Der deutsche Student am Ende des 19. Jahrhunderts: Mit einem Nachwort aus dem Anfang 20. Jahrhunderts [7., Aufl. Reprint 2019] 9783111512075, 9783111144344


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German Pages 255 [256] Year 1901

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Table of contents :
Vorwort zur 6. Auflage
Vorwort zur 7. Auflage
Inhaltsübersicht
Erste Vorlesung. Einleitung
Zweite Vorlesung. I. Das Lebendes deutschen Studenten: Die akademische Freiheit
Dritte Vorlesung. Die akademische Freiheit (Fortsetzung)
Vierte Vorlesung. Die akademische Ehre und das Trinken
Fünfte Vorlesung. Die akademische Ehre und die Prostitution
Sechste Vorlesung. Die akademische Ehre und das über seine Verhältnisse leben. Das Stipendieüwesen
Siebente Vorlesung. Die akademische Ehre: Mensur und Duell. Verruf
Achte Vorlesung. Die studentischen Verbindungen
Neunte Vorlesung. Der Student und die Politik. Das Einjährig- Freiwilligen-Jahr
Zehnte Vorlesung. Der Student und die soziale Frage
Eilfte Vorlesung. Soziale Bestätigung des Studenten
Zwölfte Vorlesung. Die geselligen Beziehungen des Studenten nach außen
Dreizehnte Vorlesung. II. Das akademische Studium: Die Motive des Studierens
Vierzehnte Vorlesung. Die Aufgabe der Universität: Wissenschaft, Beruf, allgemein Bildung
Fünfzehnte Vorlesung. Die studentische Weltanschauung: Verhältnis des Studenten zu Religion und Kirche, zu Kunst und Litteratur; studentischer Idealismus
Sechzehnte Vorlesung. Student und Professor. Kollegium Honorar. Vorlesungen und Seminarübungen. Ferien. Schriftliche Arbeiten
Siebzehnte Vorlesung. Promotion und Staatsprüfung. — Schluß
Achtzehnte Vorlesung. Nachwort zur Ueberleitung aus dem 19. ins 20. Jahrhundert
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Der deutsche Student am Ende des 19. Jahrhunderts: Mit einem Nachwort aus dem Anfang 20. Jahrhunderts [7., Aufl. Reprint 2019]
 9783111512075, 9783111144344

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Der deutsche Student am Lude des 19. Jahrhunderts.

Von

Dr. Theobald Ziegler, Professor der Philosophie in Ltraßburg.

Siebente durchgesehene Auslage.

MU einem Nachwort aas dem Anfang der 20. Jahrhundert«.

Leipzig.

G. I. Göschen'sche Verlagshandlung 1901.

Alle Rechte, insbesondere das Uebersetzungsrecht, Vorbehalten.

Vorwort zur j. Auflage. Ich habe ursprünglich nicht die Absicht gehabt,

diese im Winter 1894/95 an der hiesigen Hochschule vor einer zahlreichen und dankbaren Zuhörerschaft ge­

haltenen Vorlesungen schon jetzt drucken zu lassen.

Ich

wollte sie vor Ende des Jahrhunderts noch einmal

halten und dann erst, nach gründlicher Ueberarbeitung, dem Auditorium maximum der Oeffentlichkeit über­ geben.

Denn ein solcher erster Wurf bedeutet meist

nicht viel mehr als ein erster Entwurf.

Immerhin

besitzt er vielleicht auch die Vorzüge, wie sie ein erster Wurf vor jeder späteren Fassung ja stets voraus­

zuhaben pflegt. Aber nicht diese Erwägung ist es gewesen, die

mich nun doch zu alsbaldiger Veröffentlichung bestimmt

hat.

Ohne mein Zuthun und gegen meinen Wunsch

sind Berichte über diese Vorlesungen in die Tages­

presse gekommen, die es mir wünschenswert erscheinen lassen, allgemein bekannt zu geben, was ich wirklich

gesagt und alles was ich gesagt habe.

Vor allem aber — die Beratungen über die so­

genannte Umsturzvorlage im Plenum und in der Kom­ mission des Reichstags haben gezeigt,

daß es dabei

4

Vorwort.

von feiten der ultramontanen und der konservativen Partei in der That auf den Umsturz aller Geistes­ freiheit auch innerhalb unserer Wissenschaft und unserer Universitäten abgesehen ist. Und im Zusammenhang damit sind speziell auch hinsichtlich der Beteiligung der

Studentenschaft an der sozialen Bewegung in unseren eigenen Reihen zwiespältige Auffassungen zu Tage ge­ treten und scharfe Worte gewechselt worden. Zu allem dem habe ich in diesen Vorlesungen direkt und indirekt Stellung genommen. Da will es mir, ganz abgesehen davon, daß von einem Redner des Zentrums im Reichstag unter anderen deutschen Professoren auch ich persönlich angegriffen worden bin, scheinen, daß mich das ganz von selbst über die engen Grenzen auch des größten Hörsaales hinausweise und zu rascher Veröffentlichung dränge. Jedenfalls ent­ spricht das meinem Temperament und meiner Art, auch auf weitere Kreise zu wirken und mich am öffent­ lichen Leben unseres Volkes zu beteiligen. Das Hereinspielen solcher polemischer

Seiten­ beziehungen hat auch die Gestaltung der späteren Partien einigermaßen beeinflußt und ist teilweise schuld an kleinen Wiederholungen, die sich ja für den Druck leicht hätten beseitigen lassen. Allein ich wollte den Vorlesungen ihr ursprüngliches Kolorit durchaus er­ halten, und so habe ich ath mündlichen Vortrag nur das Allernotwendigste geändert. Dahin rechne ich neben

kleinen Zusätzen auch die Verteilung des Stoffs auf die einzelnen Vorlesungen.

Vorwort.

5

Und so wende ich mich denn nun mit diesen meinen

Gedanken über die Stellung des deutschen Studenten am Ende des neunzehnten Jahrhunderts an die ganze akademische Jugend Deutschlands und an alle diejenigen, und für den Geist

die sich für unsere Hochschulen

unserer Hochschulen interessieren.

Für

diesen Geist

kämpfe ich, so wie ich ihn verstehe, als für einen freien

nnd sittlichen, als für einen Geist wahrer Wissenschaft­ lichkeit und wahrer Bildung. freilich,

angesichts

der

Dabei werde ich mir

eigentümlichen

Verschiebung

unserer Parteiverhältnisse, von rechts und von links

her allerlei Kritik gefallen lassen müssen.

Vielleicht

paßt es zum ganzen Ton dieser Vorlesungen, wenn ich sage: daran bin ich gewöhnt; da ich keiner poli­

tischen Partei und keiner wissenschaftlichen Schule und keiner gelehrten Clique angehöre, werde ich von der

deutschen Parteikritik vielfach so unfreundlich behandelt, ich mag schreiben, was und wie ich will, daß mir diese Kritik nachgerade recht gleichgiltig geworden ist; ge­ lesen werden meine Bücher deshalb doch.

Ob man

dieses Wort für ein Zeichen von Stolz und Uebermut oder

für einen Stoßseufzer

aus

gepreßtem Herzen

nehmen will, das muß ich der Stimmung meiner Leser und — meiner Kritiker überlassen.

Straßburg i. E., an Ostern 1895.

Vorwort zur 7. Auflage. Bei dieser ersten Auflage im neuen Jahrhundert hatte ich zu überlegen, ob ich aus dem deutschen Studenten am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht einen solchen vom Anfang des zwanzigsten zu machen habe. Ich habe vorgezogen, leichte Aenderungen

im einzelnen abgerechnet, das Büchlein zu lassen, wie es ist und ihm seinen spezifischen fin de sisele-Charakter zu erhalten. Aber ich habe dann allerdings, als eine Art Nachwort, eine neue achtzehnte — natürlich nicht gehaltene — Vorlesung hinzugefügt, in der ich die Ueberleitung aus dem neunzehnten in das zwanzigste Jahrhundert für die künftigen Leser vollzogen und etliches

neu in die Erscheinung Getretene besprochen oder früher Besprochenes schärfer accentuiert und gewissermaßen nachträglich unterstrichen habe. Ob ich diese Vor­ lesungen später noch einmal wirklich halten und dann

die Verschmelzung zweier Zeiten definitiv vornehmen werde, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Straßburg i. E., an Ostern 1901.

Theobald Ziegler.

Inhaltsübersicht. Seite.

Erste Vorlesung

9—24

Einleitung. 25—35

Zweite Vorlesung

I. Das Lebendes deutschen Studenten: Die akademische Freiheit. Dritte Vorlesung

36-46

Die akademische Freiheit (Fortsetzung).

Vierte Vorlesung..................................................

47—60

Die akademische Ehre und das Trinken.

61 -70

Künste Vorlesung Die akademische Ehre und die Prostitution.

Sechste Vorlesung Die akademische Ehre und das über seine Ver­ hältnisse leben. Das Stipendieüwesen.

71—85

86—101

Siebente Vorlesung

Die akademische Ehre: Mensur und Duell. Verruf. Achte Vorlesung

102—116

Die studentischen Verbindungen. 117—130

Neunte Vorlesung

Der Student und die Politik.

Das Einjährig-

Freiwilligen-Jahr. Zehnte Vorlesung Der Student und die soziale Frage.

131—141

8

Inhaltsübersicht.

Eilste Borlesnng Soziale Bethätigung des Studenten.

142—153

Zwölfte Vorlesung ............................ 154—162 Die geselligen Beziehungen des Studenten nach außen. Dreizehnte Borlesnng 163-172 II. Das akademische Studium: Die Motive des Studierens. Vierzehnte Borlesnng ..................................173—183 Die Aufgabe der Universität: Wisienschaft, Be­ ruf, allgemeine Bildung.

Fünfzehnte Borlesnng 184—200 Die studentische Weltanschauung: Verhältnis des Studenten zu Religion und Kirche, zu Kunst und Litteratur; studentischer Idealismus.

Sechzehnte Borlesnng 201—225 Student und Professor. Kollegienhonorar. Vor­ lesungen und Seminarübungen. Ferien. Schrift­ liche Arbeiten. Sie-en-ehnte Vorlesung 226—240 Promotion und Staatsprüfung. — Schluß.

Achtzehnte Vorlesung 241—255 Nachwort zur Ueberleitung aus dem 19. ins 20. Jahrhundert.

Erste Vorlesung. Meine HerrenI

Sie sind gewöhnt, daß wir vom Katheder herab zu Ihnen sprechen; daß auch über Sie gesprochen wird, erscheint Ihnen dagegen — ich weiß nicht, ob als eine lustige oder als eine lästige Neuerung. Und doch ist es nichts Unerhörtes. Es sind jetzt gerade 200 Jahre, da hielt Christian Thomasius an der eben ge­ gründeten Universität Halle seine Vorlesung „vom elenden Zustand der Studenten", den er zu Ende de17. Jahrhunderts nicht eben in rosigem Lichte schildert.

Daß sich freilich die Studenten jener Tage diese Schandund Strafpredigt geduldig haben gefallen lassen, läßt fast vermuten, daß sie am Ende doch besser waren als ihr Ruf. Aber auch in der Zwischenzeit ist oft über die Studenten gelesen worden, nur unter einem anderen Titel: „Hodegetik" nannten es zu einer Zeit, wo die Menschen noch mehr Griechisch verstanden, die Vortragenden, und noch 1890 ist auf der Berliner Schnlkonferenz das Verlangen nach einer solchen laut geworden. Wer geschmackvoller war, der hielt seine

10

Erste Vorlesung.

Vorlesungen lieber über „akademisches Leben und Stu­ dium" ; und hier sind — wiederum in Halle — die auch im Druck erschienenen Vorlesungen von I. Ed. Erd­ mann (1858) besonders berühmt geworden. Dieser Titel bot sich auch mir für meine Vorlesung am ersten dar. Aber ich trug doch Bedenken, ihn zu wählen: zum akademischen Leben und Studieren gehören ja auch die Professoren, und ob es meinen Kollegen erwünscht und meinerseits taktvoll wäre, wenn ich auch von ihrem Leben und Arbeiten zu Ihnen sprechen wollte, das ist doch billig zu bezweifeln. So ist, wie Sie sehen, die Sache alt, nur der von mir gewählte Name klingt ungewohnt und neu. Und doch besagt er genau das, was ich beabsichtige und meine: nicht von der Universitas magistrorum et scholarium, nicht von den Doktoren, Magistern und Professoren soll — im allgemeinen; denn ganz freilich werde ich von ihnen doch nicht schweigen können — die Rede sein, sondern nur von Ihnen, den Studenten. Und dann natürlich von den deutschen Studenten. Wir sind auf einer deutschen Hochschule und sind hin und her Deutsche; uns interessieren darum hier nicht das Quartier latin zu Paris oder die Colleges in

Oxford und Cambridge oder die Harvard University in Boston. Und ebenso, natürlich, von den deutschen Studenten der Gegenwart. Auch eine Geschichte des Studenten, der mit Stolz auf eine 800jährige Ver­ gangenheit zurücksehen kann, hätte ihren Reiz und ließe sich pikant und hübsch genug gestalten. Allein wenn

Einleitung.

11

ich eS auch nicht verschwören will, daß ich nicht da und dort in diese Vergangenheit zurückgrcife, so liegt mir doch weit mehr als alle stolzen und beschämenden historischen Reminiscenzen die lebendige Gegenwart, liegen Sie, meine Herrn, mir am Herzen. Das Schiller'sche Wort Wir, wir leben l

Unser sind die Stunden

Und der Lebende hat Recht

gilt von der Jugend in erster Linie mit und gilt jeden­ falls ihr selbst als unwidersprechliche Wahrheit. Allein wenn ich dieses „fin de siede“ ausdrücklich in den Titel meiner Vorlesungen ausgenommen habe, so wollte ich damit allerdings noch etwas anderes und etwas mehr sagen; und davon muß ich heute sprechen, weil das über die Absicht und den Inhalt dieser Vorlesungen näheren Aufschluß giebt. Als ich dieselben angekündigt hatte, wurde ich wieder­ holt gefragt, waS ich eigentlich damit wolle? Solchen mir unbequemen Fragen in einem Augenblick, wo ich es wirklich selber noch nicht recht wußte, suchte ich wohl mit der Antwort auszuweichen: bei dieser Ge­ legenheit den Studenten allerlei unangenehme Wahr­ heiten sagen. Und wirklich wird das nicht ausbleiben, meine Herrn! Sie werden nicht immer mit mir zu­ frieden sein. Aber ich hätte auf der andern Seite doch ebensogut auch sagen können: den Studenten allerlei angenehme Dinge sagen. Denn auch daran wird ehoffentlich nicht fehlen. Und mit beidem will ich als-

bald beginnen.

12

Erste Vorlesung.

Die deutschen Hochschulen standen einst sehr hoch in der Schätzung des deutschen Volkes; die führenden Geister der Nation waren in ihren Reihen zu finden, ihnen kam geradezu die geistige Führerschaft zu. 1848 war das Frankfurter Parlament ein Professorenpar­ lament, und in Wien beherrschte gar die Studenten­ schaft eine Zeit lang den österreichischen Staat. Heute ist es mit Führerschaft und unbedingter Hochschätznng vorbei; es wäre arge Selbsttäuschung unsererseits, wenn wir das verkennen wollten. Die öffentliche Meinung hat sich zum Teil von uns ab, zum Teil geradezu gegen uns gewendet und die Urteile über uns sind nicht immer die freundlichsten. Diese Minderwertung und Mist­ stimmung trifft ja nun in erster Linie und mit voller Wucht uns Professoren; aber auch Sie, meine Herrn, bekommen davon Ihr Teil ab. Um nur zwei Symp­ tome zu nennen: man erträgt heutzutage nicht mehr mit der früher geübten Toleranz die Ausbrüche stu­ dentischen Uebermuts; und man erhebt laut und ost den Vorwurf, es fehle gerade unserer studentischen Jugend mehr und mehr an dem Schwung idealer Be­ geisterung, an jenem sittlichen Idealismus vor allem, der darin besteht, Opfer zu bringen und auf eigenes Glück und eigenen Genuß zu verzichten; ein Geist des Strebertums sei auch unter Ihnen eingerissen und Sie denken bedenklich realistisch und utilitaristisch. In einer Novelle las ich jüngst über den Helden derselben die Worte: „Kecken Mute- trieb er mit dem Strome, ohne auf die Abwege des Ideals zu geraten — ohne

13

Einleitung.

Jndividnalitätsgelüste und

ohne feite verschrobenen,

nutzlosen Ansichten, die zuweilen noch ein unmoderner deutscher Jüngling mit auf die Hochschule nimmt."

Auf solche Anklagen könnten Sie freilich alsbald

mit dem Gegenvorwurf antworten: das sei die Signa­

tur unserer Zeit überhaupt, und Sie können nicht anders sein und haben nicht die Verpflichtung anders zu sein

als die Sie umgebende Welt.

Doch damit würden

Sie jene Vorwürfe ohne weiteres zugeben und sich doch nicht entlasten; denn zu allen Zeiten ist eS als

das Vorrecht, also auch als die Pflicht der Jugend

angesehen worden, uns Aeltere an Schwung und idealer Auffassung der Dinge zu übertreffen, wenn wir unideal

und ideallos sind, Ihrerseits die Fahne des Idealismus

hochzuhalten.

So ist die Frage, wie es mit der Be­

rechtigung jener Klagen und Anklagen stehe, eine von denen,

die

man

nicht

schlankweg

mit

einem

ein­

fachen Ja oder Nein beantworten kann, sondern nur dadurch, daß man einmal die ganze Stellung des Stu­

denten inmitten seiner Zeit und seines Milieus sich

zum Bewußtsein bringt und Rechte und Pflichten der akademisch enJugend nach außen wie nach innen gegen einander abwägt. Vorwürfe hin und her helfen nichts und haben

keinen Wert; begreifen und verstehen ist auch hier viel notwendiger und wichtiger — in dem doppelten Sinn,

wornach alles verstehen alles verzeihen heißt und wornach man nur da die helfende und bessernde Hand an­

legen kann, wo offene Kritik geübt wird und die Schäden

und ihre Ursachen klar erkannt sind.

14

Erste Vorlesung.

Zuvor aber wäre vielleicht eine Vorfrage am Platz, die zunächst wohl überraschend klingt, in einer alle­

nivellierenden Zeit wie der unsrigen aber doch auf­ geworfen werden muß: Hat denn der Student heutzutage überhaupt noch ein Eigentümliches? Wir werden gleich das nächste Mal, wo wir von der akademischen

Freiheit zu reden haben, sehen, wie das, was man ursprünglich so nannte und darunter verstand, wirklich dem Gleichheitsgedanken des 19. Jahrhnnderts zum Opfer gefallen ist; also —! Führt denn der Student noch ein eigenartiges, ein anderes freiere- Leben als die übrigen alle? Wenn aber das nicht der Fall ist, dann kann man auch nicht von ihm speziell sprechen, dann ist der Gegenstand dieser Vorlesungen hinfällig und sind dieselben von vornherein unberechtigt. Allein eben daß ich sie halte, beweist, daß ich an ein solcheBesonderes als ein noch immer Vorhandenes glaube und es, in meinem Sinne freilich, als ein zurecht be­ stehendes rechtfertigen will. Ehe ich aber im einzeln»» zeigen kann, daß • diese- Eigenartige noch immer da und im Wesen des Studenten selbst begründet ist, möchte ich heute schon vorwegnehmend darauf Hin­ weisen, daß in dieser richtig verstandenen Eigenart nicht zum wenigsten auch der Segen des Studentseins beschlossen liegt. Man könnte sagen: jener Gleich­ heitsgedanke, den unsere Zeit, mit Recht und Unrrcht, zu verwirklichen sucht, ist innerhalb der deutschen Stu­ dentenschaft lange vorher schon zur Wahrheit geworden. Herausgehoben aus dem Kreise der Lebensbedingungen

Einleitung.

15

aller anderen Menschen lebt er mit seinesgleichen ein

Leben völliger Gleichheit und Gleichberechtigung, das Leben allgemeiner geistiger Wehrpflicht, in dem er sich nur vor dem Kodex des allgemeingiltigen Komments und vor der öffentlichen Meinung der Komilitonen zu beugen hat. Aber dieses Leben absoluter Gleichheit durchlebt er als Durchgangsstadium, um es wieder zu verlassen als ein anderer Mensch, als ein Gebildeter, als ein Aristokrat und Ritter vom Geist. So ist die Universität und das Leben auf ihr durch und durch demokratisch, weil hier alle Schranken und Vorurteile von Rang und Stand fallen; und sie ist ein durch und durch aristokratisches Institut, weil ihr Ziel die Heranbildung einer Aristokratie, der wahren Aristo­ kratie echter Menschenbildung ist. Freilich, meine Herrn, das ist „nur eine Idee" und ist nur in der Idee so: in Wahrheit sind diese zwei Gedanken auf unsern Hochschulen somit bei weitem nicht durchgeführt. Das Leben auf der Universität ist nicht so demokratisch, wie es sein sollte: wir werden auch hier Kastengeist und Standesunterschiede, das Hereinragen von bürgerlichen und gesellschaftlichen, von religiösen und politischen Differenzen kennen lernen und dann wohl als ein Unberechtigtes und Gefährliches aufzuzeigen haben. Und was aus dieser Schule her­ vorgeht, ist nicht immer so aristokratischer und vor­ nehmer Art: wie bei aller Erziehung ist es auch hier, nicht bei allen gelingt sie, nicht alle, die studieren, werden dadurch zu Rittern vom Geist. Aber spurlos

16

Erste Vorlesung.

geht diese unvergleichliche Schulung darum doch schwer­ lich an einem vorüber, einen Hauch jenes freien Geistes hat doch jeder einmal verspürt, und der Segen für unser Volksleben bleibt deshalb bei keinem ganz auS. Und so bleibt die Idee doch zurecht bestehen, die Idee, daß dieses eigenartige Leben des deutschen Studenten eine demokratische Schule ist, deren Ziel die Aufnahme in die geistige Aristokratie der Bildung, die Erziehung zu Rittern vom Geiste sein soll. Von diesem Gedanken aus wird eS uns leicht werden, anch die Wirklichkeit, so weit sie immer dahinter zurückbleiben mag, zu ver­ stehen und zu beurteilen. In der Anerkennung dieser Idee liegt aber zugleich die beste Rechtfertigung für die Erhaltung studentischer Eigenart, die freilich auch aus einem anderen Grunde in diesem Augenblick ge­ fährdet, innerlich gefährdet erscheint. Wir leben in einer Uebergangszeit. Vielleicht niemals ist es am Ende einer Periode einer Generation so klar gewesen wie uns heute, daß das neue Jahrhundert einen ganz anderen Charakter an sich tragen werde, an sich tragen müsse, als das eben zu Ende gehende. Und so leben wir nicht nur thatsächlich in einem UebergangSzeitalter, sondern — und da­ ist der tiefere Sinn von „fin de siöcle* — wir fühlen uns auch als die Menschen dieses UebergangS. Ueber­ gangszeit aber ist böse Zeit; vor allem weil in ihr unsere Gedanken und Gefühle zwiespältig geworden sind. Zwiespältig gegenüber von Staat und Politik: auf der einen Seite eine Anspannung des nationalen

Einleitung.

17

Gedankens, der sich wie Chauvinismus ausnimmt und cs vielfach auch ist, und auf der andern Seite ein Wiederaufleben humanitärer und sozialer Strebungen, die vielen in jeder Form als anti- und international verdächtig sind; ein Heroenkultus hier, der da, moder Heros fehlt, zum Byzantinismus wird, und eine Demo­ kratisierung der Gesellschaft dort, die auch die alten unhistorischeu Gedanken von absoluter menschlicher Gleichheit Wiederaufleben läßt. Zwiespältig sind wir weiter gegen Kirche und Religion: ein neuerwachendes Interesse für religiöse Dinge macht sich spürbar, und daneben immer noch das alte sich Abkehren von allem Kirchentum und Christentum. Zwiespältig in Sitte und Sittlichkeit: der soziale Geist, der von allen die gleiche Hingabe an das Wohl des Ganzen verlangt, erobert mehr und mehr Herzen und Köpfe, und daneben findet die Nietzsche'sche Jndividualitätslehre, die das schranken­ lose Recht des sich Auslebens für die geniale Per­ sönlichkeit in Anspruch nimmt und zu dem Zweck alle sittlichen Werte umwerten möchte, begeisterte Anhänger. Zwiespältig sind wir auf dem Gebiete der Kunst und Poesie: das Klassische wird noch immer als Bildungs­

mittel benützt und verehrt oder doch historisch respek­ tiert, und daneben die Abwendung vom klassischen Ideal als einem innerlich Unwahren und der realistische

Werdedrang einer die Wahrheit auf Kosten der Schön­ heit pflegenden Kunstweise. Und zwiespältig endlich gegen die Grundlagen unserer Gesellschaft und der sie durchdringenden Kultur überhaupt: ein Festhalten und Sieglet, Ter deutsche Student.

2

18

Erste Borlesung.

sich Anklammern an das Bestehende, als wäre eS wirklich

durchweg ein Vernünftiges und bleibend Wertvolles,

und auf der andern Seite ein Anstürmen gegen dieses Bestehende, als wäre es bereits von allen guten Geistern

der Vernunft und der Sittlichkeit verlassen und könnte nicht eilig genug bis zum letzten Baustein abgetragen

und in Trümmer geschlagen werden.

So gärt und

brodelt es rings um uns her und reißt uns alle in seinen Strudel mit hinein; nnd schwerer als je ist es

darum auch für den Einzelnen, in diesem Chaos, wo

alles fließt, einen

festen Fuß und Halt zu fassen,

schwer auch für den guten Menschen, in seinem dunkeln

Drange sich des rechten Weges wohl bewußt zu bleiben; schwer für den Werdenden zu wissen, was er werden

soll und zu werden, was er werden will.

Selten aber

war es vor allem in der Welt schon je so schwer wie

heute, ein Charakter zu werden und ein charaktervoller Mensch zu sein und zu bleiben. Das alles trifft auch den deutschen Studenten,

trifft auch Sie, meine Herrn, ja Sie in erster Linie und mit voller Wucht. Wir Aelteren wurzeln noch mehr

oder weniger fest im neunzehnten Jahrhundert und in

seinen Anschauungen, und wohl uns, wenn wir das Neue, das im Anzug ist, wenigstens noch verstehen.

Sie dagegen wachsen aus diesem neunzehnten Jahr­

hundert heraus und direkt in ein noch nicht daseiendes Neues hinein, dessen Träger Sie sein werden: wir sehen den Uebergang, Sie sind er selbst, sind die Ueber-

gangsmenschen fin de siede.

Da wäre es doch wunder-

Einleitung.

19

bar, wenn nicht auch an Sie in allerlei Form jene Zwiespältigkeit heranträte, wenn nicht auch die Stellung

des Studenten in diesen allgemeinen Wirbel hinein­ gezogen und die allgemeine Zerrissenheit und Unklarheit

auch an ihm offenbar würde. Auch seine Stellung ist ins Schwanken gekommen, jene Angriffe auf Universi­ täten und Studenten sind davon nur ein Symptom. Es war von Idealen die Rede: welches sind denn die Ideale des heutigen Studenten? So klar ist darauf die Antwort nicht mehr, wie sie bei uns in den Jahren von 1860—70 war. Sie halten ja eben deswegen Studentcnkongresse und beraten über die Teilnahme der Studentenschaft an den sozialen Aufgaben der Gegenwart, und von England herüber kommt die so­ genannte „Universitätsausdehnungsbewegung" und weist auf Pflichten hin, wo der Student bisher nur Rechte zu haben glaubte und pflichtenlos wie ein Schmetter­ ling durchs Leben von einer Blüte desselben genießend

zur andern flatterte. In solchenAugenblicken des allgemeinen Schwankens gilt es zu fragen: wo stehen wir? sich Rechenschaft zu geben über die Situation und den Scheidungsprozeß einzuleiten zwischen dem, was an derselben bleibend und der Erhaltung wert und dem, was daran vergäng­ lich und zum Untergang reif ist. Und darum handelt es sich auch für uns — um eine Rechtfertigung dessen, was ist, und um eine Kritik dessen, was nicht sein sollte und deswegen auch nicht bleiben kann und

nicht bleiben wird — denn nur das Vernünftige ist

20

Erste Vorlesung

dauernd wirklich —, um eine Ahnung dessen, was kommt und kommen soll. Wir haben kürzlich eine Kanzler­ krisis durchlebt: wenn es nur das wäre! Die Krisis ist eine viel umfassendere, allgemeinere, es ist die Krisis einer Welt. „Krisis" heißt Scheidung: der eine geht, der andere kommt; so wird auch in der Welt gar vieles untergehen und ein Neues kommen, und daran partizipieren mit Notwendigkeit auch Sie: wenn alles sich wandelt, wenn die Gesellschaft und ihre For­ men sich ändern, müssen auch Sie Studenten, die Sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, sich wandeln und ändern, nur daß es, weil die Universitäten und die studierende Jugend im allgemeinen konservativ zu sein und zäh am Alten festznhalten Pflegen, damit noch lang­ samer gehen wird als mit allem übrigen, und daß darum die Gefahr besteht, daß man an den äußeren Formen zwar lange noch festhält, das Innere aber, den echt studentischen und der Erhaltung und Pflege werten Geist darüber verliert. Bon alle dem sind Anzeichen da: suchen wir sie auf und suchen wir sie zu

deuten! Aber — der Einwand liegt nahe — kann ich das? oder allgemeiner gesprochen: wie komme gerade i ch dazu, eine solche Vorlesung zu halten? Erdmann hat zu Beginn seiner Vorlesungen über das akademische Leben und Studium sehr ausführlich von sich selbst ge­ sprochen und seinen Zuhörern zu beweisen gesucht, daß gerade er alle diejenigen Qualitäten von außen und von innen besitze, um dieser Aufgabe vor anderen ge-

Einleitung.

21

recht werden zu können. So vermessen bin ich nicht. Ich möchte vielmehr recht im Gegensatz zu ihm fragen: nicht weil ich eS allein kann, sondern weil es meine Kollegen alle ebensogut könnten, warum sollte ich eS allein nicht können? Denn der Meinung bin ich aller­ dings, daß nur ein deutscher Professor über den deutschen Studenten reden, vernünftig reden kann. Nicht der Student über sich selber; wer mitten inne steht, steht eben damit nicht über der Sache, hat keine Ueberschau, hat keinen freien und weiten Blick; er sieht nur Teile, nicht das Ganze. Vernünftig über ihn reden kann aber auch nicht der „Philister"; der steht zu weil draußen, steht der Sache zu fern, steht ihr zu fremd gegenüber; und überdies wird er, dem seine eigene Studentenzeit im goldenen Licht der Jugend, seiner Jugend vor der Seele steht, als laudator temporis acti für die Gegenwart kein Herz und kein Verständ­ nis haben und so nur das Vergangene loben, das Gegenwärtige aber tadeln und schelten. Und auch Sie würden sich um das Urteil eines solchen Außenstehen­ den wenig kümmern: die Meinung des Philisters ist Ihnen gleichgültig oder gar verdächtig; Sie fühlen, er versteht Sie nicht und hat kein Herz für Sie, also weg mit ihm! Da stehen nun wir Professoren just in der richtigen Mitte: wohl gelten wir Ihnen gelegentlich auch als Philister; aber den Philistern draußen gegenüber fühlen Sie sich mit uns eins, der alte Gedanke von der Universitas magistrorum et scholarium gilt und lebt noch fort, da gehören wir alle zusammen. Und

22

Erste Vorlesung

das wissen Sie doch, baß wir, ob auch angegraut und im Studieren alt geworden, mit Ihnen und durch Sie jung bleiben und daher unser Herz offen erhalten für

das, was Sie bewegt und interessiert; daß wir Sie verstehen, daran zweifeln Sie nicht. Und ein gutes Stück unseres Lebens, unsere und Ihre Arbeit ist ja ohnedies gemeinsam; und beim Arbeiten, meine Herrn, komnlen sich die Meilschen schließlich doch immer am nächsten: das ist die große Lehre unserer durch und durch sozialen Gegenwart, diese Wahrheit ist, z. B. in der synergastischen Theorie vom Ursprung der Sprache, sogar schon in die Wissenschaft eingedrungen. Also wirklich, vom deutschen Studenten fin de siede müßte jeder deutsche Professor fin de siede reden können, und darum würde ich mich gefreut haben, wenn mir ein juristischer oder medizinischer Kollege darin zuvorgekommen wäre. Aber daß das nicht ge­ schehen ist, istfreilich doch kein Zufall. Unsere Universitäten zerfallen in Fakultäten, und darum hält sich der einzelne Dozent naturgemäß vor allem an seine Leute und hat genug zu thun mit seinem Fach. Auch in die philo­ sophische Fakultät ist diese Arbeitsteilung eingedrungen und hier in gewissem Sinn vielleicht sogar am schärfsten ausgeprägt. Die Gefahr für die Universität, sich aufzulösen in eine Vielheit von Fachschulen wie in Frankreich, ist da. Nur Ein Fach giebt es, das sozusagen ex officio Fühlung hat mit allen übrigen — die Philosophie, deren Auf­ gabe es eben ist, das Bewußtsein der Universitas literarum aufrecht zu halten. Das ist kein Selbst-

Einleitung.

23

rühm, sondern das liegt einfach im Wesen meiner Wissenschaft selbst. Und so gehört es denn auch in ihr Aufgabengebiet, zunächst das akademische Studium als ganzes ins Auge zu fassen und das Bewußtsein der Beziehungen, die zwischen den einzelnen Fächern herüber- und hinüberschießen, lebendig zu erhalten. Und daher haben es denn auch Philosophen wie Fichte und Schelling nicht verschmäht, jener über die Be­ stimmung des Gelehrten (1794) und über das Wesen des Gelehrten (1805), dieser über die Methode des akademischen Studiums (1802) wiederholtVorlesungenzu halten, und haben damit auch für die Zukunft das Anrecht des Vertreters der Philosophie auf diese Vorlesung sanktioniert. Aber nicht bloß über den Gelehrten und das akademische Studium, auch über das akademische Leben — wer sollte mit besserem Recht davon reden

dürfen, als wer als Ethiker die menschlichen Be­ ziehungen, die Berufs- und Standesfragen überhaupt

ins Auge zu fassen und als Pädagoge im weitesten Sinn des Worts die Aufgaben der Erziehung und des Unterrichts zu erwägen immer neu Anlaß und Auf­ forderung hat? Das studentische Leben ist entweder sittlich oder unsittlich; und die Sittlichkeit der Ge­ bildeten unseres Volkes hängt jedenfalls auch davon ab, wie sie es in ihrer Jugend treiben; auch der Kanzler Leist ist ein deutscher Student gewesen. Das studentische Lernen ist auf die Aneignung der wissenschaftlichen Methode und der für den Beruf notwen­ digen Kenntnisse gerichtet; die Leistungen unserer Wissen-

24

Erste Borlesung.

schäft und die Verwaltung von Staat und Kirche, ein

gutes Stück des äußeren und inneren Lebens unseres Volkes hängt somit gleichfalls davon ab, ob hier bei

uns ordentlich gelernt und gelehrt wird. Also nicht wie Erdmann aus besonderen persön­ lichen Lebenserfahrungen heraus, sondern ganz all­ gemein aus meinem Beruf als deutscher Professor über­ haupt und als Professor der Philosophie und Pädagogik speziell nehme ich mir das Recht und, weil es just kein anderer thut, gewissermaßen auch die Pflicht, von Ihnen mit Ihnen zu reden. Das Einzige, was ich persönlich von mir sagen möchte, ist: daß ich modern genug zu sein und zu fühlen glaube, um fin de siecleStimmungen und -Strömungen zu verstehen, und noch jung genug, um nicht mit der tragischen Verbitterung des Alters zu sehen, wie ein Altes alt und ein Neues neu wird: ich glaube mit Ihnen und für Sie in un­

verwüstlichem Optimismus an die Zukunft, si fractus illabatur orbis!

Zweite Vorlesung. Und nun, meine Herrn, wovon wollen wir reden? Bon allem natürlich, was den Studenten angeht und bewegt, vom Höchsten wie vom Gemeinsten, vom ganz Acußerlichen so gut wie vom ganz Innerlichen, von seinen Idealen wie von seinem Wechsel, von des Studenten Politik und Religion, von seiner Ehre und davon, wie er seine Ehre wahrt und verliert, von seinen Vorlesungen, wie er sie besucht und benützt und, viel heikler noch, wie er sie schwänzt, von seinem Kommersieren und Pauken, von seinen Verbindungen und von seinen Bestrebungen, sich am Leben der Zeit zu beteiligen, von seiner Sittlichkeit und deren Gefähr­ dung, kurz, auch hier soll gelten: humani nihil a me alienum puto. Nicht also, daß es uns an Stoff mangeln könnte, ist zu befürchten, sondern ob und wie wir den überreichen Stoff zu bewältigen und zu glie­ dern im stände sein werden. Daß er in zwei Haupt­ teile zerfällt, vom akademischen Studium und vom aka­ demischen Leben, liegt auf der Hand: und wenn wir an das alte Rätsel des frostigen akademischen Schul­ witzes denken: quid ost studio-sus sine Studio? so

Zweite Vorlesung.

26

scheint

cs fast selbstverständlich,

Studium beginnen.

daß wir mit dem

Gleichwohl möchte ich die um*

gekehrte Ordnung befolgen dürfen, nicht bloß aus dem

opportunistischen Grunde, weil ich glaube, daß Sie

das zunächst mehr anzieht und interessiert, auch nicht deshalb, weil ja doch Student bleibt, auch wer nicht

studiert, sondern ganz logisch darum, weil das Leben

das Ganze, das Studium doch nur ein Teil, wenn auch der wichtigste und beste Teil des akademischen

Lebens ist. Uebrigcns wird beides nicht so schroff zu

trennen, vielmehr schon beim Leben vielfach auch vom Stu­ dieren zu reden sein; nur die speziellen Aufgaben und Fra­

gen dieses letzteren bleiben somit einem zweiten besonderen Teil Vorbehalten. So fassen wir gewissermaßen zuerst

das Ganze, dann speziell noch einen Teil dieses Ganzen ins Auge.

I. DaS Leben des deutschen Studenten. Dabei rede ich zuerst von demjenigen Attribut desselben, das recht eigentlich charakteristisch ist für

den Studenten, von dem Attribut der akademischen

Freiheit. Frei ist der Bursch! so klingt und singt es noch «strner.

Haben Sie

auch das Recht so zu singen?

Die akademische Freiheit ist von Haus aus ein rechtlicher Begriff:

besteht sie in diesem

Sinne

noch?

Hier ist mit einem Wort auf Geschichtliches einzu­ gehen; denn wenn wir heute von der Freiheit des

Tie akademische Freiheit.

27

Studenten reden, so meinen wir kein Juristisches mehr, sondern ein allgemein Menschliches, und darum müssen wir hören, wie dieser Bedeutungswandel des Begriffs d. h. des alten Wortes für eine neue Sache sich vollzogen hat.') Bis zur Reformation waren die Universitäten in Deutschland nach dem Vorbild von Paris klerikale Ge­ nossenschaften: in den Kollegien und Bursen lebten Magister und Scholaren in klösterlicher Gemeinsamkeit, abgeschlossen von der Bürgerschaft der Stadt, ähnlich etwa wie heute die Garnison einer Stadt ihr Leben für sich führt. Damit war zugleich die in mittelalter­ licher Anschauung überhaupt begründete Notwendigkeit gegeben, die Korporation als Ganzes und ihre Mit­ glieder samt und sonders von den weltlichen Gerichten zu eximieren, und auch die fürstlichen Stifter trugen kein Bedenken, ihnen die Jurisdiktion über ihre An­ gehörigen zu freier eigener Ausübung zu überlassen. So wurden die Universitäten autonom, sie waren ein

Staat im Staate, und darin bestand — die akademische Freiheit. In der Reformationszeit gaben die Uni­ versitäten ihren klerikalen Charakter auf, sie wurden säkularisiert und verstaatlicht und kamen wie die Kirche auch ihrerseits in Abhängkeit von den Landesherru. Damit verloren sie ihre Autonomie; und selbst wenn sie die volle Gerichtsbarkeit, auch über Leben und Tod *) Ausnahmsweise berufe ich mich hier bei diesem histori­ schen Exkurs ans eine Quelle: auf Friedrich Stein, die aka­

demische Gerichtsbarkeit in Deutschland.

1891.

28

Zweite Vorlesung.

behielten, war ihnen diese hinfort nur „verliehen", der Landesherr blieb dabei oberste Instanz. Das war aber auch eine innere Notwendigkeit: im Mittelalter hatte die Universität ihren Rückhalt an der Kirche und den kirchlichen Machtmitteln über den Einzelnen; jetzt versagten diese, und nun mußten sich die Universitäten selbst hilfesuchend gegen die immer zügelloser werdende Studentenschaft an die Landesfürsten und deren welt­ liche Machtmittel halten. Damit trat aber eine wei­ tere Aenderung ein: im Mittelalter unterstanden neben den Studenten auch die Magistri der akademischen Gerichtsbarkeit, jetzt übten die Professoren diese Ge­ richtsbarkeit gegen die Studenten aus, damit wurde dieselbe zur Disziplinargewalt der Lehrer gegen die ihr anvcrtraute akademische Jugend. Und nun kommt die Zeit der Konkurrenz zwischen der staatlich gehand­ habten Justiz und dieser akademischen Disziplin: die Professoren suchten möglichst alle Civil- und Kriminal­ klagen disziplinarisch zu behandeln und an sich zu ziehen und sahen dabei nur darauf, den Studenten vom verderblichen Schuldenmachen oder von allzu zügelloser Brutalität abzuhalten; dem Gläubiger zu seinem Geld oder dem geprügelten Philister zu seinem Recht zu verhelfen lag ihnen dagegen wenig an. Und so bestand in diesem Stadium das Wesen der akade­ mischen Freiheit in einer Milde, die dem excedierenden Studenten zugute kam, die Person und das Eigentum des Philisters dagegen ungeschützt ließ; der Student hatte das Privilegium eines besonderen Gerichtes, das

Die akademische Freiheit.

29

als staatliches angesehen war, aber von seinen Lehrern gehandhabt, milder und — schlechter war als jedes andere. Da war es dann sreilich ein Fortschritt, wenn in den Statuten von Kiel verordnet wurde, daß, wer einen Nachtwächter töte, so behandelt werden solle, als ob er einen gewöhnlichen Mord begangen hätte.

Angesichts solcher Laxheit fing man aber nun an, zu­ nächst einen Teil der Gerichtsbarkeit der Universität zu entziehen, namentlich natürlich die Kriminalsachen, und mit dem Rest einen Juristen, den Syndikus oder Amtmann oder Universitätsrichter zu betrauen. Seit 1819 — dem Jahr der Knebelung der Universitäten in­ folge der Ermordung Kotzebues durch Sand — war das allgemein, ein staatlicher Richter für die Studenten, der neben der Universität steht. Im Jahre 1848 aber be­ gann man auch daran zu rütteln, selbst die Studenten­ schaft wollte von einer solchen Sonderstellung nichts mehr wissen, eher noch erwärmten sich die Professoren für dieselbe nnd manche prophezeiten von ihrer Aufhebung geradezu denUntcrgang aller akademischen Freiheit. Heute ist dieselbe beseitigt, die Studenten unterstehen in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen dem or­ dentlichen Gericht, und auch die Polizei ist in ihren Befug­ nissen dem Studenten gegenüber nicht mehr beschränkt; nur das fordert man von der Polizei einer Universitäts­ stadt, daß sie Humor habe und sich taktvoll benehme. Wenn es in Preußen den Studenten gestattet ist, bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Wochen diese im Karzer der Universität abzusitzen, so ist auch das noch ein

30

Zweite Vorlesung.

Privileg, das sich nicht allzulange mehr wird halten lassen; wenn man den Studenten nicht mit dem „Ge­ sindel" zusammensperren will, so bestünde dieser Wunsch bei allen Gebildeten; was aber diesen nicht recht ist, ist auch den Studenten nicht billig. So ist die alte akademische Freiheit dahin. Da aber dem Rektor und Senat die akademische Disziplinar­ gewalt verblieben ist, so steht der Student heute viel­ mehr unter einer doppelten Gerichtsbarkeit, wie der Be­ amte, unter der staatlichen und der disziplinarischen, die beide so unabhängig von einander sind, daß derselbe Mensch für dieselbe That dort freigesprochen, hier ver­ urteilt werden kann: nur in einem Fall, bei Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte durch das Gericht, muß die Universität die Relegation folgen lasse». So ist es mit dem Privilegium der akademischen Freiheit definitiv zu Ende, geblieben ist nur — die akademische Disziplin. Und nicht einmal das alte Machtmittel, das die Studenten gegen etwaige schwere Unbill früher oft mit Glück angewendet haben, die Auswanderung aus der Universitätsstadt, würde heute mehr sonderlich ver­ fangen: Professoren und Bürger sind zu wenig mehr von ihnen abhängig, um sich dadurch ins Bockshorn jagen

oder etwas abtrotzen zu lassen. Unrecht haben nun freilich alle die bekommen, welche von der Aufhebung der akademischen Gerichts­ barkeit die Vernichtung alles akademischen Lebens fürch­ teten. Aber wie steht es mit der akademischen Frei­ heit? giebt es nach jenem Schlage heute noch eine solche?

Die akademische Freiheit.

31

und worin besteht sie nach diesem Umschwung der Dinge? Würde ich von der Universitas magistrorum et scholarium zu reden haben, so müßte ich natürlich sofort die akademische Lehrfreiheit ins Feld führen, und ganz darf ich allerdings auch hier schon an ihr nicht vor­ übergehen. Denn von ihr geht der Geist der Freiheit aus, der als character indelebilia unseren deutschen Hochschulen aufgedrückt ist und sie durchdringt und be­ lebt: in ihrem Lichte freuen wir uns, in ihrer Luft leben und weben wir alle. Und deswegen, meine Herrn, kämpfen wir auch darum wie um ein Palladium und wollen sie von Regiernngen und Kirchen, von Par­ teien und Parlanlenten angesehen und respektiert wissen als unser noli me tangere, und erblicken deshalb unsern Feind in jedem, der aus politischen oder kirchlichen Gründen daran rüttelt und rührt Das ist aber nicht etwa ein unberechtigter Hochmut oder eine feige Be­ quemlichkeit von uns Professoren, sondern es ist eine absolute Notwendigkeit; denn die Wissenschaft kann nur gedeihen in der vollen Freiheit, in der absoluten Schrankenlosigkeit des Gedankens; ohne die Möglich­ keit zu irren können wir auch die Wahrheit nicht finden, von der noch immer das Lessing'sche Wort gilt, daß sie nie fertig ist und als fertige nur für einen Gott gemacht wäre. Ohne Wissenschaft aber können wir nicht existieren, also ist ihre Freiheit eine oder viel­ mehr geradezu die Existenzfrage für uns. Und daher, meine Herrn, was Sie dereinst auch im Leben für eine Stellung einuehmen, welcher Partei Sie angehören

32

Zweite Vorlesung.

werden, begehen Sie niemals den Verrat an Ihrer alma mater, daß Sie uns dieses Kleinod rauben wollen; es wäre ein Verrat an der Sache der Wissenschaft und der Wahrheit selber. Daß freilich die Dinge nicht so einfach liegen, das zeigt die theologische Fakultät, in der es etwas wie eine Schranke doch giebt; wer als protestantischer Theologe plötzlich katholisch, als katholischer Plötzlich protestantisch lehren wollte, würde diese Schranke über­ schritten haben. Eben daher reißt rins aber auch die theo­ logische Fakultät am häufigsten in Lchrkonflikte hinein; und nun partizipieren auch Philosophen und Historiker aus naheliegenden Gründen an diesem onus honestum, und neuerdings möchte man auch noch die National­ ökonomen in diese Schwierigkeit mit hineinziehen. Eine Schranke freilich hat außerdem noch jeder an seinem pädagogischen Takt. Zwar vergesse man nicht, daß doch nur der Teufel zum Professor Faust gesagt hat: „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen"; ich betrachte es stets als mein Recht nicht

nur, sondern als meine Pflicht, Ihnen dieses Beste, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß. Aber es so zu formulieren und zu gestalten, daß es pädagogisch fördert, das scheint mir allerdings ebenso notwendig. Dann wird aber auch gelten: man kann alles sagen, es kommt

nur darauf an, wie man es sagt. Aber der Student hat ja nicht zu lehren, sondern zu lernen; für ihn handelt es sich also nicht um die Lehr-, sondern um die Lcrnfreiheit. Man hat freilich schon

33

Die akademische Freiheit.

spottend gesagt: das sei im Grunde nichts anderes als die Freiheit nichts zu lernen, als die Freiheit faul zu sein. Das ist es allerdings auch, und darum kann ich schon hieran das Wesen dieser akademischen Frei­ heit klar machen. Zwölf Jahre lang geht der Knabe zur Schule, hier ist ihm alles vorgeschrieben: wie lange und wann er lernt — mit dem Stundenschlag beginnt und mit dem Stundenschlag hört er auf; was er lernt — er muß alle Stunden besuchen, in allen aufmerken,

für alle Fächer arbeiten; und in welchem Umfang er sich mit jedem einzelnen Fach befassen soll — das Maß der Aufgaben wird ihm von Tag zu Tag bestimmt. Und gerade im letzten Jahr, wo der Knabe zum Jüng­ ling wird und anfangen könnte und möchte, selbständiger und nach persönlichen Interessen und Liebhabereien zu arbeiten und in der Arbeit frei zu wählen, kommt das

Abiturientenexamcn und übt den mächtigsten Zwang aus, der leider alle Freiheit erdrückt und ertötet. Wie anders auf der Universität! Man könnte sagen, in dem Maß, als der Student die alte juristische Freiheit ver­ loren habe, habe er die Lernfreiheit als eine schranken­ lose gewonnen. Wo wie hier bei uns die Vorschrift bestimmter Vorlesungen gefallen ist, da besteht der ein­ zige Studienzwang in der Auflage, daß der Student im Semester eine Privatvorlesung „belege" — nicht etwa: besuche, ein Symbolisches sozusagen nur noch, das dem Begriff des Studenten Ausdruck geben soll. Das Wählen dieser Vorlesung, das Kommen oder nicht Kommen zu der gewählten Stunde, das Arbeiten daZiegler, Der deutsche Student.

3

34

Zweite Vorlesung.

rauf steht jedem Einzelnen völlig frei, und somit aller­ dings auch das Faullenzen. Nun wird man freilich

sagen und erwarten können, und glücklicherweise ist das die Regel: wer zwölf Jahre lang an das Arbeiten

gewöhnt worden ist, der wird nicht mehr anders können und mögen. Aber auch die Fälle sind doch nicht ganz vereinzelt und selten, wo es umgekehrt heißt: nun habe ich zwölf Jahre lang arbeiten müssen, jetzt will ich mich auch einmal frei fühlen und gar nichts thun. Sie wären wohl noch seltener, diese Fülle trotziger Faul­ heit, wenn nicht gerade das letzte Schuljahr ein so zwangsmüßig verlaufendes, gehetztes wäre: das Abitu­ rientenexamen wirkt noch in die ersten Semester des akademischen Studiums nachteilig herein; für dieses ist es nur ein Uebel, für die Schule freilich ein not­ wendiges Uebel. Aber der Zweck dieser Lernfreiheit? Er ist natürlich nicht der, daß Sie es auch einmal mit dem Fanllenzen probieren sollen, sondern die Meinung ist die, daß, nachdem der Knabe zwölf Jahre lang gelernt hat ar­ beiten zu müssen, der Jüngling nun lernen soll ar­ beiten zu wollen. Auch der Beamte muß wieder arbeiten, aber eben er soll nicht arbeiten wie der Sträf­ ling und wie der Schuljunge, sondern aus innerem Trieb und aus eigenem Pflichtgefühl; das ist unser deutscher Begriff vom Beamten und ist der vornehme, der aristokratische Geist seiner Arbeit oder jeder Arbeit überhaupt, wie Pestalozzi so schön von Gertrud und ihren Kindern sagt: „sie spinnen so eifrig als kaum

Die akademische Freiheit.

35

eine Taglöhnerin spinnt; aber ihre Seelen taglöhnern nicht." Diesen hohen und freien Geist der Arbeit eignet man sich noch nicht auf der Schule an, sondern erst und nur in der demokratischen Luft schrankenloser Freiheit und Ungcbundenhcit. Und deswegen giebt man dem Studenten diese Freiheit, die er freilich auch dazu mißbrauchen kann, gar nichts zu thun, giebt ihm das Recht zu wählen, wobei er freilich auch kläglich daneben greifen kann, die Freiheit seine Arbeit selbständig zu gestalten, wobei er auch gründlich zerfahren oder jäm­ merlich einseitig werden kann — der Fachsimpcl und der geniale Blender haben hier ihre Stelle und das Wort des allen Schupp seine Wahrheit: studiosus est animal aut nihil aut aliud agens. Aber abusus non tollit usum: die richtig verstandene und richtig gebrauchte Lernfreihcit hat sich im großen und ganzen

doch trefflich bewährt.

Dritte Vorlesung. Allein diese Lernfreiheit, meine Herrn, von der das letzte Mal die Rede war und noch öfters die Rede sein wird, ist wirklich nicht die einzige Erscheinung«, form der akademischen Freiheit. Noch mehr in die Augen fallend ist die studentische Lebensfreiheit, die Ungebundenheit auch in sittlicher Beziehung. Auch da

war der Knabe unfrei: im Schoß der Familie, im Organismus der Schule war seine Tugend die des Gehorsams; nicht er gestaltete sich sein Leben, sondern andere thaten es für ihn und fügten sein Leben ein in den Geist und in die Sitte von Schule und Haus. Was er zu thun und zu lassen hatte, war ihm vor­ geschrieben, er brauchte nicht zu wählen, er durfte

nicht wählen, er mußte fragen, alles wurde ihm erlaubt oder verboten, so war er sittlich unfrei. Und eben deswegen fehlte ihm auch noch jede Eigenart: er war noch keine Individualität, er sollte erst eine werden; als Glied der Familie partizipierte er an dem Geist des Hauses, als Schüler war er einer unter vielen. Gerade die Schule hat nicht die Pflicht zu indivi­ dualisieren, sie kann das auch gar nicht, sondern zu

Die akademische Freiheit.

37

nivellieren und die Einzelnen mit ihren besonderen Neigungen, Anlagen und Bedürfnissen einer Art von ehernem Gleichheitsgesetz zu unterwerfen. Jetzt wird der Schüler akademischer Bürger. Auch die Schule war so etwas wie ein Staat im Kleinen, aber ihre Verfassungsform ist die des aufgeklärten, gelegentlich auch die eines recht unaufgeklärten Despo­ tismus, der Schiller ist Unterthan, nichts weiter. Der

Bürger dagegen hat das Selbstbestimmungsrecht, er ist frei. Frei wovon? Nicht mehr, davon war das letzte Mal die Rede, von dem allgemeinen bürgerlichen Gesetz,

er ist nicht mehr souverän in seinem Auftreten gegen die Außenstehenden: die Person und das Eigentum des Phi­ listers sind gegen ihn geschützt, hier findet seine Freiheit ihre notwendige Schranke. Frei also nicht vom Gesetz; auch nicht vom Sittengesetz; dieses obere Stockwerk versteht sich immer für jeden Menschen nach einem

guten Wort von Fr. Vischer von selbst. Wohl aber frei von der Sitte. Zwischen Sitte und Sittlichkeit besteht ja ein eigenartiges Verhältnis: jene ist gewissermaßen Vor­ hof und Zaun für diese; sittlich sein heißt nicht zum wenigsten auch willig sich der Sitte fügen und mit Bewußtsein thun, 'was sie gebietet oder auch — es nicht thun, ihr entgegentreten, wo sie veraltet, unver­ nünftig, widerspruchsvoll, wo die Sitte zur Unsitte geworden ist.

Denn auch sie, wie ja auch die einzelnen

Sittengebote, ist Menschenwerk und darum nicht un­ fehlbar, sondern der Kritik unterworfen, nicht ewig,

38

Dritte Vorlesung.

sondern veränderlich und wechselnd.

Namentlich ist in

der Sitte viel Konventionelles, aus dem Sinn, Zweck und Recht längst entwichen und das daher zur leeren Form geworden ist.

Eben deswegen

muß

der sittlich sich

bildende

Mensch einmal in seinem Leben eine Periode durch­ machen, wo er sich auf sich und seine Stellung zur Sitte und sittlichen Snbstantialität besinnt: das kann am besten in einer Zeit geschehen, wo er auch thatsächlich von ihr losgelöst, ihr frei gegenüber stehen darf; und

darum ist ein solcher Zustand der Ungebundenheit für die Entwicklung des sittlichen Charakters ein so großes Glück. Aber was bindet denn den Menschen an die Sitte? Die öffentliche Meinung mit ihren Bannsprüchen, die fast wie die kirchliche Exkommunikation im Mittel­ alter wirken. Soll ich daher die Sitte unbefangen prüfen können, so muß ich vor diesen Bannsprüchen sicher sein, muß sie nicht zu fürchten haben; und das eben ist das

glückliche Vorrecht des Studenten. Unbekannt, fremd und namenlos in der Stadt, wo er studiert, kümmert er sich nicht um das, was die Leute über ihn sagen und denken, weil sich diese auch nicht mit ihm be­ schäftigen, sich auch um ihn nicht kümmern. Ein Ein­ wand, daß sich die öffentliche Meinung ja doch mehr als ihnen lieb sei, um die Studenten kümmere, kommt hier jedenfalls zu früh: ich rede vom Einzelnen und dies gilt nur von der Gesamtheit. Und so liegt hier wirklich der Grund zu der goldenen Rücksichtslosig­ keit des Studenten, der keine Rücksicht nimmt und zu

39

Die akademische Freiheit.

nehmen braucht, weil die Welt auch auf ihn noch keine Rücksicht nimmt, im Doppelsinn des Wortes noch nicht

mit ihm rechnet.

Das trifft, wie Sie sehen, nur auf den fremden Studenten zu: der einheimische, der seine Familie an

Ort und Stelle hat, ist deshalb kein voller und ganzer, weil kein ganz freier Student.

Er kann dafür andere

große Vorteile haben, aber den der gegenseitigen Rück­

sichtslosigkeit hat er nicht: er muß um seiner Familie

willen auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen,

weil man ihn kennt und als Haussohn mit ihm rechnet;

und

er muß mit

den Anschauungen

seines Hauses

rechnen, darf sich hier nicht über alles wegsetzen, sonst ge­

rät er in Konflikte, in Sorgen, vielleicht gar in Unwahr­ heit aller Art: nur bei einem recht verständigen und

vorurteilsfreien Vater, um von der Mutter gar nicht zu reden, wird es daher auf die Dauer gelingen, und

deswegen ist es in der Mehrzahl der Fälle gewiß besser, auf fremde Universitäten zu gehen.

Also diese Zeit

akademischer Lebensfreiheit ist

richtig verstanden die Zeit des ethischen Zweifels am Recht alles in der Sitte und durch sie Bestehenden und Geltenden.

Das kann in aller Ruhe und Stille,

sozusagen theoretisch, philosophisch vor sich gehen; es kann aber auch in gärendem Sturm und Drang, praktisch, zu einem kühnen und kecken sich Darüberhinwegsetzen

führen, und auch das ist, weil so natürlich, nicht ohne

weiteres abnorm oder tadelnswert.

Wozu soll denn die

Jugend vor etwas Respekt haben,

dessen Zweck sie

40

Dritte Vorlesung.

nicht einsieht? Das liegt im Interesse des sich zur Bewußtheit durcharbeitenden Jünglings, es liegt aber auch im Interesse der Sitte und ihrer Reinigung und Weiterbildung selbst, daß der Student als künftiger

Träger und Vertreter der Sitte und der sie schützenden und fordernden öffentlichen Meinung auch das Hohle, Zwecklose und Nichtige davon einmal gründlich durch­ schaut und verachten gelernt habe. Es giebt auch in dieser Welt der Sitte und sogenannten sittlichen An­ schauung gar vieles, was wert ist, daß es untergehe und in Trümmer geschlagen werde: der Student kann das nicht besorgen, dazu ist er noch zu jung und hat noch nicht Autorität genug; aber daß er es einmal für sich probiere, ohne diesen Respekt vor dem Gel­ tenden auszukommen und fertig zu werden mit dem Leben, daß er sich mit dem Mut erfülle, sich, wo es nötig ist, darüber hinwegzusetzen, das ist sein gutes Recht und liegt im Interesse des sittlichen Fortschritts.

Der Philister ist der ewige Rücksichtnehmer, der Stu­ dent ist der absolut Rücksichtslose, nicht um es zu bleiben, sondern um sich einmal zu tauchen und gesund zu baden in dem Geist robuster Rücksichtslosigkeit, um sich salben zu lassen mit einem Tropfen revolutionären Oels, das jeder wahrhaft sittliche Mensch in sich haben muß und das die sittlichen Genien und Reformatoren der Menschheit, ein Sokrates, ein Jesus, ein Franz von Assisi, ein Luther in so hervorragendem Maße in sich gehabt haben. Nun ist ja dabei freilich möglich und liegt dem

Die akademische Freiheit.

41

abstrakten Geist der Jugend nahe, daß sie zu einer unberechtigten und vorschnellen Verallgemeinerung, einer radikalen Mißachtung unserer, freilich von unvernünf­

tigen Bestandteilen durchsetzten, aber darum doch nicht

ganz unvernünftigen Sitte kommt und sich deshalb mit

der ganzen Keckheit, der ganzen Unverantwortlichkcit

des jungen und daher geschichtslosen Menschen völlig über sie hinwegsetzt.

Namentlich der äußeren Sitte

und Form gegenüber, deren Notwendigkeit und Sinn nicht immer leicht zu verstehen und einzusehen ist, wird das häufig genug der Fall sein.

Wenn die Glock'

soll aufcrstehen. Muß die Form in Stücke gehen! Die Glocke selbst aber ist formlos flüssiges Metall, ehe sie zur geformten Glocke wird; eben deswegen kommt es

bei der Jugend auf das Metall an, ob es edel, ob die Mischung rein sei, nicht auf die Form, die ja erst werden soll.

Und deswegen gefallen uns auch die

Studenten nicht, die schon ganz Form, damit schon ganz fertig, die so überraschend glatt und gewandt sind; sie verraten dadurch, daß sie auch den Nutzen der Form

erfaßt haben und um seinetwillen sich beugen vor der

konventionellen Sitte, die ihnen doch noch nichts sein kann, daß sie strebsam fragen: was nützt und bringt vor­ wärts in der Welt? nicht: was ist vernünftig und gut?

Ich rede damit der Rüpelhaftigkeit und Unhöflichkeit

wahrhaftig nicht das Wort; der Student, der mit dem Hut auf dem Kopf in mein Zimmer tritt, mißfällt auch mir; aber die Parzivalsnatur, der lumpe Jüng­

ling, der schüchtern und linkisch oder als derber Natur-

42

Dritte Vorlesung.

bursche anftritt, ist mir doch lieber als der aalglatte junge Herr, der sich benimmt wie ein angehender Diplomat oder wie ein siegeSsichcrer Commis Voyageur; denn, von ihm fürchte ich, daß er ein Streber oder ein Hohlkopf sei, daß er sich beuge, wo die Gewalt sich regt und eben darum sich nie zu einer eigenen und eigen­ artigen Individualität und Persönlichkeit entwickeln, nie auch nur zn einer eigenen und selbständigen Mei­ nung sich aufschwingen werde. Schön gezacket ist der Bruch! heißt es von der Glockenspeise: die Sitte schleift die Zacken weg, sie uniformiert und nivelliert; Bildung heißt aber unter anderem auch Festhalten an Eigenart und Selbständigkeit, nicht Mollusk und Schilf, sondern knorriges, hartes Eichenholz sein. Daß hiebei die Unterschiede der häuslichen Sitte und Erziehung eine Nolle spielen und alles Recht haben, nach- und in das Studentenleben hereinzuwirken, das weiß ich wohl; nur versteht sich das von selbst und ist heute nicht das, nm was gekämpft, werden muß. Unsere Bildung und gebildete Sitte ist fraglos uniform, schablonenhaft, ist Massenbildung geworden, und darum fehlt es uns so sehr an Charakteren; denn wahre Bildung ist Ausgestaltung der Eigenart. Was soll also aus unserer deutschen Bildung und aus der deut­ schen Männerwelt werden, wenn schon unsere Jünglinge als glatt schliffene wachsene allem die

geschliffene, das heißt aber doch nur als verDutzendmenschen umherlaufen? Uns Er­ zwingt das Leben, die Gewohnheit und vor Macht der öffentlichen Meinung in das Joch

Die akademische Freiheit.

43

der Sitte und der Form; Sie sind freie Menschen und sollen sich diesen Zwang nicht anthun, sich dieses Joch wenigstens nicht so unbesehen, nicht so widerstandslos auflegen lassen. Und da will es mir doch oft Vor­ kommen, wenn ich zusehe, wie sich die jungen Herren gegenseitig vorstellen, mit welcher formvollendeten Gran­ dezza nnd Feierlichkeit, oder ästhetisch gesprochen, mit welchen steifen Armverrenkungen sie sich begrüßen, als wären Sie gegenseitig lauter wirkliche Geheime Räte, eine wahre Mandarincnhierarchie, und nicht Komililvnen, nicht freie Bürger eines demokratischen Gemein­ wesens, cs will mir vorkommen, als sitze auch Ihnen der Zopf schon recht gehörig im Nacken, als seien Sie auf dem besten Wege, vor der Zeit recht unfreie und armselige Bildungsphilister zu werden. Daß sich freilich im Zusammenhang mit diesem Wertlegen auf die Form in der studentischen Sitte auch vieles gebessert Bat erkenne ich dabei gerne an: die renommistische Roheit, die Leben, Person und Eigen­ tum des Philisters nicht verschonte, ist verschwunden, mit der Anwendung des gewöhnlichen Strafkodex auch auf den Studenten ist auch viel innere Gesittung und Sittignng Hand in Hand gegangen oder vielmehr ge­ kommen. Und auch die Verhöhnung unserer, der Erwach­ senen, Sitte ist mit Fug und Recht bei Ihnen aus der Mode gekommen; denn nicht der ist frei, der seiner Ketten spottet. Schon in der Kleidung zeigt sich das. Der Student des Mittelalters trug das klerikale Gewand, das ihn mehr noch schützte als daß es ihm Pflichten

44 auferlegte.

Dritte Vorlesung.

Aber auch als dieses fiel, behielt er als

eine Art Fortsetzung des korporativen Gemcingefühls seine besondere Tracht; noch ich bin im polnischen Schnürrock, den wir, glaube ich, für altdeutsch hielten, über die Straßen gegangen. Heute ist wie der Degen zur Selbsthilfe, so auch die Eigenart der Kleidung beim

Studenten verschwunden, Sie gehen umher wie andere junge Leute Ihres Alters auch, und der die Philistertracht

verhöhnende Uebermut, in Schlafrock und Pantoffeln auf dem Marktplatz nmherzuschlendern oder vor der Kneipe zu sitzen, würde fraglos dem Unfugsparagraphen ver­ fallen. Geblieben ist, soviel ich sehe, nur noch eine gewisse Sorglosigkeit auf der einen Seite, die sich ge­ legentlich einmal bis zum Cynismus steigern kann: was geht den Studenten die Mode an? oder aber ein kleiner Rest noch von Besonderheit, etwas Flotteres, Bunteres, und darum auch keine Scheu, durch farbige Mützen und Bänder vor andern jungen Leuten Ihres Alters aufzufallen. Diesem Recht aufznfallen ist es wohl auch zuzu­ schreiben, daß Studenten sogar auf die Gigerlmode hereingefallen sind. Diese häßliche Zuhältertracht, die die physische, intellektuelle und moralische Impotenz so schamlos und so blödsinnig zur Schau trägt und darum freilich auch der Keule bedarf, die in diesen Händen nur ein Zeichen der bleichen Angst und des Rowdy­ tums zugleich sein kann, ist des Studenten einfach unwürdig. Und auch den Frack, dieses unschöne Parade­ stück männlichen Ungeschmacks, könnten Sie billig den

Die akademische Freiheit.

45

Philistern überlassen; selbst im Examen, doch erst der Schwelle zum Philisterleben, ist der Student noch Student und sollte darum nicht schon äußerlich markieren, wie eilig er es habe, den Studenten aus- und den Philister anzuziehen: wir würden Ihnen diese Nachahmung unserer Sitte gewiß gerne erlassen. Aber wohin bin ich geraten? Ich bin von der akademischen Freiheit ausgegangen und bei Gigerl-

mode und schwarzem Frack angekommen. Allein ganz bin ich daran nicht schuld: warum haben Sie sich in

die Knechtschaft der Mode begeben? Und dann, am Aeußcren hängt doch immer ein Inneres, es giebt nach Carlyle auch eine Philosophie der Kleider. Ju solchen Aenßerlichkeiten kann sich daher auch ein Preisgeben und der Verlust der inneren Freiheit verraten. Und doch kommt es just auf diese an. Denn wenn wir

jetzt fragen: worin besteht nun also die akademische Freiheit? so ist ja klar: immer weniger in einem Aeußeren; darin hatten jene Schwarzseher doch recht; mit der akademischen Gerichtsbarkeit ist auch viel von der äußeren Ungebundcnheit des akademischen Lebens verloren gegangen. Aber daran hängt auch die aka­ demische Freiheit nicht, soll und darf sie nicht hängen. Sie ist in Wahrheit, wie alle Freiheit, eine innere und nur als solche wert zu existieren: nicht auf die Form kommt es an, sondern auf die Gesinnung, und diese freie Gesinnung muß aus einer unklar gärenden und

revolutionär anstürmenden immer mehr zu einer klaren sittlichen Freiheit werden. Diese zu erwerben, dazu

4G

Dritte Vorlesung.

ist die Studienzeit, das ungebundene und an nichts sich

bindende Leben des Studenten da. Frei ist der Bursch,

der sie hat und sie als unverlierbaren Besitz mit hinaus­

nimmt in das alltägliche Leben des Philistertums und

des Berufs. Aber wohlgemerkt: diese Freiheit ist heut­ zutage kein Geschenk mehr, das Ihnen in den Schoß

geworfen wird, sondern ein Gut, das Sie sich selber

erwerben müssen.

Daran hindert Sie auch heute noch

nichts, wenn Sie sich nur selbst nicht zu Sklaven machen und nur selber sich keine Sklavenketten schmieden. ist der Bursch!

Frei

In Ihrer Hand liegt cs, daß er es

auch heute noch sei und fernerhin bleibe.

Vierte Vorlesung. Aber freilich, meine Herren, die akademische Lebens­ freiheit hat als ein Losgebundenscin von den Schranken der Sitte auch ihre schweren Gefahren, und daher ist es doch gut, daß sie auch äußerlich keine schrankenlose mehr ist. Ich meine damit nicht jenen Rest akademi­ scher Disziplinargerichtsbarkeit: der thut nicht mehr viel weh und es bedarf keiner allzugroßen Schlauheit oder Enthaltsamkeit von Ihrer Seite, um acht Semester lang jeden Konflikt, jede Berührung mit ihr zu vermei­ den. Sondern ich meine damit die Gesetze, die sich der Student selbst giebt. Je größer und je innerlicher die Freiheit, desto größer die Verantwortlichkeit, d. h. die Pflicht zur Selbsterziehung. Und zwar ist diese sowohl eine individuelle als eine soziale, beide gehen mit einander Hand in Hand. Individuell ist etwas da, was jeder von Ihnen mit­ bringt, das ist der sittliche Fonds von Schule und und Familie: der Segen der Mutter, das Vorbild des Vaters, der gute Geist des Hauses und der Schule — alles das läßt Sie nicht los, begleitet Sie auf die Hochschule und wirkt in der Erinnerung und in den

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Vierte Vorlesung.

Verbindungen, die Sie mit den Ihrigen aufrecht er­ halten, nach. Ein reger Briefwechsel ist ein solches Band, das hält, ein Faden, der bindet; wenn die Briefe anfangen, seltener zu werden oder ganz auf­ hören, so ist das immer ein schlimmes Zeichen. Und wenn man so oft über unsere allzulangen Ferien klagt — wir werden darüber noch reden —, so vergißt man, daß sie doch auch eine Art sittlichen Jungbrunnens sind, wo der Student wieder Sohn und Bruder und Kind des Hauses und Glied der bürgerlichen Gesell­

schaft wird und wieder eintaucht in die Sitte und

Sittlichkeit der übrigen Welt, allemal wieder eine Probe sozusagen auf das Exempel, wie die akademische Frei­ heit bei ihm angeschlagen habe und wie die Wieder­ kehr aus dieser Freiheit in die Gebundenheit und Enge des philisterhaften Daseins wohl dereinst gelingen werde. Neben solchen guten Genien, die Sie mitbringen, ist aber der beste Schutz doch immer wieder das, was Sie auf der Hochschule selber finden, die Arbeit. Sie ist der sittliche Halt, den Sie sich selber täglich geben; denn Müßiggang ist aller Laster Anfang, bei dieser alten Philisterweisheit bleibt es doch in alle Ewigkeit. Die Universität giebt in ihren Einrichtungen zum Arbeiten die Anregung, Anreiz und Mittel; aber benützen muß sie jeder Einzelne wollen, das ist sein Freiheitsrecht; denn nur das frei Erworbene ist auch hier wirklicher Besitz. Doch neben solchem ganz individuellen Schutz gegen die Gefahren der Freiheit steht auch hier ein soziales

Der Komment.

Element.

49

Die Universitas war eine Korporation, jede

Korporation

hat

ihre eigenen Gesetze, und sie be­

schränken oft weit mehr als von außen kommende die Da wäre ja zuerst an den

Freiheit ihrer Glieder.

Kodex des Komments zu denken, der unS alsbald zum Verbindungsleben führen könnte. Aber diese seine

Herkunft und seine Anwendung soll hier noch nicht be­ sprochen werden, sondern nur ein vorläufiges kurzes

Wort über ihn selbst.

Und da ist es ja ganz gewiß

berechtigt und natürlich, daß Sie für Ihre Zusammen­

künfte, Verbindungen und geselligen Beziehungen sich solche äußeren Formen und Gesetze geschaffen haben,

nnd daß sich der Einzelne denselben gehorsam unterwirft.

Und eS ist ebenso natürlich, daß der, der darin lebt, diesen Formen mehr Gewicht beilegt, als der Außen­

stehende dies begreifen und gutheißen will.

Auch pul­

sierte in ihnen allen dereinst gewiß lebendig Sinn und

Zweck; heute sind aber auch sie meist konventionell ge­ worden; denken Sie nur an den Salamander, von dem niemand mehr so recht weiß, was Wort und Sache

bedeuten, und der darum doch in ewiger Jugend weiter exerziert wird. Solche konventionellen Dinge muß man

daher lernen, handhaben lernen, um sich frei darin zu bewegen.

Das ist alles.

Und ganz richtig ist, daß

der, der das nicht kann, sich lächerlich macht, wie je­ mand, der nicht weiß, wie man beim Fischessen mit

Messer und Gabel umgeht: das ist aber auch alles. Dagegen giebt es Studenten, die auf diese äußerliche

Zeichensprache einen ganz übertriebenen Wert legen, als Ziegler, Der deutsche Student. 4

50

Vierte Vorlesung.

läge darin Wesen und Geist des Sludentenlums. Das sind jene hohlen und geistlosen Elemente, die sich des­ wegen an die Form und an die Schale halten müssen, weil es ihnen an innerem Gehalt fehlt, und die dann freilich der Beobachtung des Komments eine Wichtig­ keit beilegen, als ob derselbe vom heiligen Geist des Studentcntnms selbst diktiert wäre. Mir waren diese Feuerreiter des Komments, diese studentischen Forma­ listen von jeher die unsympathischsten Gesellen. Nein, nicht der Komment, sondern die Ehre, das ist das Grundgesetz des Burschentums. „Ein honoriger Bursche" zu sein, das war zu allen Zeiten Ziel und Streben des rechten Studenten. Das führt auf die heikle Frage: was ist die Ehre? Lessing läßt bekanntlich seine Minna von

Barnhclm sagen: „die Ehre ist — die Ehre". Und viel

genauer läßt sich dieselbe auch nicht bestimmen. Auch sie gehört wie die Sitte zur Sittlichkeit im weiteren Sinn,, ist so etwas wie Vorhof und Zaun derselben und wie sie ein durchaus Soziales. Während aber die Sittlichkeit im engeren Sinn — allen Nietzscheanern zum Trotz sei das gesagt — ein durchaus Demo­ kratisches ist, weil sie darauf ausgeht, ein allgemein Menschliches zu werden, so hat die Ehre einen ent­ schieden aristokratischen Zug, etwas Ab- und Aus­ schließendes, etwas von Kastengeist und Standesvor­ urteil an sich. Denn bei ihr handelt es sich wirklich in erster Linie um den Stand und um meine Wertung innerhalb meines Standes, um die Meinung, die meine

Die studentische Ehre.

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Standesgenossen von mir haben und um den Wert, den ich dieser ihrer Meinung von mir beilege. Wenn ich als Professor ein Plagiat begehe oder profiteor, was ich nicht denke und glaube, so verliere ich meine wissenschaftliche Ehre, und das Forum dafür ist die Universitas magistrorum et scholarium; die draußen Stehenden haben dafür nur ein verwundertes Ohl Was kaufmännische Ehre ist, zeigt uns G. Freytag in feinem „Soll und Haben;" und die Ehre des Arbeiters besteht darin, seine Arbeit recht zu machen und seinen Arbeitsgenossen ein treuer Genosse, nötigenfalls selbst beim Streik ein treu zu ihnen haltender Genosse zu sein. Daß dabei Ehre und Sittlichkeit in Konflikt kommen können, wissen wir alle, es sind dies die grau­ samsten, die schwersten Konflikte: wer mit gutem Ge­ wissen ehrlos wird, ist ein tiestragischer Mensch, und

unglücklich ist ebenso umgekehrt, wer der Ehre sein Gewissen zum Opfer bringt. Das mußte vorangeschickt

werden, wenn wir uns die studentische Ehre verständ­ lich machen wollen. Wenn ich frage, worin diese besteht, so liegt die

Antwort nahe, daß der Student Mut zeige und sein Wort halte. Fichte hat die drei F als der Sünden schwerste bezeichnet: die Faulheit, die Feigheit, die Falschheit. Feigheit und Falschheit in jenem beschränk­ ten Sinn des Wortbruchs verbietet auch die studentische Ehre. Aber sie verbietet auch Einiges nicht, und davon soll zuerst die Rede sein. Nicht verbietet sie die Faulheit: ist das gut und

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Vierte Vorlesung.

recht? Nach früher Gesagtem zunächst: ja! Siesehen, meine Herrn, ich bin tolerant; aber ich fürchte, da­ dicke Ende kommt noch nach. Zur Lernfreiheit gehört auch die Freiheit, nicht zu lernen, faul zu sein, da­ mußte ich anerkennen, und darum wäre es eine Ver­ letzung der akademischen Freiheit, wenn Ehrlosigkeit alStrafe auf die Ausübung dieses Rechtes gelegt würde. Und doch, wie ist es damit in Wahrheit? Zunächst ist Fleiß keine so einfache und eindeutige Sache. Ist der, der die Kollegia schwänzt und als Jurist sein corpus juris, als Theologe seine Dogmatik vernach­ lässigt, darum notwendig faul? Er ist kein fleißiger Jurist, kein fleißiger Theologe, gewiß; aber er kann darum doch voll geistigen Bildungsstrebens, voll reger Interessen, voll innerer Arbeit sein. Da nun aber wir, Professoren und Komilitonen, im wesentlichen nur den Fachfleiß zu beurteilen im stände sind, so wäre es vom Uebel und eine arge Ungerechtigkeit, wenn wir über den Mangel daran die Strafe der Ehrlosigkeit verhängen wollten. Aber nicht zu verkennen ist, daß, wo bei einem die Faulheit eine absolute, das Bildungsstreben und die geistige Regsamkeit = 0 ist, daß sich dem

gegenüber doch langsam, aber unaufhaltsam auch unter Ihnen so etwas wie ätyUa, wie stille Verachtung ein­ stellt. Man hat nichts an einem solchen Megatherium, darum will man auch auf die Dauer nichts mit ihm zu thun haben, man läßt es abfallen als ein unnützes

Glied vom Stamm der geistigen Universitas. Solcher Faultiere, die eben nur faul und ganz

Die studentische Ehre.

Das Trinken.

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faul sind, giebt es auf jeder Hochschule etliche, ich erinnere mich aus meiner Studentenzeit solcher Leute; aber sie sind gottlob selten. Gar nichts zu thun ist eigent­ lich nicht die Art der Jugend. Und darum ist solche abso­ lute Faulheit mehr nur Begleiterscheinung und Folge zweier anderer Laster, der Trunksucht und der geschlecht­ lichen Ausschweifungen. Was sagt zu diesen die studen­ tische Ehre? und was sagt sie zu einem dritten, das damit zusammenhängt, zu dem über seine Verhältnisse leben? Damit komme ich auf allerlei dunkle und heikle Punkte im deutschen Studentenleben, und ich darf mich nicht genieren, darüber offen mit Ihnen zu reden. Die Antwort ist ja klar: das alles macht im allgemeinen den Studenten nicht ehrlos. Was ist davon zu halten? ist das gut so? Wir müssen natürlich trennen und von jedem besonders reden. Das Trinken ist ein Erbstück unseres deutschen Volkes. Recht wie ein übles Memento am ersten Tag der deutschen Geschichte heißt es darüber bei Tacitus (Germania c. 23): ad versus sitim non eadem temperantia; si indulseris ebrietati, suggerendo quantum concupiscunt, haud minus facile vitiis quam armis vincentur.1) In gewissen Zeitaltern und Jahrhunderten *) Für die neuen Komilitoncn aus den Oberrealschulen setze

ich die deutsche Uebersetzung bei: „Dem Durst gegenüber zeigen sie nicht dieselbe Enthaltsamkeit; wer den Germanen an seiner Unmäßigkeit saßt, indem er ihm zu trinken schafft, soviel sein Herz begehrt, der wird künftig ebenso leicht durch seine Laster

als durch Waffengewalt mit ihm fertig werden."

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Vierte Vorlesung.

sind wir geradezu ein Volk von Trinkern gewesen und unser Ruhm bei mäßigeren Völkern war in dieser Be­ ziehung nicht fein. Die Deutschen haben immer noch eines getrunken; wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann — das spricht der Deutsche in Sprichwort und Lied ganz harmlos aus, und damit scheint sich auch der trinkende Student rechtfertigen zu können: er ist auch darin nur der Sohn seines Volkes. Nun will mir freilich scheinen, als könnten wir es nicht mehr so gut wie unsere Altvordern; und was man nicht kann, das sollte man billig lassen. Unser Magen ist offenbar schwächer, unsere Nerven sind offenbar widerstandsunfähiger geworden; vielleicht ist auch der Stoff daran mit schuld, unsere Getränke sind heutzutage künstlicher und raffinierter/ verfälschter und ungesunder. Trotzdem aber ist, im Zusammenhang

mit der sich erhöhenden Lebenshaltung aller Volksschichten, das Laster ein allgemeineres geworden; und damit zugleich auch mehr als je ein Krebsschaden am Volkswohlstand und an der Volksmoral, an der Volks­ gesundheit und Volkskraft. Und da greift nun zum erstenmal, was ich noch oft zu sagen haben werde, die soziale Frage auch in Ihre Lebcuskreise und Lebensführung herein. Das Saufen war in gewissen Zeiten ein Vorrecht der Fürsten und des Adels, sie tranken Wein; dann schien es, als ob der Akademiker, der Student ein solches Privi­ legium habe, er trinkt Bier; jetzt ist der Alkoholis­ mus längst kein Standesvorzug mehr, sondern eine

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Tas Trinken.

recht demokratische Sitte; denn wer nicht anders kann und vermag, trinkt wenigstens den billigen Schnaps.

Allein gerade in dieser scheinbar trostlosen Allgemein­ heit des Trinkens liegt auch die Hoffnung auf Besserung:

Saufen gilt heute nicht mehr für vornehm und ist nicht mehr salonfähig, sondern es ist als allgemeines

Laster ein gemeines Laster geworden; und daher ist

es jetzt vor allem an denen, die einst die Leiter und Führer der Nation, die Ritter vom Geist, die Aristo­

kraten der Bildung und Intelligenz sein sollen und werden wollen, es zuerst an sich selbst zu bekämpfen und abzuthun und so auch den andern mit gutem Bei­ spiel voranzugehen, indem sie es unter sich ächten und lassen.

In ernsten Zeiten sang einst Uhland

den

Mädchen zu: Ihr besonders dauert mich.

Arme Mädchen, inniglich, Daß ihr just in Zeiten fielet, Wo man wenig tanzt und spielet.

Etwas von diesem Bedauern erfaßt auch mich, wenn ich mir den Studenten von heute ansehe: der Ernst

des Lebens

ist

mit Macht

auch

an

ihn

herange­

treten, er soll sich heute allerlei Dinge versagen, die

früher üblich gewesen sind und für erlaubt und un­ verfänglich gegolten haben. Dazu rechne ich in erster

Linie auch das Trinken.

Es ist gegenwärtig auch in

Ihren Kreisen soviel die Rede vom reinen Deutschtum:

zum reinen Deutschtum gehörte in guter alter Zeit

fraglos auch das Saufen. Aber ich kann nicht finden.

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Vierte Vorlesung.

daß eS im Interesse unseres deutschen Volkes nach innen und nach außen liegt, auch nur in studentischen

Kreisen dieses echte Stück des Germanentums zu konser­ vieren und zu Pflegen.

Auch der Student muß sich

vielmehr dem auf der ganzen Linie eröffneten Kampf gegen dieses urdeutsche Laster anschließen und dabei

ganz bescheiden und schlicht — bei sich selber anfangen. Will ich nun darum, Sie sollen jeden Rausch für

ehrlos erklären? und will ich jede bacchische Lust im

Keime knicken und ersticken? Völlige Abstinenz gehört

in das Kapitel der evangelischen Ratschläge, nicht zu dem sittlich Notwendigen und Unerläßlichen, d. h. sie

wird zur Pflicht nur für den, der seiner selbst nicht

sicher ist.

Daß aber ein normaler Student sogar auch

einmal in Baccho excediert, das halte auch ich für kein

Schimpfliches und würde cs noch für viel natürlicher halten, wenn nicht schon unsere Herrn Tertianer und

Sekundaner anfangen wollten, versierte Trinker zu

sein und regelrecht zu kommersieren: das allerdings halte ich für sehr schlimm und sehe darin einen schweren Vorwurf — nicht gegen die Schule, die kann nicht

alles leisten, sondern für die Eltern, die das zu ver­ hindern zu gleichgültig oder zu schwächlich sind. Nicht

natürlich in der prämeditierten Absicht, sich zu aichen

und zu messen, wieviel er vertragen und leisten könne, aber ganz unwillkürlich kommt gerade der unverdorbene

und mit sich selbst noch unbekannte junge Mensch gelegentlich an den Rand und auch über den Rand seines Leistens und Könnens hinaus.

Daß wir zusammen-

Tas Trinken.

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trinke«, wenn wir nns zusammenfreuen, das ist ein Recht und eine Sitte, die psychologisch begründet ist.

Und daß sich der Student diesem sich Zusammenfreuen mit vollen Zügen hingiebt und dabei auch in vollen Zügen den Becher leert und wieder füllt, daß er sich nicht satt freuen kann, in heiterem Kreise nicht auf­ hören will selig zu sein, und so die Sitzung und das Trinken über Gebühr verlängert und dabei in bacchischer Lust zu weit geht, das, meine Herrn, wird schwer­ lich aufhvren, solange es Jünglinge und deutsche Stu­ denten giebt. Und wenn ich sage: das soll auch nicht aufhören, so sehen Sie auch meine Meinung darüber: das Trinken lasse ich gelten lediglich als Symbol und Ausdruck eines Geistigen, der begeisterten und seligen Stimmung, der jenes idealste Trinklied Goethes: In allen guten Stunden Erhöht von Lieb und Wein Soll dieses Lied verbunden Von uns gesungen sein

den feinsten und begeistertsten Ausdruck gegeben hat. Dabei ist das Trinken nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel und ein Ingrediens überschäumender Jugend­ lust. Wer so und nur so trinkt, der wird auch kein Säufer, da kommt es nicht zu jenen wüsten und ge­ meinen Trinkorgien, nicht zu viehischer Besoffenheit. Wer nur trinkt, wenn er begeistert ist, der geht schließ­ lich wie Sokrates vom Symposion davon als ein be­ sonnener weiser Mann, der kein Spielverderber ist und sich von seiner Sinnlichkeit doch nicht unterkriegen läßt.

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Vierte Vorlesung.

Weil Begeisterung keine Marktware des Alltags ist, so ist er auch nicht in Gefahr, zum Gewohnheits- und

Alltagssäufer zu werden, zumal wenn er sich durch die darauf gesetzte Naturstrafe des Katzenjammers mahnen läßt, daß es bei der Ausnahme bleiben soll, weil letzten Endes doch auch sie ein Nichtseinsollendes ist. Wenn ich aber von einem von Ihnen auf Tolstoi hin« gewiesen und hart getadelt werde,'daß ich mich in dieser Frage nicht an ihn gehalten und auf seinen Standpunkt gestellt habe, so erwidere ich dem, daß doch auch ich an der akademischen Freiheit partizipiere und nicht ver­ pflichtet werden kann, mich zu Göttern zu bekennen, an die ich nicht glaube. Tolstois vielfach so trüb flie­ ßender Mystizismus, seine urchristliche Askese in raffi­ niert modernem Gewand ist mir durchaus unsympathisch, Tolstoi hat mir weder für Kopf noch für Herz je irgend etwas gegeben. Was aber die Frage anlangt: warum betrinken sich die Menschen? so mag es ja sein, daß

mancher sich in pessimistischer Verstimmung durch diesen Sorgenbrecher betäuben und über das Weltelend hinwegtäuschen will. Aber einmal halte ich das bei

Studenten und Germanen für etwas durchaus Unge­ wöhnliches nnd Widernatürliches: meist ist das nur ein philosophisches Mäntelchen um eine böse Lust und üble Angewohnheit; und dann kann ich eben auch dem trinkenden Pessimisten nur sagen: er lasse es bleiben, eS hilft ihm doch nichts, sondern macht den Jammer

nur größer. Und nun wüßte ich freilich an sich nicht, warum

Das Trinken.

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der Student nicht den Unterschied machen und den Alkoholistcn und Asoten optimistischer oder Pessi­ mistischer Observanz, der der Studentenschaft wirklich nur Unehre macht und Schande bringt, für ehrlos er­ klären, den begeisterten Zecher dagegen voller Ehre würdigen könnte. An sich allerdings nicht. Aber wer will entscheiden, wo das eine anfängt und das andere aufhört? Und darum thut die Studentenschaft schließlich doch recht daran, wenn sie das Trinken überhaupt nicht vor ihr Forum zieht, sondern es jedem überläßt zu­ zusehen, wie er es treibe. Der honorige Student wird darum den Asoten doch recht niedrig werten und immer mehr meiden: dieser ist ja meist auch jener un­ verbesserliche Faullenzer, der über dem sinnlichen Ge­ nuß, über Rausch und Jammer die geistigen Interessen verliert und darum aufhört, interessant, anfhört ein erfreulicher Kamerad und ein guter Geselle zu sein. Schlechthin verwerflich aber sind eben darum auch alle Bcranstaltungen des zwangsmäßigen Trinkens, in welcher Form sie immer auftreten. Denn fürs erste sind sie ein Rest des verwerflichen Pennalismus und ein Eingriff in die akademische Freiheit, die doch auch darin besteht, daß ich zu wählen das Recht haben muß, ob ich nüchtern bleiben oder mich betrinken

will. Und fürs zweite handelt es sich hierbei um ein Trinken ohne Stimmung, und das widerspricht der einzigen Berechtigung eines Rausches, dem Rausch auund in Begeisterung. Und deshalb kann ich auch in dem obligaten Frühschoppen nur eine übte Unsitte sehen.

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Vierte Vorlesung.

Wann man trinken und wann man zum Trinken zu­ sammenkommen will, das ist allerdings Sache freier Uebereinkunft und Selbstbestimmung, und die Hände zu ringen, wenn das auch einmal am Tag zwischen 11 und 1 Uhr geschieht, dazu ist kein Grund. Aber das Normale darf es nicht sein; denn Dem Guten ist's zu gönnen, Wenn am Abend winkt die Sonnen, Daß er in sich geht und denkt, Wo man einen Guten schenkt.

DaS Bier macht nach Bismarck fraglos faul und dumm; darum ist es allenfalls ein Schlaftrunk, kein Frühtrunk, und darum halte ich es nicht für honorig,

regelmäßig und anders als gelegentlich und ausnahms­ weise, anders als in festlicher Nachstimmung zum Frühschoppen zu wandeln.

Fünste Vorlesung. Das Trinken füllt also nicht unter das Kapitel der studentischen Ehre — gut meine Herrn! Aber nicht gut ist das andere, daß der Student, der honorige Student sogar auch lax denkt über sexuelle Aus« schweifungen, über Prostitution und was damit zu­ sammenhängt. Hier ist der studentische Ehrbegriff durchaus mangelhaft, hier ist er fraglos feige und schlecht. Es bedarf gar keines besonderen Aufwands von sittlicher Entrüstung, sondern nur ganz kühler Ueberlegnng, um zu erkennen, daß die Prostitution wie fine Krcbsbeule an der Gesundheit unseres Volkskörpers unendlichen Schaden stiftet: Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört!

Sie macht einen erheblichen Bruchteil der Männer physisch krank und — eben das ist der Fluch der bösen That — muß dann fortzeugend auch die kommenden Generationen schon im Keime verderben und vergiften. Sie ist fürs zweite die Brutstätte des gemeinsten Lasters in einem Umfang, von dem doch nur wenige von Ihnen

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Fünfte Vorlesung.

eine Vorstellung haben dürsten. In Berlin allein machen 30 000, in Paris weit über 40 000, manche meinen über 100000 Frauen offen oder geheim aus der Unzucht ein Gewerbe, für ganz Deutschland berechnet man ihre Zahl auf mehr als 200000. Mit den Dirnen aber gehen als ihre Zuhälter die Gauner und Verbrecher in aller Welt zusammen. Und zum dritten ist die Prostitution auch eine Schule der Immoralität für jeden, der sich von außen her daran beteiligt und damit befleckt. Und weil das auch Stu­

denten thun, muß davon die Rede sein. In welchem Umfang? werden vielleicht halbun­ gläubig einzelne von Ihnen fragen; wozu davon reden? das sind ja doch nur Ausnahmen! sagen hoffentlich recht viele von Ihnen. Aber thatsächlich verhält es sich damit leider ganz anders. Aus dem Material einer 6—700 Mitglieder umfassenden studentischen Krankenkasse in Berlin ist ermittelt worden, daß in zwei Semestern 25°/o, d. h. ein Vierteil der dieser Kasse ange­ hörigen Studenten geschlechtskrank waren! Wäre nun

auch der Schluß von der besonders versuchnngsreichen Großstadt und von einem vielleicht eben deshalb ausge­ suchten Krankenkassenverein auf alle deutschen Stu­ denten ein zu rascher — aber, meine Herrn, er ist zur Schande der deutschen Studentenschaft öffentlich ge­ zogen worden —, so ist es schon genug, wenn es statt 25 nur 12 oder 10 Prozent sind, es wären dann immer noch reichlich 3000 Studenten, die jährlich ge­ schlechtskrank werden, also natürlich noch erheblich mehr,

Die Prostitution.

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die in jedem Jahr an der Prostitution beteiligt sind; in Straßburg, wo der Procentsatz unter dem Heer ein so besonders großer ist, wird, fürchte ich, auch unter den Studenten dieser Prozentsatz ein ganz besonders schlimmer sein. Aber auch nur zehn von hundert — sind das wenig? oder sind das nicht schreckhaft und sünd­

haft viele? Allein, was ist es denn so Besonderes, was liegt denn daran? wird mancher, im Stillen wenigstens, fragen. Zunächst also, was daran liegt, das ist Ihre und wenn Sie erwachsen sind und eine Familie gründen, die Ge­ sundheit von Fran und Kindern. Ich will einmal

drastisch reden: nicht die Schule und nicht das Lernen ist schuld an der Nervosität unserer Zeit, wie cs die Weichlichkeit von Eltern, Aerzten und Regierungen so gern behaupten mib erweisen möchte, sondern vor allem das Saufen und das Huren, wie cs gerade auch in unseren gebildeten Ständen im Schwange ist. Das Lernen und solider Fleiß hat nach meinen Erfahrungen noch niemand geschadet, aber die Sünden der Väter werden heimgesncht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Was daran liegt? fragen Sie. Schon jetzt in der Gegenwart Ihre ganze saubere, reinliche Existenz; denn die Prostitution ist das aller Unsauberste, das aller Schmutzigste und Häßlichste, was man sich denken kann; wer aber in Ihrem Alter körperlich nicht auf Rein­ lichkeit hält, der hält auch geistig nicht ans Reinheit. Und, meine Herrn, welcher Umgang für einen ge­ bildeten jungen Mann! Sich gemein machen und

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Fünfte Vorlesung.

bcmengen mit dem Auswurf, mit den Verworfensten des Volkes und Freude finden an einer solchen Unter­ haltung, an Zoten und Zweideutigkeiten brutalster Art. Aber weit Schlimmeres noch als das —! Daß es solche verworfene Geschöpfe giebt, daran sind die Männer und ist jeder Einzelne mit schuld, der sich mit ihnen einläßt. Und hierbei offenbart sich zugleich die schnöde

Ungerechtigkeit dcS Männergeschlechts gegen die Frau. Erstens würde es keine Huren geben, wenn es keine Hnrer gäbe, und dabei kommen auf eine Frau der Männer immer mehrere und viele: wieviele Unzucht treibende Männer mögen also wohl in Deutschland den 200000 Unzucht treibenden Weibern entsprechen? FürS zweite aber, warum ist es denn nur eine Schande für die Frau, warum wird nur sie ehrlos, verworfen mit) vcrsehmt, nicht auch er, der das Gleiche thut wie sic und mit ihr? Weil es uns Männern so bequem und angenehm ist, haben wir diesen heillosen Moral­ und Ehrenkodex aufgestellt und haben ihn sogar ge­ setzlich legitimiert. Das Weib wird bestraft, das sich so hingiebt, der Mann dagegen, der sie benützt, geht straflos aus: ist das gerecht? Aber weil sich ange­ sichts solcher Ungerechtigkeit die Frau schließlich doch abhalten lassen könnte, dem Mann zu Willen zu sein,

haben wir ein Hinterpförtchen aufgethan und in § 361,6 des deutschen Strafgesetzbuchs bestimmt, daß „die Weibsperson" nur bestraft werden solle, wenn sie „ge­ wissen polizeilichen Vorschriften zuwider" gewerbsmäßig Unzucht treibt. So haben die Herren der Schöpfung

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Die Prostitution.

ihre Schamlosigkeit auch noch legitimiert und haben sich überdies durch polizeiliche und ärztliche Ueber« Wachungen und Untersuchungen — freilich vergeblich — gegen Ansteckung zu schützen und zu sichern gesucht. Und so sind unsere Verbote und ist unser Kampf da­ gegen eitel Windmühlenkampf und Heuchelei. Und in diesem Schlamm und Sumpf der Un­ sauberkeit, der Ehrlosigkeit, der Brutalität und Heuchelei, da patschen auch deutsche Studenten lustig mit herum. Und was tragen sie davon mit hinaus in ihr Leben? Sie haben Mutter und Schwestern, Sie werden dereinst Braut, Frau, Töchter haben. Auch von jenen ver­ lorenen Mädchen, um zuerst von ihnen zu reden, hat jede eine Mutter — vielleicht eine schlechte, dann sind sie umsomehr zu bedauern als Opfer der Ver­ erbung und der Erziehung; vielleicht eine gute, dann ist diese zu beklagen ob ihres verlorenen Kindes; und manche von ihnen hat einen Bruder, wie Ihre Schwes­ tern Sie, meine Herrn, zu Brüdern haben; was von diesen Brüdern der eine und andere, die besten gerade empfinden, das hat uns Goethe im Faust in der rea­ listischen Gestalt des sterbenden Valentin in packender Anschaulichkeit gezeigt. Und wenn in dumpfem Grollen, in lauten Wutschreien heute die Rache sich ankündigt, welche Väter und Brüder dafür nehmen wollen, daß die Töchter des Volks den Lüstlingen der oberen Hundert­ tausend sich preisgeben, hat dieses Grollen, hat diese Wut, hat dieser Schrei nach Rache Unrecht? Und auch daran, an der Heraufbeschwörung eines RacheZiegler, Der deutsche Student.

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Fünfte Vorlesung.

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