEUSCHEL in den Vorurtheilen der Unwissenheit; die Konstellation der Temperamente, die sich an der Körperoberfläche abbildet, läßt sich jedoch offenbar machen, weil »innere« und »äußere Form« des Menschen nach der auf AUGUSTIN zurückgehenden Unterscheidung in Korrespondenz zueinander stehen: Wie die logische Wahrheit in der Übereinstimmung der Gedanken und Aussagen mit der betrachteten Wahrheit selbst besteht, so ist die physiognomische Wahrheit [...] eine Übereinstimmung der Stellung der Augen und des Mundes mit sich selbst, dem Temperamente und der Rede.144
Zwar behauptet PEUSCHEL, nicht das »blinde« oder »verhängte Glück« sei Gegenstand der Physiognomie,145 aber seine Spekulationen über das in den Signaturen verborgene Feuer- und Wasserunglück146 und den auf die Stirn gezeichneten Galgen147 lassen diese Unterscheidung zuletzt als leeres Lippenbekenntnis erscheinen.
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TM Dezember 1774, S. 265 f. Zu den Lesern dieses Kompendiums zählte auch der junge Goethe vgl. .2., S. 519. C. A. Peuschel Abhandlung von der Physiognomie, Metoscopie und Chiromantie, mit einer Vorrede, darinnen die Gewißheit der Weissagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich dargethan wird, welcher am Ende noch einige Betrachtungen und Anweisungen zu weissagen beygefügt worden, die zur blassen Belustigung dienen, ausgefertigt von C. A. Peuschel, Leipzig 1769, S. 4. Ebd. S. 5. Ebd. S. 120. Ebd. S. 37. Ebd. S. 280. Ebd. S. 276.
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Auch LA VATER selbst bleibt in dieser Hinsicht ambivalent - LICHTENBERGS Forderung nach terminologischer und inhaltlicher Differenzierung, nach Unterscheidung zwischen »Physiognomik« und »Pathognomik«, war der Versuch, diese Ambiguität aufzulösen.148 Schon im ersten Teil der Fragmente knüpft LAVATER immer wieder an die pansophische, von JAKOB BÖHME und seiner Signaturenlehre inspirierte »allgemeine Physiognomik« an: »Ist nicht die ganze Natur Physiognomie? Oberfläche und Inhalt? Leib und Geist? Äußere Wirkung und innere Kraft? Unsichtbarer Anfang; sichtbare Endung?«149 Hier erscheinen nun auch die Eigenschaften der menschlichen Seele dem Physiognomen als okkulte Qualitäten, so verborgen wie die »inneren Naturkräfte«, und die Physiognomik sucht den »wahren, sichtbaren Ausdruck innerer, an sich selbst unsichtbarer Eigenschaften«.150 Bildlichkeit und Inhalt dieser Denkform lassen sich von LAVATER aus unschwer bis in die Werke der »alten Philosophi« in den »rusigen Bücherschränken«, von denen MUSAEUS spricht, zurückverfolgen - »wenn man zween oder drey gelesen hat«, so merkt LAVATER an, »so hat man ziemlich alle gelesen«.151 Und auch PEUSCHELS Lehrbuch ist insgesamt nichts weiter, als eine Kompilation der physiognomischen Anschauungen des 17. Jahrhunderts; bereits der natürliche Magier GIOVANNI BAPTISTA DELLA PORTA, der selbst wiederum aus unzähligen antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen kompilierte,152 hat die Spuren dieser Denkform geprägt. Die Natur, so schreibt DELLA PORTA, spricht das arcanum der Seele aus, auch wenn der Mund schweigt; der »physiognomische Syllogismus« erlaubt logisch den Schritt zur induktiven Verallgemeinerung.153 PEUSCHEL schließt sich DELLA PORTAS Auffassung an, und somit können alle Nasen, Nasenlöcher, Zungen, Zähne, Kinne, Ohren, Hälse, Arme, Brüste, Bäuche, Rücken, Beine und Füße als Buchstaben einer »äußeren Schrift« der Seele wie eine Geheimschrift gelesen und entschlüsselt werden. Ob dieser Korrespondenz »eine vorbestimmte Harmonie, oder ein physicalischer Einfluß, oder eine andere Hypothese« zugrundeliegt, diesen »eigentlichen Gesichtspunkt der physiognomischen Frage«-154 will PEUSCHEL (wie später auch 148 149
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Vgl. Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd III, S. 264. Lavater, PhF/I, S. 49. Ebd. S. 44. Lavater, PhF/IV, S. 465. DELLA PORTA unterscheidet reale nicht von fabulösen »Urvätern« der Kunst: ARISTOTELES und AVICENNA stehen neben Hermes Trismegistos. Vgl. Giovanni Baptista della Porta, De humana Physiognomia, libri 4 Hannover 1593, S. 39. Ebd. S. 59. GM 4 (1780), S. 133 (Einige Fragen an Physiognomen)
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LAVATER) bei seinem Vorhaben »dahin gestellt seyn lassen«:155 Die okkulten Qualitäten lassen sich für ihn in die philosophischen Ansätze zur Lösung des Leib-Seele-Problems, seien diese nun spiritualistisch, materialistisch, prästabilistisch oder okkasionalistisch, nicht auflösen. Das alte, platonische Bild von der Wesenskette überblendet alle subtilen logischen Unterscheidungen: »Überall ist Kette, Harmonie, Würkung und Ursache in der Natur; auch zwischen dem äußern und innern Menschen«.156
3.3. Das Sagbare und das Unsagbare in der Physiognomik Wie die Geheimnisse der »inneren Natur«, so entziehen sich auch die geheimen Qualitäten der Seele der sprachlichen Vermittlung: »In der Physiognomie eines Menschen ebenso wie in dessen Charakter sind eine Menge Dinge vorhanden, die ein geübter Beobachter vollkommen lebhaft und klar empfindet, ohne sie in Worte ausdrücken zu können«.157 Die Sprache erweist sich als das gröbste und schwächste Werkzeug, um die sich aller Mitteilung entziehenden Züge der Natur mitzuteilen; diese seien, so schreibt LA VATER, oft »sehr schwer zu fassen, und ganz unmöglich mit dem Pinsel, geschweige mit dem Grabstichel und mit Worten« auszudrücken.158 Durch alle vier mächtigen Bände der Physiognomischen Fragmente zieht sich der Zwiespalt zwischen dem Bekenntnis zur Unaussprechlichkeit der Lineamente einerseits und dem verwegenen Anspruch auf vollständige und zuverlässige physiognomische Deutung in Wort und Bild andererseits. Bereits der Fragment-Charakter des Werkes deutet, in Opposition zu den enzyklopädisch abgeschlossenen Systemen der älteren Physiognomisten, auf eingestanden Unaussprechliches: »Wie vieles sollte noch gesagt werden, aber wer kann, wer mag alles sagen!«159 Dementsprechend skeptisch wird auch das Projekt einer physiognomisehen Wissenschaft bei LAVATER zunächst noch beurteilt: »Thorheit sie zur Wissenschaft zu machen, damit man darüber reden, schreiben, Collegia halten und hören könne! dann wird sie nie mehr seyn, was sie seyn sollte«;160 und: »Es
155
Peuschel (1769), S. 13. Lavater, PhF/III, S. 89. 157 Lavater, PhF/II, S. 37. 158 Lavater, PhF/I, S. 144. 159 Lavater PhF/I, Vorrede, o. S. ln ° Ebd. S. 59. 156
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ist keines Menschen, keiner Akademie, keines Jahrhunderts Werk eine Physiognomik zu schreiben«.161 In dieser Form der Sprach-Skepsis trafen sich die Physiognomisten wiederum mit ihren aufgeklärten Opponenten, denen die natürliche Sprache »für eine Wissenschaft, die eine so subtile Classification erfordert, als die Physiognomik, viel zu arm und zu enge ist, indem in Empfindungen und Empfindnissen eine Menge Nuancen vorhanden sind, denen keine gangbare Worte genau entsprechen«.162 Mit diesen Worten hatte NICOLAI in der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK eine Systematik der physiognomischen Zeichen- und Begriffssprache gefordert. Aber NICOLAI gibt auch zu bedenken, daß selbst ein vollständiges Vokabular der Physiognomik das Problem der Inkommensurabilität physiognomischer Empfindungen nicht zu lösen vermöchte, weil immer wieder die Ursache der Unaussprechlichkeit physiognomischer Gefühle darin gründet, daß die besonderen Nuancen in den Empfindungen und Empfindnissen die der Beobachter an dem Objecte vorzüglich wahrnimmt, sich auf seine eigene Seele beziehen [...] und dadurch unter einem besondern Augenpunkte erscheinen. Daher sind eine Menge solcher Beobachtungen nur bloß für den Beobachter selbst, und so lebhaft sie auch von ihm empfunden werden, könrien sie doch nicht leicht ändern mitgetheilt werden.163
Anders, als wenn es um die okkulten Qualitäten der Natur geht, wird also vom Wortführer der allgemeinen preußischen Aufklärung nicht bestritten, daß physiognomisch relevante Qualitäten existieren; allein deren Mitteilbarkeit wird in Frage gestellt. LA VATER hingegen hatte zwischen der »subjectiven Einsicht«, die trügen kann, und der »objectiven Physiognomie«, welche der Sphäre der Täuschung entzogen ist, unterschieden.164
161
Ebd. S. 15.
162
ADB, 23.2 (1775), S. 327. Ebd. Vgl. hierzu Lavater, PhF/IV, S. 469, sowie PhF/IV, S. 482: »Ich wünschte mir ein physiognomisches Wörterbuch wo (...) alle übersetzbarefn] physiognomische[n] Wörter aus ändern Sprachen gesammelt und übersetzt - alle unübersetzbarefn] nationalism würden.« Vgl. Lavater, PhF/I, S. 136.
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3.4. Das physiognomische Genie und die Unendlichkeit der Gesichtszüge Auch LA VATER versuchte, das Dilemma, daß man »empfinden, aber nicht ausdrücken« kann,163 durch einen Brückenschlag von der traditionellen hermetischen Unaussprechlichkeits-Rhetorik zu den aktuellen Formeln der enthusiastischen Genie-Ästhetik zu lösen: Dollmetscher der Natur! Aussprecher unaussprechlicher Dinge! Propheten! Priester! Könige der Welt! [...] Offenbarer der Majestät aller Dinge und ihres Verhältnisses zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen - von euch reden wir!166 Andererseits aber versteht LAVATER im Gegensatz zur Genie-Ästhetik den wissenschaftlichen Genie-Blick des Physiognomen als erlernbare Fähigkeit, zu erlernen nach dem Muster rhetorischer Übung. Er gibt dem physiognomischen Anfänger zunächst den Rat, sich im »Bezeichnen« zu üben: Ich habe schon über 400 Namen von Gesichtern aller Art zusammengeschrieben, mit welchen ich noch lange, lange nicht auskommen kann. Suche dir, sage ich zum Physiognomisten, zu jedem dir vorkommenden Gesichte einen allgemeinen charakteristischen Namen - aber hefte ihn dem Gesichte nicht zu schnell an! - So viele Nuancen von Benennungen dir immer beyfallen, so viele trage in dein Buch ein. Aber ehe du die Grundform des Gesichts dazu zeichnest, und nebst der Zeichnung charakteristisch und treffend beschreibst - prüfe siebenmal, daß du nicht eine mit der ändern vermischest.167 In einer anderen Perspektive wird bei LAVATER dann auch der Gedanke an eine physiognomische Wissenschaft rehabilitiert: »Die Physiognomik wird bestimmt noch eine mathematisch bestimmbare Wissenschaft werden«, heißt es zuversichtlich im vierten Band der Fragmente, wodurch »Riesenschritte [...] in der Menschenkenntniß« ermöglicht würden.168 In ganz andere Größenordnungen als LA VATERS 400 Namen, multipliziert mit der siebenfachen Prüfung, stößt der Verfasser des Physiognomischen Cabinets vor, der mit der Idee, eine formale Sprache der Physiognomik an die Stelle der natürlichen zu setzen, Ernst macht. Während für LAVATER die Malerei das künstlerische Paradigma physiognomischer Offenbarung darstellt, setzen im Physiognomischen Cabinet die Musik die künstlerischen und die Mathematik die wissenschaftlichen Maßstäbe dafür, wie das Unaussprechliche sich aussprechen und das Unerklärliche sich erklären läßt: Weil die Musik-
155
Ebd. S. 144.
lfi6
Lavater, PhF/IV, S. 83. Lavater, PhF/IV, S. 157. Lavater, PhF/IV, S. 155.
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spräche näher an die Physiognomik heranreicht als die »Wörter-Sprache«,169 werden die Gesichtszüge mit einzelnen Tönen verglichen, das Gesicht als ganzes entweder mit einem harmonischen Zusammenklang oder einer nach Auflösung verlangenden Dissonanz.170 Und mithilfe einer »geheimnisvollen, geomantischen Buchstabentafel« aus 10 10 Feldern (vier Alphabete in unterschiedlichen Lettern) soll das Unberechenbare berechnet werden:171 Jeder Buchstabe entspricht einem einzelnen physiognomischen Zug, woraus sich, nach ausführlicher statistischer Permutationsrechnung, für den Verfasser die erstaunliche Zahl von »insgesamt 857 Millionen und 647800 verschiedener Physiognomien« ergibt - und »wenn man ganz skrupellos rechnen wollte«, so übertrifft er sich noch selbst, so »ließe sich die Anzahl der unterschiedlichen Physiognomien mit leichter Mühe auf einige tausend Billionen hinauftreiben«.172 Die >naturphilosophische< Konsequenz dieser Berechnung des Unberechenbaren lautet: Die Natur ist in der Hervorbringung von unzähligen Physiognomie-Verschiedenheiten unerschöpflich. Ein jeder weis dies und bewundert es - Aber wie es zugehe, und wodurch die Natur hierzu im Stande sei, ist fast allen, die es bewundern, ein unauflösliches Räthsel. Durch die genaue Anatomie aber, die wir über die Physiognomie angestellt haben, wird uns dieses Räthsel auf das deutlichste erkläret.173
Das »Unerklärbare der Physiognomik« schwebt dem Betrachter »alsdann eben so klar vor Augen, wie sonst das Erklärbare«,174 und »[k]eine Wörtersprache ist im Stande, uns eine Physiognomie so treffend, so präcis, so kurz zu charakterisiren, wie die vorgeschlagene compendiöse Formelsprache durch Zeichen und Buchstaben«.175
IM 170 171 172 173 174 175
Physiognomisches Cabinet Bd. I (1777), S. 169 ff. Ebd. S. 34 f. Ebd. S. 45 ff. Ebd. S. 76. Ebd. S. 85. Ebd. S. 140. Ebd. S. 99.
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3.5. Bewährungsproben des physiognomischen Sinns: Die >Physiognomischen Reisen < des Karl August Musaeus 3.5.1. Der physiognomische Zirkel Den Utopien einer Semantik der Physiognomik, wie sie der nur durch seine Silhouette ausgewiesene Verfasser des Physiognomischen Cabinets entwirft, stehen LICHTENBERGS skeptische Vorbehalte entgegen: Wenn das Innere auf dem Äußern abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren die wir suchen? So wird nichtverstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo zu viel zu sehen ist, sehen wir nichts.176
Ebenso wie Mineralien in der Natur keine reinen Kristallformen bilden, so argumentiert LiCHTENBERG, steht unser Körper zwischen der Seele und der übrigen Welt in der Mitte, »Spiegel der Wirkungen von beiden«.177 Die Diskrepanz zwischen unendlicher Natur und endlicher Beobachtungskapazität des Betrachters läßt die Hoffnung auf Erkennen der »Allbedeutsamkeit« der Natur, möge sie nun auf den »Genie-Blick«, einen »physiognomischen Sinn« oder auf geomantische Tafeln gründen, zunichte werden. Denn für das Unendliche, schreibt LICHTENBERG, »haben wir keinen Sinn«.178 Der Roman, sofern er einen Lebenslauf inmitten des >Kreuz und Quers< der dieses Leben bestimmenden Kräfte darstellt, simuliert das Unendliche innerhalb der Grenzen einer endlichen Form. In seinem bereits erwähnten Roman Physiognomische Reisen hat KARL AUGUST MUSAEUS den Genie-Blick und den physiognomischen Sinn seines (anonymen) Helden auf die Probe literarischer Erfahrung gestellt.179 Der Raum der Erfahrung ist in den Physiognomischen Reisen zwielichtig wie in vielen Romanen und Erzählungen
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Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd. III, S. 265. Ebd. S. 266. Ebd. S. 277. Die Relevanz dieser Erfahrung für die.der empirischen Realität mußte umstritten bleiben; vgl. hierzu die ALLGEMEINE DEUTSCHE BIBLIOTHEK, deren Rezensent zu dieser Frage meint: »Für oder wider die Physiognomik wird freylich durch diese Reisen nichts ausgemacht werden", was »aber auch des Verfassers Absicht nicht zu seyn scheint.« (ADB 39.1. [1779/1780], S. 273). Wenn Maria Tronskaja schreibt, MUSAEUS zeige »mit großer satirischer Kraft, wie wenig stichhaltig die Schlußfolgerungen sind, die sich auf zufällige, rein subjektive und gefühlsmäßige Beobachtungen gründen« (Tronskaja [1969] S. 138), dann fällt sie noch hinter diese Position zurück.
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der Zeit: Fiktive Orte und Personen finden ihren Platz im Kontext realer Sachgehalte und zeitgeschichtlicher Diskussionen: KLOPSTOCK, LA VATER, GASSNER und SWEDENBORG, die Genie-Ästhetik, die Schwärmerei-Diskussion und die Physiognomie-Debatte - all dies erscheint als eine Art Schattenheater am Horizont der fiktionalen Welt, in der sich die Taten und Meinungen der Romanfiguren sozusagen exterritorial entfalten. Er habe, so beteuert der Erzähler, »die Materialien« zu seinem Buch »nicht aus der Luft gegriffen, wie jetzt mehr thun, die Phantaseykram aufs Papier ausschütten, und gleichsam Schattenspiele an der Wand repräsentieren, das eigentlich nichts als Blendwerk ist«. (PR I, S. 5) Die Erwähnung der erwähnten zeitgenössischen natürlichen Personen und der ästhetischen und anthropologischen Diskussionen öffnet sozusagen die Fenster des beschränkten Raums der Erzählung zur unendlichen Welt realer Erfahrung. Die Landschaft des Romans ist daher notwendig provinziell, der fiktive Raum offenbart sich als eine Provinz jener realen Welt, von der die neuesten Nachrichten aus dem Leben SWEDENBORGS, LA VATERS und CAGLIOSTROS herübertönen. Auch das fiktive Ägypten der hieroglyphischen Geheimnisse gehört zu den Sachgehalten der »großen Welt«, die in der Romanwelt der Physiognomischen Reisen Widerhall finden. Der Entdeckung CHAMPOLLIONS um 50 Jahre vorausgreifend, reflektiert der Erzähler: [W]eil alles was inwendig im Menschen ist, sich auf die Oberfläche des Angesichts aufs deutlichste, gleichsam als auf einem Spiegel, zeichnet; so muß [...] auch, wo der Teufel innen sitzt, dieß sich in gewißen Lineamenten absonderlich, oder in der Harmonie aller zusammen veroffenbaren: und ist kein Zweifel, daß der Buchstab' der Verteufelung eben so gewiß als der Buchstab' des Verstandes und des Genies im physiognomischen Alphabet vorhanden sey; aber wer kann ihn aufsagen? Er ist Hieroglyphe, wie die egyptischen Denkmäler. Trägt wohl mancher Obelisk herrliche Aufschrift, die gafft der Grübler an, hat's vor Augen und kann's nicht lesen, weil die Bedeutsamkeit der kraußen Zug' verloren ist. Kam' aber einer, der nur eine einzige Zeil entziffern könnt, so war's keine Kunst alle zu lesen. (PR I, S. 45)
Anders aber als JUNG-STILLINGS Eugenius bricht der Erzähler der Physiognomischen Reisen nicht nach Ägypten auf, um dort die physiognomische Hieroglyphik zu ergründen; er hat sich stattdessen vorgenommen, auf »eigene Manier« durch die hierzulande hinreichend hieroglyphische und zwielichtige Welt der Allbedeutsamkeit zu reisen - nicht so freilich, wie es seine empfindsamen Vorgänger in der Nachfolge Yoricks taten,180 sondern so, »als noch keiner« vor ihm »gereiset war«. (PR I, S. 6) Er will dabei »nicht die breite
180
Zur Empfmdsamkeits-Kritik bei MUSAEUS vgl. Tronskaja (1969), S. 136-138 und Carvill (1985), S. 85 - 143.
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Heerstraße ziehen«, sondern sich seinen eigenen Weg bahnen, »so beyher neben dem Fahrweg«. (PR I, S. 6) Zu diesem Vorhaben muß sich der Erzähler nur noch ein Steckenpferd suchen, weil ohne ein solches zur Zeit der STERNE-Nachfolge in Deutschland und Europa kein empfindsamer Reisender aufbrechen kann.181 Der Erzähler erwählt sich also die Physiognomik, denn er glaubt sich berufen, ein Desiderat erfüllen zu können, das LA VATER im vierten Band der Fragmente angemahnt hatte, nämlich ein physiognomisch.es Taschenbuch für Reisende zu verfassen. Dort hieß es: Für den Reisenden, däucht mir, sind drey Dinge schlechterdings unentbehrlich Gesundheit - Geld - Physiognomik! - Also auch Ein physiognomisches Wort an Reisende - die reisen, um zu reisen - Lieber wollte ich, statt dieses einzigen Wortes daß ein physiognomisches Taschenbuch für Reisende geschrieben würde - aber - von keinem ändern, als einem geübten Reiser.182
Der Sinn des Ausritts auf dem physiognomischen Steckenpferd besteht für den Erzähler der Physiognomischen Reisen in nichts anderem, als darin, die Wahrheit der Fragmente im Feldstudium - allen ihren Verächtern zum Trotz - zu erweisen. Die Mehrzahl der gewöhnlichen Roman-Mitgeschöpfe des Buches hält jedoch an dem - in des Erzählers Sicht - verschleiernden »Vorurtheil« (PR I, S. 110) gegenüber der Physiognomik fest. Zum Beispiel der skeptische Magister aus dem Heimatort des Reisenden, der dem JungPhysiognomisten deutlich ins Gesicht sagt: Sie hinken mit den abgöttischen Israeliten unsrer Zeit um das güldne Kalb der Physiognomik herum; aber glauben Sie: über kurz oder lang wird diese angebetete Afterscienz das Schicksal jedes Idols haben [...]. Solche luftigen Scienzen enthalten in dem Gebiete der Gelehrsamkeit nicht einmahl das Bürgerrecht, sondern werden als Vagabonden bald wieder über die Gränze gebracht, wie wir das an der Alchemie, Astrologie, Geomantie, Chiromantie und ändern mehr erlebt haben. (PR I, S. 135 f.)
Der Erzähler aber läßt sich von solchen Warnungen der aufgeklärten Schulweisheit nicht beeindrucken und vertraut sich ganz seinem »physiognomischen Gefühl« an, auf welches allein es nach seiner an LAVATER geschulten Meinung ankommt. Daß ihn dieses Gefühl beständig in die Irre führt, gehört schon fast zur Ritterehre eines umherstreifenden Irrenden auf den Abwegen der neuzeitlichen Vernunft. Stets kann er sich gegen Fehlschläge mit dem
181 182
Vgl. Michelsen (1962), S. 30 f., S. 43, S. 108 f., S. 190. Lavater, PhF/IV, S. 134; MusÄUS verweist auf den Ausblick am Schluß der Fragmente, wo diese Forderung wiederholt wird, Lavater PhF/IV, S. 452.
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Vertrauen in die »Unfehlbarkeit der Kunst« wappnen - was im Widerspruch zur Erfahung steht, wird kurzerhand den Umständen zugerechnet, die sich zwar nicht berechnen lassen, aber nach Maßgabe der physiognomischen Theorie revidiert werden. LAVATERS großer, viel verspotteter Fehlschluß auf das »schöpferische Urgenie« des Massenmörders RÜDGERODT bildet das Modell für den physiognomischen Zirkelschluß, der den »physiognomischen Syllogismus« DELLA PORTAS als Trug entlarven soll: Von seinem berühmten Freund und Landsmann, dem Hannoverischen Leibarzt JOHANN GEORG ZIMMERMANN, hatte LAVATER einen Schattenriß zugesandt bekommen, in dem er »das große, schöpferische Urgenie« des Abgebildeten zu erkennen glaubte. ZIMMERMANN verbesserte ihn, besorgt angesichts solcher Menschen-Unkenntnis, es handle sich vielmehr um »die Physiognomie eines Unmenschen; eines eingefleischten Teufels«.183 LAVATER, dem nun gleichfalls der Schrecken in die Glieder fährt, windet sich: »Diesen äußersten Grad der Teufeley halt' ich anfangs, ich gesteh1 es, an dem bloßen Schattenprofile nicht bemerkt«.184 Aber in der ProfilZeichnung scheint ihm alles klar und deutlich enthüllt: »Alles dieses ist auf dem Bilde zum Theil, war im lebenden Gesichte ganz zu lesen«.185 Die Aussprache zwischen dem Arzt und dem Prediger wird als Dokument und Beweis für die unbestechliche Aufrichtigkeit physiognomischer Wahrheitssuche in die Fragmente aufgenommen. Der Mann mit dem sprechenden Mörder-Namen wurde so zum Stichwortgeber, auf welchen sich noch LICHTENBERG in seinem satirisch-pseudophysiognomischen Fragment von Schwänzen beziehen konnte.186 Bei MUSAEUS ist es der »Sancho Pansa« des irrenden physiognomischen Ich-Erzählers, ein physiognomischer »Einfaltspinsel« mit Namen Philipp, dessen gesunder Menschenverstand noch immer ausreicht, den Zirkelschluß der Physiognomik auf den Punkt zu bringen: »Das ist wieder das von innen heraus und das von aussen hinein«, kritisiert er seinen Herrn, als der den »Schäfer Markus« physiognomisch des. Diebstahls zu überführen versucht: Aus des Rüdgerodts Teufelssinn haben die Herren, die's verstehen wollen, sein Gesicht gedeutet: das war von innen heraus, und des Markus Gesicht, weil's jenem gleichen soll, deuten sie auf Teufelssinn: das ist von aussen einwärts. Aber da steckts eben, Herr, das trifft, wahrlich nicht zu. (PR I, S. 27)
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186
Lavater, PhF/II, S. 194. Ebd. S. 194. Ebd. S. 195. Vgl. Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd. I, S. 537.
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Der Herr aber gibt sich gelassen gegenüber allem Anflug von Zweifel: »Nur Geduld«, antwortet er, »wirst's wohl noch inne werden, daß alles gar genau zutrifft«. (Ebd.)
3.5.2. Das physiognomische Alphabet und seine Anwendung auf Teufels- und Engelsphysiognomien Das >Inne werden< bezeichnet genau jenen Modus der Aneignung physiognomi scher Wahrheit, auf den der Ich-Erzähler der Physiognomischen Reisen setzt. Mit dem »inneren Blick« geschaut und mit einem »inneren Gefühl« verstanden werden muß das Geheimnis der Lineamente, so wie es in den Fragmenten gefordert wird;187 es ist »unaussprechlich« und für Einfältige bleibt es »zu hoch«. (PR I, S. 22) Wie LAVATER, so schwankt auch der Erzähler beständig zwischen dem Bekenntnis zur »allgemeinen« und zur »speziellen« Physiognomik hin und her. Im einen Extrem findet er allein im menschlichen Gesicht eine Resonanz seiner physiognomischen Intuitionen, im anderen ist die ganze Welt von den Signaturen analogen Sinns durchwaltet.188 Diese »allgemeine Physiognomik« bildet jedoch nur den neutralen Hintergrund seiner Erfahrung; sie wird nicht auf die Probe des erzählten Erlebens gestellt: Alle Dinge, denen der Erzähler begegnet, sprechen ihre Sprache, die er verstehen zu können glaubt - die Frage nach der Berechtigung dieses Glaubens bleibt dahingestellt. Er imaginiert auf diese Weise ein Buch der Natur ins geschriebene Buch: die Fährten des Wildes, die »im Thau und feuchten Erdreich eingedruckt sind« (PR I, S. 24), sind die Lettern, der hinkende »Spondäusgang« seines Pferdes setzt die Versfüße in diesen Text, die durch die Fingerzeige in »Lipperts Dactylothek« gegenrhythmisch ergänzt werden. (PR I, S. 43) Auf der Probe stehen hingegen die Lineamente der »Menschenkenntnis« und »Menschenliebe«, die Bedeutungen der Physiognomik »im engeren Sinn«. Das Universum menschlicher Physiognomien wird für den Erzähler auf diese Weise zu einem Subtext, der sich mit dem erzählten Text der Reisebeschreibungen nicht zur Deckung bringen läßt, weil die Erfahrungen des Lebens und die egoistischen Interessen der Mitmenschen alle menschenfreundlichen physiognomischen Prophezeiungen konsequent durchkreuzen. Dieser physiognomische Subtext wird in strenger Analogie entweder zum Buchdruck oder zur individuellen Handschrift gestaltet: Der Erzähler sendet den 187
Lavater, PhF/I, S. 159.
188
Als utopische Grenze hatte LAVATER von der Erfindung einer »allgemeinsten« Physiognomik geträumt. Vgl. PhF/TV, S. 57.
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»sprechenden Schatten« des Diebes Plappert per Post an seinen physiognomischen Brieffreund - und glaubt damit mehr ausgesagt zu haben, als je in einem handgeschriebenen Brief zu sagen gewesen wäre (PR I, S. 33); das Gesicht eines Unbekannten ist ihm ein »leserlicher Buchstabe«, einen ändern, der von schmächtiger und langbeiniger Statur ist, möchte er mit dem dürrleibigen und langbeinigen »ss« vergleichen (PR I, S. 141) - ein Lineament, das allerdings nur in deutscher Frakturschrift sinnfällig wird, in welcher der Erzähler sich offenbar das Buch der Natur - wie sein eigenes - gesetzt denkt. Die Frau des Langbeinigen hingegen ähnelt eher dem fülligen »ß« (ebd; diese Buchstaben-Physiognomie ist wenigstens in zwei, wenn auch nicht in allen möglichen physiognomischen Buch- bzw. Buchstaben-Welten identisch: in der Fraktur- und in der Antiqua-Welt). Buchstaben drücken auch physiognomisch die Stimmung aus, in der sich eine Person befindet: »Auf der Stirn, von Plinius das Aushängschild der Freude und Traurigkeit genannt, war mit leserlichen Buchstaben Trübsinn und übler Humor angeschrieben«. (PR I, S. 266) Neben den bekannten Buchstaben der exoterischen Alphabete existiert aber auch noch das esoterische, >hieroglyphische< Alphabet, wie es auch in LAVATERS Fragmente immer wieder hereinspielt. Im vierten Band der Fragmente hatte LA VATER der Hoffnung Ausdruck verliehen, vielleicht lasse sich einmal »eine allgemeine Königslinie finden, eine Chifer ins große Alphabeth der Physiognomik«.189 Der Vorschlag wird vom physiognomischen Reisenden sogleich verinnerlicht; das höchste Ziel des Physiognomisten, so äußert er sich, soll es sein, »die große Chiffre im Alphabet der Physiognomik, die allgemeine Königslinie« (PR II, S. 266) aufzufinden, womit die >Wissenschaft< wieder zu ihren okkulten Wurzeln zurückkehrt. Diese Verbindung der Physiognomie mit den magischen Künsten ist für den Erzähler der Physiognomischen Reisen so ambivalent wie für LA VATER selbst. Zuweilen werden die okkulten Bemühungen der Zeitgenossen als bloße »Surrogate« verworfen: Wohl dem Menschen, der einen spekulatifen Kopf auf seinen Schultern trägt, [...] der nicht [...] Karten und Würfel zu Surrogaten seiner Wirkungskraft braucht [...], der keine Feenschlößer erbaut, Luftschiffe vom Stapel laufen läßt, Seifenblasen von Seinem Strohhalm zum Zeitvertreib aus dem Fenster herausschleudert; oder gar aus wildgährendem Geschäftstrieb Engelseher oder Geisterbanner wird, wie Swedenborg und Schröpfer waren. Sondern die Zeit, so weit sie sein Eigenthum ist, also gebraucht, daß er derselben nicht mißbraucht. (PR I, S. 13 f.)
189
Lavater, PhF/IV, S. 56 f.
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Wenn allerdings ein anderer Aberglaube sich mit der Physiognomie verbündet, dann reißen alle Bande der Vernunft, und der Physiognomist wird zum Spielball und Opfer geheimnisvoller Prophezeiungen und Versprechungen, so wie auch LAVATER selbst zum wehrlosen Opfer der Geisterbeschwörungen des GRAFEN VON THUN, von GASSNERS Teufelsbannerei und CAGLIOSTROS hermetisch-alchemistischer Proselytenmacherei wurde.190 Dem »Exprofessor Wandeler«, der in der provinziellen physiognomischen Akademie, der der Erzähler angehört, zu Wort kommt, und der einen Briefwechsel »von den Schröpferskünsten, Nativitätsstellen, Sympathie und Gespenstern« veröffentlicht hat, »welches Kernbuch [...] die Wahrheit dieser Dinge zur Ehre unseres Zeitalters von neuem bestätiget« (PR I, S. 64), läßt der Erzähler die volle moralische Unterstützung seines Erzählamtes zukommen. Der Exprofessor eröffnet die im ersten Heft der Physiognomischen Reisen geschilderte Akademiesitzung »mit einer feyerlichen Rede, vom Ursprung physiognomischer Gefühle aus dem Umfassungsblick des Sehers«. (PR I, S. 64) GASSNER und SWEDENBORG, der landesweit berühmte Physiognomist der Teufels- und der weltweit berühmte Physiognomist der Engels-Physiognomien, stehen im Hintergrund der Diskussionen im Mikrokosmos der physiognomischen Akademie. Vom Teufelsbanner GASSNER hört man, er beschäftige sich damit, »die Physiognomie der merkwürdigsten Besessenen, die er im Paroxismus, vor und während der Exorcisation, von einem guten Meister hat zeichnen lassen, als einen physiognomischen Beytrag der Welt vor Augen zu stellen« (PR I, S. 38), und er versuche zu überzeugen, »daß ein Gesicht ein so leserlicher Buchstabe der Verteufelung seyn könne, wie >O< Buchstabe der Bewunderung und des Erstaunens ist«. (Ebd.) Auf diese Weise wird das physiognomische Alphabet weit über die Grenzen der Affektensprache hinaus ausgedehnt. LAVATER hatte im zweiten Band der Fragmente geschrieben: Die Stirn ist, besonders in dieser Verbindung mit der Nase, schlechterdings entscheidend für mächtigen, schnell umfassenden Verstand. - Die äussere Linie von oben an der Stirne bis unter die Nase ist - Buchstabe des Verstandes wie O Buchstabe der Verwunderung und des Erstaunens ist.""
Den Anhängern des Teufelsphysiognomisten GASSNER steht das AkademieMitglied Rektor Brunhold entgegen, dessen Vortrag vor der physiognomischen Akademie sich mit der Physiognomie der Engel auseinandersetzt. (PR I, S. 65 ff.)
190 191
Vgl. Sierke (1874), S. 280-287, S. 447. Lavater, PhF/II, S. 121.
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Dem Erzähler werden die physiognomischen Lektionen zur englischen und satanischen Physiognomie bereits im nächsten Kapitel zu Gegenständen realer Erfahrung - also zu Gegenständen seiner Erzählung. Zur Probe aufs Exempel der »Engelsphysiognomien« gerät ihm dabei die eines dubiosen Fräuleins »Sophie«, welches er, entgegen allen von der Umwelt angemeldeten Bedenken, bei sich aufnimmt. Seine erste Tat ist natürlich, die Unbekannte zu silhouettieren, woraufhin er den Schattenriß auf dem Klosett, seinem physiognomischen Kabinett, systematisch durchphysiognomisiert. Das in der Akademie neu erworbene Wissen kommt sogleich zur Anwendung: »Das Ohr, besonders im zarten sammetweichen Ohrläppchen, hat viel Ausdruck von Sanftheit [...] O du weiblicher Engel!« (PR I, S. 81) Zur Beschreibung Sophiens übt sich der Erzähler in allen Kunstgriffen empfindsamer Zeichnung: »Das gute Kind steht da, so bescheiden, in so liebenswürdiger Verlegenheit, wagts nicht die komblumenfarbenen Augen aufzuheben [...]. Eine sanfte Schamröte färbt ihre Wangen.« (PR I, S. 101) Die Umwelt und zu des Erzählers besonderer Verbitterung auch das Kollegium der physiognomischen Akademie sieht das ganz anders: Auch die Verstellung habe ihre Merkmale, hatte LAVATER gelehrt,192 und genau diese Merkmale von Falschheit will man in der Engelsphysiognomie erkennen. Für den Erzähler wird jeder, der so denkt, automatisch zum Teufel, oder doch zumindest zu einem vom Teufel Besessenen: »Ist ein Spargement und Maulgesperre im ganzen Kirchspiel umher über die Sophie, als sey sie ein Wunderthier, oder ein Syren', halb Weib, halb Fisch, wie die schöne MelusinV (PR I, S. 100) Kein Wunder also, daß ihm dies auf den physiognomischen Sinn schlägt; er entrüstet sich über den »Argwohn, diesen Teufelsscholiasten, den ich mir von dem Dechant von Pondorf [gemeint ist GASSNER, Anm. J.P.] gern aus hiesiger Flur möcht wegexorcisiren lassen« (PR I, S. 102), aber nach den impliziten poetologisehen Gesetzen der Erzählung ist den Magiern der großen, der wirklichen Welt, ist dem Zeitgeist in der Gestalt GASSNERS, SWEDENBORGS und LAVATERS nur eine Femwirkung in die fiktive Welt hinein erlaubt, exorzistische Nahwirkung (also leibhaftiges Auftreten) hingegen ausgeschlossen. Nachdem der physiognomische Schwärmer auch noch mit seinem Versuch, die »jungfräuliche Unschuld« Sophiens vor der physiognomischen Akademie am Original zu demonstrieren, scheitert, steigert sich sein physiognomischer Zorn so weit, daß ihm aus den vom Argwohn besessenen Kollegen leibhaftige Teufelsfratzen werden: »Unphysiognomische Köpfe, die ihr von der Mutter Natur vernachlässigt, in eure Augen keinen Scharfblick des Sehers, dagegen
Lavater, PhF/II, S. 56.
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in eure Stirn desto mehr dumpfe Hörn- und Stoßkraft zu eurem Erbtheil empfangen habt«. (PR I, S. 103) Trotz aller auf die unfehlbare Deutung der Engelsphysiognomie bauenden Zuversicht aber verschwindet die schöne Sophie, und mit ihr das Familiensilber des getäuschten Physiognomisten. Der Erzähler droht nun an der eigenen Wissenschaft irre zu werden: »O weh, wie versteh ich das? Die Sophie mit ihrer Engelsphysiognomie, die Hera aus einer Unschuldswelt hat sich unsichtbar gemacht?« (PR I, S. 148) Aber auch für solche Abweichungen von der Regel findet sich in LA VATERS Fragmenten die passende Erklärung: Welcher reine, edle, feingebaute, leicht reizbare Mensch - mit der zärtlichsten Engelsseele - hat nicht seine Teufelsaugenblicke - wo nichts als die Gelegenheit fehlt - in einer Stunde ihn zwey, drey ungeheure Laster begehen zu lassen.193
Kaum hat sich der Erzähler - ein Beispiel für die erwähnte Fernwirkung der großen Welt - diese Maxime zu eigen gemacht, so zieht er nach DELLA PORTAS Regeln der physiognomischen Syllogistik den Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere: »Die zarteste Engelseele hat ihre Teufelsaugenblicke, sollte die Sophie deren nicht auch haben?« (PR I, S. 154) Bei all dem bleibt auch der Erzähler felsenfest in der Gewißheit, daß nur die »subjective Einsicht betrügt [...], nicht aber die objective Physiognomie«,194 wobei der subjektive Irrtum stets den Anti-Physiognomisten angerechnet wird, zum Beispiel LICHTENBERG, dem »Göttinger Recensenten«: Nun ist mir sonnenklar, warum zu so vielen Leuten, unter ändern auch zu den Göttinger Recensenten, die Gesichter in den Fragmenten sehr oft ganz was anders sagen, als was Lavater gesehen hat: nähmlich die Herren sind beym Beschauen desselben nicht in der Lavaterschen Stimmung gewesen, und da verrückt sich der Gesichtspunct unvermerkt, daß, wie jedermann seinen eigenen Regenbogen, oder, nach P. Heils Meinung, auch sein eigen Nordlicht sieht mit leiblichen Augen; so beschaut auch jeder Physiognom, aus seinem eigenen Standpunct, das Menschenantlitz [...]. (PR I, S. 95)
Bei schlechter Stimmung »übt die Phantasie ihre gewöhnliche Taschenspielerey« aus und »verwischt all aufs Gute deutende Zug'« (PR I, S. 96) damit kehrt der Erzähler den Spieß jener Aufklärer, die »alle physiognomischen Empfindungen für Phantasterey halten«,195 um. Die Täuschungen der Einbildungskraft wirken nicht im Physiognomisten, der die Gesichter deutet,
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Lavater, PhF/IH, S. 95. Lavater, PhF/I, S. 136. [Anonym], Zufällige Gedanken über Herrn Lavaters physiognomische Fragmente, zitiert nach: Physiognomisches Cabinet, II, S. 209.
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sondern in seinem Gegner, der sich den offenbaren Wahrheiten der Physiognomik verschließt.
3.5.3. Probleme der Übersetzung aus der »Sprache der Geberden« in die »Wörter-Sprache« Nachdem sich der Erzähler auf diese Weise über die herbe Enttäuschung der verschwundenen Sophie hinwegphysiognomisiert hat, tritt er endlich seine schon lange geplante physiognomische Exkursion an. Verstand und Gefühl streiten in ihm, ob er sich eingestehen soll, daß er dabei vor allem der verlorenen Engelsphysiognomie nachreitet, oder nicht. Die Psychomachie der Seelenkräfte endet mit einem vorläufigen Waffenstillstand - und genau aus dem labilen Gleichgewicht dieser Kräfte ergibt sich die krumme, abschweifende Linie, welcher der physiognomische Protagonist des Romans im Spondäusgang seines Pferdes folgt. Sie gleicht einem Spaziergang, »wo jeder Weg der rechte ist«. (PR I, S. 248) Auf diese Weise hat er bald »alles durchphysiognomisirt«, was ihm auf seinem Weg »vor's Köm« kommt (PR I, S. 8). Mit allem und jedem wird kurzer physiognomischer Prozeß gemacht: »gestellt, silhuettirt, und mittelst des Storchschnabels deren Profil aufs gewissenhafteste verjüngt, darüber reiflich meditiret und aus [...] innern Gefühl heraus stattlich philosophiret«. (Ebd.) Auch auf seiner Reise muß der Physiognomist sich mit allerlei widerstrebenden und widersprüchlichen Auffassungen vom Wesen der Physiognomik auseinandersetzen. So trifft er in Leipzig auf einen genialischen Poeten, der den Wahrheitsanspruch von LA VATERS Physiognomik zugleich einschränkt und enthusiastisch überhöht, wobei sich erneut die Verschleierungs- und Verhüllungsmetaphorik mit den rhetorischen Formeln des Unaussprechlichen verbindet: »Die Deutsamkeit des menschlichen Antlitzes sey in ein heiliges Dunkel eingehüllt«, so referiert der Erzähler die in dunklem Klopstock-Ton vorgetragenen Ansichten des enthusiastischen Poeten, wie die Deutsamkeit der genannten Oden [Klopstocks, Anm. J.P.] oder die Schriften des Jakob Böhms. Eins sey so unerklärbar als das andere; hab zu diesem geheimen Archiv keiner den rechten Schlüssel, als der Kunstmeister selbst, was der sprech1 müsse gelten; und dieses [...] sey das non plus ultra des Studiums, das die sinnreichsten Köpf hierauf verwendeten. Dieser ehrwürdigen Decke hätten die Lavatersche Gesichtsphysiognomik, die Klopstockische Odenkryptik und Meister Jakobs Sinnesmystik den größten Theil ihres Rufes zu danken. Denn das sey der Menschen Art und Natur, daß, je weniger sie
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt von einer Sache sähen oder verstünden, desto lauter stießen sie in die Tuba der Bewunderung. (PR I, S. 178 f.)
Der Erzähler selbst hält es eher mit der empfindsamen Variante der redseligen Beteuerung des Unsagbaren: »Die Herzensempfindsamkeit verschließt den Mund, strömt nicht in weitschweifigen Haranguen über, sondern in unausredbare Herzgefühle; und wenn sie sich äußert, so geschieht das pathognomisch, nicht rhetorisch«. (PR I, S. 243 f.) Die Rhetorik der Gesten wird der Rhetorik der Worte übergeordnet, weil sie unmittelbarer die >Herzensgefühle< zum Ausdruck bringt. Doch auch diese empfindsame Rhetorik-Kritik ist so rhetorisch wie die Tradition, der sie entstammt: Sowenig der empfindsame Reisende darauf verzichtet, seine angeblich »unausredbaren« Herzensgefühle laut zu äußern, sowenig kann der empfindsame Erzähler sich enthalten, seine physiognomischen Gefühle zu Papier zu bringen. Das wird besonders deutlich in der Episode, in der der Erzähler den »Gerichtsphysiognomen Sportler« besuchen will.196 Der Reisende erreicht den Wohnort Sportlers bei Nacht. Es stellt sich aber heraus, daß der empfindsam-pietistische Prediger des Ortes sich darauf verlegt hat, dem Volk durch »Mondscheinpredigten« das Wort nahezubringen. Im Mondschein nähert sich also auch der physiognomische Reisende der Familie Sportlers - und die Tochter desselben hält ihn, seinen Schattenriß vor dem Vollmondhimmel verwechselnd, fälschlicherweise für den »Herrn Vetter«, dem sie auf dem Heimweg - noch immer im Mondschein - empfindsamzärtliche Freiheiten und Vertraulichkeiten gewährt. Erst im Hause, bei Licht besehen, löst sich das Mißverständnis und damit auch die vertrauliche Empfindsamkeit der Herzen auf. An die Stelle der empfindsam-seligen Stille tritt eisiges physiognomisches Schweigen: Also war ihrerseits kein ander Mittel übrig, als physiognomische Betrachtungen anzustellen. Die ganze Verhandlung dauert' ungefähr sechs Sekunden; aber in Worte übertragen, getraut1 ich mir's schwerlich auf sechs Bogen zusammen zu drängen, was die Blick all sagten. Der physiognomische Blitzblick ist eine so kurze und nervöse Sprache, daß unter allen lebenden Sprachen nur alleine die Japanische ungefähr damit in dem nämlichen Verhältniß steht, als diese mit der Deutschen. (PR II, S. 93)
Dieser Feststellung schließen sich nicht weniger als sechs Seiten übersetzter Gesichtersprache an. Und auch damit ist noch lange nicht alles gesagt:
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Auch mit dieser Figur erfüllt MUSAEUS eines der Desiderate, die LAVATER im Abschlußband der Fragmente anfuhrt, wo er sich unter anderem auch »eine Physiognomik für Richterund Verhörer« wünscht. (PhF/IV, S. 482.)
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Alles das, was ich hier nur nach einigen Grundzügen hinskizzirt hab', war physiognomisch in einem Fünftheil einer halben Minute sehr deutlich und ordentlich abgehandelt; und nun kams zum zweyten Theil der Conversation, nämlich der wörtlichen Unterredung. (PR , S. 97)
Aber diese Wort-Rede ist nur der Sekundärtext, »es ist und bleibt doch [...] die Physiognomie der Grundtext, der die Gesinnungen und Gedanken des Herzens zuverlässiger und unverstellter offenbart als die Zung«. (PR , S. 98) »Die Seel1 glaubt indessen immer mehr der Geberden- als der Wörtersprache«. (PR , S. 98) Von diesem Credo zeigt sich der Erzähler weiterhin unerschütterlich überzeugt. Die zahlreichen auf Gebärden und Körperteile zielenden Sprichwörter und Redensarten, die in den Text eingewoben sind, sind jedoch noch keine physiognomischen Metaphern. Es handelt sich vielmehr um Allegoresen der Körpersprache. Beispiele solcher Rückübersetzungen aus dem Buch der Natur sind die folgenden, durch die der ganze Mensch Buchstabe für Buchstabe ins Buch des Erzählers eingeschrieben wird: [...] nach der Physiognomie zu iudiciren [war er] ehender ein flacher Kopf als ein Schöndenker. (PR I, S. 12) Ein Irrthum von Haarbreite, wissen Sie wohl, macht in der Physiognomie einen großem Unterschied, als ein Erddiameter in der Astronomie. (PR I, S. 115)1*7 Das fuhr mir nicht wenig wider die Stirn, weil ich es für Spötterey hielt«. (PR I, S. 69) Die Ader vor der Stirn schwoll mir auf wie ein Strick; und wenn's zum Durchbruch kommen war', so hält ich dem Magister Wabbel leicht was an der Physiognomie verdorben. (PR I, S. 218) Die Nase in anderer Leute Töpfe stecken. (PR I, S. 10) Die Kunstrichter [...] müssen mit langen Nasen wieder abziehen (PR I, S. 248) Wenn ein Physiognomist sich hinsetzt, und das Innere des Menschen, des Sinn und Geist er zuvor erforscht hat, mit den auswendigen Lineamenten vergleicht, so schreib er sich diese Ähnlichkeit hinters Ohr. (PR I, S. 69) Appelier ich ans Gesicht, so predig" ich tauben Ohren (PR I, S. 104) Mag mancher Israeli! das Maul verzogen haben. (PR I, S. 167)
197
Vgl. hierzu: »Eine kleine Biegung oder Schärfe, eine Verlängerung oder Verkürzung, oft auch nur um die Breite eines Fadens, eines Haares; die mindeste Verrückung oder Schiefheit - wie merklich kann dadurch ein Gesicht, der Ausdruck eines Charakters, verändert werden!« (Lavater, PhF/I, S. 143.)
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt Ich konnt's ihm bald an der Physiognomie abmerken, daß er was in Petto hab', damit er nicht 'raus wollt'. Derohalben wackelt ich so lang an dem Zahn, bis ich ihn aus der Wurzel hob. (PR I, S. 11)
Vom Gesicht zu den Schuhen: Ich merkt1 ihm an der Physiognomie ab, daß ihn irgendwo der Schuh drückt' (PR I, S. 121)
Und zusammenfassend: Wo stehet geschrieben, daß Schuh- und Genie-Wesen nicht unter einem Hut herbergen können? (PR I, S. 183)
Das Buch selbst wird damit in gewisser Weise zum Körper - so wie jener Schattenriß LUTHERS, von dem einer der Reisenden spricht, denen der Physiognomist einige Silhouetten seiner Sammlung zur Deutung vorlegt: Wie ich sie (die Schattenköpf) lese? - Die kann ich nicht lesen; es ist ja kein Geschriebenes. Aber Dr. Luthers Bildniß, das ich zu Haus unter Glas habe, kann ich wohl lesen. Das hat mir ein künstlicher Schreibmeister in Schrift verfaßt, und aus den sechs Hauptstucken des Katechismus den ganzen Dr. Luther zusammengesetzt, daß die sieben Bitten nebst ihrer Auslegungen gar deutlich in den sieben flammenden Haarlocken wallen. (PR I, S. 238)
Das Buch als Teil der Weltphysiognomie erfüllt HERDERS für unerfüllbar erachtete Forderung an die Physiognomie: »daß man mit Worten keine Gestalt mahle, am wenigsten die feinste, verschiedenste, immer abweichende aller Gestalten«,198 die auch hier als eine Erscheinung der »herrlichen Lichtgestalt alles Wesen«, der »Künstlerin Minerva zu Sais« zu verstehen ist.199
3.5.4. Ideen zu einer physiognomischen Metaphorik Die Geheimsprache der >höheren Naturwissenschaft< besteht aus Worten oder aus Zeichen, aus Chiffren wie »der rote Löwe«, »die rote Kröte« und »Sol und Luna« u.s.w. oder aus hermetischen >Hieroglyphenhöhere Naturhöheren Vernunftx zugänglich, deren Inhalte in der natürlichen Sprache nicht zu vermitteln sind. Die Quintessenz der materiellen Welt wird im Zuge hermetischer Praxis aus der Materie gefördert, die Quintessenz der natürlichen Sprache ist in der hieroglyphischen Sprache der Geheimwissenschaft verborgen. In dieser Hinsicht ist beides wahr: Die Natur der Dinge wird vom >Schleier der Natur< bedeckt, und die hieroglyphische Sprache ist die >mystische Hülle< der Wahrheit. Als satirisches Heilmittel gegen diese vermessenen Ansprüche der Wissenschaft, die sich zu Höherem berufen fühlte, wurde bei WffiLAND eine rhetorische Umdeutung der hieroglyphischen Sprache versucht, hinter deren Schleier keine okkulten Qualitäten, sondern die moralischen Werte der Aufklärung verborgen lagen, während bei JUNG-STILLING die verborgenen Eigenschaften mit den transzendentalen Eigenschaften in der Perspektive der Kantischen Philosophie identifiziert und allegorisch veranschaulicht wurden. Die Physiognomie, die auf die »Große Chifer«, die »allgemeine Königslinie der Natur«, setzt, versucht gleichfalls, verborgene Eigenschaften aus manifesten, die »unsichtbare Kraft« aus der »sichtbaren Wirkung«200 auf dem Weg des Analogiedenkens zu erschließen: »O die Natur, wie analogisch ist sie sich bey aller ihrer unendlichen Mannichfaltigkeit«.201 Die Definition »physiognomischer Wahrheit«, die PEUSCHEL in seiner Abhandlung vorstellt, stellt die Erklärungsmacht dieser Analogie sogar der Autorität logischer Analyse gleich: Wie die logische Wahrheit in der Übereinstimmung der Gedanken und Aussagen mit der betrachteten Sache selbst besteht, so ist die physiognomische Wahrheit hier die Übereinstimmung der Stellung der Augen und des Mundes mit sich selbst, den Temperamenten und der Rede.202
»Hat nicht«, so fragt der Verfasser des Physiognomischen Cabinets, »jede Kunst und Wissenschaft ihre besondere Sprache, woran schon Jahrhunderte und Tausende gearbeitet haben, um sie zu vervollkommen; ihre Kunstwörter, die gewisse Gegenstände bezeichnen, wenn sie erst gängig und gäbe sind, ihre Charaktere, wie z.E. die Chymie, oder die Analyse, die Begriffe ausdrücken, welche sich entweder gar nicht, oder doch nur mit einer großen Weitläufigkeit in Worte übersetzen ließen?«203 So weit reicht die Analogie zwischen den
200 201 202 203
Lavater, PhF/I, S. 13. Lavater, PhF/II, S. 107. Peuschel (1769), S. 120. Physiognomisches Cabinet, III, S. 200.
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beiden okkulten Disziplinen. Das Vokabular der Physiognomik, die Prädikate, auf die sich die Schlüsse der »physiognomisehen Syllogistik« gründen, besteht jedoch aus Zeichen für Zeichen, nämlich Wörtern der natürlichen Sprache für Wörter oder Buchstaben der Natursprache. Darüber hinaus unterscheidet sich die Physiognomik von ihrer »okkulten Schwester«204 insofern, als physiognomische Wahrheit - im Gegensatz zur Wahrheit über Naturprozesse - nicht reproduzierbar ist, da jedes Individuum in Raum und Zeit nur einmal und in unverwechselbarer Weise existiert. Die verborgenen Eigenschaften, die in den Lineamenten offenbar werden, sind die individuellen Charaktereigenschaften der Seele. Daher kann die Physiognomik den Gebärden und Physiognomien ihre okkulten Qualitäten nur einmal abverlangen: Freylich hat eine Silhouette, wenn sie einmal physiognomisirt worden, und man den Namen und Charakter der Person, welche sie vorstellt, weis, ihre Dienste gethan. Sie gleicht dann einer ausgepreßten Zitrone, aus welcher sich kein Saft mehr erzwingen läßt.205
Der »Witz« ist es, der wie die metaphorische, so auch die »physiognomische, izt noch so unaussprechlich arme Sprache« bilden soll.206 Es soll aber eine universelle, keine Arkansprache sein, die auf diese Weise generiert wird. Die Physiognomischen Briefe an Herrn E. im DEUTSCHEN MUSEUM beziehen sich ausdrücklich auf die bereits zitierte Passage aus der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK.207 Hier wird deutlich, daß auch in diesem Bereich des Bedeutungsglaubens die Metaphorik als ein sprachliches Äquivalent der von den Anhängern der Physiognomie postulierten obskuren Qualitäten, der >Quintessenzen< der körperlichen Dinge, verstanden wurde: Die gangbarsten Münzen der Sprache für unbestimmte Dinge sind Übertragungen (Metaphern). Und wenn das Gangbare abgenützt und seiner Originalschärfe beraubt worden ist; so ist es die Pflicht des Genies, neue Bezeichnungen zu wählen, damit die Sache durch das Zeichen wieder verjüngt werde. Für die Physiognomik liese sich eine vortrefflich karakteristische Sprache machen. [....] Dazu gehört eine subtile Einbildungskraft und metaphysische Gewissenhaftigkeit des Gebrauchs.208
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206 207 208
Ebd. S. 232. Ebd. S. 192. Lavater, PhF/I, S. 174. Vgl.Fußn.44. DM (1777.1), S. 73 f.
Begreifen des Unbegreiflichen: Das entschleierte Bild der Seele
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Es bleibt jedoch die Frage, ob diese »subtile Einbildungskraft« eine schwärmerische ist, die die Wirklichkeit subjektiv verzerrt, oder nicht. Der Erzähler der Physiognomischen Reisen urteilt pragmatisch: Ohne die wohlthätige Einwirkung der Schwärmerey würde die Welt vier Band' physiognomischer Fragmente, ein physiognomisches Kabinet, einen Kalendertraktat und meine Reisen entbehren müssen, welches in der Reihe der Wissenschaften kein geringerer Übelstand seyn würde, als in.einem wohlgereiheten Gebiß ein fehlender Zahn. (PR I, S. 228 f.)
Die Unmöglichkeit einer physiognomischen Arkansprache schließt es jedoch aus, aus dieser freiwilligen Schwärmerei einen Subtext im Sinne von WIELANDS Stein der Weisen zu konstruieren. Die im vorigen Abschnitt angeführten Rückübersetzungen aus der Natur- in die natürliche Sprache machen deutlich: Nicht eine Arkansprache wird profanisiert, sondern die Profansprache (genauer gesagt: deren Sprichwörter und Redensarten) wird satirisch arkanisiert. Die >mystische Hülle< physiognomischer Sprache offenbart daher, wenn sie transparent wird, keine aufgeklärte Moral, sondern sinnliche Erfahrung. Diesen Zusammenhang hat MUSAEUS am Schluß seines Romans erneut im Bild des Schleiers deutlich gemacht. Der Punkt, an dem die physiognomisch verschleierte Weltsicht des Erzählers transparent wird, ist die Freier-Vermittlung, mit der ihn Sportler beauftragt, um seiner Tochter einen physiognomisch passenden Gatten zuteil werden zu lassen. Unter den drei Bewerbern soll einer nach den Prinzipien der >Kunst< ausgewählt werden. Der Erzähler entschließt sich jedoch im Einverständnis mit dem Vater dazu, nicht die Physiognomien der Freier zu taxieren, sondern im Gesicht der Tochter zu forschen - um darin das Geheimnis ihrer Neigung abzulesen. Der Reisende muß aber angesichts der Verstellungskünste Lottchens kleinmütig das Scheitern seiner Gesichtsdeutungskunst zugeben: »Gerade so und nicht anders ist das Herz ihrer Tochter beschaffen in Absicht der Liebe, glatt und rein wie eine Spiegelfläche, gegen den unermeßlichen blauen Himmel gekehret«. (PR , S. 274). Ein Eingeständnis, das ihm um so schwerer fällt, als der Vorschlag, die Herzensneigungen aus der Tochter herauszuphysiognomieren, sein eigener war, während der Vater nach altfränkischer Manier einfach einen Ehemann bestimmen wollte. Dies aber, so hatte der Erzähler eingewandt, entspreche nicht mehr dem Stand einer Zeit, die Empfindsamkeit und Physiognomie und Lottes Werther hinter sich hat. Aber auch vor sich selbst muß er bekennen: Glaubt' es sey leichter die Hertha im Bade zu belauschen, als die Seele eines Mädchens schleyerlos zu erblicken. Von nun an sey's gelobt, keine weibliche Physiognomie mehr zu judicieren; sie gehören all in das Fragment von Schlangenköpfen und harmoniren damit wunderbar. (PR II, S. 275)
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Die Schleier-Metapher, die hier am zentralen Umschlagpunkt der physiognomischen Schwärmer-Kur berufen wird, wird um die nächste Seite-Ecke herum in die Wirklichkeit zurückmaterialisiert; der Erzähler, der mit seinen physiognomischen Forschungen keinen Blick durch den Schleier der Physiognomie in die Seele des Mädchens zu werfen im Stande war, der, mit dem Ausdruck des TEUTSCHEN-MERKUR, den »Schleyer von den offenen, bestimmten und leuchtenden Zügen und Mienen der Menschheit« - nicht »wegzurücken« vermochte - er wird am nächsten Morgen durch den zufälligen Blick durch einen wirklichen, einen materiellen Schleier hinreichend aufgeklärt: Trat in ihr [Lottchens] Zimmer, sah darin niemand, aber an dem herabgelassenen innern Schleyervorhang über dem aufgewölbten Fensterbogen präsentirten sich gar deutlich zwey Schattenbilder in Lebensgröße en Profil, von den einfallenden Sonnenstrahlen mit scharfem Kontur gezeichnet; ein männliches und ein weibliches, die einander auf neuseeländische Manier mit den Nasenspitzen vertraulich zu begrüßen schienen, nach Maßgabe der Zusammenstellung von einerley Gesichtslinien auf der 337. Seite des vierten Tomus der Fragmente. (PR , S. 276)
Aber auch die Berufung auf die Fragmente kann die Bankrott-Erklärung der physiognomischen Wissenschaft an dieser Stelle nicht verschleiern: Diese augenblickliche Erscheinung verschwand, da der Vorhang bey vermerkter Ankunft einer dritten Person wie ein leichter Nebel aufflog und oben am Stubenhorizont sich in eine Wolke thürmte. Traten hervor Lottchen mit schmachtender Miene und ein Mann, den ich wahrlich! nicht hinterm Vorhang bey ihr gesucht hätte [...]. (Ebd.)
Der Nebel, der im Roman so etwas wie eine Wechselmetapher des Schleiers war - es ist immer wieder vom »Nebel des Geheimnisses« und vom »Dunstkreis des Vorurtheils« (PR I, S. 110) die Rede - lüftet sich, um der Realität Raum zu geben. Der »innere Gefühlsblick«, der nach des Reisenden Meinung durch eben jenen Nebel des Vorurteils geschwächt war, klärt sich ihm vor der Wirklichkeit auf. Er nennt diese Beobachtung noch immer eine physiognomische - der Vater fragt ihn, wie seine Erkenntnis mit der angeblich so glatten Tafel des Tochter-Herzens zusammenstimme, und der Reisende antwortet: »O, da hab ich heut Morgen bey einer anderweiten physiognomischen Entrevue eine lange und breite Inskription darauf entdeckt, die ich gestern in der Eil übersehen hatte.« (PR II, S. 282) Mit dieser Erkenntnis macht sich der reisende Physiognomist auf den Rückweg. Zwar hält er an seiner Wissenschaft fest - aber sie ist zu etwas anderem geworden: Gab nun wieder meinen Gedanken Audienz, wie ich so einsam dahintrabt. Ich treibe Physiognomik, sprach ich, zur Beförderung der Menschenliebe, gaffe jedem, der mir begegnet, ins Gesicht, spekulir und simulir ein langes und breites darüber, und ein
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anderer, der vielleicht nicht weiß, daß eine Physiognomik existirt, übt unterdessen die Menschenliebe thätig aus. [...] Meine Betrachtung war thodt und unfruchtbar, die seine ermuntert ihn zu einer edlen That [...] Ich faßte den Vorsatz, nach diesem guten Beyspiel mein Studium zu erweitem, und in Zukunft dabey nicht die Physiognomie des Gesichts allein, sondern die ganze Individualität des Menschen, so viel es der armselige menschliche Allumfassungsblick verstattet, in Anschlag zu bringen, verhoffe daß solches der Menschenliebe ungleich fördersamer seyn wird, als das beste Studium der Lineamenten. (PR II, S. 306 f.)
In dieser Erwartung bleibt der Roman als beschränkte Form vor dem Horizont der Wirklichkeit zuletzt fragmentarisch wie die Fragmente des Zürichers: Sentimentalisten und Physiognomisten »lieben Fragmente« gleichermaßen, und der Erzähler trägt »keinen Zweifel, all unser Wissen und Verstand werde noch bey Menschengedenken in ein Fragment zusammenschmelzen. (PR II, S. 241) Ein enzyklopädisches Fragment: in diesem Paradox fängt der Spätaufklärer die Widersprüche von satirischer Enthüllung und physiognomischer Intuition, von skeptischer Kritik und universellem Geltungsanspruch der Vernunft auf. Die in die Billionen gehenden Permutationsrechnungen des Physiognomischen Cabinets bleiben in der Physiognomie des Textes zuletzt Gleichungen ohne rationale Lösung.
4. »Die Magie des Spiels schafft eine neue Welt«209 4. l. Lotteriesucht und Physiognomie Werfen wir zu Beginn dieses Kapitels zunächst noch einmal einen Blick zurück auf die verschlungenen Erzähl-Lineamente der Physiognomischen Reisen: Auf Schritt und Tritt begleitet dort die Lotterie-Metapher den schwankenden Glücks- und Unglücks-Pfad des irrenden Protagonisten. Das physiognomische und das Lotterie-Glück scheinen ihm einer Quelle zu entstammen: Wenn den Reisenden das physiognomische Gespür getrogen hat, dann lag es daran, »daß er aufs Geratewohl in den Glückstopf griff und eitel Nieten zog« (PR I, S. 184) - im Hochgefühl eines physiognomischen Erfolgs dagegen bekennt er: »Ich vertrau der Kunst, besonders, wenn ich einen Treffer gezogen habe« (PR I, S. 246). Und im zweiten Band wird über die Erfolgsaus-
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TM Januar 1777, S. 33.
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sichten der Kunst zusammenfassend spekuliert: »Das war1 wie ein Einsatz im Lotto. Würd Ihre Nummer gegriffen, so wären Sie unter Dach; und blieb sie im Glücksrad verborgen, so war weiter nichts dabey verloren als ein Schattenbild.« (PR II, S.66)210 Soll man daraus nun schließen, der erzählende Physiognomist in MUSAEUS1 Roman habe insgeheim seine Kunst so gering geachtet, daß nur das Gesetz statistischer Wahrscheinlichkeit über sie regierte? Ist ihm das Glück der Physiognomie so unsicher wie das der Zahlen? Die Anhänger der okkulten Disziplinen des 18.Jahrhunderts dachten anders. Für das magische Bewußtsein unterlag auch die Stochastik rätselhaften Gezeitenkräften - die Gestirne in ihren aktuellen Konstellationen richteten sie auf den unendlichen Ozean der natürlichen Zahlen (besonders aber auf deren erste Neunzig), und Zahlenmystik, magische Praktiken und bedeutungsvolle Träume offenbarten den verborgenen Sinn der lottospielenden Menschheit. Und so wurde die kabbalistische Rechenkunst zur Beförderung des Menschenglücks eine beherrschende Leidenschaft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; kein geringerer als der »Erzphantast unter den Phantasten« CAGLIOSTRO rühmte sich, ein Mittel gefunden zu haben, »den Zufall zu berechnen«,211 womit er die aufklärerische These bestätigte, daß Menschen, deren Geist einmal auf Ausschweifungen gerät, nie mit einer Narrheit zufrieden sind. Daher assoziiert sich zur Goldmacherey die Schatzgräberkunst, die Lotterieabrechnungen und Teufelsbeschwörung; mit einem Wort: eine Menge Hirngespinste einer erhitzten Einbildung.212
Es ist somit nicht weiter verwunderlich, wenn - satirisch bei MUSAEUS, ernsthaft bei vielen anderen - die Wahrscheinlichkeit eines physiognomischen Treffers in Beziehung gesetzt wird zum Lotterieglück. Nur ein weiteres Beispiel: Im 44. Stück der Allgemeinen Deutschen Bibliothek wird ein physiognomisches Spiel vorgestellt, dessen Spielregeln im Physiognomischen Taschenbuch auf das Jahr festgeschrieben wurden: Man soll in den Mittelpunkt eines Cirkels, in die Stelle des Ohrs eines Schattenbildes oder mehrerer setzen, und von dort nach dem Scheitel, nach dem Anfange der Stirn nach den Augen, nach dem Ende der Nase, nach dem Kinn und nach dem Halse verschiedene Radios ziehen, diese triangulären Stücke ausschneiden, und hernach auf verschiedene Art zusammensetzen, woraus natürlicher Weise sehr verschiedene Gesichter entstehen werden.
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Weitere Beispiele: PR I, S. 83, S. 120, S. 139, PR II, S. 66, S. 79 f, S. 260. Sierke (1874), S. 362. Eckartshausen (1790), S. 164
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Der allgemein-deutsche Rezensent kommentiert: Daman in der Physiognomie schon viel spielt, so mag man auch hiermit spielen. Aber wer mehr als ein Spiel daraus machen will [...], muß sehr behutsam gehen. Die Natur ist wirklich homogen. Gewisse Zusammensetzungen sind widersprechend. Theile, schlechterdings aus einem Gesicht ins andere versetzt, werden schlechtdings irgendwo widersprechend seyn. Es wäre also für einen geübten Beobachter eine gute Uebung, bey solchen Verwechslungen das angesetzte des nicht zusammenstimmenden aufzuspüren, und Gesichter aus der Natur, welche ähnliche Verschiedenheiten haben, aber doch weil sie Gott und nicht eine dürftige Combination zusammengesetzt hat homogen sind, dagegen zu halten. Hingegen Anfängern kann solch ein Spiel sehr schädlich werden und sie ganz aus der Natur herausführen.213 An dieser Stelle gabelt sich nun offensichtlich das teleologische Bewußtsein. Die Kombinationen der Physiognomie sind für den Rezensenten geschaffene Kombinationen, über deren Harmonie der Schöpferwille wacht; ganz anders hingegen die stochastisehen Kombinationen der Lottotreffer: sie sind dem willenlosen Zufall der Wahrscheinlichkeit unterworfen. Einerseits hält also der Rezensent an einer physikotheologischen Vererbungslehre fest, in der Zahlenlehre hat sich dagegen - zehn Jahre nach LICHTENBERGS berühmter Göttinger Antritts-Vorlesung über das von BERNOULLI aufgeworfene Petersburger Problem< der Wahrscheinlichkeit im Spiel - bereits eine nachmagische Weltsicht etabliert. Und daher wird jetzt auch in NlCOLAlS ALLGEMEINER DEUTSCHER BIBLIOTHEK bekräftigt: Er scheint menschliche Gesichter und Eigenschaften nach einer Art Combinationsregel zusammensetzen zu wollen, wie man etwa Ternen und Quaternen zusammensetzt. Das ist aber weder der Natur gemäß, noch sonderlich lehrreich.214 Im vorliegenden Kapitel soll nun vom Stand der Aufklärung aus ein Blick auf die vor-rationalen zahlenmagischen Praktiken der Zeit geworfen werden. Dabei wird sich zeigen, in welcher form die Zahlenmagie untergründig dennoch zum Element erzählter Wirklichkeit wurde. Dire eigentliche Ausprägung als Umdeutungen in der Erzählersprache gewinnen die Stichworte der Lotteriesprache allerdings erst bei JEAN PAUL, der die Lotterien und den Kult des Unberechenbaren als »Säkulums-Phänomene«215 auffaßte und die Zahlen zu magischen Bausteinen im Universum seiner Bilderwelt machte.216
213 214
215 216
ADB44.2(1781), S. 516 f. Ebd. S. 517. Jean Paul, Werke Bd. 3, S. 954 f. Vgl. Teil II. dieser Arbeit.
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4.2. Das Zahlenlotto und seine Verbreitung Das Zahlenlotto, auf das sich die Kritik der Spätaufklärer bezog,217 entwickelte sich aus nur vage rekonstruierbaren Vorformen im Italien des 16. Jahrhunderts.218 Die Zahlenmagie stand jedoch offenbar keineswegs am Anfang dieser Entwicklung, vielmehr ein politischer Entscheidungsprozeß: Das Los stand ursprünglich nicht für abstrakte Nummern, sondern für Personen, die für den Rat der Stadt Genua kandidierten; auf diese Kandidaten konnten Wetten abgeschlossen werden. In einem der »für jene Zeit typischen Versachlichungsprozesse«219 wurden dann im Laufe der Zeit die Personen durch Chiffren (z. B. Mädchennamen) und schließlich durch Nummern ersetzt, die Ausspielungen lösten sich mehr" und mehr aus dem ursprünglichen politischen Zusammenhang. Der Genuesische Rat monopolisierte schließlich die Lotterien und richtete Annahmestellen in allen wichtigen Städten Italiens ein. Diese wiederum reagierten mit der Gründung eigener Lotterien (Mailand 1665, Rom 1670, Turin 1674, Bologna 1676, Neapel 1682), um dem Kapitalabfluß entgegenzuwirken. Die weitgehend feste Spielform, nach der das Lotto schließlich auch in anderen europäischen Ländern ausgespielt wurde, hat sich bis heute erhalten, nur die Anzahl der zur Wahl stehenden Zahlen hat sich verringert: In der für das 18. Jahrhundert bestimmend gewordenen Form wurde aus einem Glücksrad mit 90 Nummern eine - in der Terminologie der Stochastik >geordnete Stichprobe< von fünf Nummern gezogen. Die höchste Trefferwahrscheinlichkeit (bei geringstem Gewinn) hatte dabei ein Spieler, der einen >einfachen< oder >unbestimmten< Auszug (estratto) spielte. Der einfache Auszug war erfolgreich, wenn die gesetzte Nummer eine der fünf gezogenen war. Der nächst höhere Einsatz war der bestimmte Auszug< (estratto determinato), bei dem auch die Position der Nummer angegeben werden mußte. Die höheren Gewinne winkten für das Setzen mehrerer bestimmter Zahlen. Im allgemeinen waren hier bis zu vier Zahlen zugelassen; ein Spiel auf zwei Zahlen hieß >AmbeTerneQuaterneholländische< Lotterien bezeichnet, für weit weniger gefährlich galten als die Zahlenlotterien. Die Darstellung folgt hauptsächlich den Arbeiten von Wolfgang Paul (1978), Hans-Peter Ullmann (1991) und Wolfgang Weber (1987). Ullmann (1991), S. 13.
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dabei beliebig, er konnte auch sehr klein sein. Die Gewinnspanne reichte (mit gewissen regionalen Schwankungen) vom 15fachen des Einsatzes im Falle eines einfachen Auszugs bis zum sechzigtausendfachen im Falle einer erfolgreichen Quaterne. (In Frankreich wurde später sogar eine Quinterne mit noch höherem Gewinn ausgeschrieben.) Stets wurde jedoch so kalkuliert, daß der Lotterieveranstalter im Rahmen der Wahrscheinlichkeit mit einem Profit von mindestens 30 Prozent der Einsätze rechnen konnte. Außerdem konnte die Annahme bestimmter Kombinationen gesperrt werden, um das Risiko des Veranstalters zu minimieren. Nach ersten Versuchen zu Beginn des 18. Jahrhunderts etablierten sich Zahlenlotterien von den 60er- Jahren an in fast allen deutschen Territorialstaaten.220 Gegen Ende des Jahrhunderts zählte man rund 30 Lottoanstalten, die an 40 verschiedenen Orten Ziehungen durchführten.221 Historische Forschungen glauben herausgefunden zu haben, daß die Spieler vor allem aus den niedrigen Gesellschaftsschichten stammten. Allerdings muß bedacht werden, daß sich offensichtlich auch in den höheren, rechen- und schreibkundigen Schichten ein breites Publikum zumindest für die »Traumbücher« und »Lotteriewahrsager« fand. Ohne die entsprechende Praxis aber dürften sich kaum Käufer für diese Werke gefunden haben.222
4.3. Lotto-Apologie und Lotto-Kritik im Zeitalter der Spätaufklärung 4.3.1. Podien der Diskussion Ein typisches Beispiel für die Diskussion um die >Allbedeutsamkeit< zahlenmagischer Träume findet sich im ersten Band des MAGAZINS ZUR ERFAHRUNGSSEELENKUNDE: Sie wünschen also, daß ich Ihnen dasjenige schriftlich mitteilen soll, was ich Ihnen neulich von dem Vorsehungs-Vermögen der Seele mündlich erzählt habe. Da meine Erfahrungen auf Träumen beruhen, so muß ich freilich wohl befürchten, daß manche mich für einen phantastischen Träumer halten werden; allein, wenn ich zu Erreichung ihres allerdings sehr nützlichen Endzwecks etwas beitragen kann, so liegt nichts daran,
220
Vgl. H. Brunschwig (1976), S. 319 ff.
221
Vgl. H. Brunschwig (1976) und Otto Warschauer, Die Zahlenlotterien in Preußen, Leipzig 1885. Zu anderen Provinzen des Reiches. Vgl. die bibliographischen Angaben bei W. Weber (1987), Anm. 4. Zur Frage nach der Sozialstruktur der Spieler vgl. Edith Saurer (1983), S. 143-168.
222
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Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt man denke, was man wolle! Genug, ich bin Bürge für die Wahrheit und Zuverlässigkeit desjenigen, was ich sogleich umständlich'erzählen will.223
So beginnt der Bericht des Lotto-Träumers CHRISTOPH KNAPE, der sich als ein Apotheker in Berlin zu erkennen gibt. Es ist nicht zu überhören, daß ihm die Kritik der Aufklärer im Nacken sitzt. Die Erlebnisse, von denen der Autor erzählt, reichen ins Jahr 1768 zurück, als er »in der 72sten Ziehung der Königl. Preußischen Zahlenlotterie« auf die Zahlen 22 und 60, also auf eine einfache Ambe, setzte. Nun folgt der visionäre Traum des Apothekers: In der Nacht vor dem Tage der Ziehung träumte mir, daß des Mittags gegen 12 Uhr, als zu welcher Zeit gewöhnlich die Lotterie gezogen zu werden pflegt, der Hofapotheker zu mir herunter schickte und mir sagen ließ, daß ich zu ihm hinaufkommen sollte. Als ich heraufkam, sagte er zu mir, ich sollte sogleich jenseits des Schlosses zu dem Auctions-Commissarius Herrn Myüus gehen und ihn fragen, ob er die ihm commitierten Bücher erstanden habe: sollte aber ja bald wieder kommen, weil er auf die Antwort warte.224
Man sieht: Alles Traumgespinst wird sogleich zur Seite gewischt, das gewöhnliche Leben der preußischen Hauptstadt geht sogar in den Träumen der aufgeklärten Hauptstädter seinen gewöhnlichen Gang: »Das ist vortrefflich« denkt sich der Apotheker und fügt hinzu: »noch immer im Traum«. Er ergreift die Gelegenheit, der Ziehung beizuwohnen. An der »Jägerbrücke« findet er bereits »eine ansehnliche Menge Zuschauer.« Genau im Augenblick seines Eintreffens wird dann auch seine 60 aus dem Glücksrad gezogen, die 22 folgt kurz darauf. Hier erwachte ich, und war mir meines Traumes so deutlich bewußt, als ich ihn jetzt erzählt habe. Wäre mir nicht der so sehr natürliche Zusammenhang und die ganz besondere Deutlichkeit auffallend gewesen, so würde ich ihn für nichts anderes, als einen Traum im gewöhnlichen Verstande gehalten haben: diese aber machten mich aufmerksam und reitzten meine Neugierde so sehr, daß ich kaum den Mittag erwarten konnte.225
Die Spannung steigt: Es schlägt elf, »aber noch war kein Anschein zur Erfüllung meines Traums. Es schlug ein Viertel, es schlug halb Zwölf, und auch jetzt war keine Wahrscheinlichkeit dazu vorhanden.« Dann aber folgt die
223
224 225
MzE 1.1. (1786), S. 70-84 (»Hat die Seele ein Vermögen, künftige Dinge vorherzusehen?«), hier S. 71. Ebd. S. 71. Ebd. S. 73 f.
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wörtliche Wiederholung der Traumerzählung - nur die Parenthesen »noch immer im Traum« sind durch Floskeln der Verwunderung substituiert. Die Erzählung endet genau an dem Punkt, an dem der Traum vom Wachen abgelöst wurde - »und so wurde mein ganzer Traum nicht nur dem wesentlichen Verlauf, sondern sogar den Worten nach erfüllt«. Die abschließende Beurteilung des Apothekers: Ob ich gleich sehr gerne zugebe und sehr wohl weiß, daß viele, und vielleicht die mehrsten Träume, aus solchen Ursachen entstehen, die bloß im Körper gegründet sind, und daher auch von keiner weiteren Bedeutung seyn können, so glaube ich doch aus vielfältiger Erfahrung hinreichend überzeugt zu seyn, daß es nicht selten Träume gibt, an deren Entstehung und Daseyn der Körper, als Körper, keinen Theil hat [...].226
Wie jede andere Schwärmerei, so wirkt sich auch die Lotteriesucht nach Ansicht der Aufklärer nicht allein zum finanziellen Nachteil der Betroffenen aus, sondern sie leitet, unabhängig von Gewinn und Verlust, einen sittlichen Zerfallsprozeß ein, der sich in seiner extremsten Form bis zur »Lotto-Raserei« auswächst, wenn nur erst »die Seele ganz vom Spielen ausgefüllt wird.«227 Aus zunächst harmlosen Symptomen, einer »Neigung« oder, wie es bei NICOLAI heißen wird, einer »Art von Leidenschaft«, wird im Laufe der Zeit ein pathologischer Zustand: Es wird mit der größten Kunst durch dieses Spiel in Menschen von vielerley Denkungsart und Gesinnungen eine Spielneigung hineingebracht, und diese Neigung geht leicht in eine wirklich rasende Spielwuth über228.
Die Metaphern sind in diesem Kontext die gleichen wie im Falle des naturmagischen Aberglaubens: Die Spielsucht ist eine ansteckende Krankheit, eine »Vergiftung der Seele«,229 die Pest des Abendlandes2,30 wenn »bis zur Raserey« 231 gespielt wird; zuweilen' wird die Lottosucht sogar mit der Teufelsbesessenheit gleichgesetzt:232 Die Lottospieler sind Besessene,233 denen 226
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Ebd. S. 124. Martin Ehlers, Betrachtungen über die Sittlichkeit der Vergnügungen, Flensburg und Leipzig 1779, Teil 2, S. 243 Ebd. S. 222. [J. L. Huber], Das Lotto oder der redliche Schulze, Frankfurt am Main und Leipzig 1779, S. 40. Ebd. S. 221, S. 251. Ebd. S. 246. ADB, Anh. Abt. 4 (1775-1778), S. 2492. Vgl. [J. L. Huber] (1779), S. 68.
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der Wahn ausgetrieben werden muß. Da nun aber - im Unterschied zu den naturmagischen Formen des Aberglaubens - im Falle der Lotterien die Schwärmerei nicht zu den jeweils anderen - also zu den »Wilden und Sarazenen« (TffiDEMANN) - abgeschoben werden konnte (denn dort gab es ja keine Annahmestellen), mußte die Grenze der Unvernunft abermals neu definiert werden:234 Die Vernunft-Feinde, die »nicht die benöthigte Einsicht [besitzen], das Wahre vom Falschen zu unterscheiden«, sind jetzt die Frauen und die Jugend235 sowie die niedrigen Stände der Gesellschaft, Bauern, Handwerker, Dienerschaft.236 Diese sollen für die »übermäßigen Hoffnungen« besonders anfällig sein, die von den Lotterien erweckt werden. Gegen die »Wundersucht des Pöbels« sollte die >natürliche Magie< hinter den Erzählungen der Lottopropheten erhellt werden,237 und damit wendet sich zugleich erneut die Spitze der Kritik von den Betrogenen zu den Betrügern, die in den magisch-kabbalistischen Schriften und Enthüllungen der Lottogeheimnisse ausgemacht werden. Titel wie der Lottoprophet, oder die Kunst im Zahlenlotto sein Glück zu machen23*, Neuer Lottowahrsager oder deutliche Bestimmung wer und wie man sein Glück in diesem Spiel vorzüglich machen könne239 und Der glückliche Lottospieler, oder neu eröffnetes Lotterietraumbuch2*0 stehen für die eine Seite, Praeservativ wider die Lottosucht, oder richtige Beurtheilung der Lotterie, besonders der Genuesischen Erfindung, gedruckt im Jahre, da die ganze Welt spielte241 für die Gegenseite.
Die in Leipzig erscheinenden EPHEMERIDEN DER MENSCHHEIT, die ALLGEMEINE DEUTSCHE BIBLIOTHEK242, der TEUTSCHE MERKUW, das GÖTTINGISCHE MAGAZIN244 und die 4 Sammlungen DAS GRAB DES ABERGLAUBENS sind die Podien, auf denen die Aufklärer ihre Lotto-kritischen 234
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In beschränktem Umfang ließ sich allerdings noch die Konfessions-Grenze aufrecht erhalten, da angeblich in den katholischen Gebieten der Zulauf zu den Lotterien größer war als in den protestantischen. Vgl. ADB, 18.2 (1772). Vgl. F. D. Behn, Das Lotto di Genova in seiner wahren Größe, Philadelphia [=Lübeck] 1771, C.H. Korn, Die Lotterien, ein Gemälde nach dem Leben, mit patriotischer Freyheit geschildert, Ulm 1772. Zitat nach: W. Weber (1987), S. 135. Vgl. W. Weber (1987), S. 135, Anm. 62.Eckartshausen (1790), S. 143. Schwabach 1770. 0.0.1771. Prag 1792. o.O. o.J. Vgl. ADB 18.2 (1772), 25.1 (1775). Vgl. TM Januar 1777, S. 33 ff. GM 3 (1780), S. 340 ff.
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Thesen vortrugen. Die Strategie im Kampf gegen die Lotterien, die von den Autoren eingeschlagen wird, ist abermals doppelbödig, weil sie sich wie im Falle der naturmagischen Formen des Aberglaubens nicht sicher sind, in welche Richtung die Stoßkraft der Argumente gebündelt werden soll: einerseits finden sich mathematische Widerlegungen der Zahlenmystik,245 andererseits moralische Verurteilungen der Wahrsagerkünste.246 Auch hier zeigt sich also wieder das bekannte Muster: Einerseits soll der Feind >in uns selbst< bekämpft werden, andererseits soll der Schwarze Peter des Glücksspiels wieder den >anderen< zugeschoben werden, den moralisch Verworfenen oder unmündigen Kindern und Frauen.
4.3.2. Die »Entdeckten Geheimnisse der Zahlen« Auch in den »Natürlichen Magien« FuNCKS, WEGLEBS und anderer finden sich zahlreiche Artikel zu Stichworten wie »Glücksspiel«, »Lotterie«, »Losgeheimnisse« etc.,247 so wie die ältere magia naturalis tatsächliche Offenbarungen und Wahrsagungen bedeutsamer Lotto-Träume enthielt.248 Ein ausschließlich auf das Lotto bezogenes Werk dieser Art ist: »Das entdeckte Geheimniß der italienischen Zahlenlotterie oder Lotta di Genua, einer cabbalistischen Kunst und einem gründlichen Unterricht von dem in Deutschland errichteten Hauptlotto zu Augspurg, Berlin, Brüßel, Mannheim, Maynz und Nürnberg«249, worin »alle Amben, Ternen, Quaternen und Quinen bis auf 90 Nummern in Tabellen vorgestellt, so daß jeder seine Hoffnung zu gewinnen gegen die Besorgniß zu verlieren, und wie viel er bey fortgesetztem Spielen ehrlich verlieren wird, ganz wohl ersehen kann, wenn er im Rechnen einige Uebung hat.« Auch in diesem Sektor segelten jedoch wiederum einige Schriften unter falscher Flagge: Sie nannten sich »Entdeckte Geheimnisse«, »Clavis« oder »Schlüssel zu Zahlenlehre« - und verbreiteten darunter doch vor allem genau jene Form von Mystizismus, die sie zu erhellen vorgaben. So verkündet ECKARTS-HAUSEN in seiner Zahlenlehre der Natur, er werde die »verborgene Wahrheit des Zusammenhangs aller Zahlen und ihrer Berechnung« beleuchten,
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GM 3 (1780), S. 340 ff. Vgl. die 4. Sammlung Das Grab des Aberglaubens. Wiegleb, Onomatologia Curiosa, Sp &12 f., 966 ff., Natürliche Magie: Teil IV, »Rechenkunststücke«. Vgl. Wallbergens Sammlung natürlicher Zauberkunststücke (1988), S. 52. Frankfurt und Leipzig 1770.
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die sich nur dem Weisen hinter dem »heiligen Schleier« offenbare.250 Und in seinen Aufschlüssen zur Magie verspricht er, »nothwendige Voraussetzungen zu magischen und wunderbaren Berechnungen - von der Kabbala, vom Taschenspiel« zu enthüllen - und vertieft sich erneut in die altbekannten neuneuplatonisch-Zahlen-astralmystischen Spekulationen. Eine »höhere Mathematik«251 sollte - gegen KANTS Vernunftkritik - die Zahlenlehre wieder auf »übersinnliche Gegenstände« anwendbar machen,252 wobei in der Ambiguität des Begriffs des Übersinnlichen ein Argument gesucht wurde, diese Form der Naturerkenntnis mit KANTS Philosophie kompatibel erscheinen zu lassen.
4.3.3. Biographien Lottosüchtiger Die Bekenntnisse einer »glücklichen Lottospielerin«, welche in deutscher Übersetzung 1770 zu Augsburg unter dem umständlichen Titel »Geschichte der Fräulein Tolot, welche durch die Lotterien ihr Glück gemacht hat. Nebst denen arithmetisch-astronomischen- und cabbalistischen Regeln, nach deren Vorschrift selbige in denen Lotterien die ansehnlichsten Gewinnste erhalten. Zum Nutzen und Vergnügen der Liebhaber der Lotterien herausgegeben« erschienen (Verfasser des italienischen Originals ist PIETRO CHIARI), sind ein typisches Beispiel der zwischen Sachprosa und fiktiver Literatur angesiedelten Gattung der Schwärmerbiographien. Bestimmend bleibt der Zweck der Erzählung, der allerdings - entgegen-dem verlockenden Titel - moralisch verschleiert wird: »Wer weiß, ob nicht mein Beyspiel einen anderen von jenen leidigen Folgen bewahren möchte, denen ich mich selbst freywillig ausgesetzt habe.«253 Die beigefügten >Regeln< sollen den Eindruck von Sachprosa erwecken - vermutlich, weil sich im Schatten eines solchen prodesse das delectare umso freier entfalten konnte. Der Heldin des Romans, deren Name durch eine einfache kabbalistische Permutation des Wortes >Lotto< gebildet ist, begegnet das Leben als Theater - was nicht verwundert, wenn man bedenkt, daß ihr Schöpfer sich als Gegenspieler GOLDONIS einen Namen machte:254 250
Eckartshausen (1794-95), S. 38. Ebd. S. 15. 252 Ebd. S. III. 253 [P. Chiari], Geschichte der Fräulein Tolot, Augsburg 1770, S. 10. 254 pIETRO CHIARI (1711-1785) lebte in Brescia, Parma und Venedig, war lange Zeit Widersacher GOLDONIS und schrieb über 40 Romane in der Nachfolge der englischen Abenteuer- und der französischen erotischen Roman-Schule. Die Memorie di Madame Tolot, ovvero la giocatrice del Lotto erschienen 1757, Neudr. Rom 1960. Die 251
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Indem mich der Himmel auf den großen Schauplatz der Welt gesetzet hat, so will ich auch meine Rolle darauf spielen. [...] Wenn unser Leben eine Scene ist, so sind der Lustspieler unzählig viele; aber die meisten der spielenden Personen sind stumme, nachdenkende, müßige, welche geboren wurden, um die Anzahl auszufüllen...255
Damit ist bereits die tragende Idee des Werkes formuliert: Das Leben ist zugleich Theater- und Glücksspiel. Für die Personen lassen sich Zahlen substituieren - so wie einst in Genua Nummern Personen substituierten. Und es gibt zwar unzählig viele Lustspieler - wie natürliche Zahlen — sie tun aber im Allgemeinen nichts, »als nur die Zahl der Lebenden zu vergrößern«256 dagegen zählen neben diesen »Unzähligen« nur wenige - wie die Treffer im Lotto. Indem derart die Lotterie zur Welt- und zugleich zur Wechselmetapher des >großen Welttheaters< wird, kann die Erzählerin mit gutem Recht von sich behaupten: »Der Titel einer Lottospielerin kömmt mir dergestalt zu, daß er meinen eigentlichen Charakter bildet.«257 Diese Selbsterkenntnis bewahrheitet sich im Gang der Erzählung unablässig und wörtlich: Das Fräulein »spielt auf Zufall« - und der Zufall seinerseits »spielt ihr in die Hände« zurück. Sie mißachtet »die Gefahr eine unglückselige Figur in der Welt zu spielen« und »alles fügt sich auf das Glücklichste.«25" Die Stationen der Biographie sind dabei schnell nacherzählt: Das Fräulein, Tochter eines gescheiterten Glücks-Spielers, wächst in der Obhut einer reichen Genueser Witwe auf; eine neidische Stiefschwester verrät ihre heimliche Liebe zum Stiefbruder; daraufhin wird die Tolot aus dem Hause verbannt - und fällt unvorbereitet in eine von Verstellung und Lottosucht beherrschte Welt: Überall begegnen ihr Spieler, die in der menschlichen Komödie und im Lotto gleichermaßen ihr Glück zu machen bemüht sind. Selbst die Nonnen in einem Kloster, in welches das Fräulein Tolot gerät, bleiben davon nicht unberührt; auch sie weben mit an der Intrige und setzen in die nächstanstehende Ausspielung. Zunächst verbirgt sich das Fräulein bei einer - natürlich der Lotterie verfallenen - alten Frau (»Sibylle, deren Name sich zu ihren geheimnisvollen Grillen gar wohl reimte«) und begegnet dort dem Lotto-Traumdeuter Don Graziano. Der Wirtin und dem Traumdeuter fehlt allerdings das nötige Geld
255 236 257 258
deutschsprachige Übersetzung von 1770 stellt in Wahrheit eine sehr freie Bearbeitung dar und kann daher für die vorliegende, auf den Bereich der deutschsprachigen Literatur und Sachprosa bezogene Untersuchung in Anspruch genommen werden. [Chiari] (1770), S. 2. Ebd. S. 9. Ebd. S. 6. Ebd.
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zum Einsatz, welches Tolot daher vorstrecken muß. Don Graziano vermittelt dem Fräulein dann die Anfangsgründe der geheimen Zahlenlehre; sie ist überwältigt und zugleich sprachlos - gerät also genau in den Zustand, den der Aberglaube benötigt, um seine Macht wirken zu lassen: Ich hatte keine Sylbe von den hohen schwülstigen Sinnbildern, die mir Don Graziano abgemalt hatte, verstanden; allein eben darum, weil ich nichts davon verstund, glaubte ich vorzüglich, daß ich bishero in einem bejammernswerthen Irrthume gelebt hatte.259 Und sie achtet von da an »nicht mehr auf die Ungewißheit des Zufalls, von welchem doch einzig und allein die Ziehung der Lotterie abhänget [...]«, sondern sie folgt den Zeichen ihrer Träume, weil sie, so bekennt sie, »festiglich glaubte, daß die menschliche Kenntnis dahin gelangen könnte, auch sogar der eigensinnigen und sehr Ungewissen Fügung des Zufalls unverletzliche Gesetze vorzuschreiben.«260 Vom Erzähler-Standpunkt aus also erscheint das Fräulein aufgeklärt - aber in der Sprache ihrer Erzählung ist die Mystik der Zahlen aufbewahrt. Weil aber der Aberglaube wie jede Sucht nach einiger Zeit nach Steigerung verlangt, wird das Fräulein nach diversen Mißerfolgen in den Ausspielungen der Kunst Don Grazianos überdrüssig. Don Astrolabio, ein kabbalistischer Betrüger, tritt an seine Stelle und weiht das Fräulein in die >höheren Geheimnisse< der Zahlenmystik ein. Von Don Astrolabio heißt es, er besitze eine »Cabale, einen Auszug, eine Quintessenz, ein Orakel der Sterndeuterkunst«, er beherrsche »die geheime Rechenkunst und die subtilste Mathematik«, und wer diese besitze, »der kann darauf zählen, daß er einen Schatz besitzt.«261 Seine Philosophie beruht auf der vexierenden Kraft der Paradoxien des Unfaßbaren und Unendlichen. Einerseits sagt er nämlich: »Die Geheimnisse der Natur sind unendlich, sie sind unfaßlich«, andererseits gibt er vor, in der Nachfolge der hermetischen Philosophen diese »verborgensten Geheimnisse der Natur ergründen zu können«.262 Das hermetische Bewußtsein des Kabbalisten hat somit genau die zirkuläre Struktur, die der physiognomische >Einfaltspinsel< Philipp in der Kunst seines reisenden Don Quichotte entdeckt hat, jenes »von innen heraus und von aussen nach innen«. Eben so argumentieren sowohl Don Graziano (»Die Träume waren wahr, nur die Deutung war falsch«) als auch Don Astrolabio:
259 260 261 262
Ebd. S. 77. Ebd. S. 81. Ebd. S. 124. Ebd. S. 144.
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Die Nummern meiner Cabale fehlen selten; wenn sie aber auch je fehlen, so fehlen sie nicht aus ihrer Schuld, und zu trotz aller auch noch so großen Schwierigkeiten, wird es allzeit wahrbleiben, daß in denen erschaffenen Dingen eine numerische Harmonie anzutreffen seye, und daß diese Harmonie nicht, wie ihr sagt, von dem willkürlichen Eigensinn des Zufalls abhänge.263
Oder anders ausgedrückt: »Es ist kein Beweis nöthig, wo die Erfahrung selbst das Wort spricht. Die Regeln sind unfehlbar, nur die Nummern fehlen, folglich fehlen sie, weil sie die Kraft nicht haben..«264 In Don Astrolabios Neuauflage des neuesten Neuplatonismus wird dieser Zusammenhang schließlich ins bekannte Bild einer >großen Kette der Wesen< gefaßt: Alles ist Ordnung, alles ist Harmonie; ich meyne jener Verbindung, jener Zusammenfügung, jener wechselweisen Kette, wodurch die erschaffenen Dinge aus unbegreifflichem Schluße des Himmels unentbehrlich voneinander abhängen.265
Die Rechenkünste und »arithmetiscri-astronomischen und cabalistischen Regeln«, die das Buch im Titel als Beigabe verspricht, sind natürlich nicht ernst gemeint. Aber sie werden in aller Ausführlichkeit beschrieben. Das Fräulein Tolot exemplifiziert die hermetische Zahlenkunst am Beispiel einer »unfaßlichen und unergründlichen« Rechnung, die allerdings nur für den einen bestimmten Orts- und Zeitpunkt gültig ist - da dieser aber weit vor dem Erscheinungsjahr des Buches liegt, und - wenigstens für den deutschen Leser - auch geographisch weit entfernt ist, bleiben die Versprechungen vom »Nutzen«, den das Werk für die »Liebhaber der Lotterien« haben soll, leer. Das Buch endet schließlich nicht mit einer Heilung - aber mit einer der nun schon bekannten rhetorischen Umdeutungen: Mit einem würdigen Ehemann - ihrem Stiefbruder - gewinnt Tolot einen »noch größeren Terno als im Lotto«; die Leidenschaften bleiben erhalten oder verlagern sich: Don Astrolabio wendet sich anderen Formen des Aberglaubens zu: Er entdeckt »das Geheimnis die übrigen Metalle in allerfeinstes Gold zu verwandeln«. Zuletzt wird die LotterieMetapher auf die Metapher vom Leben als einer Darstellung im Welttheater zurückgebogen: »Ich habe gespielt, ich spiele noch wirklich und ich werde spielen solange ich lebe.«266 Das Ich bin, was ist, was war und was sein wird der Göttin Isis ist hier zum Bekenntnis einer unverbesserlichen Spielerin geworden.
263
264 265 266
Ebd. S. 147. Ebd. S. 233. Ebd. S. 143. Ebd. S. 289.
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4.4. Friedrich Nicolais >Sebaldus Nothankeix 4.4. l. Zureichende Gründe im Roman der Spätaufklärung Auf der einhundertundzwanzigsten Seite seiner physiognomischen Bildungsreise sieht der vom Autor MUSAEUS eingesetzte Erzähler einen >Schwarzrock< mit wehenden Rockschößen übers weiße Feld der Seite eilen - und es dünkt ihn, er »sähe den Sebaldus Nothanker laufen, der eine apokalyptische Quatern' einholen wollt.«267 MUSAEUS spielt hier auf das letzte Buch von FRIEDRICH NICOLAIS Roman an, das im abschließenden Band der Lebens- und Meinungs-Beschreibung des Magisters Nothanker 1776 in NICOLAIS eigenem Verlag erschien. Der Magister und Romanheld macht dort sein Glück mit einer Quaterne, die er mit einer apokalyptischen Nummer erspielt hat. NICOLAIS Nothanker ist nun allerdings gewiß kein Schwärmer wie die übrigen bisher beschriebenen Helden; sein abschweifender Lebensweg ist von keiner umtreibenden okkulten Leidenschaft determiniert - wie er denn überhaupt in der Nachfolge des Theologen CRUSIUS jeden determinierenden Grund als Einschränkung der menschlichen Willensfreiheit verwirft und in seinem Eifer wider alle determinierenden Gründe sogar soweit geht, seiner Frau die Rede davon kategorisch zu verbieten. Nothankers Weltanschauung wird von keinen abergläubischen Vorurteilen getrübt, er bekennt sich zu einer natürlichen Vernunftreligion, derzufolge der geoffenbarte Wille Gottes mit der Vernunft in Einklang zu bringen ist und von ihr anerkannt und eingesehen werden kann. Mit dieser rationalistischen Einstellung versucht er sich von den beiden Polen des religiösen Fanatismus seiner Zeit, von Pietismus und Orthodoxie, gleichermaßen weit entfernt zu halten. Die rationalistische Mittelstellung bestimmt jedoch zunächst nur das stationäre Gleichgewicht, in dem sich Nothanker an jedem Punkt seiner Lebensbahn in Hinblick auf Vernunft und Offenbarung zu halten versucht. Ein zureichender Grund für die lebenslange Irrfahrt des Magister ist sie noch nicht. Dieser zureichende Grund kann der Tradition des modernen Romans seit CERVANTES zufolge nur in einem Moment der Differenz bestehen, in einem treibenden Motiv der Nicht-Übereinstimmung. Diese Differenz wird zu Beginn des Romans mit folgender Meinung des Magisters bezeichnet: »Die einzige Offenbarung, die uns etwas ganz unbekanntes entdecken könnte, worauf die bloße Vernunft nie gefallen seyn würde, glaubte er, sey die prophetische
267
PR II, S. 120.
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Offenbarung von zukünftigen Dingen.« (SN, S. 14)268 Und an dieser Stelle wird die Sterne'sche Grundströmung der Zeit wirksam, die als literarische Ableitung der Erfahrung subjektiver Differenz fungiert:269 »Jeder Mensch hat sein Steckenpferd, und Sebaldus hatte die Apokalypse dazu erwählet, welches er auch, seine ganze Lebenszeit durch, vom Montag bis zum Freytage fleißig ritt.« (SN, S. 14) RICHARD SCHWINGER hat in seiner umfassenden, bis heute nicht überholten Studie zu NlCOLAls Roman dieses Motiv des apokalyptischen Steckenpferdes als das Moment des Ausgleichs herausgearbeitet, in dem sich der Widerspruch zwischen dem an der Vernunft orientierten Charakter Nothankers und seiner Leidenschaft für das »dunkelste aller Bücher« auflöst.270 Die spezifische Rolle, die der Lottotreffer im Beziehungsgeflecht des Romans sowohl in Hinblick auf die Meinungs- als auch auf die Taten-Seite hin einnimmt, ist jedoch weder von Schwinger noch von den späteren Interpreten des Romans dargestellt worden. Immerhin aber verdankt der Magister sein Glück am Ende des Romans diesem Lottotreffer. Und die Frage nach dem zureichenden Grund für die Bedingungen möglicher Vorhersagen bestimmt die Meinungsäußerungen des Magisters, wie gesehen, von Anfang an.
4.4.2. Zureichender Grund eines Lotto-Treffers Seine von der Mehrheit der Kollegen nicht geteilte und insbesondere von der Meinung der kirchlichen Autoritäten abweichende theologische Grundüberzeugung hat Nothanker zum hin- und hergetriebenen Spielball der Willkür seiner Vorgesetzten gemacht: Seines Amtes enthoben, irrt er von Thüringen nach Berlin, nach Holstein, in die Niederlande. Sogar nach Ostindien will ihn die Not treiben - aber ein Seesturm wirft ihn zurück und er bleibt dem Kontinent erhalten. Sein >Notanker< in aller Not zu Wasser und zu Land bleibt die Apokalypse des Johannes, sein Vertrauen in die Harmonie von Vernunft und Offenbarung verliert er an keinem Punkt seiner Irrfahrt, wohl aber verliert er immer wieder Familie und Vertraute aus den Augen: Seine Frau, welcher er die Rede von den determinierenden Gründen untersagt hat, überlebt die Amtsenthebung nicht, sein Sohn verliert sich vom Studium zum Militär; nur die Tochter Mariane bleibt, wenn schon nicht dem Magister, so doch dem Leser erhalten und verstrickt sich in einen zweiten, eigenständigen Handlungs26X
2ft9 270
Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, hier und im folgenden abgekürzt als SN zitiert nach der Kritische Ausgabe, Stuttgart 1991. Zum Verhältnis zu STERNES Tristram Shandy vgl. Michelsen (1962), S. 90 f. Vgl. Schwinger (1897), S. 85 ff.
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sträng des Romans. Dieser Strang wird zunächst nur an einer einzigen Stelle mit dem Magister-Strang verknüpft, aber Nothankers apokalyptische Weltfremdheit läßt ihn sogleich nach dem zwischenzeitlichen Wiedersehen wieder in die Irre gehen, so daß sich die Wege der Erzählung bald schon wieder trennen. Auch Mariane verliert manche empfindsame Illusion in der Welt, dennoch gewinnt sie die Liebe des süßlichen Poeten Säugling, wird aber durch Intrige und Mißgunst von diesem entfernt. Erst gegen Ende des Romans werden die beiden Stränge wieder ineinander verwoben: Genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sebaldus mit der Lotterieleidenschaft konfrontiert wird, taucht auch Mariane wieder in seine Lebens-Sphäre ein. Sebaldus befindet sich auf der Flucht aus Holland: Er hat dort ein religiösfreigeistiges Buch aus dem Englischen übersetzt und sich damit abermals zum Feind der ortsansässigen Orthodoxie gemacht. Der Zufall läßt ihn auf den Poeten Säugling treffen, den empfindsamen Verehrer seiner Tochter (eine Karikatur JACOBIS), die einstweilen noch immer im anderen Handlungssträng des Romans verschollen ist. Der Magister kehrt im Hause von Säuglings Vater ein - und dieser ist der Lotterie verfallen. Allerdings nicht schwärmerisch, sondern aus diätetischen Gründen, nämlich um »alle sechs nicht natürlichen Dinge in der besten Ordnung von Statten gehen« zu lassen (SN, S. 377). »Athemholen, Speise und Trank, Ausführungen, Schlaf, Bewegung, Leidenschaften« seinen darunter zu verstehen, so klärt eine Fußnote auf. Anstelle der schwärmerischen Lotto-Leidenschaft, die nach der aufklärerischen Publizistik ein Phänomen der >anderenalchymistische< Satire: Von Philosophen und Alchymisten, denen es sauer gemacht wird, sich selbst zu verstehen (H II/2, S. 224 f.).
Hermetische Informationsdefizite
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gleichen hermeneutischen Paradoxie wie die der Propagandisten der Geheimwissenschaften.60
2.2.2. Rückkehr in die Gegenwart der >Unsichtbaren Loge< Aus der labyrinthischen Abschweifung in die zwielichtige Lebenswelt der deutschen Provinz zur Zeit der Französischen Revolution führt eine Bemerkung aus der Idylle Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal, die von JEAN PAUL an die >Ruine< der Unsichtbaren Loge angemauert wurde,
In einer Satire mit dem Titel Nachdenklicher und wahrer Bericht von einer höchst merkwürdigen Erscheinung der weißen Frau und von denen Ursachen, warum sie auf der Erde gar nicht ruhen kann, die sich auf eine im ersten Stück der Berlinischen Monatsschrift (1.1783) erschienene Nachricht JOHANN AUGUST EBERHARDS Über den Ursprung der Fabel von der weißen Frau bezieht, erscheint die Alchemie als ein Schutzschild gegen die von der Aufklärung selbst hervorgerufene Geisterfurcht. HASUS schreibt dort todesmutig nach Erscheinen des Geistes in der leeren Kirche zu Hof: "Zum Überflus zog ich noch, aber mit unbeweglicher Steifigkeit, Hermes smaragdene Tafel und der Schwester Mosis Praktika aus der Tasche. Aus der ersten las ich 9 Worte leise, aus der ändern 63 vernehmlich. Jetzt hatte ich Muth und Schirm genug, um den Geist herzhaft anzureden..." (HIl/1, S. 1009 f.) In einer Anmerkung zu dieser Stelle führt RICHTER zu den erwähnten hermetischen-Werken aus: "Zwo berühmte alchymistische Schriften, welche schon wegen ihrer ungemeinen Dunkelheit mehr als zu wol verdienen, von Jedem Goldmacher gelesen und bewundert zu werden, dem es nicht ganz unbekant ist, daß gute Alchymisten ihre Gedanken gern in Schatten sezen und hierin den Eseln nachschlagen und nacheifern, welche (nach dem Plinius) ihr Wochenbet gern im Finstern aufschlagen und ihre Jungen immer an dunkeln Örtern zu gebähren suchen. Sonst aber bin ich mit iedem Alchymisten einig, daß er Recht hat, ein Mitglied des rosenkreuzerischen Ordens desto höher zu halten, ie weniger es gesunden Menschenverstand verräth, so wie die Ägypter den Maulwurf mit Anbetung beehrten, weil er ihnen keine Augen zu haben schien." (H II/l, S. 1009 f. Anm.) Die eine Verblendung - der Glaube an die Wunderkraft der Alchemie - wird berufen, um die andere - die Geisterfurcht - zu bannen - ein ständig wiederholtes satirisches Muster der Jugendwerke. Die Dunkelheit der alchemistischen Schriften ist Gewähr ihres verborgenen Sinnes. Neben EBERHARD war es vor allem JUSTUS CHRISTIAN HENNINGS, dessen Buch Von Geistern und Geistersehern RICHTER mehrfach exzerpierte, so daß er für ihn zum Kronzeugen gegen die Geisterscheu wurde. (Vgl. Schmidt-Biggemann (1975), S. 149-154). HENNINGS vertritt die Ansicht, daß "die Menschen künftig mit mehrerm Muthe den Gespenstern vermittelst sinnlicher Argumente ins Gesicht fahren, und gegen sie mit Steinen und Bankbeinen argumentieren mögten" (J. C. Hennings (1780), S. IV) In den Satiren setzt HASUS eine Wette gegen den Geisterunglauben des "Herrn Hennings" (H /1, S. 791).
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Der Ensoph zwischen den Welten
zurück in die Welt von JEAN PAULS erstem Roman. Der Erzähler hat sich bis zu seinem Untertauchen im letzten Sektor des Romans im Hause des Schulmeisters aufgehalten, um dort seine »Lebensbeschreibung« zu verfassen. In der genannten Idylle wird vom Vater von Jean Pauls Logen-Geber Wutz erzählt; dieser Schulmeister Wutz lebt mit der aus der Not geborenen Sonderlichkeit, daß er »eine ganze Bibliothek - wie hätte der Mann sich eine kaufen können? - sich eigenhändig schrieb.« (H I/l, S. 425). Wutz erfindet sich also als personifizierter Zeitgeist die Literatur seiner Zeit noch einmal neu - jede im Meßkatalog angezeigte Neuerscheinung ist ihm »so gut als geschrieben oder gekauft«. (H I/l, S. 426) Unübersehbar ist die Reminiszenz an JEAN PAULS Exzerpier-Leidenschaft, die zwar eine realere Grundlage hatte als Wutzens Bücher-Phantasien (nämlich die Bibliothek seines Freundes Vogel), aber der gleichen Not entsprang wie diese. Als hätten Wutz die Exzerpten-Bände RICHTERS zur Verfügung gestanden, äußert er sich dann im Namen ROUSSEAUS, nach dessen Namen JEAN PAUL sich selbst taufte: Das Reich der hermetischen Bedeutungen erschließt ihm sein »neuer Sinn« (wie ihn der Verfasser der Fragmenteßir und wider die Freimaurerei postuliert hatte), die natürliche Magie der Einbildungskraft offenbart ihm die >höheren Geheimnisse< seiner phantastischen Schriften: An wen woll' er sich wenden, um den Hintergrund des Freimaurer-Geheimnisses auszuhorchen, an welches Dionysius-Ohr, mein' er, als an seine zwei eignen? Auf diese an seinen eignen Kopf angeöhrten hör' er sehr, und indem er die Freimaurer-Reden, die er schreibe, genau durchlese und zu verstehen trachte: so merk' er zuletzt allerhand Wunderdinge und komme weit und rieche im ganzen genommen Lunten. Da er von Chemie und Alchemic so viel wisse wie Adam nach dem Fall, als er alles vergessen hatte: so sei ihm ein rechter Gefallen geschehen, daß er sich den Annulus Platonis geschmiedet, diesen silbernen Ring um den Blei-Saturn, diesen Gyges-Ring, der so vielerlei unsichtbar mache, Gehirne und Metalle; denn aus diesem Buche dürft' er, sollt ers nur einmal ordentlich begreifen, frappant wissen, wo Bartel Most hole. (H I/l, S. 428)
Im von ihm selbst geschmiedeten »Annulus Platonis« hofft Wutz auf >höhere Geheimnisse< zu stoßen - aber erst dann, wenn er es einmal versteht. Als Leser seiner eigenen Werke der offiziellen und der okkulten Weltliteratur wiederholt und internalisiert Wutz damit die Denkfigur JEAN PAULS, der im Brief an CHRISTIAN OTTO dem Leser die höhere Kompetenz zur Auflösung der hermetischen Geheimnisse zugesprochen hatte: Wie der Bewunderer der Alchemisten aus der Bitschrifft der deutschen Satiriker weiß auch Wutz selbst nicht, was er schreibt, um sich in der Reflexion der Lektüre dann zu Bewußtsein zu bringen, was der verborgene, der okkulte Sinn seiner hermetischen Schriften gewesen ist. Die zirkuläre esoterische Hermeneutik - das von »Innen heraus und von außen herein«-Verstehen der Texte oder der Welt (wie es bei
Hermetische Informationsdefizite
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MUSAEUS hieß) - wird hier gleichzeitig auf die Spitze getrieben und auf den Kopf gestellt. Dabei enthüllt diese Figur die Artistik des Erzählers der Unsichtbaren Loge, der seinen Roman eine »Biographie« nennt, die Züge eines Romans trage (H I/l, S. 89). Was für Wutz die Büchenvelt ist, das ist für den Erzähler Jean Paul die phänomenale Welt. Deren Rätsel erschließen sich wie der Sinn der Wutzschen Titel in der Entfaltung ihrer immanenten Gesetze, ohne daß der Erzähler über die mystischen Geheimnisse auktoriale Verfügungsgewalt hätte: An diese Grundfigur knüpft sich in der Unsichtbaren Loge die biographische Rechtfertigung des Erzählers, und sie bewährt sich in diesem Roman vor dem Horizont der Unendlichkeit, so wie der Aufsatz über die Natürliche Magie der Einbildungskraft es fordert.
2.3. Die auktoriale Macht des Unendlichen 2.3.1. Undeutliche Doppeldeutigkeit Bereits in der niederländischem Szenerie des ersten Sektors der Unsichtbaren Loge, der die Vorgeschichte von Gustav von Falkenbergs Lebenslauf erzählt - Gustavs Vater, der Rittmeister von Falkenberg, erspielt sich dabei seine Gattin im Schach -, beweist sich der Erzähler als in allen jenen geheimen Künsten bewandert, die die Spätaufklärung in den subjektiven Wahn der von überspannter Einbildungskraft verführten Schwarmgeister gebannt sehen wollte: Schwärmerische Leser werden mit alchemistischen, knisternden, wehenden »Zirkulieröfen« verglichen (H I/l, S. 35), der Glücksgriff, die Obristforstmeisters-Tochter auf dem Schachbrett zu gewinnen, gilt als eine berechenbare »Quaterne« (H U l, S. 34 - die offensichtliche natürliche Magie dieses von der durchaus heiratswilligen Tochter inszenierten Lotto-Glücksgriffs wird dem Leser dabei nicht verschwiegen), und das physiognomische Genie des Erzählers bewährt sich glänzend - so seine Selbsteinschätzung - im »Silhouettieren« des inneren Dr. Fenk, eines auch seinerseits physiognomisch dilettierenden Humoristen. (H I/l S. 40) Auch im weiteren Romanverlauf verfügt der Erzähler scheinbar uneingeschränkt über die metapherngebende hermetische Kompetenz - selbst die Ordensgeheimnisse der mystischen Gesellschaften sind ihm bekannt und stehen ihm zur metaphorisierenden Verfügung: Die Praxis der »geheimen mystischen Gesellschaften« sind ihm ein Modell der sozialen Entkörperung (H I/l, S. 324 f.), die »höheren Menschen«, an denen er sein humanes Ideal bildet, machen· für ihn einen Geheimbund eigener Art aus (H I/l S. 65 f.), ebenso die unschuldig konspirierenden Kinder, die sich gegenseitig geheime PhantasieGeschichten erzählen (H I/1 S. 142). Die große Welt mit ihren exoterischen
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und esoterischen Diskussionen umgibt das Fürstentum Scheerau ebenso wie die Romanwelten der Kreuz- und Querzüge und der Physiognomischen Reisen von außen; daran ändert auch die leibhaftige Gegenwart des in Geheimbundkreisen allbekannten >Erzphantasten unter den Phantasten< CAGLIOSTRO beim höfischen Souper in Scheerau nichts, von dem es heißt, daß seine öffentlichen Spötter zugleich seine geheimen Jünger seien (H I/l, S. 269). Aber das Verhältnis der hermetischen Metaphern zu den eigentlichen Romangeheimnissen scheint nur noch kontingenter Natur, und dieser auktoriaJe Mangel wird vom Erzähler der Unsichtbaren Loge buchstäblich verkörpert: Als »einbeinig« hinkender Erzieher, als zunächst noch anonymer Informator des Helden Gustav tritt er als leibhaftige Defizienz auf und macht sich damit zum heteronomen Objekt seiner eigenen Geschichte mit ihren Verwicklungen und Intrigen. Zwar lehrt er seinen Zögling die Kunst des metaphorischen Vergleichens, indem er ihn daran gewöhnt, »die Ähnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften anzuhören, zu verstehen und dadurch selber zu erfinden« (H I/l, S. 135); aber weder die entlegenen noch die naheliegenden Wissenschaften reichen aus, um die hermetischen Hintergründe der erzählten Geschichte zu erhellen: Im Sinne des aufklärerischen Universalitätsanspruchs der Vernunft hinken die hermetischen Vergleiche ebenso wie der Erzähler, der sie ersinnt. Das Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren kann unter diesen Umständen nicht neutral sein: Ähnlich wie HIPPEL, der sich bereits im ersten Satz seiner Kreuz- und Querzüge besitzergreifend seinen Helden zueignet (»Der Name meines Helden ist kurz und gut [...]« AZ I, S. 1), deklariert auch der Erzähler der Unsichtbaren Loge frühzeitig seinen Eigentumsvorbehalt: »Das erste Kind [...] war Gustav, welches nicht der erhabene schwedische Held ist, sondern meiner.« (H U l, S. 52) Dies Verhältnis geht aber über das konventionelle eines geneigten Erzählers zu seiner Hauptfigur hinaus durch das Amt des Informators. Die unterschiedliche hereditäre Kompetenz JEAN PAULS und HlPPELS macht diesen Unterschied deutlich. Beiden Erzählern ist dieser Aspekt eine ausführliche Digression wert: HIPPEL zeichnet bereits im zweiten Paragraphen seiner Kreuz- und Querzüge die »Familie von und zu Rosenthal« als eine der »urältesten auf Gottes ergiebigem Erdboden« aus (AZ I, S. 1), und der hinkende Erzähler der Unsichtbaren Loge fühlt sich verpflichtet, im Zeitraum zwischen Vorgeschichte und Geburt des Helden, im zweiten Sektor des Romans, »der reichsfreien Ritterschaft, den Landsassen und den Patriziern« gründlich zu beweisen, daß sein »Heldlieferant, Herr von Falkenberg, von älterem Adel ist wie sie alle« - wenn auch von unechtem (H I/l S. 47) Während aber HIPPEL seine Aussage insgesamt »auf Gottes ergiebigen Erdboden« bezieht, beschränkt sich JEAN PAUL an dieser Stelle - und dies Detail charakterisiert die spezifische Differenz, die zwischen den beiden Romanen
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besteht - auf die »ganze entdeckte Welt« (H I/1, S. 46) und schränkt somit auch seine heraldische Kompetenz ebenso wie die hermetische auf den Raum ein, der der Erfahrung zugänglich ist. Die beiden ungefähr zeitgleich entstandenen Romane - von Unabhängigkeit zu sprechen verbietet der offenkundige Einfluß, den HIPPELS erster Roman zu dieser Zeit bereits auf JEAN PAUL ausgeübt hatte61 - setzten der schwärmerischen Natur ihrer jeweiligen Helden ein ähnliches Fundament: Was für HIPPELS aufgeklärt irrenden Kreuzritter die zugleich herrnhutischen und maurerischen Dämmerstunden waren, die auch »geheime Stunden« genannt werden und die »mit Einbildung stark gewürzt« sind (AZ I, S. 124), »welches überhaupt ein Rosenthalsches Losungswort schien« (ebd.), das ist für Gustav seine unterirdische Erziehung, zu der ihn eine Laune seiner herrnhutischen Großmutter bestimmt hat. In der »alten ausgemauerten Höhlung im Schloßgarten« (H I/l, S. 54) wird Gustav von seinem ersten Erzieher, der der »Genius« genannt wird, aufs Leben vorbereitet - der Genius selbst nennt diese zweite Geburt ein »Sterben«, auf die Analogie zur Höhle PLATONS wird dabei ausdrücklich hingewiesen (H I/l, S. 57). Für den aufmerksamen Leser sind auch die Anspielungen auf das Wirken einer geheimen Gesellschaft unüberhörbar, aber der moralische Stellenwert dieser Anspielungen in der »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« bleibt bis auf weiteres unklar. Vom Genius heißt es: »Er widersprach weder sich noch dem Kinde, ja er hatte das größte Arkanum, ihn gut zu machen - er wars selbst.« (H I/1, S. 55) Der Erzähler scheint also auch hier über die auktoriale Macht zu verfügen, die metaphysischen Versprechungen des Mystagogen rhetorisch zu naturalisieren. Aber so wie er nicht mehr wie noch, bei aller Verwilderung, HlPPEL - über das gesamte Reich der hermetischen Bedeutungen verfügt, so auch nicht mehr über die rhetorische Allmacht, die eine rationale Erfüllung des Doppelsinns bereits im Voraus gewährleistet. Grund für diese - dem Leser noch verborgene - auktoriale Defizienz des Erzähler ist zunächst vor allem der begrenzte Zeitvorsprung, den der Erzähler gegenüber den Ereignissen hat. Seine aufklärerische Kompetenz reicht vorerst nicht weiter als bis zur Auferstehung Gustavs - den Doppelsinn der pädagogisch-hermetischen Versprechungen des Genius miteinschließend. Daher kann er dessen Erziehung auch druckrhetorisch unterstützen, indem er den Doppelsinn des Begriffs »Selige« - der Genius versteht
61
Vgl. Müller (1987), S. 91, S. 100, S. 104 f., S. 113, S. 116. Zur späteren Rezeption der Kreuz- und Querzüge bei JEAN PAUL vgl. bereits 1793: SW HI/ l, S. 386: »Von den Kreuz-Zügen zu der Reformazion giebts höchstens nur Kreuz- und Querzüge« (Brief an Chr. Otto vom 27. Juni 1793). Bei CzERNl [1978], S. 47 ff., wird die Wirkung der Kreuz- und Querzüge unverständlicherweise nahezu völlig ignoriert.
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darunter die oberirdischen Menschen - im Druck hervorhebt, wenn er erzählt, Gustav habe sein Herz an den Erzählungen von guten Menschen großgesogen, »die der Genius sämtlich Gustave und Selige nennte, von denen wir bald sehen sollen, warum sie mit Schwabacher gedruckt sind!« (H I/l, S. 55) Nach Gustavs Auferstehung entschwindet jedoch der Genius, ein halbes Notenblatt zurücklassend, auf dem er die dissonanten Fragen einer Melodie notiert hat - die komplementäre Auflösungsseite nimmt er mit sich in die Ferne. Die Erzähler-Frage: »Wo werden wir dich wiedersehen, unbekannter schöner Schwärmer?« (H I/l, S. 64) scheint rhetorisch gestellt zu sein, aber diese Unterstellung rhetorischen Scheins wird sich als perspektivische Täuschung des Lesers erweisen, dem der Erzähler bis dahin noch nicht bewußt gemacht hat, daß die harmonische Auflösung der Romangeheimnisse hinter dem raum-zeitlichen Standort des Erzählers in der Zukunft und in den exterritorialen Plänen der »unsichtbaren Loge« verborgen liegt. Die Anrufung des Schicksals beschreibt also eine fundamentale Offenheit der Welt, die der Erzähler teilt: »Verhülltes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie hinter einer Larve sitzet und das uns Zeit lasset, zu sein - ach!« (H I/l, S. 63)
2.3.2. Der Informator und seine rhetorisch-pädagogische Verantwortung Die JEAN PAULS gesamtes Werk durchziehende Spannung zwischen dem kosmischen Gefühl der Unbegrenztheit und dem idyllischen der Beschränktheit, in der auch der menschliche Verstand (wie das Fürstentum Scheerau) »überall auf Grenzen stößt« (H I/l, S. 191) - die Grundspannung im Verhältnis des Schwärmers zur Welt -, entlädt sich im empfindsamen Seufzer »ach«, der zugleich den Erzähler mit seinem Helden verbindet. Von Gustav wird berichtet: »Er liebte das Stille und Enge neben sich und das Unermeßliche in der Natur« (H I/l, S. 115) - und diese Spannung müßte ihn nach den Spielregeln der anthropologischen Literaturkonzepte der Spätaufklärung eigentlich auf die Bahn der Schwärmerei führen; aus dieser Verirrung könnte ihn dann allein die Desillusionierung retten, während der Erzähler für den desillusionierten Leser den Trost-Pflaumentopf der rhetorischen Umdeutung bereithielte. Für alle Schwärmer WIELANDS - von Don Silvio und Agathon62 bis zum Peregrinus Proteus - gilt dieses rhetorische Prinzip; und auch HIPPELS irrender Ritter findet durch die rhetorische Taxis der Metaphern gerade noch aus dem semantischen Labyrinth seiner Kreuz- und Querzüge, wenn auch der Pflau-
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Das Leben und insbesondere der »Fall« Gustavs wurden immer wieder mit dem Agathons verglichen (die Bouse mit Danae). Vgl. SW 1/2, Einl. S.XXXIII, Harich (1974), S. 312, sowie Köpke (1986), S.7-22.
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mentopftrost nur auf der Grundlage eines maurerisch geschlossenen Universums tragfähig blieb, die ihrerseits im »Postscript« des Romans in Frage gestellt wird. Gustavs Leben wird durch die Schwärmerei, die ihm, wie JEAN PAUL ausdrücklich sagt, das Auge verschleiert (H I/l, S. 69), nicht aus der Bahn geworfen.63 Während die Erzähler der Romane WIELANDS und HIPPELS rhetorisch die Verantwortung für das schwärmerische Bewußtsein ihrer Romanhelden übernehmen, übernimmt sie der Erzähler »Jean Paul« nur partiell, dafür aber leibhaftig, indem er zum Hofmeister Gustavs avanciert: Man muß nicht denken, daß ich Informator geworden, um Lebensbeschreiber zu werden, d.h. um pfiffigerweise in meinen Gustav alles hineinzuerziehen, was ich aus ihm wieder ins Buch herauszuschreiben trachtete; denn ich brauchte es erstlich ja nur wie ein Romanen-Manufakturist mir bloß zu ersinnen und ändern vorzulügen; aber zweitens damals wurde an eine Lebensbeschreibung gar nicht gedacht. (H I/l, S. 107)
Die rhetorische Verantwortung gegenüber dem Leser wird damit scheinbar außer Kraft gesetzt, der Erzähler wappnet sich vorsorglich gegen den Vorwurf, Amt und Zögling - und damit auch die schwärmerische Erwartung des Lesers - zu mißbrauchen, um seine eigenen pädagogischen oder moralischen Prinzipien zur Geltung zu bringen; indirekt wendet sich der Vorwurf gleichermaßen gegen das Verfahren der aufklärerischen Desillusionierungs-Literatur wie das der höfisch-galanten Zeremonialisierung der Illusion. »Jean Pauls« Amtsantritt als Hofmeister ist also nicht vorbelastet durch literarische Ambitionen, wie dies bei seinem Gegenspieler, dem höfischen Intriganten Oefel, der Fall ist. Die >immer vernichtende und vernichtet werdende ZeitFall< Gustavs, der Verführung des Zöglings durch die alternde Hofdame Bouse, obgleich diese selbst nur ein bewegtes, kein bewegendes Rad in der Maschinerie der >höheren< Romangeheimnisse darstellt. Erst durch seine Liebe zu Beata konnte Gustav jene Fallhöhe erreichen, die diesen Fall so bedeutsam macht. Beata hält die sittliche Höhe, sie widersteht der Anfechtung durch die Verführungskunst des Fürsten genau zur gleichen Zeit, zu der Gustav derjenigen der Bouse erliegt; dem Erzähler bleibt erneut nur die Kontrastierung dieser Gleichzeitigkeit und die Anrufung eines »Schutzgeistes« seines Helden
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- eine ohnmächtige literaturiiistorische Reminiszenz, die ihre rhetorische Kraft eingebüßt hat. Gustav verliert seine Unschuld. Aber er gewinnt die Partizipation an der zeitlichen Welt seines Erzählers, am Gefühl der objektiv »immer vernichtenden und immer vernichtet werdenden Zeit«. Diese Erfahrung kommt in seinem Trennungsbrief an Beata zum Ausdruck: O du meine Beata, in der jetzigen Minute gehörst du ja noch mir zu, weil du mich noch nicht kennst; in der jetzigen Minute darf noch mein Geist, mit der Hand auf seinen Wunden und Flecken, vor deinen treten [...]. Nach dieser Minute nicht mehr — nach dieser Minute bin ich allein und ohne Liebe und ohne Trost. (H I/l, S. 359 f.)
Wie der Erzähler in seiner öffentlichen Kommunikation mit dem Leser, so erfährt Gustav in seiner privaten mit der Geliebten die Macht der Zeitinterferenz, welche die subjektiven Wünsche und Empfindungen ins Raster der Objektivität zwingt; wie jener findet er eine Lösung der sich daraus ergebenden Spannungen nur vor dem Horizont des Unendlichen: »der Zirkel der Ewigkeit wird uns umfassen und verbinden« (H I/l, S. 360) - so lautet der Trost, den er Beata in der Trostlosigkeit nach seinem >Fall< zuruft.
2.4.3 Hypochondrie und Verschwinden des Erzählers Nach Gustavs Fall zieht sich der Erzähler zunächst in die hypochondrische Introspektion zurück - die »fixen Ideen« und der »subjektive Wahn« der Einbildungskraft haben sich in seine Eingeweide verlagert: »Fieber, Nervenschwäche, Getränke« können, so wird JEAN PAUL in der Vorschule schreiben, die Bilder der Einbildungskraft »so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.« (H 1/5, S. 47) Die Unfähigkeit, die äußeren Weltläufe zu beherrschen, hat den Erzähler zu einem Fall milzsüchtiger Innerlichkeit gemacht, dessen Wahnvorstellungen erst durch die satirische Kur des physiognomisierenden Humoristen Fenk geheilt werden: Fenks Rezepte sind Satiren, seine Kur Belehrung.72 (H I/1, S. 370) Eine Erörterung über den Sitz der.Einbildungskraft soll im Kontrast zur hypochondrischen Verblendung des Erzählers umso deutlicher machen, daß »Jean Paul« und seine Figuren »sämtlich wirklich existieren«, auch »außer« seinem »Kopfe« (H I/l, S. 378), daß also alle Geheimnisse, denen er in seiner Erzählung begegnet, eine reale »physikalische« Grundlage haben.
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Zum biographischen Hintergrund dieser Hypochondrie und ihrer Therapie (Lektüre von HALLERS Physiologie, Kur des Jugendfreundes HERMANN) vgl. SW 1/2, Einl. S. XXIX.
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Wenn der Erzähler schließlich im 53. Sektor freudig verkündet, er danke »dem Himmel«, mit seiner biographischen Feder der Zeit nachgekommen zu sein, so daß sein Wissen um künftiges Unglück sich nicht mehr mit der aktuellen Leser-Information vergangenen Glücks überschneiden kann, dann ist zwar das Spiel von Wechsel-Erhöhung und -Erniedrigung ans Ende gekommen: der Erzähler ist auf die Kenntnisstufe des Lesers herabgesunken - oder er hat diesen zu seiner Gegenwart und Weltkenntnis emporgehoben, sein Hoffen und Bangen ist nun das des Erzählers und seiner Helden geworden: Erst abends tritt das Vollicht unserer heutigen Freude ein; und ich danke dem Himmel, daß ich jetzt mit meiner biographischen Feder nachgekommen bin und niemals mehr weiß, als ich eben berichte: anstatt daß ich bisher immer mehr wußte und mir nur den biographischen Genuß der freudigsten Szenen durch die Kenntnis der traurigen Zukunft versalzte. (H I/l, S. 404)
Aber damit ist nur die zeitliche Informationslücke überbrückt, die den Leser vom Erzähler trennte; die »esoterischen« Rätsel des Romans sind ausdrücklich noch nicht gelöst, die Informationskluft zwischen dem expliziten Erzähler und der äußeren »Unsichtbaren Loge« ist noch nicht überwunden. Indem aber das Defizit des Erzählers deckungsgleich mit dem des Lesers geworden ist, droht er selbst als Instanz überflüssig zu werden; er verabschiedet sich im gleichen Augenblick, in dem die unerklärte Geheimbund-Verschwörung aufgedeckt wird, denn mit dieser Aufdeckung bricht zugleich der Damm der auktorialen Kompetenz. Seine eingestandene Nicht-Eingeweihtheit in die Geheimnisse der Gesellschaft degradiert den Erzähler zum Objekt und bringt ihn damit zum Verschwinden.
2.4.4. Physikalischer Rest bei der »Vergleichung« Die Auflösung der Geheimnisse bleibt in der >geborenen Ruine< ausgespart. Zwar ertönen im letzten Freuden-Sektor gesungene Antworten - und der Erzähler vermutet wohl zu Recht (wenn in einer Welt, in der Wahrheit zuletzt doch nur vom unsichtbaren Autor sanktioniert ist, von Recht und Unrecht überhaupt die Rede sein kann) in den gesungenen Antworten die harmonischen Auflösungen der melodischen Dissonanzen, die der Genius auf dem halben Notenblatt seinem Zögling zurückgelassen hat, aber nun ist anstelle des Genius mit den Antworten der Zögling mit den Fragen entschwunden die anonyme Macht hat ihre auktoriale, >geschichtsbildende< Gewalt zur Geltung gebracht. So bleiben zuletzt statt offener Fragen offene Antworten übrig: Der Held, der die Fragen stellen könnte, sitzt im Gefängnis: Das ist die
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Aporie am Ende der Unsichtbaren Loge™ Auf die Zeit kann der Erzähler nicht länger bauen, denn die ist abgelaufen; es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als seine unsichtbare Loge zu verlassen und den Leser mit den Antworten allein zu lassen: Der autor absconditus wird zuletzt - wie schon während seiner hypochondrischen winterlichen Bettlägrigkeit - von seiner Schwester vertreten, der als Frau in »strikter Observanz«74 alles Wissen um die höheren Geheimnisse und Mysterien gänzlich fremd ist. Als letztes Wort des Erzählers bleibt eine symbolische Überschrift, ein Nicht-Wort im maurerischen Sinne,75 nämlich eine Reihe von Kreuzen, die er schon zuvor angekündigt hatte für den Fall, daß die Freuden-Tage erfüllter Gegenwart einmal zu Ende gehen sollten. Die Schwester, die ihn ablöst, ist geradezu eine Art Ideal-Anf/maurerin, ihre Geschwätzigkeit bricht jedes Schweige-Gebot, ihre Leichtfertigkeit entbehrt jeden Anflugs von maurerischem Tiefsinn. Ihr Fazit in Anbetracht der neuen Rätsel, die Ottomars letzte Offenbarungen hervorrufen, lautet schlicht: »Es ist alles unbegreiflich« (H I/1, S. 418). So bleiben zuletzt auch die Geheimnisse und Rätsel des Romans der Kompetenz des Erzählers entzogen. Während die Schwester Schreiberin, die für ihn die Feder führt, alles »unbegreiflich« findet, werden die Auflösungen, die dies Unbegreifliche begreiflich machen könnten, in einem Brief des Humoristen Fenk zwar an-, aber nicht ausgesprochen. Denn auch für deren innerstes Geheimnis gilt: »[D]iese Geschichte ist nirgends sicher, kaum im getreuesten Busen, geschweige auf diesem Papier.« (H I/l, S. 420) In HlPPELS Kreuz-und-Quer-Roman und im Andreas Hartknopf, dem von JEAN PAUL so bewunderten Roman von KARL PHILIPP ,76 erreicht die Erzählung ihr Ziel: Bei HlPPEL endete die »Vergleichung« zwischen der physikalischen und der moralischen Welt damit, daß der Vorhang, der die maurerischen Geheimnisse bedeckt, umgedeutet wurde in den Theater-Vorhang, hinter dem sich die natürliche Welt der Erfahrung befindet. Die Auflö-
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Zu den zahlreichen Fragen, die bei Abbruch des Romans unbeantwortet sind, vgl. die Einleitung zu SW 1/2, S. -XXXVI. Vgl. AZI, S. 143. Vgl. SW /1, S. 375, wo von den »bekannten Chiffren« der Freimaurer die Rede ist. Das in dieser Rede verborgene Paradox bezeichnet erneut den zugleich offenbaren und geheimen Sinn, mit dem der Geheimbund der Unsichtbaren Loge sich umgibt. An CHRISTIAN KONRAD MORITZ, den Bruder des Dichters und ersten Bewunderers der Unsichtbaren Loge, schreibt JEAN PAUL am 30. Oktober 1795, daß er den Hartknopf wie alle seine »Schoos-Bücher« von HERDER, GOETHE, STERNE und SWIFT auswendig könne.
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sung der Unscharfe (in der »Vergleichung«) verdankte sich aber zuletzt doch allein dem Schein der Verbindlichkeit, den das maurerische Hieroglyphensystem stiftete: Die Maurer-Welt ist der falsche Schein der Realität, und für die Enttäuschung bei der Enthüllung dieser Scheinhaftigkeit entschädigt den Leser allein der Pflaumengeschmack der rhetorischen Utopie, die bei HIPPEL den Namen »Eldorado« trägt. Bei MORITZ war die Mythologie der Maurerei zugleich Voraussetzung und Erfüllung der Erzählung; der Schriftsinn der hermetischen Hieroglyphen deckte sich mit dem allegorischen Schriftsinn des Romans: Die beiden Welten werden zur Deckung gebracht, aber um den Preis fatalistisch-nihilistischer Anfechtung. JEAN PAUL als profaner Erzähler hat zwar - wie Wutz - durchs Medium des enzyklopädischen Exzerpierens teil am maurerischen Weltbild, aber dieses Weltbild begründet nicht (wie bei HlPPEL) seine erzählerische Kompetenz in Hinblick auf die »moralische Welt«. Durch die ständige Betonung seiner beschränkten auktoriale Kompetenz verbaut der Erzähler dem Leser von vorneherein den Zugang zur Annahme eines hintergründigen allegorischen Schriftsinns: Zwar spielt er - ähnlich wie MORITZ im Hartknopf - in der Unsichtbaren Loge immer wieder auf die populäre Geisterbanner-Kunst der »Bilocation« an (die gleichzeitige Gegenwart einer Person an zwei geographisch weit auseinanderliegenden Orten, vgl. H I/l, S. 84 f, S. 91, S. 316), aber die rhetorische Auflösung dieser magischen Allgegenwart bildet - anders als zum Beispiel bei WIELAND oder MUSAEUS und noch bei MORITZ - nur noch eine einzelne Valenz im Kräftefeld der Anspielungen und Vergleiche, deren aufklärerisches Potential sogleich durch anders geladene Vergleiche neutralisiert wird. Wenn auch der Erzähler der Unsichtbaren Loge das Ballkleid ein »Universale gegen alles« nennt (H I/l, S. 158), so reichen all diese Anspielungen doch noch nicht aus, hinter dem hinkenden »Jean Paul« einen Bruder Schreiber im Dienst eines hintergründigen Sinnes der >geheimen Naturforscher oder der aufgeklärten Vernunft zu sehen, der den allegorischen oder moralischen Gehalt der Bilder und Metaphern zur rechten Zeit zuverlässig aufklärt. Der Erzähler unterscheidet nicht in gewöhnliche und höhere Physik oder Chemie. In beiden Fällen »vergeistigt« die Metapher die Welt: Wenn JEAN PAUL von sich selbst behauptet, ein »Freuden-Elektrophor« geworden zu sein (H I/l, S. 386), der sich durch sein Schreiben entlädt, dann hat diese Anwendung der Natürlichen Magie keine weiterreichende Bedeutung als die Chiffren der »salomonischen Physik.«77 In der zweiten Vorrede zur Unsichtbaren Loge wird dies von JEAN PAUL thematisiert: In Erfüllung der Forderungen, die LICHTENBERG 1780 in seinem
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Zur elektrischen Metaphorik vgl. Esselborn (1988), S. 363-374.
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Vorschlag zu einem orbis pictus an die deutschen Schriftsteller gerichtet hatte,78 betont er seinen Anspruch: »ein Dichter müsse so gut wie ein Maler und Baumeister etwas wissen, wenn auch wenig; ja er müsse (die Sache noch höher getrieben) sogar von Grenzwissenschaften (und freilich umgrenzen alle Wissenschaften die Poesie) manches verstehen, so wie der Maler von Anatomie, von Chemie, Götterlehre und sonst. (H I/l S. 16 f.)
Das Versprechen, das Unausgesprochene zu offenbaren, das sich im Titel des Romans »auf eine verborgene Gesellschaft« beziehen sollte, »die aber so lange im Verborgenen bleibt«, bis im Schlußband alles »an den Tag oder in die Welt« gebracht werde (H I/1, S. 20), hat JEAN PAUL bekanntlich nicht eingehalten, und in der »Entschuldigung bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge« tröstet er das Publikum damit, »daß der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, - und erst hinter seinem Grab liegen die Auflösungen; - und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman.-« (H I/1, S. 13) Die rhetorische Bilocation des Erzählers, seine gleichzeitige Anwesenheit in der physikalischen und in der moralischen Welt, erfüllt sich für JEAN PAUL erst jenseits der ultima linea rerum, die die allegorische Welt des Andreas Hartknopf abschließt. Daher die rhetorische Unscharfe aller poetischen Doppeldeutigkeiten: Die Affekte, die der Dichter beim Leser hervorruft und die er mit ihm teilt, weisen über diese Grenzlinie hinaus, weil sie, gemäß dem Aufsatz über die Magie der Einbildungskraft, »ein unvertilgbares Gefühl ihrer Ewigkeit und Überschwenglichkeit« bei sich führen.79 Diese Forderung erfüllt der Roman als Fragment. Der unausgesprochene und unaussprechliche >transzendentale< Horizont der Metaphern jenseits dieser Linie soll nun in der Perspektive des Unberechenbaren (der Lotteriemetaphorik) und des Unbeschreibbaren (der Physiognomik)
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Lichtenberg, Schriften und Briefe Bd. III, S. 377-405. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, MAX KOMMERELL zuzustimmen, wenn er der Personalunion des hinkenden Erzählers mit Gustavs Hofmeister »Jean Paul« ein »tiefes Recht in der Innerlichkeit allen Geschehens« zugrundelegt. (Vgl. Kommerell [41966], S. 110.) Wenn andererseits VOGES (1987), S. 551 behauptet, es sei JEAN PAUL nicht gelungen, »die zwei Hälften einer Welt, die Misere und ihre tätige Aufhebung« in der Unsichtbaren Loge angemessen zu vermitteln, dann ist demgegenüber zu fragen, welchen ästhetischen Prämissen die Forderung nach einer solchen tätigen Vermittlung subjektiver Bedürfnisse gehorcht. Steht sie nicht ebenso im Bann von HEGELS Kritik der »schönen Seele«, wie dies ausdrücklich für ALBRECHT DECKE-CORNILLS Kritik an JEAN PAULS Begriff des Selbstbewußtseins gilt? (Albrecht Decke-Cornill, 1987)
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näher bezeichnet werden. Da JEAN PAUL dabei sein erzählerisches Grundprinzip beibehält, kann die »Vergleichung« zwischen der mathematischen, physiognomischen und zeremoniellen Welt einerseits und der moralischen andererseits konzentrierter ausfallen als bei der ausführlichen Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt der Unsichtbaren Loge.
3. Das große Los und der Teufel 3.1. Das Säkulumsphänomen 3.1.1. Das große Los im beschränkten Leben Der wilde und unbändige Luftschiffer Giannozzo, dem der Blitzschlag zum Verhängnis wird, während das von ihm verachtete 18. Jahrhundert unter Führung seines >Messias< BENJAMIN FRANKLIN dabei ist, das Gewitter zu entmachten, zählt in seinem »Luft-Schiffs-Journal für Matrosen, wie sie sein sollten« unter die »Säkulumsphänomene« des Zeitalters auch das Lotto (H 1/3, S. 955) und verspottet seine aufgeklärten Zeitgenossen, die sich so sehr »gegen Geistererscheinungen, Schwärmerei und Extreme« aussprechen (ebd. S. 950), aber im Lotto »Gott wie einen Fürsten zu Gevatter bitten« (ebd. S. 986). Wie für das Motiv- und Anspielungs-Feld der Alchemic und des Geisterglaubens, so findet sich auch für das der Lötterieleidenschaft ein biographischer Anknüpfungspunkt, an dem sich das Leben JEAN PAULS mit dem Zeitgeist und seinen Ambivalenzen existentiell verschränkt. An seinen Freund OERTHEL schreibt er- auf Französisch, der Säkulumssprache, die er zeitweise im Briefwechsel bevorzugte - am 17. Juni 1783 aus Leipzig, in der Zeit der größten finanziellen Bedrängnis der vaterlosen Familie RICHTER: J'ai dit ä ma mere, qu'un cordonnier ä Dresde est mort de joie d'avoir gagno le gros lot. Elle espere de le gagner aussi et ne craint pas d'en mourir aussi. Elle veut done que je te demande le prix des billets. Si eile gagne comme je l'espere, le public gagne aussi: car j'6crirois plus rarement des satyres et il ne me faudroit non plus de me nourrir par le sommet, contre la nature des arbres, qui, semblables aux messagers, se nourrissent par lespieds. (SWIII/1.S.79)
Während RICHTER hier noch satirisch in die Tonart des untergründig zahlenmagisch gestimmten Zeitgeistes miteinstimmt, indem er in sarkastischer Opposition zur Lotto-Kritik der Spätaufklärung den Gemeinnutzen des Lottos über den Umweg seiner eigenen Satiren-Produktion zu retten versucht, wird er in einem Brief an die Mutter eindeutiger - das heißt aufklärerischer - und hält ihr die Gewinnchancen nach der Wahrscheinlichkeit im Spiel vor:
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Wenn Sie wegen der Lotterie mir doch nur folgten! Glauben Sie denn, wenn es nur daraufkäme, hineinzusezen und zu gewinnen: so würde ia ieder sogleich reich werden können: denn er brauchte ia nur etwas Geld aufzuwenden. Aber man wird durch Lotterien so selten reich, daß Tausende schon arm geworden. Die Lotterien sind schon so eingerichtet, daß man alzeit wenig darin gewinnen kann. Und Sie wagen nicht wenig, wenn sie in die hiesige sezen: der erste Einsaz ist zwar nur ein Gulden; aber man mus fortfahren einzusezen und dann steigt es sehr hoch: Überdies ist iezt die Zeit nicht, wo Sie gut einsezen könten: Sie müsten wenigstens noch etwas warten. Dazu ist ia in Baireut auch eine Lotterie; warum wollen Sie lieber in die hiesige einsezen? Glauben Sie in dieser etwan viel zu gewinnen? Aber das könen Sie ia auch in der Baireuter [...]. (SW, HI/1, S. 117 f.)80
Trotz dieser rational abwägenden Anerkennung der stochastischen Glücksspiel-Wahrscheinlichkeit wird von da an die Lotteriemetaphorik zu einem wichtigen Faktor in RICHTERS eigener Lebensrechnung und in der seiner literarischen Phan-tasien. So wie die Ablehnung der rosenkreuzerischalchemistischen Hoffnungen DOPPELMAIERS auf scheinbar paradoxe Weise dazu führte, über den Umweg der Satiren naturmagische Metaphorik in JEAN PAULS Werk zu etablieren, so trug auch die Verwerfung der mütterlichen Hoffnung, das Glück der Zahlen zwingen zu können, dazu bei, daß Zahlen und Lotto zu einem vieldeutigen Anspielungsfeld in allen Werken JEAN PAULS geworden sind. In einem Brief an WERNLEIN verleiht er dem Glauben Ausdruck, »ein Freund wäre so leicht aus der Glücks Zahlenlotterie zu ziehen als eine Geliebte« (SW III/l, S. 303), und das Ausleihen von Büchern aus der Rehauer Bibliothek des Pfarrers VOGEL, die die materielle Basis der Exzerpte bildete, wird ihm zu einer wöchentlichen Ziehung aus der »Bücherlotterie«: »Da heute wieder für mich Ziehungstag aus Ihrer Bücherlotterie ist, so wünscht' ich, das Glücksrad (das sonst 10 Menschen rädert, eh' es einen höher fährt) drehte mir folgende Bücher heraus [...]«. (SW III/l, S. 250) Das Anspielungs-Universum der Exzerpte, mit dem, der Unsichtbaren Loge zufolge, Wissenschaften und Grenzwissenschaften die Poesie umgrenzen, wird von RICHTER hier aufs Fundament des Zufalls gebaut: Die Lebensgeschichte JEAN PAULS hielt auf diese satirische Umpolung der Wirklichkeit ihrerseits eine satirische Antwort bereit, indem sie nämlich JEAN PAULS ersten Roman in der großen »Bücherlotterie« des 18. Jahrhunderts ausgerechnet dem Verlag eines nebenberuflichen Berliner Lotterie-Einziehers anvertraute.81 Im Werk Richters hingegen wird, wie im Falle des magisch-alchemistischen Bedeutungsglaubens, erst durch die Figur des fiktiven Erzählers ein Ausgleich zwischen dem satirischen Glauben an die Allbedeutsamkeit der Zahlen, dem
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Vgl. auch den Brief vom 21. Juni 1784, SW III/l, S. 124. Vgl. SW III/l, S. 532.
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aufgeklärten Skeptizismus, der es besser ÄU wissen glaubt, und dem Schrecken vor der Leere der grenzenlosen materiellen Welt, in den dies aufgeklärte Besserwissen mündet, möglich.
3.1.2. Satirisch-diabolische Rechnungen Im satirischen Larvenstadium des Erzählers wird dabei erneut RICHTERS Verfahren, eine Form der hermetischen Unvernunft die Entlarvung der anderen stützen zu lassen, wirksam. So wird im »Katalog der Vorlesungen« eine Einführung in die Wahrscheinlichkeitslehre des Zahlenlottos als eine Wissenschaft zwischen Grenzwissenschaften angekündigt. Der Einsatz, der für die populärwissenschaftliche Einweihung in Lostheorie und Wahrscheinlichkeitslehre zu entrichten ist, entlarvt die natürliche Magie der Zahlenlottos, die wie die in den Prolegomena der Vorlesung erwähnten Italiener (und anders als die »Beutelschneider«) »nur das Geld ohne den Beutel begehren«: Über die Politik lieset wie gewöhnlich der hiesige Zeitungsschreiber. Über die Wahrscheinlichkeitslehre der Direkteur des hiesigen Zahlenlotto's; man bezahlet dafür soviel als man will, und jeder, er sei ein Vornehmer oder Gemeiner, ein Reicher oder Armer, ein Studierter oder keiner, kan dieses Kollegium hören. Diesem dürften vielleicht stat der Prolegomenon einige Vorlesungen über die Regula Falsi und über die Rechtschaffenheit der Italiener, die sich von den Beutelschneidem so sehr absondern, und nur das Geld ohne den Beutel begehren, voraus geschikket werden. (H II/l, S. 1045).
Ausdrücklich wird hier - in Abgrenzung von jener Partei der aufklärerischen Polemik, die in der Lottosucht eine Krankheit der unteren Schichten sehen wollte - die Lottoleidenschaft auf alle Klassen der Gesellschaft ausgedehnt: Arme und Reiche, Vornehme und Gemeine sind ihr verfallen. Diese Form des Aberglaubens ist so verbreitet wie die des Glaubens an die »natürliche Magie und Alchemie«; über diese »Wissenschaften« nämlich sollen dieser Satire zufolge die Sängerinnen des örtlichen Theaters Vorlesungen halten (d.h. über die »natürliche Zauberkunst«, die darin besteht, Schminke, Seufzer, Weihrauch und bloße Worte in »gutes Dukatengold zu verwandeln«, H II/l, S. 1045 f.), während die Billardspieler der »Koffeehäuser« über die Mechanik lesen sollen (ebd.). Der gemeinsame Nenner im Kollektivbewußtsein aller wissenschaftlichen Referenten ist das egoistische Interesse an der von ihnen repräsentierten »Wissenschaft« - in satirischer Perspektive wird dabei zwischen der >höheren< Naturwissenschaft und der mechanischen nicht unterschieden. Diesen >egoistischen< Vorbehalt, der dem hochfliegenden philosophischen Egoismus< des hermetischen Denkens und dem objektivistischen Voruteil des mechanistischen unterstellt wird, hebt RICHTER auch in der Lotto-
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Satire im »Ironischen Anhang« der Auswahl aus des Teufels Papieren hervor. In diesem Fall ist es jedoch der Leibhaftige selbst, der unter der Maske des satirischen »Hasus« aus den populärwissenschaftlichen Argumenten für und wider den Nutzen der Zahlenlotterien Kapital zu schlagen versucht. HASUS äußert sich zunächst über das verbreitete Verbot, in auswärtige Lotterien zu setzen: »Desto mehr Ehre erschreibt sich ein Autor, wenn er sich mit dem Wole ganzer Länder befängt und den Nutzen der Lottos in einem ironischen Anhange ein wenig beweiset.« (H II/2, S. 357) HASUS verbirgt also sein satirisch-diabolisches Interesse hinter der Maske des Gemeinwohls und des individuellen Wohlstandes: Wie im Sebaldus Nothanker wird nämlich auch der diätetische Aspekt des Lottoglücks hervorgehoben: Allerdings ist das große Loos an sich, ohne ein Korngens das die ändern Ingredienzien entkräftet, ausserordentlich ungesund, und die Aerzte sollten es in der Diätetik strenger untersagen und sich selber. Wie viele hunderte kamen nicht an einer Quaterne um? [...] Eine Quinterne ist gar förmlicher Gift und eine Art von aurum potabile [...] (Ebd.)
Der im Brief an OERTHEL erwähnte Fall des Schuhmachers in Dresden, der über der Freude am Gewinn des großen Loses starb, wird hier verschränkt mit einer Reminiszenz an die DOPPELMAIER-Affäre, in der RICHTER - ebenfalls an OERTHEL - geschrieben hatte, »der niedere Adel der Chemisten« müsse hoffen, daß die Alchemisten »nicht blos Gold machen, sondern auch Gold trinken und stat einer Lebens- eine Todtentinktur erfinden möchten, welche ihrem Anwachs vortheilhafte Schranken sezte.« (SW III/1, S. 142) Und wie im Falle der Satire über die Alchemie in der Bittschrift schlägt die konsequent zu Ende gedachte Zahlenmagie um ins Bild einer totalen, sich selbst aufhebenden Aufklärung. Durch »tiefsinnige Berechnungen« - hiermit scheinen in erster Lesung die geläufigen »Lotteriewahrsager« mit ihrem allbekannten Anspruch auf kabbalistisch-platonischen Tiefsinn, in zweiter Lesung jedoch auch die Gewinnrechnung der despotischen Autoritäten gemeint zu sein - sei gewährleistet, »daß eine gefährliche Quinterne weit seltener vorkömmt als die kleinen nützlichen Gewinste.« (H /2, S. 357) Damit stellt sich heraus, daß der kabbalistische Tiefsinn weniger in den Berechnungen der »Lotteriewahrsager« als in der rationalen Profitrechnung der Lotterien verborgen liegt, auf die RICHTER auch im Brief an seine Mutter hinweist. Die »Vergleichung« zwischen der mathematischen und der moralischen Welt geht hier noch auf. Im ersten Akt der Baierischen Kreuzerkomödie wird dann aus den populärwissenschaftlichen Argumenten, in die sich das diabolische Interesse einkleidet, eine transzendentale Argumentationsfigur, durch die sich der Teufel die Anerkennung seiner Existenz durch kritische Argumente für seine NichtExistenz zu erspielen versucht. In der Rede worin der Teufel auf unserer Maskerade hinlänglich dargethan, daß er gar nicht existiere reflektiert der
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Leibhaftige dort den Eindruck der Lektüre von KANTS Kritik der reinen Vernunft, die den zehn Jahre zurückliegenden Theologenstreit um die Existenz beziehungsweise Nicht-Existenz des Teufels entschieden, und dem Teufel selbst seine eigene Nicht-Existenz bewiesen zu haben scheint. Gegen die transzendentalen Angriffe auf die Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz setzt der Teufel eine Wette - sein Einsatz ist das Versprechen einer Quateme im Landeslotto, für deren Bewerkstelligung seine Existenz nach alter zahlenmagischer Tradition jedoch eine notwendige und hinreichende Bedingung darstellt: Auf dem Postkissen kont' ich der Sache und dem Kant kälter nachdenken und wurde immer mehr überzeugt, daß ich auf ieden Fal nicht existierte [...] aber ich werd'es dadurch wieder einbringen, daß ich eine Quaterne im Landeslotto zum Preis für die beste Schrift verheisse und ausstelle, welche gegen so viele und hundertiährige Scheingriinde und noch ältere Exegeten mit den besten Gründen darthut, daß ich nimmermehr existiere; und nachher wil ich mit der Hand des Waisenjungen zum grösten Schaden des Lottodirektos die Quaterne schon hervorziehen. (H II/2, S. 564)
Die transzendentale Möglichkeit, das Unberechenbare zu berechnen (oder zumindest mechanisch zu bewerkstelligen), wird dem nichtexistierenden Teufel zugestanden; die satirische Fiktion erweist sich als Spiegelbild der durch KANTS Vemunftkritik entzauberten Wirklichkeit, und die Wette des Teufels hat ebensoviel Gültigkeit wie die, die HASUS gegen den GeisterEntlarver HENNIGS setzt.82 Als der gemeinsame Nenner des satirischen Spiels mit der Schicksalssignifikanz der Zahlen (in populär- und transzendentalphilosophischer Perspektive) erweist sich die Annahme von empirisch-diabolischen Subjekten, die diese Signifikanz ins Reich der natürlichen Zahlen projizieren. Der Teufel bleibt dabei immer ein Spieler - im Lotto wie beim Billard in Genua (H 1112, S. 577 f.) -, und der diabolische Egoismus seines Doppelspiels bleibt so unausgesprochen wie die aufklärerische Intention des Satirikers HASUS, der sich der Naturalisierung des Wunderbaren und Diabolischen im Reich der Natur und der Zahlen verschrieben hat.
3.1.3. Übertragung von der satirischen auf die epische Rechnung Wie bewährt sich demgegenüber die Kompetenz des Erzählers - also seine auktoriale und transzendentale Rechen-Kompetenz - nachdem aus dem satirischen Larvenstadium des HASUS der Erzähler JEAN PAUL hervorgegan-
82
Vgl. Fußn. 60.
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gen ist? In der Unsichtbaren Loge gibt er dem Vater seines Helden Gustav den gutgemeinten Rat: Falkenberg! hör auf den Biographen! Ziehe deinen Beutel, dein Schloßtor und dein Herz zuweilen zu! Glaube mir, das Schicksal wird deine großmütige Seele nicht schonen, das rennende Glück wird dein weiches Herz mit seinem Rade überfahren und zerschneiden, um sein Lottorad hinter seiner Binde vor einem Röper auszuladen. (H I/l, S. 164 f.)
Das Herz und das Glück - die schlechterdings unberechenbaren Gegenstände - lassen sich auch vom Erzähler, der eine Lebensbeschreibung, keinen Roman zu schreiben behauptet, nicht berechnen. Die Prognose betrifft in erster Lesung das vom Erzähler beschworene Schicksal als die numinose Macht, die über das Unberechenbare herrscht, in zweiter, reflektierter Lesung aber erneut die Macht der despotischen Verhältnisse, deren Werkzeug Röper ist. Auf die Polaritäten des Lotterie-Glaubens im Schwerefeld kleinstaatlicher Willkürherrschaft wird auch in allen anderen Romanen JEAN PAULS angespielt. Während aber in den im >hohen< Stil geschriebenen Romanen Hesperus und Titan die Lotterie-Metaphorik im Schatten der weitausgreifenden Interessen und erhabenen Ideen steht, die die Helden dieser Romane umtreiben und die sich nur ausnahmsweise in Lotteriemetaphern kleiden lassen, stellt sie in dem in >gemischter< Tonlage gestimmten Roman Siebenkäs einen wesentlichen Bestandteil der Erzählung dar. Im Unterschied zur abgeschlossenen satirischen Welt bleibt dort jedoch bei der Verrechnung der mathematischen mit der moralischen Welt ein Rest, der von der Unendlichkeit als einem Faktor der Romanwelt herrührt.
3.2. Zufall und Notwendigkeit zwischen Beschränkung und Entgrenzung im >Siebenkäs< Die »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke« von JEAN PAULS drittem Roman erzählen von »Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Firmian Stanislaus Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel.« Die scheinbar ganz aus der bürgerlichen Anordnung der menschlichen Lebensstationen gewürfelte Reihenfolge im Lebensweg des Armenadvokaten erschließt sich dem Leser erst nach und nach bei der Lektüre des Romans: Aus seiner gescheiterten ersten Ehe rettet sich Siebenkäs durch einen von seinem hinkenden Doppelgänger Leibgeber inszenierten Scheintod, durch den seine (scheinbar) hinterbliebene Frau Lenette die Ausschüttung einer Art Lebensversicherung, der »Leichenlotterie«, er selbst aber die Freiheit und die Liebe Nataliens, einer der idealistisch hohen Gestalten Jean Pauls, gewinnt. Die Reihenfolge der
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Lebensstationen, die zunächst wie eine vom Glücksrad geschüttelte Permutation der reichsstädtisch-natürlichen Ordnung aussah, erweist sich damit als eine dem Schicksal abgerungene Form der Befreiung aus einer anachronistisch gewordenen Welt der Zwänge, Schein-Ordnungen und falschen Notwendigkeiten. Daß es gerade Leibgeber ist, der in diesem Roman die Befreiung des Armenadvokaten inszeniert und das freie Leben leibhaftig (jedoch mit dem Makel der Behinderung) verkörpert, ohne doch selbst dabei vollkommen frei zu sein, ist keineswegs Zufall, sondern ergibt sich zwingend aus dem Erbamt, das er durch seine physische Entstellung vom hinkenden Erzähler der Unsichtbaren Loge übertragen bekommen hat. Die Permutation der Leben s-Terae aus Geburt, Hochzeit und Tod setzt sich auch in der Binnenstruktur des Romans fort: Zahlreiche Anspielungen auf die Lotteriepraxis begleiten das stochastische Roman-Experiment; aus den »90 Nummern oder 90 Jahren des Lebenslottos« versuchen alle Romanfiguren die Quinterne, den Haupttreffer des Glücks, nämlich die »5 Treffer der 5 Sinne« zu ziehen (H 1/2, S. 262). Seinen vermeintlichen Hauptwidersacher im Lebenslotto, den Venner83 Rosa Everard von Meyern, der die galante »Hexenkunst, eine Frau auf einen Platz festzubannen«, meisterhaft beherrscht, fragt Siebenkäs, [...] ob er mit ändern Kameralisten auch Lotterien und Lottos verwerfe und ob er glaube, daß das gemeine Wesen von Kuhschnappel bei der alten umgestürzten Tonne unten leide, auf deren Boden oben ein Zeiger, der um ein Zifferblatt von Pfefferkuchen und Pfeffernüssen fuhr, gegen geringen Einsatz von den Teilnehmern umgeschnellt wurde auf Gefahr des Lottodepartements, eines gierigen alten Weibstücks, da mancher Junge statt eines Nüßchens einen Kuchen erwischte (H 1/2, S. 101).
Der angesprochene Verführer aber gewinnt »solchen zweideutigen Darstellungen nicht den geringsten Geschmack ab«, während Siebenkäs in der Pfefferkuchenlotterie einen »satirischen zerrbildnerischen Verkleinerspiegel alles großen bürgerlichen Pompes« sieht (ebd.). Diese Zerrspiegel-Perspektive charakterisiert auch die reichsstädtische Welt insgesamt und den Blick, den der Erzähler in diese Welt wirft. »Die Magie des Spiels schafft eine neue Welt« - so hatte es in einem von JEAN PAUL exzerpierten Beitrag des TEUTSCHEN MERKUR geheißen. Im Siebenkäs wird diese polemische These zu einer metaphysischen Voraussetzung des nachkantianischen Erzählers, der seinen von Eifersucht umgetriebenen Helden begleitet: »Wie spielt der Mensch mit der Welt um sich und kleidet sie schnell in die Gespinste seines Innern um!«
83
Zu den im Folgenden erwähnten Ämtern »Venner«, »Heimlicher« etc. vgl. die »Beilage zum zweiten Kapitel« des Siebenkäs, »Regierung des Heiligen Römischen Reichs freien Marktfleckens Kuhschnappel« nach dem Vorbild Berns, H 1/2, S. 71 ff.
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(H 1/2, S. 108) Die galante Zweideutigkeit des Verführers von Meyern bewährt sich bei allen Zwischenerfolgen im Roman zuletzt jedoch nicht - ein anderer Konkurrent wird die Gunst von Firmians Lenette gewinnen -, während sich die satirische Zweideutigkeit Firmians, seine Fähigkeit zur Verkleinerung des Großen und Vergrößerung des Kleinen, schließlich in der Rettung aus seiner Ehe-Misere bewährt. Lottos, so heißt es, »greifen wie andre Epidemien und die Pest mehr arme Teufel als Reiche« - der verarmte Armenadvokat wird daher in den Augen der christlich-bürgerlichen Welt (in Gestalt des Geistlichen) durch seinen Scheintod als ein »Teufelsbraten« (H 1/2, S. 509) gargekocht und vom Teufel geholt, wodurch seiner Lenette der Einsatz der Leichenlotterie zufällt. Die Verbindung von Diabolik und Lotterie-Glaube, ein Erbstück der Satiren, wird in der Schützenfest-Passage des Siebenkäs besonders deutlich: Der Armenadvokat hofft, seine durch unmäßiges Satirenschreiben vermehrte Armut durch einen Treffer beim Reichsadlerschießen bannen zu können. Dazu muß er zunächst eine gute »Startnummer« aus der »Schützenlotterie« ziehen. Als ein »schottischer Meister« steht jedoch der Heimlicher von Blaise der »Schützenloge« vor - jener Hauptintrigant, der für Siebenkäsens materielle Not verantwortlich ist, weil er ihm aufgrund einer juristischen Spitzfindigkeit die Auszahlung des unter seiner vormundschaftlichen Verwaltung stehenden Vermögens verweigert. Damit wird der Heimlicher von Beginn des Romans an zum Sand im »Rad des Schicksals« (H 1/2, S. 54) - in Wahrheit ist es natürlich die Macht seines Amtes und Standes, wodurch das »Schicksal« und die Schiedssprüche der Appelationsgerichte bestimmt und gehemmt werden, aber dieser höhere, gesellschaftskritisch-ironische Sinn wird von JEAN PAUL ebensowenig explizit gemacht, wie von HIPPEL die hierarchische Verfassung der Welt außerhalb der Geheimbünde und von HASUS die aufklärerische Wahrheit hinter der diabolischen Verstellung. Bei der Schützenlotterie aber hat der Heimlicher von Blaise, obwohl der Erzähler ihn ironisch einen »schottischen Meister« nennt, ausnahmsweise keinen Einfluß auf den Gang des Schicksalsrades (denn im Gegensatz zu den Appelationsgerichten entscheidet es tatsächlich unabhängig); um aber allen allzu hochfliegenden Erwartungen der Leserschaft entgegenzutreten, versichert der Erzähler eilig: Die Leser können dem Zufalle nicht ansinnen, daß er das Glückrad halte und hineingreife und hinter seiner Binde unter 70 Nummern gerade die erste für den Advokaten herausfühle und fange; indessen zog er doch die 12te für ihn. (H 1/2, S. 224)
Das personifizierte Schicksal ist also ausdrücklich nicht mit dem Autor im Bunde, ja es wird dem Leser sogar als eine Zumutung angerechnet, daß er dem Schicksal die günstigste Nummer für den Helden abzuverlangen sich anmaßen könnte, nur weil gerade einmal die Macht des Heimlichers außer
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Kraft gesetzt ist. Aber auch hier steht - wie schon in der Unsichtbaren Loge - das Herz als das Unberechenbare im Menschen der Unberechenbarkeit des Schicksals entgegen: Firmian ging mit einer Brust voll wachsender Hoffnungen auf den Schießgraben zurück. Das Menschenherz, das in Sachen des Zufalls gerade gegen die Wahrscheinlichkeitrechnungen kalkuliert, und das darum auf eine lerne hofft, weil es eine gewonnen - denn daraus sollt1 es eben das Widerspiel schließen -, oder das darauf zählt, die Adlerklaue zu holen, weil es den Zepter dazu aufgelesen, dieses im Fürchten und Hoffen unbändige Menschenherz brachte auch der Advokat auf den Graben mit. (H 1/2, S.229)
Das subjektive Gefühl des Helden, seine unaussprechlichen Gefühle< des Herzens, widerspricht der aufgeklärten Kenntnis des Autors, der LICHTENBERGS Vorlesung über die Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel kennt. Das Los- und Schützenglück läßt Siebenkäs - allen dem Glück feindlichen (und daher als unvernünftig depotenzierten) Widerständen der »passauischen Kunst«84 zum Trotz - nicht im Stich, sondern läßt ihn das Zepter des Reichsadlers als einen der Hauptpreise treffen; die scheinbar machtlosen, aber dabei stets machtbewußten Widersacher von Meyern und von Blaise »lächeln und gratulieren« (H 1/2, S. 227). Während aber Siebenkäs auf weitere Gewinne anlegt, schleicht sich der Feind von Meyern ins Siebenkäsische Haus, zu Lenette, und verkörpert damit für den Erzähler den leibhaftigen Teufel, der aus der Schützenlotterie in freier Umdeutung seinen Gewinn zu ziehen hofft und der von den Schützen zur gleichen Zeit bei jedem Fehlschuß berufen wird. Von den Schützen heißt es: Die Besorgnisse wuchsen, die Hoffnungen wuchsen; aber die Flüche am meisten, diese Stoßgebete an den Teufel. Die Theologen hatten im 7ten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts den Teufel oft in der Feder, als sie ihn entweder leugneten oder behaupteten; aber die Kuhschnappler Schützen weit mehr, besonders die Patrizier.- (H 1/2, S. 234)
Damit sind all jene Diskurse der Satirenzeit wieder belebt, auf die JEAN PAUL bereits früher im Roman mit der Erwähnung des Teufelsbanners GASSNER in Ellwangen angespielt hatte (H 1/2, S. 96). Das aktuelle Gegenstück zum Teafelsdiskurs der 70er-Jahre bildet im Siebenkäs die »Leichenlotterie«, in die Siebenkäs sein letztes Glück setzt; auch hier bekennt der Erzähler seine auktoriale Beschränktheit:
«4
Vgl. H 1/2, S.226.
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Es ist mir nicht bewußt, wieviel er [einzahlte; ich bin aber dieser Verlegenheit schon gewohnt, die ein Romanschreiber, der jede beliebige Summe erdichten kann, gar nicht kennt, die aber einen wahren Lebensbeschreiber. ungemein belastet und aufhält, weil ein solcher Mann nichts hineinschreiben darf, als was er mit Instrumenten und Briefgewölben befestigen kann. (H 1/2, S. 340)
Aber der Erzähler bewältigt seine auktoriale Unvollständigkeit, die ihn wie den Teufel in der Kreuzkomödie an seiner eigenen Existenz zweifeln läßt, erneut in der Figur des Unermeßlichen. Anders als in der Unsichtbaren Loge ist die partielle Inkompetenz des Erzählers im Siebenkäs nicht durch eine spezifische, konkret personale Erzählsituation hervorgehoben. Aber auch in diesem Roman wird sie dem Erzähler zum eigenen Einsatz in der Leichenlotterie - zur Gewähr dafür, daß er die Auflösung der Romanhandlung unbeschadet übersteht: In der Rede des toten Christus (in der Erstfassung war sie dem Roman vorangestellt) verdichtet sich die humoristische Reflexion über die Unfaßbarkeit des Glück und Unglück scheinbar mechanisch und zufällig verteilenden Schicksals zur Anklage, die die Unmöglichkeit für Firmian, vor den menschlichen Appellationsgerichten zu seinem Recht zu kommen, mit kosmischem Fatalismus kompensiert. Christus spricht dort zu den Menschen: Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? - Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? - Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des All! Ich bin nur neben mir - O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? - Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein? (H 1/2, S. 274)
An die Stelle des transparent verschleierten Isis-Bildes ist in dieser fatalistischen Vision eine undurchdringliche Maske, die »eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit«, getreten, ähnlich wie in der Unsichtbaren Loge, wo von der »Larve« die Rede war, hinter der sich das unerforschliche Schicksal verbirgt: Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner - er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wachset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphynx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit. (H 1/2, S. 270 f.)
Im historischen Lebenslauf des Armenadvokaten erscheint der verstorbene Preußenkönig FRIEDRICH (als die höchste Instanz der preußischen »Leichenlotterie«) als Sachwalter der metaphysischen Werte gegen den zermalmenden Materialismus der auf den Zufall gegründeten Weltordnung. Diese Opposition
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ist aber ihrerseits als Variante des Sais-Mottos formuliert, und der Blick auf die »gestaltlose Ewigkeit« erscheint dabei nur noch als spezifische Perspektive enzyklopädisch-materialistischer Sinnlichkeit: Zwar ist auch dem Preußenkönig »von der Hämlings-Philosophie der gallischen Enzyklopädisten« das verschleierte Bild der Ewigkeit verhängt, nicht aber das der Gottheit selbst. (H 1/2, S. 524) Die nihilistische Erfahrung des Materialismus ist die Voraussetzung für die Erfahrung der idealen zweiten Welt - für den Preußenkönig ebenso (H 1/2 S. 524) wie für den Romanhelden. Durch die Inszenierung seines eigenen Sterbens erst wird daher Siebenkäs aus der bedrückenden Enge seiner Ehe und der reichsstädtischen Verhältnisse erlöst. Der Siebenkäs ist aus dem Keim von Richters satirischem Versuch Meine lebendige Begrabung (H /2, S. 713-724) hervorgegangen; mit seiner Selbstbefreiung erlöst Siebenkäs jedoch nicht nur sich selbst und seinen Doppelgänger Leibgeber, sondern zugleich erneut den Erzähler aus dem Gefängnis der begrenzten satirischen in die Freiheit der unbegrenzten Romanwelt. Er rettet ihn aus dem Dilemma, das ihn zwischen Darstellung bürgerlich-endlicher Verhältnisse und Anspruch aufs Unermeßliche, wie er sich in der Rede des toten Christus artikuliert, eingezwängt hat. Siebenkäs als fiktiver Verfasser der Teufelspapiere hat vom Erzähler auch die Urheberrechte der Abhandlung »Über das Zahlenlotto« geerbt; dieses satirische Erbe wird zum eigenen Einsatz des Erzählers in die Leichenlotterie. Der erwähnte Ausruf des Erzählers: »Was spielt der Mensch mit der Welt um sich und kleidet sie schnell in die Gespinste seines Innern um!« (H 1/2 S. 108) wird für Siebenkäs auf diese Weise zur Befreiung aus der »Leibeigenschaft des Geistes«. (H 1/2, S. 504) Die Versuche, das Schicksal zu berechnen, münden in den Versuch, den despotischen Verhältnissen der Zeit die »beste Welt innerhalb der Brust« (H 1/2, S. 556) entgegenzustellen. Auch diese erzwungene >Innerlichkeit steht vor dem Horizont des »unaussprechlichen« Schicksals, das sich als Personifikation und Verallgemeinerung der despotischen Lebensverhältnisse offenbart. Dem »zweiten Bändchen« des Siebenkäs stellte JEAN PAUL eine Vorrede vom Verfasser des Hesperus voran, in der dieser beteuert, er kenne den Verfasser der Blumen-, Frucht - und Dornenstücke »von Kindesbeinen an« und zusammen könnten sie sich rühmen, daß sie, »wie Aristoteles von den Freunden fordert, nur eine Seele haben.« (H 1/2, S. 149) Und er kündigt einen weiteren Roman des Verfassers an, den Titan. Hesperus und Titan - die beiden Romane, die den Siebenkäs einrahmen, enthalten zwar ebenfalls Reflexionen des Erzählers über das Lotterieglück: So diskutiert zum Beispiel im dritten Hundposttag des Hesperus die Kaplänin Eylmann mit dem Romanhelden Viktor Ehefragen, wobei Viktor zwei Phasen im Leben des Mannes unterscheidet: die eine, in der der Mann auf »eine ausgemachte Quinterne«, also »den höchsten Gewinnst aus dem Ehelotto« dringt (H I/l, S. 530), und
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eine zweite, in der er dann feststellt, daß die weibliche Quinterne nur so viel wert ist, wie der männliche Einsatz. Und im Titan heißt es von Albano, dem dortigen Helden, daß er »von den fünf Treffern der menschlichen Erb-Liebe nur einen, den Vater (keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester und kein Kind) gewonnen« habe. (H 1/3, S. 597) Aber der hohe Tonfall der beiden Romane läßt die spielerische Berechnung aufs Unberechenbare im Familienleben zurücktreten hinter die Berechnung höherer Geheimnisse, die das Schicksal der Romanfiguren mit geheimen Umsturzplänen und Staatsintrigen verknüpfen. Die Schicksalsrechnung Viktors und Albanos setzt nicht auf das Glücksspiel der armen Leute. In ihren Schicksalssphären kommen daher auch Metaphern zur Geltung, die das Unbegreifliche auf sublimere Weise verkörpern.
4. Physiognomische und moralische Welt im >Hesperus< 4.1. Maßstäbe physiognomischen Erzählens 4.1.1. Physiognomische und linguistische Zeichnung Am 3. März 1797 erteilt JOHANN CASPAR LA VATER dem Maler PFENNINGER den Auftrag, die Physiognomie des berühmten //espe/us-Verfassers abzuschattieren: Zeichnen Sie mir Ihn im Profile. [...] Ich möchte ganz mathematisch genau die Form und die Zurücklage der Stirn haben - besonders den Umriß des obern Augenlids - Hier liegt der Hesperus - dann die Mittellinie des Mundes - mit der Höhle der Unterlippe, wo die Humoristik ihr Rosenbette hat. Messen Sie mir genau [...] die Länge der Perpendikularlinie vom Äug zur Lippe - und wie eft die Profilbreite des Mundes sich bis oben an das Äug umschlagen läßt [...]. (SW, HI/2, S. 504).
In JEAN PAULS erster Reaktion auf die physiognomistische Abprägung seiner Gesichtszüge herrscht noch der Stolz dessen vor, der sich nun auch physiognomisch vor der Welt erkannt und anerkannt sieht. Aus Hof schreibt er am 24. März an EMANUEL: Lavater hat an mich geschrieben und mir einen Zeichner (Pfenniger) zugeschikt, der mein Gesicht wie ein Manuskript abdrukt und der mich in Leipzig in Kupfer sticht. Ich werde Ihnen einen Wiederschein von meiner blassen Gestalt zusenden: er traf mich ganz. (SW HI/2, S. 313)
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Gegen LAVATER als Person und als Schriftsteller macht er jedoch bereits in einem Brief vom 4. April 1797 an OERTHEL Vorbehalte geltend; mit dem »physiognomischen Genie« des Züricher Predigers, so schreibt er, könne dessen schriftstellerisches Bemühen nicht Schritt halten, und am Briefe LAVATERS sei nichts gut, als was an LA VATERS Schriftstellerei gut sei - eben die physiognomische Betrachtung. (SW /2, S. 317) LA VATERS »Unvermögen in der linguistischen Zeichnung« werde nur durch »linguistische Arabesken« überspielt. In einem Brief an CHARLOTTE VON KALB verschärft JEAN PAUL die Kritik noch weiter, indem er LAVATERS Physiognomik und Physiognomie zwar würdigt, seinen Geist aber - also genau das, was in seiner Physiognomie repräsentiert sein soll - zugleich als schlaff, schwach und sumpfig verspottet. Die wissenschaftliche Geltung der Physiognomik wendet sich gegen ihren Propheten: An Lavater gefall mir nichts als seine Physiognomik und seine Physiognomie, stat einer zu gespanten Phantasie würd1 ich ihm eine zu schlaffe vorwerfen. Schwäche ist die sumpfige Quelle seiner Gebrechen«. (SW /2, S. 322.)
JEAN PAUL stellt die LAVATER-Kritik der Spätaufklärung hintergründig auf den Kopf: Wie er selbst in Erinnerung ruft, war im Rahmen der anthropologischen Konzepte der Spätaufklärung die Leidenschaft fürs Physiognomieren fremder Gesichter und für die Deutung der Lineamente der Natur als ein Symptom des milzsüchtigen Hangs zur Überspannung der Einbildungskraft diagnostiziert worden. JEAN PAUL hingegen diagnostiziert bei LAVATER eine Spannungs-Schwäche der Phantasie, deren Charakter-Zeichnungen nur linguistische Arabesken, also leere rhetorische Figuren sind: Die Sprache LA VATERS hat demnach nicht die Kraft zur Wahrhaftigkeit, die Kraft, den verborgenen Sinn der Lineamente nachzuzeichnen.
4.1.2. Physiogomische Etüden Von Beginn seines Bildungsgangs an hatte RICHTER die Diskussion um die Allbedeutsamkeit der Gesichtszüge verfolgt. In den Exzerpten läßt er dabei kritische und apologetische Stimmen paritätisch zu Wort kommen. Aus der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK exzerpiert er NICOLAIS gnädigen Beitrag Einiges über Lavaters Physiognomie. Dort wird der Vorwurf, die Physiognomik beruhe auf subjektiver Einbildung des Physiognomisten, zurückgewiesen: Physiognomie ist keine eingebildete Wissenschaft. Der gesunde menschliche Verstand empört sich gegen einen Menschen, der im Ernst behaupten könnte, ein starker Mensch
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könne aussehen wie ein schwacher [...] er empört sich gegen einen Menschen, der behaupten könnte: Freud und Traurigkeit, Wollust und Schmerz, Liebe und Haß hätten eben dieselbe, d.i. gar keine Kennzeichen im Äußerlichen des Menschen, und das behauptet der, der die Physiognomik ins Reich der eingebildeten Wissenschaften verbannen will. (Fasz. l a, 6. Band, S. 57.)85
Die Gegenposition zu dieser aufklärerischen Naturalisierung des magischen Bedeutungsglaubens findet RICHTER in CRAMERS Klopstock formuliert; dort taucht zudem erneut jener klassische Unausdrückbarkeits-Topos der skeptischen Aufklärung auf, der von den Anhängern des magischen oder des genialischen Bedeutungsglaubens apologetisch zur Grundfigur ihres gemeinsamen Antirationalismus umgedeutet wurde. Deklamation und Physiognomik, also linguistische und ikonische Repräsentation, werden dabei ausdrücklich in einem Atemzug genannt: Deklamation und Physiognomik werden nie eine Wissenschaft werden, wie viele Folianten man darüber auch schreibt. Die einzelnen Bestimmungen sind über dem, was die Sprach1 oder der Griffel ausdrücken kann. (Fasz.la, V.Band, S.19)86
Die Rhetorik der Rede und der Geste wird in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist aus dem Kanon der Wissenschaften verbannt.87 Ebenso wie der Topos der Unsagbarkeit wurde auch die in der Spätaufklärung skeptisch pointierte Schleiermetapher apologetisch gewendet; in den bereits zitierten physiognomischen Bekenntnissen des Staatsrates Sturz, die in BoiES Deutschem Museum erschienen sind und die später von LAVATER in die Fragmente aufgenommen wurden, wird diese Metapher physiognomisch verkörpert: Die neue Wissenschaft vermöge aus dem Faltenwurf und dem Relief des Schleiers unmittelbar auf die innere Natur des betreffenden Menschen zu schließen, behauptet der Staatsrat; auch dieser Beitrag wurde von JEAN PAUL exzerpiert: Ich bin von der Wahrheit der Physiognomik, von der Albedeutsamkeit iedes Zuges unserer Gestalt so lebhaft als Lavater überzeugt. Es ist wahr, daß sich der Umris der
85 86
87
Vgl. ADB 22.2 (1775), S. 318 f. Cramer (1777), S. 107. Müller (1988) weist das Zitat irrtümlich auf S. 132 dieses Buches nach, weil er Richters Punkt 5. (»Bemerkung, wie man einen Schriftsteller kennen lernt«, S. 132 f.) übersehen hat. Richtig bei Schneider (1905) und in den Anmerkungen der Hanser-Ausgabe. Vgl. Bosse ((1978), S. 80-125.
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Seele in den Wölbungen ihres Schleiers bildet, und ihre Bewegungen in den Falten ihres Kleides. (Fasz.la, 7. Band S.92)88
Ausführlich exzerpiert RICHTER schließlich auch LICHTENBERGS polemische Schrift Über Physiognomik, worin ebenfalls das physiognomische Genie in Zürich mit der >linguistischen< Leere seiner Werke kontrastiert wird, lange bevor JEAN PAUL im Brief an CHARLOTTE VON KALB diesen Vorwurf - nun persönlich betroffen - wiederholt. In RICHTERS Lichtenberg- Exzerpt heißt es: O, was wird die Nachwelt sagen, wenn sie von der daunigten, hinbrütenden Wärme des Genies und dem Wort: Es werde, das man von den Schattenrissen dieser Leute so zuverlässig weglas, als hätte es Dieterich dahin gedruckt, nicht eine Spur in den Werken der selben finden wird? Wie wird die lächeln, wenn sie dereinst an die bunten Wortgehäuse, die schönen Nester ausgeflogener Mode, und die Wonungen weggestorbener Verabredung anklopfen, und alles, alles ler finden wird, auch nicht den kleinsten Gedanken, der mit Zuversicht sagen könnte: Herein? (Fasz. Ib [1782] XII, S. 14 f.)8"
Während aber auf den mittleren sozialen Ebenen, auf denen sich die selbsternannten physiognomischen und literarischen Genies bewegen, im günstigsten Falle eine aufgeklärte, desillusionierte Nüchternheit aus der Schwärmerei des Bedeutungsglaubens hervorgeht, sind an der Spitze der Gesellschaft die physiognomischen Winke exekutive Gesten der Macht, die für die Gesellschaft als Ganzes nichts als Unglück bedeuten: Wer schöne Spizbuben, glatte Betrüger, und reizende Waisenschinder sehen will, muß sie nicht gerade immer hinter den Hekken und in den Dorfkerkern finden. Er muß hingehen, wo sie aus Silber speisen, wo sie Gesichtskentnis und Macht über ihre Muskeln haben, wo sie mit einem Achselzukken Familien unglücklich machen, und erliche Namen und Kredit über den Haufen wispern, oder mit affektierter Unschlüssigkeit wegstottern. Die Anlage war da, antwortet alsdann der Physiognom, aber der korruptible Mensch hat sich selbst verdorben. Die Anlage? wozu? Zu dem, was nachfolgte, oder dem, was nicht nachfolgte? Lerst du weiter nichts, so ist dein Buch des Aufmachens nicht wert. Was der Mensch könnte geworden sein, wil ich nicht wissen. Was hätte nicht jeder werden können? Sondern ich wil wissen, was er ist«. (Ebd. S. 38 f.)90
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89 90
Aus: Des Herrn Etatsraths Surz Erklärung über die Physiognomie, mit Anmerkungen von Johann Caspar Lavater. In DM 1. (1777), S. 399-408. Vgl. Lichtenberg, Bd. III, S. 261 f. Ebd. S. 38 f. Vgl. Lichtenberg, Bd. III, S. 271.
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Ebenso ausführlich wie LICHTENBERGS heftige Attacke gegen die Physiognomie und die Physiognomisten exzerpiert RICHTER andererseits aber auch LAVATERS Entgegnung auf die Kritik LICHTENBERGS im Deutschen Museum. Ich darf mich frei und kühn auf meine eigene Erfahrung berufen. Je mehr sich meine physiognomische Kenntnis erweitert und vervolkomt, desto weiter und kräftiger kann mein Herz lieben. Und wenn ich gleich durch eben diese Kenntnis bisweilen sehr gedrückt worden, so bleibt's dennoch wahr; Einmal, gerade diese Bedrückungen, die gewissen verächtliche Gesichter mir verursachen, machen mir natürlicherweise alles Edle, Liebenswürdige, das so oft aus den menschlichen Gesichtern nur wie Glut aus der Asch' hervorglimt, um so viel theurer, heiliger, reizender; ich trage mehr Sorgen zu dem wenigen Guten, das ich bemerke; sicher meine Wirksamkeit auf diesen Punkt zu richten, hier Land zu bauen und zu gewinnen, und wo ich Übergewicht von Gut und Kraft wahrnehme, will auch meine Achtung und Liebe von selbst sich hineinwurzeln und ausbreiten. Und dann - selbst der genaue Anblick derer, die mich drücken, und einige Augenblicke über die Menschheit ergrimmen lassen, macht mich gleich hernach toleranter gegen sie, weil ich es gewußt und die Art von Sinnlichkeit, welche sie zu bekämpfen haben, anschauend erkenne«. (Fasz.la, 7. Band, S. 207 f.)91 Der innere Widerspruch einer unberechenbaren Wissenschaft wird erneut ins Herz als das ineffabile des Individuums verlegt - anlog zur Lotterie- und Schicksais-Berechnung. Die Wissenschaft wird eingebettet in ein allgemeines Zeichensystem von Natur und Geschichte: So enthält die Form iedes Landstrichs, die Gestalt seiner Sandhügel und Felsen mit natürlicher Schrift die Geschichte der Erde; ja ider abgerundete Kiesel, den's Weltmeer auswirft, würde sie einer Seel' erzählen, die so an ihn angekettet wäre, wie die unsrige an unser Gehirn. Also wird ja wohl der innere Mensch auf dem äußern abgedrückt sein? (Ebd. S. 209)92 Darüber hinaus wird - in ausdrücklichem Gegensatz zu LICHTENBERG - der physiognomischen Wissenschaft jener Möglichkeitshorizont eröffnet, der auch bei MusAEUS in den Physiognomischen Reisen aus der Not des Zirkelschlusses führte: »Die Physiognomie lehrt uns nicht nur, was der Mensch ist, sondern auch, was er hätte sein können«. (Ebd. S. 212)93 Die Frage nach der physiognomischen Kompetenz als einer rhetorischen oder wissenschaftlichen Kompetenz, über Unbegreifliches begrifflich zu sprechen, wird also in den Exzerpten von gegensätzlichen Seiten beleuchtet.
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Aus: Johann Caspar Lavaters Anmerkungen zu einer Abhandlung über Physiognomik im Göttingischen Taschenkalender aufs Jahr 1778. DM. l (1778), 292 f. Ebd. S. 295. Ebd. S. 371.
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Das Verhältnis von Rhetorik und Wissenschaft ist dabei der zentrale Punkt, an dem sich die Frage nach Geltung und Vermittelbarkeit physiognomischer Erfahrung entscheidet. Der Möglichkeitshorizont, der später für die Konstitution der Erzählerfigur bestimmend sein wird, ist bereits im Keim angelegt, die gesellschaftskritische Wendung der großen Romane bereits bei LICHTENBERG vorgeprägt. In den Denkübungen und Satiren der Jugend und der HASUS-Zeit formiert sich aus diesen widerstreitenden Lektüreerfahrungen das spätere physiognomische Weltbild JEAN PAULS. Bereits in der frühen Denkübung "Was algemeines über's Physiognomiren übernimmt RICHTER den Topos der Unaussprechlichkeit, der jedoch scheinbar naiv auf die eigene Unzulänglichkeit des Wissenschafts-Anfängers übertragen wird: Die Physiognomie ist ohne Zweifel eines der schwersten Studien. Leicht last sich's wohl a priori davon räsonniren; aber schwer ist's, selbst Erfahrungen anzustellen. Hier komt einem ein Gesicht vor, dort eines, wo man nicht weis, was man aus ihm machen sol, das uns gar nichts sagt; - oder man fühlt wol einen gewissen Haupteindruk: aber's fehlen die Worte dazu. Uns fehlt die Benennung einer ieden Linie, Beugung, Nüanzirung des Gesichts pp. (H II/l, S.43)94
Die Tatsache, daß diese Elemente unaussprechlich sind, soll in LA VATERS neuer Wissenschaft eingeholt werden. RICHTER macht sich damit die rhetorische Replik der neuen Genies zu eigen, die sich als die Avantgarde des Zeitgeistes fühlen und die sich der Zukunft gewiß sind: Wäre die physiognomische Wissenschaft »älter; so würde man mehr Wörter dazu haben, und dan wäre sie überhaupt viel leichter zu vervolkomnen.« (Ebd.) RICHTER plädiert dafür, mehr von den Handlungen aufs Gesicht zu schließen als umgekehrt, aber auch dieses Argument wird sogleich skeptisch entkräftet: »Aber trift's allemal zu? ist's allemal völlig richtig? und seid ihr's gewis, daß euch euer Gedächtnis, euer Gefül nicht betriegt?« (H II/l, S. 45) Das labile Gleichgewicht zwischen Skepsis und Faszination, das in den Exzerpten durch ausgewogene Berücksichtigung von Kritik und Apologie gewahrt wird, kehrt hier in Form eines unablässigen Abwägens ständig sich überbietender Reflexionsfiguren wieder. Unter Punkt XXVUJ. der Übungen im Denken wird die zeitliche Dimension hinzugerechnet und ihre Relevanz für die commerciMm-Diskussion im Bild des Schleiers bekräftigt: Wenn wir aus der äussern Form der Sei' ihre innere Beschaffenheit warsagen, so haben wir blos den gegenwärtigen Zustand derselben, on' ihren vor[her]gehenden und zukünftigen vor Augen. Aber wer ist der große Physiognomist, dem Züge, deren Verbindung
Vgl. F. J. Schneider (1905), S. 160.
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mit dem Vorhergehenden er nicht warnimt, isolirte Züge sogleich die innersten Falten der Sei' entschleiern sollen? (H II/l, S. 86 f.)
Durch die Konstruktion eines Ideal-Physiognomisten, eines, wie RICHTER sagt, großen, universellen Physiognomisten, der die temporäre Kontingenz der Erfahrung aufhebt und synthetisch von den zeitlich getrennten und disparaten Teilen aufs Ganze jenseits der Erfahrung schließt, wird der erkenntnistheoretische Zwiespalt, der an die Schleier-Metapher geknüpft ist, aufgelöst. Doch auch die Möglichkeit solch ensophisch-physiognomischer Kompetenz steht noch unter dem skeptischen Vorbehalt einer zweifelnden Frage. Gleichfalls skeptisch und unsicher abwägend bleibt auch eine physiognomische Erörterung RICHTERS, die sich im Tagebuch seiner Arbeiten findet: Die Physiognomik ist ein par Jarhunderte zu spät oder zu früh gekommen. Das gewönliche Altagsgesicht ist altmodisch. Man hat fremde Farben, fremde Adern, fremde Zäne auf dem Nachttisch; was noch mer ist, man hat ein fremdes Gesicht. Guter Lavater, du hättest warten sollen, bis die alte Mode aufkäme, unverlarvt zu sein. Was helfen mich deine 4 Bände Phfysiognomik] auf dem Redoutensale.- (H II/l, S. 207)
Der empirische Physiognomist sieht sich in die falsche Zeit hineingeboren die höfische Verstellung durchkreuzt ihm seine Interpretation der Lineamente. Wie bei LlCHTENBERG hat hier die Leib/Seele-Diskussion zur theoretischen die historisch-soziale Dimension hinzugewonnen; der rhetorische Mißbrauch der Wissenschaft muß bei der Erörterung der Möglichkeiten dieser Wissenschaft reflektiert werden. Der satirische »Experimentalnihilismus«95 läßt aus der physiognomischen Vorsicht und Unsicherheit der Denkübungen die diabolisch-physiognomische Maßlosigkeit der Teufelspapiere hervorgehen. Zwar prangert der Teufel den Fehler aller Physiognomisten an, der darin bestehe, »die Schlüsse aus dem Umgang ganz mit den Schlüssen aus dem Gesichte zu vermengen« und den Physiognomierten etwas »anzusehen, was sie vorher auf eine viel gewissere Weise schon wüsten« (H II/2, S. 305), aber zugleich maßt er sich auch eine physiognomische Kompetenz an, die sterblichen Physiognomisten verwehrt bleibt: Sein Umgang sind bekanntlich >tote Seelen< - und aus deren caput mortuum liest er ihre Seelen und berechnet ihr Schicksal, so wie er umgekehrt in die Schädel der Toten das Wissen um die vorbestimmte Verdammnis hineinliest: Es ist ein Jammer, daß ich die vielen Hypothesen schwerlich erleben und durchsehen kann, welche der bessere Theil der Gelehrten über meinen Erfahrungssatz ersinnen
Vgl. Schmidt-Biggemann (1975), S. 23.
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wird, daß sich auch die festen Theile des Gesichts - denn bisher bemerkte mans nur an den weichen - nach den Verwandlungen der Seele modeln, und daß die Seele das phisiognomische Gebäude abbricht, um sich geräumiger anzubauen [...] (H II/2, S. 307 f.)
Was er den sterblichen Physiognomisten vorwirft, die zirkuläre Argumentationsstruktur, nimmt der Teufel wie selbstverständlich für sein diabolisches Handwerk in Anspruch. Der Teufel ist das rhetorische Universalgenie der physiognomischen Sprache. Das satirische Zerrbild, das sich hinter der physiognomisch-diabolischen Allmachtsphantasie verbirgt, ist in der Satirenzeit erneut das der literarischen Rezensenten; in den Grönländischen Prozessen heißt es von diesen: Denn wie manche das Herz auf dem Gesichte sehen, und auf der Stirae den abbrevirten, durch die Hand der Natur aufgedrükten Galgen lesen können, den die Hand des Henkers noch nicht aufgedrükt, so können scharfsichtige Rezensenten aus der Stirne eines Buchs seinen innern Werth wahrsagen, und die Höhe des Baums an iedem seiner Schatten abmessen. (H II/l, S. 417)
Der Rezensent ist ein rhetorisch-chiromantischer Hochstapler wie der Teufel ein physiognomischer und der Beutelschneider ein magischer. Die Geistesverwandtschaft dieser hochstaplerischen Trinität zeigt sich darin, »daß der Rezensent wie der Zigeuner, seine Wahrsagungsgabe ausser den Anekdoten auch durch Chiromantie unterstützen könne«. (Ebd. S. 513) Wie im Falle der Alchemic und der Lotterie erscheint der Rezensent im Licht der diabolischen Satiren als ein Sachwalter hermetischer Zeichendeutungskunst, seine Allmachtsgebärde wird als rhetorisches Beschwörungszeremoniell entlarvt.96
4.2. Innerer und äußerer Mensch im Roman Für den Erzähler JEAN PAUL ist der skeptische Vorbehalt gegenüber jeder Form universeller Deutungskompetenz zur Bedingung der Möglichkeit des Erzählens geworden. Die Verläßlichkeit der Physiognomik gilt für ihn gleichfalls nur eingeschränkt; unter seinen Figuren vermacht er allein den humoristischen Erben des HASUS die diabolisch-rhetorische Allmachtsgebärde; in der
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Müller (1983) spart die Physiognomie-^rift'Ä: der Spätaufklärung bei seiner Einflußforschung aus und reduziert damit JEAN PAULS Rezeption des Phänomens um seine wesentliche Dimension. Als »verbürgter Irrationalismus« (ebd. S. 166) könnte die Physiognomie die kritische Rolle, die JEAN PAUL ihr überträgt, niemals spielen. Vgl. hierzu Gray (1992).
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Unsichtbaren Loge stilisiert sich der Pestillenziar Fenk zum universellen Lavater der Gegenstandswelt, indem er behauptet, auch Krüge sowie Kaffee-, Schokolade- und Teekannen hätten Physiognomien, die er zu deuten vermöge. (HI/1,S.392) 97 Der Doktor wird aber auch seinerseits physiognomisiert, zunächst jedoch nicht vom Erzähler selbst, sondern von einer seiner Romanfiguren, nämlich von Gustavs Mutter, die in einem Brief schreibt: Er sieht übel aus; er sagt selber, sein breites Kinn stülpe sich wie ein Biberschwanz empor und der Bader rasier' ihm im Grunde die halbe Wüste gratis, so viel wie zwei Barte - seine Lippen sind bis zu den Stockzähnen aufgeschnitten, und seine kleinen Augen funkeln den ganzen Tag. (H I/l, S. 39 f.)
Aber diese Zeichnung, so betont der Erzähler, betreffe nur »den äußeren Menschen des Doktors, der wie viele indische Bäume unter äußern Stacheln und dornigem Laub die weiche kostbare Frucht des menschenfreundlichsten Herzens versteckte.« (H U l, S. 40) Erneut also wird das ineffabile des Herzens als Garant für die physiognomische Sonderstellung des Erzählers benannt. Er versichert, die Schrift der Lineamente auf den Gesichtern der Romanfiguren lesen zu können, um den »unaussprechlich-holden Buchstaben verblichenen Schmerzes« auf Beatas Gesicht geschrieben zu sehen (H I/l, S. 383), um zu beobachten, wie in Lenettes Gesicht »doppelte Frage- und Ausrufzeichen« umherstehen (H 1/2, S. 160), und um in dem Gesicht Gustavs nachzuforschen, ob darauf »Wohlwollen« oder »Welt« geschrieben stehe (H I/l, S. 247). Aber wie in LlCHTENBERGS Aufsatz prognostiziert: Die höfische Welt verdirbt die physiognomische Aufrichtigkeit und macht dem Erzähler seine Lektüre sauer: Der Professor riet noch meinem Gustav, sein Gesicht zu formen, Tugend auf demselben zu silhouettieren, es vor dem Spiegel auszuplätten und es mit kleinen heftigen Regungen zu zerknüllen. (H I/l, S. 178)
Die nach dem Muster der Rhetorik zur höfischen Intrige aufbereitete Physiognomie gefährdet die private, pädagogische Kompetenz des Informators - und damit zugleich auch die öffentlich auktoriale des Erzählers. Die physiognomische Verführungskunst triumphiert schließlich in Gustavs >FallSchutzgeist< seines Helden anzurufen, der den »traurigen Vorhang um seinen Fall« zu ziehen angewiesen wird. (H I/1, S. 348) Vorhang und Schleier sind zugleich Metaphern physiognomischer Inkommensurabilität und empfindsam rhetorisches Ornat; so auch im Hesperus: Der »Vorhang vor Viktors Seele« wird auseinandergeschlagen, und mit Rührung zieht der Erzähler »von Viktors entzweigedrücktem unkenntlichen Angesicht den Schleier weg, der seine Schmerzen bedeckt.« (H I/l, S. 884) Die damit angesprochene Sakralisierung des Inneren spiegelt sich in der Metaphorik, die vom »Tempel seines Herzens« (H I/l, S. 788) und von dessen »Allerheiligste[m]« (H I/l, S. 848) spricht. Ausdrücklich wird die Metaphorik als die angemessenste linguistische Form der Offenbarung dieser Bereiche beschrieben: - Unsere innern Zustände können wir nicht philosophischer und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d.h. durch die Farben verwandter Zustände. Die engen Injurianten der Metaphern, die uns statt des Pinsels lieber die Reißkohle gäben, schreiben der Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu; sie solltens aber bloß ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben. (H I/l, S. 590)
Aber diese Metaphorik wird poetisch, nicht rhetorisch sanktioniert. Den leeren linguistischen Arabesken LA VATERS steht eine poetische Wahrhaftigkeit bei JEAN PAUL gegenüber, die auf den Prinzipien der Analogie beruht. Im Hesperus hat JEAN PAUL dies zur notwendigen Bedingung des Erzählens stilisiert, indem er dem Erzähler nur postalische Mitteilungen aus dem Leben der Figuren zur Verfügung stellt. Auch dort gilt: Die beschränkte Lebens- und Erzählzeit JEAN PAULS und seiner Erzählerinstanz »Jean Paul« verbindet die Welterfahrung des Autors mit der des Erzählers. So wie JEAN PAUL geschrieben hatte, man habe »ohnehin keine Zeit, 3 Seiten vom Buch der Natur umzuwenden und ihre sinesischen Charaktere zu lesen; so fällt der lesende Kopf zerstäubt aufs Papier« (SW III/2, S. 84), so enflieht auch dem Erzähler des Hesperus - wie dem der Unsichtbaren Loge - unaufhaltsam die Zeit, in der sich das physiognomische Kreuzworträtsel der Lineamente enträtselt. Dies wird besonders deutlich, wenn - wie mehrfach in diesem Roman - davon die Rede ist, daß sich bestimmte Gedanken in sympathetischer Schrift auf einem Gesicht abzeichnen:
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Der Ensoph zwischen den Welten Bei einem Zusammentreffen solcher Unsterne wurde freilich dem Kammerherrn der Absagebrief, der anfangs mit sympathetischer Dinte auf Jenners Gesicht geschrieben war, allmählich immer leserlicher - doch las er ihn wöchentlich etliche Male durch, um recht zu lesen [...]. (H I/l, S. 518)
Damit verbindet sich die Physiognomik wieder mit den Taschenspielerkünsten aus WiEGLEBS Natürlicher Magie, in deren einzelnen Bänden teilweise bis zu 20 verschiedene Rezepte zur Herstellung sympathetischer Tinten aufgeführt werden. In einem Brief an den Verleger MATZDORFF (vom 5. Juni 1793) spricht JEAN PAUL selbst davon, daß in dem entstehenden Roman »alle noch verborgenen Geheimnisse mit sympathetischer Tinte geschrieben sind«. (SW IU/1, S. 384) Die Physiognomie des Romans insgesamt soll sich von selbst in den Ereignissen offenbaren. Wie dies geschieht und welche Metaphern diese sympathetische Schrift an den Tag bringt, soll nun am Beispiel der Schilderung der vier Maienthaler Pfingsttage aus dem Hesperus analysiert werden.
4.3. Der wahrhaftige physiognomische Erzähler im >Hesperus< 4.3.1. Der exterritoriale Physiognomist Im Roman Hesperus hat der »Berg-Hauptmann Jean Paul« die Erzähler-Loge gegen das Refugium auf der St.Johannis-Insel eingetauscht, »die [...] in den ostindischen Gewässern liegt, die ganz vom Fürstentum Scheerau umgeben sind« (H I/l, S. 506). Der externe Auenthaler Standort des Erzählers der Unsichtbare Loge ist in Hinblick auf den Romanerstling zum internen Standort geworden; der Erzähler zieht aus der Sichtbarmachung des ersten Romans den Gewinn, mit der »Lebensbeschreibung einer ungenannten Familiengeschichte« beauftragt zu werden, zu deren Handlungszentren im Fürstentum Flachsfingen sich sein Standort nun jedoch abermals exzentrisch verhält. Die Realien zu dieser Geschichte werden ihm von einem Spitz »frei« auf die Insel zugetragen, seine auktoriale Real- und Deutungs-Kompetenz wird vom Informationsgehalt der Hundpost limitiert. Sowenig die Unsichtbare Loge die Erwartungen eines Geheimbundromans erfüllt, sowenig erfüllt auch der Hesperus die Erwartungen, die mit der Bezeichnung »Familiengeschichte« evoziert werden. Deutlicher noch als in JEAN PAULS erstem Roman sind die geistlichen, bürgerlichen und adeligen Lebensläufe in geheime Umsturzpläne verwickelt, wodurch die »transzendentalen« Geheimnisse gesetzt sind, die auch dem Erzähler zunächst rätselhaft bleiben und von denen JEAN PAUL sagt, sie enthüllten sich »in sympathetischer Schrift«. Dem jugendlich enthusiastischen Helden Viktor wird der Freund Flamin zur Seite gestellt, aber die eifersüchtige Konkurrenz in der Verehrung
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der idealischen Klotilde bedroht diese Freundschaft, so wie in der Unsichtbaren Loge die Eifersucht die Freundschaft Gustavs zu Amandus bedrohte. Die Erzählerfiktion bewirkt, daß das physiognomische Paradox, das bei MUSAEUS in den Physio gnomischen Reisen als Motor und Konsequenz der satirischen Desillusionierung wirkte, im Hesperus zur Prämisse des physiognomischen Erzählens wird. Denn dem Erzähler bleibt auf seinem - in Bezug auf Flachsfingen - exzentrischen Eiland die unmittelbare physiognomische Anschauung der Figuren verwehrt (nur von Klotilde steht ihm ein Schattenriß aus der Schere des Intriganten Matthieu zur Verfügung, den er - wie der Erzähler der Unsichtbaren Loge das Bildnis Gustavs - immer vor Augen hat; H I/l, S. 541); besonders deutlich wird diese scheinbar paradoxe Prämisse physiognomischen Erzählens in der Figur des »hohen Menschen« Emanuel/Dahore, des morgenländisch-enthusiastischen Lehrers Viktors und Klotildes (diese verehrt ihn unter dem Namen »Emanuel«, jener unter dem Namen »Dahore«). Emanuel wird bei seinem ersten Auftreten nicht so sehr physiognomisiert, als vielmehr als Physiognom ausgezeichnet: So war überall, wie bei mehren Menschen-Magnaten, eine auffallende vorbestimmte Harmonie zwischen der äußeren Natur und seinem Herzen - er fand im Körperlichen leicht die Physiognomie des Geistigen und umgekehrt - er sagte: die Materie ist als Gedanke ebenso edel und geistig als irgendein anderer Gedanke, und wir stellen uns in ihr doch nur die göttlichen Vorstellungen von ihr vor. (H I/1, S. 681)
Diese Philosophie Dahores wird zugleich zur Rechtfertigung des physiognomischen Erzählers;98 nur dadurch erhält er das Recht, Emanuel nach dem Bild eines anderen »Menschen-Magnaten« zu formen, nach dem von KARL PHILIPP MORITZ." Die geistige Verwandtschaft wird von der physiognomischen nur noch bestätigt, und auf der moralischen Höhe Emanuels verliert der physiognomische Zirkel seine logische Schädlichkeit. Dem hohen physiognomischen Sinn Emanuels sind die niedrigen physiognomischen Absichten des Intriganten Matthieu entgegengesetzt, der »keine zweite Welt und keinen dafür organisierten innern Menschen« annimmt. (H I/l, S. 545) Flamin und Viktor, die befreundeten und konkurrierenden Hauptfiguren des Romans, schätzen ihren Gegner Matthieu unterschiedlich ein, 98
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Der von G. OCH hervorgehobene Sachverhalt, daß die Figuren JEAN PAULS mit zunehmender >Höhe< auch ihre (äußere!) physiognomische Spezifität verlieren, ist hierin begründet. Vgl. Och (1985), S. 195. Vgl. H I/l, S. 1232. Dieses Verhältnis wird von Jean Paul auch noch ins reale Leben hinein verlängert, wenn er an C. K. MORITZ in Berlin schreibt, die ihm unbekannte Physiognomie der äußeren Gestalt des verstorbenen K. PH. MORITZ sei ihm durch die der inneren ersetzt. (SW HI/2, S. 104)
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werden aber gemeinsam zum Opfer von dessen materialistisch-physiognomischen Intrigen, die ihn für Viktor ebenso unerträglich machen, wie ihm »La Mettries ekelhaft lachendes Gesicht« in LA VATERS Fragmenten unausstehlich ist. (H I/l, S. 548)'°° Weder Viktor noch Flamin besitzen jedoch die visionäre physiognomische Kompetenz Emanuels, die notwendig "wäre, um der Intrige zu widerstehen. Flamin bezeichnet den indischen Philosophen sogar abschätzig als »Enthusiasten« (H I/l, S. 550), und Viktor bekennt sich zwar zur universellen Physiognomie - er will die Gedanken Gottes »in den Lineamenten der Natur« aufsuchen (H l, S. 582) -, aber das Zerbrechen der Freundschaft wird ausdrücklich als ein physiognomischer Erosionsprozeß geschildert, dem er nicht entgegenzusteuern vermag.
4.3.2. Traditionen physiognomischen Erzählens Im 32. Hundposttag des Hesperus verspricht der Erzähler dem Leser Aufschlüsse zur Physiognomie der beiden gegensätzlichen männlichen Romanhelden. Es ist genau berechnet, daß gerade diesem Kapitel mit dem darin enthaltenen physiognomischen Doppelportrait Viktors und Flamins der Hinweis auf CICEROS rhetorische Lehre von den »vorgefertigten Köpfen« des Erzähleinsatzes vorangestellt ist, soll doch die Physiognomie als eine Wissenschaft der individuellen Bedeutungen gerade die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit menschlicher Köpfe, Gesichtsregungen und Gesten erweisen. Die anti-rhetorische Geste, mit der JEAN PAUL im Brief an CHARLOTTE VON KALB die stilistische Konventionalität von LAVATERS Sprache von seiner physiognomischen Originalität abhebt, findet hier ein erzählerisches Widerlager. Die Romanhandlung des Hesperus steht kurz vor der leuchtenden Kulmination der vier Maienthaler Pfingsttage. Der elysische Ort, wohin sich die von beiden Romanhelden verehrte Romanheldin Klotilde begeben hat, ins »Fräuleinstift«, in dem sie erzogen wurde, und in die Nähe Emanuels, der sie erzog, wird zum Schauplatz des physiognomischen Theaters. An bewährte Traditionen der Erzählkunst anknüpfend, setzt der Erzähler noch einmal neu ein; aber er bricht zugleich mit diesen Traditionen, indem er den vorgefertigten Kopf
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Vgl. die Anmerkung der Herausgeber, H I/1, S. 1275.
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des Neueinsatzes als solchen benennt, das heißt, indem er das Versatzstück als Versatzstück kenntlich macht und neu individualisiert.101 Diese Figur kann auf die Physiognomie-Problematik übertragen werden. Das heißt: Physiognomisches Erzählen kann für JEAN PAUL Individualität nur durch Reflexion jener Traditionen physiognomischen Erzählens gewinnen, die er sich in den Exzerpten einverleibt hatte,102 der Panzer der Rhetorik kann nur rhetorisch gesprengt werden. Aus dem Brief an CHARLOTTE VON KALB geht hervor, daß Jean Paul dem Physiognomisten LA VATER die poetische Kompetenz zu dieser Reflexionsstufe als Schriftsteller später nicht mehr zugestand; das Moment der Schwäche, der Unterspanntheit, das er L,avater vorwerfen wird, ist als ein Defizit an jener reflektierenden und reflexiven Einbildungskraft zu verstehen, durch die der enthusiastische Physiognom Emanuel sich auszeichnet. In rhetorischer Bescheidenheit verzichtet JEAN PAUL gegenüber CHARLOTTE VON KALB auf einen Hinweis, wem sonst er diese physiognomische Erzählkompetenz zutraute. Mit seiner konsequenten Parallelisierung von literaturhistorischen Anspielungen und Anspielungen auf eine imaginäre physiognomische Literaturgeschichte hatte JEAN PAUL im Hesperus den Weg zu einer Neubegründung physiognomischen Erzählens gewiesen - und setzte die Kenntnis davon wohl voraus. Unmittelbar im Anschluß an die Reflexion über die Einzigartigkeit von Erzähl-Köpfen stellt er die Frage nach der Übersetzbarkeit des einzigartigen literarischen Textes. Analog ist hier die Frage nach der Übersetzbarkeit des im Buch der Natur von göttlicher Hand gesetzten Textes in die natürliche Sprache angesprochen. Der Erzähler selbst bedient sich im Hesperus dieser Analogie, wenn er von einer »Verdolmetschung« von Viktors Seele spricht (H I/1, S. 1232).103 Die Übersetzbarkeit der physiognomischen Zeichen wird vom Verfasser der Physiognomischen Fragmente immer wieder in die rhetorische Figur eines intuitiven Begriffs von etwas
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NORBERT MILLER hat diese Reflexionsfigur zum Einsatzpunkt seiner eigenen Reflexion über die Rolle des empfindsamen Erzählers gemacht und dabei die der Figur zugrundeliegenden literarisch-rhetorischen Traditionen und deren Konsequenzen nachgewiesen: Die Individualität des Erzähler-Einsatzes gründet auf der Reflexion über die rhetorische Negation der Individualität, so daß in der Folge dieser Neubestimmung Reflexion selbst zur Bedingung von Subjektivität wird. Vgl. Miller (1968), S. 16 ff. Der Aspekt physiognomischen Erzählens, also die Ausdrucksseite des physiognomischen Paradoxes, wurde in der wissenschaftlichen Literatur gegenüber der Inhaltsseite vernachlässigt. In dieser Hinsicht ist also A. KÄUSERS Einwänden gegen die physiognomische >Einflußforschung< zuzustimmen (Käuser [1989], S. 375). Vgl. hierzu Och (1985), S. 177.
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Unbegreiflichem gefaßt.104 Skeptisch reflektiert der Erzähler »Jean Paul« diesen Gedanken in Hinblick auf die unübersetzbare Individualität seiner »Lebensbeschreibung«: Mich quälet bei meinem ganzen Buche nichts als die Angst, wie es werde übersetzt werden. Diese Angst ist keinem Autor zu verdenken, wenn man sieht, wie die Franzosen die Deutschen und die Deutschen die Alten übersetzen. [...] Aber diesen Anfang heb' ich mir auf für den Vorbericht zu einer Übersetzung«. (H I/1, S. 1006)
Indem er aber in die skeptische Reflexion die Möglichkeit einer Übersetzung doch miteinbezieht, wiederholt der Erzähler zugleich die Reflexionsfigur der Gedanken über die vorgefertigten Köpfe und die von LAVATERS intuitiver Begründung physiognomischen Fremdverstehens. Dessen bedeutungsgläubigem Vertrauen in die Übersetzbarkeit der heteronomen Texte steht jedoch die skeptische Zurückhaltung JEAN PAULS, sein satirisches Erbteil, entgegen: In Anbetracht der »Gaukeley des Schicksals« und der Unberechenbarkeit der Weltereignisse wird nun die Lotterie- und Glücksspielmetapher zum Kontrapunkt der physiognomischen Erzählung.105 Wie im Siebenkäs verbirgt sich aber hinter diesem »Unberechenbaren« nichts anderes als die - physiognomische - Intrige der Hofgesellschaft, verkörpert durch den materialistischen Physiognomisten Matthieu. JEAN PAULS Darstellungsmodus bleibt jedoch konsequent: Die despotische Macht wird nicht beim Namen genannt, sondern der Teufel, bei JEAN PAUL stets ein Taschenspieler der Sprache,106 hat seine Hand im Spiel, um die von der Eifersucht gefährdete Freundschaft von Viktor und Flamin vollends entzwei zu schlagen: »so hatte der Teufel immer mehr sein Bestia-Spiel (wo eine Freundschaft der hohe Einsatz war), bis solcher am Hexentage gar gewann«. (H I/l„ S. 1008) Gegen diese Gewinnrechnung wagt der Erzähler den Einsatz der gesamten ihm zur Verfügung stehenden auktorialen Kompetenz, die aber durch ein nachgetragenes »denk'ich« sogleich relativiert wird: »Aber am 4ten Mai soll er alles wieder verlieren, denk' ich«. (Ebd.) Aus seiner satirischen Präexistenz weiß der Erzähler, daß der Teufel selbst in der aussichtslosen Lage, in welche ihn KANTS Vemunftkritik um seine Existenz gebracht hat, noch eine Quaterne aus dem Glücksrad zaubern kann: Die despotische Gewalt behält sich das letzte Wort vor. Die Bilder der Physiognomien Viktors und Flamins, die der
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Vgl. Teil l, Kap. 3. Der metaphorische Bereich >Lotto/Lotterie< bleibt ansonsten im Hesperus auf das bürgerliche Familienleben beschränkt, so wenn der Minister seine Töchter als Lottogewinne anpreist (H I/l, S. 807, S. 808). Vgl. SW HI/1, S. 262 f.
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Erzähler dem Leser vorzeichnet, lassen unter diesen Umständen nur in beschränktem Umfang Rückschlüsse auf den weiteren Handlungsverlauf zu. Von Flamin heißt es, er habe eine »große männliche Gestalt«, seine Stirn sei »der Horst des Muts«, seine Augen und seine Lippen seien »von einem denkenden Geiste entzündet«, bloß die Nase sei nicht »fein genug, sondern juristisch oder deutsch gebildet« (H I/l, S. 1009) Erneut wird der Buchstabe in seinem Gesicht gelesen - aber gemessen an einem der vorgefertigen Köpfe der Physiognomie berühmter Juristen und deren allegorischen Urbildern: Die Nase großer Juristen sieht meines Erachtens zuweilen so elend aus wie die Nase der Justiz selber, wenn ihr biegsamer Stoff sich unter zu langen Drehfingern zieht. Nicht zu erklären ists, beiläufig, warum die Gesichter großer Theologen - sie müßten denn noch etwas anderes Großes sein - etwas von der typographischen Pracht der Cansteinischen Bibeln an sich haben«. (H I/l, S. 1009)
Die Tradition physiognomischen Erzählens ist also eine rhetorisch-allegorische (beziehungsweise homiletische) Tradition. Im Gegensatz zur allegorischen Schilderung Flamins unternimmt der Erzähler in der Charakterisierung Viktors, in der bereits der fiktive Experimentalleser Fenk und der reale Experimentalleser CHRISTIAN OTTO ein physiognomisch.es Selbstbildnis »Jean Pauls« beziehungsweise JEAN PAULS vermuteten,107 den Versuch einer individuellen Charakterisierung: Viktors Gesicht habe weder etwas von einem Juristen, noch von einem Theologen, den beiden klassischen physiognomischen Archetypen; Nase und Lippen bilden ein »Ordenszeichen«, das »oft satirische Leute tragen« (ebd.),108 seine Stirn ist der Ort einer sokratischen Seele, die somit ausdrücklich in die antirhetorische Tradition eingeschrieben ist. Die physiognomische Charakteristik bleibt jedoch unvollständig, denn die inneren Vermögen bleiben hinter den Lineamenten verborgen. Von Viktors Phantasie heißt es: »- seine Phantasie, dieser große Gewinn, hatte wie mehrmals gar keine Lotteriedevise auf seinem Gesicht;« (H I/1, S. 1010) Das heißt: Sowenig wie ein »vorgefertigter Kopf« der rhetorischen Tradition, sowenig ist auch die Beschreibung von Viktors Physiognomie mit den allegorischen Versatzstücken der physiognomischen Rhetorik beschreibbar. Die Insuffizienz der Rhetorik in der physiognomischen Beschreibung hatte Viktor zuvor am eigenen Leib erfahren: Einen Monat zuvor, am ersten April,
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Vgl. H I/l, S. 1218 (für ».Jean Paul«) und SW HI/2, S. 16 f (für JEAN PAUL). Nur die >höheren Menschen< erkennen sich untereinander an solchen >Ordenszeichen< so heißt es auch von Gustavs Hang zu einer >gewissen Verlegenheit^ er trage sie als >Ordenskreuz eines Ordensbruders< auf der Stirn. (H I/l, S. 65 f.)
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hatte er in seiner »Leichenrede auf sich selber« seinen eigenen Körper (in Gestalt einer Wachsfigur) zum Gegenstand physiognomischer Betrachtung gemacht - seine Seele, die aus ihrem Körper »wie aus ihrem Hut-Futteral ausgepackt« vorgestellt wird, ließ er sich damals die Frage stellen: »wo ist seinesgleichen in der gemeinen Chemie - in der Physiognomik und Physiognomie - in den neuern Sprachen - in der Bänderlehre, aus der er eine Liebe für alle Arten von Bändern schöpfte?« (H I/l, S. 937) Die Wachsfigur seines Körpers ist dabei verschleiert und wird mit rhetorisch-satirischem Pomp enthüllt. Aber Viktors durch Rührung überwältigte Reaktion auf das Heben des Leichenschleiers überwindet die rhetorische Illusion; die Phantasie, die ihm das eigene Ende vormalt, sprengt den Panzer der Rhetorik: Starr, sprachlos, ergriffen, erbebend sah Viktor auf das enthüllte Gesicht, das auch lebendig um seine Seele hing; aber endlich ergossen sich Tränen über seine kalten Wangen, und er sprach leiser, wie wenn sich sein Herz auflöste [...]. (H I/l, S. 939)
4.3.3. Physiognomische Ternen, Quaternen und Auszüge Die physiognomischen Experimente, die der Erzähler in den folgenden Kapiteln durchführt, sind Permutationsexperimente mit drei physiognomischen Losen. Das dritte Los im Spiel, das der Romanheldin Klotilde, wurde bereits im 4. Hundposttag linguistisch physiognomisiert. Der Intrigant Matthieu (von dessen Physiognomie der Erzähler »nur eine verwischte Kreidezeichnung« im Kopf hat; H I/l, S. 540) hatte dort Klotildes Physiognomie im Schattenriß festgehalten, und der Spitz mit der Hundpost hatte den Riß dem Erzähler auf die St.Johannis-Insel gebracht: Hier liegt auf dem schneeweißen Grund von Schweizerpapier eben die Silhouette neben mir, die Matthieu von ihr [Klotilde. Anm. J.P.] mit der Schere genommen. Mein Korrespondent will haben, ich soll Klotilden ungemein schön vorschildern (er sagt, hundert Dinge sind sonst in dieser Historic nicht zu begreifen), und deswegen schickte er mir (weil er meiner Phantasie nicht trauet) wenigstens ihren Schattenriß. (H L·!, S. 541)
Die Phantasie des Erzählers läßt sich jedoch durch diese Vorsichtsmaßnahme des Korrespondenten nicht einschränken, sondern bringt ihre Fähigkeit zum physiognomischen Vergleich zur Geltung, indem er sich durch Klotildens Schattenriß an »das Fräulein von **, jetzige Hofdame in Scheerau«, erinnert fühlt, also an die Beata der Unsichtbaren Loge, deren Existenz in der raumzeitlichen Realität durch die Asterisken verbürgt wird, da nur raum-zeitliche Individuen des Schutzes der Anonymisierung bedürfen. Die Physiognomien der drei Hauptfiguren legen die Anfangsbedingungen des physiognomischen
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Lotteriespiels fest, aber unter dem Einfluß äußerer Parameter (der Wirklichkeit höfischer Intrigen) überschreitet die physiognomische Rechnung schon bald die Grenze zwischen Komplexität und Chaos: Bereits der erste Pfingsttag wird daher unberechenbar genannt, er erscheint als einer jener Tage, »die in der Litanei vergessen wurden - verdammte, verteufelte, verhenkerte Tage - wo alles gekreuzt geht und in die Quere«. (H I/l, S. 1010 f.): Ein Hippel-Tag, an dem sich die »Welt als Chaos« (P. MICHELSEN), als chaotisch indeterministisches System offenbart. Die Begegnungen Viktors und Flamins werden von Flamins Eifersucht und von Viktors Informationsvorsprung geprägt.109 Die Schleier-Metaphorik, die sich in gegensätzlichen Valenzen bereits durch die Exzerpte, die Übungen und Satiren zur Physiognomik gezogen hatte, wird dabei erneut aufgerufen: Flamins Gesicht ist mit dem »Leichenschleier des Kummers« bedeckt (H I/1, S. 1013). Was aber die Physiognomie verschleiert, das drücken die Handlungen Flamins desto deutlicher aus. Im Garten seines (Pflege-) Vaters, des Hofkaplans Eymann, tritt er das zwar nicht von göttlicher, aber doch von göttlich autorisierter, nämlich theologischer Hand in Kohlrabi-Lettern gesetzte Initial-»F« seines Namens nieder; Viktor als Zuschauer der selbstquälerischen Pantomime wird zum physiognomischen Dolmetscher des Erzählers, der die »stumme Sprache der Trostlosigkeit« in die linguistische Sprache der physiognomischen Erzählung übersetzt: »Ich hasse mein gequältes Ich, und ich möcht' es zermalmen wie meinen Namen hier: für wen soll er?« (H U l, S. 1014)110 Man kann diese wörtliche Gebärden-Übersetzung mit der im ersten Teil vorgestellten aus den Physiognomischen Reisen vergleichen: Bei MUSAEUS wird die Unscharfe der Gebärden-Übersetzung auf der Ebene der Syntax problematisiert: Weil die Sprache der Gebärden und der Physiognomik eine Kurz-Sprache ist, deren konzentrierte Syntax im gleichen Verhältnis zur linguistischen Sprache steht wie die japanische zur deutschen, verzögert der Erzähler zunächst mit einer rhetorischen Sprachgeste die physiognomische
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Viktor weiß, daß Flamin der leibliche Bruder Klotildes ist, aber er ist aus Vorsichtsgründen gebunden, dieses Geheimnis vorläufig für sich zu behalten. Vgl. die spiegelverkehrte Szene in der Unsichtbaren Loge, wo Amandus mit seiner Eifersucht die Freundschaft zu Gustav aufs Spiel setzt. Dort ist es jedoch Gustav, dem der gestische Ausdruck der niedergetretenen Empfindung anvertraut wird: »Gustav zerstampfte auf der Erde seine Liebe und seinen Haß und ging mit erstickten Empfindungen aus dem Hause und am anderen Tage aus Oberscheerau.« (H I/l, S.216) Zum biographischen Hintergrund der Eifersuchtsszenen vgl. Richard Otto Spazier, Jean Paul Friedrich Richter. Ein biographischer Commentar zu dessen Werken. Berlin 2 1835, 3, S. 179, 199 f.
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Offenbarung.111 Für JEAN PAUL und für seinen Helden wird jedoch die psychologische Mutmaßung selbst problematisch; der »Tempel des Herzens« (H I/1, S. 788), das »Allerheiligste« der Subjektivität ist nur bei günstigster Konstellation offenbar; unter den Bedingungen erzwungenen Mißverstehens, wie sie die raum-zeitlichen, despotischen Gewalten den Romanfiguren und ihrem Erzähler aufzwingen, ist es »nichts [...] als ein stummes Dunkel« (H I/l, S. 848). Der physiognomische Versöhnungsversuch Viktors und Flamins wird genau von dieser Unausgewogenheit beeinträchtigt. Flamin dreht »sein zukkendes Angesicht seitwärts nach dem wächsernen Schatten seines Freundes« und sieht »starr, abgekrümmt« zu ihm hinauf (H I/1, S. 1014). In dieser Geste drückt sich das systematische Mißverstehen Flamins aus, welches auf dem Informationsdefizit beruht, das ihn von Viktor trennt. Denn Viktor hütet das Geheimnis von Flamins und Klotildes Blutsverwandtschaft, aber er ist gebunden, vor dem Freund das Geheimnis zu verbergen. Die Versöhnung steht daher unter dem Vorbehalt, den Viktor in dem Satz ausdrückt: »Wie unaussprechlich werden wir uns einmal lieben, wenn mein Vater kömmt«. Lord Horion, Viktors Vater, ist der Sachwalter aller >höheren< Geheimnisse des Romans, auch das Schweigegebot steht und fällt mit seinem Erscheinen. Die Unaussprechlichkeit ist also doppeldeutig: Einerseits bedeutet sie das vom Erzähler psychologisch nachempfundene empfindsame Verstummen, andererseits verweist sie auf das Schweigegebot, auf die geheime Wahrheit der Verwandtschaft, die noch nicht ausgesprochen werden darf, aber in sympathetischer Schrift in die Beschreibung bereits eingewoben ist. Übertragen auf die Deutung der Lineamente (die hier durch das Zertreten der Pflanzen-Initiale nur allegorisiert ist; der physiognomische Buchstabe, der sonst auf die Gesichter geschrieben ist, ist am Boden verkörpert): Der hermeneutische Zirkel der Physiognomie führt unter den Bedingungen der despotischen Einschränkungen nur zum Schein einer Versöhnung. Vollständige physiognomische Offenbarung gelingt nur vor dem potentiell unendlichen Horizont der großen Geheimnisse des Romanhintergrundes. Eine partikulare physiognomische Offenbarung jedoch kann aus Momenten gegenseitiger Offenbarung hervorgehen. In der Begegnung Viktors und Klotildes scheinen sich die Hoffnungen des Erzählers daher vorübergehend zu erfüllen. Das verfehlte Glücksspiel der Erzählung besteht jedoch darin, daß der Erzähler zunächst eine Freuden-Terne - nämlich drei glückliche Pfingsttage - aus der Hundpost zu ziehen hofft (entsprechend berechnet er seinen Zahlen-Vergleich trinomisch)
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Vgl. PRII, S. 91.
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während das reale Schicksal - personifiziert als der Teufel, der den Einsatz hält - um eine Quaterne spielt: Der erste Pfingsttag, lieber Leser, hat in diesem Wonne-Dreiklang verhallt; aber in diesen drei hohen Festen von Freude wird, wie bei denen im Kalender, das zweite noch schöner, und das dritte am schönsten. Ich werden mit dem Steigen meiner Feder durch diese drei Himmel gar nicht eilen -ja wenn ich gewiß wissen könnte, daß die handelnden Personen in dieser Geschichte mein Werk nie zu sehen bekämen, ich würde (zur Grcnzenverrückung dieses Edens) gar manches dazumachen, was, näher besehen, nicht historisch wahr wäre. (H I/l, S. 1044)
Da dann aber der Hund mit der Post einen vierten Pfingsttag anliefert und damit »die trinomische Wurzel der Freudenpotenz zu einer quadrinomischen« ausbreitet (H I/l, S. 1046), muß der Einsatz des Erzählers erhöht werden. Er nennt diesen erhöhten Glücks-Einsatz eine »Freuden-Quadruplik« (ebd.) - und erinnert an das Schicksal Gustavs: [...] so fang' ich freudig die übrigen Bilder dieses Frühlings in meiner dunklen Kammer auf und schwebe nicht in der Angst, daß ich meinen Helden [...], wie etwan meinen Gustav, aus dem zusammengestürzten Schutt seines Lust- und Sommerhauses zu ziehen habe. (Ebd.)
Der Schatten der drei Kreuze des letzen Sektors der Unsichtbaren Loge hatte sich schon zuvor über die Erzählung gelegt: Viktor, der gerade dabei ist, die Unsichtbare Loge zu lesen, hat damit die drohende physiognornische Freundschafts-Verfehlung doppelt zu durchleiden: einerseits in der Lektüre der Gustav-Amandus-Handlung, andererseits leibhaftig als Romanfigur. (H I/l, S. 1026) Dem physiognomischen Mißverstehen Viktors und Flamins steht das physiognornische Verstehen Viktors und Klotildes entgegen. Mit dem Motiv des normalsprachlichen Verstummens geht physiognomisches Aussprechen der geheimen Gefühle einher: - Endlich war die Insel der Seligen, die schon durch den Nebel seiner Kinderträume weit, weit vorgeschimmert hatte, jetzo der Boden unter seinen Füßen, und er machte Entdeckreisen durch seinen Himmel - er und Klotilde schwiegen einige Minuten, weil ihre Herzen sanft vor Freude zu wallen anfingen, daß sie endlich allein nebeneinander und vorder großen Esplanade des Frühlings standen. Unter dem seligen Lächeln, dem stummen Buchstaben der Wonne, und unter zitternden Atemzügen, dieser heiligen Sanskritsprache der Liebe, waren sie schon am ersten Teiche [...]. (H I/l, S. 1052)
Die mit Anklang an HERDER berufene »heilige Sanskritsprache der Liebe« unterscheidet sich von der (allgemeinen) Sprache der Natur; sie ist jene gegenseitige Offenbarung, die dem desinformierten Verstehen der physiogno-
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mischen Zeichen überlegen ist. Damit hat sich die Terne zur Quaterne ergänzt: »Das Dorf oder das Wirtshaus vielmehr gab ihrer Himmelleiter eine vierte Sprosse, den vierten Pfingsttag« (H I/l, S. 1053), den Viktor als »die vierte Saite« auf das »Freuden-Tetrachord« aufzieht. (Ebd.) Und schließlich bringt er die Metapher auf den Punkt - und nennt die Pfingsttage eine »Quaterne schöner Tage« (H I/l, S. 1061). In der Unsichtbaren Loge war es Gustavs »Fall«, seine Verführung durch die rhetorisch-physiognomische Versteilungskunst (die sich den Schein der Unverstelltheit zu geben versteht), die der Teufel gegen die physiognomische Wahrhaftigkeit Gustavs ausspielte. Viktor (von dem es heißt: »er verbarg sich nicht - und wurde doch falsch gesehen«, H I/l, S. 543) gesteht nun seinen ganz ähnlichen Fall Klotilde: sein Billet an die Fürstin.112 Als Leser der Unsichtbaren Loge ist er sich der Gefahr des Geständnisses bewußt, und seine Befürchtungen bei diesem Geständnis verkörpern sich im Vermeiden einer Beobachtung von Klotildes Gesichtsregungen: »Er befürchtete diese Pantomime des Zürnens; und wagt' es nicht, sich davon zu überzeugen durch einen Blick in ihr Angesicht«. (H I/l, S. 1054) Der Erzähler folgt ihm in charakteristischer Verkehrung von subjektiver Empfindung und scheinbar objektivierender Metaphorik und spricht von einer »Sonnenfinsternis der Mienen« (H I/l, S. 1055), die sich auf Klotildes Gesicht abspiele: Kein bestimmter Affekt drückt sich dort aus, sondern die vollständige Verweigerung und konsequente Verschleierung jeden affektiven Ausdrucks; von der Geste der physiognomischen Verweigerung aus gibt es jedoch keinen Rückweg zum naiven physiognomischen Verstehen. Den Ausweg beschreibt auch hier die für JEAN PAUL charakteristische Figur der Auflösung in die transzendentale Gebärde der Unermeßlichkeit.113 Klotildes Angesicht, so erzählt er, sei »erhaben« geworden:114 »Wie eine Verklärte schauete Klotilde in die Sonne, und ihr Angesicht wurde erhaben zugleich von der Sonne und von ihrer Seele«. (H I/l, S. 1058) Mit der transzendentalen Erhabenheits-Gebärde geht nach dem Muster der physiologisch-anthropologischen Ideen der Erfahrungsseelenkunde das Verstummen der Alltags spräche einher: »Mein ganzes Herz ist unaussprech-
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Vgl. Och (1985), S. 103. Vgl. Och (1985), S. 59. Die Verwandlung der Metapher kann als Beispiel für die physiognomische Materialisierung der Metapher bei JEAN PAUL gelten, die KÄUSER beschreibt: »Seine Metaphern bedeuten nichts Verborgenes, sondern etwas Wahrnehmbares, und dieses Etwas ist der >menschliche Körper«, das physiognomische Phänomen, welches so durch Verdoppelung der Immanenz Metaphern materialisiert« (Käuser [1989], S. 265). Zur Physiognomie der Gebärde der »Erhabenheit« vgl. ebd. S. 305.
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lieh gerührt«, bekennt Klotilde, »vergeben Sie ihm, teuerster Freund, heute alles, worin es bisher dem Ihrigen nicht ähnlich war!« (H I/l, S. 1058) Die Übertragung der Kategorie des Erhabenen von der Beschreibung von Gegenständen der äußeren Natur auf die Charakterisierung der inneren und die damit einhergehende rhetorische Geste der ausgesprochenen Sprachlosigkeit115 findet ihre ironische Applikation in der Figur des Erzählers und HundpostExegeten auf der St. Johannis-Insel. Dieser Erzähler (er nennt sich der Illusion gemäß »Autor«) hat zur Feier des Feiertags eine Flasche Burgunder entkorkt und wünscht sich, der Leser täte es ihm nach, um so eine sympathetische Abstimmung der Leser- und der Erzählerseele anzuregen. Die wortreichen Beteuerungen der Unaussprechlichkeit überschlagen sich nun: »Augenblick! der nur in der Ewigkeit wiederholt wird, schimmere nicht zu stark, damit ich es ertragen kann, bewege mein Herz nicht zu sehr, damit es dich beschreiben kann!« (H I/1, S. 1072). Der isolierte, in die Weltgeschichte versprengte Augenblick physiognomischer Harmonie und gegenseitigen Erkennens hat nur in der Ewigkeit einen Referenzpunkt, der seine Realität und Rationalität bestätigt. Die seligen Helden haben gleichfalls keine Worte, »sie schaueten sich sprachlos an in der Verklärung der Nacht«. Von seinem Biographen übernimmt Viktor die Rhetorik: »O! möge das edelste Herz, das ich kenne, so unaussprechlich selig sein wie ich und noch seliger!« (H I/l, S. 1073). Schließlich erhält der Erzähler das ausgesprochene Wort der Unaussprechlichkeit zurück: Da sank unnennbar beglückt und wonneschwer der letzte Mensch dieser Nacht von den fünf Stufen seines himmlischen Bettes durch die Zweig-Vergitterung in das dunkle Blüten-Dickicht hinein. (H I/l, S. 1074)
In diese im Rausch der Unaussprechlichkeits-Rhetorik beschworene Harmonie bricht, druckrhetorisch in einem Asteriskus verkörpert, Flamin, in dessen Leib der Teufel gefahren zu sein scheint, »mit zwei Taschenpistolen in den Händen« (H I/l, S. 1086) herein; mit »sprühenden Blicken, mit schneeweißen Wangen, mit wie Mähnen herunterhangenden Locken, (ebd.) offenbart seine Physiognomie die neu auflodernde, von Matthieu geschürte Glut der Eifersucht. Damit ist die partikulare physiognomische Harmonie durch die Intrige gesprengt, die erhoffte »Quaterne« der vier Pfingsttage ist verspielt und zum »Auszug« geworden. Erst jetzt offenbart sich dem Erzähler (und dieser offenbart es dem Leser), daß der Teufel, den er für den Verlust der Quaterne verantwortlich gemacht hatte, mit der natürlichen Person Matthieus identisch war;
Vgl. Begemann (1984), S. 90.
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neben der physiognomischen Verstellung war es hier vor allem seine Fähigkeit zur Stimm-Imitation, die die Katastrophe förderte. Trost bietet zum Abschluß des vierten Pfmgsttags-Kapitels allein der Blick auf die größten Wunder, die sich der auktorialen Kompetenz des Erzählers und der hermeneutischen Kompetenz der Menschheit entziehen: »Leser! der letzte Augenblick in Maienthal ist der größte - erhebe deine Seele durch Schauder und steige auf Gräber wie auf hohe Gebirge, um hinüberzusehen in die andere Welt!« (H I/l, S. 1088) Die Inkommensurabilität des Einzelbewußtseins bei der Vergleichung der physiognomischen mit der moralischen Welt wird durch die Annahme eines großen, universellen physiognomischen Bewußtseins aufgewogen: »Das Erhabne wohnt nur in den Gedanken, es sei des Ewigen, der sie ausdrückt durch Buchstaben aus Welten, oder des Menschen, der sie nachlieset!« (H I/l, S. 1181) Erneut erhält also das Unerklärliche und Unaussprechliche die Funktion einer ästhetischen Kompensation für die-unaussprechlichen und unantastbaren Fügungen der despotischen Willkür. Viktors Naturell ist vollkommen auf eine Erfüllung dieses kompensatorisehen Bedürfnisses ausgelegt. Nach einem Spaziergang mit Emanuel fühlt er »die Vergrößerung und Verklärung seines Ichs vor einem Geiste, der, ihm ähnlich, aber überlegen, gleich einem sphärischen Hohlspiegel alle Züge seines edlern Teils kolossalisch zurückwarf«. (H I/l, S. 683) Der Erzähler stellt sich die Frage, warum Viktor diese Gedanken »als Schauder in der Seele« blieben - und er gibt selbst die Antwort: Weil Horion [d.i. hier Viktor, Anm. J.P.] etwas Höheres fühlte, als je die Sprache, die nur für die Alltags-Empfindungen erfunden ist, wiedergeben kann - weil er schon in seiner Kindheit die Systeme haßte, die alles Unerklärliche verstecken, und weil der Menschengeist sich im Erklärlichen und Endlichen so erdrückt empfindet, als er es in einem Bergwerk oder durch den Gedanken ist, daß sich irgendwo der Himmelraum zuspunde. (H I/l, S. 686)
4.3.4. Auflösung der physiognomischen und der >höheren< Romangeheimnisse Die Auflösung der physiognomischen und der übrigen Romangeheimnisse trägt diesem Bedürfnis nach Unerklärlichem Rechnung. Zuletzt wird der >exzentrische< Erzähler des Hesperus von der exzentrischen St.Johannis-Insel abberufen und mit einer Bienenkappe-über dem Kopf ins Zentrum des Geschehens gebracht. Erst jetzt wird die Physiognomie des Lords als des Sachwalters der >höheren< Romangeheimnisse, dem Viktor in Anbetracht des erzwungenen physiognomischen Mißverstehens geradezu die Rolle eines
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physiognomischen Messias zugesprochen hatte (»wie unaussprechlich werden wir uns einmal lieben«), linguistisch abgeschattet: Sein heller und fixierter Blick lag wie ein Brennpunkt zündend auf den Menschen sein Gesicht war fein und kalt - auf seiner Stirne stand die lotrechte Sekante als der Taktstrich der Geschäfte, als Ausrufezeichen über die Mühen des Lebens - mit bleichen waagrechten Linien war dieser Taktstrich rastriert, beide Arten von Linien waren gleichsam als Zeichen in die zu hohe Stirn eingeschnitten, wie hoch das Tränenwasser der Trübsal schon an dieser Stirne, an dieser Seele aufgestiegen sei. (H I/l, S. 1220)
Nach der Fiktion des Romans steht diesem linguistischen Schattenriß der Lord leibhaftig Modell, das physiognomische Paradox hat sich aus der Reflexionsfigur herausgelöst. Gerade an der Figur des Lords, der als geheimer Emissär der Revolution unter der nahezu vollständigen physiognomischen Determination hunderter trivialer Geheimbundromane steht, erprobt Jean Paul die linguistische Physiognomik, die mit rhetorischen Mitteln die Rhetorik überwinden will. Die Figur der Aufhebung der Rhetorik durch Rhetorik entspricht genau derjenigen der Aufhebung des Traumes durch einen Traum, die der Erzähler zuletzt personifiziert: Mir, der ich alles dieses bisher nur im Traum der Phantasie gesehen, war jetzo wieder, als zögen Träume heran; und der undurchsichtige Boden wurde ein durchsichtiger voll Duft-Gebilde - und ich sank voll Wehmut auf den Berg .... Ich ging endlich hinab wie in ein gelobtes Land, aber meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenschleier ein. (H I/l, S. 1231)
Wie für Viktor, so gilt auch für JEAN PAUL, daß auf »sonderbare Weise [...] immer gerade sein satirisches Gefühl seinen ernsten Gefühlen, seiner erweichten Seele die Mosis-Decke« abzieht. (H I/l, S. 1051) Dann aber steht der Erzähler dem leibhaftigen »Viktor» gegenüber - und dieser vollzieht die Entschleierung: »- Und mein Viktor riß den Schleier weg und drückte seine warme Seele an meine, und wir schmolzen zu einem glühenden Punkt.« (H I/l, S. 1231) Die Asterisken als die verhüllten natürlichen Namen der Romanfiguren setzen die raum-zeitliche Realität ins Verhältnis zu den Figuren der Phantasie (H I/l, S. 1232), der Verweis auf den »großen Toten« und »berühmten Schriftsteller« KARL PHILIPP MORITZ, den sich der Erzähler hinter Emanuel denkt, ergänzt die Situierung der Romanwelt im Koordinatensystem der räum-zeitlichen Realität. Wie in allen Romanen JEAN PAULS gestaltet sich der Schluß jedoch als das »Entschleiern eines Schleiers«, (H I/ 2, S. 1070) hinter dem nur neue Verschleierungen offenbar werden. So hatte Emanuel im Hesperus gesagt:
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Die Schöpfung hängt als Schleier, der aus Sonnen und Geistern gewebt ist, über dem Unendlichen, und die Ewigkeiten gehen vor dem Schleier vorbei und ziehen ihn nicht weg von dem Glänze, den er verhüllet. (H I/l, S. 891) Das Unerklärliche überragt die natürlichen Auflösungen, der Schleier vor dem Glanz des Unendlichen und die Mosis-Decke vor den erhabenen physiognomischen Zeichen des Gesichts sind aus dem gleichen Stoff.116
5. Zwei Welten in einer Romanwelt 5.1. Neue Synthese des »Gewürkes der Imaginazion« CHRISTOPH MARTIN WIELAND hat in seinem Aufsatz Was ist Wahrheit das folgende Gedankenexperiment angestellt, das RICHTER unter der Überschrift »Wie gering ist unsere Einsicht noch in die Natur !!!« exzerpierte:117 Wenn ein Mann auch noch so alt wäre wie Nestor, und so weise wie siebenmal sieben Weise zusammen, so müßte er doch - eben darum weil er so alt und so weise wäre einsehen gelernt haben: daß man immer weniger von den Dingen begreift, je mehr man davon weiß; - daß gegen eine lichte Stelle, die wir in der unermesslichen Nacht der Natur erblikken, zehen tausend in Dämmerung, und zehnmal zehntausend im Dunklen vor uns liegen; - und daß, wenn wir uns auch von diesem Erdklümpchen, das uns ein ungeheures Weltall scheint, bis zur Sonne aufschwingen und in ihrem Lichte des ganzen Planetensystems mit al seinem Inhalt und Zugehör so deutlich übersehen könnten, wie ein Man von der Spizze einer Terasse seinen Garten überbükt - dies nämliche Planetensystem um abermal nichts mer für uns war als - eine lichte Stelle in der unermesslichen Nacht der Natur. Und wenn dann der weise Man in einer so langen Lehrzeit auch noch gelernt hätte, daß eben diese Unermesslichkeit und Unbegreiflichkeit, die für uns eine Eigenschaft der ganzen Natur ist, sich auch in iedem einzigen Stäubchen wiederfindet;"8 daß in iedem einzelnen Punkt der Natur Stralen aus allen übrigen zusammenlaufen, und wie unbegreiflich all diese Stralen, Beziehungen, Ausund Einflüsse aller Dinge auf iedes, und ieden Dings auf alle einander durchschneidenden und durchkreuzenden - und wie unmöglich es also ist, ein einziges Ding, eine
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Auch später hat JEAN PAUL noch diese Stoffverwandtschaft betont, so in Levana; auch dort werden der »seltsame Isisschleier« und »die Mosesdecke einer Gottheit« als austauschbare Bilder behandelt. (H 1/5, S. 801) C.M. Wieland, Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen; 1. Was ist Wahrheit?, TM (1778), 2. Vj., S. 3-30. Wieland, AA 1/14,5. 186-192. Bei Wieland:»... sich auch in jedem einzelnen Stäubchen der Natur befindet.« (AA 1/14, S. 191)
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einzige Erscheinung, eine einzige Bewegung oder Würkung eines einzigen Theilchens der Natur, recht zu erkennen, ohne zugleich die Natur eben so zu durchschauen, wie der, in dem sie lebt, und webt und ist; - Beim Himmel! ich denke, das müsste den weisen Mann bescheiden gemacht haben. (Jean Pauls Exzerpt: Fasz. la, Exzerpten 5. Band (1779), S. 76 f. vgl. TM 1778, 2. Vj, S. 17 f., AA1/14, S. 191.)
Die Natur als das webende, die Gottheit und alles Lebendige unerforschlich durchwirkende Urphänomen: im Bild vom Schleier zu Sais wurde diese Ansicht in einer der berühmtesten Varianten des Mottos in JOHANN GOTTFRIED HERDERS Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts formuliert, woraus JEAN PAUL ebenfalls exzerpierte.119 Bei HERDER heißt es über die Minerva zu SaisNihilismus< das Glaubensbekenntnis des Wir-Bewußtseins formuliert, dem er als Erzähler gerecht zu werden versucht: Wären wir unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos. Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist, über alle unsre Geschöpfe. So treten wir, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit einer Decke über den Augen. (H 1/5, S. 60)
Auch als Schöpfer seiner Romangeschöpfe delegiert JEAN PAUL die Verantwortung für sein Romanpersonal an höhere Mächte - im Guten und im Bösen. In diesem unausgesprochenen und unberechenbaren Rest der Vergleichsrechnung zwischen physikalischer und moralischer Welt behält die Wirklichkeit in und hinter den Romanwelten JEAN PAULS ihr Recht.
III. Potenzierung und Logarithmisierung der physikalisch-moralischen >Vergleichung
König der Romantik< seine ersten Begegnungen mit dem Zeitgeist erlebte und wo »Magier und Zauberer, geheime mystische Orden, im Finsteren schleichende Mächte [...] ihr rätselvolles Spiel entfalten« konnten. Hier spiegelten sich die Einwirkungen der Freimaurer, der Rosenkreuzer, Goldmacher und Geisterbeschwörer mit ihrer Geheimniskrämerei wider, der Cagliostro, Schröpfer und anderer, die mit kecker Stirn behaupteten, ihre Geheimlehren und Kräfte von den Pyramiden unmittelbar hergeholt zu haben.1
Das Auftauchen dieser Gestalten und Tendenzen in der Geistesgeschichte wird von KÖPKE auf eine Art Überdruß des Zeitgeistes zurückgeführt: Man schien der gepriesenen Aufklärung müde zu sein und den Glauben abgetan zu haben, um sich einem plumpen Aberglauben kopfüber in die Arme zu werfen.2
In dieser - mit dem Ausdruck JEAN PAULS - >Sonnenwende< des Zeitgeistes sieht KÖPKE die romantische Wendung der Geistesgeschichte bereits vorgebildet. Demgegenüber soll nun die These vertreten werden, daß der Überdruß am Zeitgeist, den KÖPKE aus der Distanz eines ganzen Lebensalters diagnostiziert, nicht nur die >gepriesene Aufklärung< betraf, sondern auch deren schwärmerisch-hermetische Gegenströmungen, die von KÖPKE zu unmittelbaren Vorboten der Romantik erklärt werden. Dieses Verschwinden des Schwärmer-Diskurses im >toten Winkel< der Geistesgeschichte, das
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Zitiert nach Günzel (1981), S. 87. Ebd.
Überdruß des Zeitgeistes am Zeitgeist
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Verstummen sowohl der kritischen als auch der apologetischen Stimmen, soll im folgenden nachgewiesen werden.
1.1. Selbstaufhebung des Schwärmers im Frühwerk Ludwig Tiecks 1.1.1. Poetologischer Vorsprung TIECK, Schüler des berühmten Werderschen Gymnasiums in Berlin, tauchte in seiner Jugend tief in die von KÖPKE geschilderte zwielichtige Sphäre des Seltsamen und Abenteuerlichen ein, die sich selbst noch in dieser berühmten Lehranstalt im Herzen des Rationalismus einen Raum schuf: An der Entstehung der Romane seiner Lehrer AUGUST FERDINAND BERNHARDI und FRIEDRICH EBERHARD RAMBACH nahm er regen Anteil, und zu zwei Romanen RAMBACHS schrieb er eigenhändig und eigensinnig die Schlußkapitel. All dies geschah unter dem Regiment des Aufklärers und Publizisten FRIEDRICH GEDICKE, der zusammen mit BIESTER die BERLINISCHE MONATSSCHRIFT herausgab. Doch trotz eines solch einflußreichen aufklärerischen Schutzes ließ sich TlECK durch die Lektüre von GROSSES Sensationsroman Der Genius71 bereitwillig in eine existentielle Krise stürzen, die er in einem Brief an WACKENRODER seinerseits in literarischen Wendungen des Schauerromans geschildert hat. In seinem Aufsatz Über das Erhabene findet sich die poetologische Reflexion zu dieser Erfahrung: Er [der genialische Dichter, Anm. J. P.] muß alle Seelen gleichsam vor uns auf schließen und unsdas ganze verborgene Triebwerk sehen lassen, das dem gewöhnlichen Menschen mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt ist. - Dies eben ist die große Alchymie, durch die der wahre Dichter Alles was er berührt, in Gold verwandelt, wo der gewöhnliche Kopf über Dürftigkeit und schon erschöpften Materien klagt und dies ist das große Geheimnis, durch das der große Dichter so unaussprechlich auf die Seelen wirkt [...]/
In den engen Raum von zwei Sätzen drängt TlECK hier alle Indikatoren zusammen, in denen sich für die vorliegende Untersuchung die »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« anzeigt: Den undurchdringlichen Schleier, der den Normalsterblichen die Natur der Dinge verbirgt, den hermetisch-alchemistischen Anspruch auf Entschleierung und die Unaussprechlichkeit dieser rhetorisch-hermeneutischen Magie. Mit der bereits
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Karl Grosse, Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C.v.G., Halle 1791-94. Tieck, Schriften 1789-1794, S. 639.
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Potenzierung und Logarithmisierung
abgestumpften Waffe der sensualistischen Wirkungsästhetik erkämpft sich TECK gegenüber diesen Ansprüchen und Untersagungen das eigene Recht als Dichter. Im späteren Aufsatz über die Behandlung des Wunderbaren bei SHAKESPEARE wird diese Verschmelzung fortgesetzt und differenziert, wobei das Erhabene jetzt als ästhetisches Leitbild durch das Wunderbare nahezu synonym ersetzt wird:5 Die Kunst des Dichters wird dabei erneut als eine natürliche Magie< beschrieben, als ein öffentliches Geisterbannen und Goldmachen vor dem lesenden Publikum; an die psychologische Theorie der Spätaufklärung vom natürlichen Aberglauben< des Menschen anknüpfend, offenbart TiECK »Aufschlüsse« zu SHAKESPEARES »Magie«.6 Die »Alchemie« des großen Dichters bewährt sich dabei im »magischen Kreis«,7 während die schlechteren Poeten wie falsche Beschwörer wirken, denen »Trotz ihren geheimnisvollen Formeln, Trotz ihren Zirkeln, und ihrem Zauber-Apparatus, kein Geist gehorcht«.8 Der wirkliche Dichter hingegen, so schreibt TffiCK weiter, rücke die Geisterwelt, die sonst von einem »undurchdringlichen Schleier umhüllt [wird], der die Blicke der Sterblichen zurückschreckt«,9 näher an die Körperwelt, so wie er deren Weltbild ins Licht des Traumes rückt.10 Der erwähnte »natürliche Aberglaube« des Volkes wird (von SHAKESPEARE) auf diese Weise »geläutert und veredelt«,'während das »Kindische und Abgeschmackte« davon abgesondert wird, ohne ihm »das Seltsame und Abenteuerliche zu nehmen, ohne welches die Geisterwelt dem gewöhnlichen Leben zu nahe kommen würde«.11 Das »Seltsame und Abenteuerliche« und das »Kindische und Abgeschmackte«: Das sind die Kriterien, die über den Rang der Vermittlung entscheiden, die der Dichter zwischen den beiden Welten stiftet. In den Stichworten vom Schleier, der Transmutation und der Geisterbeschwörung, derer TIECK sich bedient, sind die zwielichtigen Gestalten, von denen KöPKE in seinem historischen Stimmungsbild spricht, noch hintergründig gegenwärtig. Beim Namen genannt aber werden sie nicht mehr, das Wunderbare in der Dichtung ersetzt die »natürliche Magie« der Taschenspieler, SCHRÖPFER wird
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Stahl (1975), interpretiert TlECKS Aufsatz als den Versuch einer Überwindung der psychologisierenden Auffassung des Wunderbaren (S. 211-214), übersieht dabei aber den fortwirkenden erfahrungsseelenkundlichen Hintergrund, der durch diesen Überwindungsversuch durchscheint. Tieck, Schriften, S. 695. Ebd. S. 685 f. Ebd. S. 686. Ebd. S. 689. Ebd. S. 691. Ebd. S. 687.
Überdruß des Zeitgeistes am Zeitgeist
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von SHAKESPEARE abgelöst, was »kindisch und abgeschmackt« wurde, soll wieder »seltsam und abenteuerlich« erscheinen. Die »natürliche Magie« der poetischen Geistererscheinungen wird von TlECK zwar in Hinblick auf das Wunderbare noch immer zugestanden, aber die Rolle des Dichters wächst über die des natürlichen Magiers hinaus.12 Der Zuschauer findet den Geisterglauben der tragischen oder komischen Bühnenfiguren »sehr natürlich«, aber der Dichter »stellt ihn [den Zuschauer, Anm. J.P.] gleichsam über diese Aufklärung, er sieht ihren Unglauben in ihren verschlossenen Augen gegründet«.13 Damit erhalten die Geistererscheinungen »eine Art von allegorischem Sinn«, der von dem sinnbildlichen und personifizierenden »ganz verschieden ist«.14
1.1.2. Selbstaufhebung des Effekts Fast unmerklich beginnt TffiCK in seinen theoretischen Frühschriften damit, von den bis dahin gültigen Prinzipien bei der »Vergleichung zwischen physikalischer und moralischer Welt« abzurücken. TffiCKS erste Versuche in der Dichtung halten mit dieser Tendenz zunächst noch nicht Schritt, die Janusköpfigkeit des alten Zeitgeists ist in ihnen noch stark ausgeprägt: Einerseits stehen sie noch ganz im Bann des übertriebenen Effektes, andererseits verselbständigt sich in ihnen die nicht-physikalische Welt als universell gerechtfertigte Schwärmerei: In einem (bisher unveröffentlichten) DramenFragment mit dem Titel Der Schwärmer15 gestaltet TlECK eine von YOUNG inspirierte Szenerie: Es wird Abend über einem Kirchhof, der Held des Dramas sitzt auf dem frischen Grab seiner Geliebten, und während der Leichenzug den Kirchhof verläßt, bleibt der Verzweifelte allein zurück. In seinem Monolog offenbart er Zweifel an der Wirklichkeit der Sinnenwelt: »Wie ist dies alles wirklich so? Und wach ich?/ Sitz ich denn wirklich hier auf diesem frischen Grabe?« - mit diesen Worten leitet er seine Nacht- und Grabgedanken ein. (V. l f.) Der Tod verspricht ihm Erfüllung seines schwärmerischen Verlangens, dem er in den bekannten paradoxen Figuren der Enthusiasmus-Ästhetik Ausdruck verleiht:
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Ebd. S. 720. Ebd. S. 719. Ebd. S. 717. Im folgenden zitiert nach der Handschrift im Nachlaß des Dichters, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Kapsel l, Heft 2, S. 1-15: Fragment eines Monologs aus dem Schauspiel >Der Schwärmen. Zum Nachlaß vgl. Paulin (l987).
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Potenzierung und Logarithmisierung So nahe Tod! zerreiß den Faden meines Lebens, Daß sich mein Geist auf Sonnenstrahlen schwinge, Das Ungedachte denke, Unempfundnes fühle, Daß ich der Sphären sausend Chor vernehme, Daß ich den ewgen Wirbeltanz der Sonne Um die sich in gemeßnen Kreisen Welten schwingen, Daß ich des Daseins ganzes Reich durchschaue. (V 21-27)
Der Druck der Paradoxien droht ihn zu vernichten, aber in einer psychologisch kaum motivierten Wendung reißt er sieh selbst vom Abgrund zurück: Ha! - in verworrenen Geweben fliegen tausend Gedanken heut durch meine düstre Seele. Wie? Dürfte nicht der Mensch voll Eigenmacht Die Riegel brechen, die ihm die Natur Vor seines Lebens finstern Kerker schob? Darf er die Tür nicht öffnen und mit kekkem Muth Hinüberschauen was dort jenseits sei? (V 76-82)
Dieser Blick wird dann auch in Fortschreibung der Schleier/VorhangMetaphorik als ein Blick hinter den Vorhang mit »ungeblendetem Auge« beschrieben (V. 97 f.): Der schwärmerische Enthusiasmus löst sich damit aus den Fesseln der rhetorischen Beschränkung, allerdings auf Kosten psychologischer Vollständigkeit: Zwischen dem Anspruch auf Denken des Ungedachten und Empfindung des Unempfundenen und dessen dargestellter Realisierung klafft eine Lücke, die durch die Formeln nur rhetorisch überspielt, aber nicht logisch oder psychologisch überbrückt wird. In TIECKS Märchenerzählung Abdullah wird diese entfesselte Rhetorik noch weiter getrieben: In Übereinstimmung mit der neueren Tradition gestaltet TffiCK ein von Widersprüchen und Intrigen hin- und hergetriebenes Leben vor orientalischer Kulisse.16 Dabei beruft sich der Märchenerzähler jedoch immer noch auf die natürlichen Dispositionen des Menschen und seinen Hang zum Wunderbaren, der jedoch »so tief in der Seele des Menschen« liege, »daß keine Aufklärung oder Freigeisterei die Eindrücke schwächen wird, die der große Dichter auf uns macht, wenn er Wesen aus jenen furchtbaren Regionen unserer Phantasie vorführt [...]«." Auf der anderen Seite muß er eingestehen, »daß seit einiger Zeit der Hang zum Wunderbaren von vielen Schriftstellern, der Menge 16
17
Zur Tradition der orientalischen Schauergeschichte, insbesondere zum Einfluß des Vathekvon WILLIAM BECKFORD, vgl. das Nachwort in Tieck, Schriften 1789-1794, S. 992-996 mit den dort angegebenen Literaturhinweisen. Tieck, Schriften 1789-1794, S. 255.
Überdruß des Zeitgeistes am Zeitgeist
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zu gefallen, gemißbraucht« werde.18 Durch die Inflation des Unbeschreiblichen sind auch die rhetorischen Figuren des Unaussprechlichen leer und beliebig geworden, aber dieser Überdruß läßt sich seinerseits nur sprachlich beschwören, das hermetische Paradox zerfließt in unendliche Wiederholung, das >Seltsame und Abenteuerliche ist selbst >kindisch und abgeschmackt geworden: »Es gibt keine Worte, keine Sprache, in der ich alles so lebendig, so lauter hingießen könnte, wie es hier in meinem Herzen strömt und lebt!« bekennt der Held der Erzählung seinem Lehrmeister Omar.19 Das Inkommensurable wird beschrieben in einer neuen Variante des SaisMotivs, die aus dem subtilen Stoff eine solide Mauer macht, die »unübersteiglich« ist, so daß »kein Sterblicher [...] je in das Innere des Heiligtums dringen« kann.20 Dies Bekenntnis findet sich in den Papieren von Omars Gegenspieler Nadir, der Abdallah die Augen öffnet für den wahren, trügerischen Charakter Omars. Die transrationalen Figuren der Schwärmerei beschreibt Nadir als Illusionen seiner eigenen Biographie: Als Jüngling, so berichtet er, schweifte er mit seinen Gedanken »über die Grenze hinaus, die eine gütige und grausame Hand unserem vorwitzigen Geiste gesetzt hat«. Die Folgen dieses Anspruches sind die bekannten: Mein Verstand wollte das Unendliche umspannen und das Undurchdringliche durchdringen [...] ich glaubte nichts, um alles zu glauben. [...] Aberglaube und Nichtglaube berühren sich unmittelbar auf der Grenze, aus einem Feinde der Andacht ward ich ein Schwärmer.21
Einerseits wird also die Schwärmerei als Überspannung der Seele und ihre Ideen als illusionär gekennzeichnet, andererseits bewahrheitet sie sich gegenüber den skeptischen Einwänden der > Aufklärung und Freigeistereitoten Winkel< nachdrücklich gestützt.64
2.5. Approximation an den moralischen Sinn Der Anspruch der Naturmagie, »die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen«, wurde von der Aufklärung auf der Basis anthropologischer Argumente zugleich logisch und moralisch disqualifiziert. Die Aufklärer versuchten zu zeigen, daß der Naturmagier sich zu Unrecht anmaßt, das Unbegreifliche hinter den begreifbaren Formen der Sinnlichkeit fassen zu können. Der Maßstab des moralischen Urteils war der gesunde Menschenverstand, der die Kraft hat, pathologische Ausschweifungen seiner Einbildungskraft zu unterbinden. Mit der durch FiCHTES Reflexionsmodell vermittelten Anerkennung der transrationalen Ansprüche - verstanden als vollkommene Freiheit im Umgang mit den Phänomenen der Sinnenwelt - ebnet NOVALIS auch einer Neubesinnung auf moralische Werte den Weg. Schon in dem Fragment, das die wissenschaftlichen Utopien aufzählte, waren ja der vollkommene Staat, ewiger Friede und Freiheit als Ziele aufgezählt worden, die dem gleichen Verlangen
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Wiegleb (1777), S. 192, S. 368 ff. Ebd. S. 223. Ebd. S. 85. Ebd. S. 232.
Ebd. S. 85. Ebd. S. 338. Ebd. S. 291,5.341. An anderer Stelle wurde bereits auf das Parallelphänomen hingewiesen, daß NOVALIS DIETRICH TEDEMANNS Geist der spekulativen Philosophie als eine »Fundgrube für seine Gedanken über Magie, Kabbala, Theosophie und andere Phänomene der zweiten Mystik« gegen den antispekulativen Geist dieser Schrift auswertete. Vgl. Gaier (1970), S. 109 f.
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Potenzierung und Logarithmisierung
entspringen wie die Darstellung des Steins der Weisen, die Inswerksetzung eines perpetuum mobile oder die Auffindung der mathematischen Prinzipialgleichung. Die Idee eines goldenen Zeitalters ist für NOVALIS der mythische Grundgedanke, in dem die politische Utopie präfiguriert ist.65 Im Allgemeinen Brouillon notiert er in Hinblick auf seine eigene Schrift Glauben und Liebe: Mein Glauben und Liebe beruht auf Repraesentativem Glauben. So die Annahme - der ewige Friede ist schon da - Gott ist unter uns - hier ist Amerika und Nirgends - das goldne Zeitalter ist hier - wir sind Zauberer - wir sind moralisch und so fort. (N , S. 421)
Auch an anderen Stellen wird die moralische Utopie von NOVALIS immer wieder mit den magischen Ansprüchen verknüpft: Wir müssen Magier zu werden suchen, um recht moralisch seyn zu können. Je moralischer, desto harmonischer mit Gott - desto göttlicher - desto verbündeter mit Gott. (N III, S. 250)
Der »Mystizismus der Natur« und die politisch-moralischen höheren Staatsgeheimnisse werden bei NOVALIS in eine Sphäre gerückt, in deren Zentrum die Gestalt der Isis steht: Der Naturstaat ist Res privata (Mystisch) und Res publica zugleich./ Mystizism d[er] Natur. Isis - Jungfrau - Schleyer - Geheimnißvolle Behandlung] der N[atur]W[issenschaft]./ Wissenstrieb - Neugierde - Geheimniß - Unbekanntes. Der Wissenstrieb ist aus Geheimniß und Wissen wunderbar gemischt - oder zusammengesetzt. Mystische Wissenschaften] - Menschen - Dinge - Zeichen - Töne - Gedanken Empfindungen - Zeiten - Figuren - Bewegungen etc. (N III, S. 423)
NOVALIS geht sogar so weit, die Welt aus dem moralischen Sinn deduzieren zu wollen: Ansicht der ganzen Welt durch den Moralsinn - Deduktion des Universums aus der Moral - alle wahre Verbesserungen] sind moralische Verbesserungen, alle wahre Erfindungen - moralische Erfindungen - Fortschritte. (Verdienste des Socrates.) (N , S. 424)
Die Theorien des moralischen Sinns der Aufklärungsphilosophie und des Philosophen HEMSTERHUIS66 werden hier in den Dienst der Ansprüche einer
65 66
Vgl. Mahl (1965), S. 191; kontrovers hierzu Kurzke (1983), S. 191 f., S. 205. Vgl. Allg. Brouillon Nr. 782, N III, S. 420.
»Das Ich hat eine hieroglyphische Kraft«
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transzendentalphilosophisch reflektierten >höheren Naturwissenschaft und ihrer Ansprüche gestellt. In dem bereits zitierten Fragment aus dem Allgemeinen Brouülon hatte NOVALIS in diesem Zusammenhang die »Magie dfer] Einbildungskraft» zur Erklärung der »notwendigen Illusion« des moralischen Urteils herangezogen. »Ein Traum erzieht uns wie in jenem merckwürdigen Mährchen - scientifische Behandlung] d[er] Mährchen - Sie sind in höchstem Grad lehrreich und Ideen voll«. (N III, S. 417) Tatsächlich bleibt damit das Naturalisierungsprinzip der Aufklärung, das NOVALIS in seinen Betrachtungen zur Naturmagie auf der Grundlage des Reflexionsmodells außer Kraft gesetzt hatte, ausgerechnet in dem Bereich am wirksamsten, in dem das Naturalisierungsprinzip am leichtesten außer Kraft setzbar zu sein schien: In der Poetik des Märchens. Gerade dort, wo der Einbildungskraft die größte Freiheit gegenüber der Vernunft zugestanden wird, bleiben Vernunft und moralischer Sinn im Verstand der Aufklärung für NOVALIS am stärksten wirksam. Auch in Hinblick auf die Quellen läßt sich für NOVALIS diese These bestätigen: Während die Naturalisierungsbemühungen der Spätaufklärung im Zusammenhang mit den Phänomenen der >natürlichen Magiehöheren< Mathematik, der Alchemie bei NOVALIS konsequent ignoriert werden und während in der Poetik des Romans - im Postiven und Negativen stets auf GOETHES Wilhelm Meister fixiert - der »künstlerische Atheismus« (N III, S. 639) bei der Behandlung des Wunderbaren überwunden werden soll, scheut sich NOVALIS nicht, diese physikalischchemische und poetologische Naturalisierung im Kontext der Märchenpoetik anzuerkennen: Auf WIELANDS »merckwürdiges« Märchen wird nicht nur hier angespielt. Unter der Rubrik ROMANT[IK] ETC. heißt es im Allgemeinen Brouillon: Märchen. Nessir und Zulima. Romantisirung der Mine. Novellen. Tausend und Eine Nacht. Dschinnistan. La Belle et la Bete. Musaeus Volksmärchen. Romantischer Geist der neuem Romane. Meister. Werther. Griechische Volksmährchen. Indische Märchen. Neue, originelle Märchen. In einem ächten Märchen muß alles wunderbar - geheimnißvoll und unzusammenhängend seyn - alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt seyn. Die Zeit der allg[emeinen] Anarchie - Gesetzlosigkeit - Freyheit - der Naturstand der Natur die Zeit vor der Welt (Staat.) Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt - wie der Naturstand ein sonderbares Bild des ewigen Reiches ist. Die Welt des Märchens ist die durchausentgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte) - und eben darum ihr so durchaus ähnlich - wie das Chaos der vollendeten Schöpfung. (Über die Idylle) In der künftigen Welt ist alles, wie in der ehmaligen Welt - und doch alles ganz Anders. Die künftige Welt ist das Vernünftige Chaos - das Chaos, das sich selbst durchdrang in sich und außer sich ist - Chaos2 oder ».
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Potenzierung und Logarithmisierung Das ächte Märchen muß zugleich Prophetische Darstellung - idealische Darstellung] - abs[olut] nothwendige Darstellung] seyn. Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. (N III, S. 280 f.)
Die Reflexionsfigur erscheint auch hier wieder als historische Klammer, wodurch die Vorzeit in der Zukunft wiederkehrt und >potenziert< wird. »Die Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« gelingt in der Poetik des Märchens. Dabei wurde vor allem das Märchen GOETHES, das nachhaltig auf NOVALIS wirkte, als Vorbild für die romantische Poetik hervorgehoben, denn dort werden die rätselhaften Erscheinungen und Symbole weder innerhalb noch außerhalb der Märchenwelt aufgelöst. Aber die Idee, ein Märchen zu erzählen, entstammt auch bei GOETHE einem rationalen Diskurs über die Natürlichkeit übersinnlicher Phänomene. Erst nachdem man im Nachdenken über den Zusammenhang der natürlichen Dinge mit einer übersinnlichen Einheit »der Einbildungskraft vollkommen freien Lauf« gelassen hat, indem man also diesen Diskurs in Hinblick auf die natürliche Welt abgehakt hat, entwickelt die Einbildungskraft ihr künstlerisches Spiel. Ein moralischer Anspruch wird nicht mehr erhoben, die Vermischung von märchenhaften und realistischen Erzählelementen wird verworfen: Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will, Die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen; verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt.67
Auch hier also wird die Musik als Ausdrucksorgan des Unaussprechlichen herangezogen. Wie in der Musik soll das Wunderbare unvermischt aus der Sprache hervorgehen. GOETHE läßt jedoch den »Vetter Karl«, der hier seiner poetologisehen Reflexion freien Lauf läßt, nicht zu Ende sprechen. Der Alte, der aufgefordert wurde, ein Märchen zu erzählen, unterbricht ihn, so wie GOETHE selbst später das Gespräch auf eine andere Bahn lenkte, sobald es auf mögliche Interpretationen des Märchens hinauslief. Der Alte weist auf das Überflüssige solcher Ausführungen hin, auf die »Umständlichkeit«, in den Text in zweiter Lesung hineinzulegen, was er in erster schon enthält:
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Goethe, Hamburger Ausgabe, Bd. 6, S. 208 f.
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Fahren Sie nicht fort, [...] Ihre Anforderungen an ein Produkt der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen; denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß erwarten, was ihr geschenkt wird. Sie macht auch keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden. [...] Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.68
Das »offenbare Geheimnis« wird bei GOETHE als das wichtigste der Geheimnisse begriffen: »Gewissen Geheimnissen, auch wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen«,69 heißt es im Wilhelm Meister. GOETHES Version des Sais-Mottos, die hierin anklingt, schränkt die Macht der Vernunft und der Einbildungskraft unter dem Gesichtspunkt der Maßbestimmung ein: Der Mensch mit seinen beschränkten sinnlichen und logischen Vermögen muß die Harmonie von offenbaren und geheimen Zeichen anerkennen. Das Märchen bleibt als quasi-musikalischer Ausdruck inkommensurabel. In Hinblick auf das Unaussprechliche, das darin erzählt wird, konnte NOVALIS GOETHES Märchen daher eine »erzählte Oper« nennen. (N II, S. 535)70
2.6. Die Vorzeit in esoterischer und romantischer Perspektive In den enzyklopädischen Fragmenten zum Thema Magie, Geisterlehre etc. versuchte NOVALIS, die transrationalen Ansprüche hermetischen Denkens als vorzeitige Ahnungen einer transzendentalen Reflexionsfigur zu rehabilitieren. Das Motiv vom Schleier zu Sais, in dem die Apologeten der >höheren Naturwissenschaft ihren exklusiven Anspruch auf Erkenntnis der inneren Naturkräfte bildlich formulierten, wird für NOVALIS dabei zu einem Brennpunkt, in dem sich die beiden Zugänge zur Erkenntnis - der bildliche und der begriffliche - fokussieren lassen. Bereits vor seiner eigentlichen Hinwendung zur Reflexionsphilosophie taucht es in einem frühen Fragment aus dem Jahr 1791 auf:
Ebd. Bd. 6, S. 209. Ebd. Bd. 8, S. 150 f. In Kontrast zu diesem Einfluß von GOETHES Märchen soll an anderer Stelle (im Kapitel 4.2.2. dieses Teils der vorl. Arbeit) noch NOVALIS' Hinweis auf das »scientifische Märchen«, nachgegangen werden. (Vgl. NIII, S. 989 ff.)
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Potenzierung und Logarithmisierung Sanft und groß ist der Vorzeit Gang. Ein heiliger Schleier deckt sie für den Ungeweihten aber dessen Seele das Schicksal aus dem sanften Rieseln des Quell schuf, sieht sie in göttlicher Schöne mit dem magischen Spiegel. (N II, S. 25)
Wie in vielen Äußerungen seiner Zeitgenossen wird auch für NOVALIS das Verschleierungsmotiv hier zunächst noch mit der Unterscheidung zwischen exoterischer und esoterischer, eingeweihter und uneingeweihter Perspektive identifiziert. Aber diese Unterscheidung löst sich bereits ab von der konkreten Frage nach der Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Geheimbund, der den exklusiven Anspruch auf die esoterische Sicht erhebt: Auch der sintflutartig die Schriften- und Bücherwelt überschwemmenden Streitereien um Inhalt, Form und Substanz des Freimaurergeheimnisses ist NOVALIS überdrüssig, einzig die satirische Darstellung erschien ihm einmal dieser Frage angemessen: Nach den Vorstudien zu einem »burlesk-komischen Gedicht«, das den Titel Die Sündflut h tragen sollte, sollten »Freymaurer« ebenso wie eifernde »Nicolais« und »Jesuitenjäger« als umherschwärmende Zeitgeister »travestiert« werden. (N I, S. 585) Statt für die hier skizzierte burlesk-satirische Umkleidung der Schwärmerei-Kritik der Aufklärung in Philisterei (wie sie später BRENTANO realisierte) entschied sich NOVALIS jedoch zunächst für die Romantisierung des Zeitgeistes. Schon in dem zitierten frühen Fragment wird der maurerische Gemeinsinn, der die Eingeweihten zusammenschließt, im »magischen Spiegel« des individuellen Bewußtseins gebündelt, in der »Seele«, die das »Schicksal aus dem sanften Rieseln des Quell schuf«. Die »natürliche Magie« dieser Reflexion bringt den »heiligen Schleier« zum Verschwinden, und auch hierin spiegelt sich noch der Geist der natürlichen Magie< der Spätaufklärung, worin zahlreiche Zauberspiegel beschrieben werden, mit denen sich Gegenstände in ihrem Spiegelbild zum vorgetäuschten Verschwinden bringen ließen.71 Das hermetische Geheimnis, das den Blicken der Normalsterblichen verhüllt sein soll, wird nun durch eine historische Konstruktion substituiert: Die Vorzeit ist aus der Perspektive der Uneingeweihten nicht einsehbar, die Gegenwart erscheint somit insgesamt als eine exoterische Epoche, in deren Sicht die verklärte Vergangenheit unverständlich bleiben muß. In einem Paralipomenon zum Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais hat NOVALIS einige Jahre später das Isis-Motto mit dem delphischen verknüpft,72
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So wie es andererseits auch Spiegel gab, die unsichtbare Gegenstände sichtbar erscheinen ließen; vgl. z. B. Funk (1783), S. 76, Wiegleb (1789), Sp. 1605. Durch SCHILLERS im 9. Stück der HÖREN erschienenes Gedicht Das verschleierte Standbild zu Sais war das Motto inzwischen auch außerhalb des maurerischen Kontextes zu einem Modell des Zeitgeistes geworden, das dem schwärmerischen Verlangen nach >höherer Erkenntnis< Rechnung trug. In einer Situation des Sehers Aliba bey Zoroasters
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ähnlich wie er im Gedicht vom Stein der Weisen aus den okkulten Ansprüchen der >höheren Vernunftx die Quintessenz des »Kenne dich sebst« zog: Einem gelang es - er hob den Schleyer der Göttin zu Sais Aber was sah er? - er sah - Wunder des Wunders - Sich selbst. (N II, S. 584)
Die Gedankenbewegung des Distichons wird schließlich in einem narrativen Entwurf vom Juli oder August 1798 wiederaufgenommen und von märchenhaften Motiven überlagert: Den Ausgangspunkt dieser Skizze bildet bezeichnenderweise erneut die >Unaussprechlichkeit< der Natur, die zu »umfassen« der skizzierte Held des Entwurfs sich sehnt. Das Unaussprechliche erscheint damit zunächst in einem epistemisch-erotischen Zwielicht: Sowohl die hermetischen Ansprüche auf Offenbarung des unaussprechlichen Natursinns als auch unausdrückbare erotische Wünsche auf Umfassung, die sich zuletzt in der »sanftauflösenden Umarmung« des Entwurfes erfüllen, deuten sich darin an: Ein Günstling des Glücks sehnte sich die unaussprechliche Natur zu umfassen. Er suchte [die geheimnißvolle Schlafkammer] den geheimnißvollen Aufenthalt der Isis. Sein Vaterland und seine Geliebten verließ er und achtete im Drange seiner Leidenschaft auf den Kummer seiner Braut nicht. Lange währte seine Reise. Die Mühseligkeiten waren groß. Endlich begegnete er einem Quell und Blumen, die einen Weg für eine [Götterfamilie] Geisterfamilie bereiteten. Sie verrithen ihm den Weg zu dem Heiligthume. Entzückt von Freuden [gelangte] kam er an die Thüre. Er trat ein und sah - seine Braut, die ihn mit Lächeln empfieng. Wie er sich umsah, fand er sich in seiner Schlafkammer - und eine liebliche Nachtmusik tönte unter seinen Fenstern [zur stillen
Grabe von KARL JULIUS FRIEDRICH aus dem Jahr 1785 hieß es noch ganz im skeptischen Geist: »Der Wahrheit Schleier nur! Den seh ich oft - sie selber aber nie!«; FRIEDRICH löste den Skeptizismus aber bereits in eine - allerdings rhetorische - Figur der Unsterblichkeit auf: »Dann schaust du stets ohne Schleier sie in ewgem Glanz, unsterblich selbst wie sie.« (TM April 1785, S. 30-53, hier S. 33; zum Verfasser vgl. Stames [1994], Index). SCHILLER naturalisiert diese Figur, indem sie den Jüngling, der die »einzig ungeteilte Wahrheit« sucht, zu einem Opfer seines hemmungslosen Erkenntnisstrebens werden läßt, während das Heben des Schleiers der Gottheit selbst vorbehalten bleibt: »Kein Sterblicher sagt sie / Rückt diesen Schleier bis ich selbst ihn hebe.« Bereits in seinem 1790 in der THALIA publizierten Aufsatz Die Sendung Mosis hatte SCHILLER mehrfach auf das Motto angespielt, dort jedoch die Möglichkeit der Göttin, sich selbst zu enthüllen in seiner Variante des Mottos noch nicht berücksichtigt. Zu Schillers Gedicht und seinen Konnotationen vgl. Klatt (1986). NOVALIS besaß zudem das Buch Aegyptische Merkwürdigkeiten aus alter und neuer Zeit, 2 Bände, Leipzig 1786-87, in dem das Motto zitiert wird. Vgl. auch Mahl (1965), S. 363 und Haywood (1959).
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Potenzierung und Logarithmisierung Umarmung] [sanftauflösenden Umarmung] [rätsellösenden Kusse] zu der süßesten Auflösung des Geheimnisses. (N II, S. 618; Varianten NII, S. 768)
Aus dem Bildnis der Isis ist hier eine lebendige Gestalt geworden, das verschleierte Standbild hat sich zu einem erotisch-hermetischen Raum ausgedehnt, dessen Türen sich dem Glücksgünstling bereitwillig öffnen;73 die verschiedenen Varianten, mit denen NOVALIS die erotische Auflösung der erkenntnistheoretischen und der sie präfigurierenden hermetischen Ansprüche zu gestalten versuchte, laufen in zunehmender Tendenz auf eine gleichgewichtige sprachliche Repräsentation beider Sinnbereiche hinaus: Während in der ersten Variante noch der erotische Sinn - die Umarmung - allein zur Darstellung kommt, wird in der zweiten durch die Bestimmung »sanftauflösend« bereits auf ein Moment außerhalb der körperlichen Sphäre verwiesen, das dann in der nächsten Variante verstärkt wird, indem dieses Moment als rätselhaft bezeichnet wird, das sich körperlich - im Kuß - auflöst. In der letzten Variante schließlich wird die erotische Komponente des Gedankens, die bisher das Bestimmte war, ganz auf die Seite der adverbialen Bestimmung verlagert, während nun das allgemeine Geheimnis das zu Bestimmende ist, worin das erotische und das naturmystische Begehren zugleich repräsentiert und erfüllt sein können. Mit dieser Tendenz der Varianten nähert sich der Entwurf allmählich der Sphäre des Romanfragments der Lehrlinge zu Sais an; denn auch in diesem werden erotische und naturphilosophische Wünsche artikuliert, wobei die erotischen zur Bestimmung der naturphilosophischen dienen sollen. Die ägyptische Vorzeit wird dort zunächst im »magischen Spiegel« der Seele eines Lehrlings offenbart, in dessen Beschreibung sich der ständige Wechsel von Dissoziation und Sammlung abbildet, ehe er in der Sphäre der dritten Person reflektiert wird.
73
Eine bisher von der Forschung noch nicht berücksichtigte Quelle für diesen narrativen Entwurf könnte JUNG-STHJLINGS »orientalische Erzählung« Ase-Neitha (TM 3.3. [September 1773], S. 220-237, vgl. Abschn. 1.1.3.2 der vorl. Arbeit) gewesen sein, in der der alttestamentarische Joseph - auch er ein Glücksgünstling - den Weg nach Sais sucht, wo er sein Glück in der Tochter des ältesten Neitha-Priesters findet; an NOVALIS' spätere Ausarbeitung des Stoffs in den Lehrlingen zu Sais erinnert der Satz: »Wir Jünglinge schliefen alle in einem großen Saal« im Heiligtum zu Sais. (Ebd. S. 234)
Die Lehrlinge zu Sais
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3. Die Lehrlinge zu Sais 3.1. Der Lehrling als Beschreiber in der ersten Person Das Motiv des Sais-Standbildes tritt in den ausgearbeiteten Passagen des Romanfragments nur einmal ausdrücklich in Erscheinung: Am Ende des ersten Teils findet sich der bereits zitierte, berühmte Ausruf des Lehrlings: Auch ich will also meine Figur beschreiben, und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleyer hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen: wer ihn nicht heben will, ist kein ächter Lehrling zu Sais. (N I, S. 82)
Unter der sprachlichen Oberfläche aber bestimmt das Motto die gesamte Gedankenbewegung des Fragments: Mit dem Vorsatz, seine eigene Figur im Leben zu beschreiben, bezieht sich der Lehrling auf den Anfang seiner Aufzeichnungen, wo er die individuellen Figuren des menschlichen Lebenslaufs eingezeichnet sah in eine universelle und mannigfaltige Figurensprache der Natur: Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspähnen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahndung will sich selbst in keine festen Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alcahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu seyn. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken. (N I, S. 79)
Im Vorsatz des Lehrlings, er wolle nunmehr seine eigene Figur »beschreiben«, wird diese Darstellung am Ende des ersten Teils in die Sphäre der Reflexion gehoben, denn das Verb »beschreiben« bezeichnet zugleich die umfassende und die umfaßte Sphäre, die einfache Handlung und die sprachliche Reflexion dieser Handlung. Die traditionelle Figur des reflektierenden Erzählers läßt sich mit diesem initiatorischen Bruder Beschreiber-Amt in der Sais-Brüderschaft aber gerade nicht vereinigen: Was dem Erzähler zur Verfügung steht - die auktoriale Kenntnis der Figurenschrift seines Textes - offenbart sich dem Beschreiber erst in der Lektüre des Buchs der Natur. Er ist sozusagen ein Erzähler, der die Lektüre der Naturschrift simultan in Sprache übersetzt.
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Potenzierung und Logarithmisierung
Die Verschleierung der schriftlich fixierten Natur wird in dieser Konstruktion auf doppelte Weise zu einem Moment der Beschreiber-Reflexion: nämlich erstens inhaltlich (bildlich), und zweitens sprachlich. Inhaltlich wird die Verschleierung zum Reflexionsmoment in der Beschreibung der Inkommensurabilität der Figurenschrift, deren Sprachlehre sich zwar »ahnden«, nicht aber in der Reflexion fixieren läßt. Der Lehrling beschreibt diesen Sachverhalt im Bild vom »Alcahest«, in dem die Alchemisten ein universelles Lösungsmittel zu erlangen hofften, worüber sich WIEGLEB in seiner Historisch-kritischen Untersuchung der Alchemie lustig machte, während der Wunsch bei NOVALIS als Formulierung eines »absoluten Postulates« rehabilitiert wurde. So wie der Alcahest alle kontingenten Modifikationen der Materie auflöst und die flüssige Urform der Erscheinungen auf schließt, so ist den Menschen der Ursinn der Phänomene hinter den Formen der sinnlichen Anschauung verborgen. Sprachlich wird der Sachverhalt der Verschleierung in der Vorherrschaft der Bestimmung des >Scheinens< repräsentiert: Viermal verwendet der Lehrling im ersten Abschnitt das Verb »scheinen«, womit sich sein Beschreiber-Amt noch einmal deutlich vom auktorialen Erzähl-Amt abgrenzt. Die Formen, in denen der Lehrling das Erscheinen der Figuralschrift der Natur »ahndet«, sind die aktuellen, die in den Einzel- und Erfahrungswissenschaften der Zeit diskutiert wurden und an denen die aufgeklärte Populärwissenschaft die Natürlichkeit, der Mystizismus hingegen die >höhere< Erfahrbarkeit des Wunderbaren demonstrieren wollte: Die Formenlehre der Gesteins- und Wolkenbildungen, das Auftreten atmosphärischer Lichteffekte, elektrostatische und akustische Phänomene wie die bekannten Chladni-Figuren.74 Die Stimmen, die »von weitem« erklingen, sind als fernes Echo der Diskurse um die Deutung dieser Phänomene zu verstehen: Die skeptische und die apologetische Sicht der Natur und ihrer Verschleierung drückt sich in diesen widersprechenden Ansichten aus. Aber wie schon in den Fragmenten werden alle aktuellen Konnotationen dieser Diskurse - die geläufigen Schlagworte und Namen der Diskussion - ausgeblendet. Im Kontext der Beschreibung wird diese Ausblendung nun jedoch noch zusätzlich motiviert: Die Welt, in der der Lehrling lebt und in der er seine Figur »beschreibt«, soll zeitlos erscheinen, die
74
NOVALIS besaß E. F. F. CHLADNIS Buch Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig 1787.
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Gegenwart wirft keinen Schatten auf die überzeitliche ägyptische Vergangenheit und Zukunft. Das fiktionale raum-zeitliche Kontinuum kann daher - insbesondere im zweiten Teil des Fragments - Gedanken umfassen, die ungefähr gleichlautend in der raum-zeitlichen Realität von Individuen wie THALES und HERAKLIT bis hin zu HEMSTERHUIS, KANT, FICHTE und SCHELLING geäußert wurden,75 ohne dabei den Verdacht des Anachronismus.hervorzurufen: Die Zuordnung dieser Gedanken zu den Konstanten der raum-zeitlichen Realität, die noch in JEAN PAULS Titan die Hierarchie der moralischen Werte des Erzählers offenbart hatte, entfällt hier für den Beschreiber. Vergleicht man diese Form der Situierung der Romanwelt im Koordinatensystem der historisch-geographischen Realität mit den üblichen Mustern der zeitgenössischen Erzählliteratur, dann wird das Innovative dieses poetischen Verfahrens deutlich: In dem ungefähr gleichzeitig mit den Lehrlingen entstandenen Roman Die Geheimnisse der alten Egipzier des Erfolgsautors C. H. SPIESS, der hier als ein kontrastierendes Modell betrachtet werden kann, soll nach dem Willen des Autors eine »wahre Geister- und Zaubergeschichte des 18. Jahrhunderts« geschildert werden, ein Anspruch, der den Rezensenten der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK ins Grübeln bringt: »Man sollte glauben«, so sinniert er, »der Verf. wolle eine Satyre auf sein Jahrhundert schreiben; indessen ist dieß nicht seine Meinung, obgleich es etwas schwer zu sagen seyn mag, wie die alten Aegyptier und ihre angeblichen Geheimnisse mit dem achtzehnten Jahrhundert zueinander kommen«.76 Ein junger Adeliger wird in der Erzählung von Wißbegierde nach allem, was ihm »neu, unerwartet, vorzüglich wunderbar und geheimnißreich« erscheint, umgetrieben. Insbesondere die »dunklen Hieroglyphen« Ägyptens ziehen ihn unwiderstehlich an, in den konkurrierenden Geheimbünden seiner Zeit findet er jedoch keine hinreichende Erfüllung seines Verlangens. Ein Traum versetzt ihn in ein wunderbares. Ägypten und weist ihm den Weg zur Auflösung der Geheimnisse. Er erwacht und findet sich in seiner Schlafkammer wieder. Nun bricht er auf, die Erscheinungen des Traums bewahrheiten sich, die Isis weist ihm den Weg nach Ägypten, wo sich die Rätsel natürlich auflösen - allerdings in solch konventioneller »natürlicher Magie«, daß, wie der Rezensent der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK anmerkt »die Geheimnisse der Auflösung nicht werth« sind.77 Das narrative Grundmuster bei SPIESS unterscheidet sich kaum vom ersten Märchen-Entwurf bei NOVALIS.
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Vgl. Striedter (1984), S. 90 ff. und Gaier (1970), S. 201-220. Neue ADB 41 (1798), S. 54. Neue ADB 54 (1800), S. 42.
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Auch an märchenhaften Elementen mangelt es bei SPIESS nicht: Wunderbare Lampen in Sphinx-Gestalt, eisgraue alte Männer und Geistererscheinungen begegnen dem Reisenden zu jeder Zeit und an jedem Ort. Aber der Zeitgeist verbirgt sich nur allzu deutlich in allen magischen Erscheinungen: Aus der Gegenwart des 18. Jahrhunderts heraus will SPIESS »uralte Geheimnisse« offenbaren, aber er findet doch immer nur die abgegriffenen maurerischägyptischen Verrätselungen seiner eigenen Zeit. Die geheimnisauflösende Kompetenz des Erzählers wird bei SPffiSS nie in Frage gestellt; alle rhetorischen Figuren des Unbegreiflichen, Unermeßlichen und Unbeschreiblichen stehen ihm inflationär zur Verfügung: Der Angordos nahm bald nachher seinen Lauf in die unmeßbare Höhe, die träge Achonuris stieg schnell in die unergründliche Tiefe und beider Vereinigung wird nun im Mittelpunkte des Unmeßbaren und Unergründlichen möglich.78
Der Erzähler mißt an diesen Unbegreiflichkeiten seinen eigenen KompetenzAbstand gegenüber dem Leser: »Lieber Leser«, so spricht er ihn gönnerhaft an, »wenn dir dies zu hoch dünket, oder, wie manches andere, an Unsinn zu gränzen scheint, so achte meines Rathes und urtheile nicht eher, bis ich dir Urtheil gönne«.79 Der Leser ist ein Initiant von des Erzählers Gnaden, die Wahrheit ist ihm ve±üllt, um die Spannung der Erzählung aufrechtzuerhalten. Die verschleierten Geheimnisse der Isis werden ihm erst zuletzt durch die triviale Allegorese der auktorialen Geheimnis-Offenbarung nahegelegt. Bei NOVALIS, in dessen Naturroman der Leser des 18. Jahrhunderts keinen Ort hat, bleiben dem Lehrling im ersten Teil der Aufzeichnungen die Geheimnisse, die von aller aktuell ägyptomaner Einkleidung befreit sind, verborgen; zwischen den geläuterten Stimmen des Zeitgeistes hin- und hergerissen, hört er von Ferne sagen, »die Unverständlichkeit sey nur eine Folge des Unverstandes«;80 nur das Leitbild des Lehrers gibt ihm noch Orientierung: Ein eignes Licht entzündet sich in seinen Blicken, wenn vor uns nun die hohe Rune liegt, und er in unsern Augen späht, ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn, das die Figur sichtbar und verständlich macht. (N I, S. 79)
In der Biographie des Lehrers verlaufen die ersten Stufen mit der Biographie des Zeitgeistes, den SPIESS repräsentiert, noch synchron:
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Spieß (1798), S. 153. Ebd. Vgl. hierzu Ziolkowski (1992), S. 328.
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Er wußte nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Thiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Thon in sonderbare Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. (N I, S. 80)
Die in der Trivialliteratur tausendfach wiederholten Motive der Reise aus unbestimmtem Erkenntnistrieb, des Abstiegs in eine Höhle, der unterirdischen Hieroglyphen (all diese Motive tauchen auch SPIESS ebenso wie zuvor bei WIELAND, JUNG-STILLING und HIPPEL auf) werden bei NOVALIS vom Geruch maurerischer Gebrauchsprosa und vom Anschein der satirischen Umdeutung gelöst; die Unrast des Zeitgeistes endet im toten Winkel: »Was nun seitdem aus ihm geworden ist«, tut der Lehrer »nicht kund« (N I, S. 80), die Gegenwart bleibt unsichtbar, nur aus der Vergangenheits- oder Zukunftsperspektive heraus läßt sie sich erhellen. Die ironische Frage des Rezensenten der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK, wie das alte Ägypten und das 18. Jahrhundert zusammenzubringen seien, erübrigt sich in diesem Kontext. Sie ist gegenüber diesem Text falsch gestellt. Während die Vergangenheit als ägyptisches Altertum den Raum der Beschreibung erfüllt, gewinnt die Zukunft in dem messianischen Kind Gestalt, das in den Kreis der Lehrlinge tritt: Mit großen, dunklen Augen, glänzender Haut und Locken wird das wunderbare Kind vorgestellt. Seine messianische Bestimmung wird vom Lehrer selbst ausgesprochen: »Einst wird es wiederkommen [...] und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf«. (N I, S. 80 f.)81 Für den beschreibenden Lehrling hat die Utopie zunächst jedoch einzig einen individuellen Aspekt, der auf das Distichon zurückweist: »Mich führt alles in mich selbst zurück« (N I, S. 81) - in dieser grüblerischen Veranlagung unterscheidet er sich von seinen extrovertierteren Mit-Lehrlingen, die Mineraliensammlungen sind ihm nur »Bilder, Hüllen, Zierden« um ein »göttlich Wunderbild«. Er hat das Motto bereits verinnerlicht, denn er sucht nicht die Phänomene, sondern in den Phänomenen: »Es ist, als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem Schlaf die Jungfrau steht, nach der mein Geist sich sehnt«. (N I, S. 81) Hier wird deutb'ch, daß die Skizze, die gewöhnlich nur als Entwurf für das Märchen von Hyazinth und Rosenblüthchen betrachtet wird, auch dem gesamten Romanfragment zugrundeliegt. Aber der narrative Weg ist verinnerlicht, die Abenteuerreise geht durch Weltanschauungen, nicht durch Welten wie bei SPIESS.
Zur messianischen Tradition vgl. Mahl (1965), S. 362-371.
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Das Bestimmungsverhältnis von Naturgeheimnis und erotischem Geheimnis, das sich am Ende des Entwurfs herauskristallisiert hatte, entspricht der Einstellung des seine Figur beschreibenden Lehrlings: Als ein »unverbrüchliches Geheimnis« erscheint ihm seine Sehnsucht, auf die von der Zukunft her in Gestalt des messianisehen Kindes Licht fällt: Gern hätt ich jenes Kind gefragt, in seinen Zügen fand ich Verwandtschaft; auch schien in seiner Nähe mir alles heller innerlich zu werden. Wäre es länger geblieben, sicherlich hätte ich mehr in mir erfahren. (N I, S. 81 f.)
Vergangenheit und Zukunft haben hier als reale, historische Kräfte die Rolle übernommen, die in den Romanen des Spiess'schen Typus der auktoriale Erzähler innehatte, welcher seine persönliche Kenntnis von erzählbarer, aber noch nicht erzählter Vergangenheit und Zukunft als Ahnung der Erklärung von etwas Unerklärlichem auf die Einbildungskraft des Lesers wirken läßt. Ein solcher höherer Erzähler greift bei NOVALIS nicht ein, deshalb erscheinen die Vorgriffe auf die Zukunft, sofern sie vom Lehrling geäußert werden, als unmittelbare Lektüre der Zeichen seines Inneren, die er simultan entziffert und beschreibt. In Wirklichkeit aber sind - auf der Ebene des Autors - alle Motive des Fragments streng kalkuliert.82 Dies betrifft auch die noch nicht beschriebene Zukunft. In einem Entwurf zur Fortsetzung des Romans notierte sich NOVALIS unter der Überschrift »Verwandlung des Tempels zu Sais«: Erscheinung der Isis. Tod des Lehrers. Träume im Tempel. Werckstatt des Archaeus. Ankunft der griechischen Götter. Einweihung in die Geheimnisse. Bilds[äule] des Memnons Reise zu den Pyramiden Das Kind und sein Johannes. Der Messias der Natur. Neues Testament - und neue Natur - als neues Jerusalem. (N I, S. 111 f.)
Deutlicher als im ausgearbeiteten Text werden in diesen Stichworten konventionelle Erzählmotive, deren Tradition sich zum Beispiel in TERRASSON, JUNG-STILLING und SPIESS verkörpert, also das Initiationsmotiv, das
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Die Stringenz dieser »Konstruktionslehre« nachgewiesen zu haben ist das bleibende Verdienst der Studie Ulrich Gaiers (1970).
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Motiv der tönenden Säule, das Motiv der Reise zu den Pyramiden - bezeichnet. Auf welche Weise diese konventionellen Motive mit dem reflektierten Bewußtsein des Lehrlings und mit seinen ins Unbestimmte gehenden Sehnsüchten verbunden werden sollten, läßt sich aus diesem Blick des Autors in die Zukunft allein nicht rekonstruieren. Als einziges Verbindungsglied zwischen dem enthusiastischen Entschleierungs-Anspruch, den der Lehrling am Ende des ersten Teils formuliert, und der »Erscheinung der Isis« sowie den anderen skizzierten Zukunftsereignissen hat NOVALIS den zweiten Teil, »Die Natur« überschrieben, ausgearbeitet. Dort wird das Bewußtsein des Beschreibers auf der Ebene der dritten Person reflektiert.
3.2. Unvollständige Induktion: Der Beschreiber in der dritten bis -ten Person Wie schon zu Beginn des ersten Teils verbirgt sich das Subjekt der Beschreibung auch im zweiten Teil der Lehrlinge zu Sais zunächst hinter der unpersönlichen Rede eines anonymen und sozusagen körperlosen Organs der Warhrnehmung. Erst allmählich löst sich dieses wahrnehmende Bewußtsein in ein Geflecht sich kreuzender Stimmen auf. Jenes Bewußtsein, das im ersten Teil als Beschreiber zwischen der Beschreibung und der Welt stand, das des Lehrlings, taucht jedoch im zweiten Teil erst viel später auf, nachdem die Stimmen nacheinander ihre Ansichten artikuliert haben: Der Lehrling hört mit Bangigkeit die sich kreuzenden Stimmen. Es scheint ihm jede Recht zu haben, und eine sonderbare Verwirrung bemächtigt sich seines Gemüths. (N I.S.91)
Erneut wird hier das Verb >scheinen< verwendet, um den Geisteszustand des Lehrlings zu beschreiben — so, als würde der Beschreiber des ersten Teils nun seinerseits in jener geistigen Situation beschrieben, die er zu Beginn in seinen Aufzeichnungen dargestellt hatte. Die Verschleierung der sinnlichen Wahnehmung, für die der Lehrling das Bild vom Alcahest herangezogen hatte, wird nun auf Begriffe und Meinungen übertragen: Indem die Menschen die »mannichfachen Gegenstände ihrer Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen« belegen, verschleiern sie zugleich deren ursprüngliche Natur und ihre eigene: Die Dissoziation der Mischung von Verstand, Vernunft und Phantasie, die NOVALIS an anderer Stelle ausdrücklich als begriffliche Entstellung der »ächten Götterbilder« in uns bezeichnet hat (N III, S. 574), wird nun mit den »Brechungen des Lichtstrahls« verglichen, dessen Synthese nicht mehr gelingt: Vielleicht ist es nur krankhafte Anlage der späteren Menschen, wenn sie das Vermögen verlieren, diese zerstreuten Farben ihres Geistes wieder zu mischen und nach Belieben
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Potenzierung und Logarithmisierung den alten einfachen Naturzustand herzustellen, oder neue, mannigfaltige Verbindungen unter ihnen zu bewirken. (N I, S. 82 f.)
NEWTONS Theorie des Lichts wird hier mit GOETHES Farbenlehre in ein historisches Verhältnis gesetzt, dessen Proportionen denen der historischen Magie und des Geistersehens entsprechen: Die Gegenwart ist ein Zeitalter der Zerstreuung, Vergangenheit und Zukunft sind Epochen der Sammlung. Das >Scheinen< im Bewußtsein des Lehrlings wird nun als Licht-Brechung der Gedanken dargestellt. Die Spektralbereiche dieser begrifflichen Analyse des Denkens lassen sich von außen mit bestimmten Philosophen oder Strömungen der Philosophiegeschichte identifizieren: Neben Anklängen an gnostische und kabbalistische Traditionen finden sich solche an THALES VON MILET, an ANAXIMENES und HERAKLIT, ebenso aber an FICHTE, SCHELLING, GOETHE, RITTER und FRANZ VON BAADER. Selbst den Autor NOVALIS kann man, wenn man will, im »ernsten Mann« verkörpert sehen.83 Diese Verkörperung unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von derjenigen, in der zum Beispiel JEAN PAUL in seinen eigenen Romanen in Erscheinung tritt: Während diese im raum-zeitlichen Koordinatensystem verankert sind, ist es das Ägypten der Lehrlinge nicht; ebensowenig lassen sich die Stimmen als Variablen, als Statthalter einer bestimmten Person oder eines bestimmten Zeitgeistes verstehen. Sinnvoller als der Versuch, in der Abfolge der Äußerungen eine Darstellung realer philosophiegeschichtlicher Subjekte zu suchen, ist es, sie als allgemeine Bewußtseinsformen zu verstehen, in denen sich die Verwirrung des Lehrlings verkörpert. Die Seelenvermögen des Verstandes, der Vernunft und der Einbildungskraft dissoziieren dabei nach dem zu Beginn vorgezeichneten Bild des gebrochenen Lichtstrahls: Denen, die (wie die ionischen Naturphilosophen) den Ursprung der Phänomene im »Flüssigen, Dünnen, Gestaltlosen« sehen (N I, S. 83), fehlt die Erklärung für die feste, substantielle Gestalt der Natur, die atomistische Annahme kleinster Partikel hingegen kann auf die Hilfskonstruktion nur gedachter oder postulierter Kräfte nicht verzichten. (Ebd.) Was auf der Ebene der Beschreibung kontingent ist, wird nun aber auf der Ebene der hermeneutischen Rekonstruktion wesentlich: Die Ideen von THALES bis zu RITTER haben für das Bewußtsein des Beschreibers keine Relevanz, denn die Philosophen, die diese Ideen fixiert haben, existieren im überhistorischen fiktionalen Raum nicht. Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung ist es nun aber keineswegs gleichgültig, ob NOVALIS die Einflüsse hermetischen Denkens aus erster oder zweiter Hand empfangen hat. Wenn wahr ist, was am Beispiel der Fragmente gezeigt wurde, daß nämlich die Rezeption der
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Vgl. von Molnar (1970), S. 1002-1014.
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okkulten Disziplinen bei NOVALIS durch die kritische Darstellung der Spätaufklärung vermittelt ist, dann läßt sich auch die Verwirrung des Lehrlings biographisch als Aporie im Geiste dessen begreifen, für den sich die Argumente der Aufklärung totgelaufen haben und der einen Ausweg aus dem Labyrinth der Reflexion sucht. Nachvollzogen wird also jene Gedankenbewegung, die mit dem Protest des jungen FRIEDRICH VON HARDENBERG in der Apologie der Schwärmerei einsetzte und die im Reflexionsmodell von FlCHTES FreiheitsPhilosophie einen Transitus zu einer transzendental gerechtfertigten Poetik zu finden glaubte. Der Zeitgeist des späten 18. Jahrhunderts liegt also auch hier noch als Schatten auf den älteren philosophischen Traditionen, auf die in der Forschung das Gespräch in Sais bisher reduziert wurde. Vier der Stimmen, die in ihm laut werden, äußern sich im Präsens, dem Tempus, in dem später die Verwirrung des Lehrlings artikuliert wird. Die erste dieser Stimmen warnt den Menschen vor der Gefahr des sich Verlierens ins Unendliche (ins unendlich Große und ins unendlich Kleine). Hier wird jene Furcht vor dem wirklichkeitsvernichtenden Potential der Einbildungskraft laut, die das Frühwerk TlECKS im Abdallah und im Lovell bestimmte. Die Natur ist dieser Stimme eine »furchtbare Mühle des Todes«, worin »überall ungeheurer Umschwung, unauflösliche Wirbelkette, ein Reich der Gefräßigkeit, des tollsten Übermuths, eine unglücksschwangere Unermeßlichkeit« vorherrscht. (N I, S. 88) Die unaufgelösten Bestimmungen des Ungeheuren, Unauflöslichen rufen die mechanischen Bilder der Mühle und des Triebwerks hervor, sie evozieren den Leerlauf des mechanistischen Weltbildes, das die Inkommensurabilität anerkennt. Die »Muthigeren« fordern demgegenüber ein entschlossenes Überwinden der Naturmechanik, um darauf ein »neues Dschinnistan« zu bauen. WIELANDS Geister- und Feenreich der Einbildungskraft wird also als eine Überwindung der nihilistischen Anfechtung zitiert. Von dritter Seite wird schließlich die menschliche Freiheit gegen den mechanischen Nihilismus ins Feld geführt: Am Quell der Freiheit sitzen wir und spähn; er ist der große Zauberspiegel, in dem rein und klar die ganze Schöpfung sich enthüllt, in ihm baden die zarten Geister und Abbilder aller Naturen, und alle Kammern sehn wir hier aufgeschlossen. (N I, S. 89)
Im Vokabular und in der Bildersprache klingt hier deutlich jenes Fragment an, in dem NOVALIS einige Jahre zuvor das Schleier-Motiv erstmals eingesetzt hatte, wonach die Vorzeit für die Uneingeweihten vom heiligen Schleier bedeckt sein sollte, während der, dessen »Seele das Schicksal aus dem sanften Rieseln des Quell erschuf«, diese Vorzeit »in göttlicher Schöne mit dem magischen Spiegel« erblickt. Zugleich klingt aber auch im Bild von der aufgeschlossenen Kammer der Phänomene jener erste Märchenentwurf an, in
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dem an die Stelle des verschleierten Isis-Bildnisses die hermetische Schlafkammer der Göttin getreten ist. Die Verschleierung soll demnach, wenn schon nicht überwunden, so doch durch Introspektion umgangen werden: »Was brauchen wir die trübe Welt der Dinge mühsam zu durchwandern? Die reine Welt liegt ja in uns, in diesem Quell« (ebd.) - so heißt es wie in Hinblick auf die unzählbaren literarischen Erkenntnis-Wanderungen aus dem Geist der Unrast. Der ernste Mann, der diesen Stimmen zustimmend antwortet, trifft sich mit den vorhergehenden Stimmen in der gemeinsamen Anstrengung, die mechanistisch-nihilistischen Anfechtungen zu überwinden. Im Gegensatz zu jenen wird von ihm das mechanische Weltbild jedoch nicht abstrakt verworfen, sondern in seinen Konsequenzen umgedeutet: Ja wohl ist sie [die Natur, Anm. J.P.] ihnen ein entsetzliches Thier, eine seltsame abenteuerliche Larve ihrer Begierden. Der wachende Mensch sieht ohne Schaudern diese Brut seiner regellosen Einbildungskraft, denn er weiß, daß es nichtige Gespenster seiner Schwäche sind. (N I, S. 90)
Aus der Erfahrung des aus Einbildungskraft geborenen nihilistischen Entsetzens heraus schwingt sich der philosophische Egoismus zum System auf: »Er fühlt sich Herr der Welt, sein Ich schwebt mächtig über diesem Abgrund, und wird in Ewigkeiten über diesem endlosen Wechsel erhaben schweben«. (N I, S. 90) Die Einbildungskraft als das Vermögen, das nach FICHTE im Schweben die Anschauung hervorbringt, erweist sich vom konsequent solipsistischen Standpunkt aus als identisch mit der absoluten Vernunft: »Der Sinn der Welt ist die Vernunft«, so fährt der ernste Mann fort, »um deretwillen ist sie da, und wenn sie erst der Kampfplatz einer kindlichen, aufblühenden Vernunft ist, so wird sie einst zum göttlichen Bilde ihrer Thätigkeit, zum Schauplatz einer wahren Kirche werden«. (Ebd.) Allein »sittliches Handeln« birgt für den ernsten Mann den Versuch, »in welchem alle Räthsel der mannichfaltigsten Erscheinungen sich lösen. Wer ihn versteht, und in strengen Gedankenfolgen ihn zu zerlegen weiß, ist ewiger Meister der Natur«. (Ebd.) Im Duktus dieser Schlußsentenz wird an den Anfang der Lehrlings-Beschreibung - sein Rätseln über die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen - und an den Schluß des ersten Teils - die Selbstaufforderung des Lehrlings, den Schleier zu heben angeknüpft. Nicht zufällig tritt also genau an dieser Stelle das Bewußtsein des Lehrlings wieder ins Licht der Beschreibung. Die Verwirrung, die er im ersten Teil aus intrinsischer Perspektive beschrieben hatte, wird jetzt in der Sicht einer höheren dritten Person, der Natur, dargestellt. An diesem Punkt, so läßt sich vermuten, faßt er den genannten Entschluß der Enthüllung - und allmählich legt sich der »innere Aufruhr«, mit dem ihn das Gespräch affiziert
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hat. Jetzt »scheint« (!) über die »dunkeln sich an einander brechenden Wogen [...] ein Geist des Friedens heraufzuschweben, dessen Ankunft sich durch neuen Muth und überschauende Heiterkeit in der Seele des Jünglings ankündigt«. (N I, S. 91) Erneut also wird die Seele des Lehrlings im Modus des Scheinens beschrieben, aber dieser Schein ist nun vollständig im >Zauberspiegel< der Weltanschauung reflektiert. Die Lichtbrechung der Gedanken wird gebündelt im Märchen, in dem sich die >zerstreuten Farben des Geistes< mischen.
3.3. Induktionsschritt vom Beschreiber zum Erzähler An dieser Stelle ersetzt nun die Reflexionsgestalt des Erzählens diejenige des Beschreibens, die bis dahin in doppelter Lesung vorherrschte: Die anonyme Beschreiber-Instanz (des Autors) vollzieht diese Wendung zum Erzähler bereits im Voraus, indem sie einen erzählerisch charakterisierten »munteren Gespielen« auftreten läßt, dem Rosen und Winden die Schläfe zieren. »Du Grübler«, spricht er den Lehrling an, »bist auf ganz verkehrtem Wege. So wirst du keine großen Fortschritte machen. Das beste ist überall die Stimmung. Ist das wohl eine Stimmung in der Natur?« (N I, S. 91) Die Erzähl-Welt, die der Gespiele entwirft, ist aus der ersten Materie des Erzählens, aus Märchen-Elementen, konstruiert. Im Gegensatz zum traditionellen Erzählmuster des Märchens beginnt der »muntere Geselle« seine MärchenErzählung jedoch nicht mit einem harmonischen Kern, sondern mit der Schilderung der Schwermut des Märchenhelden Hyazinth, der als »über die Maßen wunderlich« charakterisiert wird. Er grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam, wenn die Ändern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach. (NI, S. 91)
Der harmonische Urzustand wird erst nachträglich beleuchtet: Bis vor wenigen Jahren, so der Gespiele, sei Hyazinth »fröhlich und lustig gewesen, wie keiner; bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern gesehen«. (N I, S. 92) In diesem Zustand der Zufriedenheit entwickelt sich Hyazinths Liebe zu Rosenblüthchen, deren Entfaltung jedoch durch das Dazwischentreten des Zauberers mit seinem rätselhaften Buch unterbrochen wird. Der Magier trägt nun das Moment der Reflexion in die Erzählung. Bereits bei seinem ersten Auftreten fällt der Schatten der Befremdung auf die Geschichte: Ach! wie bald war die Herrlichkeit vorbey. Es kam ein Mann aus fremden Ländern gegangen, der war erstaunlich weit gereist, hatte einen langen Bart, tiefe Augen,
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Potenzierung und Logarithmisierung entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid mit vielen Falten und seltsame Figuren hineingewebt. (N I, S. 93)
Die Ähnlichkeit mit der Figur des Misfragmutosiris aus WIELANDS Stein der Weisen fällt ins Auge.84 Geradezu spiegelverkehrt aber ist die erzählerische Funktion, die den beiden Magiern in den getrennten Erzähl weiten zukommt. Nicht nur, daß der Hexenmeister bei NOVALIS offensichtlich kein Betrüger wie der falsche Isis-Priester bei WlELAND ist. Sein Wirken ist der Sphäre moralischer Beurteilung enthoben (»Moralisches Fatum« schließt NOVALIS aus dem Bereich des Märchens, wo »ächte Naturanarchie« herrschen soll, aus; vgl. N ffl, S. 438). Vor allem aber soll der Magier bei NOVALIS als der erste seiner Art erscheinen, denn der muntere Gespiele verkörpert ja in der Roman weit der Lehrlinge die Geburt des Erzählens; bei WIELAND hingegen wurde Misfragmutosiris ausdrücklich als das jüngste Glied einer unabsehbaren Ahnenreihe von »Isispriestern, Magen [sie] Fakirn, Bonzen, Mystagogen, Traumdeutern, Weisenmeistern, Spähmanen und Thyruspakurn, Schatzgräbern und Geisterbannern« gekennzeichnet. (W 24, S. 92) Dasselbe gilt auch für das hieroglyphische Buch: Während bei WIELAND im Seitenstück zum Stein der Weisen ausdrücklich vom Hieroglyphenbuch Nicolas Flameis die Rede ist, wird bei NOVALIS das Buch ganz außerhalb des vom Zeitgeist aktualisierten Traditionszusammenhanges geschildert. Und auch die hermetischen Praktiken, in die Hyazinth vom Magier initiiert wird - das Hinuntersteigen in Bergwerke, das Sprechen mit der Natur u.s.w. -, werden nicht als traditionelle, sondern als ursprüngliche Handlungen dargestellt. Das Rätseln über den geheimnisvollen Inhalt des »Büchelchens«, das »kein Mensch lesen konnte« (N I, S. 93), löst Hyazinths Melancholie aus, von der der Märchenanfang berichtet. Erst hier also wird die »dissonante« Erzählvorgabe von der nachgetragenen psychologischen Motivation eingeholt.85 Mit
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Literaturhistorische Indizien sprechen dafür, daß NOVALIS mittelbar oder unmittelbar durch die Lektüre von WIELANDS Dschinnistan-Sammlung zur Gestaltung dieser Figur angeregt wurde, wie dies bereits R. SAMUEL vermutet hat (1983, S. 303-412). Im ersten Entwurf fand sich eine entsprechende Figur ja noch nicht: Die Melancholie des Glücksgünstlings entbehrt dort der inneren oder äußeren Motivation. Genau auf den Zeitraum zwischen Niederschrift der Skizze und Ausarbeitung des Märchens läßt sich nun aber jene Notiz von NOVALIS datieren, in der er sich explizit auf die Sammlung Dschinnistan und aller Wahrscheinlichkeit nach auch speziell auf WIELANDS Märchen vom Stein der Weisen bezieht. Der »prophetischen Darstellung« wird von NOVALIS die " seientifische" Darstellung an die Seite gestellt, welche sich beide im Traum des Misfragmutosiris realisieren. Zur Entwicklung des Märchens aus einem »dissonanten Erzählkern« vgl. die Arbeiten von B. NAUMANN ([1990] und [1994], S. 263 ff.).
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dem Verbrennen des Büchelchens auf Anraten einer alten, wunderlichen Frau beginnt dann Hyazinths Wanderschaft, die ihn schließlich nach Sais führt, wo er auf wunderbare Weise zu Rosenblüthchen zurückfindet. Dabei wird ihm, wie dem geheimnishungrigen Ägypten-Reisenden bei SPIESS, das Isis-Bildnis zum unsichtbaren Wegweiser, denn seine Wanderschaft soll dahin führen, »wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleyerte Jungfrau«. (N I, S. 93) Damit findet die unbestimmte Hoffnung aus der Beschreibung des Lehrlings nun eine märchenhaft-erzählerische Erfüllung. Auf seinem Weg fragt Hyazinth »überall nach der heiligen Göttin (Isis): Menschen und Thiere, Felsen und Bäume«. (N I, S. 94) Der Weg, den Hyazinth dabei durchmißt, wird in einer Kaskade aufleuchtender Landschaftsbilder dargestellt. Während der Wanderer bei SPIESS die Alpen, Italien, das Mittelmeer und Kleinasien ausführlich und unter unzähligen Fährnissen durchreist, muß Hyazinth nur das heimatliche Nebelland verlassen, dann führt ihn sein Weg geradlinig durch »unabsehbare Sandwüsten« in das »geheimnißvolle.Land«; >Ägypten< wird jedoch vom Erzähler gleichfalls nicht beim Namen genannt in einer Märchenwelt, die ganz überzeitlich und unbestimmt bleiben soll und die vom Zeitgeist der ägyptischen Wunder ä la SPIESS, die den Markt der Trivialliteratur überschwemmten, »geläutert« und befreit sein soll. Raum und Zeit, durch die Hyazinths Reise führt, gehorchen also den Gesetzen der Einbildungskraft, nicht denen der historischen und geographischen Vernunft. Die Landschaften spiegeln Hyazinths Gemütszustand wider, seine Zeitempfindung richtet sich nach dem intuitiv erfaßten Abstand zum Ziel der Reise: »Es lag wie viele Jahre hinter ihm« heißt es zunächst, später aber: »die Zeit ging immer schneller, als sähe sie sich nahe am Ziele«. (N I, S. 94)86 Die Ankunft im unaussprechlichen Wunderland wird dann durch einen zweiten Neueinsatz der Erzählung gekennzeichnet: Die subjektiven Temporalangaben werden von einer scheinbar objektiven überstimmt: Eines Tages begegnete er einem krystallnen Quell und einer Menge Blumen, die kamen in ein Thal herunter zwischen schwarzen himmelhohen Säulen. Sie grüßten ihn freundlich mit bekannten Worten. (N I, S. 94)
Hier konzentrieren sich nun auch die märchenhaften Motive, die bereits in der Skizze von 1798 angeschlagen wurden:
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Von einer »transzendentalen Wanderschaft« (und später von »transzendentaler Genesung«) zu sprechen, wie Peter Pfaff (1990) es tut (S. 90 f.), ist jedoch deshalb ein hermeneutischer Kopfstand, weil die Erzählfigur als Erzählfigur aus der Tradition der therapeutischen Reise-Erzählung stammt und mit der transzendentalen Denkfigur der idealistischen Philosophie nur übereinstimmt, nicht identisch ist.
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Potenzierung und Logarithmisierung Liebe Landsleute, sagte er, wo find' ich wohl den geheiligten Wohnsitz der Isis? Hier herum muß er seyn, und ihr seid vielleicht hier bekannter, als ich. Wir gehen auch nur hier durch, antworteten die Blumen; eine Geisterfamilie ist auf der Reise und wir bereiten ihr Weg und Quartier, indeß sind wir vor kurzem durch eine Gegend gekommen, da hörten wir ihren Namen nennen. (N I, S. 94)
Der »geheiligte Wohnsitz der Isis«, zu dem Hyazinth nun gelangt, liegt unter »Palmen und anderen köstlichen Gewächsen versteckt«. (Ebd.) Von einem Tempel ist in dieser vormythischen Lebenswelt noch nicht die Rede: Auch hier also, im Kontext der Tradition der hermetischen Isis-Verehrung, wird die Darstellung der Motive vor den Anfang ihrer Tradition verlagert. Nun, an der Schwelle zur Erfüllung, überfällt Hyazinth eine »unendliche Sehnsucht« und »süßeste Bangigkeit«. Aus diesem Zustand geläutert schwärmerischer Erwartung entführt ihn ein Traum, so wie die Erwartung sich bei den irregeleiteten Enthusiasten der Aufklärungs-Literatur in ernüchternden Träumen zu entladen pflegte. Aber im Gegensatz zu den nach den Gesetzen der Naturalisierung aufgelösten natürlichen Traumwundern, wird der epistemische Status des Traums bei NOVALIS nun aufgewertet: »Unter himmlischen Wohlgerüchen« entschlummert Hyazinth, »weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte«. (N I, S. 94 f.) Das magische Vermögen der Einbildungskraft erscheint im Traum-Modus noch einmal gesteigert: »Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer voll seltsamer Sachen auf lauter reitzenden Klängen in abwechselnden Accorden«. (N I, S. 95) Die paradoxe Vorstellung »unendlicher« Gemächer wird hier, im Unterschied zum Traum von Misfragmutosiris bei WIELAND, nicht auf transzendenten Betrug reduziert, das Ertönen der Musik ist kein täuschendes Mittel, sondern sprachloser Ausdruck des unbeschreiblichen Vorgangs: Das Wunder bringt die Musik als wunderbare Erscheinung hervor. So wird auch das Heben des Schleiers der »himmlischen Jungfrau« von einer »fernen Musik« begleitet, unter deren Klängen das »Geheimnis des Wiedersehens« - denn Rosenblüthchen erscheint unter dem gelüfteten Schleier unaussprechlich bleibt. Wie im Entwurf schwebt diese Unaussprechlichkeit zwischen erotisch-musikalischer Empfindsamkeit und hermetischer Mystifizierung.
3.4. Hermetische Opazität und allegorische Transparenz In der letzten abgeschlossenen Passage der Lehrlinge zu Sais wirft der Schein der Märchenwelt sein Licht zunächst auch auf die prosaische, in der der Lehrling lebt und lernt. Nachdem der Gespiele sein Märchen zu Ende erzählt hat, ist der Tempel zu Sais auf einmal wie verwandelt: Es ist, als würde die bis
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dahin monochrome Romanwelt nun auf einmal von Licht erfüllt, von erhabenen Gefühlen belebt: »Das Element des Gefühls ist ein inneres Licht, was sich in immer schöner'n, kräftiger'n Farben bricht«. (N I, S. 96) Die »Stimmung«, die der Gespiele mit seiner Erzählung evozieren wollte, wird nun allgemein, und ein Naturbild fixiert die Farben dieser neuen Stimmung: Wie sie so sprachen, strahlte die Sonne durch die hohen Fenster, und in ein sanftes Säuseln verlor sich der Lärm des Gesprächs; eine unendliche Ahndung durchdrang alle Gestalten, die lieblichste Wärme verbreitete sich über alle, und der wunderbarste Naturgesang erhob sich aus der tiefsten Stille. (N I, S. 96)
In diesem Bild scheinen zunächst alle Gegensätze aufgehoben, die Beschreibung der Natur hat durch die Erzählung zu sich selbst gefunden. Aber die äußere Natur, die in Form der Sonnenstrahlen Zutritt zu dieser Welt hat, bildet die weitere Dissoziation des Geistes vor, die ja zu Beginn des zweiten Teils mit den »Brechungen des Lichtstrahls« verglichen worden war, dessen Synthese nicht mehr gelingt. Die Fremden, die nun erscheinen, verkörpern diese neue Brechung der Weltanschauungen: Man hörte Menschenstimmen in der Nähe, die großen Fliigelthüren nach dem Garten wurden geöffnet, und einige Reisende setzten sich auf die Stufen der breiten Treppe, in den Schatten des Gebäudes. Die reitzende Landschaft lag in schöner Erleuchtung vor ihnen, und im Hintergrunde verlor sich der Blick an blauen Gebirgen hinauf. (N I, S. 96)
Bemerkenswert ist hier, daß die Fremden aus dem esoterischen Raum in die hermetische Welt des Heiligtums gelangen, andererseits aber selbst in sehr viel höherem Maße als die Eingeweihten und Lehrlinge der Isis sich esoterischer Anschauungs- und Ausdrucksformen bedienen. Insgesamt sind es vier Fremde, die jeweils zweimal zu Wort kommen: der »Eine«, ein »Anderer«, ein »Dritter« und schließlich ein »schöner Jüngling«: Dem ersten erscheint der Mensch als janusköpfiges Wesen, als ein Bewohner zweier Welten: Die Außenwelt, sagt er, »wird durchsichtig und die Innenwelt mannichfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwey Welten in der vollkommensten Freyheit und dem freudigsten Machtgefühl«. (N I, S. 97) Die körperlichen Sinne sind ihm der Maßstab der Erkenntnis, denn die Natur ist ihm »jene wunderbare Gemeinschaft, in die unser Körper uns einführt, und die wir nach dem Maaße seiner Einrichtungen und Fähigkeiten kennen lernen«. (N I, S. 97) In die >Natur der Dinge< zu dringen, so fährt er fort, setzt die Kenntnis der »innern Verhältnisse und Einrichtungen unseres Körpers« voraus. (N I, S. 97 f.) In der Sprache der Körperwelt soll sich die geistige Sprache der >höheren Natur< entziffern lassen:
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Potenzierung und Logarithmisierung Hätte man dann nur erst einige Bewegungen, als Buchstaben der Natur, herausgebracht, so würde das Dechiffrieren immer leichter von statten gehn, und die Macht über die Gedankenerzeugung und Bewegung den Beobachter in Stand setzen, auch ohne vorhergegangenen wirklichen Eindruck, Naturgedanken hervorzubringen und Naturcompositionen zu entwerfen, und dann wäre der Endzweck erreicht. (N I, S. 98)
Die Nähe dieses Arguments zum naturalistischen Argument der aufklärerischen Psychologie ist evident: Genau auf diese Weise hatten EBERHARD, HENNINGS und andere das Entstehen der > Ahnungen und Visionen< auf den Selbstbetrug der Einbildungskraft zurückgeführt. Bei NOVALIS nun wird diese Täuschung als »Endzweck« des Erkenntnisstrebens gepriesen. In seinem zweiten Redebeitrag expliziert der erste Fremde seine »wahre Theorie der Natur« als einen »Zusammenhang« der »Gedankenwelt in sich« - das Kohärenzkriterium ersetzt damit das Korrespondenzkriterium, das nur in stark abgeschwächter Form als »Harmonie mit dem Universum« noch Bestand hat. Kohärenz und schwache Korrespondenz zusammen erzeugen damit die »Abbildung und Formel des Universums«. (N I, S. 101) Der zweite Fremde konkretisiert diesen Anspruch in hermetischen Bildern, die jedoch noch nicht als poetische verstanden werden dürfen - die poetologische Summe der vorherigen Meinungen wird erst vom dritten Fremden formuliert und gerechtfertigt. Die Zusammensetzung der Natur ist dem zweiten Fremden ein »ungeheures Feuer« oder ein »wunderbar gestalteter [B]all«, oder sie erscheint ihm als »Zweyheit oder Dreyheit«. (N I, S. 98) Er verallgemeinert die Kohärenztheorie des ersten Fremden auf den Extensionsraum beliebig vieler möglicher Welten, die Natur ist ihm »das Erzeugniß eines unbegreiflichen Einverständnisses unendlich verschiedener Wesen« im »Berührungspunkt unzähliger Welten«. (N I, S. 98) Die Formeln des Unbegreiflichen und Unberechenbaren werden in der Unabzählbarkeit möglicher Welten aufgelöst. Die aktuelle Natur ist damit nur eines von unzähligen möglichen okkulten oder manifesten Natursystemen. Der dritte Fremde vermittelt, indem er zwischen Erkenntnis und Auslegung der Natur unterscheidet. Noch über dem Naturkundigen (der nach Erkenntnis strebt) steht für ihn der »Naturhistoriker«, der die Natur auslegt und »vertraut mit der Geschichte der Natur und bekannt mit der Welt, diesem höheren Schauplatz der Naturgeschichte, ihre Bedeutungen wahrnimmt und weißagend verkündigt«. (N I, S. 99) So wird er »auf der Natur, wie auf einem großen Instrument fantasiren können«. (N I, S. 99) Für die Gegenwart ist diese Kunst aber noch nicht erschlossen: Noch ist dieses Gebiet ein unbekanntes, ein heiliges Feld. Nur göttliche Gesandte haben einzelne Worte dieser höchsten Wissenschaft fallen lassen, und es ist nur zu verwundem, daß die ahndungsvollen Geister sich diese Ahndung haben entgehen lassen und die Natur zur einförmigen Maschine, ohne Vorzeit und Zukunft, erniedrigt haben. Alles
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Göttliche hat eine Geschichte und die Natur, dieses einzige Ganze, womit der Mensch sich vergleichen kann, sollte nicht so gut wie der Mensch in einer Geschichte begriffen seyn oder welches eins ist, einen Geist haben? die Natur wäre nicht die Natur, wenn sie keinen Geist hätte, nicht jenes einzige Gegenbild der Menschheit nicht die unentbehrliche Antwort dieser geheimnißvollen Frage, oder die Frage zu dieser unendlichen Antwort. (N I, S. 99)
Die hohen Erwartungen, die NOVALIS auf die »künftigen Historiker der Magie« richtet, werden hier reformuliert. Diese enzyklopädischen Hoffnungen aber leben zugleich von der Arbeit derer, die - »im Vertrauen auf die Allgegenwart und die innige Verwandtschaft der Natur« und »von der Unvollständigkeit und der Contlnuität alles Einzelnen überzeugt« (N I, S. 103) - den Einzelphänomenen nachgehen. Bis hinunter zu den Dilettanten reicht der Nutzen dieser Haltung: Oft »erfahren diese liebenden Kinder in seligen Stunden herrliche Dinge aus den Geheimnissen der Natur, und thun sie in unbewußter Einfalt kund«. (NI, S. 103) Als höchste Steigerung vertritt zuletzt der »schöne Jüngling« die reflektierten Ansprüche der Poesie, die er als Erbschaft der hermetischen Ansprüche und deren Auslegung, wie sie seine Vorredner expliziert hatten, begreift; als prosaischer Verwandter des fröhlichen Gespielen ist seine Erscheinung gleichfalls physisch bestimmt - als Schönheit. Der Anthropomorphismus als zentrales Argument aufklärerischer Säkularisierung ist in der Dichtung nicht mehr Täuschung, sondern Vollendung der Natur. Die okkulten Disziplinen haben dies vorgebildet: Drückt nicht die ganze Natur so gut, wie das Gesicht, und die Geberden, der Puls und die Farben, den Zustand eines jeden der höheren, wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen? (N I, S. 100)
Der Grenzfall dieser Erfahrung drückt sich für den poetischen Jüngling im Erhabenen aus, dem die Epistemologie der okkulten Ansprüche über die gemeinsame Wurzel in der Rhetorik des Enthusiasmus verwandt ist: Ob jemand die Steine und Gestirne schon verstand, weiß ich nicht, aber gewiß muß dieser ein erhabnes Wesen gewesen seyn. [...] Das Erhabne wirkt versteinernd, und so dürften wir uns nicht über das Erhabne der Natur und seine Wirkungen wundem, oder nicht wissen, wo es zu suchen sey. (N I, S. 101)
Im Gegenzug zu dieser Tendenz zur Versteinerung, auf die der erste Redebeitrag des schönen Jünglings hinausläuft, wird in seinem zweiten Beitrag die Ästhetik des Flüssigen entwickelt: Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft und manchem ist diese Ahndung des höchsten Genusses und Lebens wohl nie in der trunkenen Seele
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Potenzierung und Logarithmisierung aufgegangen. Im Durste offenbart sich die Weltseele, diese gewaltige Sehnsucht nach Zerfließen. (N I, S. 104)
Auch in dieser Rede ist die Anknüpfung an hermetische Ideen unübersehbar, die materialistische Chemie hingegen wird als Abtötung des Geistes in der Natur verstanden: Wie seltsam, daß gerade die heiligsten und reitzendsten Erscheinungen der Natur in den Händen so todter Menschen sind, als die Scheidekünstler zu seyn pflegen! sie, die den schöpferischen Sinn der Natur mit Macht erwecken, nur ein Geheimniß der Liebenden, Mysterien der hohem Menschheit seyn sollten, werden mit Schaamlosigkeit und sinnlos von rohen Geistern hervorgerufen, die nie wissen werden, welche Wunder ihre Gläser umschließen«.(N I, S. 105)
So folgt daraus, daß »keiner die Natur begreifen [wird], der kein Naturorgan, kein innres naturerzeugendes und absonderndes Werkzeug hat, der nicht, wie von selbst, überall die Natur in allem erkennt und unterscheidet und mit angebomer Zeugungslust, in inniger, mannichfaltiger Verwandtschaft mit allen Körpern, durch das Medium der Empfindung, sich mit allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie einfühlt«. (N I, S. 105) Hier wird nun deutlich, daß der Schritt von der individuellen Subjektivität zur Narursubjektivität vollzogen ist: Während den Lehrling alles in sich selbst zurückführt, so daß er sich selbst in allem wiederfindet, findet sich nach den Worten des Sprechers der Natur die Natur selbst in sich wieder, nämlich durch das individuelle Naturorgan, das »überall die Natur in allem erkennt und unterscheidet«. Anschaulich wird diese Erkenntnis im Naturbild, durch das das Viergespräch zwischenzeitlich unterbrochen wird: Die fernen Berge färben sich bunt, der Abend legt sich »mit süßer Vertraulichkeit über die Gegend« (N I, S. 101), es findet eine wortlose Kommunikation im Geiste der Sympathie statt. Das Bild von der »kühlenden Flamme« die »aus Krystallschalen in die Lippen der Sprechenden« hineinlodert (N I, S. 106), stammt höchstwahrscheinlich aus der hermetischen Literatur,87 aber es verfehlt den Charakter eines solchen Einflusses, wenn man annimmt, damit äußere NOVALIS sich in seinem Text im Geiste der Hermetik.88 Nach den Prämissen des Textes findet sich die Natur selbst in allen Erscheinungen wieder, und der Geist der Stunde
87
88
Eine Quelle des Bildes konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden. Es liegt nahe, eine bildliche Darstellung anzunehmen, wie sie in den hermetischen Schriften bei der allegorischen Darstellungen chemischer Verwandlungen beigegeben wurden. So zum Beispiel Roder (1992), S. 389, S. 394 ff. Die dort aufgestellte Behauptung, die Lehrlinge zu Sais seien »ganz durchzogen von der geistigen Haltung echter Alchemie« überrennt einmal mehr die Ebenen zwischen Sachprosa und Dichtung.
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zeichnet sich gerade durch die Aufhebung der Differenz zwischen exoterischer und esoterischer Perspektive aus. Von den Versammelten heißt es: Ihre Aussprache war ein wunderbarer Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen und sie zerlegten. Jeder ihrer Namen schien das Losungswort für die Seele jedes Naturkörpers. (N I, S. 106)
Die transrationalen Ansprüche der okkulten Disziplinen erfüllen sich als musikalisierte Losungsworte. Auf Erklärungen der hermetischen oder physikalisch-chemischen Hintergründe der wunderbaren Phänomene kann im Text genauso verzichtet werden wie auf die des natürlichen Phänomens der Abenddämmerung, sie haben den gleichen Grad an Selbstverständlichkeit. Die Natur ist transparent hinsichtlich ihrer Geheimnisse; was im esoterischen Diskurs aus Gründen der Geheimhaltung und im exoteri sehen aus Gründen der Perspektive opak erschien, ist im poetischen durchsichtig geworden. Dies Verfahren einer Aufklärung der Begriffe läßt sich wohl am genauesten mit einem von NOVALIS selbst geprägten Doppelbegriff als »Schein der Allegorie« charakterisieren. Der Kontext, in dem NOVALIS von diesem allegorischen Schein spricht, ist der der zweckmäßigen, heteronomen künstlichen Poesiekünstlichen< unterscheidet NOVALIS nun die >natürliche< Poesie. Der »Roman gehört zur natürlichen Poesie, die Allegorie zur Künstlichen«. (Ebd.) Dann aber wird auch hier die eine Sphäre für die andere zugänglich: Die natürliche Poesie kann oft ohne Schaden den Schein der Künstlichen - der Didaktischen - haben - Es muß aber nur zufällig, nur frey damit verknüpft seyn. Dieser Schein der Allegorie giebt ihr dann noch einen Reitz mehr - und sie kann nicht Reitze (Incitamente jeder Art) genug haben. (Ebd.)89
Zur Funktion solcher »Incitamente« schreibt NOVALIS an anderer Stelle, daß sie als »Zwangsmittel« gegen »Schwärmerey und Philisterey« angezeigt sein können. (N II, S. 415)
Vgl. Kurzke(1984),S. 197 f.
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Die Allegorie als märchenhafte prima materia der Poesie hat also ihren Reiz im Schein eines Zwecks, der von den pragmatischen Kontexten her, in denen sie Anwendung fand, auf sie fällt. Diese zweckorientierten allegorischen Kontexte können sowohl schwärmerische als auch antischwärmerische sein;90 als »Schwärmerey« und »Philisterey« sind sie für NOVALIS äquivalent geworden. In FRIEDRICH SCHLEGELS Definition der Allegorie wird die historische Abhängigkeit der ästhetischen Forderungen der Frühromantik von den Ansprüchen der okkulten Disziplinen auf Darstellung des Undarstellbaren noch deutlicher: Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk [...]. Mit anderen Worten: alle Schönheit ist Allegone. Das höchste kann man eben, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.5"
Ebenso ist auch für NOVALIS der hieroglyphische Urstoff der Allegorik unter anderem in den historischen Verlautbarungen, den Losungsworten des hermetischen Denkens dargestellt. Durch die Aussparung der naturalisierenden Allegorese ist der materielle Teil der Allegorie unsichtbar geworden.92 Die Bilderrede wird nun selbst zum allegorischen Schleier in dem Sinn, in dem er bei FRANZ VON BAADER bezeichnet wird: Wie der Mensch die Wahrheit nicht anders, als im Schleier, in Gewand und Bild ersah, so kann er sie auch nicht anders, als im Schleier, im Gewände und Bilde [...] außer sich darstellen. Was ärgert ihr euch also an Bildwörtern, an sinnlicher Redensart etc?93
Die allegorisierten Fakten sind sprachlich geworden. Die Sprache ist nicht mehr ein Medium der »Vergleichung zwischen physikalischer und moralischer Welt«,94 sie spiegelt sich in sich selbst, wie es im berühmten Monolog von NOVALIS heißt:
90 91 92
93 94
Vgl. den ersten Teil der vorl. Arbeit. Athenäum 3 (1800), Nachdruck Stuttgart'1960, S. 107 f. Die physikalisch-chemische Allegorik wird am deutlichsten im Märchen von Eros und Fabel aus dem Heinrich von Ofterdingen, wo die Bäume aus Kristallpflanzen, die sympathetischen und ausgelöschten Schriften, die elektrischen Kunststücke als unaufgelöste naturalisierte Kunststücke zu verstehen sind. Vgl. den Abschnitt 4.2.1. der vorliegenden Arbeit. F. v. Baader, Werke Bd. 11, S. 149. Vgl. S0rensen (1963), S. 153 f.
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Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache ist, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie so ein wunderbares und fruchtbares Geheimniß, - daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. (N II, S. 672)
Durch die allegorisch erscheinenden »Incitamente« sollen beide Klassen der Leute, die um der Dinge willen zu reden meinen, von ihrem Lächerlichen Irrtum< kuriert werden: Die Schwärmer, die nur vom >höheren< Schriftsinn reden, und die Philister, die nur einen trivialen Schriftsinn im Sinn haben.
4. Voraussetzungen zur Annihilation des Philister-Geistes: Zum Standort des romantischen Erzählers um 1800 4. l. Schwärmerei-Kritik als »poetischer Atheismus« In TECKS William Lovell war die Schwärmerei noch ein Seelenvermögen, das auf die Probe literarischer Erfahrung gestellt werden konnte. Das Zusammenwirken von mechanischer Intrige und schwärmerischer Einbildungskraft brachte die Illusion hervor, und die Vorhang-Metapher wurde eingesetzt, um den Transitus vom illusionären zum desillusionierten Weltbild zu veranschaulichen. In den romantischen Romanen, die sich um 1800 mit dem Problem der Vermittlung von subjektiver Anschauung und Wirklichkeit im Medium des Erzählens auseinandersetzen, wird dem Illusionären ein anderer Rang zugeschrieben. Die Täuschung befindet sich jetzt nicht mehr auf der Seite der schwärmerisch überspannten, sondern auf der Seite der philiströs ermatteten Einbildungskraft. GOETHE, der mit der Figur des Albert aus dem Werther dem Philister seine für die deutsche Literatur prägende Gestalt verliehen hatte, wurde in den Augen der jüngeren Generation mit der prosaischen Auflösung der Romangeheimnisse des Wilhelm Meister selbst zum Opfer eines schwärmereifeindlichen »poetischen Atheismus«, den NOVALIS als den Geist dieses Buches empfand.95 Die Prinzipien romantischer Kritik, die von FRIEDRICH SCHLEGEL am Beispiel der Kritik von GOETHES Bildungsroman entwickelt wurden und die über die Reflexionsstufe der >romantischen Ironie< in die poetische Praxis übertragen werden sollten, erlaubten es nun aber nicht, das psychologische Modell des Desillusionierungsromans unreflektiert auf den Kopf zu stellen. Auf die Desillusionierung ließ sich nicht einfach mit
95
N III, S. 639.
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Reillusionierung antworten, ohne aufs Prinzip der >Mittheilung< und der Zwecke zurückgeworfen zu werden. Indem aber die >natürliche Poesie< sich selbst zum Gegenstand machte, konnte sie sich vom Zwang der Zweckhaftigkeit befreien. Das >DidaktischeMittheilung< her in die >natürliche< Welt. Im »nachgelassenen Roman« Heinrich von Oßerdingen von NOVALIS läßt sich der Schein des >Didaktischen< in der Märchenwelt wiederfinden, mit der sich die Romanwelt verbindet, im Roman Godwi von CLEMENS BRENTANO in der Bloßstellung der nüchternen Philisterwirklichkeit und im Aufscheinen sinnlicher Gegenwelten zu dieser Philisterwelt.
4.2. Der Roman der Poesie 4.2.l.Klingsors Poetik Die Offenbarung des unaussprechlichen Naturgeheimnisses blieb auch in den Lehrlingen zu Sais ein transzendentales Ereignis, das sich im Märchen und in der mit dem Märchenhaften assoziierten Beschwörung der Musik als einer Sprache des Unaussprechlichen spiegelte. Der »Roman der Natur«, in dem die Natur selbst als Subjekt zum Sprechen gebracht werden sollte, hatte also vorerst nur den Weg geebnet zu einer poetischen Verschmelzung des Natürlichen und des Wunderbaren im Medium des märchenhaften Erzählens. Der »Roman der Poesie«, den NOVALIS mit dem Heinrich von Oßerdingen vorlegen wollte, reflektiert diesen poetologisehen Anspruch. In einem Entwicklungsroman, der sich am Vorbild des Wilhelm Meister orientierte, mußte die Konfrontation des Wunderbaren mit dem Natürlichen jedoch in einen psychologisch motivierten Prozeß einbezogen werden, und die utopische Verschmelzung der beiden Elemente wurde als propositionaler Inhalt aus dem Gefühl des Romanhelden heraus zum bewegenden Prinzip des Erzählens. Das narrative Grundmodell der Reise zielt in den vollendeten Teilen des Heinrich von Ofterdingen nicht mehr auf eine Desillusionierung und deren ästhetische Kompensation, sondern auf eine Erfüllung der von Anfang an keimenden sehnsüchtigen Ahnungen im Raum einer Wirklichkeit, die potenzierte, konzentrierte Märchenhaftigkeit ist. Wie im Märchen aus den Lehrlingen zu Sais löst auch im Heinrich von Ofterdingen das Erscheinen eines rätselhaften Fremdlings die innere und äußere Bewegung auf dieses Ziel hin aus: »Wo eigentlich nur der Fremde herkam?« fragt sich der Romanheld zu Beginn des ersten Teils: »Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen
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worden bin; die Anderen haben ja das Nämliche gehört, und Keinem ist so etwas begegnet«. (N I, S. 195) Das Unausgesprochene, das dem jungen Heinrich von Ofterdingen zur Quintessenz der geheimnisvollen Rede des Fremden wird, ist in jenem berühmten, für den Dichter und die ganze romantische Schule sinnbildlich gewordenen Motiv von der blauen Blume bezeichnet, deren Traumerscheinung das »unaussprechliche Verlangen« in Heinrich geweckt hat. (Ebd.) Aber der »höhere Sinn«, den der Romanheld mit dem Hinweis auf seine exklusive Ergriffenheit unter Beweis stellt, bleibt ihm zunächst selbst »unbegreiflich«. (Ebd.). Die >höhere Wissenschaft^ in der sich dieser »höhere Sinn« Heinrichs erfüllt, ist im »Roman der Poesie« die Wissenschaft von der Poesie selbst. Wie sich die Erzählung diesem Ziel annähert und wie der Erzähler dieser Annäherung vorausgreift und sie reflektiert, ist in der Forschungsliteratur vielfach analysiert und gedeutet worden.96 Im vorliegenden Zusammenhang sollen daher nur diejenigen Züge hervorgehoben werden, in denen Motive der naturphilosophischen Diskussion zu Argumenten des poetologischen Diskurses werden.
4.2.2. Empirische Basis der poetischen Wundererscheinungen Der Dichter Klingsor wird für Heinrich von Ofterdingen zur Leitfigur, die den Initianten in die Geheimnisse der poetischen Magie einweiht. Wie in den Lehrlingen zu Sais, so wird auch hier zunächst der Blick in die Ferne der äußeren Landschaft zum Paradigma einer romantischen Anschauung der Welt. »Jene Fernen«, sagt Heinrich zu Klingsor, »sind mir so nah, und die reiche Landschaft ist mir eine innere Fantasie. Wie veränderlich ist die Natur, so unwandelbar auch ihre Oberfläche zu seyn scheint«. (N I, S. 279 f.) Das Zerfließen der Dinge hinter der subjektiv durchwirkten Oberfläche der Erscheinungen wird nun aber von Klingsor zur Bedingung der Möglichkeit poetischer Erfahrung erklärt. Dabei gewinnt die Umdeutung des Illusionären, die doch keine Umkehrung sein soll, Gestalt. Die prosaische Welt, so lehrt Klingsor, sei nur eine »anmuthige Täuschung«, und das »Chaos« müsse »in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern«. (N I, S. 286) Die vernünftige Ordnung der Dinge wird als Schein betrachtet und das »Romantische« als das Medium definiert, in dem das Durchscheinen des Chaos vermittelt wird. Häufig übersehen wird dabei jedoch das Gewicht, das Klingsor auf die Erfahrung als Voraussetzung der Dichtung und insbesondere der
96
Vgl. Samuel (1963), S. 252-300.
300
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Märchendichtung legt: Gerade weil er sagen kann, »daß die Poesie ganz auf Erfahrung beruht«, muß für Klingsor ein der Erfahrung scheinbar so weit entrücktes Produkt wie ein Märchen ganz von Erfahrung getränkt sein. (N I, S. 286 f.) Nur auf dieser Basis kann die Sprache darin »eine kleine Welt in Zeichen und Tönen« darstellen. (N I, S. 287) Welche Art der Erfahrung meint Klingsor, und worauf beziehen sich die Zeichen und Töne, mit denen die Märchenwelt gestaltet wird? In dem Märchen, das Klingsor am Abend nach dem Gespräch mit Heinrich erzählt, bleiben beide Fragen unbeantwortet. Welche Anschauung des Autors sich aber hinter Klingsors Rede verbirgt, machen einige Notizen deutlich, die sich in NOVALIS' Vorarbeiten zum Roman finden. Die »Anspielungen auf Elektrizität, Magnetism und Galvanism« (N I, S. 337), die NOVALIS dort vorsieht, sind in Klingsors Erzählung von aller physikalisch-chemischen Erklärungsbedürftigkeit befreit. In den Vorstudien sind sie hingegen noch wie in einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung mit den Rahmenbedingungen beschrieben, so als stünden die Figuren von Klingsors Erzählung dem Dichter wie die elektrisierbaren Stanniolfiguren aus der Natürlichen Magie leibhaftig zur Verfügung: »Aufrichtung des Atlas durch Galfvanischen] Reitz«, heißt es dort zum Beispiel, oder: »Jemanden mit Wasser todtschlagen d[urch] Elektrizität]«. Und weiter: »Blumen bringen die im Feuer gewachsen sind Zink. Die Prinzessin zu erwecken bey Tage - durch einen galvanischen Bogen. Die Liebe eine Kette - ein Kuß der Liebe weckt sie. Sie macht sich einen Ableiter an - >und berührt den Helden, mit der Hand, mit der Anderen die Prinzessin mit einer Kohle v[on] d[er] verbrannten L[iebe].< (N I, S. 339) NOVALIS bezieht hier die populären Phänomene der natürlichen Magie den elektrischen Kuß, die Beatifikation, die galvanischen Wirkungen auf den Organismus - ein, aber deren Auflösung müßte - abgesehen vom Problem des wissenschaftshistorischen Anachronismus - auch die poetische Magie des Märchens zerstören. Ebenso bleiben die sympathetischen Schriftkunststücke (N I, S. 294), magnetischen Zaubereien (N I, S. 294), optischen Kunststücke (N I, S. 301) und elektrischen Wundererscheinungen (N I, S. 313) des Textes für die Zuhörer Klingsors aus historischen und poetologischen Gründen unbegreiflich. Nur so kann die Beschwörung realer Gegenwart, mit der das Märchen und der erste Teil des Romans ausklingt, den Eindruck höherer Wirklichkeit erwecken, der von keiner Entwunderung berührt wird. Die physikalisch-chemische Erfahrung, die der naturwissenschaftlich versierte Dichter NOVALIS auch aus primären Quellen schöpfen konnte, wird jedoch durch eine literarische Erfahrung überformt, und hier wird neben GOETHES Märchen der zweite Einfluß wirksam, auf den in anderem Zusammenhang bereits kurz verwiesen wurde: »Das physikalische Wundermährchen der Genlis« als »ein artiger Versuch« ist die >didaktische< Form der
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Poesie, auf die NOVALIS sich hier bezieht. (N III, S. 440) Im Märchen Alphons und Dalinde der STEPHANIE FELICITE DE GENLIS, worin eine scheinbar phantastische Wunderwelt »scientifisch« erklärt wird, finden sich die >Mittheilungem, die dann mit dem Roman >zufällig< und >frey< verknüpft werden.97 Der enzyklopädische Anspruch der Wundererklärung ist dort durch einen pädagogischen ersetzt worden, die »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« ist zu einem Verfahren der Kinder- und Jugendliteratur geworden: Nicht kaltes Räsonement macht den Menschen beßer, sondern treffende Beyspiele, rührende Gemähide, die auf die Einbildungskraft wirken; mit einem Wort: Moral in Beyspielen lehrt den Menschen, weiser und beßer zu werden, und das ist das beste Mittel zur Bildung seiner Seele.98
Im Text selbst wird dann bloß der »Unwissenheit« die Schuld daran gegeben, daß die Menschen glauben können, »man könne das Wunderbare und Seltsame nur in Mährchen finden«, wo doch »Natur und Kunst« Erscheinungen genug lieferten, »die eben so auffallend sind, als die wunderbarsten Begebenheiten«.99 Allerdings sind diese wunderbaren Begebenheiten nicht improvisierbar; die Mutter, die sie ihren Kindern erzählt, muß daher zuerst »Bücher über Naturgeschichte« lesen, damit »alles, was Bezauberung und Hexerey scheint«, in Wahrheit aber »ohne Magie, ohne Hexerey und Feerey« zugeht, mit dem Lauf der Natur und der Geschichte übereinstimmt. Zunächst wird den Kindern jedoch - wie bei ECKARTSHAUSEN den Erwachsenen - alles als »ganz unbegreiflich« vorgestellt: Alphons, der Sohn eines Emporkömmlings, klammert sich mit der gleichen Verbissenheit an einen falschen Stammbaum, den sein Vater sich ausgedacht hat, mit der sonst der Aberglaube an seiner irrigen Weltsicht festhält. Mit dieser illusionären Wahrheit identifiziert sich Alphons so sehr, daß er, als er ein Opfer des berühmten Lissaboner Erdbebens wird, eher alle Wertgegenstände aus seinem Besitz als den gefälschten Stammbaum der Naturgewalt opfert. Auch hier ist der Doppelsinn unübersehbar: Ebenso wie Alphons verzichtet auch der Aberglaube lieber auf die
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Zitiert nach der dt. Übersetzung Ländliche Unterhaltungen oder Zaubereyen der Kunst und der Natur zur Belehrung för Kinder, aus dem Französischen, Regensburg 1794. Bereits die Herausgeber der kritischen Novalis-Ausgabe weisen in einer ausführlichen Erläuterung zu N III, S. 440 auf diese Schrift hin (N , S. 979 ff.), lassen jedoch die literaturgeschichtliche Bewertung des Einflusses auf die Geschichte des romantischen Kunstmärchens ausdrücklich offen (ebd. S. 981). Ländliche Unterhaltungen (l 794), Vorrede, S. III. Ebd. S. 94.
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kostbare Wahrheit als auf seine eingebildeten hermetischen Prinzipien. Im Sinne der natürlichen Magie kann nun aber die Naturwissenschaft die hermetischen Ansprüche auf Erklärung des Unerklärlichen ersetzen. In ausführlichen Anmerkungen wird so zum Beispiel das große Erdbeben als Folge der Entzündung eingeschlossener und heftig expandierender schwefliger Luftmassen gedeutet.100 Von Frankreich aus führt Alphons' Desillusionierungsreise über Spanien, Portugal, Afrika, die Kanarischen Inseln und Rußland wieder zurück nach Frankreich, wo er gerade rechtzeitig anlangt, um den Erstflug des Mongolfiere zu erleben. Seine Reaktion darauf: »O unbegreifliche Wunder, worüber die Vernunft erstaunen muß!«101 Die Unbegreiflichkeit der Wunder, die in den Anmerkungen am Ende des Buches ihre natürliche Auflösung finden, lassen die Liebesgeschichte von Alphons und Dalinde, die sich verlieren und wiederfinden, fast nebensächlich erscheinen. Beherrschung der eigenen Einbildungskraft ist das pädagogische Ziel, die Vernunft soll über das untere Seelenvermögen siegen, indem dessen Kraft sich verausgabt: Denn nur »mit Hülfe der Vernunft vermag man alles über sich, was man will«.102 Dem Pflaumentopf-Dilemma - dem Dilemma der natürlichen Enttäuschung des Menschen (und der Kinder a fortiori) bei der naturalistischen Auflösung der Wunderwelt in Prosa - wird dabei mit einem psychologisch wenig raffinierten Schachzug vorgebeugt: »Ich sterbe vor Verlangen, die Anmerkungen zu lesen«, läßt die Erzählerin eines der Kinder schon im Voraus übereifrig beteuern, nachdem die wunderbare Reise zu Luft, zu Wasser und zu Land den Helden wieder nach Frankreich zurückgeleitet hat und die physikalischchemische Erklärung an die Stelle der Schilderung rätselhafter Phänomene gesetzt werden soll. Daß dabei im kurzen Sektor eines Lebenslaufs zugleich das Erdbeben von Lissabon, die Errichtung des Petersburger Eispalastes, die Erfindung des Blitzableiters und der Erstflug Mongolfieres Platz finden, wird weder reflektiert noch problematisiert: Da der ganze Lebenslauf des Helden sich im exemplarischen Erleben dieser Ereignisse erschöpft, treten an die Stelle der zahlreichen möglichen Welten der Einbildungskraft, die auf die eine physikalisch-chemische Realität reduziert werden sollen, zahlreiche VernunftWelten, die zwar physikalisch-chemisch kohärenten Gesetzen gehorchen, historisch und geographisch aber kontingent und nicht kompatibel sind.103 Was in JEAN PAULS Titan die gemeinsamen Konstanten der Erzählung und der Wirklichkeit waren - die Revolution und der Krieg - ist hier zufällig, und was 100 101 102
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Ebd. S. 417 f. Ebd. S. 307. Ebd. S. 201. Vgl. das Wunder, das nach Spanien versetzt wird, weil sich der Held zufällig gerade dort aufhält, ebd. S. 161.
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dort kontigent erschien - die Varianten der >scientifischen< Erklärung - ist hier konstant. In Klingsors Märchen wird nun auf eine Erklärung im Sinne des >scientifischen Märchens< konsequent verzichtet.104 Denn wie schon in den Lehrlingen zu Sais, so sollte auch im Heinrich von Oßerdingen das Märchen seine Verwandlungsmacht auch auf die historische Wirklichkeit entfalten. Wie im Märchen von Alphons und Dalinde werden also die weltgeschichtlichen Konstanten zu Variablen der wunderbaren, erzählten Welt. In den Plänen zur Fortsetzung des Romans läßt NOVALIS den Romanhelden in ein Kloster kommen, das ihm wie eine »mystische, magische Loge« erscheint. (N I, S. 342) Aber nicht die abgeschmackte Realität immer weiter ad infinitum sich gegenseitig enthüllender Geheimbundintrigen soll sich darin widerspiegeln. Ausdrücklich wird betont, daß diese Sphäre märchenhaft transparent und überhistorisch erscheinen soll: »Die Mönche im Kloster«, so schreibt er erläuternd, »scheinen eine Art Geistercolonie. Erinnerung ans Feenmährchen von Nadir und Nadine. Viele Erinnerungen an Mährchen. Heinrichs Gespräche mit dem Mädchen. Wunderliche Mythologie. Die Mährchenwelt muß jetzt recht oft durchscheinen. Die wirkliche] Welt selbst wie ein Märchen angesehen«. (N I, S. 343) Damit wird im Vorgriff Klingsors Forderung nach Transparenz der scheinhaften Ordnung der profanen Dinge erfüllt. Und in dieser Atmosphäre wunderbar erhöhter Realität wird nun auch der Stein der Weisen wieder zu einem Gesprächsthema, ohne allerdings Raum zu lassen für eine semantische Resonanz moralischer Umdeutung. Heinrich soll mit den Mönchen im Kloster Gespräche »über Tod - Magie etc« führen, und diese Gespräche sollen münden in »Heinrichs] Ahndungen des Todes. Stein der Weisen«. (N I, S. 342) Die hermetischen und die profanen Wissenschaften erscheinen in dieser überhistorischen Roman weit als Uni Versalien: JACOB BÖHME, Mathematik, die Physiognomik - alles schließt sich in der »Herstellung der Märchenwelt« (N I, S. 347) zusammen. Damit sind auch die hermetischen Zeichendeutungskünste in ein neues Licht gerückt, das vom Zwielicht der Zeit >der Cagliostro, Schröpfer und anderen Lichtjahre entfernt zu sein scheint.
104
Vgl. hierzu das unwillige Urteil ACHIM VON ARNIMS, der an BRENTANO über »das Märchen in seiner Langweiligkeit« schreibt, »wenn man es nicht errathen kann, und mit seiner Unbedeutendheit, wenn man es weiß« (Achim von Arnim und die ihm nahe standen,, Bd. l, Achim vonAmim und Clemens Brentano, Stuttgart 1894, S. 41.
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Potenzierung und Logarithmisierung
4.3. Optische Erzähler-Kompetenz und erotische Erfüllung des Unaussprechlichen in Clemens Brentanos >Godwi< 4.3.1. Optische Magie der Einbildungskraft In JUNG-STILLINGS Heimweh wurde die Schwärmerei mit einem Blick durch ein trübes Glas verglichen. Von sich selbst sagt der Erzähler dort: »Jung Stilling ist hypochondrisch, er sieht den gegenwärtigen Gang der Dinge durch ein trübes Glas, und er nimmt zu in der Schwärmerei«. (JS III/5, S. 250) Und im Aufsatz über Die natürliche Magie der Einbildungskraft wiederum spricht JEAN PAUL metaphorisch vom »Fernrohr der Phantasie«, durch das sich der Blick auf die Welt poetisch verklärt. (H 1/4, S. 197) Diese beiden Aspekte werden in CLEMENS BRENTANOS »verwildertem Roman« Godwi oder das steinerne Bild der Mutter zu einer neuen Definition des Romantischen zusammengefaßt: Das Romantische, so wird dort im Gespräch gesagt, sei »ein Perspektiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases«.105 Die optische Metapher, die hier die Schleier-Metapher substituiert, hat den Vorteil, daß sich darin das Produktive und das Rezeptive im Akt des Romantisierens zugleich ausdrücken läßt: Alles, »was zwischen unserem Auge und einem entfernt zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch«. (Ebd.) Mit anderen Worten: Das Romantische bezeichnet seinen Gegenstand nicht allein, »sondern [giebt] seiner Bezeichnung selbst noch ein Kolorit«. (BW/2, S. 260) Aber nicht nur von JUNG-STILLING, sondern auch von der frühromantischen Deutung der Schwärmerei unterscheidet sich die Einstellung BRENTANOS. Während NOVALIS in der Schwärmerei noch ebenso wie in der Philisterei eine »logische Entzündung« diagnostizierte, die durch »chronische, streng befolgte Kuren« verändert werden konnte (N II, S. 415), hat sich bei BRENTANO dieses symmetrische Verhältnis aufgelöst: Die Schwärmerei ist einerseits zur Voraussetzung des >RomantischenRomantik< gerechtfertigte Schwärmerei vermag durch ihr perspektivisches Verfahren die Philisterei produktiv zu >annihilierenschamlose< Entweihung. So in der fünften Romanze vom Rosenkranz: Euch steht nur das Haar zu Berge Und dies nennt ihr reines Wissen Nennt's der Isis Schleier heben Hebt ihr schamlos euren Kittel. (Str. 105)
Von BRENTANOS Naturalisierung transzendentalistischer Ansprüche, so läßt sich spekulieren, wäre wohl ein Brückenschlag zu CHRISTOPH MARTIN WIELANDS sensualistischer Romanästhetik möglich gewesen, mit der er in der Ablehnung reiner Wissensformen übereinstimmte. Aber nachdem die Jenaer Romantik um die Brüder SCHLEGEL seit 1798 an der »systematische[n] Vernichtung seiner sämtlichen Poesie oder Unpoesie« arbeitete, die im vierten Stück des ATHENÄUM öffentlich vollstreckt wurde,110 war auch der sonst stets konziliante WIELAND zurückhaltend geworden. Zwar vermittelte er BRENTANOS Roman an den Verleger GERHARD FRIEDRICH WILMANS in Bremen, aber die Bitte um Vorausschickung eines Geleitwortes wies er mit dem Hinweis auf die weltanschauliche Differenz zurück. In einem Brief vom 4. Mai 1800 schreibt er an WlLMANS, der Verfasser des Godwi scheine ihm ein »durch den Umgang und durch die Schriften einiger allerneuester Ästhetiker, Dichter und
110
Athenäum 4. Stück (1799), S. 330, S. 340.
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Egoistisch-Idealistischen Filosofen etwas verschrobener Kopf« zu sein, mit welchem er, zumal er sein »Ich« näher kennen gelernt habe, »öffentlich in keinerley Art von Verhältniß zu kommen« wünsche.111 Mit der anschließenden kritischen Würdigung von BRENTANOS poetischem Talent scheint WIELAND auf seinen ein Jahr zuvor erschienenen Roman Agathodämon anzuspielen, in dem die Flugmetapher an zentraler Stelle in ähnlicher Weise beschworen wird und mit dem das Ausblickskapitel der vorliegenden Arbeit einsetzt: Sein Genius hat mächtige Flügel und schwingt sich oft so hoch, daß wir ändern Erdenbewohner ihm weder folgen noch in dem Elemente, worin ihm ganz wohl zu seyn scheint, Athem schöpfen können - Kurz, wenn er nicht vor der Zeit völlig überschnappt, muß noch ein sehr großer Schriftsteller aus ihm werden f....]."2
111 112
Zitiert nach FBA Bd. 9,3, S. 587. Ebd. S. 588.
IV. Retrospektive: Welt der Schwärmer und Philister
l. Nach der Sonnenwende Anstelle der sonst üblichen Ausblicke am Ende wissenschaftlicher Arbeiten sollen in der vorliegenden drei Rückblicke auf die bisher behandelte Epoche stehen, Rückblicke aus Werken, die in der Zeit nach jener >moralischen Sonnenwende< entstanden sind, die JEAN PAUL in seinem letzten Buch im achtzehnten Jahrhundert prophezeite.1 Die harte Zeit der Erdfälle und Lawinen, wie JEAN PAUL sie dort vor der Tür stehen sah, worin »Chemie und Physik und Geogonie und Philosophie und Politik verschworen den Isis-Schleier der stillen hohen Gottheit für eine Gestalt selber und die Isis hinter ihm für nichts ausgeben« würden, war jetzt angebrochen. Und in der Tat verbindet alle Werke, die dabei zur Sprache kommen, eine gewisse Nüchternheit, ja Ernüchterung gegenüber den enthusiastischen Darstellungen der Vorzeit. Die länger werdenden Schatten der Vergangenheit legen sich verdunkelnd auf die »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt«. Erneut steht WIELAND am Anfang dieser >VergleichungWetterprophet< muß er schließlich die Inkommensurabilität dieser Erfahrung bei der »Vergleichung zwischen der meteorologischen und moralischen Welt« konstatieren: Wenn sich der »dickste Nebel im ganzen 18. Jahrhundert« in diesem Roman auflöst, dann hält die aufgeklärte Wirklichkeit nicht, was die
H1/4, S. 930.
Aufklärung im Zwielicht
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vernebelte versprach. Den Abschluß der Arbeit bilden schließlich drei Rückblicke romantischer Autoren, nämlich E.T.A. HOFFMANNS, ACHIM VON ARNIMS und LUDWIG TTECKS, die auf sehr unterschiedliche Weise die Probleme und Paradoxien der >Vergleichung< aus der Perspektive des Zeitalters der Restauration zu bewältigen versuchen.
2.Aufklärung im Zwielicht der Gegenwelt 2.1. Skeptische Rechtfertigung der Täuschung Bereits in den 70-er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte CHRISTOPH MARTIN WIELAND in ein Handbuch Skizzen zu einer >Schwärmer-Biographie< des großen pythagoreischen Magiers APOLLONIUS VON TYANA eingetragen: Apollonius - ein Philosophischer Don Quischote. Damis - sein Sancho Pansa - und zum Unglück für Apollonius - u. uns - sein Geschichtsschreiber. Apollonius war ein großer, edler, in aller Betrachtung außerordentlicher Mensch, wie D. Quisch. wenn er eine historische Person wäre, auch gewesen wäre.2
Das Zitat läßt erkennen, daß WIELAND zu dieser Zeit wohl noch an ein Werk im Stil des Don Silvio dachte, worin das literarische Ebenbild des APOLLONIUS und der (vom Apollonius-Biographen PHILOSTRAT vermutlich erfundene) Biograph Damis eine der üblichen Schwärmer-Irrfahrten mit WindmühlenRitten der Einbildungskraft vollführen sollten. In der ernüchterten Atmosphäre der Jahrhundertwende sah WIELAND dann hauptsächlich in FICHTE den betrogenen Betrüger der neuen Generation, dessen »Same« die jüngeren Dichter zu »Richtungen« gemacht und selbst so hoffnungsvolle Talente wie NOVALIS zu phantastischen Affensprüngen verleitet habe.3 Dieser neueste philosophische >Wahn< konnte nun aber nicht mehr als reine Don-Quichoterie abgetan werden. WIELAND suchte daher nach anderen Erzählmustern, um seiner Überzeugung von der Permanenz der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit gegenüber allen subjektivistischen Auflösungstendenzen Nachdruck zu verleihen. Im Peregrinus Proteus war es die Distanz des elysischen Gesprächs, das den schwärmerischen Erdenweg des Peregrinus relativierte - und die Ironie der entrückten Sicht auf die verworrenen Weltläufe erlaubte es in diesem Roman auch, die Schwärmerei des Peregrinus als
2 3
Zitiert nach: Beißner (1937), S. 15. Brief an BÖTTIGER vom Pfingstmontag 1798, zitiert nach Starnes (1987), Bd. II, S. 647.
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unaufgehoben und psychologisch gerechtfertigt erscheinen zu lassen, ohne dabei ontologische Umwertungen vornehmen zu müssen.4 Im Agathodämon ist WIELANDS Strategie eine andere: Der subjektive Wahn der Ansprüche auf >höhere< Naturerkenntnis, der Geist hermetischer Don Quichoterie, ist in diesem Roman auf zwei Subjekte verteilt, die in der Erzählkonstruktion entweder nur eine Randrolle spielen - die Hirten, die sich vor dem rätselhaften »Agathodämon« im Gebirge fürchten - oder die gar nicht persönlich in Erscheinung treten wie der >Sancho Pansa< Damis. Damis wird nur zitiert in seinen (fiktiven) >Wundergeschichten«, und auf diese Weise soll das Bild von Apollonius als einem Magier korrigiert werden, das sich bis in WIELANDS Zeit gehalten hatte.5 Ebenso wie in BRENTANOS Godwi wird also im Buch über ein Buch reflektiert. Und doch unterscheidet sich die Struktur dieser Reflexion deutlich von jener, und eben diese Differenz veranlaßte WIELAND ja auch, eine poetologische neben der persönlichen Fürsprache für das Werk zurückzuweisen. In Godwi spiegelt sich das Werk - die Biographie Godwis - in sich selbst, während im Agathodämon das Werk eines anderen die fiktive Apollonius-Biographie des Damis - im Werk WIELANDS spiegelverkehrt in Erscheinung tritt. Wieland läßt den »weisen Geist der Vorzeit«, von dem im MAGAZIN ZUR ERFAHRUNGSEELENKUNDE die Rede war,6 tatsächlich wiedererscheinen - und er soll den »Lohn seiner Verdienste«7 tatsächlich finden - aber diese Verdienste werden umgedeutet und ins Gegenteil verkehrt. Der Mann, dem wiederum dieses Verdienst im Roman zukommt, ist der Erzähler Hegesias, welcher seinem Freund Timagenes aus der Distanz mehrerer Jahre seine Begegnung mit dem greisen Philosophen Apollonius im Diktäischen Gebirge in Briefform schildert. Aber Hegesias ist kein Schwärmer und Geisterbeschwörer, der Apollonius aus seinem Grab herausbeschwört, wie es der anonyme Verfasser des MAGAZINS FÜR ERFAHRUNGSSEELENKUNDE erwartet,8 sondern ein Arzt und Rationalist, der stets bemüht ist, allen subjektiven Wahn von sich fern zu halten. Nicht Wunderglaube, sondern botanische Studien (W 32, S. 9) haben ihn in die entlegene Gegend geführt, in welcher der >Agathodämon< haust. Somit ist die Erwartungshaltung des Lesers von vornherein gedämpft, seine Neigung, subjektivem Wahn Raum zu gewähren, wird zurückgedrängt - obwohl die Hirten, denen Hegesias
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Vgl. Heinz (1994), S. 33-53. Vgl. MzE, IX.2 (1792), S. 39. Ebd. Ebd. Ebd.
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begegnet, den wunderwirkenden und bei Nacht umgehenden »Dämon« eindrucksvoll schildern. Hegesias aber schreibt darüber an Timagenes: Du trauest mir hoffentlich so viel Nachsicht gegen die schwache Seite der menschlichen Natur [...] zu, daß ich diese guten Leute nicht durch entschiednen Unglauben und hartnäckigen Widerspruch gekränkt, und nur selbst dadurch ihre gute Meinung entzogen haben werde. Alles was ich mir erlaubte, waren Zweifel, ob solche Erzählungen, indem sie aus einem Mund in den ändern gingen, nicht unvermerkt ziemliche Veränderungen erlitten? Ob nicht etwa der erste Erzähler zuweilen ohne seine Schuld sich selbst getäuscht haben, oder von ändern getäuscht worden seyn könnte? und dergleichen.« (W 32, S. 10 f.)
Apollonius, der demnach ein >betrogener Betrügen der Hirten und der Nachwelt sein könnte, soll als Betrüger in vollem Bewußtsein seines Betrugs gerechtfertigt werden.
2.2. Gedämpfte Täuschung 2.2.1. Spätantike und Gegenwart Der Autor WIELAND ist klug genug, seinem Sprachorgan Hegesias noch so viel subjektiven Wahn zuzugestehen, daß das Bedürfnis des Lesers nach Wundern nicht völlig enttäuscht wird: Hegesias macht sich in Begleitung einiger mutiger Hirten ins Gebirge auf. Auf sie wirkt jedoch bereits die »schauerliche Landschaft des Hochgebirges« so beängstigend, daß sie sich von einem bestimmten Punkt an weigern, Hegesias weiter zu begleiten: Als wir endlich mit vieler Beschwerlichkeit den Wald erstiegen hatten, sahen wir uns, gegen die Zeit der Morgendämmrung, am Fuß einer hohen Fei sen wand, auf der Ostseite mit steilen Abgründen und von der entgegen stehenden mit über einander gethürmten Felsenstücken und dicht venvachsnen Gesträuchen umgeben, durch welche es beym ersten Anblick unmöglich schien sich einen Weg zu machen. Der Tag fing bereits an zu dämmern, und eine scharfe Morgenluft verdoppelte das Schauerliche dieser furchtbaren Wildnis. Meine Begleiter bestanden darauf, daß sie nicht weiter gehen könnten, falls ich kühn genug wäre, durch die unzugangbaren Trümmer noch höher empor dringen zu wollen; und da dies allerdings meine Meinung war, so empfahlen sie mich dem Schütze des Agathodämons [...] und ließen mich allein. (W 32, S. 16 f.)
Hier wird die erste Strategie deutlich, mit der WIELAND in diesem Roman versucht, das Eindringen des Subjektivismus in der Folge abergläubischer und antirationaler Vorstellungen einzudämmen: Während die Hirten das Schauerliche und Wunderbare aus der Natur sprechen lassen, wird dem Erzähler die Natur und der Landschaftsraum zu einem erzählten und sublimierten Ersatz für
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das Wunderbare. Denn die Kulissen sind die eines Schauerromans - aber Hegesias läßt sie für sich stehen, und sie begleiten das Wunderbare nur, anstatt es auszudrücken. In der unterschiedlichen Wirkung, den die Erscheinung des >Agathodämon< auf Hegesias einerseits und auf Damis andererseits macht, wird deutlich, wo WIELAND den Unterschied zwischen skeptisch gerechtfertigter und schwärmerisch fehlgeleiteter Anerkennung des Unfaßbaren sah: Hegesias dringt weiter ins unzugängliche Gebirge vor und hat sich - als erste Initiationsstufe - einen Weg durch die »unzugangbaren Trümmer« und die undurchdringliche Wildnis der Felsen und Sträucher gebahnt. Dann erreicht er ein nahezu vollständig isoliertes Hochtal, einen zugleich offenen und hermetischen Raum, in dem er - zu seiner eingestandenen Überraschung - alle Züge einer Kulturlandschaft vorfindet. Aus dem Gegenlicht des frühen Morgens tritt ihm eine ehrfurchtgebietende Gestalt entgegen, und in hochsublimierter Form wird der Schauer des natürlichen Hangs< wach, den er auf dem Wege der Reflexion zu bändigen versucht. (AD S. 19) Die Erscheinung des >Agathodämon< hat dabei Züge der Genius-Auftritte des trivialen Geheimbundromans: einen eisgrauen Bart und den durchdringenden Blick. Aber das Licht, in dem sich diese säkularisierte Theophanie ereignet, ist nicht mehr das nächtliche oder künstlich-magische Zwielicht von WIELANDS früheren Romanen, sondern klares, helles Morgenlicht. Diese aufklärerische Beleuchtung setzt sich in der Beschreibung fort, in welcher der Schrecken der scheinbaren Theophanie von vorneherein als uneigentlich erscheint: »ich fuhr bey Erblickung des Ehrfurcht gebietenden Greises eben so zusammen, als wenn es wirklich eine Erscheinung aus der unsichtbaren Welt gewesen wäre.« (Ebd.) Um so mehr, als die magischen Fähigkeiten, die solchen Genius-Gestalten im allgemeinen zukommen (bzw. auf die sie Anspruch erheben), sich tatsächlich auch beim Agathodämon wiederzufinden scheinen: Er nennt Hegesias, den er doch zum ersten Mal sieht, bei seinem Namen und spricht zu ihm: »Wenn es auch bloße Neugier wäre, was dich hierher geführt hat, [...] du bist willkommen, Hegesias.« (W 32, S. 20) In der Geheimbundliteratur werden höhere Erkenntnisse dieser Art als Taschenspielereien einer mechanischen Intrige naturalisiert, aber die Initiation, der sich Hegesias in den folgenden sieben Büchern des Romans unterwerfen muß, ist eine unendlich reflektierte und verfeinerte Abwandlung der langatmigen »Initiations-Reisen«, wie sie auch die Damis-Biographie vorspiegelt und wie sie in der Geheimbund-Literatur über die Vermittlungsstufe des Sethos bis in die Niederungen von SPIESS immer wieder nachgebildet wurde: Genauso, wie Damis auf seiner Weltreise im Gefolge des Apollonius in die Mysterien seiner pythagoreischen Philosophie eingeführt worden sein will,
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l t sich Hegesias w hrend seines dreit gigen Aufenthaltes im >Elysium< des Apollonius ber sieben Stufen ins Geheimnis von dessen Weltanschauung einf hren. Wie ein ferner Abglanz des Zwielichts haftet auch der Sprache des Hegesias noch etwas von der Farbe des Aberglaubens an: »Wenn du [...] in meiner Seele lesen kannst, so wird es dich nicht gereuen, mich dieser Gunst werth geachtet zu haben«, entgegnet er Apollonius bei der ersten Begegnung. (Ebd.) In der doppeldeutigen Formulierung »wenn du in meiner Seele lesen kannst«,9 bei der offen bleibt, ob Apollonius nur psychologischer oder okkulter Scharfblick unterstellt wird, schwingt noch etwas nach von dem Ausbruch subjektiver Verg tterung, zu der die erste Begegnung den Damis nach dem Zeugnis des PHILOSTRATOS verf hrt hatte. Der APOLLONIUS des PHILOSTRATOS hatte Damis ebenso auf Anhieb durchschaut wie der Agathod mon den Hegesias: »Wundre dich nicht, da ich alle Sprachen der Menschen verstehe, wei ich doch auch alles, was die Menschen verschweigen«, teilt er ihm mit. Und PHILOSTRATOS f hrt fort in seinem Bericht: »Als der Assyrer (Damis) dies vernahm, verehrte er ihn und blickte zu ihm auf wie zu einem Gott«.10 Schon das erste Gespr ch, das in WIELANDS Roman zwischen Hegesias und dem >Agathod mon< gef hrt wird (noch ehe Hegesias hinter die wahre Identit t des >Agathod mon< gekommen ist), kreist um die Existenz von »G ttern und D monen«, also um jene Wesen, zu denen Leute wie Damis den >Agathod mon< selbst rechnen: »Zwey unvertr glich scheinende Eigenheiten unsrer Natur vereinigen sich, die Idee von dem, was man D monen oder G tter nennt, in unsrer Seele zu erzeugen: auf der einen Seite, ein angeborner instinktm iger Drang, uns ber diese sichtbare Welt, den f r unsern Geist all zu engen Kreis der Sinne, Bed rfnisse und Leidenschaften, ins Unendliche empor zu schwingen; auf der ndern, die Unm glichkeit, jemahls (wenigstens in diesem Erdenleben) aus den Schranken heraus zu kommen, die unsrer Vorstellungskraft von innen und au en gesetzt sind.« (W 32, S. 23) Die Frage nach dem uneinholbaren »Unendlichen«, vor dem sich die Schranken der begrenzten menschlichen Einbildungskraft aufbauen, wird eines
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Hegesias wird noch mehrfach im Verlauf des Romans durch den »physiognomischen« Seherblick des Apollonius berrascht: Z.B. W 32, S. 262, wo er bemerkt, »da er [Apollonius] meine Gedanken in diesem Augenblick so gut errieth, als ob mein Inneres wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm l ge.« Ebenso W 32, S. 299 (» [...] da Apollonius abermahls in meiner Seele las.«) ό μεν δη Άσσύριος π ρ ο σ η ύ ξ α τ ο α ϋ τ ο ν , Ζ ύ ς τ α ϋ τ α ή κ ο υ σ ε , κα\ ώ σ π ε ρ δ οαμονα έ βλεπβ..., Philostratos, Das Leben des Apollonius, Griechisch und Deutsch, M nchen 1983, A XIX.
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der zentralen Probleme des Romans bleiben. Seine Lösung bleibt jedoch auch in der seinerseits unendlich verfeinerten Form des Agathodämon die gleiche wie im Don Silvio und im Stein der Weisen: Auch dieser Roman steuert auf eine rhetorische Umdeutung des Begriffs >Gott< (nämlich verstanden als >Gott in unsDämon< (nämlich verstanden als Prinzip humaner Tätigkeit, personifiziert im Agathodämon) zu. In Anbetracht des anthropologischen Dilemmas einer begrenzten menschlichen Vernunft vor dem unendlichen Möglichkeitshorizont hält WIELAND auch hier noch am rhetorischen Element fest, welches eine »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« ermöglicht. »Es scheint unmöglich, [...] einem Auge wie das deinige mich verbergen zu wollen« (W 32, S. 20), antwortet Hegesias Apollonius auf dessen Anrede - und läßt damit weiterhin seine Anerkennung des Wunderbaren unter dem Vorbehalt des Scheins stehen; erbleibt daher weiterhin doppeldeutig: »Du hast meinen Bewegungsgrund errathen - ich suchte dich selbst« (ebd.) - womit nicht nur das physische >Selbst< der Romanfigur im Gebirge, sondern auch der >wahre< Agathodämon gegenüber den Verfälschungen der Überlieferung gemeint ist. Mit der abschließenden Umdeutung dieses >Selbst< zum »Gott in uns« und zum praktisch wirkenden >Dämon< wurde weit vorgegriffen: Sie ist es zugleich, die auf die Bewältigung des Irrationalen zusteuert. Zunächst geht es darum, die zeitgenössischen Phänomene des okkulten und hermetischen Denkens, die dem Agathodämon selbst zum Verhängnis seines Weiterlebens in der Geistesgeschichte wurden, auf ihren natürlichen Ursprung zurückzuführen. Der Aberglaube der Hirten und die Wundergeschichten des Damis sind dabei von einer Art: Von den vorgeblichen Magiern heißt es, sie machten Anspruch darauf, [...] sich unsichtbar machen und in jede beliebige Gestalt verwandeln zu können; sie gebieten den Elementen, erregen Stürme, ziehen den Mond auf die Erde herab, rufen die Todten aus ihren Gräbern hervor, sehen das Zukünftige, können zu gleicher Zeit an mehr als Einem Orte seyn, und was dergleichen mehr ist. (Ebd.)
Diese magischen Praktiken sind nun genau die, die in den Natürlichen Magien der Vorzeit (von der Jahrhundertwende aus gesehen) enträtselt wurden - und somit wird für den Leser solcher Passagen die eigene Zeit zu einem Wechselraum der Spätantike, und die >Dämonen< gesellen sich zu den zeitlosen »Siebdrehern, Schatzgräbern, Geisterbannern« (W 32, S. 91), die schon damals »auf dem Wasser oder auf den Wolken gingen, bey heiterm Himmel Stürme und Ungewitter erregten, Wildnisse und Steinhaufen im Augenblick zu prächtigen Gärten und Pallästen umschufen, unterirdische Schätze hoben, und eine Menge anderer übernatürlicher Dinge bewerkstelligten«. (W 32, S. 94)
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Ganz im Sinne der Sachprosa der Spätaufklärung werden dann auch die Wunder, die Apollonius vollbracht haben soll, als natürlich erwiesen und der trügerischen und betrügerischen Magie der Einbildungskraft - derjenigen des Schwärmers Damis - zugerechnet. Von insgesamt zehn der zahlreichen Wundergeschichten, die PHILOSTRATOS seinen angeblichen Gewährsmann dem APOLLONIUS zuschreiben läßt,11 wird in WIELANDS Roman erwiesen, daß es mit ihnen »eben so natürlich zuging, als mit allem übrigen«. Dazu gehören auch die drei Wunder, mit denen sich J. A. EBERHARD in seiner Abhandlung für die BERLINISCHE MONATSSCHRIFT auseinandergesetzt hatte, nämlich die angebliche Beendigung der Pest in Ephesus, das Verschwinden des Apollonius während der Gerichtsverhandlung in Rom und die Vision des Kaisermordes. Das »Versagen der Verstandeskräfte«, das dem Mißverständnis dieser scheinbaren Wunder zugrunde liegt, wird von Apollonius jedoch nicht dem hermetischen Bewußtsein angelastet, sondern dem der Aufklärung selbst: So mancher »voreilige Weltverbesserer« habe, so Agathodämon, »nicht gesehen [...], - daß es wohlthätige Vorurtheile und schonenswürdige Irrthümer giebt, welche eben darum, weil sie dem morschen Bau der bürgerlichen Verfassungen, und, bey den meisten Menschen, der Humanität selbst zu Stützen dienen, weder eingerissen, noch unbehutsam untergraben werden dürfen [...].« (W 32, S. 180) Aus dieser Erkenntnis leitet Agathodämon die Pflicht ab, »anstatt den großen Haufen voreiliger weise aufklären zu wollen, die Wahnbegriffe desselben und seine Liebe zum Wunderbaren zum Vortheil der guten Sache zu benutzen.« (W 32, S. 141) Die meisten Interpreten dieses Romans haben die Differenz zu den früheren Romanen (Don Silvio und Agathon) darin ausgemacht, daß dieses Prinzip im Agathodämon schließlich scheitert und Hegesias von Apollonius stattdessen auf die Praxis religiöser Befriedigung der Einbildungskraft verwiesen wird.12 Nicht berücksichtigt wurde dabei aber, daß auch in diesem Roman noch mit der Einbildungskraft des Lesers gespielt wird - wenn auch in sublimierter
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PHILOSTRAT selbst lehnt allerdings die Auffassung ab, APOLLONIUS sei ein Magier oder Zauberer gewesen (Vgl. Das Leben des Apollonius, [1983], E XII). Aber der fiktive Gewährsmann Damis kommt ihm dabei umso gelegener, da er dem wundergläubigen Assyrer alle Wundergeschichten zuschreiben kann. Vgl. hierzu die Einleitung zum Leben des Apollonius, Mumprecht (1983), S. 990. So Ihlenberg (1957), Müller (l971) und Thom6 (1990), S. 93-122. Müller (1971), S. 12 ff. hebt allerdings im Unterschied zu früheren Interpreten nachdrücklich den epischen Gehalt des Romans hervor, der sich auf eine religionshistorische These nicht reduzieren lasse.
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Form -, und daß nur unter dieser Bedingung die rhetorische Umdeutung, auf die der Roman zielt, einen Sinn erhält. Die Umdeutung des >Steins der Weisen< bleibt in einem rein diskursiven Kontext so sinnlos wie die des >Dämons< im Agathodämon. Daher ist das Prinzip, das Apollonius propagiert, durchaus nicht hinfällig, wenn Apollonius zuletzt sein Scheitern eingesteht, aber es hat sich in ein literarisch-rhetorisches Muster verwandelt. Die genannte Auffassung ist folglich nicht nur ein zentraler Punkt von Apollonius' Lebensprinzipien, sondern sie bleibt auch für WIELANDS Poetik auf der Stufe des Agathodämon weiterhin bestimmend. Wie ROUSSEAU, und in ausdrücklicher Anlehnung an diesen, vertraut auch Apollonius auf das >Gegengift im GiftFichtlinge«, die sich zuletzt auch gegen ihn und sein Werk richteten, das Risiko, das in der Handhabung der >Lanze des Achill< berücksichtigt werden muß, bewußter und drohender als noch im Don Silvio und im Agathon. Denn das Übel (so paraphrasiert STAROBINSKI ROUSSEAU), wenn es an seiner natürlichen Grenze angelangt ist, entscheidet, ob es sich zum Tode wendet oder zur Heilung bewegt: Die heilende Kraft offenbart sich während des Kampfes zwischen der Natur und der Krankheit, das heißt im Augenblick der Krise (in derauf HlPPOKRATES zurückgehenden Terminologie): »Die Krise ist aber stets nur eine Alternative, die wiedergewonnene Gesundheit nur die günstigere von zwei Möglichkeiten«.13 In den Jahren nach der Französischen Revolution wurde diese Alternative zur bestimmenden Problematik bei der »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt«, auch wenn diese Vergleichung im Agathodämon in eine spätantike Gebirgslandschaft verlagert erscheint: Die Vergangenheit erweist sich als transparent auf die moralischen Aporien der Gegenwart.
2.2.2. Initiation in die höhere Ernüchterung Apollonius ist sich der Gefahr, die im Umgang mit den unbändigen Seelenkräften liegt, so bewußt, wie sich ROUSSEAU dessen bewußt war.
Starobinski(1990), S. 204.
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Leidenschaften sind nicht (wie die Stoiker irrig lehren) Krankheiten der Seele: sie sind ihr vielmehr was die Winde einem Schiffe sind, das keine Seefahrt von einiger Bedeutung ohne sie vollbringen kann. Sie verstärken die demselben gegebene Bewegung; aber der Schiffer muß sie in seine Gewalt zu bringen wissen, wenn er nicht Gefahr laufen will, von ihnen verschlagen, oder an Klippen zertrümmert zu werden. Starke Leidenschaften zu regieren, werden freylich große Kräfte des Geistes erfordert [...]. (W 32, S. 60 f.)
In Anbetracht dieser Situation beteuert Apollonius: »Gestehe, Hegesias, daß ein solcher Zweck auch täuschende Mittel, sobald sie tauglich sind, rechtmäßig macht!« (W 32, S. 84) So deutet Apollonius selbst die von PfflLOSTRATOS überlieferten Wundertaten zu eigenen psychologischen Kniffen um, die seiner aufklärerischen Mission dienen sollten. Das Wunderbare wird aber im Agathodämon niemals nach Art des explained supernatural vorgetragen: Als zunächst unerklärliches Geschehen, das dann aufgelöst wird. Vielmehr gehen Mystifizierung und Aufklärung fast immer Hand in Hand (und wo dies nicht der Fall ist, da wird die Mystifizierung so präsentiert, daß auch der geneigteste Leser sich nicht veranlaßt sieht, sich allzusehr auf sie zu verlassen). Agathodämon unterscheidet sich also auch dort, wo er als täuschender Priester auftritt, von den betrügerischen Priestern, gegen die sich die Kritik der Aufklärung richtete. Auch Agathodämon macht den anderen Priestern den Vorwurf des Priesterbetrugs: »Indessen trifft doch der Vorwurf, den Volksglauben zum Vortheil ihrer eigenen Zwecke gemißbraucht zu haben, die Priester und Mystagogen am stärksten.« (W 32, S. 189)u Ebenso wie von den betrügerischen Priestern unterscheidet er sich von der Klasse der »betrogenen Betrüger«, der zweiten Variante der aufklärerischen Feindbilder (der »Klasse und Brüderschaft eines St. Germain, Schröpfer, Kagliostro, oder [...] des weisen Misfragmutosiris im Stein der Weisen«15): Ich [...] habe allemahl bemerkt, daß solche Leute, mit der ehrlichsten Miene von der Welt, immer mehr gesehen haben wollen, als sie wirklich gesehen haben können: nicht weil sie uns vorsätzlich belügen wollen, sondern weil sie im Erzählen von ihrer Liebe zum Wunderbaren in eine so lebhafte Begeisterung gesetzt werden, daß sie das, was sie mit ihren Augen sahen, von dem, was ihre erhitzte Fantasie hinzu thut, selbst nicht mehr zu unterscheiden vermögen«. (W 32, S. 167)
Der subjektive Wahn< des Damis ist ein typisches Beispiel dieser Verirrung. Und so bleibt es die rhetorische Umdeutung, mit der die Elemente des Aberglaubens zu Bausteinen des Romangebäudes gemacht werden. So zum
14 15
Vgl.AZ, II, S. 69, S. 116. W 30, S. 270.
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Beispiel dort, wo Apollonius von seiner >mystagogischen Reise< spricht, die doch gerade das Gegenteil einer Einweihung bewirkt, nämlich Ernüchterung. (W 32, S. 83) Dennoch nennt er sie so - eine >mystagogische< Reise - denn die Ernüchterung wird ihm ja zur eigentlichen Einweihung.16
2.2.3. Teilhabe des Autors Im Vergleich zu früheren Werken wie dem Don Silvio oder dem Stein der Weisen hält sich aber der Autor WIELAND bei der Tätigkeit der rhetorischen Umdeutung auffallend zurück: Als wollte er dem Subjektivismus einen Riegel vorschieben, beschränkt er seine Teilhabe am magischen Weltbild auf strukturbildenende Prinzipien, auf die Makrostruktur des Romanaufbaus, die sieben Bücher des Romans. Die rhetorisch verwandelte Teilhabe im Bereich der MikroStruktur überläßt er ganz den in den Dialog verstrickten Personen (zum Beispiel in vielfach wiederholten Wendungen wie der »siebenfachen Aufmerksamkeit« etc.). Verschiedene Interpreten haben bereits darauf hingewiesen, daß der siebenstufige Aufbau des Romans eine Initiationsstruktur spiegelt, wie sie in den zeitgenössischen Geheimbünden üblich war.17 Die beschriebene Zurückhaltung des Autors betrifft auch die zentrale rhetorische Umdeutung des Romans, die aus der Bezeichnung >Dämon< erwächst und zugleich das Thema der ersten Begegnung von Hegesias und Apollonius war. Auch für sie gilt, was für die einzelnen Motive des Aberglaubens gesagt wurde: Sie wird nur in der Makrostruktur des Romans zum Werkzeug des Verfassers - nämlich im Titel, der gleichfalls als eine auf ein Wort konzentrierte Abschweifung zu sehen ist, die der Roman als ganzes noch einmal
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So zum Beispiel im Fall der Frau, die bei Damis als »Magierin« vorgestellt wird. Für Apollonius bedarf sie »keiner ändern Magie, als ihrer eignen Reitzungen.« (W 32, S. 96) - doch da sie dennoch auf ihre magischen Vorkehrungen baut, um Apollonius zu verführen, ist es ihm rätselhaft, »wie sie von irgend einer ändern Magie erwarten konnte, was ihren eigenen Reitzen unmöglich gewesen war."(W 32, S. 102). Eine andere schöne Frau gehört zu »der Art von Hexen, die wir unter dem Namen der Hetären kennen.« (W 32, S. 157) Nach PHILOSTRATOS soll Apollonius diese Frau als eine der menschenfressenden Lamien der Milesischen Märchen entlarvt haben. Bei WIELAND findet er auch für diesen Mythos eine rhetorische Umdeutung: Sie gehört nur in dem Sinne zu den Lamien, als sie »ihre Liebhaber zwar nicht eigentlich, aber doch metaforisch aufgezehrt, oder wenigstens an Leib und Gut so stark benagt habe, daß der ehrliche, nichts böses ahnende Menipp (zumahl da sonst nichts an ihm abzunagen war als seine Person) nicht leicht in schlimmere Hände hätte gerathen können.« (W 32, S. 159) Vgl. Ihlenburg (1957) passim, und Voges (1987), S.448 f.
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nachvollzieht: vom abergläubischen Schrecken der Bergbewohner bis zur >Gott in unsAgathodämon< vorstößt, enthält einen >anmuthigen< Kern, der wiederum natürliche Anspielungen auf das Unbegreifliche, Unaussprechliche enthält: Zum spätantik-empfindsamen Landschaftsgarten des Apollonius gehören dunkle Grotten und moosbewachsene Quellen, Einsiedeleien und vom Blitz gespaltene Bäume. In diesem Anspielungsraum läßt sich die Sprache der Natur vernehmen: Ein Gewitter begleitet die Initiation des Hegesias, ein glühendes Abendrot untermalt die Offenbarung des Unendlichen. Aber Hegesias und Apollonius durchschreiten diese Welt nicht wie >künstliche Abenteurer< auf der Suche nach Seelenabgründen, sondern in ruhigem, kühlem Enthusiasmus wie Philokles und Palemon in SHAFTESBURYS Moralisten. Die >Merkwürdigkeiten< der Naturanlage des Apollonius offenbaren sich dem Erzähler nicht auf einen Schlag, nicht mit jenem »erschütternden Guß aus dem Füllhorn der Natur«, nach dem sich Albano auf der Isola bella in JEAN PAULS Titan sehnt,19 sondern abgemessen, Schritt für Schritt. Hegesias spricht ausdrücklich von der >kleinen Landschaft der Agathodämon-Welt. Dennoch bedarf es drei voller Tage, um den ganzen Raum mit seiner Höhlenwohnung, der Felsengrotte mit dem Quell, der Einsiedelei, dem Brunnen an der Nordseite und dem Lorbeerwäldchen vollständig zu erkunden. Jeweils ein Naturausblick begleitet dabei die kontinuierliche Einweihung des Hegesias ins Geheimnis der Ernüchterung. Und das Gespräch über die menschliche Doppelnatur endet schließlich mit einem Blick auf das, was diese übersteigt, auf die unfaßbare Weite des Meeres: [Apollonius] hatte mich unter diesen Reden auf eine sanft empor steigende Anhöhe zu einem Sitze geführt, der, von einem hohen Lorbeergebüsche beschattet, der einzigen Öffnung gegenüberstand, durch welche die dieses Tal einschließenden Felsen dem Äug' einen herzerweitemden Blick in die Ferne verstatteten, wo der Azur der Luft in dem grünlichen Purpur des Meeres zu zerfliessen schien. (W 32, S. 219)
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H 1/3, S. 20.
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Am Beispiel des Gesprächs über geheime, mystische Gesellschaften läßt sich demonstrieren, wie WIELAND Naturerfahrung und Gesprächsgegenstand elegant parallel!siert, das Unaussprechliche, das zur Sprache kommt, mit den Erscheinungen der Natur verschränkt. Eine Einsiedelei gehört ebenfalls, wie zu den Landschaftsgärten der Zeit,20 zu der Welt des Apollonius. An diesem Ort wird Hegesias in die Geheimnisse von Apollonius geheimer Gesellschaft eingeweiht: Ein langer Gang von dicht belaubten Platanen, die sich an einer unabsehbaren, schroffen und buschichten Felswand hinzog, brachte uns durch eine unmerkliche Krümmung bis zur Hinterseite seiner Wohnung.
Die >Unmerklichkeit< der Krümmung soll den Spazierweg und den Erzählinhalt - paradox ausgedrückt - auf >krumme< Weise parallelisieren. Unmerklich wie der Weg soll auch nach Agathodämon das Wirken der Geheimgesellschaft - unter Ausnutzung der die Vernunft unterwandernden Mechanismen, die die Menschen zu derlei Gesellschaften hinziehen - zum Ziel führen.21 Während der Gespräche über das unsichtbare Wirkern dieser Loge hat sich unmerklich auch die Natur verändert: Während dieser Erzählung, die uns beide, den Erzähler und den Zuhörer, zu sehr interessierte, um auf Dinge über uns Acht zu geben, hatte sich am östlichen Himmel eine schwarze Gewitterwolke herauf gezogen, die in schauerlicher Stille unserm Scheitelpunkt immer näher kam. Schon lange rollte der Donner majestätisch und mit zunehmender Stärke durch die uns umgebenden Felsen und Klüfte, und, von dem plötzlich sich erhebenden Sturm getrieben, wälzte sich das Gewölke, fürchterlich herabhangend und von allen Seiten blitzend, gegen uns her [...]. (W 32, S. 283 f.)
Ein Wetterstrahl spaltet eine nahe Cypresse »mit entsetzlichen Krachen von oben bis an die Wurzeln« (ebd.), während Apollonius von Planung und Ausführung des Kaiser-Mordes in Rom berichtet, der zu den Verschwörungstaten seiner unsichtbaren Loge< zählte. Das Gewitter, liebstes Beispiel sowohl der Physikotheologie für ihre Vergleichung zwischen der meteorologischen und moralischen Welt als auch des Schauerromans und der Naturmagie, veranlaßt auch Hegesias zu einem Rückfall in ein voraufgeklärtes Verhalten. An Timagenes schreibt er:
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Vgl. Marbacher Hefte, Sonderheft 40 (1986). Zum Kontext der Geheimgesellschaften in Hinblick auf den Agathodämon, vgl. Voges (1987), S. 463 ff.
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Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich in dem Augenblicke, da wir in das durchdringende Feuer des Himmels ringsum eingehüllt schienen, eben so erschrocken zusammen fuhr, als ob mir die natürlichen Ursachen dieser meteorischen Erscheinung unbekannt gewesen wären. (W 32, S. 284)
Apollonius hingegen ist seiner Sinne so mächtig, daß er nur in einer minimalen mimischen Regung jenen unauflösbaren, irrationalen Rest bei der Vergleichung von meteorologischem Phänomen und subjektiver Reflexion zu erkennen gibt: Indessen behielt ich doch Besinnung g'enug, um im gleichen Momente den mir gegenüber sitzenden Apollonius zu beobachten, und ich versichre dich, Timagenes, daß, außer einem unfreywilligen Zucken der Augenlieder, nicht die geringste Spur von Erschrecken an seiner ganzen Person wahrzunehmen war. (W 32, S. 284)
Erst zu Beginn des abschließenden siebenten Buches scheint der ganze >hermetische< Naturraum des »stillen und lieblichen, wiewohl enge beschränkten Vorelysiums« (W 32, S. 380) durchmessen: Aber der Garten des Apollonius birgt doch noch ein Geheimnis - hatte doch der Agathodämon dem Hegesias bislang keine Auflösung der Frage anbieten können, warum er die Menschen täuschen mußte, um sie vor der Täuschung zu bewahren. Apollonius weiß, daß er Hegesias damit viel zumutet, und gewährt ihm daher ein - für seine Welt - Höchstmaß an physiologischem Beistand: »Er reichte mir seine Hand« - wohl wissend, daß auch der Erzähler noch physiologisch auf Offenbarungen der Natur oder der Sprache zu reagieren pflegt - »und sagte: er wolle mich an einen Platz führen, der mir noch unbekannt sey, und sich am besten zur Scene unsrer bevorstehenden Unterhaltung schicken werde«. (W 32, S.381) Dieser Platz hat »von drey Seiten nichts als Meer und Himmel vor und um uns«, und er ist hervorgehoben durch eine »Aussicht, die durch die Vereinigung des höchst Erhabenen mit dem höchst Einfachen ein Gefühl in der Seele erweckt, das mit keinem ändern verglichen werden kann.« (W 32, S. 381) Hier nun bekräftigt Apollonius seine Religionsphilosophie, indem er den subjektiven Verirrungen der Okkultisten gleich einem Bollwerk die fest gefügte Form eines christlichen Wunderglaubens entgegensetzt. Apollonius bekennt sich zur Überlegenheit der »Christianer« als einer transparenten, nicht geheimbündlerisch-okkultistischen Verbindung von Wundergläubigen. Das Problem des Subjektivismus ist damit für Apollonius zwar nicht objektiv gelöst, aber doch zumindest in eine intersubjektiv gegenständliche Form gebracht, in der das Unaussprechliche vergleichbar wird. Von dem beschriebenen »unbekannten Ort« aus, an dem Apollonius dem Hegesias sein
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Bekenntnis vorträgt, schließt sich dann überraschend der Kreis, aus dem Hegesias wieder in die öffentliche Welt entlassen wird: Mit diesen Worten erhob sich Apollonius von seinem Sitz, und er führte mich auf einer sehr gemächlichen Art von Wendeltreppe, die durch die Felsen gehauen war, von der hohen Scene unsers Morgengesprächs herab; und da zeigte sichs, daß wir am Eingang einer bedeckten Rebenlaube waren, die nach der Hinterseite seiner Wohnung führte. (W 32, S. 467)
Die Hintertreppe der Umdeutung des Wunders in Natur hat WIELAND damit in seinem Roman am Ende des Jahrhunderts noch einmal ans Ziel einer gemäßigten Aufklärung gebracht. Der andere Bereich, in dem Subjektivität, welcher in diesem Roman die rhetorische Aussprache nach Art des >Steins der Weisem und der früheren Romane verwehrt bleibt, sich dennoch - und zwar in sprachlich beschworener Sprachlosigkeit - außen, ist die Musik?2 Im fünften Buch, das die zentrale Einweihung des Hegesias in die Geheimnisse des (angeblich) hermetischen Ordens enthält, wird das Gespräch auf folgende Weise unterbrochen: Die kleine Hebe, die »ihren täglichen Morgendienst bey der Quelle verrichtet«, erfreut Hegesias »durch einen herrlichen Gesang, den sie mit großer Fertigkeit und Anmuth auf der Cither begleitete« - und dieser Gesang soll Hegesias zur »Weihe«, die er empfangen soll, vorbereiten. (W 32, S. 233) Der Musik wird also erlaubt, Träger jener subjektiven Empfindungen zu sein, die sonst als physiologische Täuschungsmittel aus dem Roman ausgeschlossen werden. Dieses Recht teilt sie allein mit der erhabenen und anmutigen Natur, nur diese beiden Phänomene erinnern im Roman an die »Reizungen der Einbildungskraft«, welche die zum Okkulten neigenden Menschen sonst zu überwältigen scheinen. Somit kann und darf der Erzähler auch in diesem einen Bereich als auktorialer Erzähler auf die metaphorische Umdeutung des Wunderbaren zurückkommen: »Auch dießmahl schien mir der Geist Agathodämons in dieser herzerfreuenden Musik zu weben«. (W 32, S. 365) Und sie allein wird mit den transzendenten Ausdrücken der Unaussprechlichkeit belegt, die die sprachlichnatürliche Magie eines Misfragmutosiris auf alle Dinge geworfen hatte: Ich finde keinen Ausdruck, Freund Timagenes, der dir etwas von der Wirkung, welche dieser Gesang auf mich machte, mitzutheilen vermöchte. Mein ganzes Wesen schien sich nach und nach in Harmonien aufzulösen, und mir war zuletzt, als ob alle diese lieblichen
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Dieser unauffälligere Bereich wird in den meisten Interpretationen im Unterschied zu dem der Natur übersehen. (So auch bei Müller [1971], S. 178.)
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Welt der Schwärmer und Philister Töne zu lauter ätherischen Geistern würden, die mich in ihre Mitte nähmen, und auf ihren weit verbreiteten mächtigen Rügein in eine andere bessere Welt empor trügen. (W 32, S. 372)
Diese Stelle ist dann auch - neben einer winzigen, die Synchronisation der römischen und der christlichen Zeitrechnung betreffenden - die einzige, an der der Autor WIELAND unabhängig von seinem Erzähler Hegesias die Stimme erhebt: um nämlich in einer Anmerkung gegen ROUSSEAUS Auffassung von der Melodie als einer allein gültigen Seelensprache zu polemisieren: Die Griechen hatten noch so unentwickelte Begriffe von dem, was wir Harmonie nennen, und waren doch für die Reitze der Musik so ungemein empfindlich, daß die Wirkung, die der erste Kanon, (denn das war ohne Zweifel dieser Gesang) von sehr schönen Stimmen schön gesungen, auf den empfänglichen Hegesias machte, nichts befremdendes haben kann; man müßte denn nur für jemand seyn, der mit J.J.Rousseau die Melodie allein für Musik hielte, und die Harmonie der Neuern für eine Gothische und barbarische Erfindung erklärte, auf die wir nie verfallen wären, wenn wir für die wahren Schönheiten der Kunst und einer echt natürlichen Musik Sinn hätten.23
Fast scheint es so, als wolle WIELAND hier, an der Stelle, wo es seinem Erzähler die Sprache verschlägt, die Lücke schließen, durch die der schrankenlose Subjektivismus einzudringen droht, indem er völlig überraschend den Zeitrahmen sprengt und seine eigene Stimme erhebt. Nachdem er diesen Vorbehalt formuliert hat, überläßt er dann aber doch seinem Erzähler wieder das Wort - das Wort, mit dem dieser, der alten rhetorischen Tradition folgend, nur seine eigene Sprachlosigkeit beschwört: Ich weiß nicht, ob du eben dasselbe fühlst: aber ich bedarf bey einer Musik, wie die heutige, keiner Worte, die mir ihren Sinn erst erklären und sie gleichsam in meine Sprache übersetzen müßten; ich bedarf nicht nur der Worte nicht dazu, sondern sie stören mich sogar im reinen Genuß derselben, indem sie den freyen Flug meiner durch sie leichter beflügelten Seele hemmen, und meine Aufmerksamkeit zerstreuen, und von dem, was mir die Musen in ihrer eigenen geistigen Sprache unmittelbar mittheilen, durch Vergleichung der Worte mit dem, was sie ausdrücken sollen, abziehen. (W 32, S. 374 f.)
So erfährt Hegesias die Wahrheit der eigenen Worte, »daß eine Musik, wie diese, uns in ihrer eigenen, unsrer Seele gleichsam angebornen Sprache,
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Die Beziehung Musik-Harmonie wird von ROUSSEAU vielfach kontrovers inszeniert, wobei er die Partei der Melodie ergreift, vgl. z.B. seine Artikel im Dictionnaire de musique, Art. "Unitö de m61odie."
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anrede, und keiner Übersetzung in eine willkührliche kalte Zeichensprache bedürfe, um von ihr verstanden zu werden«. (W 32, S. 376)24
2.4. Das Unendliche im beschränkten Vorelysium Das Unendliche selbst aber, das von der Musik in ihrer unaussprechlichen Sprache beschworen wird,25 bleibt der Subjektivität für WIELAND verschlossen.26 Dies wird in der großen Diskussion über das Unendliche im Agathodämon bekräftigt. (W 32, S. 326 ff.) Dort kommt Apollonius zunächst noch einmal auf das unbewältigte Problem der Einbildungskraft zurück. Er deutet den Glauben an eine >höhere< Naturerkenntnis in den bekannten Paradoxien als eine Geisteshaltung, die »das Unmeßbare messen und das Unbegreifliche begreifen« will. (W 32, S. 329) Aber mit diesem Paradox sieht sich keineswegs nur der >kindliche< oder der krankhafte Schwärmer konfrontiert (so wie es die Kinderstufen-Hypothese der Aufklärung annahm), sondern auch der bewußte und aufgeklärte Weise, und dieses Paradox aufzulösen wird »dem tiefsinnigsten Denker nicht besser gelingen [....], als dem schwächsten Kopfe.« (W 32, S. 329) Selbst das ensophische Bewußtsein des >dreimalgroßen Hermes< muß, so erklärt Apollonius, an dieser Paradoxie scheitern: Den höchsten Versuch dieser Art, den ich kenne, machte der große Ägyptische Hermes; da er das Unendliche einen Zirkel nannte, dessen Mittelpunkt allenthalben und dessen Umkreis nirgends ist. Die Einbildungskraft erschrickt vor diesem Gedanken, wenn es anders ein Gedanke heißen kann; denn was ist ein Zirkel, der aus lauter Mittelpunkten besteht und keinen Umkreis hat? (W 32, S. 29 f.)
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Zur Musik als Sprache der "Unsagbarkeit" vgl. C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, S. 68 ff., femer N. Miller, Musik als Sprache, Zur Vorgeschichte von Liszts symphonischen Dichtungen (in: Musikalische Hermeneutik, hg. von C. Dahlhaus, Regensburg 1975), insbes. S. 269 ff., Ruth E. Müller, Erzählte Töne, Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 166 ff. sowie B. Naumann, Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Vgl. Miller (1975), S. 270, S. 273. Vgl. auch den Abschnitt über >Das Unendliche und das Wunderbare< in J.Viering (1976), S. 99 ff. VIERING zeigt dort - vor allem für Peregrinus - wie der Eindruck des »Unendlichen« und »Unermeßlichen« den Wieland'schen Schwärmer in seinem Glauben ans Wunderbare stärkt Der Effekt auf die Anti-Schwärmer des Agathodämon bleibt dort jedoch unberücksichtigt Wie Müller (1971, S. 199 ff.) gezeigt hat, wir in diesem Roman der Anspruch der Vernunft, »alles Denkbare zu denken«, aufrecht erhalten, ohne daß WIELAND dabei darauf verzichtet, die Grenze des Denkens aufzuzeigen.
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Als spätantiker Vorläufer des neuzeitlichen Empirismus kann Apollonius eine Vorstellung, der keine Anschauung korrespondiert, nicht als Denkmöglichkeit akzeptieren. Aber der poetischen Einbildungskraft wird dennoch ein Versuch zugestanden, den Kymon sozusagen als Einbildungskraft-Experimentator auszuführen hat: Im freien Flug seiner Phantasie scheint sich das Paradox aufzulösen, er veranschaulicht es und teilt ihm damit den Schein der Auflösung mit: Agathodämon entgegnet: Ich will mirs gefallen lassen, wenn ihr über mich lachet, aber ich gestehe, daß ich etwas unbeschreiblich Erhabenes in diesem undenkbar scheinenden Bilde finde. Wenn ich auf der Spitze des Ida stehe, übersehe ich einen großen Raum, aber er ist vom Horizont umgrenzt; ich umfliege in Gedanken die ganze Welt, schwinge mich von ihr in den Mond hinauf, erhebe mich vom Mond bis zur Sonne; der Raum um mich her wird immer ungeheurer, und doch hat er immer noch einen Umkreis. Nun ergreift mich der göttliche Hermes, und stürzt sich mit mir ins Unendliche. Mit der Geschwindigkeit des Blitzes eile ich ohne Stillstand von einem Stern, von einem Himmel zum ändern, und sehe keinen Umkreis; der täuschende Horizont, von dem ich vorher mich eingeschlossen wähnte, ist verschwunden; in jedem Punkte meines rastlosen Flugs bin ich im Mittelpunkt eines Kreises, der sich mit jedem Augenblick erweitert; vergebens suche ich einen letzten Umkreis, der diese Ungeheuern Räume einschließe; Millionen Sonnen könnten nach und nach erlöschen und Millionen neue Himmel um mich her entstehen, und ich flöge immer noch, ohne aus der Mitte des immer weiter sich ausdehnenden Kreises hinaus zu kommen. Endlich ermattet meine Fantasie; der vergebliche Flug hat ihre Kraft erschöpft; ich versinke und verliere mich im Unendlichen wie ein Wassertropfen im Ocean. (W 32, S. 330 f.)
An keiner anderen Stelle des Romans wird der Subjektivismus-Druck, der auf der Arbeit des Schriftstellers WIELAND um 1800 lastet, deutlicher; und keine andere markiert auch so deutlich den Abstand zur schrankenlosen Subjektivität der Romantik. Zum einen verbraucht Kymons Phantasie im Flug ihre Kraft, anstatt sie zu potenzieren - und weil die Grenzen der Vernunft von Anfang an skeptisch mitreflektiert werden, folgt aus der Erschöpfung Ernüchterung und nicht fatalistische Verzweiflung, wie zum Beispiel in TlECKS Lovell. Zudem wird die Phantasie Kymons vom Psychagogen der Szene, dem Agathodämon, in die Schranken einer immer noch im Banne der Rhetorik stehenden Poetik gewiesen, derzufolge auch das Gefühl nur ein rhetorisches Element, eine Arabeske des Lebens ist. Apollonius antwortet: Dies war es, guter Kymon, und war alles, was Hermes mit seinem Zirkel ohne Umkreis wollte. Dein gerader Sinn hat ihn sogleich gefaßt, und wehe dem Sofisten, der dich mit seiner Logik darüber schikanieren wollte! Dieß angestrengte vergebliche Streben, und zuletzt dieß Verlieren unser selbst in dem alles hervorbringenden und alles verschlingenden Unendlichen, - dies ist die einzige Art, wie Wesen unserer Gattung - nicht zum Begriff, aber zu einem dunkeln, die ganze Seele ausfüllenden Gefühl desselben sich
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erheben können; einem Gefühl, das mehr werth ist, als die subtilste Worterklärung des trocknen Dialektikers, der uns Rechenpfennige für Münzen, und Worte für Sachen giebt. Indessen sollte das Unvermögen, uns über die selbst schon grenzenlose und bloß durch die Unzulänglichkeit unsrer Organe beschränkte Sinnenwelt bis zum wirklichen Anschauen des Ewigen, Nothwendigen und selbstständigen Unendlichen aufzuschwingen, - denn, was wir davon sehen, sind, (wie Plato zuerst richtig sah, oder sagte) doch nur zurück geworfene Schattenbilder von Ideen, - billig, sage ich, sollte dieses Unvermögen uns lehren, daß der Umkreis der Menschheit und ihrer so mannigfaltigen und wichtigen Angelegenheiten der wahre, unsern Kräften angemessene Wirkungskreis ist, den die Natur uns angewiesen hat, und auf den wir uns [...] beschränken sollten [...]. (W 32, S. 331-332)
Der skeptische Vorbehalt, der sich in diesen Worten des Apollonius ausdrückt, zielt unmißverständlich aus der Spätantike in die Gegenwart, in der die Brüder SCHLEGEL den Zeitgeist gegen WIELAND zur >Annihilierung< von dessen Werk aufriefen.27 Gegen diese Tendenzen - bekräftigt WIELAND seine Position gegenüber den Ansprüchen auf das Begreifen des Unbegreiflichen abermals im Bild vom Schleier zu Sais: »Welche Sprache hat Worte, sich darüber auszudrücken?« fragt Apollonius bezüglich seiner religiösen Überzeugungen und deren moralischer Basis: Was du von mir zu wissen verlangst, ist das Geheimnis der Natur, das unaussprechliche Wort ihrer heiligsten Mysterien, auf denen ein Schleier liegt, den noch kein Sterblicher aufgedeckt hat. (W 32, S. 471 f.)
3. Welt im Nebel 3.1. Die gegenläufige Bahn des Kometen der Einbildungskraft Mit dem Agathodämon hatte sich WffiLAND um die Jahrhundertwende behutsam von den Prinzipien der Desillusionierungsliteratur befreit, ohne dabei seine skeptischen Vorbehalte gegenüber den vermessenen Ansprüchen der >höheren Naturwissenschaft< und der idealistischen Philosophie und Poetik preiszugeben. Genau in entgegengesetzter Richtung tauchte JEAN PAUL im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts mit seinem Kometen in die Sphäre der komischen Literatur ein, von deren Zentrum er sich mit dem Titan am weitesten entfernt hatte. Während WIELAND sich mit dem Agathodämon vom Don-Quichote-Konzept löste, wollte JEAN PAUL in seinem letzten Roman noch einmal alle Merkwürdigkeiten und Sonderlichkeiten des Zeitgeistes an den
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Vgl. Athenäum 4 (1799), S. 330 und S. 340.
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»galvanischen unsterblichen Säulen eines Gargantua und Don Quixote« mit komischem Geist aufladen, um sich selbst dann als »runden Wilsonschen Knopf zeigen und vollgeladen entladen und unausgesetzt blitzen« zu können. (H F6, S. 569) Ausdrücklich wird dabei noch einmal WffiLANDS Don Silvio als verunglückter Versuch einer deutschen Don-Quichote-Nachfolge verworfen: Himmel, Cervantes! Der Verfasser sollte dir einen neuen Don Quixote nachliefern wagen, welcher sogar dem ästhetischen Mockbird, Wieland, einem Manne von so großen und mannigfaltigen Nachahmtalenten, in seinem Don Silvio so gänzlich verunglückte? - Wahrlich du erlebtest dann an deinem Nachahmer und Schildknappen einen neuen irrenden Ritter mehr und müßtest jenseits lachen. (H 1/6, S. 570)
Anders als die Romantiker wirft JEAN PAUL WIELAND nicht seinen Hang zur Nachahmung vor, sondern die fehlende Reflexion der Nachahmung: Die DonQuichote-Nachfolge wird selbst als eine Form der Don Quichoterie beschrieben.28 Um in seinem eigenen deutschen Don Quichote< diesem Schicksal zu entgehen, nimmt JEAN PAUL im Kometen Zuflucht zu zahlreichen elektrisch-metaphorischen Zauberkunststücken der Reflexion: Er erklärt seinen Kometen zum Teil einer fiktiven »komischen Enzyklopädie«, die er unter dem Namen »Der Papierdrache« oder »Der Apotheker« erscheinen lassen wollte.29 Diesen Papierdrachen, so erklärt er, habe er »gegen das elektrische Gewölke« sowohl »zum Scherze« als auch »zum Untersuchen und Ableiten steigen lassen« wollen: Die galvanische Aufladung mit dem fremden Geist des CERVANTES und des "RABELAIS solle auf diese Weise im Bewußtsein des Erzählers entladen werden. Der Ernst, das Unaussprechliche, Heroische und Erhabene, hat in diesem abgeschlossenen faradayschen System jedoch keinen Ort mehr. So wie die humoristischen Abschweifungen exterritorial zur Welt des Titan in den »komischen Anhängen« situiert waren, so liegen im Kometen die ernsten Abschweifungen außerhalb der humoristischen Hemisphäre, die von der Bahn des Romanhelden Nikolaus Marggraf gekreuzt wird. Sowohl die empfindsame und romantische Unaussprechlichkeit als auch deren Evokation in Gestalt ihres musikalischen, natürlichen und bildlichen Ausdrucks bleibt daher aus der Romanwelt ausgeschlossen: Noch in den Flegeljahren hatte JEAN PAUL den beiden empfindsamen Hauptableitern des Unaussprechlichen, der Musik und der Natur, einen zentralen Platz eingeräumt; die komische Welt des Kometen ist im Vergleich dazu fahl und resonanzarm. Das Schleier-Motiv, das im Titan
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Dies kann selbst als eine Form der Romantik-Kritik interpretiert werden; vgl. Brüggemann (1958). Vgl. hierzu SW 1/15, S. ff.
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so bestimmend war, ist nun in eine der im hohen Ton verfaßten »ernsten Abschweifungen« gedrängt: Es handelt sich bei diesem Traum über das All um eine der großen Jean Paul'schen Meditationen über das Grenzenlose, die bereits im Siebenkäs und im Hesperus in einer Variante des Sais-Mottos gipfelten. Aus einer Betrachtung über die Proportionen der irdischen Welt zum Universum entspringt ein Traum: Mein Körper - so träumte mir - sank an mir herab, und meine innere Gestalt trat licht hervor; neben mir stand eine ähnliche, die aber, statt zu schimmern, unaufhörlich blitzte.»Zwei Gedanken«, sagte die Gestalt, »sind meine Flügel, der Gedanke Hier, der Gedanke Dort; und ich bin dort. Denke und fliege mit mir, damit ich dir das All zeige und verhülle.« (H 1/6, S. 682 f.)
In der Anschauung verhüllt sich das All: Hiermit zeigt sich auch JEAN PAULS Beharren auf seiner Variante des Sais-Mottos gegen die romantische >Weltvernichtungzweiten WeltMeteor der Phantasie< im Komet zieht: die späten 70-er Jahre des 18. Jahrhunderts, die frühen 90-er Jahre und die Gegenwart, aus der heraus der Erzähler spricht, das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Aus der Überblendung dieser drei Sphären entsteht die epische
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Welt des Romans, die in vielem als Gegenwelt zu der des Titan entworfen ist.30 Um die raum-zeitlichen Koordinaten dieser beiden Romanwelten nebeneinanderstellen zu können, muß zunächst kurz die Handlung des Kometen umrissen werden.
3.2. Nikolaus Marggraf Im ersten Teil des Romans wird die Jugendgeschichte des Romanhelden Nikolaus Marggraf geschildert, die in die 70-er Jahre des 18. Jahrhunderts fällt. Nikolaus wächst als Apothekersohn auf, bis seine Mutter auf dem Totenbett einem Franziskaner-Pater offenbart, daß er der Sohn eines »katholischen weltlichen Fürsten« sei, von dessen Vaterschaft zwölf Blatternnarben auf der Nase des Kindes zeugen. Die zweite »medizinische Merkwürdigkeit«, die der kleine Nikolaus von seinem leiblichen Vater geerbt hat, ist seine körperliche Disposition zur »Boseschen Beatifikation«, also zu jenem elektrostatischen Heiligenschein, der zu den prominentesten elektrischen Kunststücken der Jahrmarktsmagie des 18. Jahrhunderts zählte. Zu diesen physikalisch-medizinischen Dispositionen kommen noch zwei Charaktereigenschaften: eine »ans Wunderbare grenzende Mildtätigkeit« und eine »außerordentliche Phantasie«. (H 1/6, S. 579) Diese Dispositionen sind in den frühen 90-er Jahren, in die der Hauptteil des Romans den Leser versetzt, ausgewachsen und verschmolzen zu >fixen Ideen< einer zerrütteten Einbildungskraft. Das schwärmerische Verlangen nach dem Stein der Weisen, das Nikolaus beherrscht, wird erfüllt: Es gelingt ihm, einen künstlichen Diamanten aus Kohle herzustellen, womit ihm die nötigen materiellen Mittel zur Verfügung stehen, um seinen fixen Ideen nachzugehen, nämlich die Anerkennung seiner höheren Geburt zu betreiben und stets unbeschränkte Mildtätigkeit auszuüben. Aber die Inflation der materiellen Mittel läßt auch Marggrafs Wahnsinn offen ausbrechen. Was für WiELANDS König Mark nur ein beklemmender Traum war, erlebt er leibhaftig. Mit einer bizarren Reisegesellschaft von Sonderlingen bricht Nikolaus mit unbestimmtem Ziel auf, geleitet von den beiden genannten Spleens und von der Anziehungskraft eines Fräulein Amanda, der er in seiner Jugend einmal begegnet ist und deren lebensgroßes Wachsbild er aufbewahrt hat und nun in einer Sänfte mit sich führt. Komisch-absurde Begegnungen liegen notwendigerweise auf dem abschweifenden Weg dieser Reisegesellschaft, die von JEAN PAUL zeitweise
Vgl. Kommereil "1966, S. 347 ff.
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auch als »magnetische Reise« nach dem Vorbild der Physiognomischen Reisen konzipiert worden war. In Gestalt des »Kandidaten Richter« läßt JEAN PAUL sich selbst als »Wetterpropheten« auftreten und Anschluß an die närrische Reisegruppe finden; zusammen begegnen sie dem verrückten »Ledermenschen«, der sich »Fürst dieser Welt« nennt und der mit einem rätselhaften Groll die männliche Welt verfolgt. In einem eindrucksvollen Monolog stellt der Ledermensch Nikolaus sein Weltbild und seinen konkurrierenden Anspruch auf eine höhere Fürstenwürde dar, und mit der unheimlichen Konfrontation zweier hermetischer Wahnsysteme bricht der Roman ab, nachdem der Ledermensch sich offenbart hat: »Alle traten weit von ihm hinweg, nicht aus Furcht, sondern vor Entsetzen«. (N 1/6, S. 1004)
3.3. Ebenen der Retrospektive Die heroischen Konstanten des Titan - die Revolution und der Krieg - sind in der Welt des Kometen aufgelöst in Variablen der humoristischen Weltgeschichte. Dagegen werden durch die chemischen Wunder von Nikolaus Marggrafs Experimentierlust neue Konstanten der >physikalischen Welt< definiert, die dem Weltlauf weit vorgreifen. Dieses Verhältnis wird deutlich in einer Anmerkung des Erzählers zur Diamantenproduktion, worin sich die Umkehrung der Prioritäten bei der Vergleichung zwischen physikalischer und politischer Welt ausspricht: Der künstliche Diamant, den Nikolaus im >Faulen Heinz< gebacken hat, erlaubt dem Erzähler eine Deutung der Weltgeschichte, in der ein kompliziertes durch ein einfacheres Paradigma (im Rahmen der Fiktion) ersetzt wird: Nicht die französischen Auswanderer der Jahre 1789 und 1790 haben die »auffallende Menge von Steinen« (Diamanten) bewirkt, die in jenen Jahren auftauchten, sondern das Marggrafsche Experiment, das »gerade in jene Jahre fällt«. (H 1/6, S. 798) Die Einbildungen des vergangenen Jahrhunderts sind nun, im Zeitalter, worin sich »Chemie und Physik und Geogonie und Philosophie und Politik« verschworen haben, um die Isis zum Verschwinden zu bringen, buchstäblich Realität geworden: Marggraf findet in seinem Diamanten tatsächlich einen Stein der Weisen, und er ist wirklich ein Fürstensohn. Aber die Welt erkennt diese Ansprüche nicht an: In der skeptischen Retrospektive der Restaurationszeit verschwimmen die erfüllten Träume des Revolutionszeitalters zu Wahngebilden, die höhere Geburt Marggrafs wird ihm als Geisteskrankheit attestiert, und die erfüllten Hoffnungen der höheren Naturwissenschaften enthüllen sich als wirkungslos - gemessen an den heilsgeschichtlichen Erwartungen der Zeit, die in Nikolaus Marggrafs Hang zur bedingungslosen Mildtätigkeit lebendig sind. Den politischen und moralischen Erwartungen des
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alten Jahrhunderts blüht daher aus der Sicht des neuen jene bittere Erfahrung des Dresdner Schuhmachers, dem der Gewinn des großen Loses das Leben oder zumindest den Verstand kostete. Wenn Nikolaus Marggraf bei der Ankündigung seines Gehilfen, ein Diamant sei ausgebacken, flüstert: »Sollte wohl [...] Gott so allgütig sein gegen mich Sünder und Hund?« (H 1/6, S. 779), dann wird die Doppelbödigkeit der physikalisch-chemischen Theodizee offenbar. Denn das hermetische siebente Kapitel, das in wenigen Worten das unaussprechliche Wunder beschreibt: »Ein echter Diamant war im chemischen Ofen fertig geworden und funkelte umher; damit kann schon ein siebentes Kapitel beschließen, das zehntausend neue beginnt« (H 1/6, S. 780), dieses hochkonzentrierte Kapitel der großen Losziehung legt den Grundstein genau für die Ausweitung von Marggrafs fixer Idee zum Wahnsinn. Das »Doppelspiel« des Schicksals erschüttert ihm »sein ganzes Herz [...] und dadurch das Gehirn dazu«, (H 1/6, S. 810) und die Hintergründe dieser Erschütterung bringt der Prediger Süptitz auf den Begriff, wenn er über die Tollheit Marggrafs sagt: Von dessen früherer Erziehung aus Gründen gar nicht zu sprechen, so habe schon das bloße ungeheure Glück, statt eines großen Loses sogar das allergrößte zu gewinnen, womit die ändern Lose auch zu gewinnen wären, den besten Kopf verdrehen müssen; zu diesem Fluge sei nun gar der Fall von der Leiter gekommen, der durch den Abstand das Gehirn doppelt erschüttert habe. (H 1/6, S. 820)
Der Wahnsinn Marggrafs ist also, wie seine Disposition dazu, doppelt motiviert: Der Gewinn des Diamanten und ein Verstoß gegen seine körperliche Unversehrtheit (der Fall von der Leiter war in Wahrheit die grobe Handgreiflichkeit eines persönlichen Feindes) zerrütten ihm den Geist. An dieser Stelle stellt der Prediger Marggrafs fixe Ideen neben die anderer Wahnsinniger der Zeit, und er vergleicht Nikolaus mit dem Professor Tittel in Jena, der sich für einen römischen Kaiser hielt. (H 1/6, S. 820 f.) Dieser Hinweis führt in die Welt der späten Exzerpte JEAN PAULS, in denen sich der Zeitgeist des späten 18. Jahrhunderts in den des frühen 19. verwandelt.
3.4. Exkurs: Vervielfältigung des Wunderbaren: Der Zeitgeist nach der »moralischen Sonnenwende« Die »fixen Ideen«, auf die der Hofprediger verweist, sind der rote Faden in der Zeitschrift MUSEUM DES WUNDERVOLLEN ODER MAGAZIN DES AUßERORDENTLICHEN IN DER NATUR, UND IM MENSCHENLEBEN. BEARBEITET VON
EINER GESELLSCHAFT GELEHRTER UND HERAUSGEGEBEN VON J. U. BERGK UND
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F. G. BAUMGARTNER31, aus der JEAN PAUL im neuen Jahrhundert regelmäßig exzerpierte.32 Die Naturalisierungsgeschichten der Natürlichen Magien < und des MAGAZINS ZUR ERFAHRUNGSSEELENKUNDE werden dort wiederholt und weitererzählt, aber zum Zweck der Unterhaltung und Bildung, nicht mehr der Aufklärung: Auf den beigegebenen Kupfern werde, so die Herausgeber, »ebenso auf das Wunderbare als auf das Lehrreiche« geachtet.33 Fixe Ideen wie die des Professors aus Jena tauchen in fast jeder Nummer der Zeitschrift auf. Die Suche nach »Don Quichotes der Gegenwart« erscheint als eine Art Freizeitbeschäftigung: Neben dem erwähnten Professor Tittel in Jena, der sich für einen römischen Kaiser hält, finden sich der Maler Spinello, der sich vor einem von ihm selbst gemalten Teufel fürchtet, die beiden Irren in London, von denen der eine glaubt, er sei Gottvater, während der andere sich für Gottes Sohn hält,34 und der Wahnsinnige, der seinen Leib für ein großes Trommelfell hält.35 Aber auch alle natürlichen Wunder, um deren Naturalisierung sich WIEGLEB, HENNINGS und ihre Gesinnungsgenossen bemüht hatten, werden als Kuriositäten wiederaufgewärmt: So der optische Heiligenschein, der bereits im TEUTSCHEN MERKUR behandelt wurde,36 wie auch die verschiedenen elektrischen, die den »leuchtenden Menschen« hervorbringen,37 und zahlreiche Geistererscheinungen, die bereits bei HENNINGS,38 STERZINGER39 und NICOLAI 40 naturalisiert worden waren. In ihrem Sinn wird zwar die Einbildungskraft zunächst als Urheber des Wunderbaren Scheins zitiert: »Da [...] unsere Einbildungskraft durch die lebhafte Beschäftigung mit Vorstellungen stärker
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Im Folgenden abgekürzt MdW. Vgl. hierzu Riha (1984), S. 410-423. Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Müller (1988), die jedoch nur einen kleinen Teil der Belege erfassen.
" MdW 1.1.2 (l804), S. XV. 34 MdW l.l .2 (l804), S. 20 ff. Diese fixen Ideen finden sich auch im einflußreichen Werk JOHANN CHRISTIAN KEILS, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803, S. 302 f. 35 MdW 2.1. S. 69. Weitere "fixe Ideen" vgl. MdW 2.2. (1804), S. 132 f., 2.5 (1804), S. 430 - 435, 3.2. (1804), S. 161 f., 5.5. (1806), S. 429, 5.6. (1806), S. 479. 36 MdW 7.3. (1808), S. 201, vgl. TM 1783. 37 MdW 5.1. (1806), S. 12 f., 6.6. (1807), S. 513 f. 38 MdW 2.1. (1806), S. 64 f. 10.5. (1811), S. 411 - 416. (Hier die Geschichte vom "Edelmann, der glaubt, gestorben zu sein, die JEAN PAUL bereits bei HENNINGS exzerpiert hatte (Hennings 1780, S. 19 f.) Auch der von Schweiß beförderte Heiligenschein findet sich bereits bei HENNINGS (1780, S. 105-110). 39 MdW 9.3. (1810). 40 MdW 8.1. (1808), S. 61-71.
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entflammt wird, kann es leicht der Fall werden, daß wir etwas, das bloß in uns ist, außer uns sehen, daß wir mit ihm sprechen, daß es uns Entdeckungen macht, u.s.w.«41, aber die Naturalisierungen der Einbildungskraft werden jedoch als unzulänglich empfunden, sofern es nicht um die Genese, sondern um die Rechtfertigung übernatürlicher Erscheinungen geht: »Die Einbildungskraft als die Zauberin anzusehen, heißt den Knoten zerhauen, nicht lösen«.42 Auch das Bildnis der Isis zu Sais wird dargestellt: »Der Schleier, der das Haupt der Isis bedeckt, ist der, welchen nach der berühmten Aufschrift noch nie ein Sterblicher gelüftet hat«. Und das Isis-Motto ließe sich geradezu als Motto über das Projekt der Zeitschrift schreiben:43 Was Verwunderung erregt, das können wir entweder gar nicht, oder doch nicht gleich anfänglich begreifen; was wir aber bewundern, das betrachten wir mit Liebe, mit Theilnahme, mit Hochachtung. Das Wunderbare begreift das Ver- und Bewunderungswürdige in sich, und da nie ein Sterblicher jemals alle Geheimnisse der Natur und des unendlichen Geistes ergründet, da vieles vor ihm in Dunkel gehüllt bleibt, da sich mit dem Wachsen der Einsichten nicht selten das Wunderbare vermehrt, so kann es einer Zeitschrift, die Gegenstände dieser Art sammelt und zu verbreiten sucht, nie an Materialien fehlen.44 3.5. Natürliche Wunder ohne rhetorische Resonanz Das MAGAZIN ist also geradezu eine Enzyklopädie der in JEAN PAULS letztem Roman versammelten Motive des Wahnsinns. Die Valenz der Wunder ist unüberschaubar geworden, ihre Deutungsmöglichkeiten haben sich vervielfältigt.45 Vor diesem Hintergrund verlieren auch die Metaphern der Natürlichen Magie< ihre Eindeutigkeit: Die auf dem Pechkuchen tanzenden elektrischen Figuren der Natürlichen Magie (H 1/6, S. 596), die »Brenn- und Vergrößerungsspiegel« ECKARTSHAUSENS (H 1/6, S. 601), die entlarvten Hoffnungen auf Darstellung des großen Universals und deren Wiegleb'sche Verspottungen (H 1/6, S. 715, S. 71946), NlCOLAlS Blutegel-Kuren (H 1/6, S. 1000) und insbesondere die aufkommende Leidenschaft für den animalischen Magnetismus; die rhetorische Resonanz all dieser Wunder ist nun auch bei
41 42
MdW 3.1. (l804), S. 11; vgl. MdW2.5. (1804), S. 401. MdW 6.3. (1807).
43
MdW 1.2.2(1804), S. 164.
44
MdW, 4.1. (1805), S. III-IV.
45
Vgl. HI/6, S. 581, Anm. Vgl. Wiegleb (1777), S. 250.
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JEAN PAUL beinahe vollständig verloren gegangen, sie haben jetzt auch in seinem Werk »keine Beziehung mehr auf das, was sie beweisen sollten«. Anders aber als bei NOVALIS erscheint der allegorische Raum, der als Rückstand der Wunder, als sprachliche Hülle, zurückbleibt, nicht überzeitlich >geläutertBlendgewalt< der Einbildungskraft vererbt sie ihrem Sohn, dessen »außerordentliche Phantasie« sich jedoch »nicht nach außen, sondern nach innen gegen den Besitzer selbst« kehrt und »nur ihm, nicht ändern vordichtet und vorspiegelt« (H 1/6, S. 579) und so zum hermetischen Wahngebäude wird. Die allegorische Welt, die außerhalb seines Kopfes zurückbleibt, ähnelt am ehesten der des Andreas Hartknopf mit ihren hintergründig hintergrundlosen Gasthausschildern,47 aber die hermetischen Allegorien haben keinen >höheren< Schriftsinn mehr: Wenn Marggraf ankündigt: »Die weiche Kohle wird bald eine harte, die finstere eine durchsichtige - und leuchtet so lange wie die Sonne« (H 1/6, S. 725), dann ist der materielle Schriftsinn - die vorweggenommene Ahnung der von BIOT, PEPYS und DAVY entdeckten »vornehmen
Vgl. H 1/6, S. 897.
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Verwandtschaft der Kohle mit dem Diamant« - hinreichend deutlich.48 Aber die pseudo-chemischen Kapriolen, die JEAN PAUL anfügt, haben keinen realen Erklärungsweit, ähnlich wie die kabbalistische Rechnung des Erzählers in der Beilage zur Geschichte des Fräuleins Tolot. Die Identifikation Marggrafs mit dem Diamanten, sein privater Versuch einer »Vergleichung zwischen der physikalischen und moralischen Welt« im Brief an die Geliebte Amanda, ist in der Zeit nach der von JEAN PAUL befürchteten >moralischen Sonnenwende< vom Wahnsinn gezeichnet. Sie findet keine Antwort, weder im öffentlichen Bewußtsein der Mitmenschen noch in einer Antwort der Angebeteten. Damit erfüllt sich JEAN PAULS Prophezeiung, derzufolge der Schleier der Isis in den bevorstehenden Jahrzehnten an die Stelle der lebendigen Gottheit gerückt werde. Marggraf bleibt ein unverbesserlicher >Achtzehntjahrhunderterhöheren< - erfüllt. In der säkularisierten Welt verbinden sich die Anschauungsformen der Phantasie und der hermetischen Erwartungen auf das »größte Glück«: Hat sich nun einmal die Phantasie zum größten Glück eines Menschen der ersten Form der Anschauung a priori - welche, wie jede Leserin aus ihrem Kant wissen kann, die Zeit in ihrem Dreiklang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist - bemächtigt und sie zu ihrem Brennspiegel und Vergrößerungsspiegel ausgearbeitet und zugeschliffen: so hat sie natürlicherweise die zweite kantische Form der Anschauung a priori als ihren zweiten Pfeilerspiegel in ihrer Gewalt, nämlich den Raum, der in nichts anderes einzuteilen ist als in das Nächste und in das Fernste, oder in Mittelpunkt und Umkreis. Aber was ist das bißchen Mittelpunkt des Besitzes gegen die unzähligen Quadratmeilen der Ferne, die stets viel größer als die Nähe ist und allein durch die Phantasie erobert und genossen wird. (H 1/6., S. 601)
Das Gedankenexperiment Kymons aus dem Agathodämon wird hier vor dem Hintergrund von KANTS >kopernikanischer Wende< wiederholt, und an dieser Stelle schimmert der ernste Grund durch, der in den Ausschweifen zum ersten Bändchen des Romans offenbart wurde. Denn genau dieses Verhältnis von körperlosem Mittelpunkt in Raum und Zeit und unendlicher Ausdehnung der
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1796 zeigte S. TENNANT, daß Diamant eine Form des Kohlenstoffs ist, indem er ihn verbrannte und das dabei entstehende CO2 abwog. Bereits 1779 hatte C. W. SCHIELE gezeigt, daß Graphit eine Modifikaltion des Kohlenstoffs ist; wesentlich auch die Entdeckung R. A. F. REAUMURS, daß Kohlenstoff wesentlich an der Umwandlung von Eisen zu Stahl beteiligt ist Vgl. S. Tolansky, The History and Use of Diamond, London 1962.
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Körperwelt bestimmte ja den »Traum über das All«, in dem sich der Schauer vor der Grenzenlosigkeit der Körperwelt artikulierte und der die Gestalt des Isis-Schleiers als transzendentale Figur aus der Unbegreiflichkeit des Weltalls selbst ableiten wollte.
3.6. Musik und Natur Nachdem Nikolaus die Darstellung seines Diamanten gelungen ist, ertönt eine »türkische Musik«, die »gewöhnlich am Jahrmarkte gegen 10 Uhr durch die vollen Straßen zieht und den prosaischen Jubel durch einigen poetischen verklärt«. (H 1/6, S. 796) Doch auch der Nachhall der a la furca-Epoche verklärt in Wirklichkeit nicht, sondern ernüchtert eher den prosaischen Jubel. Ebenso ist die Natur und die ganze Welt hinter eine Nebelwand gerückt, Blicke in die Ferne und zum Horizont fehlen fast vollkommen in diesem Roman; nur der Himmel, schon im Titan der hauptsächliche Expansionsraum der Phantasie, verbleibt und klärt sich zuweilen auf; er ist die einzige Dimension, in der die Koordinaten des heroischen und des komischen Romans übereinstimmen. Der »Kandidat Richter«, der die Wetterzeichen der Zeit liest, ist damit für die >Vergleichung zwischen der meteorologischen und moralischen Welt< verantwortlich, aber in ganz anderer Weise als dies Hegesias im Agathodämon war: - Und so ist an dem Himmel, in welchen Nikolaus blickt und fährt, wenig auszusetzen, da solcher dem allernächsten Menschenhimmel, dem atmosphärischen über unsern Köpfen, gleicht, nach welchem wir Blicke und Seufzer schicken, ob er gleich am Ende nichts ist als die blaue Farbe unserer aufgetürmten Luft, die wir einatmen und ausstoßen. - Aber der blaue Himmel wohnt eben eigentlich in dem himmelblauen Auge, das aufblickt. (H 1/6, S. 963)
Die moralischen Illusionen der Narren sind nicht illusionärer als die physikalischen Illusionen aller anderen Formen unserer Weltanschauung. Wenn Marggraf schreibt: »Das Lieben ist ja das einzige oder Beste, was der Mensch sich nicht einbildet« (H 1/6, S. 905), dann wird auch diese Hoffnung in den Grenzen des Romanfragments nicht erfüllt, ja nicht einmal erahnt. Insofern erfüllt die »unendüch seltene Konjunktion« der Quaterne von vier Narren, mit der das Fragment schließt, die einzigen Hoffnungen, die Nikolaus Marggraf auf die Welt gerichtet hatte, indem er »gleich einem Pharaospieler« immer höher auf die zögernde Karte setzt, von der er sich sein Glück erhofft. (H 1/6, S. 621) Seine eigentümliche »Art von Übermut, der ordentlich durch das stärkere Setzen auf eine Karte vom Schicksale das Gewinnen erzwingen will«, (H 1/6, S. 759) wird dabei nur ganz nebenbei an die großen weltgeschicht-
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liehen Hoffnungen der Vorzeit geknüpft: »Der Leser erinnere sich nur«, schreibt JEAN PAUL in einer Parenthese, »- was er ohne seinen größten Schaden nie vergessen kann -, daß die gegenwärtige Geschichte, die er hier aus mir als der Quelle zu schöpfen hat, gerade im Anfang der französischen Revolution vorgefallen.« (H 1/6, S. 827) Der Revolutionsprophet des Hesperus, der hier als harmloser »Wetterprophet« durch die Rabelais-Welt zieht und der »Werke wie einen Hesperus, einen Titan u. dergl.« erst noch schreiben wird, (H 1/6, S. 834) gründet seine meteorologische und moralische Autorität auf einen >höheren< Sinn für die Wendungen des Wetters und des Schicksals, aber auch seine - in der Retrospektive zum Scheitern verurteilten - politischen Hoffnungen sind in die satirische Rechtfertigung des deutschen Wetters chiffriert: Der deutsche Nebel in Lukas-Stadt, wohin die Reisegesellschaft gerät, ist ihm »ohne Frage der dickste im ganzen vorigen Jahrhundert«. (H 1/6, S. 905) Wenn dann nach der Aufklärung (des Nebels) der blaue Himmel wieder zum Vorschein kommt, hat die meteorologische Erhellung den Menschen keinerlei Fortschritte gebracht, und von dieser deprimierenden Erkenntnis läßt sich auch der Erzähler JEAN PAUL im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch affizieren, wenn er sich an die Arglosigkeit früherer Hoffnungen und an deren verächtliche Abweisung mit Zorn erinnert: Und in der Tat, mir selber, der ich doch in größter Ruhe hier in meinem Zimmer längst hinter dieser ganzen Vergangenheit sitze und sie betrachte, steigen die Haare zu Berge, wenn ich mir den höchst beleidigten Hof vorstelle, den Grafen als einen Narren hinausjagend, den Marschall als dessen Oberaufseher und Kurator in die Festung werfend und wohl einige vom Hofpersonale, vielleicht gar noch den unschuldigen Kandidaten Richter dazu, der damals noch wenig ahnete und noch sehend (erst später blind) in alle Netze lief. (H 1/6, S. 980)
Marggrafs vergebliche Bemühungen -um Anerkennung seiner fürstlichen Geburt und die wahnwitzige Selbstdarstellung des Ledermenschen als »Fürst dieser Welt« reflektieren die Unerfüllbarkeit eines Ausgleichs zwischen physikalischer und moralischer Wirklichkeit, und also hören (wie im MAGAZIN DES WUNDERVOLLEN) für JEAN PAUL »hienieden die Merkwürdigkeiten nicht auf, im Leben wie im Lesen! - « (H 1/6, S. 994)
Der »Glanz der halbentschleierten Welt«
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4. Der »Glanz der halbentschleierten Welt« und ein fernes Echo der Philosophie Im Lauf der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts tauchten die Erscheinungen des vorrevolutionären Zeitgeistes auch für die Autoren der >romantischen Schule< wieder aus dem toten Winkel des Zeitbewußtseins auf und wurden ins erzählerische Blickfeld gerückt. Die retrospektive Spiegelung zeigte diesen erloschenen Zeitgeist nun aber in gebrochener Gestalt. So heißt es zum Beispiel zu Beginn von ACHIM VON ARNIMS Majoratsherren: »Wir durchblättern einen altern Kalender, dessen Kupferstiche manche Torheiten seiner Zeit abspiegeln«.49 Der mit dem Grabstichel in Kupfer gebannte Zeitgeist der Schwärmerei erscheint in dieser Spiegelung als ein weit entferntes Phänomen, das dem Bewußtsein des 19. Jahrhundert eigentlich schon gar nicht mehr verständlich ist: Jene Zeit, so konstatiert ARNIM, liege »doch jetzt schon wie eine Fabelwelt hinter uns«,50 und die geistesgeschichtliche Spiegelachse, durch die das verzerrte Erinnerungsbild von der lebendigen Erfahrung getrennt wird, verläuft durch die Sphäre der Revolution: Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden! Jahrhunderte scheinen seit jener Zeit vergangen, und nur mit Mühe erinnern wir uns, daß unsre früheren Jahre ihr zugehörten.51
Die Verdrängung der Phänomene in den >toten Winkel< hat also ihre Wirkung nicht verfehlt: Nur noch aus der »Tiefe dieser Seltsamkeiten, die uns Chodowieckis Meisterhand bewahrt hat, läßt sich die damalige Höhe geistiger Klarheit erraten«.52 Die Gestalt der Epoche gewinnt damit trotz der Entfernung wieder physiognomische Signifikanz, denn, so fährt ARNIM fort, diese geistige Klarheit ermesse sich sogar »am leichtesten an den Schattenbildern derer, die ihr im Wege standen und die sie riesenhaft über die Erde hingezeichnet hat«.53 Daß die »geistige Klarheit« sich am deutlichsten an den Schattenrissen derer abzeichnet, die sich ihr entgegenstellten, ist ein eindeutiger Hinweis auf die
49
A. v. Arnim, Werke in einem Band, S. 186. Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. " Ebd. 50
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berühmten Dunkelmänner jener Epoche. Gerade diese Merkwürdigkeiten heben das Individuelle hervor: Welche Gliederung und Abstufung, die sich nicht bloß im Äußern der Gesellschaft zeigte! Jeder einzelne war wieder auch in seinem Ansehn, in seiner Kleidung eine eigene Welt, jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit auf dieser Erde ein, und wie für alle gesorgt war, so befriedigten auch Geisterseher, geheime Gesellschaften und geheimnisvolle Abenteurer, Wundärzte und prophetische Kranke die tief geheime Sehnsucht des Herzens, aus der verschlossenen Brusthöhle hinausblicken zu können.54
Das antiromantische Argument, demzufolge das romantische Denken dem schrankenlosen Subjektivismus, der Welt-Vervielfältigung und -Vernichtung die Bahn geebnet hat, wird in dieser geistesgeschichtlichen Reflexion auf die Vergangenheit zurückprojiziert und als Defizit der Gegenwart gegenüber einer pluralistischeren Vorzeit verzeichnet: Nicht nur sah damals jeder, sondern es war auch jeder eine Welt für sich. Indem jede dieser pluralen Welten ins unaussprechliche Zentrum des Individuums gebannt wird, erscheinen die Dunkelmänner der Vorzeit als Propheten, als »Ahnder der Zukunft«: Beachten wir den Reichtum dieser Erscheinungen, so drängt sich die Vermutung auf, als ob jenes Menschengeschlecht sich zu voreilig einer höhern Welt genahet habe und, geblendet vom Glänze der halbentschleierten, zur dämmernden Zukunft in frevelnder Selbstvernichtung fortgedrängt, durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden werden mußte, die aller Kraft bedarf und uns in ruhiger Folge jede Anstrengung belohnt.55
Auch die Prinzipien der »Romantisierung« der Welt werden nun also in die Vergangenheit versetzt, die Phantasie als das wunderbare Organ der >Vergleichung< zwischen Körperwelt und >höherer< Welt wird ausdrücklich dafür in Anspruch genommen. So entwirft ARNIM das bis heute wirksame Bild von der > Vorroman tikAchtzehntjahrhunderters< zu einer schalen Philister-Maxime, zur verzopften Phrase geworden. Die Vertreter der jüngeren Generation hingegen wollen - nach dem Vorbild des Lehrlings bei NOVALIS - selbst würdige Lehrlinge der Natur werden; in der Hoffnung, »immer höhere Weihen zum Betreten der innersten Gemächer in dem großen Isistempel« zu erlangen, bemühen sie sich um alle aktuellen Erscheinungen des Zeitgeistes.61 Insbesondere im Fragment von Alban's Brief an den Schwärmer Theobald ist - unter Enthusiasten des Magnetismus - diese Anspielungsebene zur lingua franca des romantisch-naturphilosophischen Gesprächs geworden: »Es mußte gerade ein Arzt sein«, so schreibt Alban mit Blick auf MESMER, »der zuerst von meinem Geheimnisse zur Welt sprach, das eine unsichtbare Kirche wie ihren besten Schatz im Stillen aufbewahrte, um eine ganz untergeordnete Tendenz als den einzigen Zweck der Wirkung aufzustellen, denn so wurde der Schleier gewebt, den die blöden Augen der Uneingeweihten nicht durchdringen«.62 Aber ebenso wie der philiströse Schleier im Zitatenschatz des Barons ist auch der schwärmerische Schleier Albans uneigentlich: Denn der Schleier wird von Alban als ein absichtlich zur Wahrung der Exklusivität gewobenes Medium aufgefaßt - also weit eher im Sinne ECKARTSHAUSENS als in dem von NOVALIS. Wenn Alban den Anspruch erhebt, würdig zu sein des Amtes eines Priesters der Isis,63 dann täuscht er sich in seiner hermetischen Arroganz ebenso selbst wie seine Opfer. Der Offenbarungsort der »physiognomischen Hieroglyphe« verrät ihn jedoch immer noch: Vielleicht war es mein Blick, der mich verriet, denn so zwängt der Körper den Geist ja ein, daß die leisteste seiner Bewegungen in den Nerven oszillierend nach außen wirkt, und die Gesichtszüge - wenigstens den Blick des Auges verändert.64
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Ebd. S. 180. Ebd. S. 196. Zu den aktuellen Strömungen in den okkulten Disziplinen und ihren Bezug zu der Erzählung informieren Müller-Funk (1985) und Rohrwasser (1991). Ebd. S. 213. Ebd. S. 217. Ebd. S. 216.
Der »Glanz der halbentschleierten Welt«
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Die neuesten hermetischen Philosophen werden also zu Opfern ihrer eigenen Zeichendeutungskünste, ihre physiognomische Selbsterkenntnis offenbart nur ihren auf Verstellung angewiesenen Charakter. Das Schicksal all dieser Figuren, die zuletzt ohne Ausnahme untergehen, wird in der Erzählung ähnlich vielschichtig wie in BRENTANOS Godwi gespiegelt. Der physikalischen Welt stehen damit auch hier eine Vielzahl moralischer Scheinwelten gegenüber. Der Erzähler läßt sich zwischen diesen Welten selbst auftreten, wie BRENTANO Maria und wie JEAN PAUL im Kometen noch einmal >Jean Paul< auftreten läßt. Aber weder als kränklicher Schwärmer noch als leichtfertiger Wetterprophet, sondern anonym als philiströs vernünftiger Nachlaßverwalter der verstorbenen Aufklärer und Gegenaufklärer tritt HOFFMANNS fiktives Ich in diese zwielichtige Welt ein. In den vom Wahnsinn gezeichneten Tagebuchnotizen des Malers Bickert, die zeigen, wohin nicht nur Schwärmerei, sondern auch die Philisterei führen kann, findet er die Dokumente des alten und des neuen Zeitgeistes vereint. Mit dieser Sinnbrechung des Sais-Mottos in alle Farben des Meinungs- und Weltanschauungs-Spektrums hat das Bild seine innovative Rolle in der Literatur um 1800 zu Ende gespielt, und damit schließt sich sein Prospekt wie bei ARNIM das eiserne Gitter, das dem Erzähler »zufällig oder historisch, je nachdem man es ansehen will«, den Zugang zur Vorzeit, zur »Tiefe ihrer Seltsamkeiten« und zur »damaligen Höhe geistiger Klarheit« verwehrt.65 In TlECKS später Erzählung Die Wundersüchtigen - noch einmal zwei Jahrzehnte nach HOFFMANNS Erzählung entstanden - spielt das Bild dann keine Rolle mehr, die Erscheinungen des untergegangenen Zeitgeistes werden dort unabhängig von jeder Vermutung einer hintergründigen zweiten Welt beschrieben: Zwei konkurrierende Magier mit den Namen Sangerheim und Feliciano (hinter deren Pseudonymen unschwer CAGLIOSTRO und SCHRÖPFER zu identifizieren sind) lassen alle Kunststücke der Natürlichen Magie aufleben, um so die kollektive Einbildungskraft zweier Städte und insbesondere der dort hausenden Familie des Geheimrats von Seebach zur »Wundersucht« zu verleiten. Genau nach dem Muster der aufklärerischen Desillusionierungsliteratur wird diese Sucht durch die Lektüre eines magisch-kabbalistischen Manuskripts übertragen,66 und als Symptome der Sucht äußern sich noch immer die alten Ansprüche auf eine Fähigkeit, das Unermeßliche zu ermessen:67
65 66
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Arnim, Schriften in einem Band, S. 225. Tiecks Schriften, Bd. 23, S. 164. Ebd. S. 162.
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Welt der Schwärmer und Philister Wie viel Unerklärliches bleibt noch zu erklären? Und wie viel Unnatürliches, Unmögliches muß man schon gewaltthätig zusammen raffen, um nur das Leugnen des Wunderbaren und Unbegreiflichen bis zu dieser Spitze zu treiben?68
Auch die Legenden der Dunkelmänner werden fortgeschrieben, zum Beispiel die legendären Begegnungen mit dem »unsterblichen« Flamel, die der falsche Magier - nach wie vor in Opposition zu WIELAND - nicht nur für »kein Märchen« hält, sondern die er sogar »noch früher als Paul Lucas« im Orient erlebt haben will.69 Feliciano verrät sich selbst; die Schwärmerei, »Sterbliche für Unsterbliche zu halten«,70 das Geisterreich zu unterwerfen71 u.s.w., fällt in sich zusammen. Anders aber als in der Schwärmer-Literatur der Spätaufklärung und anders auch als im Lovell bleibt dies für die Betroffenen relativ folgenlos, für den Leser belanglos; die von der Schwärmerei Kurierten können sich nun wieder ihren Beamten-Pflichten widmen, dem Staat und den Verhältnissen weiterhin dienlich zu sein. Die physikalische und die moralische Welt haben hier keine gemeinsame Sprache mehr, die Desillusionierung als moralischer Wert wird weder rhetorisch bekräftigt noch gegenüber den romantischen Ansprüchen auf Potenzierung und Logarithmisierung der Realität verteidigt. TIECKS Erzählung befindet sich bereits näher an den ersten historischen Darstellungen der Vorzeit - an FRIEDRICH BÜLAUS Geheimen Geschichten und rätselhafte Menschen von 1850, an EUGEN SEERKES Schwärmer und Schwindler zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts und an KöPKES Beschreibung von TffiCKS eigener Kindheit - als an den Lehrlingen zu Sais von NOVALIS. Das neunzehnte Jahrhundert hat zu seinem Selbstverständnis gefunden, in dem das achtzehnte fern und rätselhaft, als eine Welt der Merkwürdigkeiten, erscheint. Mit dem Verschwinden der Vermittlungssphäre, der Möglichkeit zur »Vergleichung zwischen physikalischer und moralischer Welt«, verschwindet also auch das Sais-Motto als Indikator aus der deutschen Literatur nach 1800. In der Philosophie hingegen hallte die literarische Erfahrung nach, und dieses Echo der Literatur blieb über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg vernehmbar: In seinem von literarischer Erfahrung durchgängig getränkten Hauptwerk beruft sich ARTHUR SCHOPENHAUER auf die »uralte Weisheit der Inder«, die spricht:
68
Ebd. S. 198.
69
Ebd. S. 223.
70
Ebd. S. 224
71
Ebd. S. 219
Der »Glanz der halbentschleierten Welt«
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»Es ist die Maja, der Schleier des Trugs, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei; denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von Ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.« [...] (Diese Gleichnisse finden sich in unzahligen Stellen der Veden und Puranas wiederholt). Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts Anderes, als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung unterworfen dem Satz vom Grunde.72
In der Philosophie des beginnenden 19. Jahrhunderts sind damit tatsächlich die beiden Momente der Subjektivität und des Irrationalismus zur Deckung gekommen, von denen in der Einleitung die Rede war. Und so behält auch hier »gegen Philosophie und die Nymphe Echo« scheinbar keiner das letzte Wort.73
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A. Schopenhauer, Werke in 10 Bänden, Bd. l, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 34 f. HI/3, S. 1013.
V. Anhang: Exkurse Exkurs l Lange Zeit wurde HIPPELS schwieriges Werk von der literatur- und geistesgeschichtlichen Forschung offensichtlich gemieden. Abgesehen von einigen biographischen Studien (N. VON HIPPEL, Die Geschichte der Familie von Hippel Königsberg 1899, und F. J. SCHNEIDER, Th. G. von Nippel in den Jahren von 1741 bis 1781 und die erste Epoche seiner literarischen Tätigkeit, Prag 1911) finden sich in der älteren Forschung kaum Arbeiten, die sich näher auf die Probleme der Interpretation von Hippeis Romanen und auf deren geistesgeschichtliche Einordnung eingelassen haben. In der jüngeren Forschungsliteratur lassen sich zwei verschiedene Standpunkte unterscheiden; beide sind auf ihre Art daran orientiert, sich der Bewältigung der Redeflut von Hippeis Romanen zu stellen: Während die Arbeiten von MICHELSEN (1962) und MILLER (1968) die Genese des ausufernden Subjektivismus von HIPPELS Stil rekonstruieren, wird in den historisch-sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten (KOHNEN, 1983; und: ders., 1988) untersucht, welchen Beitrag die neueren Forschungen zur Geheimbund-Problematik zur Erhellung des scheinbar undurchdringlich verwilderten Romanhintergrundes leisten können. Eine kurze Darstellung der Forschungsergebnisse beider Standpunkte wird zeigen, daß die sozialgeschichtlichen Forschungen keine befriedigende Antwort auf die Probleme der im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Arbeiten bieten. Sowohl MICHELSEN als auch MILLER haben unter dem Aspekt der Subjektivierung der Erzähler-Rede den eigenständigen stilistischen Beitrag Hippeis zur Entwicklung einer säkularisierten Gefühlssprache zwischen den Polen der empfindelnden STERNE-Rezeption einerseits und JEAN PAULS sprachlicher Weltbegründung andererseits untersucht; beide Interpreten stützten ihre Untersuchungen hauptsächlich auf HIPPELS ersten, erfolgreicheren Roman, die Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Von STERNES »scheinbarer« Formlosigkeit im Tristram Shandy will MICHELSEN dabei die »wirkliche Formlosigkeit« in HIPPELS Roman unterschieden wissen. (MICHELSEN [1962] S. 277.) Diese reale Formlosigkeit liegt für ihn in HIPPELS tatsächlicher Exzentrik begründet, in der deutlich wird, daß der Verfasser aus dem - bei aller Skepsis - doch immer noch physikotheologisch zentrierten Weltbild einer ihrer Sendung bewußten Aufklärung
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ausgeschert ist; zu der für HIPPEL charakteristischen Implosion der Empfindungssprache konnte diese Entrückung des Autors aber nur deshalb führen, weil das empiristische Dogma der Aufklärung für ihn immer noch Gültigkeit besitzt: »Hippel folgt der Aufklärung, wenn er die Erfahrung als Richtschnur nimmt; er geht über sie hinaus, wenn er auf die Vorstellung eines geordneten Kosmos verzichtet.« (Ebd. S. 287) Nicht so sehr die Tatsache also, daß dem Weltbild Hippeis ein Zentrum zu fehlen scheint, läßt ihn so exzentrisch erscheinen; vielmehr wird dies dem Leser erst dadurch bewußt, daß der Autor seinen Erfahrungen aller bedrängenden Subjektivität zu Trotz immer noch einen intersubjektiven Erfahrungsbegriff zugrunde legt. Am deutlichsten wird dies in Hippeis Tendenz, den Erzähltext von unentwirrbar verschlungenen Ranken aus Sentenzen und Maximen überwuchern zu lassen. Sentenzen beruhen ja ihrer Natur nach auf der Möglichkeit spontaner Nachvollziehbarkeit auf der Grundlage intersubjektiver Erfahrung. Der »neue, über die Aufklärung hinausreichende Subjektivismus« (ebd. S. 287.) HIPPELS kann also nicht einfach nur im Einflechten solcher Sentenzen bestehen - dies wäre durchaus in bewährter Manier noch möglich; über diese Manier hinaus weist erst die Tatsache, daß unter der chaotischen Häufung der Sprüche schließlich der orientierungsstiftende Bezug zur erzählten Situation und damit zur Anschauung, die der Erzähler mit dem Leser teilen könnte, verschwindet: Das Ich panzert sich förmlich mit Reflexionen, der Mensch wehrt sich durch »bezugslose Grundsätze und Setzungen gegen die Welt als Chaos«. (Ebd. S. 310) Genau diese Panzerung geht auf Kosten der Vermittelbarkeit, und daher kann Michelsen konstatieren: Das »heftige Ich-Bewußtsein, das uns aus Hippeis Lebensläufen entgegenschlägt, hält einem Treffen, einer Auseinandersetzung mit der Welt nicht stand« (ebd. S. 291). Dem Leser entschwindet die Welt, und die >Panzerung< ist erkauft um den Preis der Nachvollziehbarkeit. NORBERT MILLER hat in seinem Exkurs über »Zwei Grundzüge in Hippeis Stil« (Miller [1968], S. 419-426) im scheinbaren Chaos von HIPPELS Prosa nach verborgenen Ordnungsprinzipien gesucht und hat damit die andere Medaillen-Seite der subjektivistischen Bedrohung dieses Erzählers offenbart. MILLER unterscheidet: l. die »Vorliebe Hippeis für die Reihung von Namen und Fakten, für die auf der Stelle verharrende Addition von Bezeichnungen und von Einzelzügen einer Beschreibung oder eines Vorgangs« und 2. die »gesteuert-rhapsodierende Gedankenflucht«. Unter dieser »geregelten Gedankenflucht« versteht Miller die unablässige Tendenz des Autors, im Prozeß des Schreibens eine Verschiebung der Gedankenfluchtpunkte in Kauf zu nehmen. Miller verdeutlicht dieses Verfahren unter anderem an einer der Gedanken-Verschlingungen, die entlang dem Text der aufsteigenden »Lebensläufe« emporranken. HIPPEL beteuert an der angesprochenen Stelle, er wolle dem Leser »keine Krücken« geben und ihn nicht mit »Stehe Wanderer«-
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Tafeln aufhalten; MILLER rekonstruiert, wie HIPPELS Assoziationen ständig einander ablösen und sich gegen einander verschieben, und er zeigt, daß der Nachvollzug dieser Verschiebungen ohne die korrespondierenden Anschauungen, die er aus antiken und mittelalterlichen Reminiszenzen schöpft, »unverständlich, ja widersinnig« erscheinen muß. Wie MiCHELSEN hebt also auch MILLER das Doppelbödige an Hippeis Stil hervor, aber er betont stärker als jener die Möglichkeit des Interpreten, auf dem Boden unter dem »wirren Labyrinth von Assoziationen« eine verborgene ordnende Anschauung aufzuspüren. Voraussetzung für deren Erfassung ist allerdings, »aus den Bruchstücken des Formulierten den ganzen, ineinander verschwimmenden Hintergrund des Denkens zu rekonstruieren« und »den S chaff ens Vorgang und die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten und Kombinationen vollständig aufzudecken« (ebd. S. 426.) - und auch MILLER wertet dies als ein »zum Scheitern verurteiltes Experiment« (ebd. S. 426.), so daß zuletzt vor den Augen selbst des geneigtesten Lesers der Erzähler »die Fiktion und damit sich selbst« vernichtet. (Ebd. S. 413.) Verbindet man MICHELSENS und MILLERS Argumente, so ergibt sich für die Poetik von HIPPELS Romanexperimenten ein scheinbar fataler Zirkel: Entweder der Autor schützt und panzert sein Ich mit Setzungen und Sentenzen - dann aber versteht ihn der Leser nicht mehr - oder er versucht, sich verständlich zu machen - und verliert sich dabei, vernichtet sich mitsamt der Fiktion, die er entwirft. Demgegenüber sollte in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, daß MILLERS Gedanke eines potentiell allwissenden Lesers der Interpretation der Kreuz- und Querzüge eine zusätzliche Dimension eröffnet, durch die der Zirkel wenn schon nicht gelöst, so doch in seiner Struktur entwickelt werden kann: HIPPELS zweiter Roman erscheint zunächst als noch chaotisch-labyrinthischer und unaufschließbarer als die Lebensläufe. Da aber bereits die zeitgenössische Kritik dem Verfasser der Lebensläufe den Vorwurf gemacht hatte, sein Werk sprenge die Grenzen des Zumutbaren für den Leser, liegt die Vermutung nahe, daß sich hinter diesem gesteigerten Chaos (dem »Kreuz- und Quer« anstelle der linear aufsteigenden Linien) ein Prinzip verbergen könnte, das - zumindest der Intention nach - den Zirkelschluß von Ich und Erfahrung hintergehen soll. In der Tat läßt sich zeigen, daß in diesem Roman der epistemischen Unscharfe die darin besteht, daß es dem Leser (sofern er nicht allwissend ist) nicht möglich ist, den Assoziationsraum des Schaffensprozesses vollständig auszuleuchten - eine gleichsam ontologische Unscharfe zugrunde liegt, die in gewisser Weise die epistemische neutralisiert. Diese Möglichkeit wurde eröffnet durch die Wahl des Sujets: Während die epistemische Unscharfe und Verschwommenheit, in der uns dieser Roman erscheint, schlicht auf der Tatsache beruht, daß wir von den Praktiken und der Sprache der Geheimbünde, die in diesem Roman verspottet werden, faktisch
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nicht mehr ausreichend Kenntnis besitzen, um dem Autor in alle Verästelungen seiner kreuz- und quer-schießenden Assoziation folgen zu können, baut komplementär dazu die ontologische Unscharfe auf der Tatsache auf, daß Verschwiegenheit und Verschlüsselung ja zu den prinzipiell nicht hintergehbaren Voraussetzungen des Geheimbund-Wesens gehörten. Wenn man also wohlwollend (im Sinne Hippeis) von einer ontologischen Deutung der Unscharfe ausgeht, dann wird die Auflösung der epistemischen Unscharfe vergebliche Mühe sein: entweder der Leser ist Freimaurer - dann ist ihm der Text als solcher offenbar, aber er kann ihn nicht interpretierend verstehen oder er ist keiner, dann kann er zwar versuchen, ihn zu verstehen und zu deuten, aber seine Erkenntnisse können nie die Gewißheit offenbarter Wahrheit erlangen. Und Hippel hätte demnach nicht einfach aus kontingentbiographischen Gründen seinen zweiten Roman als satirischen Bundesroman gestaltet, sondern den (scheinbaren!) Bundesroman als einzige Möglichkeit einer profanen Selbst-Offenbarung erkannt und dementsprechend inszeniert. Unausgesprochene Prämisse dieser Gleichung ist allerdings, daß es einen idealen Maurer gibt - und es zeigt sich, daß in Hippeis Spiel mit der auktorialen Erzählhaltung genau diese Fiktion -je nach Bedarf - ein- oder ausgeblendet wird: Einmal ist der Erzähler ein allwissender Mystagoge, dem nichts Maurerisches fremd ist, - ein Chronist und Enzyklopäde der Maurerei im Sinne RAMSEYS, und im nächsten Augenblick ist er wieder ein wahrheitssuchender und geheimnishungriger Aspirant wie sein unbedarfter Held.
Exkurs 2 JEAN PAUL, so schreibt FERDINAND JOSEPH SCHNEIDER zu Beginn unseres Jahrhunderts, habe den Subjektivismus in der deutschen Literatur auf die Spitze getrieben, so wie FICHTE es in der Philosophie getan habe. (Schneider [1905], S. 319) In Opposition zu dem Bild vom Gang der »Bildungsgeschichte des deutschen Geistes«, das damit entworfen wird, ist das Verhältnis JEAN PAULS zur Spätaufklärung in jüngerer Zeit zu einem Gegenstand intensiver literaturhistorischer Forschungen geworden. Nichts Geringeres wurde dabei beabsichtigt als eine neue Einordnung des Autors ins Epochengefüge der Literaturwissenschaft, eine Neubewertung von »Jean Pauls geschichtlicher Stellung« (PROSS). Das nachromantische Bild vom frei subjektivistischen und autonomen Gleichnisschöpfer, dessen heterogene Bilderwelt allein vom uneingestanden Fichteanischen Ich einer allmächtigen Künstlerpersönlichkeit zusammengehalten wird, sollte korrigiert werden; an die Stelle einer Vergegenwärtigung von »Jean Pauls Persönlichkeit« und der Erfassung seiner
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»Gesamterscheinung« als einer noch »unbekannten Größe« (Max Kommerell, 19664, S. 5.) sollte die kritische Rekonstruktion der Genese seiner Bilderwelt aus dem Geist der Spätaufklärung treten. (Zur Kritik an der auch noch von KOMMERELL vertretenen »fichteanischen« Deutung JEAN PAULS vgl. W. Harich [1968] und W. Schmid-Biggemann [1975], S. 25 f.), W. Proß [1975], S. 27, G. Müller [1983], S. l f.) A. Käuser (1989, S. 375, A 287) hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß der von diesen Autoren einstimmig vertretene Vonvurf, KOMMERELL messe JEAN PAUL einseitig am Bild GOETHES, ebenso ungerecht gegenüber dem Verfasser der großen Jean Paul-Monographie ist, wie es unangemessen ist, ihn an der Elle der positivistischen Methodendiskussion zu messen. (Vgl. hierzu auch: H. Schlaffer [1979], S. 22 f.) Wenn auch die Verdienste der älteren Jean Paul-Forschung (F. J. SCHNEIDER, REMY, KOMMERELL, BEREND) dabei nicht selten unterbewertet wurden, so läßt sich doch nicht in Abrede stellen, daß in der Folge dieses Neuansatzes eine Revision des überlieferten Jean-Paul-Bildes zwingend erforderlich wurde. Grundlage dieser Revison bildeten vor allem die Werke der satirischen Phase und die noch weiter in die Grundschichten der Aufklärung zurückreichenden Exzerpten-Hefte des Dichters. Schon in RICHTERS frühesten Exzerpten aus den 70er Jahren werden historische, philosophische, anthropologische und theologische Abhandlungen systematisch erarbeitet; die Abschriften bilden das Fundament aller späteren Auswertungen; die Exzerpte nach 1782 bringen die verschiedensten Diskurse dann auf den gemeinsamen unbewußten Nenner des Jahrhunderts, schließen im rationalistischen Gestein die geheimen Faszinosa der Aufklärer auf, die Merkwürdigkeiten und >Curiositätenfixer Ideen< in Zeitschriften wie dem Museum des Wundervollen verfolgt. (Vgl. den letzten Teil der vorl. Arbeit) Für JEAN PAULS frühe Satiren wurden die Verfremdungen und Verzerrungen dieser Diskurse in den Grönländischen Prozessen, der Auswahl aus den Papieren des Teufels und der Baierischen Kreuzkomödie als poetische Lösungsversuche der theoretischen und praktischen Aporien des Rationalismus gegenüber den inneren und äußeren Mächten des Irrationalen interpretiert. (Der neuerdings erhobene Vorwurf, JEAN PAUL werde damit zum »eklektizistischen Wissenschaftler« oder gar zum »historischen Dokument« herabgewürdigt (A. Käuser [1989], S. 375), ist unberechtigt, weil er die spezifische Differenz zwischen einer ästhetischen und einer Lösung der theoretischen oder praktischen Vernunft außer Acht läßt. Die angestrebte Vereinigung der
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»gedoppelten Menschennatur« (»der Januskopf des Menschen, der auf zwei entgegengesetzte Welten gerichtet ist«; Schings [1980], S. 14) hat sowohl in den satirischen wie in den heroisch-empfindsamen Auflösungen eine Qualität, die in den wissenschaftlichen Diskursen nicht enthalten ist.) Die existentielle Bedeutung dieser Fragen für den aus beengten, theologisch fixierten Verhältnissen stammenden Dichter wurde dabei nicht übersehen (vgl. hierzu vor allem die Arbeit von E. Weigl [1980], S. 27-51, 87-91, 127-148.), aber anders bewertet als in der älteren Forschung. Es geht nicht mehr in erster Linie um Einblicke in »Jean Pauls Persönlichkeit«, sondern darum, einen »zuverlässigen Eindruck von der Vielfalt-der Themen, Ideen und Stilarten und vom Geflecht der geschichtlichen Beziehungen« (Wulf Köpke [1977], S.17) zu gewinnen. Zunächst war es WOLFGANG HARICHS Buch über Jean Pauls Revolutionsdichtung (1974), das den von der George-Schule geprägten Mythos vom idealistischen Schöpfer empfindsamer und phantastischer Welten zerschlug. Im Rückgriff auf die Keime der Satirenzeit erhellte HARICH den Gehalt der frühen Romane JEAN PAULS, indem er deren Handlung ins Licht ihrer revolutionär wetterleuchtenden Entstehungszeit rückte. Wenn auch die nachfolgenden Interpreten dem Buch HARICHS zu Recht vorwarfen, es überzeichne die Gestalt JEAN PAULS gleichfalls, indem an die Stelle des Mythos vom romantischen Subjektivisten der des konspirativen Rebellen und verkappten Jakobiners gesetzt werde (vgl. Gisbert Ter-Nidden [1974], S. 7-29, sowie: Engelhard Weigl [1980], S. 11), so war damit doch die Initialzündung zu einer Reihe weiterer Untersuchungen erfolgt. Von den Arbeiten zur Rezeption der Spätaufklärung in RICHTERS Jugendwerken und in der Zeit der Satiren ist die Studie von WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN (1975) in ihrer argumentativen Dichte nach wie vor unübertroffen. SCHMIDT-BIGGEMANN versucht in dieser Untersuchung, die Ablösung philosophisch-theologischer Modellvorstellungen der rationalistischen Philosophie im Werk RICHTERS nachzuweisen. Exemplarisch greift er aus der Galerie der Bilder RICHTERS die Motive »Maschine« und »Teufel« heraus, um in den Exzerpten und Satiren jene »Metaphernschwelle« zu lokalisieren, die den Übergang vom Weltbild der Spätaufklärung zu dem der idealistischen Zeit markiert. Das Epochenraster, von dem SCHMIDT-BIGGEMANN dabei ausgeht, wird jedoch von philosophiegeschichtlichen Koordinaten determiniert: den Ausgangspunkt bildet der Ursprungsgedanke im neuzeitlichen Koordinatensystem des Subjekts, das cartesianische cogito ergo sum, den Zielpunkt die Gefühlsphilosophie FRIEDRICH HEINRICH JACOBIS, die im (mißverstehenden) Anschluß an HUME allen gescheiterten Versuchen, diesem Subjekt das Bewußtsein seiner selbst und seiner Urteile als gerechtfertigte Meinung nachzuweisen, das Gefühl der Gewißheit selbst (also gerade das, was in Frage stand) entgegenstellte. In RICHTERS literarischer Reflexion äußert sich der Prozeß in verschiedenen
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Stufen der satirischen Skepsis - bis hin zur empfindsamen Wendung unter dem unmittelbaren Einfluß Jacobis. SCHMiDT-BiGGEMANNS Orientierung an den Koordinaten der Philosophiegeschichte läßt sich rechtfertigen, wenn man die Schwerpunkte von RICHTERS Exzerptenheften berücksichtigt. Im Anschluß an die vorläufige Absage an die Philosophie, die sich im Brief vom 1. Mai 1783 äußert (»selbst die Philosophie ist mir gleichgültig, seitdem ich an allem zweifle« [SW /1, S. 66]), bahnt sich RICHTER mühsam einen »poetischen Ausweg« aus dem Labyrinth der Reflexion, der ihn immer weiter von der Einschätzung der Einbildungskraft als einer »cognitio inferior« (Schmidt-Biggemann, S. 194) entfernt. Konsequenterweise folgt SCHMIDT-BIGGEMANN daher auch RICHTER nicht bei seinem Übertritt aus der »satirischen Essigfabrik« in die »Unsichtbare Loge«, bei seiner Metamorphose von »Hasus« zu »Jean Paul«. Die »Geburt« des Romanautors hat keinen Ort im Koordinatensystem der. Philosophie, der alte Zopf, den sich RICHTER zum Abschluß seines »Kleidermartyriums« wieder anpassen läßt, erweist sich zugleich als Selbstbefreiung zu einer unmittelbaren Aussprache der von der satirischen Reflexion verschütteten Empfindungen. Die ungefähr zeitgleich zu SCHMIDT-BIGGEMANNS Arbeit entstandene Studie Jean Pauls geschichtliche Stellung von WOLFGANG PROSS (1975) weist auf den spezifischen Unterschied zwischen dem philosophischen Diskurs und dessen poetischer Verwandlung hin. Der Roman Andreas Hartknopfvon KARL PHUJP MORITZ ist für PROSS das Modell, an dem RICHTER die Verzahnung von philosophischer Reflexion und poetischer Darstellung dieser Reflexion studierte. Die Reflexionsfigur, die PROSS in den Werken JEAN PAULS nachweisen will, ist die von Ausdruck und Begründung des commercium mentis et corporis, deren gegensätzliche Prioritäten von PROSS im terminologisch etwas eigenwilligen Begriffspaar »Animismus« versus »Mechanismus« gefasst werden (Kritisch zur Begriffsbildung bei PROSS äußert sich bereits GÖTZ MÜLLER in seiner Rezension in der ZfdPh, 96.2 [1977], S. 291-294. Zum commercium-Pmblcm bei Jean Paul vgl. auch Werner Gerabek [1988], dessen Ergebnisse jedoch nicht über die von PROSS hinausführen.) In RICHTERS Plädoyer für den >AnimismusIntellektuale AnschauungDon Sylvio< und >Peregrinus ProteusUnsichtbare LogeFallUnsichtbaren LogeKreuz- und Querzüge des Ritters A. bis Z.< Theodor Gottlieb von Hippel als Kritiker der geheimen Gesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Die Aufklärung und die Schwärmer, hrsg. von Norbert Hinske, Hamburg 1988, S.49-72 KOMMERELL, MAX, Jean Paul, Frankfurt am Main41966 KONDYLIS, 8, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981 KOSELLECK, REINHARD, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973 KoSENiNA, ALEXANDER, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf J. K. Wezel und Jean Paul ( = Epistemata Literaturwissenschaft Bd. 35), Würzburg 1989 KRAUSS, WERNER, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. Hg. von Hans Kortum und Christa Gohrisch, München und Wien 1979 KURZKE, HERMANN, Friedrich von Hardenbergs >Apologie der Schwärmereypolitische< Werk Frichdrich von Hardenbers im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983
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