Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Von den Reformen nach 2000 bis zur Gegenwart 9783534401321, 9783534401345, 9783534401338, 3534401328

Im Bundestagswahlkampf 2017 nahm die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft einen wesentlichen

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949
II. Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates
1. Zum Begriff des Sozialstaates
2. Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates
III. Rahmenbedingungen des deutschen Sozialstaats: Zur Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung
IV. Der bundesdeutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Adressaten, Leistungen, Reformen, Finanzen
1. Das System der Sozialversicherung
1.1 Die gesetzliche Rentenversicherung
1.2 Die gesetzliche Krankenversicherung
1.3 Die gesetzliche Unfallversicherung
1.4 Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung)
1.5 Die soziale Pflegeversicherung
2. Das System der sozialen Grundsicherung
2.1 Die Grundsicherung für Arbeitsuchende: Das Arbeitslosengeld II
2.2 Die Sozialhilfe (im engeren Sinn) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
2.3 Exkurs: Zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung
3. Die Kinder- und Jugendhilfe
3.1 Adressaten
3.2 Leistungen und Reformen
3.3 Ausgaben
4. Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
4.1 Adressaten
4.2 Leistungen und Ausgaben
5. Das Asylbewerberleistungsgesetz
5.1 Personenkreis und Leistungen
6. Arbeitsbeziehungen: Arbeitsrecht und Mitbestimmung
7. Soziale Entschädigung
7.1 Personenkreis und Ausgaben
8. Familienpolitische Leistungen
8.1 Kindergeld, Elterngeld und Betreuungsgeld
8.2 Wohngeld und Wohnungspolitik
8.3 Ausbildungs- und Aufstiegsförderung
9. Der deutsche Sozialstaat gemäß dem Sozialbudget
9.1 Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt
9.2 Sozialleistungen nach der Funktion
9.3 Sozialleistungen gemäß der Institution
9.4 Die Finanzierung der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets: Arten der Finanzierung und Finanzierungsquellen
9.5 Der deutsche Sozialstaat im (europäischen) Vergleich
V. Zusammenfassung und Fazit: Eine Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende
Chronologie zur Sozialpolitik 1998 bis 2015
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Sachregister
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Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Von den Reformen nach 2000 bis zur Gegenwart
 9783534401321, 9783534401345, 9783534401338, 3534401328

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Manfred Krapf

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende

Manfred Krapf

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende Von den Reformen nach 2000 bis zur Gegenwart

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt Inhalt ......................................................................................................... 5  Einleitung ................................................................................................. 9  I.   Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949................ 13  II.   Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates .................................................................................... 36  1.   Zum Begriff des Sozialstaates............................................... 36  2.   Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates ................... 43  III.   Rahmenbedingungen des deutschen Sozialstaats: Zur Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung................................... 47  IV.  Der bundesdeutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Adressaten, Leistungen, Reformen, Finanzen ......................................................................................... 56  1.   Das System der Sozialversicherung..................................... 58  1.1   Die gesetzliche Rentenversicherung ......................... 62  1.2   Die gesetzliche Krankenversicherung ...................... 80  1.3   Die gesetzliche Unfallversicherung ........................... 96  1.4   Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung) ......100  1.5   Die soziale Pflegeversicherung ................................128 

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2.   Das System der sozialen Grundsicherung ....................... 137  2.1   Die Grundsicherung für Arbeitsuchende: Das Arbeitslosengeld II ............................................ 138  2.2   Die Sozialhilfe (im engeren Sinn) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ................................................... 148  2.3   Exkurs: Zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung ....................................................... 155  3.   Die Kinder- und Jugendhilfe ............................................. 167  3.1   Adressaten ................................................................. 167  3.2   Leistungen und Reformen ....................................... 168  3.3   Ausgaben.................................................................... 174  4.   Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen .................................................................... 176  4.1   Adressaten ................................................................. 177  4.2   Leistungen und Ausgaben ....................................... 181  5.   Das Asylbewerberleistungsgesetz...................................... 196  5.1   Personenkreis und Leistungen ................................ 197  6.   Arbeitsbeziehungen: Arbeitsrecht und Mitbestimmung ................................................................... 202  7.   Soziale Entschädigung ........................................................ 208  7.1   Personenkreis und Ausgaben .................................. 208  8.   Familienpolitische Leistungen .......................................... 210  8.1   Kindergeld, Elterngeld und Betreuungsgeld ......... 210  8.2   Wohngeld und Wohnungspolitik........................... 218  8.3   Ausbildungs- und Aufstiegsförderung .................. 223  9.   Der deutsche Sozialstaat gemäß dem Sozialbudget ........ 225  9.1   Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt .............................................. 227  6

9.2   Sozialleistungen nach der Funktion .......................231  9.3   Sozialleistungen gemäß der Institution ..................241  9.4   Die Finanzierung der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets: Arten der Finanzierung und Finanzierungsquellen........................................251  9.5   Der deutsche Sozialstaat im (europäischen) Vergleich ....................................................................256  V.   Zusammenfassung und Fazit: Eine Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende ....................................262  Chronologie zur Sozialpolitik 1998 bis 2015 ..................................378  Tabellen- und Abbildungsverzeichnis..............................................388  Quellen- und Literaturverzeichnis....................................................391  Sachregister ..........................................................................................404

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Einleitung Im Bundestagswahlkampf 2017 nahm die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft auch vor dem Hintergrund der Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderung einen wesentlichen Raum ein. Über das Ausmaß einer propagierten, bestehenden Gerechtigkeitslücke und zur Frage, ob die Armut in Deutschland in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen habe, hat sich eine parteipolitisch übergreifende Auseinandersetzung entwickelt. Die hier vorliegende Arbeit ist auch aufgrund dieser aktuellen Kontroversen entstanden, wenngleich sie darüber hinausgehend einen Beitrag zur Erforschung des bundesdeutschen Sozialstaates bietet, der als ein grundlegendes Element unserer demokratischen Verfassungsordnung betrachtet wird. Die Untersuchung verfolgt demnach das zugegebenermaßen anspruchsvolle Ziel, eine empirisch-quantitative Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Wiedervereinigung bzw. seit der Jahrhundertwende zu liefern, um ein adäquates Urteil über den Sozialstaat zu ermöglichen, der im Übrigen als eine „kulturelle Errungenschaft“ Westeuropas (Franz-Xaver Kaufmann) „zu den größten Leistungen der europäischen Politischen Kultur im 20. Jahrhundert gehört“ (Hans-Ulrich Wehler). 1 Dieser zeitgeschichtliche Ansatz bietet im 1

Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 11. Kaufmann spricht auch von „der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung als historischen Megatrend der europäischen Modernisierung“ (ebenda, S. 25); Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008, S. 267. 9

Sinne einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte demnach eine „Problemgeschichte der Gegenwart“2 bzw. eine „Öffnung zu den Problemlagen unser Gegenwart“. Den Kern des deutschen Sozialstaates bilden die Sozialversicherung sowie weitere sozialpolitische Leistungen, womit zugleich betont wird, die Thematik der Armut fungiert nur als ein Teilaspekt. Es dominiert demzufolge die staatliche Sozialpolitik. Zentraler Gegenstand ist also vereinfacht formuliert der „output“, d.h. der „Sozialstaat in action“. Es stehen somit seine Adressaten, Leistungen, Reformen und Finanzen (Ausgaben und Einnahmen) vorrangig seit der Jahrhundertwende im Mittelpunkt. Der Schwerpunkt liegt auf einer quantitativen Bilanz quasi aus einer „Vogelperspektive“, so dass qualitative Veränderungen bzw. gegebenenfalls Innovationen in einzelnen Teilbereichen nur bedingt erfasst werden können. Neben der knappen, deskriptiven Skizzierung der wesentlichen Elemente und Leistungen des deutschen Sozialstaates wird im abschließenden Fazit die Frage aufgeworfen, ob dieser in der Phase nach dem Boom einen Abbau oder lediglich einen Umbau bzw. möglicherweise sogar einen Ausbau erlebte. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen erscheint es auch reizvoll, zumindest punktuell zu prüfen, inwieweit der Entwicklungsverlauf des deutschen Sozialstaates mit bestehenden politischen Konstellationen korrespondiert, will sagen, welche Regierungen und politische Mehrheiten etwaige Änderungen oder – positiver formuliert – Innovationen implementierten. Zwar ist dem Verfasser der Arbeit bewusst, dass im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, die Alterssicherung oder die Einkommens- und Vermö-

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Vgl. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 9; ebenda, S. 12 (das folgende Zitat). 10

gensverteilung auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung noch erhebliche Divergenzen zwischen den sog. neuen Bundesländern und der alten Bundesrepublik bestehen, dennoch bleibt das hier anvisierte Ziel ein Gesamtüberblick über Deutschland. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einem knappen historischen Abriss zum deutschen Sozialstaat seit 1949 gehen wir kurz auf dessen Begrifflichkeit und wesentliche Strukturprinzipien ein. Anschließend soll ein Überblick über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland den Rahmen des deutschen Sozialstaates umreißen. Im Hauptteil beschäftigen wir uns im Einzelnen mit den wesentlichen Zweigen des bundesdeutschen Sozialstaates, also seine Adressaten, Leistungen und die finanziellen Aspekte. Dieser Hauptteil schließt mit einem Überblick zum gesamten Sozialbudget ab. Ein umfangreiches Schlusskapitel fasst die Ergebnisse des Hauptteils zusammen und diskutiert die erkenntnisleitende Frage, inwieweit von einem Abbau oder Umbau des deutschen Sozialstaats in einer erweiterten zeitlichen Perspektive „nach dem Boom“ tatsächlich gesprochen werden kann. Quellengrundlage der Untersuchung bilden die Sozialberichte der Bundesregierung, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahre 1969 mit der Vorlage des ersten Sozialbudgets begannen und ein Jahr später um einen Berichtsteil erweitert wurden, in dem die Bundesregierung ihre sozialpolitischen Ziele und die „übergreifenden Zusammenhänge zu anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik aufzeigt“3. Dieser neue Sozialbericht – bis dahin als Sozialbudget bezeichnet – ersetzte den bisherigen Rentenbericht, der bis dato als Sozialbericht bezeichnet worden war und seitdem als Rentenanpassungsbericht bzw. heute als Rentenversicherungsbericht erscheint und über die Finanzen der Rentenversicherung informiert. Die neue Sozial3

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2013, Bonn 2013, S. 2 (zukünftig: Sozialbericht …). 11

berichterstattung erfolgte zunächst bis 1975 im jährlichen Rhythmus, ab 1976 alle zwei Jahre, ab 1986 alle drei Jahre, ab 1990 alle vier Jahre, für die Jahre 1993 und 2005 wurde wieder eine dreijährige Erscheinung praktiziert im Sinne einer möglichst zeitnahen Berichterstattung über die Ausweitung der sozialen Sicherungssysteme auf die neuen Bundesländer bzw. 2005 wegen der Verkürzung der 15. Legislaturperiode des Bundestags. Die Sozialberichte bestehen aus zwei Teilen: Teil A bringt einen umfassenden Überblick über die Maßnahmen der Gesellschafts- und Sozialpolitik, während der Teil B das Sozialbudget beinhaltet, in dem die Bundesregierung über den Umfang, die Struktur und den Entwicklungsverlauf der Einnahmen und Ausgaben informiert. Das Sozialbudget erscheint im Übrigen seit 1995 jeweils als Tabellenband in dem Jahr, in dem kein Sozialbericht veröffentlicht wird. Ergänzend wurden einige seit 1985 publizierten Datenreporte des Statistischen Bundesamtes sowie punktuell andere Quellen wie Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit oder die Teilhabeberichte über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen herangezogen. Als Adressaten des Buches sind zunächst alle am Sozialstaat Interessierten angesprochen, sei es im Rahmen eines Studiums, wobei hier zunächst an die Studienangebote in den verschiedenen sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Berufen zu denken ist oder wenn sie sich bereits in einer beruflichen Tätigkeit befinden. Hinweis: Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, wird im Folgenden sprachlich nicht zwischen männlicher und weiblicher Form unterschieden.

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I. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949 Dieses Kapitel bringt einen historischen Überblick über die Entwicklung des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland von ihrer Gründung 1949 bis zur Wiedervereinigung bzw. zur zweiten Großen Koalition Merkel. Für die 40jährige Geschichte der Bundesrepublik bis 1989 wurde konstatiert, es sei die „größte Expansionsperiode des Wohlfahrtsstaats in der deutschen Geschichte“4 gewesen. Im Zuge der Wiedervereinigung seit 1990 wurde das System des westdeutschen Sozialstaates nahezu identisch auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgedehnt.5 4

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Hans Günter Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 139f.; zum Folgenden auch Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart/ München 2003, S. 169-190; Lutz Leisering, Der deutsche Sozialstaat, in: Thomas Ellwein / Everhard Holtmann (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 182ff. Vgl. zur Entwicklung der Sozialpolitik in der DDR Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: ders., Der 13

Die 1949 neu gegründete Bundesrepublik war sozialpolitisch mit großen Herausforderungen wie den Kriegszerstörungen, der Wohnungsnot oder der Bewältigung des Flüchtlingszustroms konfrontiert: 7,9 Mio. Flüchtlinge aus dem Osten und 1,5 Mio. Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR strömten in die westlichen Zonen bis 1950 ein, dazu kamen noch 4,1 Mio. Kriegsopfer wie Invaliden, Witwen und Waisen, Opfer des NS-Systems, Evakuierte, Displaced Persons und 3,4 Mio. Kriegssachbeschädigte. Diese enormen Belastungen müssen vor dem Hintergrund der „katastrophalen Wohnungsnot“ und eines Systems der sozialen Sicherheit gesehen werden, das schwere Defizite in den Anfangsjahren wie vor allem eine verbreitete Rentnerarmut aufwies. Für die ersten Jahre der Bundesrepublik wird vielfach von einer Gründungskrise gesprochen, die durch Kriegs- und Diktaturfolgen, Mängel in der sozialen Sicherung und politischen Spannungen zwischen einem sozialdemokratischen Block und der konservativ-liberalen Bundesregierung gekennzeichnet war.6

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deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 224-248. Da das westdeutsche System der sozialen Sicherung bzw. der Sozialpolitik nahezu identisch auch im wiedervereinigten Deutschland bestehen blieb, wird auf die Entwicklungsgeschichte der Sozialpolitik in der DDR verzichtet. Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 23f. und S. 23-42 (zum Folgenden); Manfred G. Schmidt, Der Deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 38f.; vgl. zu den Phasen des bundesdeutschen Sozialstaats auch Lutz Leisering, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialmodells, in: Hans-Peter Schwarz (Koord.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 427ff. 14

„Im Anfang war Bismarck.“7 Die Sozialpolitik der neuen Bundesrepublik Deutschland basierte auf dem Fundament des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom damaligen Reichskanzler Bismarck geschaffenen Systems der sozialen Sicherung. Ordnungspolitisch hat die katholische Soziallehre mit dem zentralen Leitbegriff der Solidarität die Entwicklung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt. In der von 1949 bis 1966 „währenden heroischen ersten Phase ihrer Sozialpolitik“8 gelang der Bundesrepublik die Bewältigung der großen Kriegsfolgen, d.h. der krassen Not der ersten Nachkriegszeit, die Integration der Benachteiligten und die Entschädigung der enormen Verluste. Dass hierbei ein rapides Wirtschaftswachstum als eine wesentliche Erfolgsbedingung fungierte, sei nur kurz angemerkt. Zunächst sollte das 1950 verabschiedete Bundesversorgungsgesetz Entschädigung und Hilfe für die Kriegsopfer bringen. Des Weiteren wurden bis 1956 mittels eines umfangreichen Wohnungsbauprogrammes zwei Mio. Sozialwohnungen errichtet und die Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer gestartet. Aber die „mit Abstand imponierendste Leistung“ bildete seit 1952 der Lastenausgleich zur Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft. Der Lastenausgleich erfolgte durch eine auf dem Sachvermögen basierende Abgabe, die über 30 Jahre gestreckt wurde und das Produktivvermögen nicht beeinträchtigte. Insgesamt wurden hier 140 Mrd. Mark umverteilt. Vertriebene, Flüchtlinge, Spätaussiedler, DDR-Flüchtlinge, Kriegssachbeschädigte usw. wurden entschädigt. Auch das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gehörte zur Bewältigung der

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Andreas Meusch, Sozialpolitik, in: Werner Weidenfeld / Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1999, S. 695 und ebenda, S. 698f. (zum Folgenden). Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 258 und S. 259 (das folgende Zitat); zum Folgenden auch ders., Gesellschaftsgeschichte, S. 257-267. 15

Kriegsfolgen. „Entschädigung, Wiedergutmachung und Wiederaufbau“9 waren die Charakteristika des expansiven westdeutschen Sozialstaats in den 1950er Jahren gewesen. Auf dem Gebiet der Sozialversicherung herrschte letztendlich Kontinuität, wenngleich die Alliierten zunächst durchaus Reformwillen in Richtung eines Systemwechsels zeigten. Infolge des Scheiterns der Viermächteverwaltung über Deutschland 1948 entschieden die drei westlichen Besatzungsmächte, dass die Deutschen selbst ihre Sozialversicherung neu ordnen sollten: „Die Neuordnung der Sozialversicherung obliegt den deutschen gesetzgebenden Körperschaften. Bis zu einer solchen Neuordnung sind die Versicherungsleistungen zu demselben Nennbetrag in Deutscher Mark zu bewirken, wie sie bisher in Reichsmark zu bewirken waren.“10 Das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik Deutschland hatte die Richtung der deutschen Sozialordnung basierend auf der Vorgabe des Artikels 20 noch „offen gelassen“. Der damals viel diskutierte Beveridge-Plan aus Großbritannien, der einen völligen Umbau des Systems der sozialen Sicherung unter Einbeziehung aller Bürger und einen steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst sowie eine allgemeine Grundsicherung durch einen gemeinsamen staatlichen Versicherungsträger anvisierte, wurde nicht weiter verfolgt. Eine an Überlegungen aus der Weimarer Republik orientierte Einheitsversicherung in Gestalt einer allgemeinen Staatsbürgergrundrente aus Steuermitteln anstelle der Beitragsfinanzierung, wie von SPD und Gewerkschaften zunächst angestrebt, fand in den Westzonen bzw. in der frühen Bundesrepublik demzufolge keine

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Metzler, Sozialstaat, S. 175. Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens, Teil II, 4. Abschnitt, § 23 (Gesetz No. 63 vom 27. Juni 1948) zit. nach Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 194 und ebenda, S. 191 (das folgende Zitat). 16

Mehrheit.11 Somit wird mit großer Berechtigung die „Restauration der Sozialversicherung als das „entscheidende Paradigma der sozialen Sicherung“12 in Deutschland hervorgehoben. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 verfolgte die neue Regierung Adenauer das Ziel, die traditionelle deutsche Sozialversicherung entschlossen zu verteidigen. Bereits 1951 wurde die aus der Weimarer Republik stammende Selbstverwaltung in der Sozialversicherung mit paritätischer Besetzung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter wieder eingeführt und ein Jahr später ebenfalls anlehnend an den Vorgänger aus der Weimarer Republik die Bundesanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet. Die Trennung von Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde beibehalten. Neben diesen Elementen der Kontinuität fanden sich neue Akzente wie die 1953 ins Leben gerufene Sozialgerichtsbarkeit. Beseitigt wurden völkisch-biologistische Konzepte aus der NS-Zeit im Bereich der öffentlichen Fürsorge. Auch das System der Arbeitsbeziehungen wurde weitgehend restauriert: Noch vor der Gründung der Bundesrepublik beschloss der Wirtschaftsrat der Bizone 1948 das Tarifvertragsgesetz. Die Tarifautonomie wurde schließlich im neuen Grundgesetz verankert. Die in Weimar so umstrittene Zwangsschlichtung bei Arbeitskämpfen blieb außen vor. 1952 folgte das Betriebsverfassungsgesetz mit begrenzten Rechten ähnlich dem Gesetz von 1920 aus der Weimarer Republik und ein Jahr zuvor war die Montanmitbestimmung mit starken Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer beschlossen worden.

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Vgl. zur Rezeption des Beveridge-Plans in der deutschen Nachkriegszeit Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition: Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 43-70. Meusch, Sozialpolitik, S. 696. 17

Eines der drängendsten Probleme in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik war die weit verbreitete Altersarmut und noch Mitte der fünfziger Jahre galten die Sozialrenten als die „Achillesferse der sozialen Marktwirtschaft“13. Die Einführung der dynamischen Rente 1957, also die automatische Anpassung der Renten an die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung, behob diese unbefriedigende Situation nachhaltig.14 Erst die dynamische Rente ermöglichte eine Existenzsicherung mit Erhalt des Lebensstandards durch Anbindung an die allgemeine Lohnentwicklung. Die Rentenreform von 1957 war wahrscheinlich das „populärste Gesetz, das je in der alten Bundesrepublik“15 verabschiedet worden ist bzw. das „wichtigste Gesetz zum Ausbau der Sozialversicherung in der Bundesrepublik“16. Diese „Richtungsentscheidung“17 von 1957 stellte eine „Epochenzäsur“ dar, die die gesetzliche Rentenversicherung auf neue Grundlagen stellte. Sie verwandelte die Rente zu einer „Lohnersatzfunktion“ mit dem Ziel der Absicherung des Lebensstandards und verwies auf die „individuelle Lebensarbeitsleistung“. Nunmehr verlor die Rente ihren ärmlichen Charakter als bloßes Existenzminimum. Die laufenden Renten wurden gleichzeitig einmalig um durchschnittlich 65 % angehoben! Das seit Bismarck gültige Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung hatte nicht mehr den Ansprüchen einer dynamischen Wirtschaft mit erheblichen Lohn- und Preissteigerungen genügt.

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Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 195; ebenda, S. 195ff. (zum Folgenden); Schmidt, Sozialstaat, S. 39f. Vgl. Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte: Die Rentenreform 1957, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 71-85. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 262. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 19912, S. 159. Hockerts, Einleitung, S. 12 und ders., Rente, S. 71 (der folgende Begriff). 18

Als neuer Leitbegriff fungierte aufgrund des Umbaus des Finanzierungsverfahrens der sog. Generationenvertrag: Das bis dahin geltende Kapitaldeckungsverfahren wurde aufgegeben und ein Umlageverfahren eingeführt, d.h. die Beitragszahler bauten keinen Kapitalstock mehr auf, sondern sie finanzierten die Renten der aktuellen Rentengeneration. Dabei vertrauen sie darauf, dass die nächste Generation ebenfalls ihre Renten finanziert. Letztlich setzte sich Adenauer gegen den Willen des Wirtschaftsministers Erhard und den eher fürsorgerechtlich orientierten Vorstellungen des Finanzministers Schäffer sowie den Arbeitgeberverbänden durch, die sich gegen eine automatische Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung wandten. Insbesondere die Spitzenverbände der Wirtschaft befürchteten aufgrund der Dynamisierung eine lohnpolitische Interessengemeinschaft zwischen den Rentnern und den Arbeitnehmern und eine Verschiebung des tarifpolitischen Gleichgewichts. Die Rentenreform 1957 war aber auch durch massiven Druck der SPD zustande gekommen, dennoch errang die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1957 wohl wegen dieser Reform einen großen Sieg. Die Rentenreform von 1957 beendete endgültig die sozialdemokratischen Präferenzen für eine am britisch-skandinavischen Vorbild angelehnte einheitliche staatsfinanzierte Grundrente für alle Staatsbürger einschließlich eines staatsfinanzierten Gesundheitssystems. Vor allem aus heutiger Perspektive ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Reform von 1957 berufstätige Hausfrauen und Mütter nicht einbezog. Nach Thomas Ebert bildete im Übrigen parteipolitisch die „Reform von 1957 den Anfang einer über Jahrzehnte wirksamen informellen großen Koalition von Union und SPD in der Rentenpolitik“18, ungeachtet von tiefen Meinungsverschiedenheiten in anderen Politikfeldern.

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Thomas Ebert, Die Zukunft des Generationenvertrags, Bonn 2018, S. 46. 19

Der weitere Ausbau des westdeutschen Sozialstaats betraf die bisherige Fürsorge, denn das 1961 beschlossene Bundessozialhilfegesetz beinhaltete einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Unterstützung zu einem „menschenwürdigen Dasein“. 1961/64 folgten Verbesserungen beim 1954 wieder eingeführten Kindergeld und 1963 wurde das Wohngeld installiert. Die Jahre von 1966 bis 1974 werden gemeinhin als große Reformära eingestuft.19 Bereits die Große Koalition von 1966 bis 1969 hatte sozialpolitisch aktiver agiert: Die Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde finanzpolitisch verschmolzen, 1969 regelte das Berufsbildungsgesetz die Bundeszuständigkeit in diesem Feld und das im gleichen Jahr verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz (AfG) strebte u.a. eine aktive Arbeitsmarktpolitik an. Die Kanzlerschaft Willy Brandts (1969-1974) brachte die „Phase der größten Beschleunigung der Sozialstaatsexpansion in der Geschichte der Bonner Republik“20 und die Sozialleistungsquote stieg um rund sechs Prozent an. Parteipolitisch gilt im Übrigen der Befund, dass vielfach die großen Parteien gemeinsam die Vorhaben verabschiedeten, so dass die „Sozialstaatsgeschichte der Jahre 1966 bis 1974 daher als Konsensgeschichte“21 darstellbar ist. Im Hinblick auf den ausgebauten deutschen Sozialstaat ist die deutsche Besonderheit zu bedenken, dass es im Unterschied zu den USA und Großbritannien mit der CDU/CSU und der SPD zwei große „Sozialstaatsparteien“22 gibt. Ein markantes Beispiel für die problematische Parteienkonkurrenz in der Sozialpolitik war die Rentenreform von 1972. Diese Rentenre-

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Vgl. Hans Günter Hockerts, Im Zenit der staatlichen Wohlfahrtsproduktion: Die Reformära 1966-1974, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 181-201. Hockerts, Einleitung, S. 13. Hockerts, Zenit, S. 185. Schmidt, Sozialstaat, S. 46. 20

form kam innerhalb einer besonderen politischen und ökonomischen Konstellation zustande: Zum einen bestand infolge der Ostpolitik der neuen sozialliberalen Koalition ein politisches Patt im Bundestag und der Wahlkampf für die vorgezogenen Bundestagswahlen hatte bereits eingesetzt. Zum anderen herrschte eine wirtschaftliche Boomphase vor, so dass man von einer anhaltenden Vollbeschäftigung und Überschüssen in der Rentenkasse ausging.23 Letztlich beschloss der Bundestag in einem von allen politischen Kräften – einschließlich der FDP, die die Rentenversicherung für freie Berufe und Fabrikanten öffnen wollte – betriebenen Überbietungswettbewerb eine große, kostenträchtige Rentenreform. Das allgemeine Leistungsniveau wurde vor allem auf Betreiben der Opposition erhöht, die die SPD „auf der sozialpolitischen Bahn links überholen“ wollte. Die SPD insistierte auf einer flexiblen Altersgrenze ab dem 63. Lebensjahr ohne Abschläge. Von der Erhöhung des Rentenniveaus profitierten rund 12 Mio. Rentner. Darüber hinaus wurde die gesetzliche Rentenversicherung auf Selbstständige, Hausfrauen, Landwirte und Studenten ausgeweitet. Zusammenfassend bestanden als die wichtigsten Pfeiler des deutschen Sozialmodells in den beiden Jahrzehnten nach Kriegsende das Tarifvertragsgesetz von 1949 mit der Tarifautonomie, das Kündigungsschutzgesetz von 1951, das Lohnfortzahlungsgesetz von 1969, die Montanmitbestimmung von 1951, das Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das Mitbestimmungsgesetz von 1976, die dynamische Rente 1957, das Kindergeldgesetz 1954, das Ehegattensplitting 1958, das Bundessozialhilfegesetz von 1961 mit Betonung von „Hilfe“ anstatt

23

Vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 150-180, S. 178 (das folgende Zitat). 21

von „Fürsorge“, das Arbeitsförderungsgesetz 1969 und generell das Verfassungsziel gleicher Lebensbedingungen.24 Die expansive Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaats von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre muss grundsätzlich vor dem Hintergrund einer außerordentlich dynamischen Wirtschaft gesehen werden, dem sog. Wirtschaftswunder, das die sozialpolitischen Fortschritte ermöglichte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs expandierte von 1950 bis 1975 der deutsche Sozialstaat enorm, so stieg der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit von 19,2 % auf 33,9 %. Allein in der Phase von 1966 bis 1974 wuchs dieser Wert von 24,1 % auf 30,3 %, drei Viertel des Zuwachses fielen dabei in die Regierungszeit Brandt/Scheel! Die Epoche von 1966 bis 1974 wird auch als die „hohe Zeit der arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik“25 charakterisiert, denn die realisierten Reformen betrafen vielfach gewerkschaftliche Forderungen wie die Lohnfortzahlung, die flexible Altersgrenze, das Betriebsverfassungsgesetz oder den verbesserten Arbeitsschutz. Ein weniger positives Bild gab demgegenüber die Ausländerpolitik ab, denn die Integration der „Gastarbeiter“ verlief nur zaghaft. Lutz Leisering26 unterscheidet beim Ausbau des (west)deutschen Sozialstaates fünf Phasen, nämlich die Restauration (1949-1953), den Ausbau (1953-1975), die Konsolidierung (1975-1990), eine späte Expansion (1990-1995) und die Krise (ab 1995). Mitte der 1970er Jahre endete die Epoche der Expansion des Sozialstaates nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Die erste Ölkrise 1973 und eine

24

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Vgl. auch Gerhard Bosch, Das deutsche Sozialmodell in der Krise. Die Entwicklung vom inklusiven zum exklusiven Bismarck`schen Sozialstaat (=IAQ-Forschung 2015/02), S. 6f. Hockerts, Zenit, S. 187. Leisering, Sozialstaat, S. 182f. 22

anschließende Rezession 1974/75 bildeten eine „Wendemarke“27 und den Beginn einer Politik der Konsolidierung und Kostendämpfung der Aufwendungen für Sozialpolitik. Als Fazit am Ende der Boomphase kann man in Bezug auf den deutschen Sozialstaat festhalten: Es blieb bei der „Vorherrschaft des Sozialversicherungsprinzips“, dessen Kern ein „System der Versicherung abhängiger Arbeit [bildete], das sich überwiegend durch bruttolohnbezogene Beiträge finanzierte und eine Familienkomponente aufwies, die vom Modell der Hausfrauenehe geprägt war“28. Die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 konnte Westdeutschland ungeachtet negativer Jahreswachstumsraten zwischen 1975 und 1982, einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Verdoppelung der Schuldenquote noch relativ glimpflich verkraften. Sozialpolitische Einschnitte fokussierten sich unter der seit 1974 amtierenden neuen Bundesregierung mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Ausgabenkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitslosenversicherung sowie später in der Rentenversicherung. Der Begriff „Krise“ tauchte seit den 1970er Jahren als Fixpunkt der sozialpolitischen Diskussion auf, wobei sich bereits strukturelle Krisenfaktoren abzeichneten.29 Ein demographischer Wandel, ein verändertes Selbstverständnis der Frauen gerade im gebärfähigen Alter oder die „Trans-

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Hockerts, Metamorphosen, S. 145 und Peter Starke, Krisen und Krisenbewältigung im deutschen Sozialstaat: Von der Ölkrise zur Finanzkrise von 2008 (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 02/2015), S. 13f. Nach Meusch, Sozialpolitik, S. 699, war der „wichtigste Bruch in der Sozialpolitik der Bundesrepublik“ kein Regierungswechsel, „sondern ist die Konsequenz des Ölpreisschocks des Jahres 1973“; Schmidt, Sozialstaat, S. 40f. Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 341. Dazu Metzler, Sozialstaat, S. 189f. 23

formation der Erwerbsgesellschaft“, die die menschliche Arbeitskraft zurückdrängte, seien hier nur kurz genannt. Ungeachtet des Endes der sozialstaatlichen Boomphase und des aufkommenden Krisendiskurses konnte von einem Stillstand in der Sozialpolitik nicht die Rede sein. 1976 begann die sukzessive Einführung des zusammenfassenden Sozialgesetzbuches, von dem bis zur Gegenwart zwölf Bücher erschienen sind. Das lange diskutierte Mitbestimmungsgesetz von 1976 war ein weiterer sozialpolitischer Baustein, wenngleich es die von den Gewerkschaften geforderte volle Parität in den Aufsichtsräten nicht verwirklichte. In den 1980er Jahren in der Ära Bundeskanzler Kohls erfolgte zwar ein gewisser Rückbau des Sozialstaates verbunden mit weiteren Kürzungen sowie mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt und mehr Selbstbeteiligung der Versicherten, dennoch gab es auch zukunftsweisende Neuerungen wie 1986 die Einführung des Erziehungsurlaubs. Die Frühverrentung mit ambivalenten Folgewirkungen wurde ebenfalls ermöglicht. In Reaktion auf den sozialen und demographischen Wandel kam es 1995 zur Einführung der Pflegeversicherung als der nunmehr fünften Säule der Sozialversicherung. Neu war deren Finanzierung, denn die Arbeitnehmer trugen durch Mehrarbeit infolge der Streichung eines bisher gesetzlichen Feiertags den Arbeitgeberbeitrag faktisch mit. Die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 brachte die nahezu vollständige Ausweitung des bundesrepublikanischen Sozialstaates auf das Gebiet der ehemaligen DDR durch den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990.30 In der Folgezeit belastete vor allem die Arbeitslosigkeit die sozialen Sicherungssysteme. Die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung wur30

Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 208ff. und ders., Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 117ff.; Metzler, Sozialstaat, S. 191ff.; Schmidt, Sozialstaat, S. 41. 24

den in Ostdeutschland anstelle der als Einheitsorganisation zusammengefassten Sozialversicherung neu und eigenständig eingerichtet: Im Gesundheitswesen wurde das bisherige kostenlose System in ein beitragsbasiertes Versicherungssystem mit zahlreichen Krankenkassen umgebaut, in der Rentenversicherung waren u.a. Transferzahlungen notwendig, um das niedrige ostdeutsche Niveau anzuheben. Weitere Transformationen betrafen die Arbeitsbeziehungen mit dem Aufbau echter Gewerkschaften und dem Tarifwesen. Blickt man auf die Kosten der deutschen Vereinigung, verlief die „Wiedervereinigung im Sozialversicherungsmodus“31, d.h. sie wurde vorrangig durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Zur Abfederung der enormen Begleiterscheinungen des fast vollständigen Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft übernahm der Sozialstaat „hier eine Schlüsselrolle“32. Zum Krisenmanagement in Ostdeutschland zählten die Ausweitung der Frühverrentung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik vor allem mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Finanzierung der Wiedervereinigungskosten vor allem durch die Sozialversicherung wird heftig kritisiert, so sei es nach Gerhard A. Ritter „widersinnig, dass ein erheblicher Teil der deutschen Einheit auf die Solidargemeinschaften der Arbeitslosen-, der Renten- und seit Ende der 1990er Jahre auch der Krankenversicherung verlagert wurde“33. Letztlich habe die 31

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Frank Nullmeier, Die Sozialstaatsentwicklung im vereinten Deutschland. Sozialpolitik der Jahre 1990 bis 2014, in: Peter Masuch / Wolfgang Spellbrink / Ulrich Becker/ Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 183. Starke, Krisen, S. 15. Gerhard A. Ritter, Gesamtbetrachtung, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11: 1989-1994. Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Bandherausgeber: Gerhard A. Ritter, Baden-Baden 2007, S. 1110; ebenda (auch die folgenden Zitate). 25

Sozialversicherung diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernommen. Eine Folge dieser „verfehlten Finanzierung“ war die Erhöhung der Lohnkosten und eine „überproportionale Belastung der Unterschichten“. Infolge der Bewältigung der Einigungslasten stieg die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik innerhalb weniger Jahre auf über 26 %. Die Übernahme des bundesrepublikanischen Sozialversicherungssystems auf die neuen Bundesländer erforderte enorme Transferleistungen, die sich allein in den Jahren von 1991 bis 1994 auf rund 240 Mrd. DM beliefen.34 Allein um die Zahlungsfähigkeit der Rentenund Arbeitslosenversicherung im Jahr 1993 beispielsweise zu sichern, waren insgesamt 50 Mrd. DM als Transfer erforderlich, was rund drei Prozent Beitragspunkte in der Sozialversicherung entsprach. Nach dem Ende des Vereinigungsbooms 1993 betrieb die Regierung Kohl wieder eine nachhaltigere Kürzungspolitik in der Sozialpolitik (z.B. in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bei der Arbeitslosenhilfe oder bei Leistungen für Asylbewerber). In den 1990er Jahren intensivierten sich die Reformdebatten vor dem Hintergrund eines immer mehr sich abzeichnenden demographischen Wandels und einer zunehmend global verflechtenden wirtschaftlichen Entwicklung. Die Krise des deutschen Systems der sozialen Sicherheit in den 1990er Jahren war durch die Wiedervereinigungskosten mitgeprägt, diese bildeten aber nicht die ausschlaggebende Rolle.35 Vielmehr handelte es sich um strukturelle Ursachen, die die Arbeitsgesellschaft betrafen, d.h. einen wachsenden Grundbestand an Arbeitslosen, insbesondere Dauerarbeitslosen, die Alterung der Industriegesellschaften mit ihren Folgen für die Alterssicherung und das Gesundheitswesen

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Vgl. Ritter, Soziale Frage, S. 128. Vgl. Ritter, Soziale Frage, S. 132ff.; ders., Probleme und Tendenzen des Sozialstaates in den 1990er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 396ff. und ebenda, S. 397 (das folgende Zitat). 26

bzw. die Pflege, die Veränderung der Familienstrukturen bzw. der Lebensformen und des Rollenverständnisses der Frauen. Festzuhalten ist, die „wohl schwerwiegendste Herausforderung ist die Krise der Arbeitsgesellschaft“ mit ihren Auswirkungen auf das System der sozialen Sicherheit wie es in Deutschland bestand. Ein „Dauerbrenner“ in diesem Krisendiskurs waren die zahlreichen Gesundheitsreformen seit den späten 1970er und den 1980er Jahren mit den Versuchen, die Effizienz im System zu steigern, die Kostenexplosionen zu bremsen und zu einer Beitragssatzstabilität zu gelangen.36 Es seien hier nur stichpunktartig genannt das Gesundheits-Reformgesetz 1989 mit u.a. mehr Zuzahlungen, Abbau von Überversorgungen, das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 u.a. mit Begrenzung der Arztzahlen und einer Ausgabenbudgetierung, das GKV-GesundheitReformgesetz von 2000 und das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004, das Einschnitte im Leistungskatalog beinhaltete und das GKVWettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 mit dem neuen Gesundheitsfonds, der Beitragsfestsetzung durch die Bundesregierung, der Einführung des Zusatzbeitrags nur für die Versicherten usw. Letztendlich handelte es sich hier durch das Abweichen von der bislang paritätischen Beitragsfinanzierung um eine partielle Abkehr vom bisherigen Sozialstaatsmodell, das auf der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer basierte. Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten 30 Jahren aber insgesamt stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Letztlich scheiterten diese Ansätze im Gesundheitswesen, ungeachtet punktueller und kurzfristiger Einsparungen, wegen vielfältiger „Bremsfaktoren“ aus den Reihen involvierter Gruppen wie der Ärzteschaft, Pharmain-

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Vgl. dazu ausführlich die jeweiligen Gesetzesvorhaben bei Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Übersicht über das Sozialrecht 2015/2016, Nürnberg 201512, S. 152ff. und unten den Abschnitt zur Krankenversicherung. 27

dustrie, Krankenhäuser, Länder und Kommunen. Inwieweit eine Kostendämpfung im Gesundheitswesen angesichts des medizinischtechnischen Fortschritts und einer alternden Gesellschaft überhaupt eine realistische Zielvorgabe darstellt, sei hier nur angedeutet. Große, bis in unsere unmittelbare Gegenwart umstrittene Reformen, auf die im Hauptteil der vorliegenden Arbeit ausführlicher einzugehen sein wird, nahm die Bundesregierung unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (1998-2005) in Angriff, wobei man durchaus zwischen den beiden Legislaturperioden unterscheiden muss.37 In der ersten Regierung Schröder sei es keinesfalls zu einer neoliberalen Umgründung der Sozialpolitik gekommen, sondern, so Manfred G. Schmidt, eher treffe die These vom Reformstau bzw. von „Nichtentscheidungen“ (z.B. in der Frage des Renteneintrittsalters) zu. Die neue Regierung habe zunächst sozialpolitische Entscheidungen der Vorgängerregierung weitgehend aufgehoben. Aber die rot-grüne Sozialpolitik „schillert in vielen Farben“, d.h. sie ist nicht nur durch Kontinuität, „sondern auch durch Diskontinuität – Pfadabweichungen‚“38 unter dem Signum des „aktivierenden Sozialstaates“ gekennzeichnet. So wich die kapitalfinanzierte sog. Riesterrente im Rahmen der Alterssicherung vom paritätisch finanzierten System der Sozialversicherung ab. Durch diese „grundlegende Sozi-

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Vgl. für die erste Regierung Schröder knapp Manfred G. Schmidt, Rotgrüne Sozialpolitik (1998-2002), in: Christoph Egle / Tobias Ostheim / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt 1998-2002, Wiesbaden 2003, S. 235-258 und zur zweiten Regierung Schröder, ders., Die Sozialpolitik der zweiten rot-grünen Koalition (2002-2005), in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes (20022005), Wiesbaden 2007, S. 295-312. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 20053, S. 116 und ders., Sozialstaat, S. 42 28

alstaatsreform“39 der Regierung Schröder sei eine „Neujustierung des Sozialstaates in Gang gekommen“40, wobei die Alterssicherung und die Arbeitsmarktreformen, die sog. Hartzreformen41, also die vier „Gesetze über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz I-IV), die zentralen Felder bildeten. Hartz I und II sollten die Arbeitsvermittlung und Eingliederung von Erwerbslosen durch u.a. Personalservice-Agenturen, Bildungsgutscheine, Ich-AGs, Mini und Midi-Jobs reformieren. Hartz III beinhaltete die grundsätzliche Neuorganisation und Umbenennung der bisherigen Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit mit den Agenturen für Arbeit anstelle der bisherigen Arbeitsämter. Hartz IV brachte die Einführung einer einheitlichen, niedrigeren, mit Bedürftigkeitsprüfung verbundenen Grundsicherung durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und das neue Arbeitslosengeld II sowie u.a. sog. Ein-Euro-Jobs. Als zentrale Leitlinie der Reformen fungierte ein „Fördern und Fordern“, was mehr Druck auf Erwerbslose zur Aufnahme einer Arbeit beinhaltete, den Berufsschutz bei anhaltender Arbeitslosigkeit erheblich minderte, den Einsatz von Vermögen bis auf kleine Freibeträge verlangte und einen wachsenden Niedriglohnbereich und Minijobs anvisierte. Damit war für ältere Arbeitnehmer im Falle einer Arbeitslosigkeit die Gefahr verbunden, erhebliche Einschnitte hinnehmen zu müssen, so wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I je nach Lebensalter von

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40 41

Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 183. Der Autor grenzt diese Reformphase auf die Jahre 2000 bis 2007 ein. Hockerts, Einleitung, S. 16. Vgl. dazu auch Lothar F. Neumann/Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 20085, S. 148-152; Josef Schmid, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – große Reform mit kleiner Wirkung?, in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rotgrünen Projektes (2002-2005), Wiesbaden 2007, S. 271-294. 29

bisher maximal 32 Monaten auf nunmehr höchstens 18 Monaten verkürzt. Der andere Baustein der rot-grünen Reformen betraf die Alterssicherung, nämlich zum einen die sog. Riesterrente (2001) als private und staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge und das Nachhaltigkeitsgesetz (2004), das nunmehr das Verhältnis der Rentner zur Anzahl der Beitragszahler in Rechnung stellte.42 Damit wurde zumindest partiell von der 1957 eingeführten Rentendynamisierung und dem Prinzip der Lebensstandardsicherung abgewichen. Zielvorgabe war nunmehr die Beitragsstabilität. Das Rentenniveau wurde abgesenkt und zu dessen Kompensation die private Altersvorsorge in Form der kapitalbasierten, jedoch freiwilligen Riesterrente implementiert. Diese auch aufgrund massiver Lobbyarbeit der Finanzindustrie zustande gekommene private Altersvorsorge stellte „eine tiefgreifende Zäsur in der Sozialstaatsgeschichte der Bundesrepublik“ dar. Als wesentliches Argument für diese Reform in der Alterssicherung fungierte der demographische Faktor, zum einen gekennzeichnet durch einen massiven Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1975, der bis in die Gegenwart anhält und zum anderen durch eine gleichzeitig älter werdende Bevölkerung. Damit eng verbunden begannen Diskussionen über die Möglichkeit, durch Kapitalbildungen das bisher ausschließliche Finanzierungssystem des Umlageverfahrens zu ergänzen. 2007 schließlich beschloss die Große Koalition die

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Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente. Über den Einzug der Demographie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 294-324, S. 295 (das folgende Zitat). Eingehender zur sog. Riesterrente unten im zusammenfassenden Fazit. 30

schrittweise Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029.43 Die Alterssicherung war im Übrigen bereits während der Kanzlerschaft Helmut Kohls in den 1990er Jahren ein Reformbereich gewesen. Eine 1992 in Kraft getretene Rentenreform berücksichtigte erstmals demographische Gesichtspunkte und stellte – um einen deutlichen Beitragsanstieg in der Zukunft zu vermeiden – die Rentenanpassung von der Bruttolohn- zur Nettolohnorientierung um. Des Weiteren hob man schrittweise die Altersgrenzen an. Letzteres hatte Abschläge zur Folge bei vorzeitigem Renteneintritt, aber noch galt das Prinzip der Rente als Lebensstandardsicherung. Die Rentenreformdiskussion ist neben der demographischen Entwicklung auf die in den 1990er Jahren sich verstärkende Lohnnebenkostenfrage vor dem Hintergrund einer intensiveren Standortdebatte im Kontext der sich beschleunigenden Globalisierung zu verankern. Die im Herbst 2008 ausgebrochene Finanzkrise erfasste auch die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig, 2009 kam es mit einem Minuswachstum von fünf Prozent zum schwersten Einbruch seit 1945.44 Zur Bekämpfung der Krise verabschiedete die Bundesregierung jeweils unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel vier sog. Konjunkturpakete und ein Sparpaket, wobei hier nur die sozialpolitischen Implikationen interessieren.45 Die Pakete beinhalteten Beitragssen43

44 45

Nach Manfred G. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005-2009), in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S. 311 war der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering der „eigentliche Motor“ der Rente mit 67, da er in ihr ein wesentliches Element der von ihm nachhaltig unterstützten Agenda 2010 sah. Vgl. dazu Starke, Krisen, S. 16ff. Vgl. die informative Übersicht zu den deutschen Krisenmaßnahmen bei Starke, Krisen, S. 18 (Tabelle 3) und ebenda, S. 21f. (die beiden folgenden 31

kungen bei der Arbeitslosen- und Krankenversicherung, eine bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, Erhöhungen von Kindergeld und Kinderfreibeträgen, mehr Arbeitsvermittlerstellen bei der Bundesagentur für Arbeit und vor allem die Ausweitung der Kurzarbeit sowie die Erstattung von Arbeitgeberbeiträgen bei Kurzarbeit. Diese sozialpolitischen Maßnahmen standen somit „ganz im Zeichen der Kurzarbeit“, die zum „Flaggschiff der deutschen Krisenreaktion“ avancierte. Kurzarbeit verhinderte durch vorübergehende Produktionsanpassungen der Unternehmen das Auftreten von Massenentlassungen und erklärte den Erfolg der deutschen Beschäftigungspolitik in der großen Krise. Insgesamt gesehen nahmen die sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung dieser großen Krise einen hohen Stellenwert ein, denn gut die Hälfte der implementierten Bekämpfungsmaßnahmen betrafen in einem weiteren Sinn Sozialpolitik. Im Jahre 2010 allerdings wurde diese antizyklische Politik der Bundesregierung durch „das größte Ausgabenkürzungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ abrupt beendet. Es beinhaltete Subventionsabbau, Kürzungen bei der Bundeswehr, beim Elterngeld (komplette Streichung bei Langzeitarbeitslosen) und die Abschaffung des bis dahin gewährten Übergangsgeldes für Arbeitslose, die keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld I mehr besaßen. Die Sozialpolitik der ersten Regierung Merkel habe sich insgesamt „durch viel Kontinuität“46 ausgezeichnet und sei einerseits expansiv gewesen, z.B. beim

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Zitate); zur Bedeutung der Kurzarbeit im Kontext der Krise auch Frank Bandau und Kathrin Dümig, Verwaltung des deutschen „Beschäftigungswunders“. Die Arbeitsmarktpolitik der schwarz-gelben Koalition 2009-2013, in: Reimut Zohlnhöfer / Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009-2013, Wiesbaden 2015, S. 378f. Schmidt, Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005-2009), S. 303; ebenda, S. 302ff. zur Sozialpolitik der ersten Großen Koalition Merkel. 32

Elterngeld oder der Einführung weiterer Mindestlöhne47, andererseits sei sie Zwängen zum Kompromiss ausgesetzt gewesen (Gesundheitsfonds).48 Nachdem die erste Große Koalition mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel schon seit 2007 „moderate Korrekturen“49 der zum Teil einschneidenden Reformpolitik der vorausgegangenen Jahre in die Wege geleitet hatte, setzte die zweite Große Koalition Merkel seit 2013 einige sozialpolitische Erweiterungen durch. So bestand ab 2014 für eine bestimmte Altersgruppe die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren – einschließlich von Zeiten der Arbeitslosigkeit – mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Dieses Zugangsalter wurde entsprechend dem allgemeinen Renteneintrittsalter schrittweise auf 65 Jahre erhöht. Des

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Nach Schmidt, ebenda, S. 317 war die Sozialpolitik der ersten Regierung Merkel durch ein „flache[s] Reformprofil“ gekennzeichnet. Zur Frage der Mindestlöhne in der schwarz-gelben Koalition (20092013) bemerkt Manfred G. Schmidt: „Geradezu sensationell war ein weiterer schwarz-gelber Politikwechsel: die insgesamt zunehmende Akzeptanz von Mindestlöhnen in einer größeren Zahl von Branchen“ (ders., Die Sozialpolitik der CDU/CSU-FDP-Koalition von 2009 bis 2013, in: Reimut Zohlnhöfer / Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009-2013, Wiesbaden 2015, S. 407). Vgl. zur Sozialpolitik der zweiten Regierung Merkel Schmidt, Sozialpolitik 2009 bis 2013, S. 397-426. Zu beachten sei, dass die Sozialpolitik „ab Mitte 2010 im Schatten des Euro-Schuldenkrisenmanagements“ stand (ebenda, S. 412). Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 189; vgl. zur Arbeitsmarktpolitik der ersten Großen Koalition Merkel auch Kathrin Dümig, Ruhe nach und vor dem Sturm: Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Großen Koalition, in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S. 287, demzufolge „es in der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu keinem substantiellen Politikwechsel“ gekommen sei. 33

Weiteren wurde eine „Mütterrente“ eingeführt, die die Kindererziehung besser anerkennen sollte. Über die 1992 getroffenen Regelungen hinausgehend erhalten – in der Regel Mütter – für vor 1992 geborene Kinder einen zusätzlichen Entgeltpunkt in der Alterssicherung gutgeschrieben, was eine höhere Rente zur Folge hat. Schließlich kam es nach langen Debatten zur endgültigen Einführung eines staatlichen, flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns, wenngleich Minderjährige ohne Berufsausbildung bzw. Schüler, Auszubildende, Pflichtpraktikanten, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihres Wiedereinstiegs, Ehrenamtliche und Zeitungszusteller davon ausgenommen wurden. Weiterhin erfolgte eine Ausweitung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und familienpolitische Ergänzungen durch das Elterngeld plus sowie das umstrittene Betreuungsgeld. Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben in Deutschland geworfen, wobei die Epoche nach der Wiedervereinigung bzw. nach der Jahrhundertwende eine genauere Betrachtung unten im Abschnitt IV. 9 erfährt. Es werden dabei bis zum Ende der Regierungszeit Bundeskanzler Helmut Kohls, die den Anfang der hier interessierenden Epoche bildet, vier Phasen unterschieden:50 Für den Zeitraum von 1949 bis 1975 spricht man von einer Ausbauphase mit einer drastischen Steigerung der Sozialleistungsquote, die Jahre von 1975 bis 1990 werden als eine Phase der Konsolidierung mit einer steigenden Arbeitslosigkeit charakterisiert und von 1990 bis 1996 dominierte die deutsche Einheit mit der Übertragung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die neuen Bundesländer. Seit 1997 begann noch eine von der damaligen Regierung Kohl eingeleitete Rückkehr zur Konsolidierung. Die Abfederung des enormen wirtschaftlichen Umbruchs in der ehemaligen DDR war verantwortlich 50

Vgl. Meusch, Sozialpolitik, S. 702. 34

für die „erneute sprunghafte Zunahme des Sozialbudgets, d.h. der Gesamtausgaben für soziale Leistungen“51: War das Sozialbudget von 1950 bis 1977 von 16,8 Mrd. DM auf 400 Mrd. DM gestiegen – die Quote von 17,1 % auf 34,0 % –, nahm es bis 1990 auf 743 Mrd. DM (= 29,2 %) und bis 1995 gar auf 1179 Mrd. DM (= 34,1 %) zu. Resümierend zum Auf- und Ausbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland bis etwa in die 1970er Jahre rekapituliert Manfred G. Schmidt52 dessen Antriebskräfte: Zunächst ist die Ausgangssituation der Bewältigung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu beachten, dann das hohe Wirtschaftswachstum, das die Finanzierung des Sozialstaates nachhaltig erleichterte. Des Weiteren beförderte die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach sozialen Leistungen, die sich nicht nur in der Alterssicherung, sondern ebenfalls kostensteigernd in der Gesundheitsversorgung bemerkbar gemacht haben. Schließlich sei mit Nachdruck der Auf- und Ausbau durch politische Entscheidungen hervorzuheben und hierbei auf den Parteienwettbewerb um die Wählerstimmen bei den Wahlen zu verweisen, wobei grundsätzlich die Erlangung von Herrschaftslegitimität mittels Sozialpolitik eine wesentliche Rolle spielte. Auch einflussreiche Wirtschaftsverbände stellten eine Machtressource des Sozialstaates dar (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände). Ebenso fungierte als Antriebskraft das Politikerbe, d.h. es wurden Entscheidungen auf der Basis früherer Festlegungen getroffen, die sich prägend auswirkten. Damit ist der Komplex der Pfadabhängigkeit impliziert, denn vielfach dominierten herkömmliche Lösungen, wenngleich diese als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Über die weiteren Tendenzen und Entwicklungsrichtungen des deutschen Sozialstaats vor allem nach 2000 wird unten im Kapitel V ein ausführliches Fazit gezogen. 51 52

Ritter, Soziale Frage, S. 128. Vgl. Schmidt, Sozialstaat, S. 43ff. 35

II. Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates Die folgenden beiden Abschnitte wollen in knappen Zügen den Gegenstand „Sozialstaat“ in seiner Begrifflichkeit sowie seinen tragenden Grundprinzipien erfassen.

1. Zum Begriff des Sozialstaates Wir sprechen in dieser Arbeit vom Sozialstaat in Deutschland und verwenden nicht den vor allem im angelsächsischen Raum gebräuchlichen Terminus Wohlfahrtsstaat bzw. welfare state, der noch an die Wohlfahrtspflege aus der vordemokratischen Epoche des aufgeklärten Absolutismus erinnert.53 Demgegenüber wird hier betont, dass der moderne, voll ausgeprägte Sozialstaat „eine besondere Form der Massendemokratie“ ist, wenngleich einzelne Elemente des Sozialstaates durchaus in vordemokratischen Staaten und planwirtschaftlich organisierten Staaten, autoritären Staaten oder faschistischen Diktaturen zu finden sind. Sozialpolitik als Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erlebte immer wieder einen Definitionswechsel. Dies galt auch für Deutschland als Pionierland der Sozialpolitik, wo

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Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 331ff. und Ritter, Sozialstaat, S. 10ff., ebenda, S. 11 und S. 13 (die beiden folgenden Zitate). 36

seit Bismarcks Zeiten immer wieder Bezeichnungen auftauchten wie „Soziale Frage“, „Arbeiterfrage“ oder „Sozialstaat“. Letztlich ist der Begriff Sozialpolitik heute sehr umfassend angelegt, denn er beinhaltet neben staatlicher Sozialpolitik die Sektoren Markt, Verbände und Familien sowie andere Politikfelder wie z.B. Bildungspolitik oder regionale Wirtschaftsförderung oder Arbeitsbeziehungen. Der Begriff des Sozialstaates ist in Deutschland wohl auf Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, der die Bezeichnung „soziale Demokratie“ und den Terminus des „sozialen Staates“ verwendete. In der Weimarer Republik sprach man vom „Sozialstaat“ in einem positiveren Sinne. Der moderne Sozialstaat, der sich begrifflich nach 1945 im (west)deutschen Sprachgebrauch endgültig durchgesetzt hat, beinhaltet die „wesentlichen demokratischen Elemente der Gleichheit und Selbstbestimmung der Staatsbürger“. Der Terminus „Sozialstaat“ vermeidet Anklänge an eine paternalistische Wohlfahrt aus der Zeit des Absolutismus, die die bürgerliche Freiheit beschränkte. Schließlich ist die Dominanz des Begriffs „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch ein Resultat negativer Assoziationen des Begriffs „Wohlfahrt“, der an das wenig erfreuliche Schicksal der sog. Wohlfahrtserwerbslosen in der großen Krise in der Endphase der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre erinnerte. Ebenfalls spielte die Erinnerung an die völkisch ausgerichtete NS-„Volkswohlfahrt“ eine Rolle bei der Vermeidung des Wohlfahrtsbegriffes. Die Dominanz der Terminologie „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart ist darüber hinaus auch auf das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zurückzuführen. Schließlich beinhaltet „welfare state“ zumeist nicht das im deutschen Sozialstaat wichtige Arbeitsrecht, so dass der Begriff „Sozialstaat“ letztendlich eine spezifische deutsche Tradition verkörpert und hier vorrangig Verwendung findet.54 54

Nach Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 16f. habe sich erst in den 1970er Jahren der 37

Zu den Eigenarten des deutschen Sozialstaats zählt Franz-Xaver Kaufmann55 die Verbindung zwischen Staatlichkeit und Sozialstaat, denn historisch gesehen ist die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland auf staatspolitische Überlegungen zurückzuführen, d.h. die sozialpolitische Aufgabe konzentrierte sich auf die Befriedung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit. Des Weiteren ist in Deutschland im Unterschied etwa zu Schweden oder Großbritannien, wo man den Arbeitnehmerschutz als Angelegenheit der Tarifparteien betrachtet, das Arbeitsrecht Bestandteil sozialstaatlicher Regulierung. Ein weiteres deutsches Charakteristikum stellt die hohe Verrechtlichung der Sozialpolitik dar, die durch die spezifische Sozialgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt. Schließlich besteht das deutsche System der sozialen Sicherung aus vielfältigen und berufsgruppenspezifischen Komponenten, die ursprünglich nach einer Zuordnung als Angestellter oder Arbeiter differenziert waren. Entscheidendes Kriterium war die möglichst durchgehende Teilnahme am Produktionsprozess. Lutz Leisering56 unterscheidet einen Sozialstaat im engeren Sinn – die soziale Sicherung und das Arbeitsrecht – und einen Sozialstaat in einem weiteren Sinn – dazu zählend das Bildungswesen, die Wirtschafts- und Betriebsverfassung, die Arbeitsbeziehungen sowie die wachstums- und beschäftigungsbezogene Wirtschaftspolitik.

55

56

Begriff „Sozialstaat“ richtig verbreitet aufgrund des nachhaltigen Staatshandelns durch die sozialliberale Koalition und dem damit korrespondierenden Verständnis des Staates als Problemlöser. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialwissenschaften, Sozialpolitik und Sozialrecht, in: Peter Masuch / Wolfgang Spellbrink / Ulrich Becker/ Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 782ff. Vgl. Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 426; ähnlich auch ders., Sozialstaat, S. 182. 38

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich – im Rahmen der klassischen Staatstätigkeitsforschung – auf Sozialpolitik als Staatstätigkeit, wobei für Deutschland, wie oben Kaufmann bereits betonte, die „historischen Wurzeln staatlicher Sozialpolitik [liegen] in der ungelösten Arbeiterfrage“57 liegen. Damit steht im Fokus die staatliche soziale Sicherung gegen die Lebensrisiken basierend auf der Erwerbstätigkeit, also staatliche Programme und Leistungen. Entsprechend mittlerweile zahlreichen ländervergleichenden Forschungen, die dem staatszentrierten Ansatz zu zuordnen sind, wird in der vorliegenden Studie im Hauptteil in Anlehnung an Köppe/Starke/Leibfried58 auf drei zentrale Indikatoren zur Beschreibung und Analyse des deutschen Sozialstaates zurückgriffen: Erstens eine Analyse der Sozialausgaben des Staates, zweitens die Erfassung der anspruchsberechtigten Personen (Versicherte, Leistungsempfänger) und schließlich drittens der Inhalt und die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen, d.h. der Leistungen. Die genannten Autoren sprechen von dreifachen Entgrenzungen der Sozialpolitik, nämlich sektoraler, funktionaler und territorialer Art, und verwenden einen erweiterten Begriff von Sozialpolitik, um die Pluralität der Wohlfahrtsproduktion insgesamt zu erfassen. Denn neben dem Staat als den wichtigsten Produzenten agieren auch andere Akteure, Programme oder Angebote. Man spricht im Kontext der erweiterten Sozialpolitik von einem Wohlfahrtsmix, einem Wohlfahrtspluralismus oder einer Wohlfahrtsproduktion. Dabei wird zwischen den Sektoren Staat, Markt, Verbänden und Familien/Haushalten unterschieden, wobei sich die Sektoren verwischen. Unter einem erweiterten Begriff von Sozialpolitik subsumieren andere Forscher staatliche, fiskalische,

57

58

Stephan Köppe / Peter Starke / Stephan Leibfried, Sozialpolitik. Konzepte, Theorien und Wirkungen (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 06/2008), S. 7. Vgl. Köppe / Starke / Leibfried, Sozialpolitik, S. 9f. und ebenda, S. 12f. und S. 13f. (die folgenden Zitate). 39

marktförmige, freiwillige informelle und betriebliche Programme und betonen Privatisierungen und eine Vermarktlichung sozialpolitischer Aktivitäten. Man beschreibt sie als hybride Märkte mit sozialpolitischer Zielsetzung und bezeichnet sie als Wohlfahrtsmärkte (Beispiel: die Riesterrente). Neben dieser sektoralen Entgrenzung läuft parallel die funktionale Entgrenzung, durch die immer mehr Politikfelder ins Blickfeld der Sozialpolitik geraten, d.h. Mittelstandspolitik, Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzpolitik oder Umweltpolitik. Zwar sei die „Vermeidung sozialer Risiken und Kompensation von Marktungleichheiten [ist] weiterhin funktionaler Kern der Sozialpolitik, wird aber mittlerweile häufig weiter gefasst“. Zusammenfassend umgreift der Aufgabenbereich der Sozialpolitik verschiedene Politikbereiche und weist keinen funktionalen Kern mehr auf. Schließlich fungiert als dritte Entgrenzung die territoriale Ebene, wobei zunächst nur die nationale Ebene maßgeblich war. Nunmehr aber habe sich die territoriale Ebene zweifach entgrenzt, d.h. einerseits in Richtung einer Regionalisierung und andererseits in Richtung einer Internationalisierung, wenngleich weiterhin gilt, „der nationale Wohlfahrtsstaat bleibt aber der zentrale Bezugspunkt der Sozialpolitik“, da sich eine dem Nationalstaat vergleichbare europäische Sozialpolitik bisher nicht ausbilden konnte. Resümierend gesehen hat sich ausgehend vom eher engen Konzept des nationalen Wohlfahrtsstaates die Sozialpolitik auf sektoraler, funktionaler und territorialer Ebene dreifach entgrenzt. Aus heutiger Perspektive zählen zur Sozialpolitik alle Ebenen und Funktionen, wobei der Staat die sozialpolitische Koordinierung beibehält. Der Nationalstaat bleibt aber dessen ungeachtet die „mit Abstand wichtigste Quelle von Sozialpolitik“ und die nationale Gesetzgebung legt weiterhin die Grundregeln fest. Betrachtet man die Aufgaben des Sozialstaates, so zählt nicht nur die Sozialversicherung mit ihrer Schutzfunktion bei Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit als wichtigster sozialpolitischer 40

Gegenstand dazu, sondern auch Familienhilfe, Gesundheitsfürsorge und sozialer Wohnungsbau. Ein Kennzeichen des Sozialstaates sind „Versuche zum Ausgleich unterschiedlicher Startchancen des einzelnen durch ein staatliches Erziehungs- und Bildungswesen und die partielle Umverteilung von Einkommen durch das Steuersystem, ferner die Regulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen durch Maßnahmen des Schutzes für Arbeitnehmer“59. Die Arbeitsbeziehungen und die sie tragenden Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Sozial- bzw. Tarifpartner fungieren als unverzichtbare Bestandteile des Sozialstaates, der „Institutionen zur Konfliktlösung entwickelt [hat], die schon über Jahrzehnte erfolgreich den Interessenausgleich ermöglichen“60. Fassen wir den Begriff und Inhalt des Sozialstaates zusammen, so ist er „eine Antwort auf den steigenden Bedarf nach Regulierung der im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung immer komplizierter gewordenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die geringere Bedeutung der traditionellen Formen der Daseinsvorsorge vor allem in der Familie und auf die Zuspitzung von Klassengegensätzen“61. Der Sozialstaat versucht die „von dem umfassenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft betroffenen Menschen in ihrer sozialen Existenz zu sichern und an den Früchten der wachsenden Produktivität durch Hebung des allgemeinen Wohlstandes partizipieren zu lassen“62. Dies impliziert nicht die Aufhebung sozialer Ungleichheit, sondern nur deren Abmilderung.

59

60 61 62

Ritter, Sozialstaat, S. 16. In der vorliegenden Arbeit wird das Bildungswesen nicht weiter behandelt, um den vorgegebenen Rahmen nicht auszudehnen. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 13. Ritter, Sozialstaat, S. 20. Ritter, Soziale Frage, S. 5f. 41

Verfassungsrechtlich verankert und damit deutlich aufgewertet ist der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland in den Artikeln 20, Abs. 1 und Artikel 28, Abs. 1 des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 20, Abs. 1 ist die „Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Artikel 28, Abs. 1 spricht von den Grundsätzen eines „sozialen Rechtsstaates“. Allerdings geht das Grundgesetz inhaltlich nicht näher auf diese Staatszielbestimmung ein.63 Hans F. Zacher betont deshalb folgerichtig: „Der Sozialstaat ist etwas Offenes“64, seine tatsächliche Ausgestaltung sei nur vage im Grundgesetz verankert und letztendlich entscheidet die Politik über die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Im Unterschied zur Verfassung der Weimarer Republik finden sich im Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte: Das Recht der Koalitionsfreiheit in Art. 9, Abs. 3, das die Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sichert, die freie Arbeitsplatzwahl und Berufswahlfreiheit in Art. 12, Abs. 1, die Gewährleistung und Sozialbindung des Privateigentums in Art. 14.

63

64

Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 47 (mit Verweis auf die Debatten unter den Staatsrechtslehrern um das Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip, was hier nicht weiter zu verfolgen ist). Hans F. Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 56 und ausführlicher ebenda, S. 56ff. 42

2. Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates Grundsätzlich basiert das gesamte System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, auch gesellschaftliche Risikovorsorge genannt, auf dem Versicherungsprinzip, dem Versorgungsprinzip und dem Fürsorgeprinzip.65

Versicherungsprinzip: „Kernstück der Sozialen Sicherung in Deutschland ist die Sozialversicherung“ für die großen Lebensrisiken Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die auf Bismarck zurückführende obligatorische Sozialversicherung stieg zum „zentralen Element“ des sozialen Sicherungssystems auf. Eine staatlich organisierte Sozialversicherung erweist sich für diese nur bedingt kalkulierbaren Risiken im Vergleich zu einer privaten Versicherung als besser geeignet. Erstens können umfassende Solidargemeinschaften mit einer Umlagenfinanzierung große Belastungen, Katastrophen, Kriege eher bewältigen als kapitalansparende Sicherungssysteme, die durch Kriege oder Inflation leichter vernichtet werden. Vorteilhaft ist zweitens das Prinzip der Pflichtversicherung, da es den Menschen manchmal an einer ausreichenden privaten Vorsorge mangelt. Entscheidendes Kriterium für das Prinzip der Sozialversicherung ist aber drittens die Verknüpfung vom Versicherungsprinzip mit dem Solidarprinzip, wodurch eine Umverteilung der Belastungen erfolgt.

65

Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 157ff. und ebenda, S. 157 (das folgende Zitat). 43

Beispielhaft für den Gedanken des Solidarprinzips steht die gesetzliche Krankenversicherung, wo die jeweils gezahlten Beiträge nicht das mögliche Risiko widerspiegeln, denn der Kranke und der Gesunde zahlen bei gleichem Einkommen die gleiche Prämie. Es herrscht demzufolge kein Äquivalenzprinzip. Man kann drei Ausprägungen des Solidarprinzips festmachen:66 Erstens werden ungleiche Risiken mit gleichem Beitrag zusammengefasst, zweitens besteht eine „intertemporale Umverteilung“, d.h. mit Blick auf den Generationenvertrag in der Rentenversicherung bedeutet dies einen Leistungserhalt in der Lebensphase, wenn selber kein Beitrag mehr geleistet wird bzw. werden kann, und drittens werden die Lasten durch eine einkommensabhängige Beitragszahlung zugunsten der Schwächeren durch die Stärkeren zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze umverteilt. Letzteres ist vor allem in der Krankenversicherung ausgeprägt.

(b)

Versorgungsprinzip:

Das Versorgungssystem basiert demgegenüber auf Steuermitteln und die Begünstigten haben einen Rechtsanspruch auf Leistungen wie beispielsweise die Kriegsopferversorgung ohne vorherige Beitragsleistung.

(c)

Fürsorgeprinzip:

Das Fürsorgeprinzip hingegen verlangt eine Bedürftigkeitsprüfung vor einer Leistungsgewährung. Ein Anspruch auf Leistung besteht erst dann, wenn eigenes Vermögen und Einkommen sowie etwaige Unterhaltspflichten von Angehörigen nicht eingefordert werden können. Die Leistungen werden ebenfalls aus Steuermitteln bestritten,

66

Vgl. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 165f. 44

Beispiele sind die Formen der Grundsicherung, die Ausbildungsförderung oder das Wohngeld. Gerhard Bosch variiert und differenziert einige übergreifende Grundprinzipien des deutschen Sozialmodells:67 Erstens nennt er das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge ein Eingreifen des Staates erst erfolgt, wenn andere Ebenen nicht entsprechend helfen können, zweitens das mit der Rentenreform 1957 implementierte Prinzip der Sicherung des erreichten Lebensstandards, drittens das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der gleichen Lebensbedingungen in allen Landesteilen und viertens das Prinzip des equal pay bei vergleichbarer Arbeit in einem Betrieb. Den zentralen Stellenwert bei der Darstellung der Einrichtungen und Leistungen des deutschen Sozialstaates nimmt das Sozialgesetzbuch (SGB) ein, das die Teile des verstreuten Sozialleistungsrechts in einem Gesetzeswerk zusammenfassen soll. 1976 begann diese große Aufgabe mit dem SGB I, dem Allgemeinen Teil. Der Allgemeine Teil des SGB beinhaltet eine Kodifikation sozialer Rechte des Bürgers, also eine Art „Sozialcharta für die Bundesrepublik Deutschland“68. § 1 SGB I formuliert als Aufgabe des Sozialrechts „… ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen…“. Die §§ 2 bis 10 beschreiben die sozialen Rechte der Bürger mit dem Anspruch auf soziale Sicherung, soziale Entschädigung und soziale Förderung, die §§ 13, 14 und 15 regeln Fragen der Durchsetzung des Rechtsanspruchs. Hierbei geht es um die Pflicht der Leistungsträger der Sozialen Sicherung zur Aufklärung, Beratung und Auskunft. Bisher sind 12 Bücher des Sozialgesetzbuches erschienen: 67 68

Vgl. Bosch, Sozialmodell, S. 7. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 49. 45

Abbildung 1: Sozialgesetzbuch (SGB) Buch I: Allgemeiner Teil (1976) Buch III: Arbeitsförderung (1998) Buch V: Gesetzliche Krankenversicherung (1989) Buch VII: Gesetzliche Unfallversicherung (1996) Buch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001) Buch XI: Soziale Pflegeversicherung (1994)

Buch II: Grundsicherung für Arbeitssuchende (2003) Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (1977) Buch VI: Gesetzliche Rentenversicherung (1992) Buch XIII: Kinder- und Jugendhilfe (1991) Buch X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (Neufassung 2001) Buch XII: Sozialhilfe (2003)

Schließlich sei noch die Finanzierung des deutschen Sozialstaates kurz aufgegriffen. Die deutschen Sozialversicherungen als das Kernstück des Sozialstaates werden durch ein Umlagesystem finanziert, das aber eine begrenzte Liquiditätsreserve für kurzfristige Schwankungen beinhaltet. Abgesehen von der Unfallversicherung und dem Konkursausfallgeld für Beschäftigte, die beide ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert werden, herrscht das Paritätsprinzip vor, demnach Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die Hälfte der Beiträge übernehmen, allerdings mit Abweichungen bei der Krankenversicherung, wo die Krankenkassen einen nur vom Versicherten zu bestreitenden Zusatzbeitrag zahlen müssen und bei der Pflegeversicherung, wo zum Ausgleich des Arbeitgeberbeitrags ein bisheriger Feiertag gestrichen wurde (außer im Bundesland Sachsen). Neben den Beiträgen für die Sozialversicherung werden weitere sozialpolitische Leistungen durch Steuermittel als zweite große Finanzierungssäule bestritten: Dies betrifft die Grundsicherung einschließlich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Sozialleistungen für Beamte und Zuschüsse aus Steuermitteln für einzelne Zweige der Sozialversicherung in der Krankenversicherung oder den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung.

46

III. Rahmenbedingungen des deutschen Sozialstaats: Zur Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung Dieses Überblickskapitel skizziert die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung als den Rahmen der Sozialstaatsentwicklung. Dabei wollen wir zunächst auf die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik in ihrem Gesamtverlauf seit 1991 eingehen: Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung und Geborene/Gestorbene seit der Wiedervereinigung (in Tausend)69

69

Tabelle zusammengestellt nach Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.), Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2013, S. 17 und Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.), Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2016, S. 19 (zukünftig: Datenreport); vgl. zum gesamten Kapitel Datenreport 2016, S. 14ff. und Sozialbericht 2009, S. 247f. 47

Jahr

Deutschland

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008s 2009s 2010 2011 2012 2013 2014

80 275 80 975 81 338 81 539 81 817 82 012 82 057 82 037 82 163 82 260 82 440 82 537 82 531 82 501 82 438 82 315 82 218 82 109 82 055 81 752 80 328 80 524 80 767 81 198

Lebendgeborene 830 809 798 770 765 796 812 785 771 678 734 719 707 706 686 673 685 675 656 678 663 674 682 715

Gestorbene 911 885 897 885 885 883 860 852 846 839 829 842 854 818 830 822 827 844 859 859 852 870 894 868

Überschuss der Geborenen bzw. der Gestorbenen -81 -76 -99 -115 -120 -87 -48 -67 -75 -72 -94 -123 -147 -113 -144 -149 -142 -168 -203 -181 -190 -196 -212 -153

Gegenüber dem Jahr 1950 mit 69,346 Mio. Menschen hatte Deutschland im Jahre 2014 fast 12 Millionen mehr Einwohner, wenngleich die Bevölkerungsentwicklung in den beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung unterschiedlich verlaufen war. Bis 1990 war sie in Westdeutschland kontinuierlich gestiegen, in Ostdeutschland hingegen infolge der Fluchtbewegung und Übersiedlungen nach Westdeutschland gesunken. Auch nach der Wiedervereinigung bestanden Unterschiede zwischen der Entwicklung in den alten und den neuen Bundesländern, d.h. in den alten Ländern nahm die Bevölkerung über48

wiegend zu, hingegen sank sie in den neuen Bundesländern seit 1990 durchgehend. Die entscheidenden Faktoren für die Bevölkerungsentwicklung sind die natürlichen Bevölkerungsbewegungen, d.h. die Geburten und Sterbefälle und die Wanderungssalden. Für die Phase von 1991 bis 2014 lässt sich in Bezug auf die Geborenen und Gestorbenen festhalten:70 Im Jahre 1964 war mit 1,36 Mio. lebend geborenen Kindern der Höchststand bei den Geburten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht worden, seit 1997 ist ein kontinuierlicher Geburtenrückgang festzustellen. 2011 wurde mit 663 000 Neugeborenen der niedrigste Wert seit 1946 registriert und seitdem stiegen die Geburtenzahlen wieder etwas an. Seit 1972 waren infolge des Geburtenrückgangs immer weniger Kinder geboren worden als Menschen verstarben. In den Jahren 2009 und 2013 verzeichnete man die Höchstwerte des negativen Überschusses. Überhaupt ist in den hier besonders interessierenden Jahren seit der Jahrhundertwende durchgehend ein negativer Überschuss zu konstatieren. Inwieweit der relativ deutliche Rückgang beim Gestorbenenüberschuss 2014 eine dauerhafte Trendwende einleiten wird, lässt sich noch nicht belegen. Nach dem Geschlecht waren Ende 2014 49 % der Bevölkerung männlich und 51 % weiblich. Im Sozialbericht 2013 hob die Bundesregierung den demographischen Wandel als wesentlichen Faktor hervor, der die Gesellschaft ähnlich wie die Globalisierung tiefgreifend verändern werde.71 Hier sei das Spannungsverhältnis zwischen zurückgehender Arbeitslosigkeit und zunehmenden Fachkräftebedarf zu beachten. Im Hinblick auf die für den deutschen Sozialstaat besonders bedeutsame Altersstruktur ist der demographische Wandel offensichtlich:72

70 71 72

Vgl. Sozialbericht 2013, S. 165f. und Datenreport 2016, S. 17f. Vgl. Sozialbericht 2013, S. 32. Abbildung nach Datenreport 2016, S. 17; dazu auch Sozialbericht 2017, S. 191. 49

Abbildung 2: Altersstruktur der deutschen Bevölkerung 1990 bis 2014

Der Altersaufbau seit der Wiedervereinigung zeigt die zunehmende Alterung der deutschen Bevölkerung, denn zum einen nahm die junge Bevölkerung bis 20 Jahren deutlich ab und auch die mittleren, im Wesentlichen die erwerbsfähige Bevölkerung zwischen 20 und 65 Jahren, die für das Funktionieren des Typs des deutschen Sozialstaats von herausragender Bedeutung ist, verringerte sich. Der Rückgang der unter 20-Jährigen hat sich allerdings seit 2010 abgeschwächt und bereits 2014 wurde infolge der stark zunehmenden Flüchtlingsbewegung dieser Trend gestoppt. Erstmals wuchs die Zahl junger Menschen wieder. Umgekehrt nahm der Anteil der über 65-Jährigen und der über 80-Jährigen kontinuierlich zu. Der Altersaufbau wird auch durch die Lebenserwartung bestimmt, die wiederum erheblichen Einfluss auf die Alterssicherungssysteme und die Kranken- bzw. Pflegeversorgung ausübt.

50

Tabelle 2: Durchschnittliche Lebenserwartung (in Jahren)73 Vollendetes Alter in Jahren 0 1 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90

Jungen/Männer 1871/1881 2010/2012 35,6 46,5 49,4 46,5 38,4 31,4 24,5 18,0 12,1 7,3 4,1 2,3

77,7 77,0 73,1 68,1 58,2 48,5 38,9 29,7 21,3 13,9 7,7 3,7

Mädchen/Frauen 1871/1881 2010/2012 38,5 48,1 51,0 48,2 40,2 33,1 26,3 19,3 12,7 7,6 4,2 2,4

82,8 82,1 78,1 73,1 63,2 53,4 43,6 34,0 25,0 16,6 9,2 4,2

Die enorm gestiegene Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren wird aus diesen Angaben ersichtlich. Hatten von 1871 bis 1881 im Deutschen Reich Neugeborene aufgrund der damaligen Säuglingssterblichkeit eine Lebenserwartung von 35,6 Jahren (Jungen) bzw. 38,5 Jahren (Mädchen), betrug die Lebenserwartung für von 2010 bis 2012 Geborene 77,7 Jahre (Jungen) bzw. 82,8 Jahre (Mädchen). Sie hatte sich in diesen 130 Jahren mehr als verdoppelt. Alte und sehr alte Menschen leben nunmehr deutlich länger. Als Gründe für die Steigerung der Lebenserwartung werden eine bessere Ernährung, gesündere Wohnverhältnisse, eine erhöhte soziale Sicherheit und selbstverständlich eine fortschrittliche medizinische Versorgung angeführt, was wiederum die Frage nach dem Stand und Umfang des Sozialstaates generell tangiert.

73

Vgl. Datenreport 2016, S. 25 (Tabelle 9). 1871/81 meint das damalige Deutsche Reich und 2010/12 das heutige Deutschland. 51

Schließlich wenden wir uns den Wanderungen von außen nach Deutschland zu, die ebenfalls von grundlegender Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung waren bzw. sind. Zunächst stand die Zuwanderung von Millionen Deutscher bzw. deutschstämmiger Personen am Ende des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reichs und aus deutschen Siedlungsgebieten in Mitteleuropa im Vordergrund. Von 1950 bis zum Mauerbau 1961 gelangten zusätzlich rund 2,6 Mio. Bewohner der damaligen DDR in das Bundesgebiet, darüber hinaus wanderten zwischen 1950 und 2006 rund 4,5 Mio. Spätaussiedler nach (West)Deutschland. Darunter befanden sich rund 2,3 Mio. Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, 1,4 Mio. aus Polen und 430 000 aus Rumänien. Im Jahre 1990 erreichte die Zahl der Aussiedler mit 397 000 ihren Höhepunkt, danach waren es bis 1995 jährlich 220 000 bis 230 000 Personen und seit 2006 ist ihre Zahl auf weniger als 10 000 pro Jahr abgesunken. Seit Anfang der 1960er Jahre nahm der Zuzug ausländischer Gastarbeiter erheblich zu, bevor 1973 ein Anwerbestopp erfolgte. Des Weiteren spielte der Zugang aus EU-Staaten durch den intensivierten Binnenmarkt eine Rolle. 1992 wanderten darüber hinaus 1,2 Mio. ausländische Staatsangehörige im Kontext des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien ein, wobei allerdings ein Großteil nach dem Ende der Auseinandersetzungen wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrte. In den letzten Jahren ist die Zuwanderung nach Deutschland wieder gestiegen und 2014 wurde mit 1,3 Mio. Personen ein neuer Höhepunkt erreicht. Hier machte sich neben der Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Flüchtlings- bzw. Asylbewerberzuwanderung bemerkbar. Die Hauptherkunftsländer aus der Europäischen Union waren im Jahr 2014 Polen und Rumänien mit jeweils 191 000, Bulgarien mit 77 000 Personen und Italien mit 70 000 Personen. 62 % der Zuzüge des Jahres 2014 stammten aus der Europäischen Union, 25 % aus dem außereuropäischen Ausland und 52

13 % aus einem sonstigen europäischen Land. Außerhalb der EU waren 2014 Syrien und Serbien die wesentlichen Herkunftsländer. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ergibt folgenden Befund: Ende 1992 lebten rund 6,5 Mio. Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (= Ausländeranteil von 8,0 %), darunter 23,1 % aus den Staaten der Europäischen Gemeinschaft.74 Die Auswirkungen der Einwanderungen auf die Bevölkerungsstruktur Deutschlands werden seit 2005 mit dem Konzept der „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ zu erfassen versucht. Darunter werden Menschen subsumiert, „die nicht als deutsche Staatsbürger in Deutschland geboren sind, oder bei denen mindestens ein Elternteil nicht als deutscher Staatsbürger geboren ist“75. 2014 zählten rund 16,4 Mio. Menschen zu dieser Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund, was einem Fünftel der Gesamtbevölkerung Deutschlands entsprach. Es handelte sich hierbei um 7,2 Mio. Ausländer und 9,2 Mio. Deutsche mit Migrationshintergrund. Im Jahre 2015 lebten rund 17,1 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, was einen Anteil von 21,0 % an der Gesamtbevölkerung von 81,4 Mio. Menschen ergab. Genauere Hinweise bringt die folgende Auflistung zur Herkunft der Menschen mit Migrationshintergrund (2014): An erster Stelle standen 5,9 Mio. Personen (= 36 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund) aus den Gastarbeiteranwerbeländern, an zweiter Stelle befanden sich die Spätaussiedler mit ihren Nachkommen mit 4,2 Mio. (= 26 %), an dritter Stelle lagen Personen aus den sog. Drittstaaten mit 3,7 Mio. (= 22 %) und an vierter Stelle mit 2,6 Mio. (= 16 %) Menschen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

74

75

Vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode Drucksache 12/7130, Unterrichtung durch die Bundesregierung, Sozialbericht 1993, S. 99ff. Datenreport 2016, S. 218 und zum Folgenden ebenda, S. 220 (Abbildung 1), S. 218; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2017, Bonn 2017, S. 34. 53

Weiter differenziert lässt sich für das Jahr 2014 festhalten:76 69 % der 10,9 Mio. Zugewanderten stammten aus Europa, davon kamen 37 % aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union – hier stellten die Polen mit 1,3 Mio. (= 12 %) die größte Gruppe – und weitere 15 % kamen aus EU-Beitrittskandidatenländern, wobei mit 1,4 Mio. (= 13 %) die Türkei führend war. Der Rest von 17 % verteilte sich auf die übrigen europäischen Länder und hier stammten die meisten mit 933 000 (= 9 %) aus Russland. Nicht vergessen sollte man jedoch die Abwanderung aus Deutschland, so verließen 2014 mehr als 900 000 Menschen Deutschland. Dennoch ist der Wanderungssaldo – die Differenz zwischen den Zuzügen und den Wegzügen seit 1950 – überwiegend positiv, außer in konjunkturellen Abschwungphasen oder nach dem Ende des Krieges in Bosnien 1997/1998. Seit 2011 sind wieder höhere Wanderungsüberschüsse zu verzeichnen, die zu einem Anstieg der Bevölkerung führten: 2011: 279 000, 2012: 369 000, 2013: 429 000 und 2014: 550 000 Personen. Bis zum Jahr 2003 glichen Wanderungsgewinne aus dem Ausland den negativen Saldo aus Geburten und Sterbefälle aus, danach aber konnten zumindest bis 2012 die Zuwanderungsüberschüsse das Geburtendefizit nicht mehr kompensieren.77 Seit 2010 sind wieder Wanderungsgewinne zu verzeichnen wegen der Flüchtlingswanderung und der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union vor allem aus Ost- und Südosteuropa (Rumänien, Bulgarien). Der Sozialbericht 2013 führte diesen Zuwachs auf die Aufhebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit der osteuropäischen Nachbarn Deutschlands und die rasche Bewältigung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hierzulande zurück. Deshalb wurde 2015 der höchste Wanderungsüberschuss seit 1950 er76 77

Vgl. Datenreport 2016, S. 224f. und ebenda, S. 23 (zum Folgenden). Vgl. Sozialbericht 2009, S. 248; Sozialbericht 2013, S. 165f.; Sozialbericht 2017, S. 191f. 54

reicht und der negative Saldo aus Geborenen und Gestorbenen massiv übertroffen. Aktuell ist die Gruppe der Asylsuchenden unter der ausländischen Bevölkerung im Zentrum der öffentlichen Debatten (dazu unten ausführlicher das Kapitel IV. 5). Die höchste Zahl an Asylbewerbern war zunächst 1992 mit 438 200 erreicht worden, ehe sie in den folgenden Jahren wieder kontinuierlich sank. Seit 2008 aber stieg ihre Zahl wieder an, 2014 wurden 173 100 neue Asylanträge gestellt und 2015 war es die neue Rekordzahl von 441 900 Anträgen. Die Anerkennungsquote ist sehr niedrig, allerdings gibt es gemäß dem Asylverfahrensgesetz und durch das weitreichende Abschiebeverbot eine deutlich höhere Bleibequote. Die Thematik der Migration erfuhr durch die Vorgänge im Zusammenhang mit Flucht und Asyl im Jahre 2015 einen erheblichen Bedeutungszuwachs, so dass nach Meinung der Bundesregierung eine möglichst schnelle Integration der zugewanderten Schutzsuchenden das vorrangige Ziel sei.78 Dabei sollte aber die Problematik mancher bereits seit längerer Zeit in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nicht vernachlässigt werden. Damit sind vor allem die Arbeitsmarktintegration und die Sicherung von Fachkräften für den deutschen Arbeitsmarkt angesprochen. Die Beschleunigung der Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gehörte in diesen Kontext einer angestrebten rascheren Integration. Da sich unter den zugewanderten Flüchtlingen junge Personen befinden, wurde zum 1. November 2015 ein entsprechendes Gesetz zur Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher in Kraft gesetzt. Dieses soll speziell die Situation junger Schutzsuchender und deren Rechte verbessern sowie eine angemessene Betreuung und Unterbringung ermöglichen.

78

Vgl. dazu Sozialbericht 2017, S. 33ff. 55

IV. Der bundesdeutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Adressaten, Leistungen, Reformen, Finanzen Im Hauptteil der vorliegenden Bilanz über den bundesdeutschen Sozialstaat mit dem zeitlichen Schwerpunkt seit der Jahrhundertwende dominiert die staatliche Sozialpolitik, d.h. „Sozialpolitik als Staatstätigkeit“79 mit staatlichen Programmen und Leistungen. Dennoch ist dem Autor bewusst, dass Prozesse wie die im vorausgegangenen Kapitel beschriebene „Entgrenzung der Sozialpolitik“ und eine gewachsene „Pluralität der Wohlfahrtsproduktion“, d.h. ein vermehrtes Wirken nichtstaatlicher Produzenten auf dem Gebiet der Sozialpolitik nicht außer Acht gelassen werden können. So fließen an manchen Stellen neuere und andere Akteursaktivitäten in die Daten mit ein, wenngleich die Koordinierung deren Tätigkeiten weiterhin dem Staat vorbehalten bleibt. Somit legitimiert sich der hier verfolgte Ansatz dadurch, dass „der Nationalstaat hinsichtlich des Ausgabevolumens die mit Abstand wichtigste Quelle von Sozialpolitik“ darstellt und dieser den Handlungsspielraum wie den normativen Rahmen bestimmt. 79

Köppe / Starke / Leibfried, Sozialpolitik, S. 7 und ebenda, S. 11 und S. 14 (die folgenden Zitate). 56

Neben der Hauptquelle der Sozialberichte der Bundesregierung hat sich als orientierender Leitfaden die Chronologie „Dauerbaustelle Sozialstaat. Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik 1998 bis 2016“ des Institut Arbeit und Qualifikation/Universität Duisburg-Essen bewährt, auf die im Einzelnen aber nicht weiter verwiesen wird.80 Dass es sich bei den Sozialberichten der Bundesregierung um eine regierungsamtliche, quasi offiziöse Verlautbarung handelt, sei vorausschickend noch angemerkt.81 Die einzelnen Kapitel zu den verschiedenen Komponenten des bundesdeutschen Sozialstaates sind wie folgt strukturiert:82 Zunächst wird der Umfang des Personenkreises, für den die jeweilige Leistung gedacht ist, also die Adressaten, angeführt, anschließend werden die wesentlichen Leistungen, etwaige Veränderungen bzw. Reformen beschrieben. Die ambivalente Verwendung des Begriffs der Reformen, 80

81

82

Vgl. Dauerbaustelle Sozialstaat. Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik 1998 bis 2016. Mit kritischem Blick auf die Sozialberichterstattung des Bundes die Bemerkungen von Hans F. Zacher, demzufolge es sich bei den Sozialberichten um „eine Schilderung von Institutionen und eine Darstellung von Einnahmen und Ausgaben [handle]. Unser Wissen konzentriert sich auf Geld und Geldeswert. Aber was wissen wir, wen dieser Sozialstaat per Saldo wirklich begünstigt? Wen er per Saldo wirklich benachteiligt?“ (Zacher, Sozialstaat, S. 72). Damit ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt aufgeworfen, der nach den Adressaten sozialstaatlicher Leistungen und/bzw. den Ergebnissen sozialstaatlichen Handelns fragt. Dieser Gesichtspunkt kann aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter aufgegriffen werden, da er einen anderen methodischen Zugang erfordert und den Umfang der hier anvisierten Bilanz weit ausdehnen würde. Somit steht die Sozialstaatsforschung vor weiteren Herausforderungen. Vgl. zu den Aufgabenfeldern und Organisation des deutschen Sozialstaates auch Manfred Krapf, Der deutsche Sozialstaat: Geschichte, Aufgabenfelder und Organisation. Eine Einführung, Baltmannsweiler 2016, S. 30ff. und S. 122ff. 57

die auch einen Abbau der sozialstaatlichen Leistungen implizieren können, ist dem Verfasser bewusst. Selbstverständlich können nicht alle jeweiligen Leistungen seit der Jahrhundertwende aufgeführt werden, so dass eine Auswahl unvermeidlich ist. Jedoch glauben wir, die wesentlichen Ergebnisse berücksichtigt zu haben. In einem dritten Schritt befassen wir uns mit den finanziellen Aspekten, d.h. wir stellen die Einnahmen und Ausgaben des jeweiligen Bereichs vor. Da eine überblicksartige Bilanz aus einer „Vogelperspektive“ angestrebt wird, kann auf die jeweiligen politischen Entscheidungsprozesse, in der heutigen Politikwissenschaft als politics bezeichnet, im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Kontroverse Beurteilungen ausgewählter sozialstaatlicher Reformvorhaben fließen aber punktuell mit ein. Eine umfassende Erarbeitung der politischen Entscheidungsprozesse und der vielfach kontrovers diskutierten Themengebieten ist einer zukünftigen Arbeit vorbehalten.

1. Das System der Sozialversicherung Wie bereits betont, bildet in der Geschichte des deutschen Sozialstaates die auf die Bismarckzeit zurückgehende Einführung der weltweit als Vorbild geltenden Sozialversicherung mit ihren einzelnen Zweigen den Kern des deutschen Systems der sozialen Sicherung. Es dominiert in der Bundesrepublik Deutschland das historisch gewachsene System der Sozialversicherung mit einer weitgehenden Versicherungspflicht für die große Mehrheit der Bürger und einer Selbstverwaltung der Träger der verschiedenen Zweige. Die Wiedervereinigung seit 1990 brachte schrittweise die nahezu vollständige Übertragung des bundesdeutschen, gegliederten Sozialversicherungssystems auf das Gebiet der ehemaligen DDR an Stelle der bestehenden Einheitsversicherung, die die Kranken-, Rentenund Unfallversicherung unter einem Dach zusammengefasst hatte 58

und im Übrigen die Arbeitslosenversicherung völlig abgeschafft hatte.83 Mit 38 Arbeitsämtern und zwei Landesarbeitsämtern wurde ab 1990 die Arbeitslosenversicherung in den neuen Bundesländern unter der Führung der Bundesanstalt für Arbeit aufgebaut. In der Arbeiterrentenversicherung wurde für jedes neue Bundesland eine Landesversicherungsanstalt errichtet und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die übrigen Träger der Rentenversicherung dehnten sich auf die neuen Bundesländer aus. Die Finanzierung der sozialen Einheit erforderte erhebliche Mittel, die die neuen Bundesländer verständlicherweise nicht selbst aufbringen konnten, weshalb ein Transfer notwendig wurde. Infolge des noch geringen Beitragsaufkommens in Ostdeutschland mussten zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit der Arbeitslosen- und Rentenversicherung in den neuen Bundesländern zwischen 1991 und 1993 Transferzahlungen aus den entsprechenden westdeutschen Institutionen geleistet werden: 1991 rund 25 Mrd. DM und 1993 50 Mrd. DM, was 1991 zweieinhalb, 1992 und 1993 jeweils rund drei Beitragspunkten entsprach und die Problematik der Finanzierung dieser Einheitskosten einmal mehr zum Ausdruck bringt. Die Zweige der Sozialversicherung werden im Sozialgesetzbuch geregelt, nämlich im Buch IV die gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung, im Buch III die Arbeitsförderung, d.h. die gesetzliche Arbeitslosenversicherung (in Kraft getreten seit 1.1.1998), im Buch V die gesetzliche Krankenversicherung (in Kraft getreten seit 1.1.1989), im Buch VI die gesetzliche Rentenversicherung (in Kraft getreten seit 1.1.1992), im Buch VII die gesetzliche Unfallversicherung (in Kraft getreten seit 1.1.1997) und im Buch XI die gesetzliche Pflegeversicherung (in Kraft getreten seit 1.1.1995).84 83 84

Vgl. Sozialbericht 1993, S. 11 und zum Folgenden ebenda, S. 16. Vgl. zum Folgenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Übersicht, S. 91-140. 59

Zum Begriff der Sozialversicherung Hier sind drei wesentliche Merkmale festzuhalten: Erstens wird die Sozialversicherung grundsätzlich durch Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber finanziert, abgesehen von der Unfallversicherung, zweitens ist Bedingung für die Leistungsgewährung aus der Sozialversicherung die Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zur Versicherung und drittens handelt es sich bei den Trägern der Sozialversicherung um Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die anderen Sozialleistungen in den verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches werden von weisungsgebundenen Verwaltungen unabhängig von einer Mitgliedschaft erbracht und aus staatlichen Steuermitteln finanziert wie z.B. das Kindergeld, Elterngeld, Wohngeld und die Sozialhilfe.

Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung Das SGB IV regelt einige gemeinsame Grundsätze wie Begriffsbestimmungen, allgemeine beitragsrechtliche Vorschriften, Meldepflichten, die Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages und die Organisation der verschiedenen Sozialversicherungsträger.

Versicherter Personenkreis Der Personenkreis in der Sozialversicherung umfasst die kraft Gesetz oder Satzung versicherungspflichtigen Personen und die versicherungsberechtigten freiwillig Versicherten. Besteht Versicherungspflicht, herrscht Zwangsversicherung, d.h. man hat keine Wahlfreiheit. Der Personenkreis variiert je nach dem Zweig der Sozialversicherung, generell zählen aber die Beschäftigten überall zum versicherten Personenkreis. Versicherungspflichtig sind zuvörderst gegen Arbeitsentgelt Be-

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schäftigte, die weisungsgebunden sind und in die Arbeitsorganisation des Weisunggebers integriert sind. Nicht versicherungspflichtig sind die geringfügig Beschäftigten mit einem Arbeitsentgelt von maximal 450 Euro im Monat oder die innerhalb eines Jahres längstens zwei Monate oder 50 Tage arbeiten. Geringfügig Beschäftigte müssen zentral bei der Einzugsstelle, der Minijob-Zentrale bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeldet werden. Hier ist das Problem der sog. Scheinselbstständigkeit kurz zu umreißen, denn dieses Phänomen hat Auswirkungen sowohl auf den Betroffenen wie auf die Gemeinschaft aller Versicherten. Gemeint ist die formale Selbstständigkeit eines Auftragnehmers, der tatsächlich aber in den Betrieb des Auftraggebers und dessen Weisungen eingebunden ist wie ein abhängig Beschäftigter. Als Merkmale einer Selbstständigkeit gelten die Selbstbestimmtheit der Arbeit hinsichtlich des Arbeitsortes, der Arbeitszeit und der Arbeitsausführung wie auch das Tragen des wirtschaftlichen Risikos und das Vorhandensein mehrerer Auftraggeber. Für die Statusabklärung kann man bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund einen Antrag stellen.

Beiträge Die Sozialversicherung wird nahezu ausschließlich durch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber finanziert. Liegt das Arbeitseinkommen des Versicherten über 450 Euro und maximal bei 850 Euro, gibt es eine Gleitzone mit reduzierten Beiträgen für die Arbeitnehmer, die bei zehn Prozent beginnt und sich bis zur Hälfte des Gesamtsozialversicherungsbeitrags bei 850 Euro Arbeitsentgelt erstreckt. Der Arbeitgeber muss den Beginn und das Ende der Beschäftigung eines Arbeitnehmers der Einzugsstelle melden. Er muss der Einzugsstelle auch den Gesamtsozialversicherungsbeitrag, d.h. die Arbeitgeberund Arbeitnehmeranteile, abführen.

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1.1

Die gesetzliche Rentenversicherung

Das System der Alterssicherung basiert in Deutschland auf drei Säulen, nämlich der hier im Mittelpunkt stehenden gesetzlichen Rentenversicherung als wichtigsten Bestandteil, der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge. Falls diese Leistungen nicht reichen, greift die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als unterstes Netz der sozialen Sicherung. Die jährlichen Rentenanpassungen, die sich an der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung orientieren, sichern die Beteiligung der Rentner an der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung. Die Kombination der unterschiedlichen Alterssicherungssysteme85 beinhaltet große Vorteile, denn die durch Umlagen finanzierte gesetzliche Rentenversicherung weist zumindest grundsätzlich eine höhere Sicherheit auf und leistet ihren Beitrag zum sozialen Ausgleich, während hingegen die kapitalgedeckte zusätzliche Altersvorsorge eventuelle Renditemöglichkeiten am Kapitalmarkt bringen könnte. Auch im aktuellen Sozialbericht 2017 hob die Bundesregierung hervor, dass die gesetzliche Rentenversicherung die „wichtigste Säule der Alterssicherung in Deutschland“ bleibe.86 So bezogen im Jahr 2015 91 % der Senioren in Deutschland eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung. Jedoch stehe ab dem Jahr 2020 durch den Eintritt 85

86

Mit eher kritischem Blick weist Ebert, Zukunft, S. 61 auf die berufsständische Gliederung als „eines der wichtigsten Strukturmerkmale des Alterssicherungssystems in Deutschland“ hin, worauf wir hier aber nicht weiter eingehen werden. Jedenfalls verortet Ebert die „Ungleichheit in den Alterseinkünften zu einem erheblichen Teil“ im berufsständischen System (ebenda, S. 101). Vgl. dazu Sozialbericht 2017, S. 60 und ebenda, S. 59 (das folgende Zitat); vgl. dazu auch neuestens Ebert, Zukunft, S. 64, demnach 2015 92 % der deutschen Bevölkerung ab 65 Jahren irgendeine Rentenleistung der gesetzlichen Rentenversicherung bezogen. 62

der geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ in die Rente die Rentenversicherung vor neuen Herausforderungen. So werde sich die Relation der Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter zu derjenigen Altersgruppe zwischen 20 bis 64 Jahren von derzeit 35 Personen im Rentenalter gegenüber 100 Personen im erwerbsfähigen Alter im Jahre 2045 auf 55 Personen gegenüber 100 Personen im erwerbsfähigen Alter erhöhen. Da diese demographische Entwicklung dauerhaft sei, müssen nach Meinung der Bundesregierung wie bereits erfolgt die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden. Der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung solle bis zum Jahre 2020 die Grenze von 20 % nicht und bis 2030 diejenige von 22 % nicht überschreiten. Weiterhin dürfe das Sicherungsniveau der Renten vor Steuern im Jahre 2020 46 % und im Jahre 2030 43 % nicht unterschreiten. Ein Interessenausgleich zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern – auch über das Jahr 2030 hinaus – bleibe das „zentrale Ziel der Rentenpolitik der Bundesregierung“. Die gesetzliche Rentenversicherung erlebte seit der deutschen Wiedervereinigung bzw. seit der Jahrhundertwende eine Vielzahl von Reformen und Eingriffen, von denen einige im Folgenden skizziert werden.

1.1.1 Adressaten In der gesetzlichen Rentenversicherung sind mehr als 50 Mio. Menschen aktiv und passiv versichert. Die Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung wird aus den Zahlen der Leistungsempfänger deutlich:

63

Tabelle 3: Renten der gesetzlichen Rentenversicherung jeweils zum 1. Juli (in 1000)87 Rentenarten Renten (insgesamt) Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Altersrenten Witwer-/ Witwenrenten Waisenrenten

2000 22 958 1 923

2002 23 492 1 851

2005 24 081 1 675

2009 25 008 1 574

2012 25 008 1 636

2016 25 397 1 783

15 159 5 456

15 827 5 412

16 804 5 421

17 459 5 391

17 665 5 355

18 004 5 288

411

392

395

367

343

314

Insgesamt ist seit der Jahrhundertwende die Zahl der Renten um mehr als zwei Millionen gestiegen, wobei dieser Zuwachs in erster Linie auf die Altersrenten zurückzuführen ist, die mit einem Anteil von ca. 70 % dominierten. Hingegen verringerte sich die Zahl der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bis zum Jahr 2010 im Vergleich zum Ausgangspunkt 2000, bevor sie wieder leicht zunahmen. Die übrigen hier angeführten Renten haben sich insgesamt zahlenmäßig nicht wesentlich verändert. Dass derzeit nur 2,6 % der über 65-Jährigen und Älteren die unten näher beschriebene Grundsicherung im Alter benötigen, ist ein Hinweis, dass noch nicht von einer aktuellen Altersarmut gesprochen werden kann. Dies wird höchstwahrscheinlich so jedoch nicht bleiben. Abschließend noch knappe Anmerkungen zur privaten Altersvorsorge:88 Bis Ende des Jahres 2015 ist die Zahl der Anwartschaften auf eine betriebliche Altersvorsorge auf 20,4 Mio. gestiegen. Da aber

87

88

Tabelle zusammengestellt aus Sozialbericht 2001, S. 244; Sozialbericht 2009, S. 264; Sozialbericht 2013, S. 181; Sozialbericht 2017, S. 207; aktuelle empirische Befunde zum bundesdeutschen Alterssicherungssystem auch bei Ebert, Zukunft, S. 77ff. Vgl. Sozialbericht 2017, S. 60. 64

mehrere Anwartschaften auf eine Person fallen können, entsprechen diese Werte aber nur 17,7 Mio. Personen, d.h. mehr als die Hälfte der Beschäftigten verfügten über eine betriebliche Altersversorgung, was nicht der gesamten Beschäftigungslage entsprach. Ende 2016 bestanden 16,5 Mio. Riester-Verträge, wobei die Bundesregierung die nicht zu übersehende Stagnation bei dieser staatlich geförderten Altersvorsorge auf die seit mehreren Jahren auch als Konsequenz der Finanzmarktkrise resultierenden niedrigen Zinsen zurückführte. Mehr als 70 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 25 bis unter 65 Jahren besitzen einen Anspruch aus der betrieblichen Altersvorsorge oder aus einer Riesterrente.

1.1.2 Leistungen und Reformen Wie eingangs erwähnt, wurden im hier interessierenden Zeitraum zahlreiche Rentenreformen realisiert, wobei wir kurz auch auf die Entwicklung seit der Wiedervereinigung eingehen. Eine Hauptaufgabe nach der Wiedervereinigung hatte darin bestanden, zu verhindern, dass die 3,1 Mio. ostdeutschen Rentner wegen ihrer nur eine Grundsicherung bietenden Rente der Deutschen Demokratischen Republik ins Abseits gerieten. Deshalb wurden die ostdeutschen Renten im Verhältnis zur D-Mark 1:1 umgestellt und gleichzeitig deutlich erhöht.89 Seit 1990 begann der Prozess der schrittweisen Angleichung der Renten an das bundesdeutsche System, aber wegen der zum Teil erheblichen Lohnunterschiede zwischen Ost und West blieben folgerichtig die Renten in den neuen Bundesländern unter denen im Westen. Die Rente eines Durchschnittverdieners mit 45 Versicherungsjahren in den neuen Bundesländern lag am 1. Juli 1990 bei 672 DM, was 40 % des Westniveaus entsprach. Durch das Renten-Überleitungs-

89

Vgl. Sozialbericht 1993, S. 10 und S. 54ff. (dort auch die einzelnen Anpassungsschritte). 65

gesetz ab 1. Januar 1992 wurde das Rentensystem in den neuen Bundesländern in das lohn- und beitragsbezogene, dynamische und den Lebensstandard sichernde System der gesetzlichen Rentenversicherung integriert. Das Rentenreformgesetz 1992, das 1989 vom Bundestag noch vor der Wiedervereinigung beschlossen worden war und in dessen Kontext die Bundesregierung bereits mit zukünftigen demographischen Schwierigkeiten argumentierte, brachte die Eingliederung des Rentenrechts in das SGB VI und galt nun in beiden Teilen Deutschlands. Das Ziel der Rentenreform definierte die Bundesregierung dahingehend, „das bewährte System der lohn- und beitragsbezogenen Rente, die nach einem erfüllten Arbeitsleben den Lebensstandard sichert, zu erhalten und die sich aus Veränderungen der Rahmenbedingungen ergebenden finanziellen Risiken gleichgewichtig auf alle an der Rentenversicherung Beteiligten – also Beitragszahler, Rentner und Bund – zu verteilen, um so die Renten langfristig zu sichern“90. Einzelne Punkte dieser Rentenreform 1992 betrafen die Rentenanpassung zum 1. Juli jeweils nach der Nettolohnentwicklung, d.h. sie berücksichtigte die Abzüge der Arbeitnehmer durch Steuern und Abgaben, was letztendlich realistischer und gerechter sei. Zur Begrenzung der Rentenausgaben wurden die vorzeitigen Altersgrenzen von 60 und 63 Jahren schrittweise bis zur Regelaltersgrenze von 65 Jahren angehoben. Ältere Arbeitnehmer erhielten mehr Wahlfreiheit beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand, d.h. jeder Monat länger arbeiten nach dem 65. Lebensjahr erhöhte die Rente um einen halben Prozentpunkt bzw. jeder Monat früher senkte sie um 0,3 %. Des Weiteren wurden beitragslose Zeiten (= Anrechnungszeiten wie Zeiten der Arbeitslosigkeit, Krankheit) dahingehend neu bewertet, dass u.a. die Anrechnung von Ausbildungszeiten an Schulen, Fach90

Sozialbericht 1993, S. 59f. 66

hochschulen, Hochschulen auf sieben Jahre nach dem 16. Lebensjahr begrenzt wurde. Kindererziehungszeiten wurden hingegen erneut ausgeweitet: Für ab 1992 geborene Kinder wurde die Kindererziehungszeit um zwei Jahre auf drei Jahre erhöht. Für Geburten vor 1992 wurden Kinderberücksichtigungszeiten bis zum 10. Lebensjahr eingeführt. Ebenfalls ab 1992 wurden Pflegeberücksichtigungszeiten eingeführt, die gerade für Frauen wichtig waren, da diese im Wesentlichen die Pflegeleistungen in der Familie übernahmen. Schließlich wurde auch die Rente nach Mindesteinkommen durch Aufwertung von Beschäftigungszeiten weitergeführt. Voraussetzung für eine Rente nach Mindesteinkommen waren nunmehr 35 Versicherungsjahre, was vorteilhaft für Frauen war, da Kindererziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten sowie Pflegeberücksichtigungszeiten auf die 35 Jahre angerechnet wurden. Während der rot-grünen Regierungsperiode von 1998 bis 2005 erfolgten mehrere gravierende Rentenreformen, die vor allem mit den Problemen der Alterssicherung aufgrund der demographischen Entwicklung und der Lohnnebenkosten begründet wurden.91 Die angestrebte Modernisierung der Alterssicherung sollte durch eine Beitragsstabilisierung und den Aufbau einer privaten Zusatzversorgung erreicht werden. Das Hauptelement der Reformen bildete die Einführung einer kapitalgedeckten privaten Zusatzvorsorge, was einen „Paradigmenwechsel“ darstellte, den die Regierung in den Kontext eines aktivierenden Sozialstaates mit mehr Eigenverantwortlichkeit verortete. In ihrem Sozialbericht 2001 ging die Bundesregierung davon aus, dass das Rentenniveau bezogen auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung 2030 um 67 % liegen werde und der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung die 22 %-Marke nicht überschreiten werde. Die neue Regierung setzte die von ihrer Vorgängerin 1997 beschlossene Änderung der Rentenanpassungsformel mittels eines demogra91

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 49ff. und S. 243ff.; Sozialbericht 2005, S. 58ff. 67

phischen Faktors, der die Verlängerung der Rentenbezugsdauer aufgrund der gewachsenen Lebenserwartung berücksichtigen sollte und eine geringere Rentensteigerung bewirkt hätte, zunächst aus. Für die Jahr 2000 und 2001 hob die neue Regierung die Nettolohnanpassung der Renten zunächst auf und ersetzte sie durch einen Inflationsausgleich. Zum 1. Juli 2001 kehrte man wieder zur bruttolohnorientierten Rentenanpassung zurück, so dass die Rentner am Wachstum der Wirtschaft beteiligt wurden. Ebenfalls 2001 wurde die Erwerbsminderungsrente reformiert, d.h. u.a. Abschläge für deren Bezug eingeführt, aber andererseits auch die Zurechnungszeiten92 verbessert. Zugleich wurde für die Geburtsjahrgänge ab 1991 die vormalige Berufsunfähigkeitsrente abgeschafft, d.h. letztendlich der „Berufsschutz“ beseitigt. Weitere Reformen betrafen eine Vermeidung der Erosion des versicherungspflichtigen Personenkreises der Rentenversicherungspflicht, wozu die neuen Bestimmungen zur Scheinselbstständigkeit und zu den arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen sowie die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse dienen sollten. Des Weiteren sollte die gesetzliche Rentenversicherung von der Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben durch die Beitragszahlung des Bundes für Kindererziehungszeiten aus den Mitteln der neuen ökologischen Steuerreform entlastet werden. Dadurch konnte der Beitragssatz zum 1. April 1999 von 20,3 auf 19,5 % und zum 1. Januar 2001 auf 19,1 % gesenkt werden. Diese Beitragsabsenkungen entsprachen einer jährlichen Entlastung der Beitragszahler von ca. 12,6 Mrd. Euro. Als „Kernstück der Rentenreform“ der rot-grünen Koalition, die zukünftig dem Absenken des Rentenniveaus entgegenwirken und die

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Als Zurechnungszeit bezeichnet man den Zeitraum zwischen dem Eintritt einer Erwerbsminderung und dem vollendeten 62. Lebensjahr, der bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente als rentensteigernd anerkannt wird. Durch diesen Mechanismus wird eine mögliche zu kurze Beitragszahlung kompensiert. 68

Lebensstandardsicherung im Rentenalter ermöglichen sollte, fungierte die neue private Altersvorsorge, die sog. Riesterrente. Der freiwillige Aufbau einer mit staatlicher Förderung zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente war das Ziel. Darunter wurden als Anlageformen private Rentenversicherungen, Investmentfonds und Banksparpläne oder im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge Direktversicherungen, Pensionskassen oder -fonds verstanden. Diese private Zusatzversorgung setzte sich aus Eigenbeträgen und staatlichen Zulagen zusammen, letztere waren abhängig vom Familienstand und der Kinderzahl. Auch ein selbst genutztes Eigenheim konnte im Rahmen der neuen privaten Altersvorsorge gefördert werden. Die staatliche Förderung bestand in Zulagen – von 38 bis 154 Euro Grund- und Kinderzulagen (ab 2008 bis zu 185 Euro bzw. 300 Euro) – oder steuerlicher Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen. Die Kinderzulagen standen im Regelfall der Mutter zu. Mit einem Prozent Mindestbeitragssatz des Jahreseinkommens begann die Förderung 2002 bis maximal vier Prozentpunkte im Jahre 2008. Insgesamt veranschlagte die Regierung für das Jahr 2008 bei vollständiger Wirksamkeit der Förderung ihre Aufwendungen auf 12,7 Mrd. Euro in Form von entgangenen Einkommensteuereinnahmen des Staates. Eine vom Bundesamt für Versicherungswesen durchzuführende Zertifizierung sollte sicherstellen, dass die privaten Altersvorsorgeverträge die gesetzlichen Anforderungen erfüllten. Weitere Reformen betrafen vor allem die Besserung der Alterssicherung von Frauen, nämlich zum einen eine kindbezogene Höherbewertung von Beitragszeiten bei der Rentenberechnung (Rentenanwartschaften), die das Ziel verfolgte, rentenrechtliche Folgen geringer Arbeitsentgelte von Erziehungspersonen im Verlauf der ersten zehn Lebensjahre des Kindes abzumildern. Die Änderungen galten aber erst ab Januar 2002 und für Ehepaare, bei denen beide Partner jünger als 40 Jahre waren. Um eine eigenständige Alterssicherung für Frauen aufzubauen, wurde ein Rentensplitting ermöglicht, d.h. jüngere Ehegatten konnten 69

ihre in der Ehezeit erworbenen Rentenansprüche partnerschaftlich aufteilen. Ein derartiges Rentensplitting war aber nur möglich, wenn beide Ehegatten 25 Jahre rentenrechtliche Zeiten vorweisen konnten. Aufgrund der sich 2003 verschlechternden wirtschaftlichen Lage ergriff die Regierung verschiedene Maßnahmen, um die Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren (Zweites und Drittes Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze). So wurde die Höhe der Mindestschwankungsreserve auf 20 % einer Monatsausgabe abgesenkt.93 Dadurch sei eine Beitragssteigerung in der Rentenversicherung um ca. einen halben Prozentpunkt verhindert worden. Des Weiteren wurde die Rentenanpassung zum 1. Juli 2004 wegen der stagnierenden wirtschaftlichen Lage ausgesetzt. Der für eine Erhöhung notwendige Beitragsanstieg hätte nach Auffassung der Bundesregierung die sich allmählich abzeichnende konjunkturelle Belebung gefährdet. Schließlich mussten die Rentner den vollen Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung übernehmen, den bis 2004 zur Hälfte die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung getragen hatten. Ebenfalls zur Stabilisierung des Beitragssatzes trug die Verlegung des Auszahlungstermins der Renten für Neurentner auf das Monatsende bei, für die Bestandsrentner hingegen blieb die geltende Auszahlungsregelung erhalten. Das Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz von 2004 bildete eine von der Regierung geplante Reform zur Stabilisierung der finanziellen Situation der Rentenversicherung und umfasste folgende wichtige Punkte:94 Der Berücksichtigung der ungünstigen demographischen

93

94

Vgl. Sozialbericht 2005, S. 59ff. Bei der Mindestschwankungsreserve (jetzt: Nachhaltigkeitsrücklage) handelt es sich im Umlageverfahren um eine finanzielle Reserve der Rentenversicherung zum Ausgleich unterjähriger Einnahme- und Ausgabeschwankungen, die zugleich der Verstetigung der Beitragssatzentwicklung dient. Vgl. Sozialbericht 2005, S. 59ff. und ebenda, S. 61ff. (zum Folgenden). 70

Entwicklung sollte der Einbau eines Nachhaltigkeitsfaktors in die Rentenanpassungsformel dienen, der das Verhältnis zwischen Leistungsbeziehern und versicherungspflichtigen Beschäftigten bei der Rentenanpassung in Rechnung stellte. Des Weiteren strebte man eine langfristige Niveausicherung der Renten an, demzufolge das Mindestniveau der Renten vor Steuern als Untergrenze bis zum Jahre 2020 46 % und bis zum Jahre 2030 43 % betragen sollte. Jedoch bleibe das Ziel, jeweils ein höheres Niveau unter Wahrung der Beitragssatzstabilität zu erreichen. Die Beitragssätze sollten langfristig fixiert werden, d.h. es wurde ein Beitragsziel von maximal 20 % bis 2020 bzw. von 22 % bis 2030 angestrebt. Um Anreize einer Frühverrentung zu mindern und das tatsächliche Renteneintrittsalter zu erhöhen, setzte der Gesetzgeber die Altersgrenze für den frühesten Beginn einer vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit schrittweise von 60 auf 63 Jahren nach oben. Schließlich erfolgte eine Neubewertung der Ausbildungsanrechnungszeiten, demnach ab 2009 die schulische Ausbildung nach dem 17. Lebensjahr mit höchstens 36 Monaten einfließen sollte. Dies bedeutete eine Aufhebung der bisherigen rentenrechtlichen Besserstellung von Versicherten mit Zeiten schulischer Ausbildung nach dem 17. Lebensjahr, weil, so die Argumentation der Regierung, mit akademischer Ausbildung im Normalfall wegen besserer Verdienstmöglichkeiten überdurchschnittliche Rentenanwartschaften aufgebaut werden konnten. Einen weiteren Baustein bei den Reformen der Alterssicherung bildete das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Alterseinkünftegesetz, das ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2002 bezüglich der unterschiedlichen Besteuerung von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und von Beamtenpensionen für verfassungswidrig erklärt hatte und zugleich die Steuerfreistellung von Altersvorsorgeaufwendungen beinhaltete. Damit ist die sog. nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften gemeint, d.h. die Besteue71

rung der Alterseinkünfte erst zu dem Zeitpunkt, wenn der Steuerpflichtige sie im Alter ausbezahlt bekommt. Hingegen sollten die Beiträge zur Altersvorsorge in der Phase der Erwerbstätigkeit bis zu einem jährlichen Höchstbeitrag unversteuert bleiben. Dies ermöglichte den jüngeren Versicherten mehr Nettoeinkommen und damit die Chance, zusätzlich selbst vorzusorgen. Zunächst blieben im Jahre 2005 60 % der Altersvorsorgebeiträge steuerfrei und im Jahre 2025 werden es 100 % sein. Für die umgekehrte Rentenbesteuerung wurde eine 35jährige Übergangszeit bis 2040 vorgesehen. 2005 begann man mit der 50 % Besteuerung der Bestandsrentner bzw. der 2005 erstmaligen Rentenbezieher und bis 2020 sollte diese in Schritten von zwei Prozentpunkten sowie anschließend in einprozentigen Schritten bis 2040 umgesetzt werden, ehe dann im Jahre 2040 die volle Höhe der Besteuerung erreicht wurde. Laut Sozialbericht 2009 werden aber die große Mehrheit der Rentner, die im Jahre 2005 Renten bezogen, keine Steuern zahlen. So waren für alleinstehende Rentenbezieher rund 1 585 Euro Rente im Monat steuerfrei (soweit keine anderen Einkünfte vorliegen). Nur Bezieher von hohen gesetzlichen Renten mit anderen Einkünften wie Werkspensionen oder Betriebsrenten oder Kapitaleinkünften fielen unter die Steuerpflicht. Kapitallebensversicherungen verloren ihre steuerrechtliche Privilegierung, wobei argumentiert wurde, dass viele Kapitallebensversicherungen nicht ausschließlich für die Altersvorsorge genutzt werden. Dies galt für Verträge ab 1. Januar 2005, die wie andere Kapitalanlagen der vollen Besteuerung unterliegen sollten. Schließlich kam es zum 1. Oktober 2005 noch zu einer Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Zusammenfassung der bisherigen Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zur „Deutschen Rentenversicherung“. Die bisherige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger wurden zu einem neuen und einheitlichen Träger, der Deutschen Rentenversicherung Bund, vereinigt. Gleichzei72

tig erfolgte die Zusammenfassung der bisherigen Träger Bundesknappschaft, Bahnversicherungsanstalt und Seekasse zur Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Insgesamt erwartete man bis 2010 eine Einsparung der tatsächlichen Verwaltungsausgaben in der Höhe von jährlich 350 Millionen Euro. Eine einschneidende und politisch heftig umstrittene Entscheidung traf die Regierung der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel im April 2007 unter Verweis auf die zukünftige Stabilisierung der Alterssicherung und die Steigerung des Beschäftigungspotenzials der Älteren sowie dem Entgegenwirken des drohenden Fachkräftemangels und der Akzeptanz des Generationenvertrages. Das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz hob schrittweise die Altersgrenzen an, was ab 2012 mit dem Geburtsjahrgang 1947 begonnen wurde, d.h. die Regelaltersgrenze lag bei dem Geburtsjahrgang 1947 bei 65 Jahren und einem Monat.95 Bei den folgenden Geburtsjahrgängen erhöhte sich die Regelaltersgrenze zunächst um jeweils einen Monat und ab 2024 mit dem Jahrgang 1959 wurde sie jeweils mit 2-Monatsstufen pro Jahrgang angehoben, so dass erst für die Jahrgänge 1964 und jünger die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren bis zum Jahr 2029 erreicht wird. Diese Anhebung der Regelaltersgrenze wirkt sich auch auf die anderen Rentenarten mit jeweils schrittweiser Erhöhung aus: –

95

Die Altersrente für besonders langjährig Versicherte mit 45 Pflichtbeitragsjahren: Hier erfolgte eine stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze zum 1. Januar 2012 und die Einführung einer neuen Altersrente, d.h. Versicherte mit außerordentlich langjähriger Erwerbstätigkeit hatten Anspruch auf eine abschlagsfreie Rente nach Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn sie mindestens 45 Jahre Pflichtbeiträge vorweisen konnten. Diese neue Rente konnte nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden. Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2009, S. 107ff. 73









Daneben gab es nun die Altersrente für langjährig Versicherte, deren Altersgrenze für einen abschlagsfreien Bezug stufenweise von 65 auf 67 Jahre angehoben wurde. Diese Rente konnte vorzeitig frühestens mit 63 Jahren bezogen werden unter Hinnahme eines Rentenabschlags von 14,4 %. Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen konnte bei einer stufenweisen Anhebung der Altersgrenze von bisher 63 auf 65 Jahren abschlagsfrei bezogen werden. Frühestens konnte diese Rente nun nunmehr nicht mehr ab dem 60. Lebensjahr, sondern erst mit 62 Jahren bei einem Abschlag von weiterhin maximal 10,8 % bezogen werden. Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wurden ebenfalls von der Anhebung der Altersgrenzen betroffen. Bei der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wurde das Referenzalter ohne Abschläge auf 65 Jahre angehoben, wobei das Referenzalter für Versicherte mit 35 Pflichtbeitragsjahren bei 63 Jahren verblieb. Bei einer Inanspruchnahme dieser Rente vor dem 65. Lebensjahr können Abschläge bis zu maximal 10,8 % anfallen. Ab dem Jahr 2024 galt die Grenze des 63. Lebensjahres nur noch für erwerbsgeminderte Versicherte mit 40 Pflichtbeitragsjahren. Bei der großen Witwen- und Witwerrente wurde die Altersgrenze um zwei Jahre auf 47 Jahre erhöht.

Schließlich bestand für diese Reformmaßnahmen ein Vertrauensschutz, denn die Anhebung der Altersgrenzen begann mit einer Vorlaufzeit von fünf Jahren und für die Jahrgänge vor dem Geburtsjahr 1952 blieb es bei den Altersrenten für Frauen und den Altersrenten wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit bei den geltenden Altersgrenzen. Ebenso galt nunmehr im Rahmen einer sog. Bestandsprüfungsklausel die Verpflichtung der Bundesregierung, ab 2010 alle vier Jahre einen Bericht über die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer vorzulegen. Dieser Bericht sollte abschätzen, inwieweit die Anhebung 74

der Regelaltersgrenze auf 67 Jahren unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktentwicklung sowie der wirtschaftlichen und sozialen Lage der älteren Arbeitnehmer weiterhin aufrechterhalten werden könne. Im Juni 2009 beschloss der Bundestag die Ausweitung der sog. Schutzklausel bei der Rentenanpassung. Die 2004 eingeführte Schutzklausel96 hatte bislang sichergestellt, dass es infolge der Anwendung des dämpfenden Nachhaltigkeitsfaktors97 nicht zu einer Verringerung der Bruttorente kam. Die Erweiterung bewirkte, dass es zukünftig bei negativen Entwicklungen der Löhne nicht zu Rentenkürzungen kommen konnte. Durch die generelle Schutzklausel war eine Absenkung des aktuellen Rentenwerts ausgeschlossen worden. Den allgemeinen Hintergrund bildete die sog. Dynamisierung der Renten, die sich an die allgemeine Lohnentwicklung ankoppelte.

96

97

Die als "Rentengarantie" bezeichnete erweiterte Schutzklausel verhindert, dass die im Grundsatz an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gekoppelte Rentenanpassung im Fall einer rückläufigen Lohnentwicklung zu einer Rentenminderung führt. Der mit dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz eingeführte Nachhaltigkeitsfaktor fand erstmals zum 1.7.2005 Anwendung bei der Rentenanpassung. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor wird die Entwicklung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnerinnen und Rentnern zu Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern bei der Anpassung der Renten berücksichtigt. Sinkt die Anzahl der Beitragszahler, fällt die Rentenanpassung tendenziell geringer aus. Ein Anstieg an Beitragszahlern wirkt sich hingegen regelmäßig positiv auf die Rentenanpassung aus. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor werden sowohl die Auswirkungen der verlängerten Lebenserwartung als auch die Entwicklung der Geburten und der Erwerbstätigkeit auf die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einem Teil auf die Rentnerinnen und Rentner übertragen. Auf diese Weise tragen die Rentnerinnen und Rentner dazu bei, die Funktionsfähigkeit unseres Rentensystems zu erhalten. 75

Seit 2010 wurde die Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II aufgehoben, d.h. Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II flossen als unbewertete Anrechnungszeiten in die Rentenberechnung ein. Die Legislaturperiode 2013 bis 2017 beinhaltete ebenfalls wesentliche, politisch umstrittene Maßnahmen.98 Entsprechend dem Koalitionsvertrag führte 2014 das Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz die abschlagsfreie „Rente ab 63“ für besonders langjährig Versicherte mit 45 Beitragsjahren ein, die aber nur für bestimmte Geburtsjahrgänge galt. Weiterhin dehnte der Gesetzgeber durch die sog. „Mütterrente“ die anrechenbaren Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder aus und verbesserte die Erwerbsminderungsrente. Nach Meinung der Bundesregierung handelte es sich hier um die Schließung von Gerechtigkeitslücken in der gesetzlichen Rentenversicherung. Im Dezember 2016 wurden durch das Flexirentengesetz Möglichkeiten eröffnet, den Wechsel in den Ruhestand flexibler und selbstbestimmter entsprechend individueller Lebensvorstellungen zu gestalten. Instrumente dazu bildeten flexiblere Hinzuverdienste und Teilrentenrechte, die das Arbeiten im Rentenalter besser unterstützten. Bis 2025 ist die vollständige Angleichung der Beitragsbemessungsgrenze und der Bezugsgrößen im Osten anvisiert, also die vollständige Rentenangleichung erreicht. Bei der Erwerbsminderungsrente wird die Zurechnungszeit 99 für zukünftige Erwerbsminderungsrentner 98 99

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2017, S. 59ff. Zurechnungszeiten spielen eine Rolle bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Renten wegen Todes. Der Hintergrund liegt darin, dass jemand, der in jungen Jahren vermindert erwerbsfähig wird oder verstirbt, verständlicherweise erst geringe Rentenanwartschaften aufbauen konnte. Um dennoch eine angemessene Absicherung zu erreichen, wird bei der Rentenberechnung so getan, als ob der Versicherte nach Eintritt der Erwerbsminderung oder nach dem Tod wie bisher beitragspflichtig weitergearbeitet hätte (= Zurechnungszeit). 76

schrittweise zwischen 2018 und 2024 auf 65 Jahre verlängert, d.h. sie werden mit einem Rentenbeginn ab 2024 so gestellt, als ob sie eigentlich drei Jahre länger gearbeitet hätten. Diese Regelung betrifft aber nur zukünftige Erwerbsminderungsrenten. Abschließend werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Rentenanpassungen. 2004 erfolgte wie erwähnt keine Rentenanpassung und 2005 fiel eine Erhöhung der Bruttorenten gemäß dem neuen Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz mit dem Nachhaltigkeitsfaktor aus. Eine rein rechnerische, mögliche Verringerung der aktuellen Rentenwerte und damit der Bruttorenten wurde jedoch mittels einer Schutzklausel ausgeschlossen. 2010 hätten sich bei Anwendung der Rentenanpassungsformel rechnerisch die Renten um 2,10 % (Westen) bzw. 0,54 % (Osten) verringert, aber aufgrund der Schutzklausel war eine rechnerische Rentenminderung nicht möglich. Von 2014 bis 2016 wurden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung wie folgt erhöht: Zum 1. Juli 2014 um 1,67 % in den alten Bundesländern und um 2,53 % in den neuen Bundesländern, zum 1. Juli 2015 um 4,25 % bzw. 5,95 % und zum 1. Juli 2017 um 1,90 % bzw. 3,59 %.

1.1.3 Einnahmen und Ausgaben Die finanzielle Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung als größter Teilbereich der sozialen Sicherung insgesamt bringt die folgende Übersicht über ihre Einnahmen und Ausgaben zum Ausdruck:100

100

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 245f.; Sozialbericht 2009, S. 265; Sozialbericht 2013, S. 182; Sozialbericht 2017, S. 208. Bei den Leistungen zur Teilhabe handelt es sich um Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und zusätzliche Leistungen. 77

Tabelle 4: Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung (in Mrd. Euro) Leistungs- und Finanzierungsart Leistungen insgesamt Rentenausgaben Krankenversicherung der Rentner Pflegeversicherung der Rentner Leistungen zur Teilhabe Verwaltungsausgaben Sonstige Ausgaben (u.a. Vermögensaufwendungen) Verrechnungen (einschließlich Eigenbeiträge der Rentner)

2001s

2002

2005

2009

2013

2015

220,7 197,1 13,2

233,3 192,5 13,9

240,5 197,7 14,4

250,8 225,8 15,4

263,8 237,1 16,5

283,1 254,6 17,7

1,6

1,7

-

-

-

-

4,7 3,7 0,2

4,9 3,5 0,3

4,7 3,7 0,3

5,3 3,5 0,3

5,7 3,7 0,3

6,1 3,8 0,4

-

16,4

19,7

0,5

0,5

0,6

Finanzierung (Einnahmen) insgesamt Beiträge Bundeszuschuss (+ Ökosteuer) Erstattungen aus öffentlichen Mitteln Übrige Einnahmen Verrechnungen

226,0

228,7

235,1

250,7

265,9

281,8

165,1 53,4

165,0 56,7

167,5 61,6

181,3 63,4

194,6 65,3

207,6 67,7

0,8

6,1

5,4

5,5

5,6

5,9

1,4 5,3

0,7 0,2

0,4 0,2

0,4 0,2

0,3 0,1

0,5 0,1

Generell ist die Entwicklung der Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung wie auch die der anderen Sozialversicherungszweige „in starkem Maße“ von der Wirtschafts- und damit der Arbeitsmarktentwicklung abhängig. Die Gesamtleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung entsprachen ungefähr einem Drittel des gesamten Sozialbudgets. Den weit überragenden Teil stellten die Rentenausgaben vor den Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner dar. Die Gesamtausgaben nahmen um mehr als ein Viertel seit der Jahr78

hundertwende zu und die Ausgaben für die Krankenversicherung für Rentner sowie für Teilhabe stiegen kontinuierlich. Bei den Einnahmen ragten die Beiträge hervor, aber auch der Bundeszuschuss und die Erstattungen aus öffentlichen Mitteln sind seit Anfang des Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen und entsprechen rund einem Viertel der Gesamteinnahmen. Die Einnahmen bestanden zu ca. drei Viertel aus den Beiträgen und zu ca. einem Viertel aus dem Bundeszuschuss. Dieser Befund verdeutlicht, dass die Ausgaben der Rentenversicherung zu einem nicht unerheblichen Teil vom Bundeshaushalt und damit vom Steuerzahler mit bestritten wurden. Der Rentenbeitragssatz war zunächst von 19,5 % (1999) auf 19,1 % (2001) gesenkt worden, stieg dann auf 19,9 % (2007), bevor er im Jahre 2012 auf 19,6 %, 2013 auf 18,9 % und ab 2015 auf 18,7 % verringert wurde. Insgesamt gesehen spiegelt der Rentenbeitragssatz den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung wieder wie die Bemühungen der Regierungen, diesen wichtigen Faktor der sog. Lohnnebenkosten zu begrenzen. So führte die Beitragssenkung 2013 zu einer Entlastung von 6,4 Mrd. Euro für die Arbeitnehmer und die Unternehmen. Wesentlich höhere Beitragssätze bestehen im Übrigen bei der knappschaftlichen Rentenversicherung.

1.1.4 Ergänzung: Alterssicherung der Landwirte Die Alterssicherung der Landwirte ist ein eigenständiges Sicherungssystem für landwirtschaftliche Unternehmer und ihre Angehörigen. Seit 1. Januar 2013 ist eine neue Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in Kraft, die alle bisherigen Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zusammenfasst und den Namen „Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ trägt. Diese übernimmt die Alterssicherung für Landwirte. Die Leistungen der Alterssicherung werden durch Beiträge der Versicherten und durch Bundesmittel finanziert. Insgesamt stieg seit 2001 die Zahl 79

der Renten leicht an, von 586 100 (September 2001), darunter 278 100 Altersrenten, 100 400 Erwerbsminderungsrenten und 207 700 Renten wegen Todes, auf schließlich 598 000 (2015), darunter 378 000 Altersrenten, 43 000 Renten wegen Erwerbsminderung und 174 000 Renten wegen Todes.101 Vor allem die Altersrentenzahl nahm deutlich zu, während die Erwerbsminderungsrenten sich nahezu halbierten. Die Ausgaben der Alterssicherung für Landwirte sanken von 3,334 Mrd. Euro (2001) auf 2,8 Mrd. Euro (2015). Bei der Finanzierung dominierte der Bundeszuschuss, der 2016 2,2 Mrd. Euro betrug und mehr als drei Viertel der Ausgaben finanzierte.

1.2

Die gesetzliche Krankenversicherung

Neben der Rentenversicherung nimmt die gesetzliche Krankenversicherung einen hervorgehobenen Rang im Gefüge des Systems der sozialen Sicherung ein. Sie bildet das „Kernstück“ des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik Deutschland, denn rund 90 % der Bevölkerung sind in der solidarisch ausgerichteten gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Neben den im Folgenden vorgestellten Leistungen und ihrer Finanzierung sei zusätzlich auf die wachsende Bedeutung des gesamten Gesundheitsmarktes als Beschäftigungsfeld hingewiesen. So arbeiteten im Jahre 2017 5,1 Mio. Menschen im Gesundheitswesen, was in etwa 12 % aller Beschäftigten entsprach. Der Sozialbericht 2013 sah deshalb zu Recht außer in den finanziellen Einnahme-, Ausgabe- und Strukturproblemen der gesetzlichen Krankenversicherung vor allem in einem drohenden Fachkräftemangel im Gesundheits- und Pflegebereich eine „entscheidende Herausforderung der nächsten Jahre“102. 101 102

Zahlen nach Sozialbericht 2001, S. 99; Sozialbericht 2017, S. 218f. Sozialbericht 2013, S. 70. 80

Die gesetzliche Krankenversicherung erlebte seit dem Jahr 2000 bis zur zweiten Großen Koalition der Regierung Merkel eine Vielzahl von Reformen bzw. Umbaumaßnahmen, die weitgehend den Versuch darstellten, in dem von zahlreichen Mitspielern, Interessengruppen bzw. Betroffenen politisch beeinflussten Gesundheitssektor, die sich beschleunigenden Ausgaben in den Griff zu bekommen.

1.2.1 Adressaten Wie erwähnt wird der außerordentliche Stellenwert der gesetzlichen Krankenversicherung im gesamten System der sozialen Sicherung offensichtlich, denn fast 90 % der Bevölkerung sind hier versichert. Noch vor der deutschen Wiedervereinigung war es 1989 zu einer Neubestimmung des versicherten Personenkreises gekommen, demzufolge nunmehr zwischen drei Formen der Versicherung unterschieden wurde, nämlich einer Versicherung kraft Gesetzes (= Versicherungspflicht), einer freiwilligen Versicherung (= Versicherungsberechtigung) und der Versicherung der Familienangehörigen (= Familienversicherung).103 Die Mitgliedsstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung ergab seit der Jahrhundertwende folgenden Befund:104

103

104

Vgl. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode Drucksache 11/7527 Unterrichtung durch die Bundesregierung, Sozialbericht 1990, S. 119f. Tabelle nach Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2001, Bonn 2002, S. 248; Sozialbericht 2009, S. 266; Sozialbericht 2013, S. 183; Sozialbericht 2017, S. 209. 81

Tabelle 5: Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (in 1000) Jahr 2000 2002 2005 2009 2012 2013 2016

Versicherte (insg.) 70 000 (rd.) 70 783 70 500 70 012 69 704 69 861 71 405

Pflichtmitglieder

Rentner

29 206 28 826 28 690 29 912 30 112 30 458 32 582

15 302 16 230 16 901 16 876 16 765 16 671 16 802

Freiwillig Versicherte 6 528 5 914 4 817 4 448 5 172 5 306 5 832

Mitversicherte Angehörige 19 813 20 092 18 775 17 665 17 427 16 188

Auffällig ist der Anstieg der Zahl der mitversicherten Angehörigen 2005, der im Zusammenhang mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu sehen ist. Insgesamt aber ist die Zahl der mitversicherten Angehörigen kontinuierlich zurückgegangen, während umgekehrt die Zahl der freiwilligen Mitglieder seit 2009 anwuchs. 2016 waren somit rund 32,5 Mio. Personen in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert bzw. mit den pflichtversicherten Rentnern waren es annähernd 49,4 Mio. Personen. Der starke Rückgang bei den Familienversicherten im Jahr 2016 ist auf eine gesetzliche Änderung für Bezieher von Arbeitslosengeld II durch das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zurückzuführen, denn seit dem 1. Januar 2016 wurden alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die älter als 15 Jahre sind, als Pflichtmitglieder in der GKV erfasst.

1.2.2 Leistungen und Reformen Der Komplex der gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesundheitsversorgung hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielfache Reformen und Umbaumaßnahmen erlebt. Bereits vor der deutschen Wiedervereinigung waren Strukturreformen in Gang gesetzt worden, die im Kontext einer Begrenzung der Ausgaben im Zusam82

menhang mit der wachsenden Zahl älterer Menschen und des fortschreitenden medizinisch-technischen Fortschritts standen. Dabei wurden u.a. die Leistungen der Krankenversicherung generell auf das medizinisch notwendige beschränkt, die Ausgaben durften nicht stärker als die Beitragseinnahmen steigen (Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 zur Ausgabenbegrenzung). Kostenbremsen sollten zur Absenkung der Arzneimittelpreise und der Zahnersatzleistungen beitragen, Zulassungsbeschränkungen für niedergelassene Ärzte (ab 1993) wurden erlassen sowie Zuzahlungen bei verordneten Arzneimittel und Verbandmittel eingeführt. Zentraler Bestandteil der Bemühungen um Kostenbremsung war der Arzneimittelbereich. Seit 1996 konnten auch Arbeiter ihre Krankenkasse frei wählen, um den Wettbewerb zwischen den Kassen zu intensivieren. Ein Risikostrukturausgleich sollte die bestehenden Beitragssatzunterschiede abbauen, die von den Krankenkassen nicht beeinflussbar waren wie die Höhe der Beitragseinnahmen, die Zahl der mitversicherten Familienmitglieder, das Geschlecht und das Alter der Versicherten. Um die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Kassen weiter zu verbessern, konnten in Zukunft Kassen sich leichter zusammenschließen, so ab 1993 die Orts- und Innungskrankenkassen, ab 1996 die Betriebskrankenkassen und ab 1995 die Ersatzkassen. Die neue rot-grüne Regierung seit 1998 wurde auch auf dem Gebiet der Krankenversicherung aktiv und nahm zunächst beschlossene Maßnahmen ihrer Vorgängerin zurück, indem sie u.a. die Zuzahlungen weitgehend senkte, den Zahnersatz wieder zu einer Sachleistung für nach 1978 Geborene machte und das sog. „Krankenhaus-Notopfer“ von 20 DM für die Jahre 1998 und 1999 aussetzte (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom Dezember 1998).105 105

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 64ff.; Sozialbericht 2005, S. 71ff. und S. 71 (das folgende Zitat); Sozialbericht 2009, S. 117ff.; Sozialbericht 2013, S. 71ff. und Sozialbericht 2017, S. 68ff. 83

Mehr Wirtschaftlichkeit und Qualitätssicherung sollte nach Meinung der Bundesregierung das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Gesundheitsreform 2000) bewirken, wobei u.a. die Arzneimittelversorgung durch eine Positivliste, d.h. eine Liste der in der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähigen Arzneimittel, verbessert werden sollte. Auch die 1996 abgeschaffte Verpflichtung der Apotheken zur Bereitstellung von preisgünstigen (re-)importierten Arzneimitteln wurde wieder zur Intensivierung des Preiswettbewerbs gesetzlich vorgeschrieben. Weiterhin strebte der Gesetzgeber bis 2003 eine leistungsorientierte Vergütung im Krankenhaus durch die Einführung von diagnoseabhängigen Fallpauschalen an und die starre Abgrenzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung mit den Folgen von Mehrfachuntersuchungen oder nicht abgestimmten Behandlungsverläufen sollte aufgebrochen werden. Die Krankenkassen erhielten die Möglichkeit, ihren Versicherten eine abgestimmte Versorgung anzubieten (integrierte Versorgung). Im Rahmen der hausärztlichen Versorgung sollten zwecks passender Behandlung der Patienten am „richtigen Ort“ sog. „Lotsen“ als Steuerungsfunktion zur Organisation und Koordination eingerichtet werden. Eine Einschränkung der freien Arztwahl fand nicht statt. Im Bereich der stationären Versorgung konnte die Bundesregierung wegen politischen Widerstands nur einige Maßnahmen im Rahmen des Gesundheitsreformgesetzes 2000 durchsetzen wie vor allem die 2001 beschlossene gesetzliche Einführung eines pauschalisierten Vergütungssystems zum 1. Januar 2003 bzw. verbindlich spätestens im Jahre 2004 (DRG-Fallpauschalensystem) anstelle von Tagespflegesätzen. Das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 führte für Krankenhäuser und Einrichtungen der stationären Versorgung ein umfassendes System der Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung ein. Außerdem wurde das umstrittene Arzneimittelbudget entschärft und die damit gekoppelte kollektive Regresspflicht der Ärzte abgeschafft. 84

Da eine Steigerung der Arzneimittelausgaben letztendlich nicht verhindert werden konnte, hat die Bundesregierung im Dezember 2001 beschlossen, dieses Arznei- und Heilmittelbudget abzuschaffen und die Kollektivhaftung aufzuheben, d.h. die gesetzlich vorgegebene Verringerung der Gesamtvergütung bei Budgetüberschreitungen. Nunmehr sollten Arzneimittelvereinbarungen zwischen den Kassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen getroffen werden. Schließlich wurde zum 1. Januar 2002 das Kassenwahlrecht geändert, so dass nunmehr Versicherte ohne festen Stichtag ihre Krankenkasse kündigen konnten. Jedoch mussten sie mindestens 18 Monate bei der neu gewählten Krankenkasse verbleiben, außer die Kasse erhöhte ihren Beitragssatz. Die zweite rot-grüne Regierung nach 2002 initiierte weitere, teilweise umstrittene Änderungen bzw. Reformen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Im Sozialbericht 2005 untermauerte die Bundesregierung die Auswirkung der wirtschaftlichen Krise auf die Beitragsentwicklung bei der Krankenversicherung, aber auch die veränderte Mitgliederstruktur wie eine größere Zahl von Rentnern, die weniger einzahlten und gleichzeitig mehr Leistungen beanspruchten, d.h. „wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft mit einer steigenden Lebenserwartung und einem wachsenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung“ sowie einem dynamischen medizinischen Fortschritt. Strukturelle Aspekte betraf das Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz – BSSichG). Es beinhaltete einige Einschnitte wie Rabatte für die Krankenkassen bei Arzneimitteln, Anhebung der Versicherungspflichtgrenze, eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung, die Halbierung des Sterbegeldes, das Einfrieren von Vergütungen für ärztliche Versorgung und zahntechnische Leistungen. Weiterhin wurden die Verwaltungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2003 bis zum Jahre 2007 eingefroren. 85

Eine weitere, parteiübergreifende Reform, das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung von 2003, beinhaltete eine Reihe von Maßnahmen, die durchaus Neuland betraten. Den Hintergrund hatte die bis Ende 2003 erheblich zugenommene Verschuldung der Krankenkassen – knapp sechs Mrd. Euro – infolge überproportionaler Ausgabenzuwächse insbesondere bei den Arzneimitteln gebildet. Zunächst mussten zukünftig die Patienten Zuzahlungen – maximal 10 Euro – für Arznei-, Verband- und Hilfsmittel, für Krankenhausbehandlung (für maximal 28 Tage) und eine Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro pro Quartal bestreiten. Allerdings blieb die soziale Balance gewahrt und eine finanzielle Überforderung der Menschen wurde vermieden: Die Zuzahlungen aus eigener Tasche wurden auf maximal zwei Prozent des jährlichen Einkommens begrenzt, für chronisch kranke Menschen und Sozialhilfeempfänger sogar auf ein Prozent. Des Weiteren wurden nunmehr sog. versicherungsfremde Leistungen wie das Krankengeld für die Betreuung eines Kindes oder das Mutterschaftsgeld der gesetzlichen Krankenkassen durch Steuermittel mitfinanziert, bestimmte Leistungen nicht mehr von der Krankenversicherung übernommen bzw. nur eingeschränkt wie Sehhilfen, Sterilisation, Fahrtkosten und Sterbegeld. Die Krankenkassen erhielten die Möglichkeit, ihren Kunden Selbstbehalttarife anzubieten, bei denen die Patienten bei einer medizinischen Behandlung einen festgelegten Höchstbetrag selber tragen mussten, im Gegenzug dafür jedoch einen Beitragsbonus gewährt bekamen. Auch sollten Krankenkassen ein Hausarztmodell mit Bonus anbieten, in dem der Hausarzt immer erster Ansprechpartner sein sollte. Krankenhäuser durften vermehrt ambulante Versorgung anbieten. Schließlich wurde ein Sonderbeitrag der Versicherten zur Finanzierung einzelner Bereiche der Versicherungsleistungen wie Zahnersatz oder Krankengeld in Höhe von 0,9 % ab Januar 2006, vorgezogen auf 1. Juli 2005, ohne Beteiligung der Arbeitgeber eingeführt, was 86

mit der angestrebten Senkung der Lohnnebenkosten begründet wurde. Gleichzeitig mussten die übrigen Beitragssätze der Krankenkassen im gleichen Umfang gesetzlich abgesenkt werden. Eine weitreichende, vom bisherigen Grundsatz der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung abweichende Entscheidung war damit getroffen worden. Infolge dieses Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung erzielten die Krankenkassen 2004 erstmals wieder einen sichtbaren Überschuss von rund vier Mrd. Euro, der zum Teil zum Abbau der Schulden herangezogen wurde und nicht an die Mitglieder als Beitragssenkung weitergereicht wurde. Schon vor dem Modernisierungsgesetz waren weitere Änderungen eingeführt worden wie die bereits erwähnte schrittweise Implementation des DRG-Fallpauschalensystems (Diagnosis Related Groups), das zu mehr Wirtschaftlichkeit bei der stationären Versorgung beitragen sollte. Bis dato wurden die Krankenhäuser mit tagesbezogenen Pflegesätzen vergütet, die u.a. dazu geführt hätten, dass Patienten zu lange im Krankenhaus verblieben. Ab 2004 erfolgte die verbindliche Installation dieses neuen Finanzierungssystems für Akutkrankenhäuser (außer in psychiatrischen Einrichtungen). Von 2005 bis 2009 beschloss der Bundestag Maßnahmen der Regierung zur Begrenzung und Senkung von Arzneimittelausgaben. So sollte das im Mai 2006 in Kraft getretene ArzneimittelversorgungsWirtschaftlichkeitsgesetz die Arzneimittelausgaben durch u.a. einen zweijährigen Preisstopp für Arzneimittel in der Gesetzlichen Krankenversicherung senken. Im Jahre 2006 wurde die gesetzliche Krankenversicherung um rund 950 Mio. Euro und im darauf folgenden Jahr um rund 1,3 Mrd. Euro entlastet. 2007 erfolgten verschiedene Maßnahmen zur Liberalisierung und Flexibilisierung für Vertragsärzte, um z.B. die regionale Versorgung sicherzustellen wie die Erlaubnis, gleichzeitig in einer Arztpraxis und in einem Krankenhaus tätig zu sein oder die Aufhebung der Altersgrenze von 55 Jahren für 87

die Erstzulassung von Vertrags (Zahn)Ärzten bzw. die Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren für das Ende einer vertrags(zahn)ärztlichen Tätigkeit in unterversorgten Gebieten. Einen breiten Raum nahmen organisatorische, finanztechnische und strukturelle Reformen im Gesundheitswesen ein, so durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, das im Wesentlichen am 1. April 2007 in Kraft getreten war und u.a. folgende Maßnahmen enthielt: –









Nunmehr galt eine Versicherungspflicht für alle Personen, so dass Bürger, die vor der fehlenden Absicherung bei Krankheit zuletzt gesetzlich krankenversichert gewesen waren und ihren Wohnsitz in Deutschland hatten, in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig wurden Versicherungspflichtig wurden nunmehr auch diejenigen Bürger, die keinen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall hatten, die also weder gesetzlich noch privat versichert waren Personen, die dem System der privaten Krankenversicherung zuzuordnen waren, mussten sich seit dem 1. Januar 2009 wieder bei einer privaten Krankenversicherung versichern, wobei mindestens ambulante und stationäre Heilbehandlung vertragsmäßig enthalten sein musste Zum 1. Juli 2008 erfolgten weitere organisatorische Umstrukturierungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf der Bundesebene, so dass es nur noch einen einzigen Spitzenverband geben sollte, nämlich den Spitzenverband Bund der Krankenkassen als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Diese neue Einrichtung vertrat die Belange der gesetzlichen Krankenversicherung auf Bundesebene. Seit 1. Januar 2010 konnten nun landesweit tätige Krankenkassen insolvenzfähig werden Eine grundlegende Reform erfuhr die Struktur des Gesundheitswesens durch die Einführung des Gesundheitsfonds zum 88

1. Januar 2009, der die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Rentner, Selbstständigen und sonstigen Beitragszahler einsammeln sollte und diese mit dem Bundeszuschuss – bis maximal 14 Mrd. Euro – an die einzelnen Krankenkassen weiterleitete. Die Mittel des Fonds sollten nach einer einheitlichen Kopfpauschale an die Krankenkassen verteilt werden, wobei ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich Zu- oder Abschläge beinhaltete. Zugleich wurde ein einheitlicher und paritätischer Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 14,6 % bzw. infolge des Konjunkturpakets II ab 1. Juli 2009 von 14,0 % bestimmt, so dass die Kassen ihre Beitrags- und Finanzautonomie verloren. Dazu kam ein zusätzlicher Beitragsanteil von 0,9 %, den nur die Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung tragen mussten. Parallel zum Gesundheitsfonds wurde ein überarbeiteter Risikostrukturausgleich (RSA) eingesetzt, der die Morbidität und den daraus resultierenden erhöhten Versorgungsbedarf kranker Versicherter berücksichtigt. Der Gesundheitsfonds sollte nach Vorstellung der Regierung den Wettbewerb der Krankenkassen verstärken und zugleich einer Risikoselektion und damit einen Wettbewerbsnachteil von Krankenkassen, die überdurchschnittlich viele, vor allem chronisch kranke und bzw. oder Versicherte mit niedrigem Einkommen aufwiesen, vorbeugen. Die Zuweisungen für die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds basierten auf diesem reformierten Risikostrukturausgleich. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Morbidität berücksichtigten die Zuweisungen die Alters-, Geschlechts- und Risikostruktur ihrer Versicherten. Letztendlich bestimmte das Bundesversicherungsamt 80 festgelegte, chronische und kostenintensive Krankheiten und damit die Risikostruktur. Wie bereits erwähnt, sollten die betreffenden Reformen den Wettbewerb für eine qualitativ hochwertige und effiziente medizinische 89

Versorgung intensivieren. Dies sollte etwa durch mehr individuelle Vereinbarungen mit den Ärzten, die von kollektiven Vereinbarungen abweichen durften oder mittels Preisverhandlungen über Arznei- und Hilfsmittel erreicht werden. Die Krankenkassen konnten nun Wahltarife anbieten wie Selbstbehalttarife, Beitragsrückerstattungen oder die Teilnahme an besonderen Versorgungsformen. Im Bereich der Arznei- und Hilfsmittel erhielten sie die Möglichkeit, ihren Versicherten sog. Generika, d.h. patentfreie und wirkstoffgleiche Arzneimittel innerhalb von Rabattvereinbarungen anzubieten. Schließlich erfolgte ebenfalls zum Jahresbeginn 2009 eine Reform der privaten Krankenversicherung durch die Einführung eines Basistarifs, der den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprach. Dieser Basistarif war für alle neu privat Versicherten sowie Personen ohne Versicherungsschutz, die vormals privat versichert gewesen waren, gedacht und ermöglichte den Wechsel jederzeit in den Basistarif eines anderen Unternehmens. Der neue Basistarif musste in der Art, dem Umfang und der Höhe den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar sein, Leistungsausschlüsse und Risikozuschläge waren verboten. Der Beitrag des Basistarifs durfte den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von rund 570 Euro nicht überschreiten. Altersrückstellungen, die bei den privaten Versicherungsunternehmen als Vorsorge für höhere Gesundheitskosten im Alter gebildet werden, konnten nunmehr beim Wechsel eines Versicherungsunternehmens erleichtert übertragen werden. Der Sozialbericht 2013 führt folgende Maßnahmen zur Stabilisierung der Einnahmen- und Ausgabensituation und der Versorgungsstrukturen an: So wurde für den Zeitraum von August 2010 bis Ende Dezember 2013 eine Senkung der Arzneimittelkosten durch ein Preismoratorium und durch einen erhöhten Herstellerabschlag für verschreibungspflichtige Arzneimittel beschlossen. Zum Jahresbeginn 2012 trat das Versorgungsstrukturgesetz in Kraft, das weiterhin eine 90

zukünftig flächendeckende wohnortnahe medizinische Versorgung u.a. durch Anreize im Vergütungssystem ermöglichen sollte. Zu Beginn des Jahres 2010 legte die Bundesregierung den Beitragssatz auf 15,5 % fest, der den alleine von den Versicherten aufzubringenden Sonderbeitrag von 0,9 % enthielt, und machte damit die infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise verfügte Beitragssatzsenkung von 0,6 % wieder rückgängig. Zum 1. Januar 2015 wurde der allgemeine, paritätisch finanzierte Beitragssatz auf 14,6 % festgelegt und zugleich individuelle, einkommensabhängige Zusatzbeiträge der Krankenkassen eingeführt (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz von 2014). Der Arbeitgeberbeitrag wurde dabei auf 7,3 % „eingefroren“. Des Weiteren wurde die Gründung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen für Maßnahmen der Qualitätssicherung beschlossen. Weitere Maßnahmen im Bereich der Gesundheit betrafen die Bereiche Prävention und Gesundheitsförderung sowie Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Schließlich sollte durch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (2015) eine weiterhin gut erreichbare medizinische Versorgung unabhängig vom Wohnort sichergestellt werden, u.a. durch Anreize für die Niederlassung von Ärzten in strukturschwachen Gebieten. Das Krankenhausstrukturgesetz von 2015 zielte auf die Besserung der Qualität der Krankenhausversorgung ab und berücksichtigte Qualitätsaspekte bei der Krankenhausplanung. Schließlich sei das schon erwähnte Pflegereformgesetz zur Sicherung der Fachkräfte in der Pflege noch kurz aufgegriffen, das die bisherige Altenpflegeausbildung und Krankenpflegeausbildung zusammenführen soll, so dass ein generalistischer Abschluss als Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann möglich wird. Auf diesen Ausbildungsgang aufbauend wird eine Spezialisierung für die Kinderkrankenpflege oder die Altenpflege möglich. Im Jahr 2013 wurde die Praxisgebühr für ärztliche, psychotherapeutische und zahnärztliche Behandlungen abgeschafft. 91

1.2.3 Einnahmen und Ausgaben Die vorher knapp skizzierten, zahlreichen Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung stellten weitgehend den Versuch dar, in diesem von zahlreichen politischen Mitspielern bzw. Interessengruppen und Betroffenen beeinflussten Gesundheitssektor die sich beschleunigenden Ausgaben in den Griff zu bekommen. Ein Ausdruck der vielfachen Bemühungen um eine finanzielle Stabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherung waren die zahlreichen Beitragssteigerungen bis zur Einführung eines generellen Beitragssatzes durch den Gesetzgeber 2009. Die Bundesregierung hatte bereits in ihrem Sozialbericht 1993 festgestellt, die gesetzliche Krankenversicherung könne finanziell nur dann bei gleichbleibenden Beitragssätzen stabil bleiben, „wenn sich die Ausgabenentwicklung der Krankenkassen im Rahmen der beitragspflichtigen Einnahmen hält“106. Die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung von 2000 bis 2015 zeigt die folgende Übersicht:107

106 107

Sozialbericht 1993, S. 64 und ebenda, S. 64ff. (zum Folgenden). Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 248f.; Sozialbericht 2009, S. 267; Sozialbericht 2013, S. 184; Sozialbericht 2017, S. 210 und eigenen Berechnungen. Die Leistungen beinhalten den Risikostrukturausgleich nicht. 92

Tabelle 6: Leistungen und Einnahmen bzw. Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (in Mrd. Euro) Leistungen

2001s

2002

2005

2009

2013

Leistungen insgesamt Ärztebehandlung und Heilmittel Behandlung durch Zahnärzte und Zahnersatz Arzneimittel und Hilfsmittel Krankenhaus Krankengeld Sonstige Leistungen108 Sonstige Ausgaben109 Verwaltungsausgaben Verrechnungen110

137,9 21,9

142,1 27,6

143,0 169,8 27,2 32,4

194,0 38,1

11,6

11,5

9,9

11,2

12,6

13,5

16,4

21,7

28,6

29,6

35,5

36,9

42,2

94,5

44,9 7,8 22,2 0,7 7,5 -

46,0 7,6 12,6 0,3 7,2 0,8

48,3 5,9 13,5 0,5 7,3 0,9

55,3 7,3 18,1 1,0 8,3 0,7

64,0 9,8 20,9 1,8 8,8 1,1

69,1 11,2 23,6 1,2 9,3 1,2

53,9 43,6 6,3 71,4 24,0 50,0

195,9 209,6 182,1 195,7

54,6 47,7

Finanzierung Finanzierung insgesamt Beiträge (mit Zusatzbeiträgen) Bundesmittel Sonstige Einnahmen111 Verrechnungen

135,6 138,8 132,5 136,1 3,5 2,9

1,3 0,8 0,7

144,8 168,1 140,1 158,5 3,7 0,5 0,4

8,6 0,7 0,3

13,0 0,5 0,3

2015 Zuwachs in % 213,1 54,5 41,8 90,9

13,0 0,5 0,3

900,0 -85,7 -89,7

Blickt man zunächst auf die Ausgabenseite, so fallen die deutlichen Zuwächse der Gesamtausgaben seit 2005 auf und im Einzelnen die 108

109 110

111

Fahrtkosten, Sachleistungen bei Schwangerschaft/Mutterschaft einschließlich stationärer Entbindung, Haushaltshilfe, häusliche Krankenpflege. Insbesondere Telematik, Prämienzahlungen, Schuldzinsen. V.a. Vorsorgeaufwendungen für Beschäftigte der Krankenkassen. Zuwachsrate von 2002 bis 2015 nach eigenen Berechnungen. Vermögenserträge, Erstattungen, Zuschüsse. 93

stark gestiegenen Kosten für Krankenhäuser, für Arznei- und Heilmittel sowie für Ärztebehandlungen. Betrachtet man die einzelnen Ausgabeposten in den Jahren von 2001 bis 2015, so verzeichneten die Aufwendungen für Arzneimittel und Hilfsmittel sowie die Ärztebehandlungen die höchsten Zuwachsraten. Jährliche Wachstumsraten der Ausgaben von durchschnittlich 1,9 % bestanden zwischen 2002 und 2008 und stiegen auf rund vier Prozent von 2008 bis 2012. Der überproportionale Anstieg 2009 ist auf höhere ärztliche Vergütungen und mehr Ausgaben für die Krankenhausfinanzierung zurückzuführen. Von 2012 bis 2016 stiegen die Leistungen jährlich um durchschnittlich fast fünf Prozentpunkte. Bei den Ausgaben insgesamt fällt ein Drittel auf den Krankenhausbereich und jeweils etwa ein Fünftel für Arznei- und Hilfsmittel bzw. die ärztliche Behandlung ohne Zahnärzte (z.B. 2008 und 2012). Auf der Einnahmeseite dominierten uneingeschränkt die Beiträge und seit 2009 die stark gestiegenen Bundesmittel für die pauschale Abgeltung der Aufwendungen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben der Krankenversicherung. Von 2001 bis 2013 wird der enorme Zuwachs der Bundesmittel mit einer mehr als Verachtfachung sichtbar. Von 2008 bis 2012 erzielte die gesetzliche Krankenversicherung abgesehen vom Krisenjahr 2009 deutliche Überschüsse. Bereits vor dem Beginn der Legislaturperiode 2013 waren die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung stärker als die Einnahmen gestiegen, so dass die Beitragsätze der Krankenkassen erhöht werden mussten.112 Hierbei muss bei der Einnahmeseite die konjunkturelle Lage und die demographische Entwicklung berücksichtigt werden, während bei der Ausgabenseite der letztgenannte Faktor infolge des wachsenden Anteils älterer Menschen und als Konsequenz des medizinischen Fortschritts bemerkbar wurde. So sank von 2003 112

Vgl. Sozialbericht 2013, S. 70 und zum Folgenden Sozialbericht 2017, S. 68f. 94

bis 2011 die Zahl der Versicherten auf 69,6 Mio. Personen, während die Ausgaben im gleichen Zeitraum von 145,1 Mrd. Euro auf 179,6 Mrd. Euro anstiegen, vorrangig wegen überproportionaler Zuwachsraten bei den Arzneimittelausgaben. Das GKV-Änderungsgesetz beinhaltete deshalb zur Senkung der Arzneimittelkosten ein Preismoratorium von 2010 bis 2013 und eine Erhöhung des Herstellerabschlags für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel. Die Stabilisierung der Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung bildete neben der Sicherung der Versorgung die politische Hauptaufgabe auch zu Beginn der neuen Legislaturperiode 2013. Eine insgesamt positive Bilanz zur finanziellen Lage der gesetzlichen Krankenversicherung am Ende des Jahres 2016 infolge der positiven Entwicklung bei den Löhnen und am Arbeitsmarkt zog die Bundesregierung in ihrem Sozialbericht 2017 unter Verweis auf Finanzreserven der Krankenkassen von ca. 15,9 Mrd. Euro sowie einer Reserve von 9,1 Mrd. Euro im Gesundheitsfonds. So waren die Beitragseinnahmen der gesetzlichen Krankenkassen von 2012 bis 2016 deutlich gestiegen. Der Bundeszuschuss zur Abgeltung der Aufwendungen der Krankenversicherung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben ist seit 2003/2004 bis 2012 im Kontext der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise schneller als geplant gestiegen, jedoch konnte er infolge der raschen wirtschaftlichen Erholung 2013 und 2014 um 2,5 Mrd. Euro bzw. 3,5 Mrd. Euro abgesenkt werden und einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes leisten. 2016 wurde er aber wieder auf 14 Mrd. Euro angehoben, 2017 dauerhaft auf 14,5 Mrd. Euro.

95

1.3

Die gesetzliche Unfallversicherung

Die gesetzliche Unfallversicherung hat im Wesentlichen zwei Aufgaben:113 Zum einen soll sie präventiv Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und weitere arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren verhüten und zum anderen beim Eintritt von Arbeitsunfällen usw. die Leistungsfähigkeit der Versicherten wiederherstellen und gegebenenfalls mit Geldleistungen entschädigen. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind die Berufsgenossenschaften.

1.3.1 Personenkreis In der Unfallversicherung sind ohne Einbeziehung der Schülerunfallversicherung 2017 62,6 Mio. Personen versichert sowie 17,2 Mio. Schüler und Studenten und Kinder in Tageseinrichtungen. Im Laufe der letzten Jahre wurden immer mehr Personenkreise in den Versicherungsschutz einbezogen, so im Jahre 2005 Kinder in Tagespflege oder seit 2005, 2009 bzw. 2011 Personen, die im öffentlichen Interesse tätig wurden und ehrenamtlich Tätige bzw. bürgerschaftlich Engagierte in Vereinen oder Verbänden oder Teilnehmer an Freiwilligendiensten. Seit 2015 wurden Kinder und Jugendliche als Teilnehmer von Sprachförderkursen außerhalb von Schulen wie auch Pflegepersonen in die gesetzliche Unfallversicherung aufgenommen. Über die Unfälle und Leistungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung informiert die folgende Übersicht:114

113

114

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 91; Sozialbericht 2005, S. 104ff.; Sozialbericht 2009, S. 165ff.; Sozialbericht 2013, S. 105ff.; Sozialbericht 2017, S. 127ff. Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 252; Sozialbericht 2009, S. 270; Sozialbericht 2013, S. 188; Sozialbericht 2017, S. 214. 96

Tabelle 7: Unfälle und Leistungsfälle in der gesetzlichen Unfallversicherung (in 1000) Unfälle und Leistungsfälle Unfälle im Zsh. mit der Arbeit Davon: Arbeitsunfälle Davon: Wegeunfälle Schülerunfälle Berufskrankheiten Verdacht einer Berufskrankheit Anerkannte Berufskrankheit Renten (jeweils am Jahresende) Renten an Versicherte Renten an Hinterbliebene

2000p

2002

2005

2009

2011

2013

2015

1 749

1 530

1217

1 156

1 199

1 147

1 126

1 514 235 1 604

1 307 223 1 566

1 030 188 1 415

975 181 1 366

1 008 191 1 408

959 188 1 325

945 181 1 355

82

71

63

70

74

75

82

19

18

17

17

16

16

18

998 158

982 154

946 147

864 138

837 131

810 125

783 120

Die Zahl der meldepflichtigen Unfälle ist seit dem Jahre 2000 deutlich gesunken, wofür u.a. eine Verbesserung bei der Prävention verantwortlich gemacht wurde. Deutlich erkennbar ist der Rückgang bei den Arbeitsunfällen und bei den Wegeunfällen. Damit korrespondierte eine geringere Zahl von Renten an Versicherte bzw. Hinterbliebene.

1.3.2 Leistungen und Reformen Insgesamt wurden im hier untersuchten Zeitabschnitt immer mehr Krankheiten in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen und fielen damit in die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft 97

hat weiterhin Auswirkungen für die ausschließlich von den Arbeitgebern finanzierte gesetzliche Unfallversicherung. So sehen sich einzelne Gewerbezweige Nachteilen gegenüber, die ihre Leistungsfähigkeit bedrohen könnten und die eine übergreifende solidarische Lastenverteilung erfordern. Deshalb wurden 2003 gesetzliche Maßnahmen ergriffen, damit eine solidarische Lastenverteilung zwischen den einzelnen Branchen möglich wurde. Für die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft wurden 2004 rund 50 Mio. Euro Entlastung erreicht. Des Weiteren wurde 2005 der Lastenausgleich ausgebaut und Fusionen zwischen gewerblichen Berufsgenossenschaften erleichtert sowie ein interner Solidarausgleich innerhalb der gewerblichen Berufsgenossenschaften ermöglicht. 2008 wurden die Selbstverwaltungen der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom Gesetzgeber beauftragt, ihre Zahl von bisher 23 auf neun Träger zu reduzieren, um größere Risikogemeinschaften und leistungsfähige Träger zu schaffen, was dann zum 1. Januar 2011 erreicht wurde. Auch die bundesunmittelbaren Unfallkassen – Unfallkasse des Bundes, Eisenbahn-Unfallkasse, Unfallkasse Post und Telekom – wurden zu einer Einrichtung zusammengeführt. Diese Organisationsveränderungen führte die Regierung im Verlauf der Legislaturperiode von 2013 bis 2017 auf der Grundlage von früheren Entscheidungen fort. So wurde zum 1. Januar 2015 der neue Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand Bund und Bahn errichtet, der die Unfallkasse des Bundes und die Eisenbahn-Unfallkasse miteinbezog. Des Weiteren erfolgte zum 1. Januar 2016 die Eingliederung der Unfallkasse Post und Telekom sowie der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft in die Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft PostLogistik Telekommunikation, so dass nunmehr der Fusionsprozess auf der Ebene der bundesunmittelbaren Unfallkassen sein Ende fand.

98

1.3.3 Ausgaben Bekanntlich werden die Ausgaben der gesetzlichen Unfallversicherung durch ausschließlich von den Arbeitgebern getragene Beiträge finanziert, die sich an den Ausgaben des Vorjahres und an betrieblichen Kenngrößen wie Arbeitsentgelte und Gefahrenklassen orientieren. Die Ausgaben gliedern sich wie folgende Abbildung zeigt:115

  Die Gesamtausgaben der gesetzlichen Unfallversicherung sind insgesamt moderat gestiegen und weisen seit der Jahrhundertwende keine großen Schwankungen auf. Nicht berücksichtigt in der Abbildung sind die Ausgaben für Berufshilfe und ergänzende Leistungen, die sich im betreffenden Zeitraum mit einem Umfang von 0,2 Mrd. weitgehend nicht veränderten und die sonstigen Leistungen116, die eben-

115

116

Grafik nach Sozialbericht 2001, S. 253; Sozialbericht 2005, S. 198; Sozialbericht 2009, S. 271; Sozialbericht 2013, S. 188; Sozialbericht 2017, S. 215. U.a. Unterbringung in Alters- und Pflegeheimen, Zahnersatz, Sterbegelder oder Abfindungen. 99

falls mit 0,4 Mrd. Euro weitgehend stabil blieben. Die Beiträge der Unternehmen einschließlich der Beiträge der Selbstständigen machten rund 86 % aller Einnahmen aus. Die übrigen Einnahmen stellten Vermögenserträge und Zuschüsse des Bundes (in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung) dar.

1.4

Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung)

In diesem Kapitel wird die Arbeitsförderung, also die Arbeitslosenversicherung einschließlich der bis 2005 bestehenden Arbeitslosenhilfe, dem Jahr der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende, behandelt. Die Arbeitsförderung als „Kernstück der staatlichen Arbeitsmarktpolitik“117 soll einen hohen Beschäftigungsstand erreichen und erhalten. Aus Gründen einer besseren Übersichtlichkeit und Systematik wird bei der Darstellung der Leistungen, insbesondere der Arbeitsmarktpolitik, für den gesamten hier interessierenden Zeitraum nicht zwischen den seit 2005 bestehenden Rechtskreisen des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende, Arbeitslosengeld II) und des SGB III (Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosengeld) unterschieden. Insgesamt steht aber die Arbeitslosenversicherung – seit 2005 also der Rechtskreis des SGB III – im Mittelpunkt. Zur 2005 eingeführten Grundsicherung für Arbeitsuchende informiert unten das Kapitel 2.1.

1.4.1 Personenkreis Der Betrachtung des Personenkreises in der Arbeitslosenversicherung bzw. der Arbeitsförderung geht zunächst ein Blick auf den Arbeitsmarkt und die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland

117

Sozialbericht 2005, S. 11. 100

voraus.118 Die Zahl der Erwerbstätigen spiegelte den konjunkturellen Verlauf in einer Volkswirtschaft, wenngleich mit zeitlichen Verzögerungen, wider. So kann man festhalten, dass von 2000 bis 2004 die Erwerbstätigkeit um rund 300 000 zurückgegangen war. Im Jahr 2008 ist erstmals das Niveau von 40 Mio. Erwerbstätigen überschritten worden. Von 1991 bis 2016 insgesamt stieg die Zahl der in Deutschland wohnenden Erwerbstätigen um rund 4,7 Mio. auf rund 43,5 Mio. Personen an, wobei die Zunahme von etwa 1,3 Mio. Personen nur in den Jahren von 2013 bis 2016 den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung ausmachte. Die Erwerbstätigenquote – der Anteil der Erwerbstätigen gemessen an der Bevölkerung (20 bis 64-Jährige) – ist seit der Jahrhundertwende bis 2016 um zehn Prozentpunkte auf 78,7 % gestiegen. Hierfür zeichnete die bessere Ausschöpfung des Erwerbslosenpotenzials nach 2005 verantwortlich und vor allem die gestiegene Erwerbstätigkeit der Frauen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nahm von 26,3 Mio. (2005) auf 30,77 Mio. (2015) zu.119 Die sog. „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ wie Teilzeitbeschäftigung unter 20 Stunden, Minijobs, befriste Beschäftigung und Zeitarbeitsverhältnisse hatten bis 2010 deutlich zugenommen, seitdem ging ihre Zahl, abgesehen von der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung, zurück: Im Jahre 2005 waren es 6,86 Mio. Personen, 2010 7,95 Mio. und 2014 7,51 Mio. Die Zahl der Leiharbeiter hatte sich zunächst von

118

119

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2009, S. 250; Sozialbericht 2013, S. 166f.; Sozialbericht 2017, S. 192f.; Datenreport 2016, S. 127; Bundesagentur für Arbeit (Hg.), Der Arbeitsmarkt in Zahlen 2005 bis 2015, Nürnberg 2016, S. 9 und S. 13. Unter der Erwerbstätigenquote versteht man den Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung der gleichen Altersgruppe, also der 15 bis 64-Jährigen. Vgl. zum Folgenden Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 12f. 101

2005 bis 2015 mehr als verdoppelt, nämlich von 453 000 auf 961 000. Von 2014 bis 2016 erhöhte sie sich um 93 000 auf eine Million, ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung blieb aber weiterhin unter drei Prozent. Diese positive Entwicklung der Erwerbstätigkeit wurde von dem seit 2005 einsetzenden Rückgang der Arbeitslosigkeit flankiert. Zunächst betrachten wir die Entwicklung der gesamten Arbeitslosigkeit seit der Jahrhundertwende bzw. partiell seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Erwerbslosen, d.h. sowohl die Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bzw. nachmalig Arbeitslosengeld II (Grundsicherung) spiegelte die wirtschaftliche Entwicklung wider und beeinflusste die finanziellen Ausgaben der Arbeitslosenversicherung bzw. seit 2005 der Grundsicherung für Arbeitsuchende:120 Tabelle 8: Zahl der registrierten Arbeitslosen (im Jahresdurchschnitt) Jahr 1991 1995 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

120

Arbeitslosenzahl in 1000 2 602 3 611 4 279 4 099 3 889 3 852 4 060 4 376 4 381 4 860 4 487 3 760 3 259 3 415

Arbeitslosenquote in % 9,4 11,1 10,5 9,6 9,4 9,8 10,5 10,5 11,7 10,8 9,0 7,8 8,1

Vgl. die folgende Tabelle nach Datenreport 2016, S. 136; Sozialbericht 2001, S. 12; Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 22f. (zu 2015). Die Arbeitslosenquote bezieht sich auf alle zivilen Erwerbspersonen. 102

2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

3 239 2 976 2 897 2 950 2 898 2 790 2 690

7,7 7,1 6,8 6,9 6,7 7,1 6,1

Wie ersichtlich, war die gesamte Arbeitslosigkeit in den 1990er Jahren zunächst kontinuierlich gestiegen und ging 2001 vorübergehend zurück, um dann wieder bis zum Gipfelpunkt 2005 im gesamten hier interessierenden Zeitabschnitt anzuwachsen.121 Nach 2005 nahm die Arbeitslosigkeit ab, allerdings erlebte sie 2009 im Kontext der massiven Finanz- und Wirtschaftskrise wieder eine vorübergehende Zunahme, bevor sie dann bis 2016 kontinuierlich abschmolz und nach 2010 unter die 3-Millionenmarke fiel. Seit 2005 war die Arbeitslosigkeit um über zwei Mio. Personen auf 2,69 Mio. Menschen im Jahre 2016 gesunken. Allein von 2013 bis 2016 ging sie um 8,8 % zurück. Weiteren Aufschluss zur Struktur der Arbeitslosigkeit bringt die Differenzierung der Arbeitslosenzahl seit 2005 nach Arbeitslosengeldempfängern (= SGB III) und Arbeitslosengeld II-Empfängern der neuen Grundsicherung (= SGB II):122

121

122

Vgl. zu den folgenden Ausführungen zum Arbeitsmarkt Sozialbericht 2005, S. 11f.; Sozialbericht 2009, S. 16f.; Sozialbericht 2013, S. 7f. und Sozialbericht 2017, S. 14f.; Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 23 und S. 29. Vgl. die folgende Abbildung und Zahlen nach Datenreport 2016, S. 136 und S. 319f.; Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 24 (2005-2015) und eigenen Berechnungen; vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2013, S. 8f. und Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 31. 103

  Wie die Abbildung zeigt, stimmte die Entwicklung der gesamten Arbeitslosigkeit weitgehend mit der Verlaufskurve der Arbeitslosengeldempfänger überein, während diejenige der Arbeitslosengeld IIEmpfänger weniger dynamisch verlief. Der Anteil der Arbeitslosengeldbezieher (SGB III) an der Gesamtzahl der Arbeitslosen ist prozentual von 43 % (2005) auf 30,5 % (2016) gefallen. Demgegenüber stieg der Anteil der Empfänger des Arbeitslosengeldes II (SGB II) an der Gesamtzahl der Arbeitslosen von 57 % (2005) auf 69,5 % (2016). Der Vergleich nach den Rechtsgebieten offenbarte demzufolge zum Teil markante Unterschiede. Die Arbeitslosigkeit der Arbeitslosengeldempfänger ist von 2005 bis 2015 um fast drei Fünftel geschmolzen, hingegen nahm die Arbeitslosenzahl in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II) nur um ein knappes Drittel ab. Im Rechtskreis des SGB III ist im Übrigen alleine in den Jahren von 2013 bis 2016 die Arbeitslosigkeit um 15,2 % (= 148 000 Personen) deutlich stärker zurückgegangen als im Bereich des SGB II (-5,6 % bzw. 112 000 Personen). Betrachtet man des Weiteren die Altersgruppen, so fiel im gleichen Zeitabschnitt die Arbeitslosigkeit der Altersgruppe von 15 bis unter 25 Jahren um nahezu 13 % (= Quote 104

von 5,3 %), diejenige der 50 bis unter 65-Jährigen hingegen nur um sechs Prozentpunkte (= Quote 6,3 %). Ältere waren laut Bundesagentur für Arbeit im Zeitraum 2005 bis 2015 weiterhin stärker von Arbeitslosigkeit betroffen, dennoch ging vom Januar 2008 bis Januar 2015 die Arbeitslosenquote der 55- bis unter 65-Jährigen immerhin von 7,9 leicht auf 7,3 % zurück. Besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen waren Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, 2012 zählten 42 % aller Arbeitslosen zu dieser Gruppe und ein gutes Drittel war länger als ein Jahr arbeitslos. Zur weiteren Analyse ziehen wir die Dauer der Arbeitslosigkeit heran, also die Unterscheidung einer Arbeitslosendauer bis zu einem Jahr bzw. länger als ein Jahr (Langzeitarbeitslose). Die Langzeitarbeitslosigkeit als „eines der großen Probleme am deutschen Arbeitsmarkt“123, wie bereits die Regierung Schröder 2001 feststellte, betraf vor allem Ältere. Ihre Zahl stieg in den Jahren von 2000 bis 2005 um rund 16 % auf 1,76 Mio. Personen. Der im Vergleich zur Arbeitslosenzahl der Arbeitslosenversicherung langsamere Abbau dieser Langzeitarbeitslosigkeit zeigte die Problematik dieser Teilgruppe auf dem Arbeitsmarkt, wobei im Jahr 2015 rund zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen älter als 55 Jahre waren oder nur Helferniveau aufwiesen. 2016 besaßen 54 % der im Rechtskreis des SGB II der Grundsicherung für Arbeitsuchende betreuten Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung und 27 % waren älter als 55 Jahre. Schließlich sei noch ein kurzer Blick auf die Verteilung der Arbeitslosen nach arbeitsmarktpolitischen Kriterien geworfen. Von 2001 bis 2004 sank die Zahl der Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik leicht von 1,411 Mio. auf 1,325 Mio. Auch die Zahl der Teilnehmer in beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen verringerte sich im Jahre 2004 deutlich auf 181 000. Insgesamt nahm die Zahl der jährlichen Förderung von Bildungsmaßnahmen von 2001 bis 123

Sozialbericht 2001, S. 13; vgl. dazu auch Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 26. 105

2004 von 730 000 auf 560 000 ab. Die Abnahme betraf auch den sog. zweiten Arbeitsmarkt, denn hier wurde mit 116 000 Personen nur noch die Hälfte an Personen wie noch im Jahre 2001 beschäftigt (Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnamen). Die folgende Übersicht betrifft die Empfänger von Leistungen der Arbeitslosenversicherung und – bis zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – der Arbeitslosenhilfe:124 Tabelle 9: Teilnehmer und Empfänger von Leistungen der Arbeitslosenversicherung 2000 bis 2016 (1000 im Jahresdurchschnitt) Teilnehmer Berufliche Bildung Strukturanpassungsmaßnahmen Rehabilitation Arbeitnehmer in Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung Teilnehmer in ausgewählten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nach SGB III125 Empfänger von Berufsausbildungsbeihilfe Empfänger von Ausbildungsgeld Empfänger von Übergangsgeld Empfänger von Kurzarbeitergeld Empfänger von Arbeitslosengeld Empfänger von Arbeitslosenhilfe Eingliederungshilfe-/geld

124

125

2000 2002 2005 2008 2009 2010 2013 2016 1 341 110 78 204 -

735

808

733

409

455

174

181

177

99

92

65 67 72 74 75 65 22 8 7 7 7 86 206 125 102 1 144 503 124 1 695 1 898 1 728 969 1 215 1 085 975 1 456 23 18 -

63 7 851 -

-

1 306 392

152

180

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 254; Sozialbericht 2009, S. 272; Sozialbericht 2013, S. 190; Sozialbericht 2017, S. 216 und eigene Berechnungen. 2002 und 2005 auch Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung sowie Strukturanpassungsmaßnahmen. 106

Zusammenfassend verdeutlichten die Werte seit 2005 die Erholung auf dem Arbeitsmarkt, v.a. sichtbar an der Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld. Jedoch wurde der massive Einbruch der Finanzund Wirtschaftskrise 2008/09 erkennbar, der sich an der Verzehnfachung der Empfänger von Kurzarbeitergeld von 2008 auf 2009 und am deutlichen Anstieg der Arbeitslosengeldempfängerzahlen zeigte. Von 2002 bis 2013 ist jedenfalls eine erhebliche Abnahme bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu konstatieren. 2016 allerdings nahm die Zahl der Teilnehmer an ausgewählten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen – insbesondere bei den Instrumenten Aktivierung und berufliche Eingliederung – im Vergleich zum Vorjahr wieder deutlich zu. Unter allen Arbeitslosen wurden 2016 Langzeitarbeitslose wesentlich häufiger in Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung und in andere Beschäftigung schaffende Maßnahmen gefördert. So begannen 400 000 Langzeitarbeitslose eine derartige Fördermaßnahme (= 52 000 mehr als im Vorjahr). Im März 2017 befanden sich rund eine Mio. Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen:126 Ungefähr 250 000 Personen in Maßnahmen der Aktivierung beruflicher Eingliederung, ca. 380 000 in Bereichen der Berufswahl, Berufsausbildung und beruflicher Weiterbildung, 70 000 in besonderen Maßnahmen für behinderte Menschen und 90 000 absolvieren Beschäftigung schaffende Maßnahmen. Im Folgenden wollen wir noch die Beschäftigungssituation von Ausländern in Deutschland skizzieren:127 Nach dem Ende der Boom-

126

127

Vgl. Josef Schmid, Der Arbeitsmarkt als Problem und Politikum. Entwicklungslinien und aktuelle Tendenzen, in: APUZ 26 (2017), S. 12 und ebenda, S. 11-17. Vgl. Sozialbericht 2001, S. 126; Sozialbericht 2005, S. 150f.; Sozialbericht 2009, S. 50ff.; Sozialbericht 2013, S. 32ff.; Sozialbericht 2017, S. 34f.; Der Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 48ff. 107

phase wurde die Anwerbung sog. Gastarbeiter 1973 beendet, bis dahin waren rund 14 Mio. ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen, von denen ca. 11 Mio. nur zeitweise im Lande blieben. Von 1987 bis 2013 wanderten mehr als drei Mio. Aussiedler in Deutschland ein. Infolge der sukzessiven Öffnung des Arbeitsmarktes für EU-Bürger aus Osteuropa hatte sich erneut die Wanderungsbewegung nach Deutschland verstärkt. Ende 2001 lebten in Deutschland 7,3 Mio. Ausländer, Ende 2004 waren es 6,7 Mio. Die überwiegende Mehrheit kam aus den vormaligen Anwerbeländern Griechenland, Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Marokko, Portugal, Spanien, Tunesien und der Türkei. Die meisten Ausländer wohnten in den alten Bundesländern. Im Jahre 2008 waren 1,9 Mio. Ausländer sozialversicherungspflichtig beschäftigt (= 6,9 % aller in Deutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigen) und hier stellten die Türken die größte Gruppe. Fast ein Drittel dieser Beschäftigten entstammte den Staaten der Europäischen Union (= EU 15). Die enormen Finanzprobleme in Südeuropa und die vollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Staaten haben wiederum seit 2010 die Zuwanderung intensiviert, so dass die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter aus diesen Ländern – Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien – von 2010 bis 2015 um 124 % zunahm. 1998 wurde das Arbeitsgenehmigungsrecht geändert und u.a. der Fach- und Führungskräfteaustausch bei international tätigen Unternehmen erleichtert wie auch der Ehegattenaufenthalt. Asylbewerber und geduldete Ausländer erhielten nun nach 12 Monaten den Zugang zum Arbeitsmarkt. Schließlich unterstützte der Bund die Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer und abgelehnter Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge (Bosnien-Herzegowina). Von 1999 bis 2001 hatte sich hierbei die Förderung auf die Herkunftsländer Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien-Montenegro konzentriert. 108

Am 1. Januar 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft, dessen „Kernstück“ das neue Aufenthaltsgesetz anstelle des bisherigen Ausländergesetzes bildete. Nun wurde die Teilnahme von Ausländern an Integrationskursen geregelt, für die vor allem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig war. Die Begründung eines Aufenthaltsrechts zu einer vorab von der Bundesagentur für Arbeit zu genehmigenden Erwerbstätigkeit wurde ermöglicht, so dass arbeitsmarktpolitische Kriterien Eingang fanden. Weiterhin wurden Regelungen zum Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt abhängig von der Qualifikation festgelegt wie die Bevorzugung von hoch Qualifizierten. Bei normalen Zulassungen blieb es bei einer vereinfachten Vorrangprüfung durch die Arbeitsverwaltung sowie bei einem „Anwerbestopp“ für gering und normal Qualifizierte (mit Ausnahmen). Erleichtert wurde der Arbeitsmarktzugang für nachziehende Familienangehörige. Generell strebte man die weitere berufliche Integration hier lebender Migranten mit einem Schwerpunkt bei der Sprachförderung an. Ausländische Arbeitnehmer waren überproportional auf eher gefährdeten Arbeitsplätzen mit geringen Qualifikationsanforderungen beschäftigt. Außerdem gelang es vielfach nicht, ausländischen Jugendlichen eine Berufsausbildung zu vermitteln. „Besorgniserregend“ sei die Abnahme von Ausbildungen bei ausländischen Jugendlichen. Eine besondere Schwierigkeit stellte die Integration ausländischer Frauen dar, die vielfach sozial isoliert lebten. Vergleicht man die Teilhabe am Arbeits- und Ausbildungsmarkt zwischen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund mit derjenigen mit Migrationshintergrund, so bestanden bei einer jedoch großen Heterogenität Unterschiede:128 So erstreckte sich die Gruppe der Be128

Im Sozialbericht 2009, S. 50 wird Migrationshintergrund wie folgt definiert:“ Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewan109

völkerung mit Migrationshintergrund von den Hochqualifizierten, die Probleme haben, ihre ursprüngliche, im Ausland erworbene Qualifikation wegen fehlender Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt nicht umsetzen zu können, bis zu Migranten mit geringer schulischer und beruflicher Bildung. Jugendliche mit Migrationshintergrund wiesen überproportional ein geringes schulisches Niveau auf, was folgerichtig auch in der niedrigen beruflichen Bildung zum Ausdruck kam. Keinen beruflichen Abschluss hatten im Jahre 2008 44 % der Personen mit Migrationshintergrund und einem Alter zwischen 20 und 64 Jahren im Vergleich zu 15 % der Deutschen. 40 % der ausländischen Jugendlichen im Vergleich zu nur 15 % der deutschen Jugendlichen besuchten eine Hauptschule und überhaupt keinen Schulabschluss erreichten 16 % der ausländischen Jugendlichen bzw. 6,4 % der Deutschen (2007). Die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher sank seit Mitte der 1990er Jahre von 34 % (1994) auf 23,9 % (2007), bei Deutschen von 67 % auf 57,6 %. Auch im Sozialbericht 2013 wurde die Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt als eine der wichtigsten Aufgaben definiert. Die Bundesregierung räumte hier ein, dass die bisherige Bilanz der Arbeitsmarktintegration der Migranten „ernüchternd“ sei und weiterhin die Arbeitslosigkeit ungefähr doppelt so hoch sei wie bei den Deutschen (2012: 14,3 % zu 6,2 %). Zentraler Punkt blieb die Beherrschung der deutschen Sprache, so dass die Integrationskurse gefördert werden sollten. Der neueste Sozialbericht 2017129 betonte erneut die Arbeitsmarktintegration von Migranten als eine „gesamtgesellschaftliche Herausforderung“ angesichts von rd. 17,1 Mio. Menschen

129

derten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“. Vgl. Sozialbericht 2017, S. 34f. und ebenda, S. 35f. (zum Folgenden). 110

mit Migrationshintergrund (= 21,0 % bei einer Gesamtbevölkerung von 81,4 Mio.) im Jahre 2015. Die Arbeitslosigkeit von Ausländern war weiterhin wesentlich höher als bei Deutschen, denn die Quote betrug 2016 15,3 % im Vergleich zu 5,2 % bei Deutschen. Das entsprach im Vergleich zu 2013 sogar einer Zunahme um fast 25 %, während die Arbeitslosigkeit bei Deutschen um 386 000 Personen (= -15,8 %) abnahm bzw. insgesamt um 259 000 gesunken war. Die Aufnahme einer betrieblichen Ausbildung war auch 2014 bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, denen ein hohes Interesse für eine Ausbildung attestiert wurde, deutlich niedriger, wofür fehlende Schulabschlüsse und unterschiedliche Berufswahlpräferenzen wie regionale Ausbildungsmarktsituationen, verantwortlich waren. Auch innerhalb der Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund bestanden erhebliche Unterschiede, denn junge Menschen mit türkischer oder arabischer Herkunft fanden noch weniger einen Ausbildungsplatz. Die hohe Fluchtmigration 2015 und 2016 wird zunehmend auf dem Arbeitsmarkt sichtbar. Im Juni 2017 waren 490 000 schutzsuchende Menschen als arbeitsuchend gemeldet, darunter 181 000 Arbeitslose. Von den insgesamt 4,4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Rechtskreis des SGB II hatten im Februar 2017 11,6 % einen Fluchthintergrund. Da die Sprache den entscheidenden Aspekt bei der (Arbeits-) Integration darstellt, hat die Bundesregierung nach der großen Zuwanderung im Jahr 2015 die Mittel für die Integrationskurse für 2016 und 2017 erheblich ausgeweitet und für weitere Personenkreise – Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive – ausgebaut. Auch wurde das Programm zur berufsbezogenen Sprachförderung weiter intensiviert.

111

1.4.2 Leistungen und Reformen Die Arbeitsförderung erfuhr seit der Jahrhundertwende eine Vielzahl von Änderungen bzw. Reformen, wobei wir punktuell auf einige Gesichtspunkte vor 2000 eingehen werden. Aktive Arbeitsmarktpolitik hatte vor allem in den neuen Bundesländern ab 1990 eine große Rolle gespielt, da infolge des massiven Umbruchs in der ostdeutschen Wirtschaft im Einigungsprozess ein rasanter Beschäftigungsabbau eingetreten war. Nach Auffassung der Bundesregierung musste mit erheblichem Einsatz eine Arbeitsmarktpolitik gestartet werden, um „den sozialen Frieden in den neuen Ländern zu sichern und so zu gewährleisten, daß der Transformationsprozeß nicht an der Akzeptanzfrage scheitert“130. Zur Begrenzung der Einheitskosten in der Sozialversicherung waren von der Bundesregierung zum Jahre 1995 Einschnitte im Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), jetzt das SGB III, beschlossen worden wie eine Senkung der Lohnersatzleistungen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Kurzarbeitergeld, Eingliederungshilfe, Schlechtwettergeld, Unterhaltsgeld, Übergangsgeld oder eine Begrenzung der Bezugsdauer bei der originären Arbeitslosenhilfe. Durch das Inkrafttreten des SGB III zum 1. Januar 1998 wurden die produktiven Arbeitsförderungsmaßnahmen in Ost- und Westdeutschland zu sog. Strukturanpassungsmaßnahmen zusammengefasst, so dass einheitliche Förderbedingungen mit einer Höchstdauer von 36 Monaten galten. Insgesamt sollten diese Maßnahmen für einen Zeitraum von fünf Jahren bis 2002 in Kraft sein. Im Dezember 1998 rief die neue Bundesregierung Schröder mit den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ins Leben. Ein „Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik“ wurde propagiert, d.h. die ar130

Sozialbericht 1993, S. 10 und ebenda, S. 18f. (zum Folgenden); Sozialbericht 2001, S. 15 (das folgende Zitat). 112

beitsmarkt-politischen Instrumente sollten sich auf die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit und eine präventive Arbeitsmarktpolitik konzentrieren sowie die Problemgruppen wie junge Menschen, Langzeitarbeitslose, ältere Arbeitslose und Personen mit geringer Qualifikation in den Mittelpunkt rücken. Dazu sollte das 2001 verabschiedete Job-AQTIV-Gesetz dienen – AQTIV stand für die neuen Ansätze, d.h. Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren und Vermitteln. Weiterhin trat 1999 das Gesetz der Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft in Kraft, das Anreize schaffen sollte, Bauarbeiter in der Schlechtwetterzeit weiter zu beschäftigen. Im Sozialbericht von 2005 wurde von der Bundesregierung auf den „Paradigmenwechsel“ hin zu einem aktivierenden Sozialstaat verwiesen, der „wesentlich auf Befähigung und soziale Integration der Menschen abstellt“.131 Unter Bezugnahme auf die Agenda 2010 wurde mehr Eigenleistung und Eigenverantwortung gefordert, der „zentrale Bezugspunkt ist die Stärkung der Teilhabe- und Verwirklichungschancen des Einzelnen“, was durch mehr Bildung und Zugang zu Erwerbsarbeit erreicht werden sollte. Das Kernelement der Regierung war daher eine Sozialpolitik, die dem Leitbild des aktivierenden Sozialstaates folgte: die Förderung und Befähigung des Einzelnen zur Übernahme von Eigenverantwortung. Dies kam im Paradigma des „Förderns und Forderns“ zum Ausdruck. Im Rahmen der rot-grünen Reformen unter dem Schlagwort der Agenda 2010 nahm die Arbeitsförderung, d.h. die aktive Arbeitsmarktpolitik den entscheidenden Stellenwert ein. Die Arbeitsmarktpolitik sollte effizienter und wirksamer werden. Kernstück war die Zusammenführung der bisherigen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für erwerbsfähige Personen in der neuen Grundsicherung für Arbeit131

Sozialbericht 2005, S. 5 und die folgenden Zitate ebenda, S. 6; zum Folgenden ebenda, S. 13ff. und Sozialbericht 2001, S. 27f. 113

suchende mit dem Ziel, die Eingliederungschancen der betreffenden Leistungsempfänger zu verbessern. Insgesamt vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die auf Vorarbeiten der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ basierten und arbeitsmarktpolitische Instrumente, das Leistungsrecht, den Umbau von Organisationsstrukturen und beschäftigungspolitische Maßnahmen betrafen, bildeten die einzelnen Reformmaßnahmen: Das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt von 2003 sah u.a. die Errichtung von Personal-Service-Agenturen (PSA) durch die Bundesagentur für Arbeit in jedem Arbeitsagenturbezirk vor, die durch Leiharbeit vermittlungsbeeinträchtigten Arbeitslosen den Wiedereinstieg in das Berufsleben ermöglichen sollten und darüber hinaus in den verleihfreien Zeiten diese betreuen und qualifizieren sollten. Ende Mai 2005 bestanden 639 PSA mit rund 25 000 Plätzen. Des Weiteren wurden mit diesem Gesetz die bereits bestehende Arbeitnehmerüberlassung neu gestaltet, flexibilisiert und Beschränkungen aufgehoben (z.B. Befristungen). Das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt beinhaltete u.a. den Existenzgründungszuschuss, die sog. „Ich-AG“ für Bezieher von Arbeitslosengeld, die einen Zuschuss von monatlich 600 Euro im ersten Jahr, 360 Euro im zweiten Jahr und 240 Euro im dritten Jahr vorsahen. Diese „Ich-AGs“ wurden während dieser Zeit in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen und erhielten Zugang zur gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. Die Förderung dieser „Ich-AGs“ wurde beschränkt auf Gründer, deren Arbeitseinkommen 25 000 Euro im Jahr nicht überschritt. 2006 erfolgte eine Neuordnung bei der Existenzgründung durch den Gründungszuschuss, der die „Ich-AG“ und das bisherige Überbrückungsgeld ersetzte und der Sicherung des Lebensunterhalts sowie der sozialen Absicherung in der Gründungszeit dienen sollte. Gewährt wurde nunmehr in einer zweiphasigen Unterstützung in den ersten neun Monaten nach der Gründung ein individuelles Arbeitslosengeld plus 114

eine monatliche Pauschale von 300 Euro zur sozialen Absicherung in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, letztere Leistung konnte für weitere sechs Monate noch in Anspruch genommen werden Des Weiteren enthielt das Zweite Gesetz vom April 2003 Neuregelungen zu den geringfügigen Beschäftigungen und fixierte nunmehr die Entgeltgrenze bei 400 Euro im Monat. Ein pauschaler Beitragssatz für Arbeitgeber in Höhe von 12 % zur Rentenversicherung bzw. 11 % zur Krankenversicherung und ein zweiprozentiger pauschalierter Steueranteil wurde eingeführt. Zentral für die Minijobs zuständig war die Bundesknappschaft als Einzugsstelle. Zwischen einem Verdienst von 400 Euro und 800 Euro rangierten die sog. Midijobs, die sukzessive Beitragssteigerungen des Gesamtsozialversicherungsanteils des Arbeitnehmers von vier Prozent bis schließlich den vollen Satz beinhalteten. Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt betraf neben dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit mit den Agenturen für Arbeit anstelle der bisherigen Arbeitsämter und Umwandlung der Landesarbeitsämter in Regionaldirektionen auch Änderungen im Leistungsrecht. Das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, das erst ab 2006 gültig wurde, begrenzte die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld auf 12 Monate (ab dem 55. Lebensjahr auf 18 Monate), es bestanden jedoch Übergangsregelungen. Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) trat 2005 in Kraft und beinhaltete insbesondere die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende (siehe Kapitel über die Grundsicherung für Arbeitsuchende). Die neue rot-grüne Bundesregierung sah in der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eine vorrangige Aufgabe, weshalb 1999 das bis 2003 befristete Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit (Jump) aufgelegt worden war. Ziel des zunächst auf 100 000 Jugendliche ausgerichteten Sofortprogramms war es, allen jungen Men115

schen eine qualifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen. Einzelne Bausteine bildeten Lohnkostenzuschüsse für die Integration in den ersten Arbeitsmarkt, außerbetriebliche Ausbildungen sowie Nachund Zusatzqualifizierungen. Von 1999 bis November 2001 waren rund 377 000 Jugendliche in das Programm eingetreten. Die Regierung reklamierte das Programm als Erfolg, denn die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen unter 25 Jahren ging von 11,8 % auf 9,1 % (2001) zurück. Im Juni 2004 wurde mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft zur Vermeidung einer Ausbildungsplatzabgabe für drei Jahre der „Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“, bekannt unter dem Begriff „Ausbildungspakt“, vereinbart, demnach die Wirtschaft mehr Ausbildungsplätze zu Verfügung stellte. Für Jugendliche mit eingeschränkten Vermittlungschancen wurde das EQ-Programm, die Einstiegsqualifizierung Jugendlicher, implementiert. Für die Einstiegsqualifizierung Jugendlicher versprach die Wirtschaft, in jedem Paktjahr 25 000 Plätze bereitzustellen, was im Übrigen eingehalten und später sogar übertroffen wurde. Die Einstiegsqualifizierung sollte Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit mittels eines betrieblichen Praktikums vermitteln und auf einen Ausbildungsberuf vorbereiten. Insbesondere junge Menschen mit Migrationshintergrund konnten bisher diese Maßnahme als Brücke in eine Ausbildung nutzen, ihr Anteil bei der Einstiegsqualifizierung lag bei gut einem Drittel, die Übernahmequote in eine reguläre berufliche Ausbildung betrug bei allen annähernd zwei Drittel. Der Pakt wurde mehrmals verlängert und erstreckte sich auch auf diejenigen, die den Übergang von der Schule in den Beruf nicht sofort schafften.132 132

Vgl. ausführlicher zur Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt und den Maßnahmen der Benachteiligtenförderung Krapf, Benachteiligtenförderung, passim. 116

Auch im Sozialbericht 2009 wurde die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als eine nachhaltige Aufgabe der Bundesregierung hervorgehoben:133 Ehrgeizige Zielvorgabe sollte sein, dass kein junger Mensch unter 25 Jahren länger als drei Monate ohne Arbeit, Ausbildung oder weiterführende Beschäftigung sein dürfe. Die Bundesagentur für Arbeit bot Beratung, Vermittlung und Förderung junger Menschen an. Des Weiteren wurden die betriebliche Berufsausbildung, die Berufsausbildungsvorbereitung und die Einstiegsqualifizierung benachteiligter Auszubildender mit sozialpädagogischer Begleitung durch Träger gefördert. Auch kleinere und mittlere Betriebe erhielten administrative und organisatorische Hilfen im Zusammenhang mit der betrieblichen Ausbildung. Schließlich wurden seit Oktober 2007 die Berufsorientierungsmaßnahmen bis 2010 verlängert. Zum gleichen Zeitpunkt wurde ein Qualifizierungszuschuss und Eingliederungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer beschlossen. Ein Jahr später im August 2008 trat ein Gesetz zur Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen in Kraft, das zusätzliche Ausbildungsplätze bis 2010 für diejenigen Jugendlichen schaffen sollte, die sich seit längerer Zeit um einen Ausbildungsplatz vergeblich bemüht hatten. Zu diesem Zweck schuf man die befristete Regelung für einen Ausbildungsbonus, d.h. Arbeitgeber, die bis zum Ende des Jahres 2010 für förderungsbedürftige Ausbildungssuchende zusätzlich Ausbildungsplätze im regulären dualen System einrichteten, erhielten einen einmaligen Ausbildungsbonus von 4000, 5000 oder 6000 Euro für jeden zusätzlichen Auszubildenden. Des Weiteren wurde für Jugendliche bei der Vorbereitung des Schulabschlusses, der Berufsorientierung und Berufswahl und in der Phase des Übergangs von der Schule in eine Berufsausbildung zunächst als Modell an 1000 Schulen in Deutschland

133

Vgl. Sozialbericht 2009, S. 19f. 117

ab dem Februar 2009 eine individuelle Berufseinstiegsbegleitung eingerichtet, die später als Regelangebot verankert wurde. Im Herbst 2008 beschlossen die Bundesregierung und die Bundesländer die Qualifizierungsinitiative für Deutschland „Aufstieg durch Bildung“ als ein Programm zur Stärkung von Bildung und Ausbildung. Anvisiert wurde die Steigerung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Senkung der Schulabbrecherquote seit 2006 um die Hälfte auf vier Prozent, die Halbierung des Anteils junger Erwachsener ohne Berufsabschluss seit 2005, die Erhöhung der Studienanfängerquote auf 40 % eines Altersjahrgangs und schließlich die Anhebung der Weiterbildungsquote auf 50 %. Des Weiteren wurde im Rahmen dieser Qualifizierungsinitiative u.a. die Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ implementiert, die frühzeitig eine individuelle Unterstützung und Förderung von Jugendlichen bei der Berufsorientierung und Berufswahl, beim Erreichen des Schulabschlusses und beim Einstieg in die Ausbildung und während der Ausbildung verfolgte. Die Jugendarbeitslosigkeit hat in den zehn Jahren von 2005 bis 2015 deutlich abgenommen und „bewegt sich aktuell auf einem sehr niedrigem Niveau“134. Seit dem Jahr 2005 ist ein beständiger Abbau der Jugendarbeitslosigkeit zu beobachten. Im Jahresdurchschnitt 2008 waren noch rund 340 000 junge Menschen unter 25 Jahren arbeitslos (= 16,1 % weniger als im Jahr 2007). Damit konnte der niedrigste Jahresdurchschnittsbestand seit der Wiedervereinigung erzielt werden. Die Arbeitslosigkeit junger Menschen unter 25 Jahren hat sich von 2005 bis 2015 von 620 000 bis auf 239 000 um mehr als die Hälfte halbiert. Der Bericht der Bundesagentur für Arbeit räumte aber ein, dass dies auch auf die demographische Entwicklung sowie das duale

134

Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 28; vgl. dazu auch ebenda, S. 33. 118

Ausbildungssystem einschließlich eines breit gefächerten Übergangssystems von der Schule in den Beruf zurückzuführen sei. Die berufliche Eingliederung von Langzeitarbeitslosen bildete ein Dauerthema innerhalb der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und war bereits in den 1990er Jahren intensiver begonnen worden.135 Offensichtlich hatte der wirtschaftliche Aufschwung viele langzeitarbeitslose Arbeitnehmer nicht berücksichtigt. So gab es seit Oktober 2007 mit der sog. JobPerspektive ein Instrumentarium zur Ermöglichung von Beschäftigungschancen für Langzeitarbeitslose mit Arbeitslosengeld II-Bezug und besonderen Vermittlungshemmnissen, demzufolge Arbeitgeber bei diesem Personenkreis, der auf absehbare Zeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch unter Berücksichtigung bereits vorhandener arbeitsmarktlicher Instrumente nicht untergebracht werden könne, Leistungen erhalten konnten. Auch das Bundesprogramm Kommunal-Kombi war für Langzeitarbeitslose gedacht, es sollte in Kreisen und kreisfreien Städten mit erhöhter Langzeitarbeitslosigkeit 2008 und 2009 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsmöglichkeiten für höchstens drei Jahre bei einer Regelarbeitszeit von 30 Wochenstunden schaffen. Dieses Bundesprogramm stand unter der Vorgabe, dass es „besser ist, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren“. Da im April 2009 die Arbeitslosigkeitsschwelle auf 10 % abgesenkt worden war, erweiterte sich die Zahl der förderfähigen Regionen auf 101. Die persönlichen Zugangsvoraussetzungen wurden gleichzeitig gelockert. Der Zuschuss an die jeweiligen Arbeitgeber betrug die Hälfte des Bruttogehalts bzw. maximal 500 Euro, gegebenenfalls kamen noch weitere Zuschüsse aus ESF-Mitteln dazu. Das gesamte Programm setzte zentral das Bundesverwaltungsamt um.

135

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2005, S. 24f.; Sozialbericht 2009, S. 23f. und ebenda, S. 23 (das folgende Zitat). 119

Aktive Arbeitsmarktpolitik ist vor allem eine Aufgabe für die Jobcenter, denn hier befinden sich diejenigen erwerbslosen Personen, die zum Teil mehrfache Beeinträchtigungen aufweisen. Zur Sicherung des Fachkräftebedarfs infolge des demographiebedingten Rückgangs von Personen im erwerbsfähigen Alter beschloss die Bundesregierung im Juni 2011 ein Konzept zur Fachkräftesicherung, das u.a. eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bessere Bildungschancen für alle von Anfang an, mehr Aus- und Weiterbildung sowie gezielte Integration und qualifizierte Zuwanderung als Leitlinien enthielt. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, d.h. der über 50-Jährigen, die ihren Stellenwert aus dem demographischen Wandel erhält.136 Hier sei das zunächst bis Ende des Jahres 2010 befristete Projekt „Initiative 50plus“ genannt, das einen Eingliederungszuschuss für Ältere zum 1. Mai 2007 einführte, den Arbeitgeber bis zu drei Jahren in einer Höhe bis zur Hälfte der Lohnkosten erhielten. Darüber hinaus wurde eine Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer für zwei Jahre erweitert, d.h. bei der Aufnahme einer geringer bezahlten Tätigkeit bekamen Ältere Unterstützung. Im Oktober 2005 war das Bundesprogramm „Perspektive 50plus – Beschäftigungspakte für Ältere in den Regionen“ mit 62 regionalen Beschäftigungspakten gestartet worden, dessen Zielgruppe zuvörderst Langzeitarbeitslose ab dem 50. Lebensjahr waren. In der ersten Phase dieses Programms waren 93 Arbeitsgemeinschaften und zugelassene kommunale Träger beteiligt. Der Bund stellte in der ersten Phase 250 Mio. Euro dafür zur Verfügung. Vom Oktober 2005 bis zum Jahresende 2007 konnten fast 80 000 ältere Langzeitarbeitslose aktiviert werden und 22 500 in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Ab Januar 2008 begann die zweite Phase dieses Programms mit einer Verlängerung bis 2010 und regionalen Ausweitung. 136

Vgl. Sozialbericht 2009, S. 21ff. und ebenda, S. 32f. 120

Am 1. Januar 2008 wurde für ältere Arbeitnehmer der Eingliederungsschein eingeführt, der einen Eingliederungszuschuss der Bundesagentur für Arbeit an Arbeitgeber beinhaltete, wenn es zur Begründung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses kam. Dieser Eingliederungszuschuss konnte für über 50-Jährige ausgegeben werden und variierte in der Höhe je nach dem vorhandenen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zugleich wurde die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld für über 50-Jährige stufenweise verlängert, so dass Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, bis zu zwei Jahren Arbeitslosengeld beziehen konnten. Schließlich wurde die Regelung zur Befristung von Arbeitsverträgen für ältere Arbeitnehmer ab dem 52. Lebensjahr verändert, so dass u.a. nunmehr die Befristungshöchstdauer beim selben Arbeitgeber fünf Jahre betrug. Auch die berufliche Weiterbildung stand im Fokus arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten, so u.a. mittels des Sonderprogramms „Weiterbildung Geringqualifizierter und beschäftigter Älterer in Unternehmen“ (WeGebAU) der Bundesagentur für Arbeit, das die Weiterbildungskosten für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr in Unternehmen mit unter 250 Beschäftigten förderte. 2006 wurde auch wegen der wachsenden jahreszeitlichen Schwankungen die Winterbauförderung mit dem Ziel einer ganzjährigen Beschäftigung reformiert, indem diese in das System des Kurzarbeitergeldes integriert wurde. Ein Saisonkurzarbeitergeld ersetzte das bisherige Winterausfallgeld, das jeweils vom 1. Dezember bis zum 31. März aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung finanziert wurde und bei schlechtwetterbedingten Ausfallzeiten beansprucht werden konnte. In der Schlechtwetterzeit 2007/2008 bezogen insgesamt ca. 389 000 Personen Saison-Kurzarbeitergeld. Entsprechend dem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 war eine Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vereinbart worden, um die Wirksamkeit der bisherigen Politik und deren Maßnahmen zu verbessern bzw. zu vereinfachen oder gezielter anzu121

wenden. Das im Dezember 2008 in Kraft getretene Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente beinhaltete u.a. folgende Punkte:137 Das neu eingeführte Vermittlungsbudget der Agenturen für Arbeit fasste die bisherigen, vielfältigen Leistungen zusammen und ermöglichte mehr individuelle Spielräume. Die ebenfalls neuen „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ sollten Ausbildungs- und Arbeitsuchende umfassend und flexibel unterstützen. Weiterhin bestand nunmehr ein Rechtsanspruch auf eine Förderung der Vorbereitung auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses innerhalb der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, um Betroffene mehr Chancen bei der beruflichen Eingliederung zu verschaffen (jedoch konnten ebenso Erwachsene gefördert werden als Bestandteil der beruflichen Bildung). Ebenfalls neu war die Förderung der Berufsausbildung nach dem Altenpflegegesetz mittels der Berufsausbildungsbeihilfe, die Ausbildungsförderung bei lernbeeinträchtigten und sozial benachteiligten Auszubildenden durch die ausbildungsbegleitenden Hilfen, die Förderung im Rahmen einer Einstiegsqualifizierung und mit Hilfe des Ausbildungsbonus. Zum 1. April 2012 trat das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt weitgehend in Kraft, das die Instrumente der aktiven Arbeitsförderung neu ordnete und vereinfachte. Im Kontext der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich im Spätherbst 2008 auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht hatte, verfolgte die Bundesregierung eine Arbeitsmarktpolitik unter der Vorgabe „Qualifizieren statt Entlassen“138. Am 20. Februar 2009 verabschiedete man das „Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland“ mit dem Kernstück der Kurzarbeit. Vorrangige Aufgabe der Maßnahmen zur Bekämpfung 137 138

Vgl. Sozialbericht 2009, S. 27ff. Sozialbericht 2009, S. 29. 122

der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise war für die Bundesregierung die Sicherung von Arbeitsplätzen. Dabei sollten zum einen Entlassungen vermieden werden und gleichzeitig während der Kurzarbeitsphase eine Qualifizierung angestrebt werden. Dem diente für die Jahre 2009 und 2010 die Übernahme der bei Kurzarbeit bislang von den Arbeitgebern vollständig getragenen Sozialversicherungsbeiträge, die nunmehr hälftig von der Bundesagentur für Arbeit mitfinanziert wurden bzw. bei einer Qualifizierung sogar vollständig von der Bundesagentur übernommen wurden. Weiterhin wurde der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung bis zum Jahresende 2010 bei 2,8 % fixiert, außerdem übernahm die Bundesagentur für 2009 und 2010 die vollständige Finanzierung neu begonnener Umschulungen zu Alten- und Krankenpflegern. Die bisherige Förderung der beruflichen Weiterbildung von Arbeitnehmern, die von Arbeitslosigkeit bedroht waren oder keinen Berufsabschluss hatten oder ältere Arbeitnehmer waren und in kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigt waren, wurde auf alle Arbeitnehmer ausgeweitet, deren Berufsausbildung und letzte Weiterbildung schon längere Zeit zurück lag. Auch im Zusammenhang mit den Folgen der Wirtschaftskrise trat zum 1. Januar 2009 ein neues bis zum Jahresende 2010 befristetes ESFProgramm zur Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen während des Bezugs von konjunkturbedingten Kurzarbeitergeld und Saisonkurzarbeitergeld in Kraft. Für die Wiedereinstellung von Arbeitnehmern in der Leiharbeit stellte die Bundesregierung Zuschüsse zur Qualifizierung in den Jahren 2009 und 2010 bereit. Ebenso erfolgte ab Juni 2009 eine Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 24 Monate und zugleich beschloss der Bundestag am 19. Juni 2009, dass rückwirkend zum 1. Januar 2009 die Sozialversicherungsbeiträge für die in einem Betrieb des Arbeitgebers durchgeführte Kurzarbeit auch für alle anderen Betriebe des Arbeitgebers ab dem siebten Monat des Bezugs von der Bundesagentur für Arbeit erstattet werden konnten. 123

Schließlich senkte die Bundesregierung im Verlauf der 16. Legislaturperiode von 2005 bis 2009 den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 von 6,5 % auf 4,2 %, zum 1. Januar 2008 auf 3,3 % und zum 1. Januar 2009 auf 3 % bzw. vom 1. Januar 2009 bis zum 30. Juni 2010 vorübergehend auf 2,8 %. Im Rahmen des Konjunkturpaketes II („Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland“) blieb es bei dieser Absenkung bis zum Ende des Jahres 2010. Insgesamt wurden die Beitragszahler hiermit um rund 30 Mrd. Euro pro Jahr entlastet. Rückblickend auf die Jahre 2013 bis 2017 räumte die Bundesregierung in ihrem aktuellen Sozialbericht ein, dass ungeachtet einer guten Arbeitsmarktentwicklung gering qualifizierte, langzeitarbeitslose, ältere und behinderte Menschen und Personen mit Migrationshintergrund weiterhin Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben. 139 Am 1. August 2016 trat das Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz für das SGB III wie auch das SGB II in Kraft, das u.a. für Arbeitnehmer ohne Berufsabschluss Hilfen zur Vorbereitung auf eine berufliche Weiterbildung – Grundkompetenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Mathematik – Unterstützung bot und gering Qualifizierten Prämien bei Bestehen von beruflichen Prüfungen zahlte. Arbeitnehmer in Transfergesellschaften sollte ein schnellerer Zugang zu beruflicher Weiterbildung ermöglicht werden, wenn der Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Lehrgangskosten übernahm. Für Langzeitarbeitslose bzw. Arbeitslose mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen wurde die Maßnahmedauer von Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung von sechs auf 12 Wochen verlängert. Weiterhin wird die Initiative „Zukunftsstarter – Erstausbildung junger Erwachsener“ (früher: die sog. „Spätstarter-Initiative“) bis 2020 unterstützt, die bis dahin 120 000 jungen Erwachsenen in der 139

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2017, S. 12ff. 124

Altersgruppe von 25 bis unter 35 Jahren für das Nachholen eines Berufsabschlusses gewinnen will. Die Bundesregierung, Wirtschaft, Gewerkschaften, Länder und die Bundesagentur für Arbeit haben bis Ende 2018 die Allianz für Aus- und Weiterbildung – anstelle des bisherigen Ausbildungspaktes – vereinbart, um die duale Ausbildung zu stärken und für die Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung zu werben (bisherige Maßnahmen waren die „assistierte Ausbildung“, die Ausweitung der ausbildungsbegleitenden Hilfen und erste Bemühungen zur Integration von Flüchtlingen in Arbeit und Ausbildung usw.). Als fortbestehende Problematik auf dem Ausbildungsmarkt bleibe aber das sog. Passungsproblem bestehen, demzufolge ausbildungsinteressierte junge Menschen und die freien Ausbildungsplätze zusammengeführt werden müssen. Dazu gesellt sich der wachsende Bedarf an Fachkräften, der die Arbeitsmarktchancen benachteiligter Personen einschränkt, wenn ihnen die nachgefragte berufliche Qualifikation fehlt. Diese beiden Aspekte – Fachkräftesicherung und dauerhafte Integration von schwierigeren Gruppen auf dem Arbeitsmarkt – bilden, so die Bundesregierung, ihr zentrales Ziel. Die Förderung der Ausbildung speziell beim Übergang von der Schule in den Beruf müsse deshalb weiter verbessert werden.

1.4.3 Einnahmen und Ausgaben Vorausschickend ist zu erwähnen, dass zur Institution Arbeitsförderung die Aufwendungen der vormaligen Bundesanstalt für Arbeit und bis zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 die Auftragsleistungen der Bundesanstalt für Arbeit für Bund und Länder (Arbeitslosenhilfe) sowie etwaige arbeitsmarktpolitische Sonderprogramme des Bundes zur Beschäftigungsförderung zählen. Die gesamtdeutschen Leistungen der Arbeitsförderung waren aufgrund der gesunkenen Arbeitslosenzahlen bis 2000 leicht auf rund 127 Mrd. DM 125

zurückgegangen.140 In den neuen Bundesländern war seit der Wiedervereinigung bis zum Ende der 1990er Jahre wegen der Bewältigung der enormen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen eine Vielzahl von arbeitsmarktpolitischen Hilfen notwendig gewesen, auf die nicht weiter einzugehen ist. Im Jahre 2001 wurde für Arbeitsmarktpolitik insgesamt, d.h. Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit und Zahlungen aus dem Bundeshaushalt, 67,7 Mrd. Euro ausgegeben. Die Einnahmen der Arbeitsförderung im Jahre 2000 bestanden zuvörderst aus Beiträgen (73,5 %) und danach aus öffentlichen Mitteln (25,5 %). Die folgende Übersicht informiert über die Ausgaben und die Einnahmeart der Arbeitslosenversicherung ab 2002:141

140 141

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 16 und S. 255f. Tabelle nach Sozialbericht 2009, S. 273; Sozialbericht 2013, S. 191; Sozialbericht 2017, S. 217. 126

Tabelle 10: Einnahmen und Ausgaben der Arbeitslosenversicherung (in Mrd. Euro) Leistungs- und Finanzierungsart Leistungen insgesamt142 Eingliederung143 Sonstige Leistungen der aktiven Arbeitsförderung144 Arbeitslosengeld Arbeitslosenhilfe (Bund) Insolvenzgeld Verwaltungsausgaben Verrechnungen

2002 56,2 13,5 9,0

2005 49,4 3,2 9,8

2009 45,0 5,2 11,5

2012 32,1 2,7 6,2

2013 29,5 2,1 6,4

2016 27,4 3,0 5,0

27,0 14,8 1,9 4,6 0,6

27,0 1,2 3,1 5,0

17,3 1,6 3,9 5,4

13,8 1,0 3,9 4,5

15,4 0,9 4,0 0,6

14,5 0,6 3,7 0,7

Finanzierung insgesamt Beitragseinnahmen Bundesmittel Sonstige Einnahmen

56,6 49,8 5,8 0,9

49,8 48,8 0,5 0,5

31,5 23,0 7,8 0,7

34,9 27,2 7,2 0,4

29,8 29,2 0,2 0,4

33,1 32,7 0,4

Die Finanzierungsseite der Arbeitsförderung stand verständlicherweise in enger Korrelation mit der gesamtwirtschaftlichen Lage. Den durchgehend größten Posten bei den Ausgaben der Arbeitslosenversicherung stellten die Ausgaben für das Arbeitslosengeld, also die Lohnersatzleistungen, dar, die insgesamt entsprechend der positiven Konjunkturentwicklung deutlich sanken. Von 2002 bis 2016 halbierten sich die gesamten Leistungen. Auch kam der kurze Einbruch

142

143

144

Ohne Verwaltungsausgaben nach dem SGB II und dem Bundeskindergeldgesetz und ohne die Arbeitslosenhilfe. Hierunter fielen v.a. Maßnahmen der Aktivierung von Arbeitslosen, zur Vermittlung und zur beruflichen Eingliederung, einschließlich des Gründungszuschusses sowie die Berufseinstiegsbegleitung. Hierunter fielen u.a. die Förderung der Berufsausbildung, Leistungen der beruflichen Erst- und Wiedereingliederung Behinderter, Kurzarbeitergeld und Leistungen nach dem Alterseilzeitgesetz. 127

infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 mit einem Anstieg beim Arbeitslosengeld auf 17,3 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahr (13,9 Mrd. Euro) zum Vorschein. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den sonstigen Leistungen der Arbeitsförderung, die ebenfalls wegen der positiven Konjunktur zurückgefahren wurden. Hinsichtlich der Struktur der Einnahmen bildeten die Beiträge weiterhin die mit Abstand größte Einnahmequelle (2012: 77,9 %). Seit 2014 fielen auch keine Bundesmittel mehr an.

1.5

Die soziale Pflegeversicherung

Pflegebedürftigkeit als ein allgemeines Lebensrisiko war zunächst nicht wie Krankheit, Alter, Unfall oder Arbeitslosigkeit durch eine staatliche (Sozial)Versicherung abgesichert, so dass eine stationäre Pflegebedürftigkeit für den Einzelnen oftmals finanziell nicht verkraftbar war.145 Vor dem Hintergrund einer veränderten demographischen Entwicklung, d.h. der steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, den veränderten Familienstrukturen, dem Mangel an Pflegekräften und einer unbefriedigenden Pflegeinfrastruktur sowie der Abhängigkeit vieler Pflegebedürftiger von der Sozialhilfe, war die Absicherung des Pflegerisikos viele Jahre vor der endgültigen Einführung einer Pflegeversicherung diskutiert worden.146 Am 22. Oktober 1993 hatte der Bundestag schließlich einen von der Regierung vorgelegten Gesetzesentwurf beschlossen, der eine Pflegeversicherung unter dem Dach der Krankenversicherung für die gesetzlich Krankenversicherten vorsah, während die privat Krankenversicherten einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen hatten. 145

146

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 76ff.; Sozialbericht 2009, S. 138ff.; Sozialbericht 2017, S. 87ff. Vgl. dazu ausführlich Sozialbericht 1993, S. 21ff. 128

Die neue Pflegeversicherung als „fünfte Säule unseres Sozialversicherungssystems“ sollte durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert werden, allerdings unter Vermeidung von die Arbeitskosten erhöhenden Arbeitgeberbeiträgen, um – so die Argumentation der Regierung – die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht zu gefährden. Nach längeren Debatten kam schließlich 1994 eine Einigung über die Leistungen der Pflegeversicherung zustande, wonach es häusliche Pflege gestaffelt nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit als Sachleistung geben sollte oder ein Pflegegeld als Geldleistung bezogen werden konnte. Pflegegeld und Pflegesachleistungen konnten auch kombiniert beansprucht werden. Einmal jährlich übernahm die Pflegekasse für vier Wochen die Kosten für eine Ersatzpflegekraft, wenn die Pflegeperson verhindert war. Diejenigen, die häusliche Pflege leisteten, in der Regel Frauen, wurden in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen und je nach Pflegestufe und Umfang der Pflegetätigkeit wurden auch Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt. Bei der stationären Pflege führte man monatliche Höchstbeträge ein. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung musste der Pflegebedürftige tragen. Die Investitionskosten waren Sache der Bundesländer, wobei für ostdeutsche Pflegeeinrichtungen eine zusätzliche Anschubfinanzierung in Höhe von insgesamt 6,4 Mrd. DM geleistet wurde. Wie bereits erwähnt, sollte die neue Versicherung durch hälftige Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zwar finanziert werden, beginnend mit einem Prozent ab 1. Januar 1995 und 1,7 % ab 1. Juli 1996. Zum Ausgleich des Arbeitgeberbeitrags sollte aber ein immer auf einen Werktag fallender Feiertag – mit Ausnahme in Sachsen – wie der Buß- und Bettag gestrichen werden. Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung als fünfter Pfeiler im System der Sozialen Sicherung hat damit die letzte größere Lücke der sozialen Versorgung geschlossen und sieht sich aufgrund der demographischen Entwicklung mit großen Herausforderungen konfron129

tiert. Die Pflegeversicherung ist nicht wie die gesetzliche Krankenversicherung als Vollversicherung mit einem entsprechend hohen Beitragssatz konzipiert, sondern hat einen „Teilsicherungscharakter“, d.h. Kosten, die den Leistungsumfang der Pflegeversicherung überschreiten, müssen von den Einzelnen selbst getragen werden bzw. falls dies nicht möglich ist, wird die Sozialhilfe herangezogen. Für die Pflegeversicherung gilt der Grundsatz, wer in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert war, gehörte auch der sozialen Pflegeversicherung an. Wer privat versichert war, musste eine private Pflegeversicherung abschließen. Des Weiteren wurden die Leistungen der Pflegeversicherung einkommens- und vermögensunabhängig erbracht.

1.5.1 Adressaten Zunächst betrachten wir die Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung:147 Tabelle 11: Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung (in 1000) Pflegebedürftige Am Jahresende: Davon ambulant: In Pflegestufe I In Pflegestufe II In Pflegestufe III

2000 1 822 1 261 682 448 131

2002 1 889 1 285 726 436 127

2005 1 952 1 310 759 426 125

2009 2 235 1 538 932 467 138

2012 2 396 1 667 1 043 483 141

2013 2 480 1 739 1 095 502 143

2016 2 749 1 974 1 274 546 154

Davon stationär: In Pflegestufe I In Pflegestufe II In Pflegestufe III

561 211 235 116

600 230 280 120

642 252 263 128

698 282 277 138

729 313 274 143

740 316 278 146

775 339 290 146

147

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 251; Sozialbericht 2009, S 268; Sozialbericht 2013, S. 185; Sozialbericht 2017, S. 212. 130

Insgesamt ist nahezu die gesamte Bevölkerung gegen das Pflegerisiko abgesichert. Blickt man auf die Zahl der Pflegebedürftigen, so zeigte sich seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts eine Zunahme um fast eine Mio. Personen bis 2016. Die Zahlen in den Bereichen ambulanter und stationärer Pflege wiesen unterschiedliche Verläufe auf, d.h. die ambulant Pflegebedürftigen nahmen seit dem Jahr 2001 um deutlich mehr als ein Drittel zu, etwas geringer war die Zuwachsrate bei den stationär Pflegebedürftigen. Berücksichtigt man den jeweiligen Grad der Pflegebedürftigkeit anhand der Pflegestufen, so verzeichneten die Pflegebedürftigen jeweils in der Pflegestufe I die größten Zuwächse. Gut zwei Drittel der Leistungsempfänger waren aufgrund der höheren Lebenserwartung Frauen, bei den stationären Leistungen sind die Pflegestufen II und III relativ stärker vertreten als bei den ambulanten Leistungen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Adressaten der Pflegebedürftigen wurde angesichts der demographischen Entwicklung durch die Alterung der Gesellschaft von „großen Herausforderungen“ für die Pflegeversicherung gesprochen, denn mit zunehmendem Alter stieg das Pflegerisiko. Im Berichtszeitraum 2013 bis 2017 sind von der Bevölkerung unter 60 Jahren nur 0,9 % pflegebedürftig, von den 60 bis 80-Jährigen 5,2 % und von den über 80-Jährigen steigt die Zahl aber auf 31,7 %. Somit ist zwangsläufig infolge des starken Anstiegs älterer Menschen mit einer markanten Zunahme der Zahl von Pflegebedürftigen (2050 mehr als 5 Mio. Pflegebedürftige) zu rechnen. Auch die Zunahme der Demenzkranken werde sich als Faktor in der Pflegeversicherung auswirken. Dieser Trend einer wachsenden Inanspruchnahme der Pflegeversicherung wird begleitet von bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden beruflichen Tätigkeit von bisher im familiären Verbund tätigen Pflegepersonen – zumeist Frauen – wie auch dem Anwachsen von Single-Haushalten. Dennoch werden, so der Sozialbericht zur Legislaturperiode von 2013 bis 2017, die meisten 131

Pflegebedürftigen weiter zu Hause (73 %) und hier vor allem zu zwei Drittel von den Angehörigen gepflegt. In diesem Zusammenhang verweist der Sozialbericht 2017 auf interessante gesellschaftliche Entwicklungen, denn ungeachtet zunehmender Zahlen männlicher Pflegepersonen, bleibt die Pflege in der Familie weiterhin vorrangig bei den Frauen, die aber in zunehmendem Maße selber berufstätig werden.

1.5.2 Leistungen und Reformen Die Pflegeversicherung hat insgesamt erhebliche Verbesserungen und den Ausbau bei der ambulanten wie auch der stationären Versorgung bewirkt. Infolge der Einführung der Pflegeversicherung musste die Pflegeinfrastruktur in den neuen Bundesländern umfangreich modernisiert werden, so dass allein von 1995 bis 2002 gemäß dem Pflegeversicherungsgesetz (Artikel 52) Finanzhilfen von jährlich rund 800 Mio. DM für entsprechende Investitionen bereitgestellt wurden. Im Jahre 2002 wurde zur Verbesserung insbesondere von demenzkranken Mitbürgern das Leistungsangebot u.a. durch eine Entlastung der pflegenden Angehörigen erweitert und auch mehr Beratung angeboten. Seit April 2004 mussten Rentner den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung selbst übernehmen. Ab 1. Januar 2005 mussten in Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts kinderlose Beitragszahler einen viertel Prozentpunkt mehr Beitrag in der sozialen Pflegeversicherung zahlen, um Benachteiligungen von Versicherten mit Kindern in der Pflegeversicherung zu begegnen und auch mehr Solidarität im System der Sozialversicherung zu erreichen.148 Jedoch sind kinderlose Mitglieder mit Geburtsdatum vor dem 1. Januar 1940 von dieser Zuschlagspflicht befreit. Seit Februar 2006 wurde es Pflegepersonen ermöglicht, die einen Angehörigen mit der Pflegestufe I, II oder III mindestens 14 Stunden in der Woche pflegen, sich auf Antrag freiwil-

148

Vgl. Sozialbericht 2005, S. 90. 132

lig in der Arbeitslosenversicherung weiter zu versichern, um ihren Versicherungsschutz beizubehalten. Durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ab April 2007 waren bereits vor der Reform der Pflegeversicherung einige Punkte zur Verbesserung umgesetzt: So die nachhaltige Betonung des Grundsatzes „Reha vor Pflege“ durch Umwandlung des Anspruchs auf ambulante und stationäre Rehabilitation von einer bisherigen Ermessens- in eine Pflichtleistung, die Verbesserung des Übergangs zwischen der Akutversorgung im Krankenhaus, Rehabilitation und Pflege mittels eines Anspruchs auf ein sog. Entlassungsmanagement oder der Anspruch auf häusliche Krankenpflege für Bewohner in neuen Wohnformen. Das 2008 in Kraft getretene Pflege-Weiterentwicklungsgesetz trug dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ mehr Rechnung und beinhaltete Maßnahmen wie die Schaffung von Pflegestützpunkten mit umfassendem Beratungsangebot über pflegerische, medizinische und soziale Leistungen. Auch ein individueller Anspruch auf umfassende Pflegeberatung (Fallmanagement) durch dort vorhandene Pflegeberater, zusätzliche Betreuungsassistenten in Pflegeheimen zur Betreuung demenzkranker Bewohner und Qualitätssicherung durch unangemeldete Prüfungen im ambulanten und stationären Bereich (ab 2011 einmal im Jahr) aller zugelassenen Pflegeeinrichtungen verbunden mit mehr Transparenz der Prüfungsergebnisse usw. war Bestandteil dieses neuen Gesetzes. Der Beitragssatz wurde zum 1. Juli 2008 um 0,25 % angehoben. Auch die Rahmenbedingungen für häusliche Pflege sollte durch das Pflegezeitgesetz verbessert werden, indem bei einer besonderen Pflegesituation Beschäftigte das Recht erhielten, bis zu zehn Tagen nicht in die Arbeit zu gehen, sondern einen nahen Verwandten zu pflegen. Der Arbeitgeber musste die Vergütung weiter bezahlen, wenn eine gesetzliche Vorschrift besteht, einen Anspruch auf eine Lohnersatzleistung aus der Pflegekasse hat der Beschäftigte jedoch nicht. Bei 133

einer längeren Pflege pflegebedürftiger naher Angehöriger konnte der Betreffende eine unbezahlte Freistellung von der Arbeit bis zu sechs Monaten erhalten, allerdings bestand dieser Freistellungsanspruch nicht bei Arbeitgebern mit in der Regel 15 und weniger Beschäftigten. Zum Jahresbeginn 2013149 trat das Pflege-Neuausrichtungsgesetz in Kraft, das weitere Leistungsverbesserungen wie u.a. für an Demenz erkrankte Menschen beinhaltete, die erstmals auch ohne Pflegestufe Pflegegeld- und Pflegesachleistungen beanspruchen können. Der Beitragssatz wurde um 0,1 % weiter auf 2,05 % angehoben. Des Weiteren wurde mit staatlicher Förderung eine freiwillige, private und kapitalgedeckte Versorgung für Pflege installiert. Diese gewährt unabhängig vom persönlichen Einkommen eine staatliche Zulage von jährlich 60 Euro für eine private Pflegezusatzversicherung. Am 1. Januar 2015 trat ein Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf in Kraft, das pflegenden Beschäftigten zusätzlich zur bereits vorhandenen Möglichkeit, gegebenenfalls bis zu zehn Tagen der Arbeit fernzubleiben, ein Pflegeunterstützungsgeld als etwaige Lohnersatzleistung gewährte, um einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen im akuten Fall bedarfsgerecht zu pflegen.150 Für die Pflege von nahen Angehörigen in deren häuslichem Umfeld ist eine bis zu sechs Monate dauernde teilweise oder vollständige Freistellung von der Arbeit möglich. Hinsichtlich einer teilweisen Freistellung von maximal 24 Monaten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden bestand nunmehr ein Rechtsanspruch (Familienpflegezeit). Die Bedeutung von ambulanten Versorgungsdiensten hat seit Einführung der Pflegeversicherung erheblich zugenommen. Ende 2015 waren rund 13 300 ambulante Pflegedienste zugelassen, die insgesamt 692 000 Pflegebedürftige versorgten und rund 356 000 Beschäftigte 149 150

Vgl. Sozialbericht 2013, S. 85f. Vgl. Sozialbericht 2017, S. 110 und ebenda, S. 110f. (zum Folgenden). 134

hatten. Pflegeheime gab es Ende 2015 rund 13 600, in denen 783 000 Pflegebedürftige von 730 000 Personen versorgt wurden. In der Legislaturperiode 2013 bis 2017 erfolgten einschneidende Reformen durch drei Pflegestärkungsgesetze, wobei zunächst ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff implementiert wurde, der nun auch Demenzerkrankten einen gleichberechtigten Zugang zur Pflegeversicherung ermöglichte. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff zum 1. Januar 2017 umfasste nun fünf Pflegegrade anstelle der bisherigen Pflegestufen und berücksichtigte körperliche, geistige und psychische Einschränkungen (dies von Vorteil für Demenzkranke). Auch wurden Leistungsausweitungen beschlossen (Stärkung der häuslichen Pflege u.a. sowie Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung für Pflegebedürftige in voll- und teilstationären Einrichtungen). Im ersten Pflegestärkungsgesetz war ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet worden, um ab 2035 – wenn die geburtenstarken Jahrgänge in die für die Pflegeversicherung relevanten Altersgruppen gelangen – die Beitragssätze stabil zu halten, ohne das Leistungsniveau zu verringern. Diese zusätzlichen Leistungen machten eine stufenweise Erhöhung des Beitragssatzes um einen halben Prozentpunkt in der sozialen Pflegeversicherung erforderlich. In ihrem Sozialbericht 2017 wies die Bundesregierung auf die großen Herausforderungen für die Pflegeversicherung im Kontext des demographischen Wandels hin, wozu auch das Vorhandensein qualifizierter und motivierter Pflegefachkräfte gehöre. Deshalb soll eine Ausbildungsreform die bisher getrennten Ausbildungen in der Altenpflege, der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege zusammenführen und generell die Attraktivität des Pflegeberufs steigern.

1.5.3 Einnahmen und Ausgaben Grundsätzlich werden die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nahezu ausschließlich durch Beiträge finanziert. Rund 73 % werden 135

dabei durch die Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert, rund 24 % stammen von Beiträgen des Staates für die Empfänger sozialer Leistungen und aus Eigenbeiträgen der Leistungsempfänger, der noch verbleibende Rest wird durch Beiträge von Selbstständigen und sonstigen Personen aufgebracht. Tabelle 12: Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung (in Mrd. Euro)151 Leistungen insgesamt Ambulante Leistungen Soziale Sicherung der Pflegepersonen Stationäre Leistungen Medizinischer Dienst Verwaltungsausgaben Finanzierung insgesamt Beiträge Sonstige Einnahmen

2001s 16,9 7,1 1,0

2002 17,3 7,2 1,0

2005 17,8 7,3 0,9

2009 20,3 8,6 0,9

2013 24,4 11,4 0,9

2015 28,0 13,6 1,0

7,9 0,2 0,6

8,2 0,3 0,6

8,7 0,3 0,6

9,7 0,3 0,7

10,9 0,4 0,8

12,1 0,4 0,9

16,8 16,6 0,2

16,9 16,7 0,2

17,5 17,4 0,1

21,3 21,1 0,1

24,9 24,9 0,0

30,8 30,7 0,0

Bis 1995 waren rund 80 % der Pflegebedürftigen in Heimen von Sozialhilfeleistungen abhängig. Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung hat die angestrebte Entlastung der Sozialhilfe und die Herausführung vieler Sozialhilfeempfänger aus der Abhängigkeit der Sozialhilfe bewirkt, was bekanntlich ein wesentliches Ziel ihrer Errichtung war: So bezogen Ende des Jahres 2000 nur noch fünf Prozent der Empfänger ambulanter Leistungen der Pflegeversicherung zusätzliche Leistungen gemäß der Hilfe zur Pflege entsprechend dem Bundessozialhilfegesetz. Ein ähnlicher, nicht ganz so ausgeprägter Rückgang ist auch bei der stationären Pflege zu verzeichnen (Rückgang um ein Drittel). 151

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 250; Sozialbericht 2009, S. 269; Sozialbericht 2013, S. 186; Sozialbericht 2017, S. 212. 136

Von den Beziehern stationärer Leistungen der Pflegeversicherung erhielten – um das Jahr 2000 – rund ein Viertel zusätzlich Leistungen der Hilfe zur Pflege laut dem Bundessozialhilfegesetz. Im Jahr 2015 benötigten nur jeweils ca. fünf Prozent der im häuslichen Bereich versorgten pflegebedürftigen Personen und 32 % der stationär versorgten Pflegebedürftigen zusätzliche Leistungen aus der Sozialhilfe, so dass man festhalten kann, die Pflegeversicherung hat die pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit nachhaltig reduziert. Vor der Einführung der Pflegeversicherung waren hingegen noch rund 70 % der Pflegebedürftigen auf Sozialhilfe angewiesen. Die jährliche Entlastung der Sozialhilfeträger durch die Pflegeversicherung betrug rund fünf Mrd. Euro. Wie aus der Tabelle ersichtlich sind die Ausgaben für die Leistungen der Pflegeversicherung seit der Jahrhundertwende kontinuierlich gestiegen, was sowohl die ambulanten Aufwendungen wie auch die Ausgaben für die stationäre Pflege betrifft. Fast die Hälfte der Leistungen entfiel auf den ambulanten Bereich und knapp über 40 % auf den stationären Bereich, so dass sie beide fast eine Verdoppelung erreichten. Diese gesamte Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben spiegelt die weiter wachsende Bedeutung der Pflege in unserer, vom demographischen Wandel geprägten Gesellschaft wider.

2. Das System der sozialen Grundsicherung Das System der Grundsicherung umfasst die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die Sozialhilfe im engeren Sinne. Bei den Systemen der Grundsicherung handelt es sich letztendlich um „Mindestsicherungssysteme“152, die das Existenzminimum und ein menschenwürdiges 152

Sozialbericht 2009, S. 148. 137

Dasein einschließlich des Rechts auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleisten sollen.

2.1

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende: Das Arbeitslosengeld II

Die politisch umstrittene Grundsicherung für Arbeitsuchende – besser bekannt als „Hartz IV“ – wurde im Gefolge der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder als das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum 1. Januar 2005 eingeführt (SGB II).153 Diese Reform führte die bisherige Arbeitslosenhilfe und Teilgebiete der Sozialhilfe in ein einheitliches Fürsorgesystem zusammen. Leistungen aus diesem neuen System waren gedacht für erwerbsfähige Leistungsberechtigte und Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft lebten. Bedürftige, erwerbsfähige Personen zwischen 15 und 65 Jahren erhielten nun das Arbeitslosengeld II und waren in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung – mit dem Mindestbeitrag – versichert. Beim Wechsel vom Arbeitslosengeld in die Grundsicherung wurde für zwei Jahre ein Zuschlag bezahlt. Zur Bedarfsgemeinschaft zählten die Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sowie die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder unter 25 Jahren und die im Haushalt lebenden Eltern von unverheirateten unter 25jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Die Leistungen für die Unterkunft und psychosoziale Beratung, Kinderbetreuung, Schuldner- und Suchtberatung usw. übernahmen die Kommunen, die übrigen Leistungen wie Eingliederungsleistungen usw. bestritten die Agenturen für Arbeit. Die Leistungen sollten 153

Vgl. Sozialbericht 2005, S. 20ff. 138

in der Regel von den Arbeitsagenturen und Kommunen in gemeinsamen Arbeitsgemeinschaften (ARGE) erbracht werden. Von dieser Regelung abweichend übernahmen zunächst 69 Kommunen in einem Modellversuch die gesamte Betreuung der Leistungsempfänger.

2.1.1 Adressaten Die folgende Übersicht beinhaltet die Zahl der verschiedenen Gruppen von Leistungsempfängern in der Grundsicherung für Arbeitsuchende:154 Tabelle 13: Leistungsempfänger in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Anzahl in 1000 im Jahresdurchschnitt) Leistungsempfänger Bedarfsgemeinschaften Personen in Bedarfsgemeinschaften Erwerbsfähige Leistungsberechtigte: Darunter: Männer Frauen unter 25 Jahre 25 bis 50 Jahre 50 bis 55 Jahre 55 Jahre und älter Erwerbstätige Leistungsberechtigte Nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte

154

2005 3 717 6 756

2006 3 979 7 347

2008 3 578 6 909

2009 3 560 6 727

2010 3 584 6 713

2013 3 337 6 278

2016 3 267 6 227

4 982

5 392

5 011

4 909

4 894

4 390

4 312

2 545 2 437

2 717 2 675

2 435 2 577

2 403 2 506

2 410 2 484

2 127 2 263

2 135 2 177

1 031 2 942 469 540

1 123 3 164 502 604

956 2 877 490 688

913 2 801 486 708

883 2 788 493 729

718 2 443 484 746

751 2 383 455 724

906

-

1 325

1 325

1 381

1 307

1 187

1 744

1 955

1 898

1 819

1 819

1 549

1 613

Die Tabelle nach Sozialbericht 2009, S. 289; Sozialbericht 2013, S. 211f.; Sozialbericht 2017, S. 238. 139

Vorausschickend sei erwähnt, dass der Arbeitsmarktverlauf insgesamt – also Arbeitslosengeldempfänger und Arbeitslosengeldempfänger II – im Abschnitt „Arbeitsförderung“ eingehender behandelt wird. Die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende hatte 2006 mit 5,4 Mio. den Gipfel erreicht und ging dann kontinuierlich bis 2016 um rund eine Mio. Personen zurück.155 Im Jahresdurchschnitt 2016 gab es 4,31 Mio. erwerbsfähige Arbeitslosengeld II-Bezieher. Wie oben im Abschnitt zur Arbeitslosenversicherung (Arbeitsförderung) bereits ausgeführt, nahm die Zahl der erwerbsfähigen Alg II-Bezieher im Vergleich zu den Beziehern von Arbeitslosengeld (Alg I) wesentlich verzögerter ab. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften verringerte sich von 2005 bis 2016 um ca. 500 000 auf 3,26 Mio. (2016). Tendenziell gingen demnach die Zahlen insgesamt zurück, jedoch entsprach der Rückgang der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nicht dem allgemeinen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Der Sozialbericht 2013 machte hierfür u.a. als Gründe geltend, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte Leistungen aus der Grundsicherung erhielten, ohne als arbeitslos zu gelten, wenn sie beispielsweise an Arbeitsförderungsmaßnahmen teilnahmen oder wenn sie mehr als 15 Stunden in der Woche erwerbstätig waren.156 Die Zahl der erwachsenen jungen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten unter 25 Jahre stieg von 2013 bis 2016 wegen der Fluchtbewegung nach Deutschland um etwa 33 000, im Jahresdurchschnitt 2016 waren 17,4 % aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten unter 25 Jahren. Einen aufschlussreichen Einblick in die Struktur der Leistungsbezieher und die Arbeitslosigkeit in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bietet ein zusammenfassender Überblick zum Zeitraum von 155

156

Vgl. dazu und zum Folgenden Sozialbericht 2009, S. 288f.; Sozialbericht 2013, S. 8f.; Sozialbericht 2017, S. 26f. Vgl. Sozialbericht 2013, S. 211f. 140

2005 bis zum Jahr 2015 der Bundesagentur für Arbeit:157 Demnach wird zunächst darauf verwiesen, dass Arbeitslosigkeit nicht Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld sei, was auf bestimmte Problematiken verweist. So gab es im Jahre 2015 5 930 000 Regelleistungsberechtigte, darunter 1 602 000 nicht erwerbsfähige und 4 327 000 erwerbsfähige Berechtigte. Unter letzteren waren wiederum 1 844 000 Personen arbeitslos, hingegen mehr als die Hälfte, nämlich 2 483 000 (57 %), war nicht arbeitslos, ging also einer ungeförderten, nicht bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nach oder befand sich in einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder war arbeitsunfähig erkrankt oder war in der Kindererziehung oder mit der Pflege von Angehörigen befasst oder besuchte eine Schule bzw. absolvierte ein Studium. Nach zehn Jahren Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt der zusammenfassende Bericht der Bundesagentur für Arbeit zu einer überwiegend positiven Beurteilung der 2005 begonnenen Reform, wenngleich die Struktur der Leistungsempfänger des Arbeitslosengeldes II „Verfestigungstendenzen“ aufweise. Diese „Verfestigungstendenzen“ seien auf fehlende Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse, höheres Lebensalter, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder mangelhafte Sprachkenntnisse zurückzuführen. Blickt man noch kurz auf die Altersstruktur der Leistungsempfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, so ragt eindeutig die Gruppe der 25 bis 50-Jährigen hervor, während die Altersgruppe der 50 bis 55-Jährigen nahezu unverändert geblieben ist. Den relativ größten Rückgang verzeichneten die unter 25jährigen Leistungsberechtigten, hingegen nahm die Zahl der 55 Jahre und Älteren kontinuierlich sogar zu, was als Indiz für die schwierige Arbeitsmarktintegration der älteren Leistungsempfänger aus der Grundsicherung 157

Vgl. Arbeitsmarkt in Zahlen, S. 44f. und ebenda, S. 41 das folgende Zitat („Verfestigungstendenzen“). 141

gelten kann. Zugenommen haben auch die erwerbstätigen Leistungsberechtigten (hierunter fallen auch die Selbstständigen), was auf die Problematik der arbeitenden Hilfebedürftigen verweist, deren Arbeitseinkommen nicht ausreicht („Aufstocker“).158 55 Jahre und älter waren 2016 20,4 % der Arbeitslosen und keine abgeschlossene Berufsausbildung wiesen im gleichen Jahr 46,9 % auf.

2.1.2 Leistungen und Reformen Vorausschickend sei erwähnt, dass die verschiedenen arbeitsmarktspezifischen Instrumente und Reformen im Kapitel „Arbeitsförderung“ abgehandelt werden, um die Systematik und Übersichtlichkeit der gesamten Arbeitsmarktpolitik zu wahren. Nachdem zunächst bei der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Mittelpunkt waren, rückte nunmehr die Eingliederung in Arbeit in den Fokus unter der Maxime von „Fördern und Fordern“.159 Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende hatte einen „Paradigmenwechsel“ in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet, demzufolge auch für die Arbeitslosengeld II-Bezieher die Instrumente der Arbeitsförderung mit einem individuellen Ansatz zur Verfügung gestellt wurden. Dazu wurden zukünftig Eingliederungsvereinbarungen mit den betreffenden Hilfebedürftigen abgeschlossen, die die wesentlichen Elemente der von beiden Beteiligten zu erbringenden Leistungen fixierten. Des Weiteren wurden zum 1. Juli 2006 die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in den neuen Bundesländern an das Niveau in den alten Bundesländern angeglichen, d.h. alleinstehende

158

159

Vgl. zur Aufstockerproblematik unten im Abschnitt V eine nähere Betrachtung bei der Diskussion über die Hartzreformen. Vgl. dazu Sozialbericht 2009, S. 148ff. 142

Personen erhielten nun in ganz Deutschland 345 Euro im Monat, von Juli 2008 bis Juni 2009 waren es 351 Euro und ab 1. Juli 2009 359 Euro. Weiterhin wurden Leistungsverbesserungen zugunsten der sozialen Lage von Kindern implementiert: So ab dem Schuljahr 2009/10 zur Entlastung von Familien, die Leistungen der Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen, für Kinder eine einmalige, jährliche zusätzliche Leistung in der Höhe von 100 Euro für die Schule als bildungspolitische Förderung (sog. Kinderbonus). Zusätzlich im Rahmen des Konjunkturpakets II zur Bewältigung der Folgen der Finanzkrise 2009 wurde die Regelleistung für 6 bis 13jährige Kinder befristet von Juli 2009 bis zum 31. Dezember 2011 erhöht, dies entsprach 40 Euro im Monat mehr. Seit Oktober 2007 waren mit dem Instrument der JobPerspektive Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslosengeld II-Bezieher geschaffen worden, wobei Arbeitgeber Leistungen erhalten konnten, wenn sie Personen mit vielfältigen Vermittlungshemmnissen beschäftigten, die bisher ungeachtet des Einsatzes vorhandener arbeitsmarktlicher Instrumente nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein konnten. Für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse waren Arbeitgeberzuschüsse bis zu 75 % des Arbeitsentgeltes sowie gegebenenfalls ergänzende Zuschüsse für begleitende Qualifizierungsbausteine vorgesehen. Bis zu 24 Monate konnte die Förderung andauern bzw., wenn auch für weitere zwei Jahre eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt wahrscheinlich nicht möglich war, konnte sie unbefristet gewährt werden. 2008 stellte die Bundesregierung insgesamt rund 580 Millionen Euro für das im Oktober 2007 beschlossene Programm JobPerspektive bereit, bis Ende Oktober 2008 hatten rund 18 000 Hilfebedürftige eine Tätigkeit im Rahmen dieses Programmes begonnen. Die sog. Freie Förderung von Leistungen zur Eingliederung in Arbeit wurde den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende ermöglicht und des Weiteren sollten Bezieher von SGB II-Leistungen mit Migrations143

hintergrund bei fehlenden Sprachkenntnissen für eine Erwerbstätigkeit zur Teilnahme an einem Sprachkurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verpflichtet werden. Auch die Gründung von Existenzen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde geregelt, so dass Zuschüsse und Darlehen gewährt werden konnten, wenn eine selbstständige Erwerbstätigkeit die bestehende Hilfebedürftigkeit verringern bzw. beenden könnte. Organisatorisch kam es nach 2005 im Hinblick auf die Wahrnehmung der Aufgaben in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu Neuerungen:160 Zunächst hatten die Arbeitsagenturen und die Kommunen in gemeinsamen Arbeitsgemeinschaften (ARGE) die Leistungen erbracht, wobei die kommunalen Träger für die Unterkunft und soziale Leistungen (Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung) zuständig waren und die Arbeitsagenturen alle Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt und zur Sicherung des Lebensunterhalts übernahmen. Infolge eines politischen Kompromisses zwischen der rot-grünen Bundesregierung und der Opposition wurde aber Kommunen – kreisfreien Städte und Landkreisen – die Möglichkeit eröffnet, zunächst in einer sechsjährigen Experimentierphase die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit selbst zu übernehmen. 69 Kommunen, sog. Optionskommunen, wurden zunächst dafür zugelassen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember 2007 aber entschieden, dass die betreffenden Arbeitsgemeinschaften eine Mischverwaltung darstellten, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei und der Gesetzgeber musste bis zum Ende des Jahres 2010 eine verfassungskonforme Lösung entwickeln. Dies erfolgte durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom August 2010 und nunmehr wurde 2012 die Anzahl der sog. Optionskommunen um 41 erhöht, die als zugelassene kommunale Träger alle Aufgaben allein 160

Vgl. dazu Sozialbericht 2013, S. 13f. 144

wahrnehmen. Die getrennte Aufgabenwahrnehmung wurde abgeschafft. Die Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollten zukünftig gemeinsam von der Agentur für Arbeit und den kommunalen Trägern in gemeinsamen Einrichtungen, den Job-Centern, wahrgenommen werden. Dabei handelte es sich um Mischbehörden aus Bundes- und Landesbehörden (neu: Art. 91 e GG). Erwähnt sei noch die seit 2011 erfolgte Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungskonformen Ermittlung der Regelleistungen für Kinder und Erwachsene im SGB II und SGB XII vom Februar 2010, die nunmehr transparent und realitätsgerecht erfolgen müsse. Dabei müsse die Bedarfshöhe von Kindern und Jugendlichen durch eine eigenständige Regelbedarfsermittlung ersetzt werden und durch eine direkt von ihren Bedarfen abgeleitete Förderung der Kinder und Jugendlichen ergänzt werden. Letztere erhielten zusätzlich zu den eigenständig ermittelten, nach Altersstufen gestaffelten Regelbedarfen auch alters- und entwicklungsspezifische Bedarfe für Bildung und Teilhabe zur Deckung ihres soziokulturellen Existenzminimums als Sach- und Dienstleistung. Arbeitsmarktpolitisch ist auf das Gesamtkonzept „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ als einen weiteren Baustein zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit zu verweisen, damit in den Jobcentern die Betreuung und Aktivierung von Langzeitarbeitslosen intensiviert werden könne. Das ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter ohne entsprechenden oder ohne überhaupt einen Berufsabschluss auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ – hat zum einen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und zum anderen Menschen, die mit Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft leben, als Zielgruppe im Visier.

145

2.1.3 Einnahmen und Ausgaben Differenziert nach Leistungen und Art der Finanzierung zeigt die Grundsicherung für Arbeitsuchende folgendes Bild:161 Tabelle 14: Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und sonstige Arbeitsförderung (in Mrd. Euro) Leistungs- und 2005 2006 2009 2010 2011 2012 2014 2015 Finanzierungsart 45,8 48,9 46,7 46,9 42,1 40,8 42,4 42,8 Leistungen (insg.)162 Grundsicherung für Ar43,8 48,5 46,1 46,4 41,5 40,2 41,7 42,1 beitsuchende Darunter: Arbeitslosengeld II 25,0 26,4 22,4 22,2 19,4 19,0 19,7 20,2 und Sozialgeld Leistungen für Unterkunft 12,1 13,8 13,6 13,7 13,3 13,3 13,8 13,0 und Heizung Eingliederungsleistungen 2,9 4,6 5,9 6,0 4,4 3,8 3,4 3,2 Verwaltungsausgaben SGB 3,7 3,6 4,2 4,4 4,3 4,2 4,7 4,8 II (nur Bund)

161

162

Die folgende Tabelle nach Sozialbericht 2009, S. 290; Sozialbericht 2013, S. 212; Sozialbericht 2017, S. 239. Erwähnt sei, dass sozialintegrative und einmalige Leistungen von kommunalen Trägern sowie deren Verwaltungskosten und ihre kommunalen Leistungen für Bildung- und Teilhabe nicht berücksichtigt werden. 146

Leistungen i.V. mit der Ausgleichsabgabe163 Sonstige Leistungen des Bundes und der Länder164 Finanzierungsart Finanzierung insgesamt Finanzierungsanteil des Bundes Zuweisungen der Länder Finanzierungsanteil der Gemeinden

-

-

0,5

0,5

0,5

0,5

0,5

0,6

0,5

0,4

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

45,8 37,1

48,9 39,0

46,7 36,1

46,9 36,0

42,1 33,1

40,8 32,3

42,4 32,1

42,8 33,6

0,1

0,1

0,5

0,5

0,5

0,5

0,6

0,6

8,6

9,8

10,1

10,5

8,5

8,5

9,7

8,7

Die Ausgaben für die Grundsicherung spiegelten die wirtschaftlichkonjunkturelle Lage wieder, was den Rückgang um rund drei Mrd. Euro seit der Einführung der Grundsicherung 2005 bis 2015 zeigt, wobei die Aufwendungen für das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld sogar um fast fünf Mrd. Euro abnahmen. Der Anstieg der Ausgaben 2009 und 2010 markiert den kurzen, schweren Einbruch durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08. Bereits 2011 ist die rasche Erholung wieder zu er-

163

164

Private und öffentliche Arbeitgeber mit mindestens 20 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten müssen bekanntlich auf wenigstens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen beschäftigen (§ 71 SGB IX). Solange der Arbeitgeber seiner Beschäftigungspflicht (Beschäftigungsquote) nicht erfüllt, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe zahlen. Für die Erhebung der Ausgleichsabgabe ist das Integrationsamt zuständig, ebenso für die Verwendung. Die Ausgleichsabgabe wird nur für Zwecke der besonderen Leistungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben einschließlich der Begleitenden Hilfe im Arbeitsleben verwendet. Hierunter fallen Eingliederungshilfen für Spätaussiedler, Strukturanpassungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Sonderprogramm Schwerbehindertenarbeitsplätze usw. 147

kennen. 2012 erreichten die Grundsicherungsleistungen ihren Tiefstand und danach stiegen sie wieder leicht an. Rund die Hälfte der gesamten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende fiel auf das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld und ca. ein Drittel betraf die Ausgaben für Unterkunft und Heizung.

2.2

Die Sozialhilfe (im engeren Sinn) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Die 1962 eingeführte Sozialhilfe, das Bundessozialhilfegesetz, bestand institutionell bis 2004, bevor sie im Rahmen der sog. Hartzreformen neu geregelt worden war und als Sozialhilfe im engeren Sinn als letztes „Auffangnetz“ und unterstes bzw. nachrangiges Sicherungssystem fungiert. Sie ist zuständig für nicht oder nicht mehr erwerbstätige Menschen und soll diejenigen vor Armut und sozialer Ausgrenzung schützen, die aus eigenen Mitteln bzw. wegen fehlender Ansprüche gegen andere ihre Existenz nicht sichern können. Es stehen Leistungen als Hilfe zum Lebensunterhalt oder als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zur Verfügung. Darüber hinaus können gegebenenfalls noch Hilfen zur Gesundheit und zur Pflege beansprucht werden. Die im Sozialbudget mit angeführten Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes von 1993, das die Leistungen für Asylbewerber ausgliederte, werden unten in einem eigenen Kapitel näher vorgestellt.

148

2.2.1 Adressaten Aufgegliedert nach Personengruppen hat sich die Zahl der Leistungsempfänger (ohne die Grundsicherung für Arbeitsuchende) in der Sozialhilfe seit der Jahrhundertwende wie folgt entwickelt:165 Tabelle 15: Leistungsempfänger in der Sozialhilfe (in 1000) Empfänger Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Regelleistungen nach Asylbewerbergesetz Leistungen nach den Kapitel 5 bis 9 des SGB XII166

2000 2 600

2002 2 757

2005 81

2009 93

2011 108

2013 122

2015 137

-

-

630

764

844

962

1 038

71

279

211

121

144

225

975

-

1 072

788

927

-

1 075

1 124

Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen erhielten Ende 2000 knapp 2,68 Mio. Menschen in Deutschland, darunter befanden sich fast 600 000 ausländische Hilfeempfänger, die sich wiederum in 60 000 EU-Bürger, 71 300 Asylberechtigte, 9 000 Bürgerkriegsflüchtlinge und 454 000 sonstige Ausländer aufgliederten.167 Die Zahl der Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen, also die nicht in einem Krankenhaus oder einem Alten- und Pflegeheim oder einer sonstigen stationären Einrichtung lebten, hatte sich durch die 165

166

167

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 93; Sozialbericht 2009, S. 292; Sozialbericht 2013, S. 215f.; Sozialbericht 2017, S. 242. Hierunter fallen die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit und Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Vgl. Sozialbericht 2001, S. 93ff.; zum Folgenden Sozialbericht 2009, S. 156 und ebenda, S. 155ff.; Sozialbericht 2005, S. 110ff.; Sozialbericht 2013, S. 117. 149

Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf einen Bruchteil der bis 2004 üblichen Größenordnungen vermindert. Während unmittelbar vor dem Inkrafttreten der neuen Sozialhilfereform Ende 2004 2,9 Mio. Personen diese „klassische“ Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen bezogen, waren es Ende 2007 nur noch 88 000. Seit 2005 hat sich die Zahl der Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt wie auch der Empfänger von Leistungen aus der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung kontinuierlich wieder erhöht, bei letzterer wurde im Jahre 2015 die Millionengrenze überschritten. Offensichtlich stieß die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf wachsende Zustimmung, was aber zugleich ein Indiz ist für die zukünftig steigende Nachfrage dieser Unterstützung durch für die Älteren. Auch die Zahl der Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wuchs seit 2010 und erreichte im Jahr 2015 mit 975 000 einen neuen Spitzenwert (= 170 % mehr als im Vorjahr). Hier kam die große Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zum Ausdruck. Zuwächse verzeichnete seit 2005 auch die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit und Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten.

2.2.2 Leistungen und Reformen Im Zentrum der Leistungen und Reformen im Bereich der Sozialhilfe stehen die Maßnahmen der rot-grünen Regierung seit 2003. Zum 1. Juli 2001 wurden zunächst noch infolge des Inkrafttretens des neunten Sozialgesetzbuches die Träger der Sozialhilfe in den Kreis der Rehabilitationsträger einbezogen und die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Bundessozialhilfegesetz reformiert.168 Letzteres sollte die Rehabilitations- und Teilhabechancen behinderter Menschen, die auf

168

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 87f. 150

Leistungen der Sozialhilfe angewiesen waren, unterstützen. So wurden bedürftigkeitsunabhängige Eingliederungsleistungen der Sozialhilfe nicht mehr vom Alter des Behinderten abhängig gemacht werden (u.a. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten). Im Kontext der Reformen der Agenda 2010 setzte die rot-grüne Regierung nach 2002 die Sozialhilfereform fort mit der Leitlinie einer Stärkung der Eigenverantwortung der Menschen gemäß dem Grundsatz „fördern und fordern“. Die im Dezember 2003 verabschiedete Reform der Sozialhilfe, die gemeinsam mit der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende zum 1. Januar 2005 in Kraft trat, beinhaltete als zentralen Punkt die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für erwerbsfähige Personen. Demzufolge waren Leistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts der Sozialhilfe im neuen SGB XII nur noch für nichterwerbsfähige Hilfebedürftige vorgesehen. Erwerbsfähige Hilfebedürftige und ihre mit ihnen lebenden minderjährigen Angehörige besaßen nun Anspruch auf das Arbeitslosengeld II bzw. das Sozialgeld gemäß dem neuen SGB II. Dieser Übergang bisher erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher und deren minderjähriger Angehöriger in die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende entlastete die Kommunen erheblich. Das neue SGB XII behielt die leitenden Grundsätze wie die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens, die Unterstützung der Selbsthilfekräfte und die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Sozialhilfeleistungen bei, wobei insgesamt die Sozialhilfeleistungen nachrangige Leistungen blieben. Das zum 1. Januar 2003 eingeführte Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurde zum Jahresende 2004 aufgehoben und als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Bestandteil des neuen SGB XII. Die steuerfinanzierte, bedarfsorientierte Grundsicherung für ältere Menschen ab 65 Jahren war aber keine Versicherungsleistung, also keine „Ersatz- oder Mindestrente“, d.h. sie blieb bedürftigkeitsabhängig. Zwar bestand weiterhin die Verpflichtung des Einsatzes eigenen Vermö151

gens und Einkommens bzw. des Ehegatten oder Lebenspartners einer eheähnlichen Gemeinschaft zur Bestreitung des Lebensunterhalts, aber im Unterschied zur Hilfe zum Lebensunterhalt wurde weitgehend auf einen Unterhaltsrückgriff verzichtet. Erst ab einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro bei den Kindern der Grundsicherungsberechtigten entfiel der Anspruch auf die Grundsicherung. Dadurch sollte die Bekämpfung der sog. verschämten Armut im Alter und bei Erwerbsminderung intensiviert werden, denn vielfach verzichteten ältere Menschen auf ihre Ansprüche, um einen Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder zu vermeiden. Diese Grundsicherung beinhaltete Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Kosten für Wohnung für 65-jährige und ältere Menschen oder dauerhaft voll erwerbsgeminderte Menschen ab dem 18. Lebensjahr. Dauerhaft voll erwerbsgemindert waren Personen, die nur noch weniger als drei Stunden täglich erwerbsfähig sein konnten und bei denen keine Besserung der gesundheitlichen Einschränkung zu erwarten war. Weitere Änderungen im Sozialhilferecht betrafen ab 2006 die Gleichstellung von lebenspartnerschaftsähnlichen mit eheähnlichen Gemeinschaften sowie die Anpassung der Regelsatzbemessung auf der Basis der alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Somit wurde ab 1. Januar 2007 345 Euro als sog. Eckregelsatz für eine erwachsene und alleinlebende Person bestimmt, der 2008 auf 351 und 2009 auf 359 Euro angehoben wurde. 2009 führte man eine dritte Altersstufe für Kinder ein, nämlich für 6 bis 13jährige Kinder mit einem eigenen Eckregelsatz von 70 % des Regelsatzes einer alleinlebenden Person. Ab dem Schuljahr 2009/2010 gab es den Kinderbonus von 100 Euro als einmalige, jährliche Leistung zur Unterstützung der schulischen Bildung. Wegen der problematischen finanziellen Lage vieler Kommunen einigten sich der Bund und die Länder auf eine Beteiligung des Bundes an den Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 2009 in drei Schritten bis hin zur vollen 152

Ausgabenerstattung. Beginnend mit einer Beteiligung in Höhe von 13 % der Nettoausgaben wurde dieser Anteil des Bundes im Jahre 2012 auf 45 % und schließlich ab 2014 auf 100 % der Nettoausgaben erhöht. Damit trat eine finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen ein. Die neu reformierte Sozialhilfe umfasste somit folgende Hilfen: Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für nicht erwerbsfähige Personen als Hilfe zum Lebensunterhalt, für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Eingliederungshilfen für Behinderte und schließlich Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Lebenslagen. Voraussetzung für diese Leistungen war, dass eigene Mittel aus Einkommen und Vermögen nicht ausreichten und auch andere Versicherungsoder Versorgungssysteme nicht zuständig waren. Nach Vorgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 wurden zum Beginn des Jahres 2011 die Regelbedarfe als pauschalierte und monatlich gezahlte Leistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung von Bedarfen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche neu ermittelt. Die Regelbedarfe betrafen die Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß dem SGB II, die Hilfe zum Lebensunterhalt, d.h. die Sozialhilfe im engeren Sinn, und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß SGB XII. Da aufgrund der demographischen Entwicklung die Zahl älterer Menschen weiter zunehmen wird, ist mit einem weiteren Anstieg der Grundsicherungsausgaben zu rechnen. Für 2013 bis 2016 stellt der Bund hierfür rund 18 Mrd. Euro zur Verfügung.

2.2.3 Ausgaben Schließlich blicken wir auf die Ausgaben der Sozialhilfe, wobei hier die reinen Ausgaben, also die Bruttoausgaben nach dem Abzug von Erstat153

tungen gemeint sind. Erstattungen konnten von anderen Sozialleistungsträgern oder von Unterhaltspflichtigen stammen. Der Vollständigkeit halber wurden auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angeführt, worüber unten ausführlicher informiert wird. Tabelle 16: Ausgaben der Sozialhilfe (in Mrd. Euro)169 Leistungsart Leistungen insgesamt Hilfe zum Lebensunterhalt Hilfe zur Gesundheit („Krankenhilfe“) Eingliederungshilfe für Behinderte Hilfe zur Pflege

2001s 26,3 9,7 1,3

2002 26,6 8,9 1,4

2005 21,9 0,7 1,1

2009 24,7 1,0 0,8

2013 29,8 1,2 0,7

2015 36,6 1,4 0,7

9,6

9,1

10,1

12,0

14,1

15,6

3,0

2,4

2,7

2,9

3,4

3,6

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

-

-

2,8

3,9

5,2

5,9

Asylbewerberleistungsgesetz

1,9

1,5

1,2

0,8

1,5

5,2

Sonstige Hilfen170 Verwaltungsausgaben

1,8 1,3

2,0 1,3

2,1 1,1

2,1 1,2

2,2 1,4

2,3 1,8

Entsprechend dem Wachstum der Empfängerzahlen sind die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung seit ihrer Einführung im Jahr 2003 deutlich angestiegen, wobei der Bund wie erwähnt die Erstattung der Nettoausgaben seit 2014 zu 100 % hochfuhr. Dadurch entlastete der Bund die Kommunen außerordentlich, allerdings erstattet der Bund die Ausgaben den Ländern, die 169

170

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 267; Sozialbericht 2009, S. 293; Sozialbericht 2013, S. 216; Sozialbericht 2017, S. 243. Hierzu zählen Sozialbeiträge für Behinderte in Werkstätten, Landesblindenund Pflegegelder, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Kapitel 8 SGB XII) und Hilfe in anderen Lebenslagen (Kapitel 9 SGB XII). 154

dann wiederum selbst entscheiden, in welchem Umfang sie ihre Kommunen entlasten. Nachdem mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß dem SGB II und des neuen SGB XII zunächst 2005 die Aufwendungen der bisherigen „klassischen“ Sozialhilfe sichtbar abgefallen waren, sind sie seitdem wieder im Steigen begriffen. Den größten Ausgabeposten bildet die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die im Jahre 2013 fast die Hälfte der Ausgaben umfasste. Medizinischer Fortschritt, demographische Entwicklungen sowie Leistungsverbesserungen im Recht der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz zeichneten nach Meinung der Bundesregierung dafür verantwortlich. Schwankende Ausgaben offenbarte auch das Asylbewerberleistungsgesetz entsprechend den jeweiligen Bewerberzahlen. Aufgrund der aktuellen Flüchtlingskrise verdreifachten sich 2015 die entsprechenden Ausgaben beim Asylbewerberleistungsgesetz.

2.3

Exkurs: Zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung

Der folgende Exkurs skizziert knapp die Armutsberichterstattung der Bundesregierung. Armut ist ein Teilgebiet der hier vorgelegten Bilanz des deutschen Sozialstaates seit der Jahrhundertwende und berührt verschiedene Teilaspekte bzw. Zweige des Sozialstaates. Jedoch steht die Armutsfrage nicht im Mittelpunkt dieses Überblicks zum deutschen Sozialstaat, der in seinem Anspruch und seiner Zielsetzung weit über die Armutsproblematik hinausreicht. Insofern werden auch die aktuell politisch zum Teil heftig umstrittenen Fragen zum Ausmaß von Armut und insbesondere zur Frage, inwieweit sich Armut tatsächlich seit dem Jahr 2000 verschärft hat, nur punktuell thematisiert. Im April 2001 legte die rot-grüne Bundesregierung erstmals einen seit längerer Zeit geforderten Armutsbericht mit dem Titel „Bericht. Lebenslagen in Deutschland – der erste Armuts- und Reichtumsbe155

richt der Bundesregierung“ vor, um über die Verteilung von Reichtum und Armut in Deutschland bis zum Jahr 1998 zu informieren und zugleich ihre Maßnahmen zur Bekämpfung einer Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich aufzuzeigen.171 Aufgrund der in der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedlich verwendeten Definitionen von Armut und Reichtum übernahm dieser erste Bericht einen pragmatischen, „pluralistischen Armutsbegriff, der Unterversorgungslagen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet“. Demzufolge wurde keine einzige Armutsgrenze oder eine bezifferte Armutspopulation verwendet, vielmehr Armut unter verschiedenen Gesichtspunkten wie u.a. einer relativen Einkommensarmut, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder sozialen Brennpunkten in Großstädten beleuchtet. Hingegen wurde im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht172, der den Zeitraum von 1998 bis 2004 abhandelte, Armut mit Zahlenangaben definiert. Dabei griff man auf einen relativen Armutsbegriff zu-

171

172

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 107ff. und ebenda, S. 172 (das folgende Zitat). Dort auch weiterführende Informationen zur Entstehung und den Verfassern des Berichts. Der vollständige Bericht: Bundesregierung (Hg.), Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2001. Immerhin fand die Vorlage dieses Berichts bei der an sich kritischen Gesamtbetrachtung bei Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2014 (5. Auflage), S. 216 Lob, denn dies „kann man nicht hoch genug veranschlagen“. Allerdings bringe der Bericht keine klare Aussagen zu den Ursachen von Armut und lasse vieles zur Thematik des Reichtums weg (ders., Armut, Köln 2018 (3. Auflage), S. 33ff.). Vgl. Bundesregierung (Hg.), Lebenslagen in Deutschland. Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die erneut kritische Beurteilung durch Butterwegge, Armut, S. 38ff. moniert das Nichteingehen auf die Kluft zwischen arm und reich in Deutschland oder die erheblichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Auch tauche bei den Ausführungen über Reichtum das Betriebsvermögen nicht auf. 156

rück, d.h. auf die von den EU-Staaten verwendete „Armutsrisikoquote“, die den Anteil der Personen in Haushalten bezeichnet, deren „bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen“ weniger als 60 % des Mittelwerts (Median) aller Personen beträgt. In Deutschland lag die so errechnete Armutsrisikogrenze bei 938 Euro. Diese Begriffsfestlegung übernahm der vierte Armuts- und Reichtumsbericht173. Ohne auf die Implikationen der Begriffsdefinitionen von Armut einzugehen, die immer auch Werturteile beinhalten, wurde Armut „gleichbedeutend mit einem Mangel an Verwirklichungschancen“ verbunden. Umgekehrt bedeute Reichtum ein sehr hohes Maß an Verwirklichungschancen. Dem fünften und aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht174 zufolge wird das vielschichtige Phänomen Armut im Wesentlichen als ein “Mangel an Mitteln und Möglichkeiten verstanden, das Leben so zu leben und zu gestalten, wie es in unserer Gesellschaft üblicherweise

173

174

Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Vierter Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung. Kurzfassung: Chancen schaffen, soziale Mobilität ermöglichen, Bonn 2013. Christoph Butterwegge, Armut, S. 51ff. hebt kritisch die ministerielle „Berichtskosmetik“ im Vorfeld der Publikation hervor und überhaupt gehe auch diese Bestandsaufnahme der CDU/CSU/FDP-Bundesregierung nicht auf die ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen der Spreizung bei Einkommen und Vermögen ein; vgl. auch ders., Krise, S. 322ff. Vgl. Bundesregierung (Hg.), Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Kurzfassung 2017; nach Christoph Butterwegge, Armut, S. 58ff. verschleiere und verharmlose der Bericht die tatsächliche Situation, nehme die Kinderarmut nicht ernst und unterschätze die Altersarmut: „Stattdessen wird die gesellschaftliche Realität verdrängt, die Konzentration des Reichtums verschleiert und verharmlost.“ (ebenda, S. 64). Zur Altersarmut muss aber angemerkt werden, dass bis dato die Werte der Betroffenen im Unterschied zu anderen Bevölkerungskreisen (z.B. Alleinerziehende) noch deutlich niedriger waren. 157

auf Basis des historisch erreichten Wohlstandsniveaus möglich ist“. Reichtum wird demgegenüber interpretiert als eine „Lebenslage, in der die Betroffenen weit überdurchschnittliche Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben“. Mit Blick auf die Entwicklung bis 1998 stellte der erste Armutund Reichtumsbericht kritisch fest, dass die soziale Ausgrenzung gewachsen sei und die Verteilungsgerechtigkeit abgenommen habe. Soziale Ausgrenzung gebe es auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland, wobei Armut alleine über die Einkommensverteilung nicht ausreichend beschrieben sei und Lebenslagen wie Bildung, Erwerbstätigkeit oder Gesundheit mitberücksichtigt werden müssten. Generell betonten die Berichte den engen Zusammenhang zwischen dem Armutsrisiko und der Arbeitslosigkeit, die weiterhin das „wichtigste Armutsrisiko“ bzw. das „Hauptarmutsrisiko“ darstelle. Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht hielt zwar fest, „Deutschland ist ein reiches Land“, jedoch korrespondiere das Armutsrisiko in erheblichem Umfang mit dem Kriterium Arbeitslosigkeit. Das Armutsrisiko von Arbeitslosen lag beispielsweise 2003 bei 40,9 % im Vergleich zu vier Prozent bei Vollerwerbstätigen. Deshalb wurde die Schaffung von Arbeitsplätzen als sozial gerechte Politik betont. Zentrale Bedingung für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit sei letztendlich Bildung als „beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit“. Familien mit Kindern, insbesondere Alleinerziehende oder Zuwandererfamilien seien am meisten gefährdet. Auch für die Große Koalition ab 2005 galt, „der Schlüssel zur Armutsvermeidung ist mehr Bildung und Beschäftigung. Alle Bemühungen müssen darauf ausgerichtet sein, Vollbeschäftigung zu erreichen“. Betroffen von Arbeitslosigkeit und damit von Armut waren laut den Berichten insbesondere Schwerbehinderte, Ungelernte, Migranten – bei der ausländischen Bevölkerung lag die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei der deutschen Bevölkerung. Dazu kämen wegen der Problematik der Vereinbarung von Beruf und Familie Alleinerziehende als 158

die größte, von der Sozialhilfe abhängige Gruppe. Arbeitslosigkeit blieb weiterhin die Hauptursache für den Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt, wobei die größte Gruppe bei diesen Leistungsempfängern, insbesondere bei Alleinerziehenden, Kinder unter 18 Jahren waren. Die Analyse zeigte einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Nichterwerbstätigkeit der Eltern und dem Armutsrisiko von Familien und Kindern. Mit der Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung durch einen oder mehrere erwerbsfähige Haushaltsmitglieder sank die Armutsgefährdung von Familien mit Kindern erheblich. Somit seien Kinder kein Armutsrisiko an sich, sondern entscheidend sei die Erwerbsbeteiligung der Eltern. Kinderarmut wurde demzufolge vorrangig auf die eingeschränkte Erwerbstätigkeit der Eltern zurückgeführt. So lag das Armutsrisiko von Kindern bei 64 Prozent, wenn in der Familie kein Elternteil erwerbstätig war. Bei einem in Vollzeit erwerbstätigen Elternteil fiel das Armutsrisiko für Kinder deutlich auf 15 Prozent. Sind hingegen beide Elternteile erwerbstätig und arbeitet ein Elternteil Vollzeit, sinkt das Armutsrisiko der Kinder auf 5 %. Familien mit mindestens drei Kindern oder Ein-Eltern-Familien waren im Übrigen besonders häufig von niedrigem Nettoäquivalenzeinkommen betroffen wie auch Kinder mit Migrationshintergrund. Für das Jahr 2005 etwa untermauerte die Analyse den deutlichen Zusammenhang zwischen der Nichterwerbstätigkeit der Eltern und dem Armutsrisiko von Familien und Kindern: Nahmen ein oder mehrere erwerbsfähige Haushaltsmitglieder eine Vollzeitbeschäftigung auf, sank die Armutsgefährdung von Familien mit Kindern von 48 % auf acht bzw. vier Prozent. In ihrem Sozialbericht am Ende der Legislaturperiode 2013-2017 betonte die Bundesregierung, dass Kinder in Deutschland „weit überwiegend in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen“175 lebten. 175

Sozialbericht 2017, S. 109 und ebenda, S. 109f. (zum Folgenden). 159

Allerdings befänden sich – je nach Datenquelle – zwischen 15 und 21 % der Kinder in einer Armutsrisikokonstellation, d.h. sie lebten in Haushalten, die über weniger als 60 % des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügten. Das Armutsrisiko von Kindern liege deutlich über dem Armutsrisiko der Gesamtbevölkerung. Besonders gefährdet seien wiederum Haushalte von Alleinerziehenden, die wegen der Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oftmals nur in Teilzeit tätig sein können. In Alleinerziehungshaushalten lag demnach das Risiko bei 46 % (!), bei zwei oder mehr Kindern stieg das Armutsrisiko gar auf 54 %. Allgemein liegt das Armutsrisiko in Familien mit drei und mehr Kindern höher (rd. 27 %) und bei Kindern mit Migrationshintergrund (30 %) ebenfalls deutlich höher als bei Kindern ohne Migrationshintergrund (14 %). Sozial- und familienpolitische Transferleistungen reduzierten die relative Einkommensarmut von Familien deutlich. So senkte die Zahlung staatlicher Transferleistungen die Armutsrisikoquote von Kindern um fast zwei Drittel von 34 % auf im europäischen Vergleich geringe 12 % (2006). Eine vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen trage zur Verminderung des Armutsrisikos in Familien bei. Vom Armutsrisiko waren Erwerbstätige, Selbstständige und ältere Menschen weit unterdurchschnittlich betroffen. Verständlicherweise hatten Erwerbstätige weiterhin eine deutlich niedrigere Armutsrisikoquote als die Gesamtbevölkerung, während Arbeitslose, Alleinerziehende, niedrig Qualifizierte und Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich damit konfrontiert waren. Insgesamt hatte das Armutsrisiko von 1998 bis 2003 von 12,1 % auf 13,5 % leicht zugenommen, wofür vor allem die wirtschaftliche Stagnation ab 2001 verantwortlich zeichnete. Die Armutsrisikoquote von Familien war 2002 im Vergleich zu 1998 wegen der Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Umfeld von 12,6 % auf 13,9 % gestiegen. Für die Alleinerziehenden ist das Armutsrisiko (35,4 %) gegenüber 1998 nicht angewachsen. 160

Das Risiko der Gesamtbevölkerung einkommensarm zu sein, lag im Jahr 2005 bei 26 % vor Berücksichtigung von Sozialtransfers und nach Sozialtransfers verringerte es sich auf einen Anteil von 13 %. Dieser Wert war im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich und demzufolge gehörte Deutschland neben den skandinavischen Staaten zu den Ländern mit einer großen Wirkung der Sozialtransfers auf die Armutsrisikoquote. In Deutschland werde – im Vergleich zu den OECD-Staaten – die Ungleichheit durch Steuern und Sozialtransfers wie z.B. Arbeitslosengeld II, Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld usw. gemindert, so dass sich das Risiko einer Einkommensarmut 2005 gesenkt habe. Bis zum Jahr 2005 stieg die Armutsrisikoquote konstant an und seit 2007 lag sie – je nach Datengrundlage – zwischen 14 und 16 Prozent. Zur Situation älterer Menschen vor dem Hintergrund der Armutsthematik kamen die Berichte durchgehend zu dem Ergebnis, dass das Armutsrisiko der Älteren unterdurchschnittlich war und z.B. von 13,3 % (1998) sogar auf 11,4 % (2003) gefallen war. Auch der Anteil der Älteren mit Sozialhilfebezug lag mit 1,3 % (2002) klar unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Ältere Menschen waren weitaus seltener auf staatliche Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen als jüngere. Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren beurteilte der vierte Bericht als überdurchschnittlich gut und Ende 2011 seien nur 436 210 Personen über 65 Jahre leistungsberechtigt in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (entsprach nur 2,6 % der Bevölkerung in dieser Altersgruppe) gewesen. Demzufolge sei „Bedürftigkeit im Alter heute kein Problem“, jedoch erwarte man zukünftig bei Niedrigverdienern oder Selbstständigen durchaus Beeinträchtigungen. Im Jahr 2015 bezogen lediglich rund drei Prozent aller über 65-Jährigen Leistungen aus der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Der Anteil der Leistungsberechtigten in dieser Altersgruppe war demnach deutlich geringer als der Anteil aller Empfänger von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums an der Gesamtbevölkerung (ca. neun Prozent). 161

Grundsätzlich war die Altersgruppe der über 65-Jährigen durchschnittlich seltener armutsgefährdet als die Gesamtbevölkerung, wenngleich aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger das Risiko drohender „Altersarmut“ als problematisch wahrgenommen werde. Da eine klare Reichtumsdefinition fehlt, beschränkte sich der erste Armuts- und Reichtumsbericht wegen der fehlenden Datenlage auf eine Darstellung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Vermögen und Einkommen seien ungleich verteilt und auch die Überschuldung habe sich in Ost und West unterschiedlich entwickelt. Die Einkommensverteilung in den neuen Ländern hatte sich derjenigen im alten Bundesgebiet zwar leicht angenähert, aber weiterhin bestünden erhebliche Unterschiede. Im Jahre 1998 waren 8,2 Billionen DM privates Vermögen „sehr ungleichmäßig“ verteilt, aber immerhin zumindest in Westdeutschland war dieses langfristig gleichmäßiger gestreut. Im gleichen Jahr gab es 1,5 Mio. Vermögensmillionäre, wobei die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte in Westdeutschland durchschnittlich 1,1 Mio. DM Privatvermögen besaßen (= das Vierfache des Durchschnitts aller Haushalte). Die erhebliche Spaltung bei der Vermögensverteilung Anfang des neuen Jahrhunderts kam in folgenden Befunden zum Ausdruck: Nur 4,5 % des Privatvermögens entfielen auf die untere Hälfte der Haushalte, hingegen 42 % auf die obersten 10 %. Um 2000176 verfügten fünf Prozent über rund die Hälfte des gesamten Vermögens, die ärmeren 50 Prozent besaßen demgegenüber lediglich zwei Prozent. In Ostdeutschland war das Produktivvermögen wie Aktien, -fonds, Betriebsvermögen noch ungleichmäßiger verteilt. Das Privatvermögen ostdeutscher Haushalte umfasste mit rund 88 000 DM im Durchschnitt ein gutes Drittel des Vermögens der westdeutschen Haushalte. Bis zum Jahre 2003 waren die Vermögen auf rund fünf Billionen Euro 176

Vgl. auch Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013, S. 73. 162

angestiegen. Dies entsprach einem Durchschnitt von 133 000 Euro pro Haushalt. Allerdings bestünden weiterhin gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Vorherrschend sei das Immobilienvermögen, das rund drei Viertel des Gesamtvermögens ausmache. Die Vermögen waren weiterhin sehr ungleich verteilt, d.h. die untere Hälfte der Haushalte verfügten lediglich über knapp vier Prozent des gesamten Nettovermögens, hingegen entfielen auf die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte fast 47 % des Vermögens. Letztere konnten von 1998 bis 2003 ihren Anteil sogar um zwei Prozentpunkte steigern. Rund sechs Prozent der deutschen Haushalte verfügten darüber hinaus auch über Betriebsvermögen, 275 000 Euro im Durchschnitt in Westdeutschland und lediglich 80 000 Euro im Durchschnitt in Ostdeutschland. Schenkungen und Erbschaften wurden jährlich im Umfang von 50 Mrd. Euro zwischen den Generationen transferiert. Der sich mit den Jahren 2004 bis 2007 beschäftigende dritte Armuts- und Reichtumsbericht177 definierte Reichtum nach der in der Wissenschaft gebräuchlichsten Abgrenzung relativen Reichtums wie folgt: Reichtum bedeute die Verfügung über ein Nettoäquivalenzeinkommen, das mindestens doppelt so hoch ist wie das mittlere Einkommen. Demnach waren 6,4 % der Gesamtbevölkerung reich in der einfachen Einkommensverteilung (= 3 268 Euro netto/Monat) bzw. mit einer umfassenderen integrierten Einkommens- und Vermögensperspektive (= 3 418 Euro netto/Monat) waren es 8,8 %. Diese Werte

177

Vgl. Bundesregierung (Hg.), Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bunderegierung (Kurzfassung), S. 16; nach Butterwegge, Krise, S. 216f., habe der dritte Bericht die weitere, vertiefte Kluft zwischen Arm und Reich ebenso wie die Spaltung zwischen Ost und West ignoriert und sei individualisierend und pädagogisierend mit der Armut umgegangen, vgl. auch ders., Armut, S. 43ff. 163

galten aber nur für Einzelpersonen und erhöhten sich bei größeren Haushalten, so bei einem Paarhaushalt mit zwei Kindern auf 6863 Euro netto/Monat. Im Jahr 2006 wiesen 15 % aller Haushalte ein überdurchschnittliches Nettoeinkommen von über 3200 Euro im Monat auf. Im Hinblick auf das Vermögen referierte der vierte Armuts- und Reichtumsbericht Werte aus dem Jahre 2008, demnach die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens verfügten, während umgekehrt die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte die Hälfte des gesamten Nettovermögens besaßen. Der Vermögensanteil des obersten Zehntels war seit 1998 immer weiter angestiegen. Zum Jahresende 2011 belief sich das gesamte Volksvermögen auf fast 13 Billionen Euro, wobei Anlagegüter (Gebäude und Bauland) den größten Anteil bildeten. Das private Nettovermögen stieg zwischen Ende 2006 und Ende 2011 auf gut zehn Billionen Euro an, wobei das Geldvermögen am stärksten gestiegen ist. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht nahm einen größeren Zeitraum in den Blick und gelangte zu folgenden Befunden hinsichtlich des Faktors Reichtum: Die Einkommen in Deutschland haben sich in den 1990er Jahren und in der Folgezeit zunehmend am oberen Rand der Einkommensverteilung konzentriert. Konnte das oberste Prozent der Einkommensverteilung im Jahr 1995 rund neun Prozent der Einkommen (hier: steuerliches Bruttoeinkommen) auf sich vereinen, so stieg dieser Anteil bis 2008 auf rund 13 Prozent und liefert einen Beleg für die gewachsene Ungleichheit. Dabei wuchs das Durchschnittseinkommen dieser Gruppe stark von rund 250 000 Euro auf rund 430 000 Euro mit kurzzeitigen Schwankungen in der Zeit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Anteil der Bevölkerung, der über mindestens das Doppelte bzw. Dreifache des mittleren Einkommens verfügte, lag bei allen Datenquellen zwar höher als

164

in den 1990er Jahren, aber seit Jahren relativ stabil bei sieben bis acht bzw. bei zwei Prozent. Reichtum wird auch mit Vermögen assoziiert und verdeutlicht die bestehende Verteilungs- und Gerechtigkeitssituation. Die Summe aller Nettogesamtvermögen in Deutschland betrug im Jahr 2013 nach den Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe rund 4,9 Billionen Euro, was im Durchschnitt rund 123 000 Euro je Haushalt entsprach. Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügten dabei nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens besaßen. Der Anteil dieses obersten Dezils ist dabei seit dem Jahr 1998 immer weiter angestiegen, so dass die Vermögensungleichheit bis zum Ende des hier interessierenden Zeitraum zugenommen hat. Betrachtet man die Personen mit einem individuellen Vermögen ab einer halben Mio. Euro, so war dieser Bevölkerungsanteil von 2002 auf 2012 leicht rückläufig und sank von rund 2,8 Prozent auf rund 2,5 Prozent, wobei es sich überwiegend um Personen mit einem Alter jenseits der 50 Jahre handelte. Personen mit hohem Einkommen verfügen weit überdurchschnittlich oft über ein Vermögen ab 500 000 Euro. Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt seit 1995 recht stabil bei rund sieben Prozent. Schließlich blicken wir zur Einkommensverteilung: Eine Einkommensanalyse für den ersten Armuts- und Reichtumsbericht zum Jahr 1995 verdeutlichte die „eklatante Ungleichverteilung“178, da zehn Prozent ein gutes Drittel des Nettogesamteinkommens besaßen. Die reichsten fünf Prozent verfügten zusammen gar über ein Einkommen, das 95 Prozent aller Einkommensbezieher nicht erreichten. Hier musste die Regierung einräumen, dass die Ungleichverteilung der 178

Wehler, Umverteilung, S. 69; ebenda, S. 65ff. (auch Werte zur Einkommensverteilung zwischen 1945 und den 1990er Jahren). 165

Einkommen in den Jahren zwischen 2002 und 2005 zugenommen habe. Auch die Ungleichverteilung der Einkommen nahm zu: Während der Anteil der höheren Einkommen wuchs, sanken die Anteile der niedrigen Einkommensgruppen. Hier wirkte sich auch die Zunahme der Beschäftigung im Niedriglohnbereich aus, die allerdings nach Darlegung der Bundesregierung auch mehr Menschen den Weg aus der Arbeitslosigkeit geebnet habe. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht179, der im Wesentlichen die Jahre von 2007 bis 2011 umfasste, sprach zwar von einer positiven Entwicklung der Lebenslagen in Deutschland und hierbei insbesondere der Arbeitsmarktentwicklung. Allerdings sei die an sich positive Entwicklung bei den relativen Einkommens- und Armutsindikatoren noch nicht sichtbar. Positiver beurteilte die Bundesregierung den gewachsenen Niedriglohnsektor, der durchaus zum Beschäftigungsaufbau der letzten Jahre beigetragen habe und vielen Geringqualifizierten den Eintritt in den Arbeitsmarkt erst ermöglicht habe. Die Einkommensverteilung in Deutschland war laut dem fünften Bericht im betreffenden Zeitraum stabil, d.h. die jeweiligen Einkommensanteile der oberen und der unteren Hälfte bewegten sich seit 2005 im Verhältnis von rund 70:30. Zu Beginn der 2000er-Jahre waren die Einkommen allerdings deutlich gleichmäßiger verteilt. Die Armutsrisikoquote als ein Maß der Einkommensungleichheit befinde sich, so die Regierung, seit dem Jahr 2005 ungefähr auf gleichem Niveau und ungeachtet der guten wirtschaftlichen Lage sei, wie der Bericht vorsichtig formuliert, aktuell sogar eher ein Anstieg zu verzeichnen. Insgesamt hätten die Beschäftigungs- und Einkommenszuwächse der vergangenen Jahre die Unterschiede weitgehend unverän-

179

Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Lebenslagen in Deutschland. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Kurzfassung: Chancen schaffen, soziale Mobilität ermöglichen, Bonn 2013. 166

dert gelassen. Jedenfalls kann man festhalten, dass seit der Jahrhundertwende wohl ungeachtet der erfolgreichen Arbeitsmarktentwicklung die Einkommensverteilung gleich geblieben sei bzw. tendenziell eher höhere Einkommen bevorteilte. Bei aller Abwägung ist die Gefahr einer weiteren Spaltung der Gesellschaft entlang der Einkommens- und Vermögensverteilung nicht von der Hand zu weisen. Die erfolgreiche und dauerhafte Arbeitsmarktintegration in Verbindung mit einem mittelfristig deutlich anzuhebenden Mindestlohn als „Sicherungsmauer“ kann ein Instrument zur zukünftigen Begrenzung des Auseinandertretens der Gesellschaft darstellen.

3. Die Kinder- und Jugendhilfe Mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 wurde das aus dem Jahre 1922 stammende Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst. Bei der Kinder- und Jugendhilfe werden Leistungen nach dem SGB VIII und nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erbracht. Die Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe werden von den örtlichen Trägern durch die Jugendämter, den überörtlichen Trägern durch die Landesjugendämter, den Ländern durch die Obersten Landesbehörden sowie dem Bund durch die Oberste Bundesbehörde – im Rahmen des Bundesjugendplans – sowie den Trägern der freien Jugendhilfe wahrgenommen.

3.1

Adressaten

Der gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz definierte Personenkreis aller unter 27-Jährigen umfasste im Jahr 2006 23,2 Mio. Personen (= 28 % Anteil an der Bevölkerung), 2009 22,4 Mio. und 2011 167

21,9 Mio. (= jeweils 27 %) und sank 2014 auf 21,4 Mio. Personen (= 26 %).180 In Deutschland lebten nach Meinung der Bundesregierung Kinder in weit überwiegend gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Armutsrisiko traf nach wie vor Alleinerziehende überproportional. Der Hauptgrund der Kinderarmut 181 lag in der eingeschränkten Erwerbstätigkeit der Eltern, wie im vorherigen Kapitel zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung ausgeführt worden ist.

3.2

Leistungen und Reformen

Das Sozialbudget erfasst neben den Leistungen, die von den Einrichtungen und Diensten der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe erbracht werden, auch die öffentliche Förderung der Träger der freien Jugendhilfe. Ein zentraler Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe bildete in den Jahren der Großen Koalition seit 2005 der Ausbau und die Verbesserung der Qualität in der Kinderbetreuung, die nicht nur den Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen sollte, sondern auch den Kindern mehr Lebenschancen

180 181

Vgl. Datenreport 2016, S. 329. Aktuell ist die Zunahme der Kinderarmut ausschließlich durch die Zuwanderung bedingt: „Wie die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg mitteilte, stieg ihre Zahl (Kinder und Jugendliche, A.d.V.) zwischen 2013 und 2017 um 7,9 Prozent auf knapp 2,1 Millionen. Die Bundesagentur führt den Zuwachs auf die Zuwanderung zurück. Demnach stieg die Zahl der ausländischen Hartz-IV-Bezieher unter 18 Jahren um 102 Prozent (!). Bei den deutschen Kindern und Jugendlichen gab es hingegen einen Rückgang von 8,9 Prozent.“(Deutschlandfunk vom 4.4.2018); vgl. auch spiegel online vom 12.04.2018, “Hartz IV: Zahl der einheimischen Kinder in Grundsicherung sinkt“. 168

bieten sollte.182 Im Jahre 2007 hatten sich Bund, Länder und Kommunen auf das Ziel geeinigt, bis 2013 780 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige bereitzustellen. Das Gesetz zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder (TAG) stellte den Kommunen seit dem 1. Januar 2005 jährlich 1,5 Mrd. Euro für mehr Betreuungsplätze zur Verfügung, so dass bis zum Jahre 2010 rund 230 000 Plätze zusätzlich für Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten, Krippen oder bei Tagesmüttern bereitgestellt werden konnten. Die konkrete Umsetzung dieser Vorhaben oblag den Ländern und Kommunen. Der Bund, die Länder und die Kommunen hatten sich darauf geeinigt, bis zum Jahr 2013 bundesweit für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz zu schaffen. Seit dem 1. August 2013 bestand ein Rechtsanspruch für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr auf frühe Förderung in einer Kindertageseinrichtung bzw. in Kindertagespflege, in denen 30 % der neuen Plätze geschaffen werden sollte. Als rechtliche Grundlage fungierte das am 16. Dezember 2008 in Kraft getretene Kinderförderungsgesetz und der Bund beteiligte sich mit rund vier Mrd. Euro an den Ausbaukosten in Höhe von 12 Mrd. Euro sowie dauerhaft an den Betriebskosten. Im März 2016 befanden sich 32,7 % der Kinder unter drei Jahren in einer Tagesbetreuung gegenüber noch 13,6 % im Jahre 2006. Die bundesweite Betreuungsquote für drei bis fünf-Jährige lag 2016 bei 94,0 %. Laut einer Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) nutzten im März 2016 2 333 326 Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt ein Angebot in Kindertageseinrichtungen oder in einer Kindertagespflege. Dass die Erhöhung der Betreuungsplätze für unter Dreijährige von 2006 bis 2016 um mehr als 400 000 möglich wurde, sei nur auf die erhebliche finanzielle 182

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2005, S 145ff.; Sozialbericht 2009, S. 69ff.; Sozialbericht 2013, S. 52ff.; Sozialbericht 2017, S. 244f. und S. 107f. 169

Förderung durch den Bund zurückzuführen. Mit den verschiedenen Investitionsprogrammen von 2008 bis 2018 wurden insgesamt 3,28 Mrd. Euro bereitgestellt. Jedoch ist immer noch keine flächendeckende Bedarfsdeckung aufgrund der hohen Elternnachfrage erreicht, so dass eine weitere finanzielle Aufstockung bis 2020 mit zusätzlich 100 000 Plätzen anvisiert werde (4. Investitionsprogramm zum KitaAusbau) und der Bund die Länder mit 1,126 Mrd. Euro unterstützt. Hier machte sich auch die wachsende Zahl von Kindern mit Fluchterfahrung bemerkbar. Aufgrund der hohen Zuwanderung und der Geburtensteigerung 2014 und 2015 wuchs der Bedarf für Kindertageseinrichtungen. In der 18. Legislaturperiode (2013-2017) investierte der Bund 4,4 Mrd. Euro in die Kindertagesbetreuung zur Unterstützung der Länder. Des Weiteren unterstützte der Bund die Länder, die Kommunen und die Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit zwei Programmen zur frühkindlichen Förderung: Das „Forum frühkindliche Bildung“ sollte bundesweit geltende Qualitätsstandards für frühkindliche Bildung in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege entwickeln. Das „Aktionsprogramm Kindertagespflege“ sollte sowohl die gezielte Förderung der Kindertagespflege wie auch Anreize für eventuelle Tagespflegepersonen als berufliche Alternative beinhalten, da in der Tagespflege zusätzlich 30 000 Fachkräfte benötigt wurden. Der von der Bundesregierung vorgelegte Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ (NAP) war ein Leitfaden für eine nachhaltige Kinder- und Jugendpolitik, der u.a. Chancengerechtigkeit durch Bildung, gewaltfreies Aufwachsen usw. betraf. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die Integration junger Migrantinnen und Migranten mit vielfachen Hilfsangeboten sowie die Verbesserung der Chance junger Menschen in sozialen Brennpunkten, u.a. auch auf dem Gebiet der beruflichen Orientierung. Die Integration junger Menschen aus bildungsfernen Familien – auch und insbesondere junger Menschen mit Migrationshintergrund – aufgrund 170

des problematischen Befundes, demzufolge ca. 6,5 % eines Jahrgangs die Schule ohne Schulabschluss verließen und jede fünfte Berufsausbildung abgebrochen wurde, sollte durch die Jugendmigrationsdienste gefördert werden. Somit nahm in der Jugendhilfe und in der Arbeitsförderung die Bildungs- und Ausbildungspolitik einen Schwerpunkt ein, um passende Ausbildungs- und Qualifizierungsangebote für alle ausbildungswilligen Jugendlichen zu ermöglichen (u.a. durch den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftesicherung seit 2004, der vor allem mehr betriebliche Ausbildungsplätze ermöglichen sollte und 2007 verlängert wurde, Programme wie JOBSTARTER oder JOBSTARTER CONNECT oder das Ausbildungsprogramm Ost). Weitere Elemente in diesem Bereich betrafen ein Berufsorientierungsprogramm, das frühzeitig einer passenden Ausbildung den Weg bereiten sollte und Ausbildungsabbrüchen vorbeugen sollte sowie die Benachteiligtenförderung, die Einstiegsqualifizierung (EQ), der Ausbildungsbonus und die Berufseinstiegsbegleitung sowie der Rechtsanspruch auf Förderung der Vorbereitung auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses. Auch die Hochschulbildung sollte durch Verbesserungen beim BaföG gefördert werden sowie das lebenslange Lernen im Hinblick auf „Deutschlands wichtigste Ressource Bildung“ und die Verbreitung der Grundbildung – auch um den Analphabetismus zu bekämpfen. Zur Bildungsförderung zählte der Ausbau der Ganztagsschulen, wo von 2003 bis 2009 6 918 Ganztagsschulen gefördert wurden und der Bund dafür vier Mrd. Euro bereitstellte: Nahmen im Schuljahr 2002/2003 noch 9,8 % der Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb teil, waren es 2006/2007 bereits 17,6 %. Schließlich erfuhr die Chancengleichheit von Frauen in Bildung und Forschung nachhaltiger Unterstützung – etwa mehr Frauen und Mädchen in den sog. MINT-Berufen – oder Hilfen für Gründerinnen.

171

Im Jahre 2011 wurde die Leistung für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien als soziokulturelles Existenzminimum mit dem Ziel einer besseren gesellschaftlichen Integration eingeführt. Dieses Bildungs- und Teilhabepaket stieß offensichtlich auf große Resonanz, denn im Juli 2012 nutzten 79 % der Familien, die einen Kinderzuschlag bezogen, das Paket. Der 2005 eingeführte Kinderzuschlag unterstützte 2012 rund 300 000 Kinder in 120 000 Familien mit gering verdienenden Eltern und betrug zunächst pro Kind bis zu 140 Euro im Monat bzw. 170 Euro (ab 2017). Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß dem SGB VIII richten sich an junge Menschen, d.h. an Personen bis zum 27. Lebensjahr. Die erzieherischen Hilfen beinhalten familienunterstützende Hilfen und familienersetzende Hilfen. Familienunterstützende Hilfen streben einen Verbleib der jungen Menschen in der Familie an („ambulante Hilfen“), während familienersetzende Hilfen außerhalb des Elternhauses erbracht werden (v.a. „stationäre Hilfen“). Die erzieherischen Hilfen für junge Menschen und Familien verdoppelten sich vom Jahre 2000 auf annähernd 914 000 im Jahr 2014. Die folgende Übersicht informiert über den Umfang der einzelnen Leistungen von 2000 bis Jahre 2014:183 Tabelle 17: Erzieherische Hilfen nach Hilfearten 2000 bis 2014 (jeweils beendete) Insg. (= 100 %)

183

2000 Insg. In % 443 885 100

2006 Insg. In % 651 000 100

2014 Insg. In % 913 566 100

Übersicht zusammengestellt nach Datenreport 2002, S. 211f.; Datenreport 2008, S. 285f.; Datenreport 2013, S. 288f.; Datenreport 2016, S. 329f. (Tab. 5) und eigene Berechnungen. 172

Ambulante Hilfen: Erziehungsberatung Sozialpädagogische Familienhilfe184 Einzelbetreuung185: Flexible familienorientierte Hilfe Soziale Gruppenarbeit Flexible Hilfe (ambulant/teilstationär)

306 543 274 573 11 719

61,9 2,6

481 000 311 000 117 000

668 114 452 918 113 851

49,6 12,5

12 978 -

2,9 -

53 000 -

8,0

56 246 28 999

6,2 3,2

7 273 -

1,6

-

-

16 100 16 669

1,8 1,8

Stationäre Hilfen186 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform Vollzeitpflege Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung Flexible Hilfe (stationär) seit 2007 erhoben Teilstationäre Hilfe: Erziehung in einer Tagesgruppe

137 342 69 723

15,7

174 500 84 000

13,0

228 723 108 293

11,9

48 993 2 692

11,0 0,6

58 000 6 500

9,0 1,0

84 176 6 854

9,2 0,8

-

-

-

-

4 480

0,5

15 934

3,6

26 000

4,0

24 980

2,7

48,0 18,0

Diese Angaben zu den erzieherischen Hilfen gemäß dem SGB VIII machten den enorm gewachsenen Aufgabenbereich dieses Zweiges des deutschen Sozialstaates seit der Jahrhundertwende deutlich: Auch die ambulanten Hilfen verzeichneten mehr als eine Verdoppelung, wobei die darunter fallende sozialpädagogische Familienhilfe sich mehr als verzehnfachte (!) und die Beratungsleistungen erheblich zunahmen. Enorme Zuwächse verzeichneten auch die Einzelbetreuun184

185

186

Die Zahlenangaben beziehen sich auf die Familien, außer 2006, wo die Zahl der in diesen Familien lebenden minderjährigen Kinder gemeint ist. Beinhaltet auch die Erziehungsbeistandschaften und Betreuungshilfen sowie soziale Gruppenarbeit. Hier werden die teilstationären Hilfen mitgezählt. 173

gen, die sich mehr als verdoppelten. Die stationären Hilfen – einschließlich der teilstationären Hilfen – zeigten einen etwas geringeren Zuwachs. Große Schwankungen verzeichnete die Heimerziehung einschließlich sonstiger betreuter Wohnformen, deutlich gestiegen ist aber auch die Vollzeitpflege. Im Juli 2017 wurde das Unterhaltsvorschussgesetz reformiert und die aktuelle Höchstbezugsdauer des Unterhaltsvorschusses von bislang 72 Monaten aufgehoben sowie die Höchstaltersgrenze von 12 Jahren bis zum vollendeten 18. Lebensjahr heraufgesetzt. Die Höhe des Unterhaltsvorschusses richtete sich nunmehr nach dem Alter der Kinder und betrug monatlich für Kinder von 0 bis 5 Jahren 150 Euro, für Kinder von 6 bis 11 Jahren 201 Euro und für Kinder vom 12. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr 268 Euro monatlich.

3.3

Ausgaben

Zur Jugendhilfe gemäß dem Sozialbudget gehören die Unterinstitutionen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz sowie das Unterhaltsvorschussgesetz.187 Im Sozialbudget werden die Leistungen von den Einrichtungen und Diensten der öffentlichen Jugendhilfe und die Förderung der Träger der freien Jugendhilfe umfasst.

187

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 267ff.; Sozialbericht 2017, S. 244f. 174

Tabelle 18: Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe (in Mrd. Euro)188 Leistungsart Leistungen (insg.) Tageseinrichtungen für Kinder Jugendhilfeleistungen Einrichtungen der Jugendhilfe Unterhaltsvorschussgesetz Kinder- und Jugendplan des Bundes Verwaltungsausgaben

2001s 17,1 7,7 4,6 2,2 0,7 0,7

2002 18,2 9,1 5,5 1,7 0,5 0,2

2005 19,1 9,7 5,7 1,6 0,6 0,2

2009 23,6 11,7 8,7 1,7 0,7 0,2

2013 31,7 17,2 11,3 1,8 0,7 0,4

2015p 36,3 19,4 13,1 2,1 0,7 0,4

1,1

1,2

1,2

0,7

0,3

0,3

Finanziert wurden die Kinder- und Jugendhilfe zu rund 80 % von den kommunalen Gebietskörperschaften, zu 19 % von den Ländern und zu rund einem Prozent vom Bund (2000). Insgesamt haben sich die Aufwendungen in der Kinder- und Jugendhilfe seit 2001 auf mehr als 36 Mrd. Euro verdoppelt. Die Leistungen dieser Institution sind insbesondere von 2012 bis 2016 mit einer jährlich durchschnittlichen Steigerungsrate von fast acht Prozent deutlich gestiegen (2016: 38,5 Mrd. Euro geschätzt). Maßgeblich für diese Entwicklung war insbesondere der bedarfsgerechte Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder im Alter von unter drei Jahren, nachdem bereits 1996 für Kinder ab drei Jahren ein Rechtsanspruch in einer Kindertageseinrichtung festgelegt worden war.

188

Tabelle nach Sozialbericht 2001, S. 268; Sozialbericht 2009, S. 294; Sozialbericht 2013, S. 217; Sozialbericht 2017, S. 245. Die Werte von Ländern und Gemeinden zum Jahr 2001, die im Sozialbericht 2001 noch getrennt aufgeführt wurden, wurden addiert. Was 2001 noch unter dem Begriff "Kindergärten" verzeichnet war, fällt hier unter das Stichwort "Tageseinrichtungen für Kinder". Die Förderung der freien Jugendhilfe und die Bundesförderung wird in der Tabelle zum Jahr 2001 unter dem Stichwort „Kinder und Jugendplan des Bundes“ eingeordnet. S = geschätzt. 175

Die Ausgaben für Tageseinrichtungen für Kinder haben sich mehr als verdoppelt und die Jugendhilfeleistungen fast verdreifacht. Von 2008 bis 2014 stellte der Bund insgesamt 5,4 Mrd. Euro zur Erfüllung des Rechtsanspruchs für Kinderbetreuungsplätze ab dem ersten Lebensjahr zur Verfügung. Es finden sich also die mit Abstand größten Ausgaben im Bereich des von Bund, Ländern und Gemeinden politisch gewollten Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter Dreijährigen. Zusätzliche Ausgaben sind gegenwärtig für die Inobhutnahme und anschließende Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in der Heimerziehung in den Jahren 2015 und 2016 entstanden.

4. Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Ausgangspunkt für diesen Bereich des deutschen Sozialstaates ist der Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, demnach niemand „wegen seiner Behinderung benachteiligt werden [darf]“. Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben bzw. ein frei von Benachteiligungen mögliches Leben führen können. Im Mittelpunkt steht das SGB IX (2001), das den „größten gesetzgeberischen Reformprozess für behinderte Menschen seit den siebziger Jahren“189 darstellt. Das SGB IX bezog das novellierte Schwerbehindertengesetz mit ein. Weiterhin sind von Bedeutung das Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 (BGG) und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006. Das Behindertengleich-

189

Sozialbericht 2005, S. 95 und zum Folgenden gesamten Kapitel ebenda, S. 95ff.; Sozialbericht 2001, 83ff.; Sozialbericht 2009, S. 63ff.; Sozialbericht 2013, S. 92ff.; Sozialbericht 2017, S. 99ff. 176

stellungsgesetz beinhaltet die Barrierefreiheit als „Kernstück“, denn behinderte Menschen sollen möglichst ohne Einschränkungen am öffentlichen Leben teilhaben, wozu u.a. die Kommunikation mit Behörden gehört. Schließlich ist noch die seit 2009 für Deutschland rechtsverbindliche UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) zu nennen, als deren zentraler Gedanke die Inklusion fungiert. Demnach sollen Menschen mit Behinderungen in das gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben integriert werden. Ihr zentrales Ziel ist es, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (Artikel 1 Absatz 1 UN-BRK). Zur Umsetzung der UN-BRK hat die Bundesregierung unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zudem einen Nationalen Aktionsplan (NAP) „Einfach machen – Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ erarbeitet, der im Einzelnen unter Verantwortung der zuständigen Bundesministerien umgesetzt werden sollte. Das Bundesteilhabegesetz soll die Teilhabe am Erwerbsleben für Menschen mit Behinderungen stärken, u.a. durch möglichst dauerhafte Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber.

4.1

Adressaten

Bevor wir über den Personenkreis bzw. die Leistungsempfänger der Teilhabe entsprechende Zahlen vorlegen, erfolgt zunächst eine Begriffsklärung: Im deutschen Sozialrecht hat sich der Begriff „Behinderung“ etabliert, d.h. Menschen mit Behinderungen sind nach § 3 Behindertengleichstellungsgesetz „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barri177

eren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Als langfristig gilt ein Zeitraum, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert“. In den Teilhabeberichten190 der Bundesregierung, auf die punktuell neben der Hauptquelle der Sozialberichte Bezug genommen wird, spricht man in der Regel von „Menschen mit Beeinträchtigungen“. Dabei wird der Schwerpunkt auf die konkreten Einschränkungen gelegt, die sich in der Wechselwirkung mit den Umweltbedingungen ergeben und damit die gesellschaftlichen Teilhabechancen beeinflussen. Als Menschen mit Beeinträchtigungen gelten im Folgenden Menschen mit anerkannter Behinderung sowie mit chronischer Erkrankung oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen. Davon abweichend wird in den Teilhabeberichten von „Menschen mit Behinderungen“ gesprochen, wenn dies aus sozialrechtlichen oder statistischen Zusammenhängen vorgegeben ist oder wenn es sich um Eigennamen von Organisationen und Einrichtungen handelt. Auch alle Bezugnahmen auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK), die die (Menschen-) Rechte dieser Personengruppe beschreibt, verwenden den Begriff „Menschen mit Behinderungen“. Blicken wir zunächst auf die zahlenmäßige Gesamtentwicklung des im Mittelpunkt stehenden Personenkreises:191

190

191

Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung, 2013 (= erster Teilhabebericht) und Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, 2016 (= Zweiter Teilhabebericht). Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 35. GdB = Grad der Behinderung. 178

Tabelle 19: Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland nach Geschlecht und Alter 2005-2013 (in 1000) 2005

2009

2013

Insgesamt Geschlecht: Männer Frauen

10 994

12 039

12 772

5 583 5 411

6 050 5 988

6 345 6 426

+14 +19

Darunter: Anerkannte Schwerbehinderung (insgesamt) Männer Frauen

6 728

7 102

7 549

+12

3 514 3 214

3 658 3 444

3 851 3 697

+10 +15

1 912

2 458

2 684

+40

1 113 799

1 362 1 095

1 433 1 251

+29 +57

2 354

2 479

2 539

+8

956 1 398

1 030 1 449

1 061 1 478

11 6

Anerkannte Behinderung GdB < 50 Männer Frauen Chronische Krankheit (o. anerkannte Behinderung) Männer Frauen

Veränderungen 2005-2013 in % +16

Von 2005 bis Ende 2013 war die Zahl amtlich anerkannter schwerbehinderter Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 und mehr auf 7,549 Mio. angewachsen, zum Jahresende 2015 waren es rund 7,6 Mio., was 9,3 % der gesamten Bevölkerung Deutschlands entsprach. Der Männeranteil lag knapp über demjenigen der Frauen. Schwerbehindert sind Personen, denen von den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wurde. Nur ein geringer Prozentsatz der Schwerbehinderten war von Geburt an behindert bzw. die Behinderung trat im ersten Lebensjahr auf, denn die meisten Behinderungen waren Folgen von Unfällen, Krank179

heit oder altersbedingten Leiden (2015: 88 %). Fast zwei Drittel der schwerbehinderten Menschen hatten körperliche Behinderungen. Vor allem bei älteren Menschen finden sich Behinderungen, so war 2015 annähernd ein Drittel der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und älter, rund 44 % gehörten der Altersgruppe zwischen 55 und 74 Jahren an und zwei Prozent waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Anzahl der Menschen mit Behinderungen wird aufgrund der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts wachsen. Weiter gefasst ist der Begriff der Menschen mit Beeinträchtigungen, denn im Jahre 2013 fielen 16,0 % der männlichen Bevölkerung und 15,6 % der weiblichen Bevölkerung darunter. Als Grund für den Anstieg bis zum Jahr 2013 wurde der demographische Wandel angeführt, d.h. immer mehr ältere Menschen wiesen mehr Beeinträchtigungen auf. Bei den anerkannten Behinderungen konnte ein erhebliches Plus im Zeitraum bis 2013 registriert werden, wobei die Zahl bei den Frauen sogar um 57 % (!) zugenommen hatte. Generell stieg der Bevölkerungsanteil der Menschen mit Beeinträchtigungen mit zunehmendem Alter an.192 Der Anteil der beeinträchtigten Menschen an der Gesamtbevölkerung betrug im Jahre 2013 bei den unter 15-Jährigen 2,0 % (2005: 1,7 %), bei den 15 bis 44-Jährigen 5,0 % (2005: 4,6 %), bei den 45 bis 64-Jährigen 19,3 % (2005: 18,0 %), bei den 65 bis 79-Jährigen 34,8 % (2005: 31,3 %) und bei den über 80-Jährigen 47,4 % (2005: 43,0 %). Betrachtet man die absoluten Zahlen, so ist zum einen die Zahl der Beeinträchtigten unter 45 Jahren weitgehend konstant geblieben, hingegen nahmen die Werte bei den über 45-Jährigen von 2005 bis 2013 deutlich zu: Die Altersgruppe der Beeinträchtigten von 45 bis 64 Jahren wuchs um 22 % auf 4,7 Mio. Personen, was u.a. mit einem starken Anwachsen psychischer Beeinträchtigungen erklärt wurde. 192

Vgl. dazu Zweiter Teilhabebericht, S. 37. 180

Die 65 bis 79jährigen Beeinträchtigten nahmen um 14 % auf 4,3 Mio. zu und die ab 80-Jährigen sogar um 31 % auf 2,1 Mio.! Auch hier machten sich die längere Lebenserwartung und damit der demographische Wandel bemerkbar. Im Jahr 2013 waren im erwerbsfähigen Alter von 18 bis 64 Jahren vier Fünftel der Menschen ohne Beeinträchtigungen erwerbstätig, aber nur knapp die Hälfte der Menschen mit Beeinträchtigungen (49 %). In der Gruppe der schwerbehinderten Menschen nahmen im Zeitraum von 2005 bis 2013 die Körperbehinderungen um sechs Prozent zu (Gesamtzahl 2013: 4,699 Mio.), Blindheit und Sehbehinderung wuchsen um drei Prozent (Gesamtzahl 2013: 357 000), Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit und Gleichgewichtsstörung um 14 % (Gesamtzahl 2013: 316 000)193, psychische Behinderungen sogar um 57 % (Gesamtzahl 2013: 546 000), geistige Behinderung und Lernbehinderung um 13 % (Gesamtzahl 2013: 299 000) sowie sonstige Behinderungen um 23 % (Gesamtzahl 2013: 1,332 Mio.).

4.2

Leistungen und Ausgaben

Die folgenden Ausführungen stellen nur einen Ausschnitt des gesamten Leistungsspektrums der Rehabilitation und Teilhabe dar und orientieren sich an den Vorgaben der Sozialberichte und der beiden Teilhabeberichte. Schwerpunktmäßig interessiert die Teilhabe am Arbeitsleben.

4.2.1 Medizinische Rehabilitation Die medizinische Rehabilitation behinderter Menschen soll Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abwenden oder besei193

Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 40. 181

tigen sowie Verschlimmerungen verhüten. Dazu wurden im neuen SGB IX folgende Punkte eingeführt: Psychotherapie und Leistungen zur Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder mit der Maßgabe einer möglichst frühzeitigen Intervention. Die Frühförderung, Früherkennung und Frühbehandlung müssten rechtzeitig einsetzen, wofür im SGB IX erstmals eine interdisziplinäre Basis geschaffen wurde und zum 1. Juli 2003 durch eine Frühförderungsverordnung ergänzt wurde.

4.2.2 Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben Die Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben soll den Zugang zum Berufsleben ebnen, möglichst mit einem Abschluss in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf als Grundlage einer dauerhaften beruflichen Integration. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beinhalten alle Hilfen, die für die Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit vonnöten sind. Als Träger der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben fungieren die Renten- und Unfallversicherung, die Kriegsopferfürsorge, die Bundesanstalt für Arbeit (nachmalig: Bundesagentur für Arbeit) und die Sozialhilfe. Gemäß dem SGB III haben Behinderte einen Rechtsanspruch auf Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit, wenn wegen der Behinderung eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich ist (z.B. eine notwendige Ausbildung in Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken). Für die berufliche Förderung behinderter Menschen bestehen Berufsförderungs- und Berufsbildungswerke. Zwar sollten behinderte Menschen möglichst in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes integriert werden, falls dies nicht möglich war, standen Werkstätten für behinderte Menschen zur Verfügung, um die Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten. 2001 wurde mittels einer Werkstätten182

Mitwirkungsverordnung die Rechtsstellung der in den Werkstätten beschäftigten Behinderten verbessert. Die Bundesregierung legte in den Sozialberichten generell den Schwerpunkt auf den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen, wozu u.a. die von den Unternehmen zu leistende Ausgleichsabgabe reformiert werden sollte. So sollten Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen bemühten, nicht stärker belastet werden, während umgekehrt diejenigen, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllten, mehr belastet werden sollten. Weitere Maßnahmen waren der Anspruch auf Teilzeitarbeit oder die Finanzierung einer Arbeitsassistenz durch die Integrationsämter194 sowie die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Integrationsfachdiensten zur Unterstützung der Arbeitsämter und der Integrationsämter bei der Arbeitsmarktintegration. Schließlich wurden als neues Instrument für besonders beeinträchtigte schwerbehinderte Menschen Integrationsprojekte konstruiert, z.B. Abteilungen in Betrieben, die für spezifische schwere Behinderungen geschaffen wurden, falls eine Werkstätte für behinderte Menschen nicht passend war. Wenden wir uns zunächst der Beschäftigungssituation Behinderter und damit der Frage nach der Arbeitslosigkeit anerkannter schwerbehinderter Menschen zu.195 Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen war von 2005 bis 2008 um gut 14 % gesunken, d.h. im Jah194

195

Die Aufgaben der Integrationsämter (47 816 im Jahre 2011) umfassen nach § 102 Absatz 1 SGB IX neben der Erhebung und Verwendung der Ausgleichsabgabe den Kündigungsschutz sowie begleitende Hilfen im Arbeitsleben, die sie in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und den übrigen Rehabilitationsträgern erbringen (§ 102 Absatz 2 Satz 1). Sie können im Rahmen ihrer Zuständigkeit für begleitende Hilfen am Arbeitsleben auch Geldleistungen an Schwerbehinderte, an Arbeitgeber, an die Träger von Integrationsfachdiensten sowie an Integrationsprojekte erbringen (§ 102 Absatz 3 SGB IX). Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 183ff. 183

re 2008 waren im Jahresdurchschnitt 154 486 Personen arbeitslos gemeldet und damit über 25 000 weniger als noch im Jahr 2005. Von 2008 bis 2015 sank die Arbeitslosenquote der anerkannten Schwerbehinderten von 14,7 % auf 13,4 %, was aber einen geringeren Rückgang im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosenquote bedeutete. Dies zeigte, dass die Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderten weiterhin deutlich über der allgemeinen Arbeitslosigkeit lag. Von 2008 bis 2015 war die Anzahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen von 166 000 (2008) auf 179 000 (2015) gestiegen, der Gipfelpunkt wurde 2014 (181 000) erreicht. Eine weitere Differenzierung der Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen ergab, dass die Arbeitslosenquote der Menschen mit Schwerbehinderung nach dem SGB III (= Arbeitslosengeld) lediglich um einen halben Prozentpunkt von 2008 auf 5,0 % im Jahr 2015 zurückgegangen ist. Sie lag aber nach wie vor über der vergleichbaren allgemeinen Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosenquote der Menschen mit Schwerbehinderung nach dem SGB II, also die Bezieher von Arbeitslosengeld II (Grundsicherung), sank von 9,2 % (2008) leicht auf 8,4 % (2015). Da die vergleichbare allgemeine Arbeitslosenquote im Rechtskreis des SGB II in diesem Zeitraum stärker gesunken ist (-17 %), hat sich der Abstand der Quote der schwerbehinderten Arbeitslosen zur allgemeinen Quote im Bereich des SGB II von 2,3 Prozentpunkten im Jahr 2008 auf 2,7 Prozentpunkte im Jahr 2015 sogar vergrößert. Somit ist insbesondere im Rechtskreis des SGB II die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinderung weniger gesunken als die Arbeitslosigkeit in diesem Bereich insgesamt. Mit der Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ war es nach Meinung der Bundesregierung gelungen, die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen in den Jahren von 1998 bis 2004 um 10,3 % zu senken. Anknüpfend an diesen Erfolg folgte das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen von 2004. Vorrangig waren hierbei die verstärkte Beschäftigung schwer184

behinderter Menschen in kleinen und mittleren Betrieben und die Stärkung der Ausbildungsbereitschaft der Arbeitgeber für insbesondere schwerbehinderte Jugendliche. Im September 2004 begann die Initiative „job – Jobs ohne Barrieren“ unter Einbeziehung aller relevanten Beteiligten. Ursprünglich nur bis Ende 2006 gedacht, wurde diese Initiative bis 2010 verlängert. In den Sozialberichten 2009 und 2017 betonte die Bundesregierung die kontinuierliche Verbesserung der Beschäftigungssituation schwerbehinderter bzw. ihnen gleichgestellter Menschen auf Pflichtarbeitsplätzen bei Arbeitgebern mit mehr als 20 Arbeitsplätzen. Ihre Zahl sei von 884 882 (2003) auf rund eine Mio. im Jahre 2015 gestiegen, überproportional wuchs dabei die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Frauen. Die vorgeschriebene Besetzungsquote ist von 4,2 % (2007) leicht auf 4,7 % (2014) angestiegen, bewegte sich aber noch immer unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen 5 %-Quote. Resümierend räumte die Bundesregierung in ihrem Sozialbericht 2017 berechtigt ein, dass die Beschäftigungssituation der beeinträchtigten Menschen zu verbessern sei. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsmarkt waren die Eingliederung behinderter Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf in den ersten Arbeitsmarkt jenseits der Werkstätten für Behinderte. Wer wegen Art und Schwere einer Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert werden konnte, hatte einen Anspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), also teilstationären Einrichtungen. In Deutschland gab es rund 700 Hauptwerkstätten mit über 2 700 Betriebsstätten. In diesen Werkstätten für behinderte Menschen waren zum Jahresende 2014 insgesamt 264 842 Menschen mit Beeinträchtigungen im Arbeitsbereich tätig. Da infolge des demographischen Wandels zunehmend auf ältere Arbeitnehmer zurückgegriffen werden musste, nahm die Sicherung der 185

Beschäftigungsfähigkeit durch betriebliche Gesundheitspolitik einen immer größeren Raum ein. Deshalb wurde im Jahr 2004 das Betriebliche Eingliederungsmanagement eingeführt, das zum Einsatz kommen sollte, wenn der Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder auch wiederholt arbeitsunfähig geworden ist. Dabei sollte gemeinsam mit dem Arbeitgeber und weiteren Beteiligten geklärt werden, wie die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Das Bundesarbeitsprogramm Job4000 von Anfang 2007 sollte die berufliche Integration schwerbehinderter Menschen mit besonderen Schwierigkeiten bei der Teilhabe am Arbeitsleben außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen gezielt verbessern. Einzelne Maßnahmen waren hierbei u.a.: –







Das Integrationsamt zahlte an Arbeitgeber, die einen Schwerbehinderten einstellen, eine individuell variierende finanzielle Unterstützung im Durchschnitt von 600 Euro monatlich bis zu fünf Jahre. Als Zielgruppe galten z.B. schwerbehinderte Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder mit einer geistigen oder seelischen Behinderung. Schufen Arbeitgeber einen zusätzlichen Ausbildungsplatz für schwerbehinderte Jugendliche, erhielten sie eine Prämie von bis zu 3 000 Euro und nach Abschluss der Ausbildung und der Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis hatten sie Anspruch auf eine weitere Prämie in der Höhe bis zu 5 000 Euro (bei einem befristeten Arbeitsverhältnis bis zu 2 500 Euro). Die Integrationsfachdienste erhielten finanzielle Mittel, wenn sie Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen, insbesondere schwerbehinderte Schulabgänger, unterstützten. Der finanzielle Umfang betrug dabei 250 Euro monatlich bis zu einer Laufdauer von 18 Monaten. Insgesamt wurden für das Programm „Job4000“ rund 30 Mio. 186

Euro vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Verfügung gestellt, wobei sich die Länder mit 20 Mio. Euro beteiligen. Seit Inkrafttreten des SGB IX konnten Rehabilitationsträger Leistungen zur Teilhabe in Form von Persönlichen Budgets ausführen. Dabei können die Behinderten im Rahmen eines Persönlichen Budgets an Stelle der herkömmlichen Sachleistung Geldbeträge oder Gutscheine erhalten und damit ihre Leistungen – trägerübergreifend und „aus einer Hand“ – selbst organisieren. Ab dem 1. Januar 2008 bestand ein entsprechender Rechtsanspruch auf dieses Persönliche Budget. Ende des Jahres 2011 startete als Teil des Nationalen Aktionsplanes das Bundesarbeitsmarktprogramm „Initiative Inklusion“ zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention mit einer Laufzeit bis 2018. Das maximale Volumen für das Programm zur Förderung der Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf Bundesebene betrug 100 Mio. Euro. Die Initiative umfasste die Handlungsfelder Berufsorientierung für schwerbehinderte Schüler in den Vorabgangsklassen, Förderung von Unternehmen zur Schaffung neuer betrieblicher Ausbildungsplätze für schwerbehinderte junge Menschen (bis zu 10 000 Euro) und von Unternehmen, die über 50-jährige, schwerbehinderte und arbeitslose Personen einstellen, sowie Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern und Landwirtschaftskammern zur Verbesserung der Inklusionskompetenz. Für Menschen mit Beeinträchtigungen stehen insgesamt 171 Ausbildungsberufe zur Verfügung. Dabei sank von 2007 bis 2014 die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge für diese Personen um 38 % auf 9 588 stärker als die Gesamtzahl der Ausbildungsverträge, die um 17 % fiel.196 Dementsprechend nahm der Anteil der Ausbildungsverträge für Menschen mit Beeinträchtigungen an der Gesamtzahl der Ausbildungsverträge von 2,5 % auf 1,8 % ab. 196

Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 116. 187

Neben den Leistungen der aktiven Arbeitsförderung entsprechend dem SGB III erhielten erwerbsfähige Leistungsberechtigte in der Grundsicherung für Arbeitsuchende weitere, im SGB II geregelte Eingliederungsleistungen wie das Einstiegsgeld, Leistungen zur Eingliederung Selbstständiger, Arbeitsgelegenheiten, Förderung von Arbeitsverhältnissen, Freie Förderung sowie kommunale Eingliederungsleistungen. Falls nun diese allgemeinen Leistungen zur Überwindung behindertenspezifischer Nachteile nicht ausreichten, standen besondere Leistungen zur Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Als Träger dieser Leistungen fungierten die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Unfallversicherung, die Träger der Sozialhilfe, die Kriegsopferfürsorge, die örtlichen Jugendhilfe sowie die Integrationsämter. Weiterhin förderten Bundes- und Landesministerien im Rahmen von arbeitsmarktpolitischen Programmen oder durch Änderungen von Rahmenbedingungen eine Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am Arbeitsleben. Im Folgenden blicken wir knapp auf die erbrachten Leistungen dieser Träger zu Teilhabe am Arbeitsleben:197 a. Bundesagentur für Arbeit: Zunächst ist die Bundesagentur für Arbeit zuständiger Rehabilitationsträger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB III, sofern kein anderer Träger zuständig ist. Hierzu gehören die Betreuung und Vermittlung arbeitsloser Menschen mit Behinderungen, die Berufsorientierung für junge Menschen nach Beendigung der Schulzeit oder für Berufstätige im Rahmen einer beruflichen Veränderung aufgrund einer drohenden Beeinträchtigung, die Unterstützte Beschäftigung für Menschen mit schwerwiegen197

Vgl. zum Folgenden Zweiter Teilhabebericht, S. 218ff. 188

den Beeinträchtigungen, für die eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen nicht erforderlich ist, die betriebliche oder zumindest betriebsnahe Gestaltung der Ausbildung und die betriebsnahe Gestaltung der beruflichen Rehabilitation Erwachsener. Außerdem ist die Bundesagentur zuständig für die berufliche Rehabilitation von behinderten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) durch ein Jobcenter erhalten. Im Jahre 2011 bekamen im Jahresdurchschnitt 101 841 Personen Leistungen zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben von der Bundesagentur für Arbeit als den zuständigen Rehabilitationsträger. b. Gesetzliche Rentenversicherung: Auch die gesetzliche Rentenversicherung erbrachte Leistungen der medizinischen Rehabilitation, der Teilhabe am Arbeitsleben und ergänzende Leistungen, um die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern oder wiederherzustellen und damit ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern. Darunter fielen u.a. Leistungen zur Erhaltung und/ oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, Eignungsabklärung und Arbeitserprobung, Berufsvorbereitung, berufliche Bildung, Leistungen an Arbeitgeber sowie sonstige Leistungen (z.B. in Werkstätten für behinderte Menschen oder zur Rehabilitation für psychisch kranke Menschen). Die Zahl der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zur Teilhabe am Arbeitsleben stieg von 135 211 (2010) bis auf 152 938 (2015). c. Gesetzliche Unfallversicherung: Die Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung erbrachten alle Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation im Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit. Die Reha-Maßnahmen zur Förderung der hier interessierenden Teilhabe am Arbeitsleben nahmen dabei von 2010 bis 2013 um 32 % auf 14 230 ab. 189

d. Eingliederungshilfe: Die Träger der Sozialhilfe, also die Kommunen oder ihre überörtlichen Verbände, sind zuständig für Leistungen der Eingliederungshilfe. Leistungsberechtigt sind Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, an der Gesellschaft teilzuhaben, hier zur Teilhabe am Arbeitsleben. Die Zahl der Leistungsbeziehenden sank dabei um 71 % von 2007 auf 1 843 im Jahre 2014. Die Ausgaben gingen demzufolge um 83 % auf 32,49 Mio. Euro zurück. e. Kriegsopferfürsorge: Die Träger der Kriegsopferfürsorge bringen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), d.h. für Kriegsopfer, Wehr- und Zivildienstgeschädigte, Impfgeschädigte, Opfer von Gewalttaten und staatlichen Unrechts in der DDR. Zum Jahresende 2014 erhielten insgesamt rd. 29 331 Personen laufende Leistungen der Kriegsopferfürsorge, davon bezogen nur ein kleiner Anteil Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. ergänzende Leistungen. Die Bundesregierung hob in ihrem Sozialbericht 2017 das umfangreiche Leistungsspektrum für Menschen mit Behinderung hervor und wies auf die vielfältigen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben hin. So haben die Bundesagentur für Arbeit und die Rentenversicherungsund Unfallversicherungsträger allein im Jahre 2014 rund 3,7 Mrd. Euro in die berufliche Rehabilitation zur Teilhabe am Arbeitsleben investiert. Betrachten wir nun zusammenfassend die Ausgaben zur Teilhabe am Arbeitsleben für den Abschnitt von 2008 bis 2014:198

198

Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 226. 190

Tabelle 20: Ausgaben für Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben in Mio. Euro Träger

2008

2010

2012

2014

Bundesagentur für Arbeit (ohne zugelassene Träger) Gesetzliche Rentenversicherung Gesetzliche Unfallversicherung Integrationsämter Sozialhilfeträger Darunter in WfbM Darunter Kriegsopferfürsorge

2 419

2 420

2 269

2 266

Veränderung 2008-2014 in % -12

1 107 161 334 3 563 3 380 6,0

1 262 180 370 3 896 3 691 6,9

1 172 185 429 3 894 3 855 7,2

1 246 186 507 4 274 4 241 6,4

+13 +16 +52 +20 +25 +7

Abgesehen von den Aufwendungen der Bundesagentur für Arbeit verzeichneten von 2008 bis 2014 alle übrigen Träger, insbesondere die Integrationsämter, zum Teil deutliche Zuwächse bei ihren Ausgaben zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben.

4.2.3 Einkommensersatzleistungen Die wichtigste Einkommensersatzleistung für Menschen mit Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter stellten die Erwerbsminderungsrenten dar. Des Weiteren sind Altersrenten für schwerbehinderte Menschen, die Verletztenrenten im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung für Versicherte, die einen Arbeits- oder Wegeunfall oder eine Berufskrankheit aufweisen und deren Erwerbsfähigkeit mindestens um 20 Prozent und mehr als 26 Wochen vermindert ist, sowie die Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung zu erwähnen. Die Zahl der Rentner mit Schwerbehinderung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nahm von 1,65 Millionen (2005) auf 1,788 Millionen (2015) um acht Prozent zu, wobei insbesondere der Frauenanteil er-

191

hebliche Zuwächse verzeichnete.199 Die Zahl der Empfänger von Altersrente für Menschen mit Schwerbehinderung wuchs ebenfalls in diesem Zeitraum und zwar erheblich um 49 % auf 1,831 Mio., wobei wiederum bei den Frauen wesentlich größere Zuwächse festzustellen sind. Hingegen sank von 2007 bis 2014 die Zahl der Leistungsbeziehenden von Renten für Verletzte und Erkrankte der gesetzlichen Unfallversicherung um insgesamt sieben Prozent auf 716 000. Erhebliche Zuwächse von 43 % verzeichnete demgegenüber die Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung auf 487 258 im Jahre 2014. Blicken wir nun auf den finanziellen Aspekt der verschiedenen Rentenleistungen der Träger, so blieben von 2007 bis 2011 die Ausgaben für Erwerbsminderungsrenten mit 14,738 Mrd. Euro (2011) wie auch die Renten für Verletzte und Erkrankte der gesetzlichen Unfallversicherung mit 3,993 Mrd. Euro (2011) weitgehend unverändert, die Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung der Sozialhilfe nahm auf 246 Mio. Euro leicht zu.200 Den stärksten Anstieg der Ausgaben für die verschiedenen Rentenleistungen von 2007 bis 2011 wiesen die Altersrenten für schwerbehinderte Menschen der gesetzlichen Rentenversicherung auf.

Exkurs: Armutsrisiko201 Armut als Lebenszustand findet sich auch bei beeinträchtigten bzw. schwerbehinderten Menschen. Von einem relativen Armutsrisiko ist definitorisch der Bevölkerungsteil betroffen, dessen Einkommen unter der Armutsrisikogrenze von 60 % des Medianeinkommens liegt. Im Jahr 2013 betrug die Armutsrisikoquote bei Menschen mit Beeinträchtigungen etwa 20 % im Vergleich zu 13 % (2005). Dieser Anstieg lässt sich für Männer ebenso wie für Frauen und auch für unterschiedliche 199 200 201

Die folgenden Zahlen verkürzt nach Zweiter Teilhabebericht, S. 200, 228f. Vgl. Erster Teilhabebericht, S. 307. Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 202f. 192

Altersgruppen beobachten. Die Quote lag damit deutlich über der Armutsrisikoquote von Menschen ohne Beeinträchtigungen (13 %). Während die Armutsrisikoquoten von Männern und Frauen ohne Beeinträchtigungen in den Jahren von 2005 bis 2013 annähernd gleich geblieben sind, zeigten sich jedoch bei den Menschen mit Beeinträchtigungen geschlechterbezogene Unterschiede. Die Armutsrisikoquote der Männer mit Beeinträchtigungen betrug 22 %, diejenige der Frauen war mit 19 % etwas niedriger. Eine differenziertere Betrachtung der verschiedenen Teilgruppen der Menschen mit Beeinträchtigungen zeigte darüber hinaus, dass vor allem chronisch kranke Menschen (ohne anerkannte Behinderung) ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko aufwiesen (26 %). Erheblich niedriger lagen die Quoten bei Menschen mit einem GdB unter 50 (17 %) und von Menschen mit einer Schwerbehinderung (19 % gegenüber 12 % im Jahre 2005). Mögliche Gründe für diese gewachsene Armutsrisikoquote können laut Teilhabebericht der Bundesregierung u.a. darin liegen, dass die Zahl der Menschen mit Beeinträchtigungen im jüngeren und mittleren Lebensalter in den Jahren von 2005 bis 2013 stark wuchs, was unter anderem auf eine Zunahme psychischer Beeinträchtigungen zurückzuführen ist. Auch die Armutsrisikoquote der älteren Menschen mit Beeinträchtigungen nahm zu und zwar im gleichen Maße wie die Armutsrisikoquote der älteren Gesamtbevölkerung. Letzterer Befund kann u.U. auf den wachsenden Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den höheren Altersgruppen zurückgeführt werden, weil deren Einkommensposition im Durchschnitt relativ niedrig ist.

4.2.4 Leistungen der sozialen Entschädigung Die Leistungen der sozialen Entschädigung richten sich – wie auch die Leistungen der Kriegsopferfürsorge, die einen Teilbereich der Sozialen Entschädigung darstellen – nach dem Bundesversorgungs193

gesetz (BVG). Die Leistungen der sozialen Entschädigung lassen sich in Versorgungsleistungen und fürsorgerische Leistungen unterteilen. Dieses umfasst Heilbehandlung, Versehrtenleibesübungen und Krankenbehandlung, Leistungen der Kriegsopferfürsorge, Beschädigtenrente und Pflegezulage, Bestattungs- und Sterbegeld, Hinterbliebenenrente und Bestattungsgeld beim Tod von Hinterbliebenen. Im April 2016 erhielten nur noch 69 251 Beschädigte (August 2012: 123 555) sowie 69 745 Hinterbliebene (August 2012: 122 421) Versorgungsleistungen der Sozialen Entschädigung.

4.2.5 Aufwendungen zur Gesundheitsfürsorge Die gesetzliche Unfallversicherung ist grundsätzlich dafür zuständig, nach Arbeitsunfällen oder bei Berufskrankheiten die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen zu entschädigen. Die Unfallversicherung übernimmt bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit alle Rehabilitationsleistungen und Leistungen zur Teilhabe einschließlich Rentenleistungen bei dauerhafter Minderung der Erwerbsfähigkeit oder im Todesfall an die Hinterbliebenen. Entsprechend dieser Zuständigkeitsreglung umfassen die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Bereich der Gesundheit sämtliche gesundheitlichen Leistungen mit Ausnahme der Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zur medizinischen Rehabilitation werden gewährt, wenn kein anderer Rehabilitationsträger wie etwa die gesetzliche Rentenversicherung oder die gesetzliche Unfallversicherung zuständig ist. Im Jahr 2014 verzeichnete die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt rund 976 800 Leistungsfälle für Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen was einem Minus von 11 % zu 2009 entsprach. 194

Blickt man auf die Ausgaben zur gesundheitlichen Vorsorge und medizinischen Rehabilitation der wichtigsten Träger, d.h. der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe, so ergibt sich folgendes Bild:202 Von 2008 bis 2015 sind die Ausgaben der Rentenversicherung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation um 21 % auf 4,54 Mrd. Euro und die Leistungen der Unfallversicherung sogar um 27 % auf 3,96 Mrd. (2014) sichtbar angestiegen, geringfügiger war die Zunahme bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für medizinische Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen um zehn Prozent (2014: 3,05 Mrd.) – bei Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2014 von insgesamt 193,63 Mrd. Euro – und schließlich sanken die Aufwendungen der Sozialhilfeträger deutlich um 41 % auf rund 35,7 Mio. Euro (2014). Insgesamt aber wandten die Leistungsträger der Leistungen für medizinische Rehabilitation seit 2008 ein Fünftel mehr auf, d.h. nunmehr im Jahre 2015 11,59 Mrd. Euro. Blickt man auf die Leistungen der medizinischen Rehabilitation der verschiedenen Träger, so nahmen die Leistungen der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung von 2008 bis 2015 um neun Prozent auf 1 027 833 Leistungen zu, deutlich stärkere Zuwächse verzeichneten die Leistungen der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Unfallversicherung von 2009 bis 2013 mit einem Plus von 49 Prozent auf 231 505, hingegen nahmen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für medizinische Rehabilitation um elf Prozent von 2009 bis 2014 ab und schließlich erlebten die Leistungen der medizinischen Rehabilitation beinahe eine Halbierung auf nur noch 7 971 (2014).203 202

203

Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 332, S. 334, S. 336, S. 338 (Ergebnisse gerundet). Vgl. Zweiter Teilhabebericht, S. 331, S. 333, S. 335, S. 337. 195

Auch die Sozialhilfeträger erbringen im Rahmen der Eingliederungshilfe Leistungen zur medizinischen Rehabilitation entsprechend denen der gesetzlichen Krankenversicherung und werden gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nachrangig zu diesen erbracht. Der Rückgang auf nur noch geringe Werte seit 2012 ist wohl eine Folge der Reformen im Gesundheitswesen, denn seit dem 1. Januar 2009 bestand für alle Einwohner die Pflicht, eine Krankenversicherung abzuschließen, wenn kein ausreichender anderer Schutz vorlag. Auf weitere Bereiche der Teilhabe und Rehabilitation gehen wir im Rahmen dieses Überblicks nicht ein, ausführliche Erläuterungen finden sich im Übrigen in den bisher zwei veröffentlichten Teilhabeberichten der Bundesregierung. Eine Aussage zu den gesamten finanziellen Ausgaben dieses Teilbereichs des deutschen Sozialstaates ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, da die verschiedenen Leistungen bei unterschiedlichen Leistungsträgern anfielen und dort in deren Budget auftauchten. Im Sozialbericht 2017204 werden die Ausgaben für Rehabilitation und Teilhabe aller Träger für das Jahr 2014 auf knapp 32,6 Mrd. Euro beziffert, wobei die Träger der Eingliederungshilfe ca. 16,3 Mrd. Euro beisteuerten.

5. Das Asylbewerberleistungsgesetz Das bundesdeutsche Asylrecht ist aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus umfassend ausgestaltet und gewährt Ausländern durch das Grundgesetz einen Rechtsanspruch auf Asyl.205 Aber erst 1980 rückte das Asylrecht stärker in den Focus der öffentlichen Diskussion, als erstmals mehr als 100 000 Anträge auf Asyl gestellt wor204 205

Vgl. Sozialbericht 2017, S. 99. Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2013, S. 33f.; Sozialbericht 2017, S. 35ff. und Datenreport 2016, S 245f. 196

den waren. Einen starken Anstieg verzeichneten die Asylanträge Anfang der 1990er Jahre im Gefolge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. 1993 trat eine von der Bundesregierung eingeleitete Änderung im Asylrecht in Kraft, die Asyl nur noch denjenigen gewähren wollte, die nicht aus sog. sicheren Drittstaaten nach Deutschland einreisten. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Asylanträge wieder kontinuierlich ab und erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts nach 2000 stiegen die Zahlen wieder an, insbesondere nach 2010 und aktuell im Jahre 2015. Die 2015 außerordentlich gestiegenen Asylanträge wurden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft – die das Ziel dieser vor allem durch die kriegerischen Vorgänge im Nahen und Mittleren Osten hervorgerufenen Flüchtlingsbewegung war und ist – jedoch nur in neun Staaten gestellt, wobei neben Deutschland Österreich und Schweden besonders betroffen sind. Ost- und südeuropäische EUStaaten wie auch Frankreich oder Großbritannien waren wenig von dieser Fluchtbewegung tangiert.

5.1

Personenkreis und Leistungen

Über die genauen Zahlen zu den Asylsuchenden, Asylberechtigten, die Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die entsprechenden finanziellen Aufwendungen vor dem großen Zustrom 2015 informiert die folgende Übersicht.206

206

Vgl. Datenreport 2016, S. 223 (Tab. 2). In Klammern bei der Spalte der Anerkennungsquote die Gesamtschutzquote, welche die Anerkennung als Asylbewerber, die Gewährung von Flüchtlingsschutz und die Feststellung eines Abschiebeverbots umfasst; die Regelleistungen und Ausgaben nach Sozialbericht 2001, S. 267; Sozialbericht 2009, S. 292f.; Sozialbericht 2013, S. 215; Datenreport 2016, S. 324f. 197

Tabelle 21: Asylsuchende, Asylberechtigte und Regelleistungen sowie Ausgaben nach dem Asylbewerbergesetz Jahr

1991 1992 1995 2000 2002 2005 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Asylanträ- Asylbege rechtigte

Anerkennungsquote in %

256 112 438 191 127 937 78 564

11 597 9 189 18 100 3 128

3,9 (-) 4,2 (-) 9,0 (-) 3,0 (-)

28 914

411

0,9 (6,5)

41 332 45 741 64 539 109 580 173 072

643 652 740 919 2 285

1,3 (21,6) 1,5 (22,3) 1,2 (27,7) 1,1 (24,9) 1,8 (31,5)

Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (in 1000) 279 211 128 121 130 144 363

Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (in Mrd. Euro) 3,8 Mrd. DM 1,5 1,2 0,8 0,8 0,8 0,9 1,1 s 1,8

Wie bereits erwähnt, war 1992 ein erster Gipfel bei den Asylbewerberzahlen im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen im sich auflösenden ehemaligen Jugoslawien erreicht. Nach dem Höchststand von 490 000 Personen im Jahre 1996 war die Zahl der Asylbewerber kontinuierlich wieder auf 121 000 Personen im Jahre 2009 zurückgegangen. Im Jahr 2015 kamen rund 890 000 schutzsuchende Menschen nach Deutschland, 2016 waren es noch 280 000 Menschen. Ende des Jahres 2011 erhielten 144 000 Personen Leistungen gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz, was eine Zunahme um 10,3 % gegenüber dem Vorjahr war und zugleich der zweite Anstieg in Folge war.207 Am Jahresende 2014 bekamen rund 363 000 Personen Regel-

207

Vgl. Sozialbericht 2013, S. 215. 198

leistungen gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz, hierfür wurden 1,8 Mrd. Euro aufgewendet. Die Zahl der Leistungsbezieher ist somit gegenüber dem Vorjahr um 61 % gestiegen. Die meisten Regelleistungsbezieher stammten mit 139 000 Personen aus Europa – vor allem Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien – und mit knapp 138 000 aus Asien (jeweils 38 %), gefolgt von Afrika mit knapp einem Fünftel. Insgesamt wurden 2014 2,40 Mrd. Euro gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgegeben. Innerhalb der Gruppe der Asylberechtigten nehmen die sog. unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge einen besonderen Status ein. 2014 kamen rund 11 600 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung einer sorgeberechtigten Person nach Deutschland, was eine Zunahme von 77 % gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Hierbei handelt es sich weit überwiegend um männliche junge Menschen. Die Fürsorge junger Schutzsuchender soll durch das am 1. November 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher gewährleistet werden.208 Es geht dabei um eine dem Kindeswohl entsprechende, bedarfsgerechte Unterbringung und Betreuung. Infolge des erheblichen Zuzugs 2015 wurden verschiedene Gesetze verabschiedet wie das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket I) und das Integrationsgesetz, wobei sowohl integrationsfördernde Elemente wie auch Restriktionen beschlossen wurden. So bestehen nun bei Nichtwahrnehmung von Integrationsmaßnahmen etwaige Sanktionsmöglichkeiten (z.B. Kürzungen für Personen, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen oder Nichtmitarbeit beim Asylverfahren), aber auch die Gesundheitsversorgung wurde vereinfacht. Nach 15 Monaten Wartezeit erhalten schutzsuchende Ausländer Gesundheitsleistungen entsprechend dem Sozialhilferecht (sog. Analogleistungen). 208

Vgl. Sozialbericht 2017, S. 37 und ebenda, S. 37f. (zu den beiden Gesetzen 2015). 199

Die in die EU einreisenden Asylsuchenden kamen im Wesentlichen aus dem Osten Europas, den Balkangebieten, die nicht zur Europäischen Union gehören, afrikanischen Staaten südlich der Sahara und dem Mittleren Osten sowie aus Pakistan und Afghanistan. Im ersten Halbjahr 2015 stellten die Syrer mit rund 75 000 Personen die größte Gruppe der Asylbewerber, die in die EU gelangten, vor Menschen aus dem Kosovo, Afghanistan, Albanien, Irak und Serbien. Das Asylbewerberleistungsgesetz vom 1.11.1993 regelte die materiellen Leistungen an Asylbewerber, geduldete Ausländer und Kriegsund Bürgerkriegsflüchtlinge sowie andere Ausländer ohne verfestigten Aufenthaltsstatus, um deren Existenzminimum während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern. Durch dieses Gesetz wurden die Aufwendungen für Asylbewerber aus dem Bundessozialhilfegesetz herausgelöst.209 Die Leistungen bestanden aus den Grundleistungen, die unter den Regelsätzen der Sozialhilfe lagen und wurden grundsätzlich als Sachleistungen gewährt. 1997 wurde durch Gesetzesänderung der Personenkreis der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Berechtigten auf Ausländer ausgeweitet, die „sich typischerweise nur vorübergehend und ohne Verfestigung ihres ausländerrechtlichen Status“ in Deutschland aufhielten (u.a. geduldete Ausländer, Ausländer, die wegen des Krieges in ihrem Heimatland sich hier aufhalten, Ausländer, die nicht abschiebbar sind). In Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union wurde u.a. die Bezugsdauer der im Vergleich zur Sozialhilfe abgesenkten Leistungen auf 48 Monate verlängert. Nach Fassung des Gesetzes vom 1. Juni 1997 sind die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der Bundesrepublik Deutschland für drei Jahre vorrangig als Sachleistungen geplant, bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen sind die Leistungen auch in Form von Geldleistungen möglich. Nach Ablauf 209

Vgl. u.a. Sozialbericht 1997, S. 90. 200

von drei Jahren erhalten Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge und geduldete Ausländer Leistungen entsprechend der Sozialhilfe, wenn sie weiterhin ihren Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Regelleistungen dienen der Deckung des täglichen Bedarfs und werden als Grundleistungen oder als Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Infolge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 war eine Anpassung der Leistungen nach § 3 AsylbLG notwendig geworden. Die nun transparente, sach- und bedarfsgerechte Neuregelung der Geldleistungen für Asylsuchende erfolgte zum 1. März 2015 und zugleich wurde ein Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe für alle Kinder und Jugendliche im Asylbewerberleistungsgesetz eingeführt. Im Juni 2013 hatten der Europäische Rat und das Europäische Parlament neue Richtlinien für die Aufnahme von Asylantragsstellern verabschiedet, die vorsahen, dass die Mitgliedstaaten Antragstellern grundsätzlich nach neun Monaten den Arbeitsmarktzugang gewährten. Bis dahin galt in Deutschland die Regelung, Asylbewerbern grundsätzlich ein Jahr nach der Antragstellung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren, soweit gemäß der Vorrangprüfung kein deutscher Staatsbürger bzw. EU-Staatsangehöriger für die Stelle zur Verfügung stand. Die Bundesregierung hat diese Änderung in Bezug auf den Arbeitsmarktzugang dann im Juni 2013 übernommen. Die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt erweist sich derzeit als schwierig, was u.a. auch darauf zurückgeführt wird, dass eine Arbeitserlaubnis im Regelfall erst nach dem Abschluss der Asylverfahren erteilt wird und infolge des starken Zustroms sich die Zahl der unerledigten Asylanträge weiter erheblich erhöht hat. Dazu kommen als weitere Hinderungsgründe die vielfach ungenügenden Sprachkenntnisse, die fehlenden Berufsausbildungen und auch die zum Teil lange Nichterwerbstätigkeit infolge der manchmal langen Fluchtzeiten und der Asylverfahren.

201

6. Arbeitsbeziehungen: Arbeitsrecht und Mitbestimmung Die neue rot-grüne Bundesregierung setzte 1999 zunächst eine Reihe von Korrekturen in der Sozialversicherung und bei Arbeitnehmerrechten durch, die die Vorgängerregierung Kohl beschlossen hatte (Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte). 210 So wurde die 1996 eingeführte Einschränkung des allgemeinen Kündigungsschutzes zurückgenommen, d.h. nun galt wieder als Grenze für die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes in den Betrieben das Vorhandensein von fünf Beschäftigten gegenüber vorher zehn. Dies betraf rund zwei Mio. Arbeitnehmer, wobei auch die Bewertung von Teilzeit vereinheitlicht wurde, d.h. bei einer Wochenarbeitszeit von bis zu 20 Stunden wurde mit dem Faktor 0,5 gerechnet und bis zu 30 Stunden mit dem Faktor 0,75. Des Weiteren hob die neue Regierung die Einschränkung der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen auf – die Beschränkung auf nur drei Kriterien wie Betriebszugehörigkeitsdauer, Lebensalter und Unterhaltspflichten – und verlangte wieder eine umfassende Berücksichtigung der Lebensumstände durch den Arbeitgeber (z.B. Berufskrankheit, Schwerbehinderung usw.). Ebenso hatte das Korrekturgesetz die 1996 beschlossene Kürzung der Entgeltfortzahlung für Arbeitnehmer im Krankheitsfall oder bei Maßnahmen der Rehabilitation auf 80 % zurückgenommen und wieder auf 100 % erhöht. Das zum 1. Mai 2000 in Kraft getretene Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung arbeitsgerichtlicher Verfahren (Arbeitsgerichtsbeschleunigungsgesetz) legte fest, dass eine Arbeitsverhältnisbeendigung durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung oder durch Auflösungs- bzw. Aufhebungsvertrag oder durch Befristung 210

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 38ff.; Sozialbericht 2005, S. 46ff.; Sozialbericht 2009, S. 37ff.; Sozialbericht 2013, S. 24ff. 202

der Schriftform bedarf. Die Möglichkeiten einer Güteverhandlung wurden erweitert. Zum 1. Januar 2001 trat ein neues Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge in Kraft (Teilzeit und Befristungsgesetz), das den Anspruch auf Teilzeit regeln sollte. Anspruch auf Teilzeit bestand bei einem mehr als sechsmonatigen Arbeitsverhältnis, wobei drei Monate vorher die Ankündigung eines Teilzeitwunsches erfolgen musste. Weiterhin galt, dass mehr als 15 Arbeitnehmer im Betrieb regelmäßig beschäftigt waren. Allerdings konnte der Arbeitgeber aus betrieblichen Gründen den Teilzeitwunsch ablehnen. Grundsätzlich durften Teilzeitbeschäftigte nicht schlechter als Vollzeitbeschäftigte behandelt werden. Weiterhin wurden durch das neue Teilzeit- und Befristungsgesetz befristete Arbeitsverträge generell geregelt: Ein befristeter Arbeitsvertrag ohne einen sachlichen Grund der Befristung war bei einer Neueinstellung zulässig. Die Höchstbefristungsdauer betrug zwei Jahre, wobei bis zu dieser Gesamtdauer ein kürzer befristeter Arbeitsvertrag höchstens dreimal verlängert werden konnte. Abweichungen davon erlaubte im Übrigen ein Tarifvertrag. Schließlich wurde im Sommer 2001 nach fast dreißig Jahren das Betriebsverfassungsgesetz reformiert, da sich zwischenzeitlich viele Strukturen in den Betrieben oder Unternehmen geändert hatten. Stichworte wie „just-in-Time“ oder „Lean-Production“ seien kurz erwähnt. Auch war die Zahl der Beschäftigten mit Betriebsräten zurückgegangen. Anlehnend an neue Organisationsformen der Unternehmen eröffnete man die Möglichkeit zur Wahl von gleichgestellten Sparten- oder Filialbetriebsräten. Das reformierte Gesetz erleichtert die Bildung von Betriebsräten, indem z.B. in kleineren Betrieben mit fünf bis 50 Arbeitnehmern bei der Betriebsratswahl ein vereinfachtes Verfahren Anwendung fand. In allen Betrieben sollten nunmehr Arbeiter und Angestellte gemeinsam den Betriebsrat wählen, d.h. das Gruppenprinzip wurde aufgehoben. Weiterhin stellte das Reformgesetz sicher, dass alle in einem 203

Unternehmen Beschäftigten – z.B. in Außendienst oder als Telearbeiter – zur Unternehmensbelegschaft zählten und demzufolge unter das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats fielen. Auch Leiharbeiter mit mehr als dreimonatiger Überlassungsdauer durften nun im Entleiherbetrieb mitwählen. Die Zahl der Betriebsräte in Relation zur Arbeitnehmerzahl wurde erhöht einschließlich deren Freistellung. Der Schutz der Betriebsräte wurde verbessert, d.h. nicht nur die Kündigung eines Betriebsrates bedurfte der Zustimmung des Betriebsrates, sondern auch die Versetzung von Betriebsratsmitgliedern gegen deren Willen. Weitere Neuerungen betrafen Umweltschutzmaßnahmen in den Betrieben, die Gleichberechtigung der Frauen und die verstärkte Einbeziehung junger Arbeitnehmer in die betriebliche Mitbestimmung in der Jugendund Auszubildendenvertretung. Ab 2004 galt eine erneute Änderung im Kündigungsschutz und die Regierung vollzog eine Kehrtwende zurück zur Regelung ihrer Vorgängerin: Zunächst hob man die Anwendungsschwelle für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes bei Neueinstellungen von fünf auf zehn Mitarbeiter an, dann vereinfachte die neue gesetzliche Regelung bei betriebsbedingten Kündigungen die Sozialauswahl (es galten nur noch die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) und zur Vermeidung von Kündigungsschutzprozessen wurde eine gesetzliche Abfindungsregelung bei betriebsbedingten Kündigungen beschlossen. Existenzgründer durften befristete Arbeitsverträge ohne sachlichen Befristungsgrund bis zu vier Jahren abschließen, was die Neueinstellung in kleinen und neu gegründeten Unternehmen fördern sollte (Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt). Basierend auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes wurden nunmehr Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit gewertet.

204

2003 trat ein Gesetz zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen in Kraft, demzufolge die Ladenöffnungszeiten an Samstagen auf 20 Uhr ausgeweitet wurden. Die lange diskutierte Frage von Mindestlöhnen konnte zum Ende der 16. Legislaturperiode des Bundestages im April 2009 mit Hilfe des neugefassten Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des reformierten Mindestarbeitsbedingungengesetzes zumindest einer teilweisen Lösung angenähert werden. Diese beiden Gesetze ermöglichten die Festlegung von Mindestlöhnen in weiteren Branchen, indem die Branchen, bei denen die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 % der Arbeitnehmer beschäftigten, nun in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden konnten und tarifliche Mindestlöhne vereinbaren konnten. Bei Branchen mit einer Tarifbindung von unter der Hälfte der Arbeitnehmer kam das Mindestarbeitsbedingungengesetz zur Anwendung, indem ein permanent einzurichtender Hauptausschuss feststellen konnte, ob in einem bestimmten Wirtschaftszweig etwaige Mindestlöhne festzusetzen seien. Ein für jeweils einen betroffenen Wirtschaftszweig gebildeter Fachausschuss – bestehend aus sechs Beisitzern je zur Hälfte aus den Arbeitnehmerkreisen bzw. den Arbeitgeberkreisen sowie einem Vorsitzenden – legte den Mindestlohn fest. Im Übrigen konnten diese von Fachausschüssen beschlossenen Mindestlöhne auf Vorschlag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durch eine Verordnung der Bundesregierung für den Wirtschaftszweig verbindlich festgelegt werden und Geltung für alle Arbeitnehmer des betreffenden Zweiges beanspruchen. Die Neufassung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes im Jahre 2009 bezog sechs weitere Branchen ein, nämlich die Pflegebranche (zum 1. August 2010), die Sicherheitsdienstleistungen, die Bergbauspezialarbeiten in Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen, die Abfallwirtschaft inklusive Straßenreinigung und Winterdienst und die Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen (zum 1. August 2012). Um Mindestlöhne 205

einzuführen, mussten die Tarifvertragsparteien diese in Tarifverträgen vereinbaren und dann allgemeinverbindlich erklären lassen oder eine Rechtsverordnung beantragen. Die Einhaltung der Mindestlöhne übernahm die Zollverwaltung. Seit 1. Januar 2012 galt auch eine verbindliche Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Insgesamt waren bis 2012 rund vier Millionen Arbeitnehmer in zwölf Wirtschaftszweigen tätig, in denen jeweils branchenspezifische Mindestlöhne gelten. Ein wichtiges und überfälliges Element des Sozialstaates bildete die politisch lange umstrittene Einführung des flächendeckenden Mindestlohnes zum 1. Januar 2015, nachdem in Deutschland die Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich in den letzten Jahren zugenommen hatten und keine umfassenden Tarifvertragsregelungen zustande gekommen waren.211 Durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz wurde ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt und die Möglichkeiten zu branchenspezifischen Mindestlöhnen gemäß dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz erweitert. Gemäß dem Mindestlohngesetz galt nun ein Mindestlohn von 8,50 Euro je Zeitstunde auch für sog. Minijobber (ab 1. Januar 2017: 8,84 Euro auf Empfehlung der unabhängigen Mindestlohnkommission). Allerdings enthielt das neue Mindestlohngesetz auch eine Übergangsregelung, demnach nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz vereinbarte Tarifverträge übergangsweise den gesetzlichen Mindestlohn unterschreiten durften, soweit sie ab dem 1. Januar 2017 mindestens 8,50 Euro als Entgelt vorsahen. Bei Zeitungszustellern wurde eine stufenweise Heranführung an den Mindestlohn bis zum Jahresende 2017 vereinbart, d.h. ab 1. Januar 2015 musste der Mindestlohn für Zeitungszusteller 75 %, ab 1. Januar 2016 85 % des allgemeinen Mindestlohns betragen und ab 1. Januar 2017 musste mindestens 8,50 Euro pro Stunde bezahlt werden. 211

Vgl. Sozialbericht 2017, S. 6ff. 206

Vor der Einführung des Mindestlohns bestanden rund 5,5 Mio. Arbeitsverhältnisse mit einer Entlohnung unter 8,50 Euro und durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns kamen ca. vier Mio. Beschäftigte in den Genuss einer höheren Bezahlung. Die übrigen 1,5 Mio. Beschäftigten waren Auszubildende und Minderjährige, die vom Mindestlohngesetz ausgenommen waren. Entgegen den vielfachen, vorherigen Befürchtungen hob die Bundesregierung berechtigt hervor, dass auch zwei Jahre nach dessen Einführung kein negativer Beschäftigungseffekt zu verzeichnen sei, vielmehr sei die Beschäftigung weiter angestiegen und sogar geringfügige Beschäftigungsverhältnisse oftmals in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt worden. Ein dem Thema des Mindestlohnes ähnlich umstrittenes Gebiet bildet die Arbeitnehmerüberlassung bzw. die Leiharbeit, die in den letzten Jahren und insbesondere im Kontext der Hartzreformen, zum Teil auch politisch gewollt, zugenommen hatte. Nach Auffassung der Bundesregierung der zweiten Großen Koalition Merkel sollte die Leiharbeit „auf ihre Kernfunktion“212 begrenzt bleiben und dem Missbrauch von Werkverträgen vorgebeugt werden. Arbeitnehmerüberlassung an sich wurde als eine Form des flexiblen Personalbedarfs für Unternehmen akzeptiert – etwa um Auftragsspitzen oder kurzfristigen Personalbedarf abzudecken –, jedoch barg die Arbeitnehmerüberlassung vielfach ungünstige Arbeitsbedingungen, so dass zum April 2017 gesetzlich die Arbeitnehmerüberlassung zeitlich begrenzt wurde und die Stellung von Leiharbeitern gebessert wurde. Werkverträge sollten ebenfalls transparenter gestaltet werden. Der Status von Leiharbeitern sollte durch Regelungen zu ihrer Gleichstellung beim Arbeitsentgelt mit der Stammbelegschaft nach neun Monaten („Equal Pay“) verbessert und eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten anvisiert werden, wovon allerdings eine tarifvertragliche Regelung abweichen konnte. 212

Sozialbericht 2017, S. 7 und ebenda, S. 7ff. (zum Folgenden). 207

7. Soziale Entschädigung Entschädigungssysteme sind zuständig bei Tatbeständen, für die die Bundesrepublik Deutschland bei Sonderopfern von Personen entsprechende Leistungen erbringt.213 Soziale Entschädigung als steuerfinanziertes System beinhaltet den Anspruch auf Leistungen, wenn jemand einen Gesundheitsschaden erleidet, für den die Gemeinschaft die Verantwortung übernehmen muss. Dies kann sich auf die Hinterbliebenen von Beschädigten erstrecken. Maßgebend ist das Bundesversorgungsgesetz, das zwar ursprünglich für die Folgen des Zweiten Weltkriegs geschaffen worden war und u.a. Leistungen für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (Wiedergutmachung) oder den Lastenausgleich beinhaltete, mittlerweile aber auch für Entschädigungsleistungen für Opfer von Gewalttaten, Wehr- und Zivildienstbeschädigte, Impfopfer oder Opfer staatlichen Unrechts der ehemaligen DDR und deren Hinterbliebenen galt. Bei der sozialen Entschädigung bildet die Kriegsopferversorgung den Schwerpunkt bei Gesundheitsschäden und umfasst nach dem Bundesversorgungsgesetz Leistungen an Personen, die durch Krieg oder Militärdienst geschädigt worden sind. Leistungen der Kriegsopferfürsorge sind im Übrigen grundsätzlich einkommens- und vermögensabhängig.

7.1

Personenkreis und Ausgaben

Laut Sozialbericht 2001 erhielten 830 542 Menschen Leistungen aus der Sozialen Entschädigung, d.h. aus dem Bundesversorgungsgesetz und anderen Gesetzen. Zum 1. Januar 2013 bezogen noch rund 234 000 Berechtigte Versorgungsleistungen im Rahmen der sozialen Entschädi213

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 92f., S. 264ff.; Sozialbericht 2005, S. 109; Sozialbericht 2009, S. 178f., S. 283ff.; Sozialbericht 2013, S. 119ff. und S. 204ff.; Sozialbericht 2017, S . 231ff. 208

gung, davon fielen auf die Kriegsopfer und deren Hinterbliebene 192 000 und die Opfer von Gewalttaten 20 000 Beschädigte und Hinterbliebene. Am 1. Januar 2017 erhielten nur noch 126 000 Berechtigte Versorgungsleistungen der sozialen Entschädigung. Anspruchsberechtigt für den Lastenausgleich waren Personen, die durch Vertreibung in der Kriegs- und Nachkriegszeit Schäden bzw. den Verlust ihres Vermögens und ihrer Existenzgrundlage erlitten hatten. Verstärkt in den öffentlichen Fokus rückte in den letzten Jahren das Opferentschädigungsgesetz auch aufgrund der Diskussionen um Vorkommnisse in der Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren sowie im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs in privaten und öffentlichen Einrichtungen. Die soziale Entschädigung ist ein durch Steuern finanziertes System, wobei sich die Leistungen am Umfang und dem Grad der Schädigungsfolgen orientieren und grundsätzlich zwischen Versorgungs- und Fürsorgeleistungen differenziert wird. Zentrale Versorgungsleistungen sind hier die Heilbehandlung und die medizinische Rehabilitation. Die Ausgaben für Entschädigung unter Einbeziehung des Lastenausgleichs und der Wiedergutmachung für Opfer des Nationalsozialismus gingen „quasi natürlich“ aufgrund der immer weiter wachsenden Distanz zum Zweiten Weltkrieg von 10,41 Mrd. Euro (2000) auf 2,7 Mrd. Euro (2015) zurück.214 Bei der Wiedergutmachung gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz ging es vorrangig um Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sowie um Hilfen für vom NS-Staat verfolgte Juden. Weiterhin ist hier noch ein kleiner Posten „Sonstige Entschädigungen“ zu erwähnen, der Leistungen für Wehr-

214

Vgl. Sozialbericht 2009, S. 284; Sozialbericht 2013, S. 205; Sozialbericht 2017, S. 232. Die Angaben zu 2000 sind DM-Beträge. Die Angaben für Soziale Entschädigung 2002 und 2005 mit den Verwaltungsausgaben. Unter Sonstige Entschädigungen fallen Leistungen nach dem Unterhaltssicherungsgesetz, dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz sowie dem Schwerbehindertengesetz. 209

und Zivildienstleistende, Kriegsgefangene, Heimkehrer u.ä. beinhaltete und im Jahre 2015 nur noch bei 0,4 Mrd. Euro lag.

8. Familienpolitische Leistungen Zu den familienpolitischen Leistungen werden hier das Kindergeld, Elterngeld, Erziehungsgeld, Betreuungsgeld und wohnungspolitische Maßnahmen gezählt.

8.1

Kindergeld, Elterngeld und Betreuungsgeld

Kindergeld wird entweder nach dem Einkommensteuergesetz – 1996 war ein Familienleistungsausgleich im Jahressteuergesetz eingefügt worden und das Kindergeld konnte monatlich als Steuervergütung bezahlt werden – oder gemäß dem Bundeskindergeldgesetz im Normalfall bis zum 18. Lebensjahr gewährt (außer es handelt sich um in Ausbildung befindliche Kinder, arbeitslose oder behinderte Kinder).215 Es wird darüber hinaus unabhängig von der Staatsangehörigkeit Kindern gezahlt, wenn sie in Deutschland ihren Wohnsitz haben oder sich hier gewöhnlich aufhalten oder wenn die Kinder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraumes leben. Das zweite Gesetz zur Familienförderung von 2001 erhöhte für das erste und zweite Kind das Kindergeld ab 2002 auf 154 Euro. Damit erhielten Eltern für die ersten drei Kinder künftig jeweils 154 Euro und für jedes weitere Kind 179 Euro. Der allgemeine Kinderfreibetrag

215

Vgl. Sozialbericht 2001, S. 139, S. 306; Sozialbericht 2005, S. 132, S. 198; Sozialbericht 2009, S. 286ff.; Sozialbericht 2013, S. 208ff. 210

wurde ebenfalls ab dem 1. Januar 2002 angehoben. Im Jahre 2009 folgte durch das Familienleistungsgesetz eine weitere Anhebung des Kindergeldes für das erste und zweite Kind auf 164 Euro, für das dritte Kind auf 170 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind auf 179 Euro. Am 1. Januar 2010 wurde im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vor dem Hintergrund der Bewältigung der Finanzkrise eine erneute Erhöhung des Kindergeldes beschlossen, demnach für die ersten zwei Kinder je 184 Euro pro Monat bezahlt wird, für das dritte Kind 190 Euro und für jedes weitere Kind 215 Euro. Auch der steuerliche Freibetrag für das Existenzminimum eines Kindes wurde erhöht und 2012 entfiel die Einkommensprüfung für Kinder unter 25 Jahren, die sich in einer ersten Berufsausbildung oder in einem Erststudium befanden. Sie wurden ohne weitere Voraussetzungen immer als Kind berücksichtigt. Zum 1. Januar 2005 war als eine neue familienpolitische Leistung der Kinderzuschlag gemeinsam mit der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende eingeführt worden. Dieser betrug monatlich bis zu 140 Euro und war für diejenigen Eltern gedacht, die mit ihrem Einkommen ihren eigenen Bedarf decken konnten, nicht aber den ihrer Kinder. Seit 2009 wird der Kinderzuschlag unbefristet gewährt. In der Legislaturperiode 2013 erhielten rund 300 000 Kinder diesen Zuschlag. Weitere wesentliche familienpolitische Leistungen waren bereits vor der deutschen Wiedervereinigung und der Jahrhundertwende in die Wege geleitet worden:216 So wurde 1986 ein Erziehungsgeld in Höhe von 600 DM monatlich eingeführt, das ab dem siebten Monat einkommensabhängig weiter gezahlt wurde sowie ein Anspruch auf Erziehungsurlaub für die ersten zehn Lebensmonate des Kindes ab dem 1. Januar 1986 bzw. für die ersten 12 Lebensmonate des Kindes ab dem 1. Januar 1988 eröffnet. Für ab dem 1. Juli 1989 geborene Kinder 216

Vgl. Sozialbericht 1990, S. 75ff. 211

wurde diese Anspruchszeit auf 15 Monate und für ab 1. Juli 1990 geborene Kinder auf 18 Monate verlängert. Seit 1986 bzw. 1990 wurden weitere familienpolitische Maßnahmen implementiert wie u.a. die Einführung eines Kindergeldzuschlages für Familien mit niedrigem Einkommen, eine Erhöhung der Unterhaltsleistung gemäß dem Unterhaltsvorschussgesetz für Kinder von Alleinerziehenden, eine Erhöhung der steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und die stufenweise Anerkennung eines Erziehungsjahres in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 1986. Das 1986 eingeführte Bundeserziehungsgeld war auf breite Zustimmung gestoßen, denn 1991 etwa beanspruchten fast 97 % der Eltern diese familienpolitische Leistung und ebenso viele der erwerbstätigen Berechtigten auch den Erziehungsurlaub. Zum 1. Januar 1992 traten eine Reihe von Änderungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes in Kraft, die nach Vorgabe der Bundesregierung das Ziel verfolgten, Berufstätigkeit und Kinderbetreuung besser zu vereinbaren:217 Nunmehr bestand für nach dem 1. Januar 1992 geborene Kinder ein Erziehungsurlaubsanspruch für die ersten 36 Lebensmonate des Kindes, und für Kinder, die nach dem 1. Januar 1993 auf die Welt kamen, ein Erziehungsgeldanspruch für die ersten 24 Lebensmonate. Des Weiteren konnte u.a. auch bei nichtehelichen Kindern, die nach dem 1. Januar 1992 geboren wurden, der Vater des Kindes Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub beanspruchen, wenn das Kind in seinem Haushalt lebte und die Mutter dem zustimmte. Seit 1993 wurde im Anschluss an das (Bundes)Erziehungsgeld in Sachsen, BadenWürttemberg, Bayern, Berlin und Rheinland-Pfalz ein Landeserziehungsgeld gezahlt. Ab 1. Januar 1994 galt beim Bundeserziehungsgeld eine sog. Gutverdienergrenze, demnach erhielt ein Ehepaar mit dem 217

Vgl. Sozialbericht 1993, S. 89f.; zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 115f.; Sozialbericht 2005, S. 198; Sozialbericht 2009, S. 287f.; Sozialbericht 2013, S. 209f.; Sozialbericht 2017, S. 235f. 212

ersten Kind bei einem Jahresnettoeinkommen von mehr als 100 000 DM bzw. von 75 000 DM bei Alleinerziehenden kein Erziehungsgeld mehr. 1999 erhielten rund 95 % der Eltern nach der Geburt ihres Kindes Erziehungsgeld und im gleichen Jahr befanden sich knapp 390 000 Eltern (= rund 95 % der anspruchsberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) im ersten Lebensjahr des Kindes im Erziehungsurlaub. Der Anteil der Väter betrug im Laufe der Jahre allerdings nur ca. 1,5 %. Zum 1. Januar 2001 trat die Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes für Eltern mit Kindern ab dem Geburtsjahrgang 2001 in Kraft. Zum ersten Mal seit seiner Einführung 1986 wurden die Einkommensgrenzen für das ungekürzte Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des Kindes erhöht, sodass junge Eltern mit einem durchschnittlichen Einkommen wieder das volle Erziehungsgeld erhielten. Auch die Kinderzuschläge ab dem zweiten Kind wurden angehoben und stiegen in den Jahren 2002 und 2003 weiter stufenweise an. Das Erziehungsgeld, das eine einkommensabhängige Leistung des Bundes zur Anerkennung der Kinderbetreuung durch die jungen Eltern, aber keine Lohnersatzleistung war, betrug monatlich bis zu 307 Euro und konnte bis zum zweiten Geburtstag des Kindes gezahlt werden. Eine Alternative war das neue Budget-Angebot für das Erziehungsgeld (monatlich bis 460 Euro nur im ersten Lebensjahr), das die Wünsche der Eltern nach einer individuellen Lebensplanung berücksichtigt. Das Reformgesetz erweiterte darüber hinaus die Gestaltungsmöglichkeiten einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung von Müttern und Vätern. Insbesondere schuf es rechtliche Voraussetzungen für eine stärkere Beteiligung von Vätern an der Kindererziehung. Es ersetzt den bisherigen unflexiblen Erziehungsurlaub durch die neue Elternzeit. Während das Erziehungsgeld für erwerbstätige und nicht erwerbstätige Eltern gezahlt wird, ist die neue Elternzeit, so wie früher der alte Erziehungsurlaub, ein Anspruch der Eltern als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf ganze oder teilweise Freistellung von der Ar213

beit durch ihren Arbeitgeber während der ersten drei Lebensjahre des Kindes bei bestehendem Kündigungsschutz. Bei unveränderter Dauer der Elternzeit von bis zu drei Jahren für ein Kind können die Eltern diese Elternzeit ganz oder zeitweise auch gemeinsam nehmen, ohne dass sie sich dadurch verkürzt. Mit Zustimmung des Arbeitgebers lässt sich bis zu einem Jahr die Elternzeit auf die Zeit zwischen dem dritten und achten Geburtstag des Kindes übertragen, z. B. für die Zeit des ersten Schuljahres. Die zulässige Teilzeitarbeit während der Elternzeit erweiterte sich von bisher 19 auf 30 Wochenstunden für jeden Elternteil, bei einer gemeinsamen Elternzeit zusammen auf bis zu 60 Wochenstunden. In der Vergangenheit hatten nur rund vier Prozent der Mütter oder Väter im Erziehungsurlaub im ersten Lebensjahr des Kindes gleichzeitig eine Teilzeitarbeit ausgeübt. Jetzt erhielten die Eltern einen grundsätzlichen Anspruch auf Teilzeitarbeit in der Elternzeit, wenn dem Anspruch im Einzelfall nicht dringende betriebliche Gründe entgegenstehen und wenn der Arbeitgeber mehr als 15 Beschäftigte aufweist. Das neue Gesetz begründete ferner einen Rückkehranspruch zur vorherigen Arbeitszeit nach dem Ende der Elternzeit. In den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen gab es bis zum dritten Lebensjahr des Kindes ein einkommensabhängiges Landeserziehungsgeld, das im Anschluss an das Bundeselterngeld im zweiten Lebensjahr des Kindes bzw. bei verlängertem Elterngeldbezug im dritten Lebensjahr gewährt wurde. Es konnte frühestens ab dem 13. Lebensmonat des Kindes bezogen werden und endete in der Regel im zweiten Lebensjahr. Ein gleichzeitiger Bezug von Bundeselterngeld und Landeselterngeld ist nicht möglich. Zum 1. Januar 2007 wurde das Bundeserziehungsgeldgesetz durch das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz ersetzt. Das neue Elterngeld verfolgte das Ziel, zumindest teilweise das wegfallende Einkommen auszugleichen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu 214

erleichtern. Das Elterngeld fungierte als Familienleistung für alle Eltern, die sich in den ersten 12 bzw. 14 Monaten ihres Kindes vorrangig um dessen Betreuung kümmern wollen und demzufolge ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen bzw. höchstens 30 Stunden wöchentlich arbeiten wollen. Nutzten beide Eltern das Elterngeld und Erwerbseinkommen, gab es für zwei zusätzliche Monate das Elterngeld. Das Elterngeld sollte nach der Geburt des Kindes das wegfallende Erwerbseinkommen desjenigen Elternteils, der das Kind betreut, ersetzen. Die Höhe des Elterngeldes bewegte sich zwischen 65 % für hohe Einkommen und bis zu 100 % für sehr niedrige Einkommen, d.h. mindestens 300 Euro – wenn zuvor kein Einkommen erzielt worden war – und maximal 1800 Euro. Bei Mehrlingsgeburten und für Familien mit mehreren kleinen Kindern erhöhte sich das Elterngeld. Rund 810 000 Mütter und Väter haben für ihr 2010 geborenes Kind Elterngeld erhalten, darunter rund ein Viertel Väter. Die Familienpolitik der abgelaufenen letzten Legislaturperiode setzte verstärkt auf eine partnerschaftliche Aufteilung der Zuständigkeit für Familie und gleichzeitig ein gerechtes berufliches Engagement. Demnach wollten mehr Mütter ihre Arbeitszeit ausweiten und viele Väter präferierten mehr Zeit für die Familie. Neben dem 2007 eingeführten Elterngeld sollte das zum 1. Juli 2015 eingeführte ElterngeldPlus diesen Wünschen entsprechen. Das Elterngeld-Plus bot flexiblere Möglichkeiten, Kinderbetreuung und Beruf zu vereinbaren mit einer wirtschaftlichen Absicherung. ElterngeldPlus ist für diejenigen gedacht, die bereits während des Elterngeldbezugs wieder in Teilzeit arbeiten wollten. Die Eltern konnten nunmehr länger als bislang Elterngeld beanspruchen – bis zur doppelten Länge –, jedoch bis maximal zur halben Höhe. Es herrschte freie Wahl zwischen Elterngeld und ElterngeldPlus bzw. die Kombination beider Varianten. Seit der Einführung des Elterngeldes 2007 haben dieses rund acht Mio. Personen bezogen. Das Elterngeld sollte die wirtschaftliche Grundlage von Familien nach 215

der Geburt eines Kindes sichern und zur Vereinbarung von Familie und Beruf – auch für die Väter – beitragen. Für ihre 2014 geborenen Kinder haben 933 000 Mütter und Väter (34,2 % der Väter gegenüber 25,3 % im Jahr 2010) Elterngeld erhalten. Am 1. August 2013 erfolgte die Einführung des politisch umstrittenen Betreuungsgeldes für Eltern von nach dem 31. Juli 2012 geborenen Kindern, um die Wahlfreiheit für Eltern zu verbessern, die die Betreuung ihres Kindes im zweiten und dritten Lebensjahr selbst übernehmen wollten. Die Leistung betrug für das Kind im zweiten Lebensjahr 100 Euro im Monat und im zweiten Jahr nach dem Inkrafttreten 150 Euro monatlich. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch im Juli 2015 das Betreuungsgeldgesetz vom 15. Februar 2013, demzufolge auf der Bundesebene das Betreuungsgeld gezahlt werden sollte, wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes für nichtig erklärt.218 Daraufhin hat das Bundesland Bayern mit einem am 1. Juni 2016 beschlossenen Bayerischen Betreuungsgeldgesetz die Fortführung des Betreuungsgeldes als eine Landesleistung Bayerns in die Wege geleitet. 2011 wurden Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien eingeführt, um eine bessere gesellschaftliche Integration dieser zu erreichen. Die Bundesregierung verwies in ihrem Sozialbericht 2017219 auf die finanzielle Unterstützung von Familien mit geringen Einkommen durch die Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags (zum 1. Januar 2017 von maximal 160 auf 170 Euro pro Kind monatlich): Zum 1. Januar 2017 wurde das Kindergeld um je zwei Euro auf 192 Euro für das erste und das zweite Kind erhöht, für das dritte Kind auf 198 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind auf 223 Euro. 2018 erfolgt eine weitere 218 219

Vgl. Sozialbericht 2017, S. 237. Vgl. Sozialbericht 2017, S. 109. 216

Erhöhung. Ebenfalls ab 1. Januar 2017 stieg der steuerliche Freibetrag für das Existenzminimum eines Kindes, so dass mit dem Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf Freibeträge für jedes Kind von insgesamt 7 356 Euro bestehen. Die Leistungen Kindergeld, Familienleistungsausgleich, Elterngeld und Betreuungsgeld verdeutlicht folgende Übersicht:220 Tabelle 22: Kindergeld, Familienleistungsausgleich, Elterngeld und Betreuungsgeld (in Mrd. Euro) Leistungsart Kindergeld u. Familienleistungsausgleich Leistungen insgesamt Kindergeld Kinderzuschlag nach § 6a BKKG Kindergeld und Kinderzuschlag Familienlastenausgleich Eltern-, Erziehungs- und Betreuungsgeld Leistungen insgesamt Bundeselterngeld Bundeserziehungsgeld Landeserziehungsgeld Betreuungsgeld

2000

2002

2005

2009

2013

2015

31,8 0,1 -

36,1 0,1 -

36,7 0,1 0,1

39,3 0,1 0,4

41,9 -

43,2 -

31,7

36,0

36,5

38,6

0,5 41,2

0,4 42,5

3,7 -

3,6 3,3 0,3 -

3,1 2,9 0,3 -

4,7 4,5 0,0 0,2 -

5,3 5,1 0,0 0,1 0,1

6,8 5,8 0,0 0,1 -

Wie aus der Tabelle ersichtlich stiegen von der Jahrhundertwende bis 2015 die Ausgaben für Kindergeld und den Familienlastenausgleich deutlich, wobei die größten Zuwächse infolge der Erhöhun220

Tabelle zusammengestellt aus Sozialbericht 2013, S. 209f. und Sozialbericht 2017, S. 235 und S. 237. Der Wert „Kindergeld“ bezieht sich nur auf Leistungen für Waisen, das eigentliche Kindergeld ist in der Zeile „Familienleistungsausgleich“ enthalten. 217

gen des Kindergeldes von 2000 bis 2002 zu verzeichnen sind. Auch die Aufwendungen für Elterngeld, Erziehungsgeld und – kurzzeitig – das Betreuungsgeld nahmen abgesehen von 2003 bis 2005 zu, wobei das Landeserziehungsgeld weitgehend auf dem gleichen Niveau blieb, hingegen die Einführung des Bundeselterngeldes anstelle der Bundeserziehungsgeldes von 2005 bis 2009 zu einem deutlichen Zuwachs führte.

8.2

Wohngeld und Wohnungspolitik

Wohngeld erhalten Haushalte mit geringem Einkommen und sonstiger fehlender Transferzahlung in Bezug auf die Unterkunft.221 Das Wohngeld wird jeweils zur Hälfte durch den Bund und die Länder finanziert und ist ein Zuschuss mit bestimmten Höchstgrenzen für Miete bzw. Belastung. Seine Höhe hängt von dem Einkommen, der Miet- bzw. Belastungshöhe und der Größe des Haushalts ab. Ende 1999 erhielten rund 2,8 Mio. Haushalte Wohngeld. Mit der Wohngeldvereinfachung zum 1. Januar 2005 im Rahmen der sog. Hartz IVReform, demnach ein Großteil der Haushalte, die bis dahin Wohngeld bezogen hatten, nun Leistungen für Unterkunft und Heizung von der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhielten, die die angemessenen Unterkunftskosten vollständig übernahm, verringerte sich die Anzahl der Empfängerhaushalte von Wohngeld von zuvor 2,3 Mio. Haushalte auf noch 580 000 Empfängerhaushalte (2007). Somit hatte das Wohngeld nunmehr vorrangig Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen, Arbeitslosengeldbezieher und Rentner im Visier. 2015 erhielten noch eine halbe Mio. Haushalte Wohngeld. 221

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 133ff. und S. 271f.; Sozialbericht 2005, S. 162ff.; Sozialbericht 2009, S. 192ff., S. 262 und S. 295f.; Sozialbericht 2013, S. 135ff. und S. 218f.; Sozialbericht 2017, S. 155. 218

Leistungen und Reformen: Zunächst steht das Wohngeld im Mittelpunkt, bevor kurz auf die umfassendere Wohnungs- und Städtepolitik, die zu den Aufgaben von Sozialpolitik zu zählen ist, eingegangen wird.222 Die Leistungen (einschließlich Verwaltungskosten) der Institution Wohngeld erreichten 8,4 Mrd. DM im Jahr 2000. In diesem Betrag waren 1,1 Mrd. DM für den einmaligen Heizkostenzuschuss enthalten, den die Bundesregierung an Wohngeldempfänger und andere Geringverdiener zahlte, um soziale Härten als Folge gestiegener Energiepreise auf dem Weltmarkt und damit drastische Heizkostenteuerungen zum Winter 2000/2001 abzumildern. 2002 betrugen die Ausgaben für Wohngeld 4,9 Mrd. Euro und im Jahr 2005 aufgrund der Grundsicherungsreform nur noch 1,5 Mrd. Euro. Empfänger von Transferleistungen wie dem Arbeitslosengeld II, der Sozialhilfe, der Grundsicherung im Alter sowie die Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften, bei denen die Kosten der Unterkunft bereits in ihre Transferleistung integriert worden ist, bekamen kein Wohngeld mehr. Aufgrund der Wohngeldreform 2009, die das Wohngeld endgültig nach acht Jahren wieder an die allgemeine Miet- und Einkommensentwicklung anpasste und deutlich erhöhte, stiegen die Ausgaben 2010 auf 1,9 Mrd. Euro. 2011 und 2012 sanken die Aufwendungen wieder, was u.a. eine Folge der Streichung der Heizkostenkomponente und des Rückgangs der sog. Kinderwohngeldfälle war. Wegen des Rückgangs der Haushalte mit Wohngeldbezug 2015 reduzierten sich die Ausgaben auf 0,7 Mrd. Euro. Zum 1. Januar 2016 trat aufgrund regionaler Wohnungsmarktengpässe und damit korrespondierender steigender Wohnkosten eine 222

Die folgenden Angaben nach Sozialbericht 2001, S. 133ff.; Sozialbericht 2009, S. 296; Sozialbericht 2013, S. 219 und Sozialbericht 2017, S. 247. Die Leistungen beinhalten auch die Verwaltungsausgaben. 219

Wohngeldreform in Kraft, wodurch einkommensschwache Haushalte oberhalb der Grundsicherung entlastet werden sollten. Es erfolgte eine Anpassung des Wohngeldes an die Mieten- und Einkommensentwicklung seit der letzten Wohngeldreform 2009. Rund 660 000 einkommensschwache Haushalte profitierten davon. Auch wurden Alleinerziehende deutlich besser gestellt (u.a. durch neue Freibeträge und Erhöhungen der Altersgrenze der Kinder von 12 Jahren auf 18 Jahre). Infolge der Wohngeldreform 2016 erhöhte sich das Ausgabenniveau 2016 auf 1,2 Mrd. Euro. Leistungsart Im Rahmen der umfassenden Wohnungspolitik berichtete die Bundesregierung 2001 über eine positive Entwicklung in der Versorgung mit Wohnraum und moderaten Mietsteigerungen, allerdings räumte man in wirtschaftlich expandierenden Ballungsräumen durchaus für bestimmte Bevölkerungskreise Probleme ein. Hingegen bestanden in den neuen Bundesländern vielfach Leerstände mit sozialen Folgen bis hin zu sozialen Brennpunkten u.a. durch den Wegzug von Besserverdienenden. Um eine zukunftsfähige Stadtentwicklung und eine Aufwertung bzw. Revitalisierung weiter zu sichern, wurde ab 2002 ein „Stadtumbau-Ost“-Programm implementiert, wofür in den folgenden acht Jahren 1,1 Mrd. Euro bereitgestellt wurden. Des Weiteren trat zum 1. September 2001 ein neues Mietrecht in Kraft, das u.a. nur eine begrenzte Mieterhöhung zuließ sowie eine einheitliche verkürzte Kündigungsfrist für Mieter von nun drei Monaten. Auch der soziale Wohnungsbau wurde weiter gefördert, mit dem Ziel, für breite Schichten preisgünstigen Wohnraum bereitzustellen. Von 1997 bis 2000 hatten der Bund und die Länder rund 40 Mrd. DM für rund 296 000 Wohnungen bereitgestellt. Zur Förderung des Wohneigentums – hier nahm Deutschland im internationalen Vergleich mit ungefähr 41 % einen relativ niedrigen Rang ein – wurden Reformen zur Eigenheimzulage mit dem Schwerpunkt auf Familien mit mittlerem und niedrigerem Einkommen mit Kindern im Jahre 2009 implementiert. Des Weiteren verlagerten sich die Schwerpunkte 220

der Wohnungspolitik in den letzten Jahren stärker in Richtung der qualitativen Entwicklung des Wohnungsbestandes und des Wohnumfelds. Es rückten mehr energetische Gebäudeoptimierung, Lärmbekämpfung, die Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen von Familien und älteren Menschen, insbesondere mit Blick auf die stärkere Innenentwicklung der Städte, in den Mittelpunkt. Die Menschen erreichen zunehmend ein höheres Alter und wohnen immer seltener in großen, generationenübergreifenden Haushalten. Die bedarfsgerechte Anpassung des Wohnungsbestands für ein selbstbestimmtes Wohnen im Alter werde daher in den kommenden Jahren zu einer bedeutenden Herausforderung für Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft. Dazu kommt die Notwendigkeit einer verstärkten privaten Altersvorsorge durch die Bildung von Wohneigentum und die soziale Absicherung des Wohnens insbesondere bei einkommensschwächeren Haushalten mit Hilfe des Wohngeldes. Neben der klassischen Städtebauförderung und dem Wohngeld betrieb der Bund seit 1999 Städtebauförderung durch das Programm „Soziale Stadt“ in benachteiligten Stadtvierteln. Die Regierung intervenierte wohnungspolitisch durch das Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt – Investitionen im Quartier“ auf diesem sozialpolitischen Gebiet, indem der Bund und die Länder Kommunen bei der Erhaltung benachteiligter Stadt- und Ortsteile und der Verbesserung deren Lebensbedingungen unterstützten. Hier sollten Defizite im Wohnumfeld und der sozialen Infrastruktur – gekennzeichnet durch hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildung, Integrationsprobleme – bekämpft werden und eine Stabilisierung und Aufwertung der Quartiere bewirkt werden. Von 1999 bis 2011 wurden dafür in rund 600 Fördergebieten ca. 985 Mio. Euro vom Bund, mit zusätzlichen Mitteln von den Ländern und den Kommunen rund drei Mrd. Euro bereitgestellt. 2008 wurde das Nachfolgeprogramm „Soziale Stadt – Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“ ausgeschrieben. 2014 wurde das Städtebauförderungsprogramm 221

„Soziale Stadt“ weiter aufgewertet und Sanierungen sozialer Infrastrukturen gefördert. Dafür stellte die Bundesregierung zwischen 2012 und 2016 rund 530 Mio. Euro bereit und bis 2020 folgen weitere Aufstockungen. Des Weiteren werden Investitionen zur sozialen Integration ausgeweitet. Zusätzlich werden auch ESF-Programme fortgeführt. Im Sozialbericht 2017 hob die Bundesregierung die Schaffung bezahlbaren Wohnraums für alle Bevölkerungsschichten als Ziel hervor, wobei man auf den weiter steigenden Wohnungsbedarf in Ballungsgebieten und Groß- und Hochschulstädten verwies.223 Seit 2006 lag die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumförderung ausschließlich bei den Ländern, jedoch leistete der Bund weiterhin Kompensationsmittel zum Ausgleich früherer Bundesfinanzhilfen (2016 bis 2019 drei Mrd. Euro). Ein Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen war mit den Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, der Wohnungs- und Bauwirtschaft, dem Deutschen Mieterbund und weiteren Akteuren geschlossen worden. Die Bundesregierung ging von der Heterogenität der Mietwohnungsmärkte mit unterschiedlicher Wohnraumversorgung und unterschiedlichen Mietpreissteigerungen einschließlich auch gesellschaftlicher Folgewirkungen aus. Der anhaltende Boom in großstädtischen Ballungsgebieten hielt mit erheblichen Mietsteigerungen an. Im Koalitionsvertrag von 2013 einigte sich die Regierung auf eine Stärkung der Investitionstätigkeit, eine Wiederbelebung des lange vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus und mietrechtliche Maßnahmen. Am 1. Juni 2015 trat wegen der Mietpreisproblematik ein Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs in Kraft („Mietpreisbremse“), demnach bei einer Wiedervermietung in angespannten Ballungsgebieten die Miete nicht mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen durfte. Derzeit ist die Mietpreisbremse in 313 Kommunen im 223

Vgl. Sozialbericht 2017, S. 153ff. 222

Einsatz. Die Neubautätigkeit erreichte aber auch 2016 – verschärft wegen der erhöhten Zuwanderung – nicht das erforderliche Niveau (350 000 Wohnungen pro Jahr). Weiterhin wurden 2015 das Bundesprogramm „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen Sport, Jugend und Kultur“ auf den Weg gebracht, um Infrastruktureinrichtungen mit sozialem Bezug zu sanieren (Sportplätze, Bäder usw.). Infolge der außerordentlich hohen Zuwanderung 2015 ist die Integration der anerkannten Flüchtlinge und sonstigen bleibeberechtigten Personen in den Wohnungsmarkt erforderlich, weshalb die Bundesregierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau für die Jahre 2017 und 2018 auf jährlich mehr als 1,5 Mrd. Euro nachhaltig aufgestockt hat.

8.3

Ausbildungs- und Aufstiegsförderung

Hierunter fallen die Leistungen gemäß dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und die berufliche Weiterbildung gemäß dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG). Nicht berücksichtigt werden die als Darlehen gezahlten Leistungen, da diese entsprechend der Definition des Sozialbudgets keine Sozialleistung darstellen. Die Ausbildungsförderung nach dem BAföG ist einkommensabhängig gestaltet und soll Schüler und Studierende unterstützen, die aus wirtschaftlich schlechter gestellten Familien kommen. Aufgrund verschiedener BAföG-Novellen des Gesetzgebers wurden die Leistungen seit der Jahrhundertwende erheblich verbessert.224 Im April 2001 erfolgte eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung, demzufolge bis 2004 die Zahl der Geförderten im Vergleich zum Jahr 1998 224

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2001, S. 271; Sozialbericht 2005, S. 37; Sozialbericht 2009, S. 75 und S. 290f.; Sozialbericht 2013, S. 213f.; Sozialbericht 2017, S. 240f. 223

um mehr als die Hälfte auf rund 532 000 Personen gesteigert werden konnte, was nach Angaben der Bundesregierung vor allem Studierenden aus einkommensschwächeren Familien zugutegekommen sei. Im Jahre 2015 waren es 1,032 Mio., darunter 870 000 Schüler und Studenten. Durch eine Änderung des BAföG wurde zum 1. Januar 2008 die Ausbildungsförderung sichtbar verbessert, d.h. es wurden die Bedarfssätze beim BAföG um zehn Prozent angehoben und die Einkommensfreibeträge um acht Prozent erhöht. Auch wurden für Auszubildende mit Migrationshintergrund die Zugangsregelungen zum BAföG erleichtert und seit 2008 ist ein vollständig im EU-Ausland absolviertes Studium durch BAföG förderbar. Bis 1998 waren die Gesamtleistungen der Ausbildungsförderung auf den Tiefstand von rund 1,6 Mrd. DM (1998) zurückgegangen. Seit 1999 stiegen sie wegen der Anhebung der Bedarfsätze, der Freibeträge und des monatlichen Höchstsatzes sowie der Abschaffung der Anrechnung des Kindergeldes durch das Ausbildungsförderungsreformgesetz (AföRG) wieder an: Vom Jahr 2000 rund 1,8 Mrd. DM bis auf 2,4 Mrd. Euro 2015 (darunter 200 Mio. für das „Meister-Bafög“). Die Leistungen werden zu 65 % vom Bund und zu 35 % von den Ländern finanziert. Seit 2015 trug der Bund die vollständigen Ausgaben. Infolge des 25. BAföG-Änderungsgesetzes vom Herbst 2016 traten zusätzliche Leistungsverbesserungen ein, weshalb die Bundesregierung weitere Zunahmen bei den Berechtigten und damit zusätzliche Ausgaben erwartete. Das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz unterstützte seit 1996 die berufliche Fortbildung zum Meister oder zum Techniker bzw. vergleichbaren Abschlüssen und trug zur Gleichstellung der beruflichen Bildung bei. Sein Ziel war die berufliche Höherqualifizierung, die Stärkung der Fortbildungsmotivation des Fachkräftenachwuchses und die Verbesserung der beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, also generell die Gleichstellung der Förderung von allgemeiner und beruflicher Bildung. Im Jahre 2015 wurden hierbei 162 000 Personen gefördert. Die Förder224

summe, die das Sozialbudget ausweist, betrug im Jahr 2012 nahezu 0,2 Mrd. Euro, wobei der Bund 78 % übernahm und die Länder 22 %. Zusammenfassend lässt sich positiv festhalten, dass seit der Jahrhundertwende sowohl die Zahl der Bezieher von Ausbildungsförderung als auch die Aufwendungen bzw. Leistungen gestiegen sind.

9. Der deutsche Sozialstaat gemäß dem Sozialbudget Das folgende Kapitel versucht eine Gesamtschau zum deutschen Sozialstaat, d.h. seiner Leistungen und Kosten seit der Wiedervereinigung bzw. schwerpunktmäßig seit der Jahrhundertwende basierend auf dem zusammenfassenden Sozialbudget. Der Zeitraum umfasst punktuell die beiden letzten Kabinette Bundeskanzler Kohls und vor allem die Phase der rot-grünen Regierung Schröder mit ihren gravierenden sozialpolitischen Reformen, die erste Große Koalition unter Angela Merkel mit der unvermittelt eintretenden weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise und schließlich die beiden weiteren Kabinette Merkels bei einem bis in die unmittelbare Gegenwart anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung und den seit 2013 unter maßgeblicher Federführung des sozialdemokratischen Regierungspartners implementierten sozialpolitischen Korrekturen. Den Schluss bildet ein punktueller Vergleich der bundesdeutschen Sozialstaatsentwicklung mit der entsprechenden Entwicklung in Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Als Grundlage dieser Gesamtschau zum deutschen Sozialstaat fungiert das Sozialbudget der Bundesregierung, das jährlich veröffentlicht wird und eingehend über die Adressaten der einzelnen Bereiche des Sozialstaates und insbesondere die finanzielle Seite informiert. Wir haben die Ausführungen in den alle vier Jahre vorgelegten Sozialberichten der Bundesregierung herangezogen. Somit rücken wir den 225

„handgreiflichsten Indikator der Entwicklung des Sozialstaats, die Veränderung der Sozialausgaben vor und nach dem Boom“225 in den Mittelpunkt. Eine die Ausführungen leitende Fragestellung liegt darin, etwaige strukturelle Änderungen und neue Tendenzen hinsichtlich eines eventuellen Umbaus oder gar Abbaus des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland zu identifizieren und herauszuarbeiten. Das Sozialbudget beinhaltet die absolute Höhe der Leistungen und deren Relation zum Bruttosozialprodukt (= Sozialleistungsquote) sowie weitere Ergebnisse entsprechend dem Verwendungszweck, d.h. der Funktion und der Leistungserbringer, also den Institutionen und der Leistungsart. Das Sozialbudget bietet somit als „Entscheidungsinstrument der Sozialpolitik“ die „umfassendste Informationsquelle über das aktuelle Ausmaß der Absicherung der Menschen gegenüber den zentralen Lebensrisiken“226. Der Ausbau des bundesdeutschen Sozialstaates im Zeitabschnitt von ca. 1960 bis in die Mitte der 1970er Jahre zeigte sich an den im Sozialbudget abgebildeten Sozialleistungen, die in dieser Phase der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zur damaligen Wirtschaftsleistung überproportional angestiegen waren. Die folgenden Jahre bis zur Wiedervereinigung wechselten zwischen Phasen der Konsolidierung und weiteren sozialpolitischen Ausbau, bevor die Wiedervereinigung „außergewöhnliche Herausforderungen an die sozialen Sicherungssysteme“ stellte. Im Einzelnen werden folgende Indikatoren aus dem Sozialbudget angeführt: Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt, Sozialleistungen nach der Funktion, Sozialleistungen gemäß der Institution, Arten der Finanzierung und Finanzierungsquellen

225 226

Leisering, Expansion, S. 217. Sozialbericht 2013, S. 169 und ebenda (das folgende Zitat). 226

sowie ein knapper Vergleich des deutschen Sozialstaats innerhalb der Europäischen Union.

9.1

Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt

Eine wesentliche Kennziffer im Sozialbudget bildet die Höhe der Leistungen absolut wie auch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (= Sozialleistungsquote), so dass zuerst ein Blick auf die Gesamtentwicklung der Sozialleistungen, d.h. die Sozialausgaben geworfen wird. Dabei stehen die Sozialleistungsquote, die über das „volkswirtschaftliche Gewicht sozialer Leistungen“ informiert, und das Bruttoinlandsprodukt im Mittelpunkt. Zu den Korrelationen zwischen den Sozialleistungen und der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BiP) informiert die folgende Übersicht:227 Tabelle 23: Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt Jahr

Sozialleistungen insg. Mrd. Euro

1991 1992 1993 1994 1995 1996

227

395,5 448,6 473,3 495,9 523,1 552,9

Sozialleistungsquote in %

Veränd. in % zum Vorjahr 13,4 5,5 4,8 5,5 5,7

25,0 26,5 27,1 27,1 27,5 28,7

Bruttoinlandsprodukt Mrd. Euro Veränd. in % zum Vorjahr 1 579,8 1 695,3 7,3 1 748,6 3,1 1 830,3 4,7 1 898,9 3,7 1 926,3 1,4

Tabelle nach Sozialbericht 2017, S. 196. Die Sozialleistungen sind ab 2009 wegen der Berücksichtigung der privaten Krankenversicherung mit den vorherigen Jahren nicht vergleichbar. P = vorläufig. 227

1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015p

556,6 570,0 591,2 608,0 625,6 648,0 660,9 659,3 665,5 665,6 674,2 694,5 751,2 768,8 773,6 791,3 819,9 849,0 885,4

0,7 2,4 3,7 2,8 2,9 3,6 2,0 -0,2 0,9 0,0 1,3 3,0 2,3 0,6 2,3 3,6 3,5 4,3

28,3 28,2 28,6 28,7 28,7 29,3 29,8 29,0 28,9 27,8 26,8 27,1 30,5 29,8 28,6 28,7 29,0 29,0 29,2

1 967,1 2 018,2 2 064,9 2 116,5 2 179,9 2 209,3 2 220,1 2 270,6 2 300,9 2 393,3 2 513,2 2 561,7 2 460,3 2 580,1 2 703,1 2 758,3 2 826,2 2 923,9 3 032,8

2,1 2,6 2,3 2,5 3,0 1,4 0,5 2,3 1,3 4,0 5,0 1,9 -4,0 4,9 4,8 2,0 2,5 3,5 3,7

Zunächst ist festzuhalten, dass sich von 1991 bis 2015 die Sozialleistungen, also die Sozialausgaben, auf 885 Mrd. Euro mehr als verdoppelt haben. Von 1991 bis 2008 stiegen die Sozialleistungen um rund 300 Mrd. Euro an, was einem jährlichen Durchschnittswachstum von 3,4 % entsprach. Demgegenüber wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BiP) mit durchschnittlich 2,9 % weniger stark. Die ungleiche Entwicklung zwischen den beiden Indikatoren ist „jedoch in erster Linie eine Folge der Leistungsausweitungen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung“228 vor allem wegen der Überleitung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die ostdeutschen Länder, was die außerordentliche Zunahme der Sozialleistungen 1992 verdeutlicht. Wie ersichtlich war bis 1996 die jährliche Zuwachsrate der Sozialleistungen mit 6,9 % nachhaltig höher als die Zuwächse des BiP (rund 228

Sozialbericht 2017, S. 195. 228

vier Prozent). Die folgenden Jahre bis 2008 standen demgegenüber mehr im Zeichen unterschiedlich langer Konsolidierungsphasen, so dass von 1996 bis 2008 die Sozialleistungen im Jahresdurchschnitt nur noch um ca. 1,9 % anstiegen und sich demzufolge deutlich unterhalb des langfristigen Durchschnitts seit 1991 bewegten. Hingegen verzeichnete das BiP mit einer jährlichen Wachstumsrate von rund 2,4 % sichtbar höhere Zuwächse. Von 1999 bis 2004, dem Jahr mit einem Minuswachstum der Sozialleistungen, verlief das jährliche Wachstum der Sozialleistungen dennoch höher als dasjenige des BiP. Interessant ist der Befund zum Jahr 2005, wo ein Anstieg von lediglich 0,9 % zu verzeichnen war, obwohl in diesem Jahr die heftig umstrittene Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) eingeführt worden war. Als Erklärung für dieses verhaltene Ansteigen gilt, dass zwar einerseits durch die Grundsicherung Mehrausgaben entstanden waren, aber andererseits erhebliche Einsparungen bei der Arbeitslosenhilfe, beim Wohngeld und auch bei der Sozialhilfe sowie in der gesetzlichen Krankenversicherung eintraten. Auch Nullrunden bei den Renten infolge der geringen Lohnsteigerungen wirkten sich 2005 und 2006 bremsend aus. Der markante Anstieg der Sozialleistungen im Jahre 2009 resultiert zum einen aus einer statistischen Änderung, demzufolge die Grundleistungen der privaten Krankenversicherung nun mit einbezogen wurden, und zum anderen ließ die Finanzkrise einschneidende Spuren in der Arbeitslosenversicherung und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zurück. Hier waren erheblich mehr Ausgaben notwendig, so dass mit 30,5 % ein Höchstwert der Sozialleistungsquote erreicht wurde. Insofern können die Gesamtwerte der Sozialleistungen nach 2009 mit den vorherigen Ergebnissen nicht direkt verglichen werden. Nach Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise übertraf das jährliche Wachstum des BiP zunächst deutlich das der Sozialleistungen, aber seit 2012 war die Wachstumsrate der Sozialleistungen wieder höher. Von 2009 bis 2016 stiegen schließlich die Sozialausgaben auf rund 918 Mrd. Euro, was einem jährlichen Zuwachs von 2,9 % entsprach, während das 229

BiP sogar rund 3,5 % im Jahresdurchschnitt zunahm. Fasst man den Zeitraum nach der Wiedervereinigung 1991 bis 2015 zusammen, so wuchsen die Sozialleistungen um 123,9 %, während der Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt lediglich 92,0 % betrug. Auch dieser Befund aus einer „Vogelperspektive“ spricht gegen pauschal vorgetragene Thesen vom Abbau des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts der enormen Steigerungen der Sozialleistungen seit Anfang der 1990er Jahre ist auf den ebenfalls starken Anstieg des Bruttoinlandsprodukts zu verweisen, dessen Wert sich von Jahr 1991 auf über 3 000 Mrd. Euro im Jahr 2015 nahezu verdoppelte. Demnach stand die Leistungsausweitung der Sozialausgaben in Wechselwirkung und im Einklang mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wenngleich diese immer zeitversetzt eintrat, d.h. die ökonomischen Veränderungen machten sich erst ein Jahr später in der Entwicklung der Sozialleistungen bemerkbar. Lässt man die Phase der unmittelbaren Wiedervereinigung beiseite, so stand die Entwicklung der Sozialleistungen laut Urteil der Bundesregierung im hier betrachteten Zeitraum „im Wesentlichen im Einklang mit dem Wirtschaftswachstum, die Ausweitung von Leistungen korrespondierte mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“229. Für den Zeitraum von 1992 bis 2015 lag das Wachstum der Sozialleistungen in 13 Jahren höher als dasjenige des Bruttoinlandsprodukts, das in neun Jahren dasjenige der Sozialleistungen übertraf. Einmal waren die prozentualen Raten identisch und für 2009 gab es keine Angabe bei den Sozialleistungen. Aus dieser Perspektive gesehen kann von einem Abbau des bundesdeutschen Sozialstaats in den letzten zwei Dekaden nicht die Rede sein. Schließlich zur Sozialleistungsquote: Unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1991 lag die Sozialleistungsquote bei 25 % und stieg bis 1996 auf 28,7 %, wofür der Wiedervereinigungsprozess, die Ein229

Sozialbericht 2013, S. 171. 230

führung der Pflegeversicherung und die Neuordnungen des Familienlastenausgleichs verantwortlich zeichneten. Aufgrund der ungünstigen Wirtschaftsentwicklung nach 2001 beschleunigte sich ihr Anstieg, so dass 2003 mit 29,8 % ein neuer Höchststand erreicht war. Danach sank die Quote der Bundesregierung zufolge wegen der Konsolidierungsmaßnahmen in der Sozialversicherung und dem einsetzenden Wirtschaftsaufschwung bis auf 26,8 % im Jahre 2007. Die Rezession infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 bewirkte jedoch einen vorübergehenden starken Anstieg der Sozialleistungen bei gleichzeitigem Einbruch des BiP, so dass die Sozialleistungsquote auf 30,5 % anwuchs. Seit 2011 stabilisierte sich die Quote wieder auf einen Wert um die 29 %, wobei der etwas stärkere Zuwachs 2013 auf den Wegfall der Praxisgebühr, der Verbesserung der Finanzsituation der Krankenhäuser und dem forcierten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe zurückzuführen ist.

9.2

Sozialleistungen nach der Funktion

Hier werden im Sozialbudget die Leistungen gemäß der jeweiligen Zweckbestimmung vorgestellt, d.h. es geht um soziale Tatbestände, Risiken oder Bedürfnisse, die eine Sozialleistung begründen. Es wird also informiert, wie hoch welche Sozialleistung für welches Lebensrisiko gewährt wird. Nicht entscheidend ist die Frage, wer die Sozialleistung erbringt. Dabei differenziert das Sozialbudget zehn Funktionen: Krankheit, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Kinder, Ehegatten, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Wohnen und allgemeine Lebenshilfen, die in fünf Gruppen zusammengefasst werden. Setzt man die den Funktionen zugeordneten Leistungen in Relation zur gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bruttoinlandsprodukts, so wurde ein gutes Fünftel der Wirtschafts-

231

kraft für die Risiken Alter, Hinterbliebene, Krankheit und Invalidität aufgewendet. Zunächst blicken wir auf die Funktionen insgesamt:230 Tabelle 24: Gesamtüberblick nach den Funktionen (in Mrd. Euro) Jahr

1991 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

230

Sozialbudget (insg.) 397,3 646,0 625,2 648,6 661,6 661,8 669,3 670,0 675,6 693,7 747,4 764,6 768,1 782,4

Funktionen (Ausgaben in Mrd. Euro) Alter u. Krankheit Kinder, EheHinteru. Invalidi- gatten u. bliebene tät Mutterschaft 156,7 154,7 34,9 244, 4 221,4 96,2 253 2 228,5 97,1 260,1 229,3 100,9 266,5 232,8 101,9 270,2 227,8 101,4 272,8 231,3 97,3 274,8 234,9 94,8 276,4 243,2 97,1 283,0 259,3 69,9 290,3 287,1 75,1 295,2 295,5 80,2 297,6p 303,3p 81,9p 303,9 315,6 85,2

Arbeits- Wohnen u. losigkeit Allgemeine Lebenshilfen 32,2 5,3 61,7 22,3 61,9 21,8 52,8 17,6 54,8 18,9 54,4 19,7 51,1 24,8 47,3 25,6 42,6 24,4p 35,7 18,9 45,0 20,1 42,3 20,7 34,3 20,4p 31,5 20,4

Der Gesamtüberblick ist zusammengestellt nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 258ff., S. 262; Sozialbericht 2013, S. 170, S. 175 mit den Zahlen der dortigen Abbildung 6 und Tabelle II (T 6) sowie Sozialbericht 2017, S. 201ff. und Anhang T 6. Die Angaben ab 2008 beinhalten keine steuerlichen Leistungen mehr. Die Funktionen hatten zum Teil nicht durchgehend die gleiche Titulierung, so hieß die Funktion Krankheit und Invalidität 2005 noch Funktion Gesundheit, die Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft lauteten 2001 noch Ehe und Familie und die Funktion Arbeitslosigkeit hieß vormals noch Funktion Beschäftigung. Die Werte zum Sozialbudget insgesamt zu 2013 sind Ergebnisse von Modellrechnungen. Die Angaben zum Jahr 2002 hier ohne Konsolidierung der Beiträge des Staates. P = vorläufig. 232

2013 2014 2015p

819,9 849,2 885,4

308,8 318,4 331,5

332,4 347,1 363,2

88,6 91,9 96,2

32,3 31,8 31,0

21,4 22,6 25,7

Die Ausgabenschwerpunkte lagen bei den Funktionen Alter und Hinterbliebene sowie Krankheit und Invalidität. Bis zum Jahr 2009 waren die Aufwendungen der Funktion Alter und Hinterbliebene am höchsten, bevor die Funktion Krankheit und Invalidität an die erste Stelle rückte, wobei die private Kranken- und Pflegeversicherung seit 2009 miteinbezogen wurde. Den durchgehend niedrigsten Wert verzeichnete die Funktion Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen, vormals unter „Übrige Funktionen“ subsumiert. Ordnet man die Funktionen nach ihrem Anteil an den Sozialleistungen, so kann man den jeweiligen Stellenwert der verschiedenen Funktionen im Gesamtgefüge der Sozialleistungen festmachen.231 Tabelle 25: Leistungen und Finanzierung der Funktionen – Sozialbudget insgesamt in % Leistungen nach Funktionen Krankheit Invalidität Alter Hinterbliebene Kinder Ehegatten

231

1991 100,0

2000 100,0

2005 100,0

2010 100,0

2013s 100,0

2014s 100,0

2015p 100,0

32,5 7,7 30,3 10,7 7,7 4,3

29,7 8,1 32,8 8,9 10,2 4,2

26,5 7,5 32,9 7,3 10,2 3,5

32,5 7,7 33,0 7,2 10,3 0,3

34,4 8,0 32,7 7,0 10,5 0,3

35,0 8,0 32,3 6,8 10,6 0,3

34,7 8,1 32,5 6,6 10,7 0,3

Tabelle erstellt nach den Angaben bei Sozialbericht 2009, T 7, Sozialbericht 2013, T 7 (ohne Verwaltungs- und sonstige Ausgaben); Sozialbudget 2014, S. 14; Sozialbericht 2017, T 7 (2015). Ab 2009 einschließlich der privaten Krankenversicherung. Nach 2005 werden steuerliche Leistungen nicht mehr berücksichtigt. Bei den Angaben zu 2013 handelt es sich um Modellberechnungen. S = Schätzung und p = vorläufig. 233

Mutterschaft Arbeitslosigkeit Wohnen Allgemeine Lebenshilfen

0,4 8,4 1,0 0,4

0,3 7,5 1,1 0,5

0,7 7,5 3,1 0,6

0,4 5,8 2,3 0,5

0,3 4,2 2,1 0,6

0,3 3,9 2,1 0,7

0,3 3,7 2,0 1,0

Die Funktionen Krankheit und Alter stellten durchgehend den größten Anteilsfaktor an den gesamten Funktionen dar, gefolgt seit dem Jahr 2000 von der Funktion Kinder. Die Funktionen Krankheit und Alter untermauerten somit ihren herausragenden Stellenwert im Sozialbudget. Nach 2010 vergrößerte sich der Anteil von Krankheit im Vergleich zur Funktion Alter. Rückgänge an den gesamten Funktionen weist die Funktion Hinterbliebene auf und entsprechend den Schwankungen der Arbeitsmarktentwicklung verlief auch die Funktion Arbeitslosigkeit nicht kontinuierlich, jedoch ist der Rückgang seit 2005 infolge der positiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung unverkennbar. Blicken wir noch genauer auf die einzelnen Funktionen und differenzieren ihre einzelnen Bestandteile bzw. Ausgabeposten, wobei wie oben erwähnt Krankheit und Invalidität dominierten.232 Tabelle 26: Leistungen der Funktionen Krankheit und Invalidität (in Mrd. Euro) Sozialleistungen Leistungen insgesamt Krankheit insgesamt: Vorbeugung/Rehabilitation Krankheit Arbeitsunfall, Berufskrankheit

232

1991 149,0 7,9 108,7 9,9

2001 228,5 12,6 154,7 13,3

2005 231,3 179,2 -

2009 287,1 232,0 -

2013 323,4 269,5 -

2015p 363,2 294,2 -

Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 259; Sozialbericht 2013, S. 176; Sozialbericht 2017, S. 202. Die Angaben zu den Jahren 1991 und 2001 fassen die jeweiligen Ausgaben zusammen und sind hier nur bedingt mit den nachfolgenden Jahren zu vergleichen. 234

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Krankengeld Übergangsgeld bei Heilbehandlung Steuerliche Leistungen Stationäre und ambulante Behandlung Sonstige Leistungen (v.a. Beihilfen) Invalidität insgesamt Invaliditätsrenten Pflegegeld und Pflegehilfen Wirtschaftliche Eingliederung Behinderter Steuerliche Leistungen Sonstige Leistungen233

-

-

28,8

34,5

46,8

50,3

-

-

0,9

1,1

1,3

1,4

-

-

0,1 133,3

176,1

197,3

215,9

-

-

16,1

20,3

24,1

26,6

22,6 -

48,0 -

52,1 24,9 4,9 9,2

55,1 24,4 9,7 10,8

62,9 26,7 12,8 12,5

69,0 28,2 15,0 13,9

-

-

1,0 12,2

10,1

11,0

11,9

Betrachtet man die Gesamtausgaben dieser Funktion, so fiel das enorme Ansteigen seit 1991 bis 2015 mit weit mehr als einer Verdoppelung auf. Im Einzelnen handelt es sich bei der Funktion Krankheit um die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und das Krankengeld, das Übergangsgeld bei der Heilbehandlung, stationäre und ambulante Behandlung sowie sonstige Leistungen (Beihilfen). Alleine in den zehn Jahren zwischen 2005 und 2015 nahmen die stationären und ambulanten Behandlungen – also die Sachleistungen – um mehr als 80 Mrd. Euro zu. Wegen der Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in das Sozialbudget seit 2009 ist deren Wert insgesamt stark angestiegen. Knapp zwei Drittel aller Leistungen dieser Funktion waren Sachleistungen – in erster Linie der gesetzlichen Krankenversicherung – für ärztliche, zahnärztliche und sonstige medizinische und sanitäre Dienste einschließlich der Krankenhausaufenthalte. Die gesamten Aufwendungen für den Komplex Invalidität erlebten von 1991 bis 2015 mehr als eine Verdreifachung. In nur zehn

233

Hierunter fallen Haushaltshilfen, nicht-medizinische Rehabilitation. 235

Jahren von 2005 bis 2015 stiegen vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl Pflegebedürftiger wie auch der qualitativen Verbesserung der Pflege die Ausgaben für Pflegegeld und Pflegehilfen ebenfalls um das Dreifache. Unter die Funktion Invalidität fallen die Invaliditätsrenten, Pflegegeld und Pflegehilfen, die wirtschaftliche Eingliederung Behinderter und sonstige Leistungen (Haushaltshilfen, nicht-medizinische Rehabilitation). Bei den zweitgrößten Funktionen Alter und Hinterbliebene geht es um Altersrenten, Ruhegelder und sonstige Leistungen sowie bei der Funktion Hinterbliebene um Witwer- und Witwenrenten und -bezüge, Waisenrenten und sonstige Leistungen. Es handelt sich also vorrangig um Einkommensleistungen wie Renten der gesetzlichen Rentenversicherung, Pensionen und Renten der betrieblichen Altersversorgung, der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, der Alterssicherung der Landwirte sowie Renten aus der privaten Altersvorsorge und auch die Entschädigungsrenten der Unfallversicherung. Aufgrund unterschiedlicher Systematiken bei den Sozialberichten trennt die folgende Übersicht den Zeitraum von 1991 bis 2001 vom nachfolgenden Zeitraum ab 2005:234 Tabelle 27: Leistungen der Funktionen Alter und Hinterbliebene (in Mrd. Euro) Sozialleistungen Leistungen insgesamt Alter insgesamt Alter Altersrenten, Ruhegelder Sonstige Leistungen

234

1991 162,1 155,4 -

2001 253,2 244,8 -

2005 272,8 223,0 221,2 0,5

2009 290,3 238,0 237,1 0,9

2013 308,8 254,7 253,6 1,1

2015 331,5 275,7 274,4 1,3

Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 258; Sozialbericht 2013, S. 175 und ebenda, T 6; Sozialbericht 2017, S. 201. 236

Hinterbliebene Hinterbliebene insgesamt

6,6 -

8,4 -

49,8

52,3

54,1

55,8

Witwer- u. Witwenrenten u. -bezüge Waisenrenten Sterbegeld Sonstige Leistungen

-

-

49,0

50,5

52,2

54,0

-

0,4 0,4

1,1 0,3s 0,7

1,1 0,7

1,0 0,8

-

Bis 2015 verzeichneten die gesamten Leistungen mehr als eine Verdoppelung im Vergleich zum Ausgangsjahr 1991, wobei die Leistungen für die Funktion Alter deutlich zugenommen haben und rund das Fünffache derjenigen der Funktion Hinterbliebene ausmachten. Die Ausgaben für Hinterbliebene blieben zumindest seit 2005 hingegen weitgehend auf dem gleichen Niveau. An dritter Stelle unter den Funktionen rangieren die Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft (vormals Ehe und Familie), wobei die Funktion Kinder das Eltern-, Erziehungs- und Betreuungsgeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, den Familienleistungsausgleich, die Kinder- und Jugendhilfe einschließlich den Unterhaltsvorschuss, Familienzuschläge und -beihilfen für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die Einkommenssicherung bei der Ausbildung und sonstige Leistungen beinhaltet. Zur Funktion „Ehegatten“ zählen Familienzuschläge und -beihilfen für Beamte (die Familienzuschläge für Ehegatten werden bei der Funktion Ehegatten seit 2006 nur noch nach dem Beamtenrecht verbucht) und unter die Funktion „Mutterschaft“ fallen die Entgeltfortzahlung bei Mutterschaft und das Mutterschaftsgeld während der Schutzfrist. Aufgrund unterschiedlicher Systematiken bei den Sozialberichten ist wiederum die folgende Tabelle nicht durchgehend einheitlich aufgebaut:235

235

Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 260; Sozialbericht 2013, S. 177; Sozialbericht 2017, S. 203. Bis 2005 noch mit steuerlichen Maßnahmen. 237

Tabelle 28: Leistungen der Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft (in Mrd. Euro) Sozialleistungen Leistungen insgesamt Kinder insgesamt: Eltern-/Erziehungs-/Betreuungsgeld Kindergeld, -zuschlag, Familienleistungsausgleich Kinder- und Jugendhilfe Familienzuschläge und -beihilfen Waisenrenten Steuerliche Leistungen236 Einkommenssicherung bei der Ausbildung Sonstige Leistungen

1991 59,8 39,3 -

2001 97,1 66,6 -

2005 97,3 68,8 3,1 39,8

2009 75,1 70,3 4,7 39,0

2013 88,6 83,7 5,3 41,6

2015p 96,2 91,0 6,8 42,9

-

-

18,0 0,5 1,2 4,4 1,7

22,9 1,6 2,0

31,4 2,8 2,4

36,0 2,9 2,3

-

0,1

0,1

0,1

Ehegatten Ehegatten insgesamt: Familienzuschläge und -beihilfen Steuerliche Maßnahmen (überwiegend Ehegattensplitting) Sonstige Leistungen

17,5 -

23,7 3,9 19,8

2,1 2,1 -

2,5 2,5 -

2,6 2,6 -

0,0

0,1

0,1

-

Mutterschaft Mutterschaft insgesamt: Entgeltfortzahlung bei Mutterschaft Mutterschaftsgeld Ambulante und stationäre Leistungen bei Entbindung

3,1 -

4,8 1,1 1,1 2,6

2,7 1,4 1,3 -

2,4 1,7 0,6 -

2,7 2,0 0,7 -

26,1 -

4,4 -

Hier ragten die Leistungen zum Familienleistungsausgleich als größter Einzelposten heraus wie auch die Kinder- und Jugendhilfe, die sich in nur zehn Jahren bis 2015 verdoppelten. Die Leistungen für Kinder sind seit 2005 stark um weit mehr als das Doppelte gestiegen und spiegeln die vielfältigen, an anderer Stelle bereits erwähnten Investitionen auf 236

U.a. Kinderzulage im Zusammenhang mit der Eigenheimzulage. 238

diesem Sektor des bundesdeutschen Sozialstaates nach der Jahrhundertwende wider. Auch die Verdoppelung der Aufwendungen für Kinder- und Jugendhilfe von 2005 bis 2015 verdient Erwähnung. Mit deutlichem Abstand zur letztgenannten Funktion folgt die Funktion Arbeitslosigkeit (vormals Funktion Beschäftigung), die das Arbeitslosengeld I und II, Qualifizierungsmaßnahmen, Vorruhestandsgeld aufgrund der Arbeitsmarktlage, Kurzarbeit- und Schlechtwettergeld, Wintergeld, Leistungen und Zuschüsse an Arbeitgeber (u.a. Leistungen nach dem Arbeitsteilzeitgesetz oder den Gründungszuschuss) sowie sonstige Leistungen (Zuschüsse zu ABM, zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten, Insolvenzgeld) umfasst. In der großen Krise 2008/09 war das Kurzarbeitergeld eines der wesentlichen Mittel zur Krisenbewältigung und ragte demzufolge hier hervor, wenngleich in den anschließenden Jahren dieser Anteil wieder zurückging. Die Tabelle wiederum ist wegen der nicht durchgehenden identischen Erfassungssystematik für den Zeitraum nach 2001 geteilt:237 Tabelle 29: Leistungen der Funktion Arbeitslosigkeit (in Mrd. Euro) Sozialleistungen Leistungen insgesamt Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe/Arbeitslosengeld II Qualifizierungsmaßnahmen Berufliche Bildung Mobilität Arbeitslosigkeit Vorruhestandsgeld aufgrund der Arbeitsmarktlage Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeld, Wintergeld

237

1991 41,2 -

2001 61,9 -

2005 51,1 32,7

2009 45,0 25,0

2013 32,3 22,7

2015p 31,0 22,7

10,3 7,8 23,1 -

14,6 10,4 36,8 -

3,9 0,2

3,8 1,5

2,5 1,6

2,5 0,9

-

-

0,8

3,9

1,2

0,9

Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 262; Sozialbericht 2013, S. 179; Sozialbericht 2017, S. 205. 239

Leistungen und Zuschüsse an Arbeitgeber Steuerliche Leistungen Sonstige Leistungen238

-

-

3,6

2,6

0,3

0,4

-

-

2,4 7,5

8,3

4,0

3,6

Die Ausgaben der Funktion Arbeitslosigkeit zeigen aufgrund der unterschiedlich verlaufenden Entwicklung des Arbeitsmarktes dementsprechend auch eine unterschiedliche Verlaufskurve. Ausgehend von 2001 sanken die gesamten Ausgaben bis zum Jahr 2015 deutlich um die Hälfte und untermauern die positive Arbeitsmarktentwicklung seit 2005. Dabei verminderten sich die Ausgaben für die Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengelder) sichtbar wie auch, was durchaus mit kritischem Blick gesehen werden kann, die Aufwendungen für Qualifizierungen oder Förderung der Arbeitsgelegenheit. Schließlich werfen wir noch einen Blick auf die Funktionen Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen (vormals übrige Funktionen), die das Wohngeld, Leistungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II und XII, Leistungen für besondere Notlagen oder zur sozialen Eingliederung umfassen:239 Tabelle 30: Leistungen der Funktionen Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen (in Mrd. Euro) Sozialleistungen Leistungen insgesamt Wohnen insgesamt Unterkunft bei Sozialhilfe/ALG II, Wohngeld Folgen politischer Ereignisse 238

239

1991 14,9 -

2001 21,8 -

2005 24,8 20,7 13,8

2009 20,1 16,6 16,6

2013 21,4 16,6 16,6

2015p 25,7 16,9 16,9

1,8

2,7

-

-

-

-

U.a. Zuschüsse zu ABM, zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten, Insolvenzgeld. Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 195; Sozialbericht 2009, S. 262; Sozialbericht 2013, S. 179; Sozialbericht 2017, S. 205. 240

Wohnen Sparen/Vermögensbildung Allgemeine Lebenshilfe Allgemeine Lebenshilfe insgesamt Einkommensunterstützung bei sozialer Ausgrenzung Steuerliche Leistungen Sonstige Leistungen

5,0 6,2 2,0

7,1 10,1 2,0

-

-

-

-

-

-

4,1

3,5

4,9

8,9

-

-

2,8

2,7

3,7

5.5

-

-

0,2 1,1

0,8

1,2

3,4

Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 sind die Leistungen der Funktion Wohnen im Sozialbudget deutlich angestiegen, hingegen fielen die Ausgaben für die Funktion Wohnen, da die Wohngeldausgaben wegen der Einführung der wohnbezogenen Leistungen in der Grundsicherung sanken. Die Aufwendungen zur allgemeinen Lebenshilfe (Sozialhilfe) haben sich seit 2005 mehr als verdoppelt, der starke Anstieg im Jahr 2015 ist auf die Flüchtlingszuwanderung zurückzuführen.

9.3

Sozialleistungen gemäß der Institution

Unter Institutionen werden hier Einrichtungen, Geschäftsbereiche der Gebietskörperschaften oder die Arbeitgeber verstanden. Dazu zählen im Einzelnen: – –

Sozialversicherungssysteme, also die Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung Sondersysteme, d.h. die Alterssicherung der Landwirte, Versorgungswerke, d.h. berufsständische Zusammenschlüsse von Angehörigen freier Berufe wie Ärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Bauingeni-

241

– –

– –

eure, private Altersvorsorge, private Krankenversicherung und die private Pflegeversicherung Systeme des öffentlichen Dienstes, also Pensionen, Familienzuschläge und Beihilfen Arbeitgebersysteme, d.h. die Lohnfortzahlung, betriebliche Altersvorsorge einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und sonstige Arbeitgeberleistungen Entschädigungssysteme, d.h. die soziale Entschädigung, der Lastenausgleich, Wiedergutmachung und sonstige Entschädigungen Förder- und Fürsorgesysteme wie das Kindergeld, der Familienleistungsausgleich, das Erziehungs- bzw. Elterngeld, das Betreuungsgeld, die Grundsicherung für Arbeitsuchende, sonstige Arbeitsförderung, Ausbildungs- und Aufstiegsförderung, Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe und Wohngeld

Hier dominierte in finanzieller Hinsicht die gesetzliche Sozialversicherung wie die folgende Gesamtübersicht verdeutlicht, wobei wir zunächst auf die Zahl der Versicherten bzw. Leistungsempfänger blicken, soweit diesbezügliche Angaben vorhanden sind:240 Tabelle 31: Gesamtübersicht I zu den Leistungen bzw. Leistungsempfängern nach Institutionen (in 1000) Institutionen Sozialversicherung: Rentenversicherung (Renten) Krankenversicherung (Versicherte) Pflegeversicherung (Pflegebedürftige) Unfallversicherung (Renten)

240

2002

2005

2009

2012

2015

23 492 70 783 1 889

24 305 70 500 1 952

24 801 70 012 2 235

25 008 69 704 2 396

25 236 70 728 2 665

1 136

1 093

1 002

823

783

Die Übersicht zusammengestellt aus den einzelnen Sozialberichten 2001, 2005, 2009, 2013 und 2017 sowie eigenen Berechnungen. 242

Arbeitslosenversicherung241 Sondersysteme: Alterssicherung der Landwirte (Renten) Versorgungswerke (Rentner) Private Altersvorsorge242 (Verträge) Private Krankenversicherung (Vollversicherte) Private Pflegeversicherung Pensionen, Familienzuschläge und Beihilfen (Versorgungsempfänger)

3 670

2 496

3 429

1 715

1 570

597

623

624

610

598

3 371

5 779

14 333

196 17 401

226 18 464

-

-

8 811

8 956

8 787

1 439

1 457

9 534 1 510

9 620 1 552

9 414 1 621

Systeme des öffentlichen Dienstes: Arbeitgebersysteme (nur BAV)

14 600 11 600 18 700 19 500 (2001) (2011) Entschädigungssysteme (Berechtigte) 825 rd. 550 rd. 398 rd. 238

Förder- und Fürsorgesysteme: Kindergeld und Familienleistungsausgleich Elterngeld und Betreuungsgeld (Mütter und Väter) Grundsicherung für Arbeitsuchende243 Ausbildungs- und Aufstiegsförderung244 241

242 243 244

20 400 128 (2016)

-

-

-

-

-

-

6 756

874 (2013) 6 285

933

-

752 (2007) 6 727

6 245

-

664 (2004)

751 (2010)

1 147

1 032

Hierzu wurden die Empfänger von Arbeitslosengeld, Empfänger von Kurzarbeitergeld, Teilnehmer von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und Maßnahmen der Beruflichen Bildung (SGB III) zusammengefasst. Umfasst die Riester- und Basisrenten-Verträge (Rürup-Rente). Personen in Bedarfsgemeinschaften. Zahlen nach Datenreport 2016, S. 96 u. S. 98 (Studierende einschließlich Schüler und Aufstiegsförderung nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz). 243

Sozialhilfe245 (Leistungsempfänger) Kinder- und Jugendhilfe

4 108 -

1 710 -

1 905 -

Wohngeld (Haushalte)

2 800 (1999)

3 500 (2004)

600 (2008)

2 235 rd. 914 (2014) 782

3 274 460

In Bezug auf den Personenkreis bzw. die Empfänger der Leistungen von Anfang des neuen Jahrhunderts bis 2015 kann man stichpunktartig festhalten: Zahlenmäßig dominierte die Sozialversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen, wobei die Kranken- und die Rentenversicherung rund 90 % der Bevölkerung erreichte. Kontinuierlich wuchs infolge der Alterung der Gesellschaft und deren Begleiterscheinung die Zahl der Pflegebedürftigen. Aber auch die Sozialhilfe erreichte zumindest bis zur Reform und Einführung der Grundsicherung 2005 hohe Empfängerzahlen, der steile Anstieg 2015 ist eine Folge der außerordentlichen Flüchtlingszuwanderung in diesem Jahr. Wohngeldempfänger gingen aufgrund der Reformen 2005 („Hartz IV“) zurück, hingegen stiegen die Empfängerzahlen in der Ausbildungs- und Aufstiegsförderung in den letzten Jahren wieder an. Einen quasi natürlichen Rückgang verzeichnete die Entschädigung, also vor allem die Kriegsopferversorgung auf rund 230 000 Berechtigte im Jahre 2012. Zuwächse finden sich in der Ausbildungsförderung einschließlich der Aufstiegsfortbildung. Der deutliche Rückgang bei den Empfängern von Leistungen der Sozialhilfe seit 2005 muss auf die Reform und Einführung der Grundsicherung zurückgeführt werden, wie an anderer Stelle bereits eingehender beschrieben wurde.

245

Mit der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und den Regelleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit sowie Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Allerdings sind hier Doppelzählungen mit enthalten. 244

Lenkt man mit Manfred G. Schmidt246 den Blick auf die Sozialstaatsklientel, so wird der enorme Umfang des Kreises der Bevölkerung deutlich, der – in unterschiedlichem Ausmaß – vom Sozialstaat abhängig ist bzw. von ihm profitiert. Die größte Gruppe stellten demzufolge wie erwähnt die verschiedenen Rentenbezieher einschließlich der Pensionäre dar. Rund 90 % der Bevölkerung war in der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der Familienversicherung abgesichert. Eine kontinuierlich zunehmende Zahl von Personen war pflegebedürftig und bezog Leistungen aus der Pflegeversicherung. Hingegen ist die Zahl der Rentenbezieher aus der Unfallversicherung seit 2002 zurückgegangen. Erwähnenswert sind auch die rückläufigen Zahlen der Arbeitslosenversicherung, da sich die konjunkturelle Lage immer mehr verbesserte, allerdings bleibt ein relativ hoher Anteil von Personen, die auf die 2005 eingeführte Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sind (Langzeitarbeitslose). Bei den Sondersystemen sei nur auf die mehr als 17 Mio., mittlerweile überwiegend kritisch beurteilten, sog. Riesterrentenverträge im Rahmen der 2001 ins Leben gerufenen privaten Altersvorsorge verwiesen. Manfred G. Schmidt unterstreicht die enorme Bedeutung des deutschen Sozialstaats unter dem Blickwinkel des ihn beanspruchenden Personenkreises, denn dieser betrifft letztendlich fast die gesamte Wohnbevölkerung, die einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen hat.247 Schlägt man politisch einen Bogen zu den Wählern, wird die politische Bedeutung des Sozialstaats offensichtlich wie auch die vorliegende Bilanz untermauert, denn rund 40 Prozent der Wahlberechtigten finanzierten ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Sozialleistungen (rund 25 Mio. Bürger). Zu diese Sozialstaatsklientel zählten die Rentner bzw. Pensionisten als größte Gruppe, gefolgt von den Empfängern von

246 247

Vgl. Schmidt, Sozialstaat, S. 32f., S. 33 (das folgende Zitat). Vgl. Schmidt, Sozialstaat, S. 31ff. und unten im Abschnitt zum Fazit. 245

Leistungen aus den Mindestsicherungssystemen, von Arbeitslosengeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kurzarbeiter usw. Wie sich die Leistungen bei den Institutionen in finanzieller Hinsicht verteilen, verdeutlicht die folgende Gesamtübersicht II zu den Institutionen:248 Tabelle 32: Gesamtübersicht II zu den Sozialleistungen nach Institutionen (Ausgaben in Mrd. Euro) Institutionen Sozialbudget insgesamt Sozialversicherung (insg.): Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Unfallversicherung Arbeitslosenversicherung Sondersysteme (insg.): Alterssicherung der Landwirte Versorgungswerke Private Altersvorsorge (Riesteru. Rürup-Rente) Private Krankenversicherung Private Pflegeversicherung Systeme des öffentlichen Dienstes:

248

1991 395,5 252,6 133,2 92,7 7,6 35,6

2002 648,6 460,3 233,3 142,1 17,3 11,4 56,2

2005 669,3 462,1 240,5 143,0 17,8 11,4 49,4

2009 747,4 497,9 250,8 169,8 20,3 12,0 45,0

2013s 808,3 527,1 264,9 195,3 24,5 12,4 30,0

2015p 885,4 534,2 282,5 211,9 27,9 12,9 27,4

3,7 2,5

5,4 3,1

6,1 3,1

24,1 3,0

27,9 2,8

33,0 2,8

1,1 -

2,3 -

3,0 -

3,9 0,1

4,6 0,3

5,6 0,4

-

-

-

16,4 0,7

19,3 0,9

23,1 1,1

35,6

52,8

53,5

58,1

64,5

71,4

Die Übersicht nach den Sozialberichten 2009, 2013 und 2017 sowie eigenen Berechnungen. Ohne steuerliche Leistungen gemäß den EU-Vorgaben. Bei den Institutionen sind die Verrechnungen enthalten, d.h. Leistungen zwischen den Institutionen (Übertragungen), wie z.B. die Ausgaben der Rentenversicherung für die Krankenversicherungsbeiträge der Rentner zugleich Einnahmen der Krankenversicherung sind. Ab 2009 enthält das Sozialbudget die privaten Krankenversicherungen. Es wurden die Ergebnisse gerundet. 246

Pensionen Familienzuschläge Beihilfen

23,3 5,9 6,5

36,1 7,0 9,7

37,1 6,1 10,3

42,6 3,1 12,4

47,8 3,2 13,5

53,1 3,5 14,8

Arbeitgebersysteme: Entgeltfortzahlung Betriebliche Altersversorgung Zusatzversorgung Sonstige Arbeitgeberleistungen

41,8 23,3 11,2 6,0 1,3

54,3 26,1 18,4 8,5 1,3

56,5 25,2 20,6 9,4 2

62,8 29,4 22,5 10,3 0,6

71,5 35,0 24,3 11,5 0,6

82,3 42,2 26,8 11,9 1,3

Entschädigungssysteme: Soziale Entschädigung Lastenausgleich Wiedergutmachung Sonstige Entschädigung

8,7 6,5 0,5 0,9 0,8

5,7 4,4 0,1 0,9 0,2

4,7 3,6 0,1 0,8 0,1

3,5 2,1 0,0 0,9 0,3

2,8 1,5 0,0 0,9 0,3

2,6 1,1 0,0 1,1 0,5

Förder- und Fürsorgesysteme: Kindergeld und Familienleistungsausgleich Elterngeld und Erziehungs-geld Grundsicherung für Arbeitsuchende u. sonstige Arbeitsförderung Arbeitslosenhilfe/sonstige Arbeitsförderung Ausbildungs- und Aufstiegsförderung Sozialhilfe Kinder- und Jugendhilfe Wohngeld

55,6 10,4

106,4 36,1

129,8 36,7

142,8 39,3

150,4 41,6

168,8 43,2

3,2

3,6 -

3,1 45,8

4,7 46,7

5,1 40,4

6,8 42,2

9,0

15,5

-

-

-

0,7

1,3

1,5

1,7

2,1

2,5

2,4

18,1 10,9 2,5

26,6 18,2 4,9

21,9 19,1 1,5

24,7 23,6 1,7

28,9 30,5 1,4

36,6 36,3 0,7

Die Werte der Gesamtübersicht II untermauern die Schaffung eines „vielschichtigen Sozialstaat“ mit dem Schwerpunkt der Sozialversicherung, gefolgt von den Förder- und Fürsorgesystemen, den Arbeitgebersystemen und den Systemen des öffentlichen Dienstes. Fasst man die Zuwachsraten der Institutionen ins Auge, so nahmen die Sozialversicherungssysteme seit 1991 um 111,5 % zu, die Sondersysteme sogar um 792 % (vor allem wegen der Einbeziehung der privaten Kranken- und 247

Pflegeversicherung ab 2009), die Systeme des öffentlichen Dienstes um 100,6 %, die Arbeitgebersysteme um 96,9 % und die Förder- und Fürsorgesysteme um 203,6 % zu, hingegen fielen die Entschädigungssysteme um 70,1 % ab. Betrachtet man die Anteile der verschiedenen Systemgruppen im Sozialbudget gemäß den Institutionen, so bestätigte sich die finanzielle Dominanz der Sozialversicherung, die nahezu zwei Drittel der Leistungen umfasste, vor dem seit 2005 deutlich gewachsenen Anteil der Förder- und Fürsorgesysteme:249

Innerhalb der Sozialversicherung nahm seit 1991 die Rentenversicherung mit rund einem Drittel der Leistungen des gesamten Sozialbudgets den umfangreichsten Posten ein, gefolgt von der Krankenversicherung mit

249

Die Abbildung nach Sozialbericht 2005, S. 199 (zu 2001); Sozialbericht 2009, T 3 (zu 2005) und Sozialbericht 2013, T 3 (zu 2013s) und Sozialbudget 2014, S. 10 (zu 2014s); Sozialbericht 2017, T 3 (zu 1991 und 2015p). P bedeutet „vorläufig“ und s „geschätzt“. 248

gut einem Fünftel der Leistungen und mit großem Abstand der – Schwankungen ausgesetzten – Arbeitslosenversicherung. Bei den Sondersystemen stellte seit 2009 die private Krankenversicherung den größten Posten dar und im Rahmen der Systeme des öffentlichen Dienstes dominierten die Pensionslasten als der mit Abstand umfangreichste Leistungsposten. Bei den Arbeitgebersystemen lag die Entgeltfortzahlung deutlich vor der betrieblichen Altersversorgung. Innerhalb der Förder- und Fürsorgesysteme stach die 2005 implementierte Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Sparte Kindergeld und Familienlastenausgleich hervor sowie die erhebliche Zunahme der Kinder- und Jugendhilfe, bei der v.a. der Ausbau der Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren verantwortlich für die Ausgabensteigerung zeichnete. Ein weiterer erwähnenswerter Ausgabenanteil betraf hier die Sozialhilfe. Schließlich sei noch ein Blick auf die prozentualen Anteile der einzelnen Institutionen am Bruttoinlandsprodukt geworfen, um etwaige Verschiebungen der Leistungsanteile in Beziehung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einordnen zu können. Tabelle 33: Leistungen nach Institutionen (Anteile am Bruttoinlandsprodukt in %)250 Sozialbudget insg. 250

1991 25,0

2000 28,7

2010 29,8

2012s 29,6

2015p 29,2

Tabelle verkürzt nach Sozialbericht 2013, T 5 (Anhang) zum Jahr 2012 und zu den anderen Jahren Sozialbericht 2017, T 5 (Anhang). Bei den Sondersystemen, Systemen des öffentlichen Dienstes, Arbeitgebersystemen, Entschädigungssystemen und den Förder- und Fürsorgesystemen werden nur die jeweils bedeutenderen Sparten erwähnt. Bei der Sozialversicherung tauchen die Beiträge des Staates für Empfänger sozialer Leistungen als Ausgaben der jeweiligen Institution auf – z.B. Beiträge der Arbeitslosenversicherung an die Renten- und Krankenversicherung –, werden jedoch in der Gesamtbetrachtung aller Ausgaben konsolidiert. 249

Sozialversicherungssysteme Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Unfallversicherung Arbeitslosenversicherung

16,0 8,4 5,9 0,5 2,3

18,7 10,3 6,2 0,8 0,5 2,3

18,3 9,8 6,7 0,8 0,5 1,4

18,1 9,8 6,9 0,9 0,5 1,0

17,6 9,3 7,0 0,9 0,4 0,9

Sondersysteme Alterssicherung der Landwirte Versorgungswerke Private Krankenversicherung

0,2 0,2 0,1 -

0,3 0,2 0,1 -

1,1 0,1 0,2 0,8

1,0 0,1 0,2 0,7

1,1 0,1 0,2 0,8

Systeme des öffentlichen Dienstes Pensionen Familienzuschläge Beihilfen

2,3 1,5 0,4 0,4

2,4 1,7 0,3 0,5

2,3 1,7 0,1 0,5

2,4 1,8 0,1 0,5

2,4 1,8 0,1 0,5

Arbeitgebersysteme Entgeltfortzahlung Betriebliche Altersversorgung Zusatzversorgung

2,6 1,5 0,7 0,4

2,5 1,3 0,8 0,4

2,5 1,2 0,9 0,4

2,6 1,3 0,9 0,4

2,7 1,4 0,9 0,4

Entschädigungssysteme

0,6

0,3

0,1

0,1

0,1

Förder- und Fürsorgesysteme Kindergeld und Familienlastenausgleich Grundsicherung für Arbeitsuchende Arbeitslosenhilfe/ sonstige Arbeitsförderung Sozialhilfe Kinder- und Jugendhilfe

3,5 0,7

4,7 1,6

5,8 1,6

5,6 1,6

5,6 1,4

0,6

0,7

1,8 0,0

1,5 0,0

1,4 0,0

1,1 0,7

1,2 0,8

1,0 1,0

1,1 1,1

1,2 1,2

Zunächst ist festzuhalten, dass der Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt (BiP) seit Anfang der 1990er Jahre gestiegen ist und 2010 den Gipfelpunkt erreichte, was im Kontext der Bewältigung der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 zu verankern ist. Entsprechend der vorherigen Übersicht über den Stellenwert der Institutionen 250

am Sozialbudget stellten wiederum die Sozialversicherung und die Förder- und Fürsorgesysteme die wichtigsten Posten unter den Anteilen am BiP dar. Beide Systemgruppen verzeichneten seit 1991 Zuwächse. Innerhalb der Sozialversicherung stieg der Anteil der Rentenversicherung am BiP, während derjenige der Arbeitslosenversicherung infolge der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung und des damit korrelierenden Abbaus der Arbeitslosigkeit deutlich abnahm. Die Anteile der Unfallversicherung und der Pflegeversicherung am BiP verharrten ungefähr auf dem gleichen Niveau. Bei den Sondersystemen nahm der Anteil deutlich zu, was aber ausschließlich auf die Einbeziehung der Privaten Krankenversicherung in das Sozialbudget seit 2009 zurückzuführen ist. Auffällig ist der deutlich gewachsene Anteil der steuerfinanzierten Förder- und Fürsorgesysteme von 3,5 % (1991) auf 5,6 % (2015). Damit ist ein Charakteristikum der Zunahme steuerfinanzierter Sozialstaatsleistungen seit der Wiedervereinigung bzw. der Jahrhundertwende zu konstatieren. Hier machte sich der massive Ausbau der Kinderbetreuung in den letzten Jahren nachhaltig bemerkbar, wie auch an anderer Stelle bereits festzustellen war. Vereinfacht formuliert, kann konstatiert werden, dass die großen Teilbereiche Rentenversicherung und – geringer – Krankenversicherung ihren Anteil am BiP weiter steigern konnten sowie einige steuerfinanzierte Leistungen im Bereich der Förder- und Fürsorgesysteme ebenfalls sichtbar zugenommen haben.

9.4 Die Finanzierung der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets: Arten der Finanzierung und Finanzierungsquellen In diesem Abschnitt wird über die Finanzierung des Sozialbudgets informiert, also über die Herkunft der finanziellen Mittel, die Art

251

ihrer Erhebung und die Institutionen, denen sie zufließen.251 Bei der Art der Finanzierung wird grundsätzlich zwischen Sozialbeiträgen und Zuschüssen des Staates unterschieden. Hinsichtlich der Sozialbeiträge differenziert das Sozialbudget nach der Herkunft, d.h. wer bringt sie auf. Beiträge bilden die wesentliche Finanzierung der verschiedenen Sozialversicherungszweige (Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung), die anderen Sozialleistungen werden vorrangig aus Steuermitteln finanziert bzw. als Arbeitgebersysteme von privaten und öffentlichen Arbeitgebern bestritten. Gemäß der hervorgehobenen Bedeutung der Sozialversicherung im Gefüge der gesamten sozialen Leistungen nahmen die Beiträge im gesamten Sozialbudget den dominierenden Rang ein.

  Festzuhalten ist das Wachstum der Einnahmen zur Finanzierung der Sozialsicherungssysteme seit 1991, wobei sich die Beiträge der Versicherten mehr als verdoppelten und auch die Beiträge der Arbeitgeber 251

Vgl. grundlegend Sozialbericht 2013, S. 219ff. und Sozialbericht 2017, S. 248ff. 252

zunahmen, allerdings war das Wachstum der letzteren bis 2015 deutlich niedriger. Der Anteil der Arbeitgeberbeiträge an den gesamten Beitragseinnahmen sank von 42,1 % im Jahre 1991 (= 177,5 Mrd. Euro) auf 34,3 % im Jahre (= 319,0 Mrd. Euro), während der entsprechende Anteil bei den Beiträgen der Versicherten (= im Wesentlichen die Arbeitnehmer) von 28,2 % auf 30,5 % zunahm, d.h. von 117,9 Mrd. Euro auf 283,8 Mrd. Euro. Die Staatszuschüsse wuchsen um mehr als das Doppelte bis 2015 auf 312,1 Mrd. Euro. Diese Entwicklung des wachsenden Anteils der Versichertenbeträge ist neben anderen hier nicht weiter zu verfolgenden Spezifika auf die im Rahmen der Gesundheitsreformen 2005f. durchgesetzte Abweichung von der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückzuführen. Die dabei eingeführten Zusatzbeiträge in der Krankenversicherung sowie die Zusatzbeiträge in der Pflegeversicherung – die Zuschläge für Kinderlose – zeichneten für diese grundsätzliche Systemänderung verantwortlich. Insofern verlagerte sich die Finanzierung der beitragsbezogenen Sozialleistungen eindeutig zu Lasten der Versicherten. Die Beiträge machten 2015 fast zwei Drittel der Einnahmen im Sozialbudget aus, ein Drittel lieferten die Staatszuschüsse, die sich von 1991 bis 2015 mehr als verdoppelten und 2015 33,5 % des gesamten Einnahmevolumens stellten. Bei den Zuschüssen des Staates wirkten sich die wachsenden Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung und die Zuweisungen in den Gesundheitsfonds aus. Auch der massive Ausbau der weit überwiegend steuerfinanzierten Förder- und Fürsorgesysteme – u.a. beim Familienlastenausgleich seit 1996 – machte sich bemerkbar. Insgesamt ist somit der Anteil der Beitragsfinanzierung seit der Wiedervereinigung von rund 70 % im Jahre 1991 auf rund 64 % im Jahre 2015 gefallen. Eine jeweilige Verschiebung in Richtung der Beiträge im Kontext der gesamten Finanzierung ist aber dann zu konstatieren, wenn, wie die Bundesregierung betont, eine „gute Konjunktur für

253

weitere zusätzliche Einnahmen“ sorgt und im Gegenzug „das Gewicht der Zuschüsse des Staates“252 fällt. Blickt man auf die Finanzierungsquellen der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets, so unterscheidet das Sozialbudget zwischen Unternehmen (Kapitalgesellschaften), den Staat – Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung –, privaten Organisationen ohne Erwerbszwecks, privaten Haushalten und die übrige Welt (d.h. Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds, die hier aber vernachlässigt werden können). Die Einnahmen der privaten Haushalte sind weitgehend identisch mit den Sozialbeiträgen der Versicherten. Tabelle 34: Finanzierung nach Quellen (in Mrd. Euro)253 Finanzierungsquellen Insgesamt Unternehmen (Kapitalgesellschaften)

1991 450,1 147,0

2002 699,0 195,6

2005 719,2 192,5

2009 773,0 206,7

2013 868,1 234,3

2015p 931,3 249,8

Staat

176,8

308,6

322,3

326,4

352,3

378,5

91,7 45,3 38,3 1,5

161,6 79,5 64,9 2,6

173,7 76,2 69,7 2,7

181,9 67,3 74,2 3,0

188,6 76,4 83,9 3,3

198,8 83,9 92,1 3,6

6,2 119,9 0,17

10,7 183,5 0,6

10,7 193,3 0,3

11,4 228,5 0,0

13,2 268,2 0,0

14,1 288,8 -

‐ ‐ ‐ ‐

Bund Länder Gemeinden Sozialversicherung

Private Organisationen Private Haushalte Übrige Welt

Zur näheren Erläuterung: Die von den privaten Haushalten stammenden Einnahmen im Sozialbudget waren weitgehend mit den So252 253

Sozialbericht 2013, S. 222. Tabelle nach Sozialbericht 2005, S. 204; Sozialbericht 2009, S. 302; Sozialbericht 2013, S. 224; Sozialbericht 2017, S. 251. 254

zialbeiträgen der Versicherten identisch, somit entsprach ihr Anteil am gesamten Finanzvolumen mit 31,0 % (2015) nahezu einem Drittel des Gesamtaufkommens. Deutlich mehr als verdoppelt hatten sich seit 1991 die größte Finanzierungsquelle „Staat“ mit Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung und die privaten Organisationen und privaten Haushalte, wobei die größten Zuwächse in den 1990er Jahren im Gefolge der Wiedervereinigung erfolgten. Dabei machte im Jahr 2015 der Anteil des Staates am Gesamtvolumen rund 40 % aus. Hierbei ragte die Rolle des Bundes, der mit einem Anteil von mehr als der Hälfte der wichtigste Finanzier in der Kategorie „Staat“ war, während die Länder knapp ein Fünftel und die Gemeinden ein Viertel beisteuerten. Zum „Staat“ zählen neben den steuerfinanzierten Sozialleistungen auch seine Arbeitgeberbeiträge im Zusammenhang mit der Rolle des Staates als Arbeitgeber. Der Beitrag der Unternehmen lag mit 26,8 % (2015) unterhalb des Umfangs der Arbeitgeberbeiträge, da der Staat als Arbeitgeber hier nicht enthalten ist. Insgesamt nahm der Anteil der Unternehmen an der Finanzierung entsprechend den Quellen seit 1991 (34,8 %) klar ab. Als Fazit ist festzuhalten, dass die Rolle des Staates als Finanzierungsquelle seit der Jahrhundertwende erheblich zugenommen hat, wobei der Ausbau steuerfinanzierter Leistungen als wichtiger Indikator fungierte. So sank von 2000 bis 2010 der Anteil der Unternehmen an der Finanzierung der Sozialausgaben um 4,6 %, während umgekehrt der Staatsanteil um 3,7 % zunahm und der Anteil der privaten Haushalte – also im Wesentlichen die Beiträge der Versicherten – von 28,6 % (1991) auf 31,0 % (2015) angestiegen war, insbesondere nach 2010.254 Offensichtlich sind somit diese Strukturveränderungen der Sozialausgabenfinanzierung zugunsten der Unternehmen ausgefallen.

254

Vgl. Sozialbericht 2017, T 7. 255

9.5

Der deutsche Sozialstaat im (europäischen) Vergleich

Abschließend blicken wir nur punktuell auf den bundesdeutschen Sozialstaat im Rahmen der Europäischen Union, um ihn im europäischen Vergleich zu verorten. Dabei beleuchten wir nur die Finanzierung des jeweiligen Systems der sozialen Sicherung und es interessieren insofern folgende Indikatoren als Vergleichspunkte:255 Die Sozialleistungsquote, also das Verhältnis der Sozialleistungen zum nominalen Bruttoinlandsprodukt, die Sozialschutzquoten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, die Finanzierung der Sozialschutzleistungen und die Funktionen. Bei letzteren besteht insofern noch ein Unterschied, denn das europäische System benennt acht Funktionen – Krankheit, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Familie, Arbeitslosigkeit, Wohnen und soziale Ausgrenzung –, während das nationale deutsche Sozialbudget die Funktion Familie nach Kindern, Ehegatten und Mutterschaft differenziert. Die Datengrundlage für einen Vergleich der Sozialleistungen und deren Finanzierung stammen vom Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) und werden in unserer Hauptquelle, den Sozialberichten, wiedergegeben. Seit 2010 sind die Daten zum Leistungsumfang und die Sozialleistungsquote auf nationaler und europäischer Ebene identisch und damit ist ein Vergleich möglich, allerdings mit ein-

255

Vgl. auch Schmidt, Sozialstaat, S. 62ff. 256

einhalb jähriger Verzögerung, weshalb 2014 das Referenzjahr bildet.256 Zunächst vergleichen wir die Sozialleistungsquote von 2002 bis 2014:257 Tabelle 35: Sozialschutzleistungen in % des Bruttoinlandsprodukts in EU Europäische Union Belgien Bulgarien Dänemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Kroatien Lettland Litauen Luxemburg Niederlande Malta Österreich

256

257

2002 27,0 28,0 29,7 30,1 12,7 25,6 30,4 24,0 25,7 17,5 25,3 13,9 14,0 21,6 27,6 17,8 29,2

2005 27,1 29,7 16,0 30,2 29,7 12,7 26,7 31,4 24,3 26,3 18,2 26,3 12,4 13,1 21,7 27,9 18,4 28,8

2012 29,5 30,8 17,4 34,6 29,5 15,4 31,2 34,2 31,2 28,8 15,4 30,3 14,0 16,5 23,3 33,3 19,4 30,2

2014 28,7 30,3 17,6 32,9 29,1 14,8 31,9 34,3 26,7 28,1 22,0 30,0 21,6 14,5 14,7 22,7 30,9 19,0 30,0

Nur bei den Funktionen besteht noch ein kleiner Unterschied: Das europäische System kennt acht Funktionen – Krankheit, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Familie, Arbeitslosigkeit, Wohnen und soziale Ausgrenzung -, während das nationale Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland die Funktion Familie aufteilt und nach den Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft differenziert. Tabelle nach Sozialbericht 2009, S. 306; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Übersicht, S. 1217; Sozialbericht 2017, S. 254f.; Sozialpolitik in Deutschland aktuell. Sozialpolitik in Europa. Die Werte von Bulgarien, Estland, Griechenland, Irland und Ungarn beziehen sich auf das Jahr 2013. 257

Polen Portugal Rumänien Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Ungarn Zypern

21,1 23,7 13,4 31,6 19,1 24,4 20,4 20,2 20,4 16,3

19,7 25,4 14,2 31,5 16,7 23,0 21,1 19,1 21,9 18,4

18,1 26,9 15,6 30,5 18,4 25,4 25,9 20,8 21,8 23,1

19,0 26,9 14,8 26,9 18,5 24,1 25,4 19,7 20,9 23,0

Wie ersichtlich nahm von 2002 bis 2014 die Sozialleistungsquote des EU-Durchschnitts um 1,8 % zu. 2002 verzeichnete Schweden mit 30,5 % knapp vor Frankreich und Deutschland den höchsten Wert, 2005 nahm erneut Schweden knapp vor Frankreich und Dänemark den vordersten Rang ein und Deutschland lag an vierter Stelle. 2012 lag nunmehr Dänemark vor Frankreich und den Niederlanden, Deutschland rangierte mit einer Quote von 29,5 % auf den siebten Rang. Damit befand sich die deutsche Quote auf dem gleichen Niveau wie der EU-Durchschnitt, während sie 2002 und 2005 noch über dem EU-Durchschnitt gelandet war. 2014 war Frankreich das Land mit der höchsten Sozialleistungsquote und Deutschland rangierte nur auf dem neunten Platz. Bis 2012 stieg im Übrigen die Sozialleistungsquote am deutlichsten in Griechenland, was Ausdruck der enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in diesem EU-Mitgliedstaat war. Dass 2012 die Mehrzahl der EU-Staaten höhere Sozialleistungsquoten aufwiesen, ist als Folge der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 zu werten. Auffällig erscheinen insgesamt die jeweils niedrigen Quoten der baltischen Staaten. Eine Analyse der Sozialleistungen nach ihrer Zweckbestimmung, also nach den Funktionen, offenbart mit Blick auf das Jahr 2010

258

sichtbare Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten, die auch auf strukturelle Verhältnisse verweisen:258 So nahm bei der Funktion Alter/Hinterbliebene Italien vor Österreich und Frankreich den ersten Rang ein, während Deutschland noch unter dem EU-Durchschnitt liegt. Als Erklärung für den Spitzenrang Italiens wird dessen Altersstruktur genannt, denn Italien weist den höchsten Anteil der Bevölkerung im Alter von 65 und mehr Jahren auf. Hingegen wendete Irland, das ein junges Land mit hoher Geburtenrate und einem niedrigen Anteil älterer Bevölkerung ist, mit die höchsten Mittel innerhalb der Europäischen Union für Familie und Kinder auf. Deutschland bewegte sich oberhalb des EU-Durchschnitts. Bei der Funktion Krankheit/Invalidität befand sich Deutschland in der Spitzengruppe und damit über dem Durchschnitt der Europäischen Union. Bei der Funktion Arbeitslosigkeit entsprachen die deutschen Leistungen dem EU-Durchschnitt, Belgien, Spanien und Irland wiesen hier höhere Aufwendungen auf. Insgesamt bewegten sich die deutschen Aufwendungen – hier im Jahr 2010 – bei den Funktionen Alter/Hinterbliebene, Krankheit/Invalidität, Familie und Arbeitslosigkeit jeweils sehr nahe am EU-Durchschnitt. Mit Bezug auf das Jahr 2014 ergibt die funktionale Betrachtung für Deutschland ein differenziertes Bild: So befinden sich die Ausgaben für die Alters- und Hinterbliebenenversorgung sowie für Arbeitslosigkeit gemessen am BIP unter dem europäischen Durchschnitt, hingegen sind die Ausgaben der Funktionen Krankheit/Invalidität und Familie relativ hoch. Schließlich ist auch ein Blick auf die Art der Finanzierung der Sozialleistungen in der Europäischen Union aufschlussreich, denn dieser Aspekt berührt die Frage nach dem jeweils vorherrschenden Typ des Sozialstaates. Wiederum am Beispiel des Jahres 2010 werden dabei markante Differenzen deutlich, die u.a. auf die jeweilige Altersstruk258

Vgl. zum Folgenden Sozialbericht 2013, S. 229ff.; Sozialbericht 2017, S. 255f. 259

tur der Bevölkerung oder auch den Anteil von Beamten an den Erwerbspersonen verweisen. Überwiegend dominierte die Finanzierung aus Beiträgen, jedoch wich Irland mit einem hohen Anteil von Staatszuschüssen ab, wie auch Slowenien, wo die Arbeitnehmerbeiträge vorherrschten und Estland mit vorrangigen Arbeitgeberbeiträgen. Deutschland wiederum lag bei den Staatszuschüssen wie auch den Arbeitgeberbeiträgen nahe am EU-Durchschnitt bzw. knapp darunter, bei den Arbeitnehmerbeiträgen übertraf es diesen eindeutig. Auch für 2014 werden Unterschiede hinsichtlich der Finanzierungsart bei den europäischen Ländern sichtbar, die u.a. auf strukturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten der EU wie die Altersstruktur oder den Anteil der Beamten an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen verweisen. Im Regelfall erfolgt die Finanzierung aus Beiträgen. Hinsichtlich der Zuschüsse des Staates befand sich Deutschland 2014 unter dem EU-Durchschnitt, während der Finanzierungsanteil durch die Sozialbeiträge der Versicherten überdurchschnittlich ist und die Beiträge durch die Arbeitgeber dem europäischen Durchschnitt entsprechen. Deutschland als Beispiel eines überwiegenden Sozialversicherungsstaates unter den anderen Sozialstaaten der EU wird hier deutlich, während beispielsweise Dänemark durch eine Zuschussfinanzierung, Slowenien vor allem durch Arbeitnehmerbeiträge und Estland hauptsächlich mittels Arbeitgeberbeiträge die Sozialleistungen finanzierten. Bei der Frage nach der Struktur der Finanzierung entsprechend den Quellen wird danach gefragt, in welchem Umfang die volkswirtschaftlichen Sektoren zur Finanzierung der Sozialausgaben beitragen. Als Ganzes gesehen ist dabei im Jahr 2014 die Finanzierungsstruktur in Deutschland gleichmäßiger auf den Staat, die Unternehmen und die privaten Haushalte verteilt: Durchschnittlich ist der Anteil der Unternehmen, überdurchschnittlich finanzieren die Privathaushalte die Ausgaben und unterdurchschnittlich ist der Staat an der Finanzierung der Sozialausgaben beteiligt. Somit ist erneut auf den bundes260

deutschen Sozialstaatstyp verwiesen. Abweichend vom deutschen Modell erscheinen die Quellen der Finanzierung wie bei der Art der Finanzierung in den EU-Mitgliedstaaten Estland (hier finanzierten die Unternehmen mit rund 80 % die Sozialausgaben, rund 18 % der Staat und nur knapp ein Prozent durch Privathaushalte), Dänemark (rund 80 % durch den Staat, Unternehmen und Privathaushalte jeweils ca. 12 % bzw. 8 %) und Slowenien (40 % durch Privathaushalte, ca. ein Viertel durch die Unternehmen und ein Drittel durch den Staat). Nationale Besonderheiten wie auch die jeweilige historische Entwicklung zeichneten dafür verantwortlich. Zusammenfassend sei an dieser Stelle betont, dass der deutsche Sozialstaat bei seinen Leistungsausgaben insgesamt mindestens dem EU-Durchschnitt entsprach, was mit Differenzierungen auch auf die Finanzierungsarten und die Finanzierungsquellen zutraf.

261

V. Zusammenfassung und Fazit: Eine Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende Grundsätzlich ist als Ausgangspunkt dieses zusammenfassenden Abschlusskapitels festzuhalten: Gestalt und Umfang des Sozialstaates befinden sich in einer nahezu permanenten Entwicklung. „Wohlfahrtsstaaten sind keine fixen Systeme, die Jahrhunderte überdauern, sondern unterliegen ständigem Wandel“.259 Der Sozialstaat im Allgemeinen und im Besonderen auch der deutsche Sozialstaat stellt somit kein statisches Gebilde dar, sondern ist vielmehr ein historisch-politisches Produkt, in dem politische, gesellschaftliche und soziokulturelle Kräfte in zeitlich unterschiedlichen Phasen wirken. Er hat sich seit Bismarck gewandelt, „allerdings war es ein evolutionärer Wandel“260. Oder wie es ein ausgewiesener Kenner des Sozialstaates auf den Punkt bringt: „Die konkrete Gestalt des So-

259

260

Stephan Köppe / Peter Starke / Stephan Leibfried, Sozialpolitik. Konzepte, Theorien und Wirkungen, S. 17 (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 06/2008). Lutz Leisering, Kontinuitätssemantiken: Die evolutionäre Transformation des Sozialstaats im Nachkriegsdeutschland, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 101. 262

zialstaats ist eine Hervorbringung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des politischen Systems“.261 Wie sieht nun eine Bilanz des deutschen Sozialstaats in unserer Gegenwart aus und zu welchem Gesamtfazit kann man gelangen? Diesen Fragen wollen wir im umfassenden Abschlusskapitel nachgehen, das wie folgt aufgebaut ist: Zunächst wird der (deutsche) Sozialstaat in seiner Entwicklung vom Ende des Booms Mitte der 1970er Jahre bis zur Jahrhundertwende aus der Perspektive der Sozialstaatsforschung beurteilt. Anschließend werden die wesentlichen Ergebnisse der hier verhandelten, quantitativen Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Wiedervereinigung bzw. vorrangig seit der Jahrhundertwende wiedergegeben. Daran schließt sich eine resümierende Standortbestimmung des aktuellen deutschen Sozialstaats unter der leitenden Fragestellung eines Um- oder Abbaus seit 2000 unter Einbeziehung neuerer Ergebnisse der Forschung an.

Zum Sozialstaat nach dem Ende des Booms bis in die 1990er Jahre Der Sozialstaat als eine „europäische Erfindung“262 hat seit 1945 verschiedene Phasen durchlaufen und in nahezu allen westlichen Indust-

261 262

Zacher, Sozialstaat, S. 53. Stephan Leibfried, Der Wohlfahrtsstaat: Ursprünge, Entwicklungen und Herausforderungen. Eine vergleichende Hinführung auf heutige Probleme, in: Transmission 05: Wege aus dem Abseits. Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 8-30 (Vodafone Stiftung Deutschland 2011), S. 9 und ebenda, S. 16 (das folgende Zitat); vgl. zum Folgenden Hockerts, Problemlöser, S. 326ff. und Bosch, Sozialmodell, S. 4ff., der auf den verfassungsrechtlichen Komplex des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz und den Stellenwert der Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts als wichtigem Akteur in der Sozialpolitik hinweist. 263

riegesellschaften von den ausgehenden 1940er Jahren bis Anfang der 1970er Jahre seine „Glanzzeit“ im „Zeichen einer nie da gewesenen Expansion und Universalisierung staatlicher Sozialpolitik“ erlebt. Der öffentliche Sektor – vorrangig die Sozialausgaben – wurde überall ausgeweitet. Die ersten vierzig Jahre Sozialpolitik in der BRD stellten die „größte Expansionsperiode des Wohlfahrtsstaates in der deutschen Geschichte“263 dar, wobei die Jahre 1969 bis 1974 unter der ersten sozialdemokratischen Bundesregierung die Blütezeit bildeten. Diese Expansionsphase weist nach Hans Günter Hockerts vier Tendenzen auf, die sich in allen westeuropäischen Ländern beobachten ließen:264 Erstens habe sich überall der Personenkreis, auf den sich die soziale Sicherheit erstreckte, ausgedehnt, zweitens konnte infolge des Booms das Leistungsniveau der sozialen Sicherung über ein bloßes Existenzminimum anwachsen, drittens wurden die Leistungen weitgehend dynamisiert (Beispiel: Rentenreform 1957) und viertens wurden neue, über die Standardrisiken hinausgehende Leistungsarten eingeführt (z.B. Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung). In dieser „Blütezeit des Wohlfahrtsstaates“ war die Sozialpolitik in das Zentrum des Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesses gerückt, verblieb aber weiterhin eine nationale Angelegenheit. Spätestens Mitte der 1970er Jahre war der Endpunkt dieser Expansionsphase in nahezu allen westlichen Industriestaaten erreicht. Unter Heranziehung von Daten der OECD konstatiert Nico A. Siegel für die Epoche nach dem Boom von 1975 bis 1995 zwar ein gebremstes Wachstum in den ausgewählten Staaten, „nicht aber eines radikalen wohlfahrtsstaatlichen Rückbaus“265. Dennoch hält er vor dem Hintergrund allgemeiner

263 264 265

Hockerts, Metamorphosen, S. 139f. Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 334ff. und ebenda, S. 341ff. (zum Folgenden). Nico A. Siegel, Jenseits der Expansion? Sozialpolitik in westlichen Demokratien 1975-1995, in: Manfred G. Schmidt (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche 264

ökonomischer Verlangsamungen am Befund „abnehmender materieller Verteilungsspielräume“ fest. Am Indikator der Sozialleistungsquoten, der öffentliche sozialpolitische Anstrengungen gut erfasst, zeige der Vergleich der Quoten 19801995 aber, dass kein Land – außer die Niederlande – einen Rückgang der Sozialleistungsquoten aufwies. Bei aller Problematik der Ländervergleiche herrschte vielmehr überwiegend ein Zuwachs. Neben den Niederlanden müsste man Deutschland noch nennen, wenn man den singulären Fall der Wiedervereinigung ausklammern würde. Jedenfalls hält Siegel als Befund fest, „der Sozialstaat sei in der überwiegenden Mehrheit der wirtschaftlich entwickelten OECD-Demokratien nicht in den Sog nachhaltiger Konsolidierungspolitik mit langem Atem geraten, zumindest nicht bis in die frühen 90er Jahre“. Auch Stephan Leibfried argumentiert dahingehend, dass der Wohlfahrtsstaat „trotz vieler Vorhersagen seines Ablebens seit den 1970er Jahren, nur gewachsen, aber nicht geschrumpft ist“266. Das „Goldene Zeitalter“ ging in den frühen 1980er Jahren unter dem Eindruck des Ölpreisschocks zu Ende und der Wohlfahrtsstaat „geriet von allen Seiten des politischen Spektrums unter Beschuss“, am nachhaltigsten vom Neo-Liberalismus und Neo-Konservatismus speziell aus den USA. Dieser Umbruch seit den 1970er Jahren rückt immer mehr in den Fokus einer „gegenwartsnahen Zeitgeschichte“, die sich der tiefgreifenden Transformation, d.h. dem „Abschied von der industriegesellschaftlichen Hochmoderne“ zuwendet.267 Blicken wir nach Deutschland. Konsolidierungen bzw. ein gebremster Ausbau oder ein partieller Rückbau begannen in der Bundesre-

266 267

Politik. Institutionen, politischer Prozess und Leistungsprofil, Opladen 2001, S. 56; ebenda, S. 58 und S. 63 (die folgenden Zitate). Leibfried, Wohlfahrtsstaat, S. 8 und ebenda, S. 20 (das folgende Zitat). Hockerts, Problemlöser, S. 325. 265

publik Deutschland mit der Politik der Kostendämpfung bereits in der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Diese Politik setzte die neue Regierung unter Helmut Kohl fort, die eine Senkung der Staatsquote und der Sozialleistungsquote herbeiführte. Für den Zeitabschnitt von den frühen 1970er Jahren bis in die Mitte der 1980er Jahre wurde somit konstatiert, dass der Trend des steigenden Anteils der Sozialausgaben in der Bundesrepublik gestoppt worden sei, was aber mehr einer Konsolidierung der Sozialleistungen entspreche und keinen Abbau darstelle.268 So seien zwar zum einen Leistungen gekürzt worden, aber zum anderen aber auch erhöht oder grundsätzlich neu eingeführt worden wie z.B. die Anerkennung von Erziehungsleistungen in der Rentenversicherung. Die Kostendämpfung war aber ungleich verteilt, d.h. Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger mussten mehr Kürzungen hinnehmen als das Heer der Rentner, die über rund zehn Mio. Wählerstimmen verfügten. Die im Anschluss an die Boomphase folgende Austeritätsphase ist demzufolge dahingehend von Interesse, „welche Klientel der Wohlfahrtsstaat ungestraft vernachlässigen konnte, welche nur unter bestimmten Bedingungen und welche nicht“269. Seit 1984 aber flauten die Kürzungen ab und bis 1989 wurden wieder expansive Schritte – z.B. in der Familienpolitik – eingeleitet, bevor die „Epochenzäsur der deutschen Einigung“270 begann. Die enormen Kosten der Transformation der neuen Bundesländer ließ in den frühen 1990er Jahren die Sozialleistungen bis zum Gipfel 1996/97 auf einen Rekordstand steigen. Die deutsche Sozialleistungsquote erreichte damit ihren Höchststand vor dem Hintergrund der Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung, wobei zu Recht diese

268 269 270

Nach Ritter, Sozialstaat, S. 212f. Hockerts, Metamorphosen, S. 147. Hockerts, Problemlöser, S. 355 und ebenda, S. 356 (das folgende Zitat); vgl. auch ebenda, S. 354ff. (zum Folgenden). 266

„kritisch hoch problematischen Seiten der Einigungspolitik“ in Form der Abwälzung der meisten Kosten auf die Sozialversicherung hervor zu heben ist. In ihrer Konsequenz trug diese Politik zu einer weiteren Verteuerung des Faktors Arbeit bei. Die Krise verschärfte sich unter dem Eindruck fiskalischer Engpässe, wirtschaftlicher Rezession und den Maastrichter Kriterien im Kontext der implementierten europäischen Währung des Euro und der aufkommenden „Standortdebatte“, so dass ab 1993/94 viele Kürzungen beschlossen wurden wie die Einschränkung der Lohnfortzahlung, Öffnungsklauseln bei Tarifverträgen oder das 1992 verabschiedete Gesundheitsstrukturgesetz. Allerdings kam es auch in der Endphase der Regierung Kohl zu einer substantiellen sozialpolitischen Ausweitung durch die Pflegeversicherung 1995 und damit zu sozialpolitischen Umund Anbauten. In der Pflegeversicherung rückte der „Markt“ mehr in den Vordergrund, d.h. mehr private Anbieter traten auf diesem Markt auf, während der Staat sich als Produzent eher zurückhielt. Dennoch fungierte der Staat weiter in seiner Rolle des Regulators ähnlich wie nachmalig bei der Implementierung der Riesterrente. Jens Alber untersucht den deutschen Sozialstaat in der Ära Kohl, also derjenigen Epoche, die dem hier im Mittelpunkt stehenden Zeitabschnitt unmittelbar vorausging und überprüft verschiedene Diagnosen der Sozialpolitik unter Kohl.271 Demnach wurde erstens eine konservative Transformation behauptet, d.h. Arbeitslose bzw. Sozialhilfeempfänger seien die Verlierer gewesen, während Elemente wie Elternschaft und das Kindeswohl bevorzugt wurden. Als Hauptziel fungierte die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Zweitens habe im Kontext der Globalisierung die Rekom-

271

Vgl. Jens Alber, Der deutsche Sozialstaat in der Ära Kohl: Diagnosen und Daten, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 235-275. 267

modifizierung, also die Abhängigkeit von der Verwertung der Arbeitskraft zugenommen und damit das Ziel der Verbilligung der Erwerbsarbeit. Alle sollen arbeiten, ungeachtet vom Lohn. Eine dritte Richtung sah eine Transformation vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat mit Priorität auf Fiskalpolitik, wobei in der Rentenpolitik eine Stärkung des Äquivalenzprinzips angestrebt wurde. Eine vierte Interpretation erkannte ein Ende des Sozialversicherungsprinzips und das Primat der Beitragsstabilität unter Abweichung vom Bedarfsprinzip hin zum Budgetprinzip wie auch ein Verlassen der paritätischen Finanzierung. Eine fünfte „Schule“ charakterisierte die Sozialpolitik Kohls als ein Festhalten an einer patriarchalischen Transfer- und restriktiven Dienstleistungspolitik, die eine Spaltung der Erwerbsbevölkerung in insider und outsider bewirkte. Eine sechste Interpretationsrichtung betonte die Strukturkontinuität in der Sozialpolitik und damit Reformblockaden, also eine Reformunfähigkeit Deutschlands. Inwieweit, so Alber, stelle nun die „Ära Kohl einen Kontinuitätsbruch in der deutschen Sozialpolitikentwicklung“272 dar. Auf Basis von Daten der OECD konstatiert er, dass der entscheidende Bruch beim Ausgabenanstieg bereits beim Übergang von der Regierung Brandt zu Schmidt Mitte der 1970er Jahre erfolgt sei. Unter Kohl habe dann nur ein gering wachsender Ausgabenrückgang bis zur Wiedervereinigung geherrscht. Die „Essenz der Sozialpolitik in der Ära Kohl habe sicherlich mehr in der finanziellen Konsolidierung und in neuen Akzentsetzungen als im Abbau des Sozialstaats“ gelegen. Somit sei festzuhalten, dass der „Begriff Konsolidierung die Entwicklung wesentlich treffender charakterisiert als die Rede vom Sozialabbau“. Es habe sich um eine milde Form einer „konservativen Transformation“ gehandelt, aber keine Marginalisierung der sozial Schwachen. Letztlich seien die christdemokratischen, den Sozialstaat grundsätzlich befürwortenden Parteien in Deutschland nicht mit 272

Alber, Ära Kohl, S. 242; ebenda, S. 262 und S 262f. (die beiden folgenden Zitate). 268

den Republikanern in den USA oder den Tories in Großbritannien vergleichbar. Des Weiteren kann die vorher geäußerte These eines Reformstaus oder einer wie auch immer zu klassifizierenden Trägheit der Regierung Kohl in Bezug auf eine Reform des deutschen Sozialstaates zurückgewiesen werden. Resümierend räumt Alber ein, dass während der Regierung Kohls zwar einerseits Leistungen gekürzt worden seien – bei Leistungssätzen oder Leistungsvoraussetzungen oder Leistungsdauer – , aber andererseits eben auch neue sozialpolitische Akzente wie bessere Leistungen für Frauen in der Rentenversicherung (Anrechnung von Familienarbeit) gesetzt wurden, die sich nach 2000 weiter zugunsten der Frauen fortsetzten. Auch die Einführung der Pflegeversicherung als fünften Zweig der Sozialversicherung, die zwar bereits in einigen Grundsätzen wie der paritätischen Finanzierung abwich, kann man hier erwähnen. Hier schimmerten in Ansätzen christdemokratische Programminhalte in der Familienpolitik durch, die aber nach 2000, was nicht unterschlagen werden sollte, unter der rot-grünen Regierung ebenfalls noch wesentlich nachhaltiger ausgebaut wurde. Als Leitlinie fungierte eine bessere Vereinbarkeit von Berufstätigkeit – der Frauen – und familiären Aufgaben. Die Reformen des Erziehungsgeldes, die massiv ausgebaute Kindertagesbetreuung und die weiter verbesserte Anrechnung von Erziehungsleistungen in der Rentenversicherung seien kurz genannt. Ebenfalls nachhaltig zeichnete sich seit der Jahrhundertwende der bereits unter Kohl erkennbare Trend in der Sozialpolitik zu einer verstärkten Budgetierung und Beitragsorientierung in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung ab. Auch die grundsätzlich kritische Beurteilung des Verlaufs des deutschen Sozialstaates in der Ära Kohl bei Christoph Butterwegge konzediert dennoch: „Trotz recht einschneidender Kürzungen sozialer Leistungen blieb der Systemwechsel im Sinne einer neoliberalen Transformation des Wohlfahrtsstaates unter Helmut Kohl und Norbert Blüm 269

aus.“273 Und fortführend konstatiert Butterwegge unter Verweis auf diverse Kürzungen und den Einbau z.B. marktwirtschaftlicher Elemente, „zwar kann von einer Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch die Bonner CDU/CSU/FDP-Koalition während der 90er Jahre keine Rede sein“, aber es seien „die Voraussetzungen für einen Systemwechsel geschaffen“ worden. Mit Hans Günter Hockerts halten wir schließlich wesentliche strukturelle Auswirkungen des Wandels auf den Sozialstaat im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts fest, die die Grundkonstellation für die Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaats auch nach der Jahrhundertwende 2000 bestimmten:274 Zunächst bewirkte erstens das nachlassende Wirtschaftswachstum eine Schrumpfung der finanziellen Verteilungsspielräume in den öffentlichen Haushalten mit Folgen für die nationalstaatlichen sozialen Sicherungssysteme, dann verschärfte zweitens die Standortkonkurrenz die Spielräume nationaler Sozialpolitik, denn die Internationalisierung von Finanz- und Kapitalmärkten ermöglichte den Unternehmen, ihren Produktionsstandort mobil zu gestalten und zu verlegen – im Unterschied zu den immobil bleibenden Arbeitskräften. Damit ist zweifelsohne eine Stärkung der Kapitalseite eingetreten, man denke hier auch an die anhaltenden Diskussionen über die bis zum heutigen Tage nicht realisierte angemessene Besteuerung multinationaler Konzerne. Drittens verlangte das Altern der Gesellschaft ihren Preis, denn höheres Alter zieht steigende Ausgaben im Gesundheitswesen und in der Alterssicherung nach sich. Des Weiteren belastete viertens die gewachsene Arbeitslosigkeit die Ausgabenseite des Sozialstaates und verminderte gleichzeitig dessen Einnahmebasis durch sinkende Beitrage. Fünftens hat der Wandel der Familienstrukturen einen Rückgang von der Familie geleisteter, un273 274

Butterwegge, Krise, S. 153 und ebenda (die folgenden Zitate). Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 348f. 270

bezahlter sozialer Dienste zur Konsequenz und sechstens war der bislang auf kontinuierliche Erwerbsarbeit und kalkulierbare Normallebensentwürfe zugeschnittene Sozialstaat mit neuen Armutsrisiken und anderen Bedarfen zunächst überfordert. Mit Blick auf die Sozialstaaten der Europäischen Union unmittelbar vor der in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Epoche, also gegen Ende der 1990er Jahre, zeigte sich, dass das „Wachstum des Sozialstaats in allen 15 Mitgliedsländern zum Ende gekommen“275 sei, wobei der Wendepunkt auf die Jahre von 1992 bis 1994 falle. Die Quote der Sozialausgaben schrumpfte durchschnittlich um vier Prozent, diejenige aller Staatsausgaben reduzierte sich um fast neun Prozent. Der Krisendiskurs und die deutsche „Standortdebatte“ insbesondere in den 1990er Jahren sind im Kontext einer übernationalen Entwicklung zu sehen, deren Herausforderungen sich der Wohlfahrtsstaat seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nach Meinung vieler Beobachter ausgesetzt sah:276 – –



275 276

das Ende der Vollbeschäftigung seit der Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, der beschleunigte Wandel der Weltwirtschaft seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort Globalisierung und des technologisch rasch voranschreitenden Informationsaustausches mit zunehmenden Wettbewerbsdruck in der Wirtschaft und verschärfter Standortkonkurrenz, ein daraus resultierender Kostendruck, der einen Sozialstaatsabbau einleitete bzw. einleiten könnte,

Hockerts, Problemlöser, S. 353. Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 342-358; Schmidt, Sozialstaat, S. 75-89; Metzler, Sozialstaat, S. 236-246; Ritter, Soziale Frage, S. 133-136; Leibfried, Wohlfahrtsstaat, S. 22f. 271









– – – –

277

die forcierte Politik der Deregulierung und der Liberalisierung in der angelsächsischen Welt durch Reagan und Thatcher unter dem Schlagwort Neoliberalismus seit den 1980er Jahren, strukturelle Änderungen in der Wirtschaft infolge des Rückgangs industrieller Arbeit und gleichzeitigem, jedoch noch nicht zur Kompensation ausreichenden Wachstum bei den Dienstleistungen mit der Konsequenz einer strukturellen Arbeitslosigkeit, die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses mit Folgen für ein auf kontinuierlicher Erwerbsarbeit basierendes System der sozialen Sicherheit, ein höheres Qualifikationserfordernis für Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt wegen des Rückgangs standardisierter Produktion und mehr Flexibilisierung, eine wachsende Zahl wenig qualifizierter Arbeitskräfte in Verbindung mit Bildungsarmut277, ein Wandel der Lebensformen beispielsweise in Bezug auf die Familie (mehr Alleinerziehende, weniger Heiraten usw.), der demographische Wandel mit sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung, eine punktuell einsetzende Europäisierung auch in der Sozialpolitik durch den forcierten freien Binnenmarkt, also dem Abbau von nationalen rechtlichen Vorschriften und indirekt durch die finanzpolitischen Restriktionen mit Schuldenobergrenzen infolge der Euroeinführung und Vgl. dazu Marius Busemeyer / Bernhard Ebbinghaus / Stephan Leibfried / Nicole Mayer-Ahuja / Herbert Obinger, Birgit Pfau-Effinger (Hg.) Wohlfahrtspolitik im 21. Jahrhundert. Neue Wege der Forschung, Frankfurt/ New York 2013, S. 33ff. die mit Blick auf die Bildungsarmut Umschichtungen innerhalb der sozialpolitischen Ausgabenfelder fordern und bei derartigen Maßnahmen präventiver Sozialpolitik auf möglichen Widerstand anderer Sozialstaatsklientel wie Rentnern verweisen, die auch als Wähler im politischen Entscheidungsprozess über eine Vetomacht verfügen. 272



schließlich ein wachsender Migrationsdruck Richtung Europa und Deutschland im Besonderen aus unterentwickelten Regionen und Krisengebieten.

Zur Europäisierung der Sozialpolitik lässt sich zwar festhalten, die „EU hat bislang keinen europäischen Sozialstaat geschaffen“278. Dennoch verfügt die Europäische Union über Einfluss auf die Sozialpolitik in den Mitgliedsländern im Kontext wirtschaftlicher Entscheidungen zum Ausbau des Binnenmarktes – dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeit – und dem damit verbundenen Abbau etwaiger Wettbewerbsnachteile (Arbeitsschutz, Lohngerechtigkeit, Antidiskriminierungen). Hier wurde somit die Kompetenz nationaler Regierungen zur eigenständigen Regulierung der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialordnung tangiert. Indirekt beeinflusste die Europäische Union die nationale Sozialpolitik, wenn man z.B. die Verschuldungsobergrenzen im Gefolge der Einführung einer gemeinsamen Währung und die entsprechenden Maastricht-Kriterien bedenkt. Dadurch wurde der finanzielle Spielraum bei dem traditionell großen Sozialetatposten innerhalb des gesamten Haushalts in den jeweiligen Mitgliedsländern eingeengt. Dieser Befund hat sich infolge der großen Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008 noch verstärkt, denn nun verlangten Schuldenbremsen eine verschärfte Haushaltsdisziplin, die sich auf die sozialen Etatposten einengend auswirkt.279 Dennoch verbleibt der soziale Schutz wei278

279

Schmidt, Sozialstaat, S. 81; vgl. dazu Ulrich Becker, Der Sozialstaat in der Europäischen Union, in: Ulrich Becker / Hans Günter Hockerts / Klaus Tenfelde (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 313ff.; Schmidt, Sozialstaat, S. 80-86. Vgl. dazu die knappen Ausführungen bei Bernd Schulte, Das „Europäische Sozialmodell“ zwischen Realität und Normativität, in: Ulrich Becker / Hans Günter Hockerts / Klaus Tenfelde (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 180-183 und Becker, Sozial273

terhin im Zuständigkeitsbereich der einzelnen Staaten, der „Sozialstaat ist nicht nur eine nationale Errungenschaft, sondern soll auch weiterhin eine nationale Angelegenheit sein“280. Positiv könne sogar darauf insistiert werden, dass angesichts der demographischen Entwicklungen und der fortschreitenden Internationalisierung – Stichwort Globalisierung – ein europäischer Einigungsprozess einen gemeinsamen Block ermögliche, um diesen Herausforderungen adäquat und besser begegnen zu können. Angesichts des enormen Wirtschaftsaufschwungs Chinas und, wenn auch zögerlicher, Indiens und des weiterhin hohen Stellenwerts der US-amerikanischen Wirtschaft kann die Notwendigkeit einer Behauptung Europas und Wahrung seiner ökonomischen Interessen in der Weltwirtschaft nur untermauert werden, was aktuell dringender denn je erscheint. Nachhaltiger als die Europäisierung der Sozialpolitik tangierten die Perspektiven des Sozialstaates die sog. sozialökonomischen „Megatrends“281, in deren Sog der Sozialstaat seit den 1990er Jahren geraten ist. Krisensymptome wie hohe Arbeitslosigkeit und nachlassendes Wirtschaftswachstum belasteten den Sozialstaat zweifach, denn zum einen verminderten sich die Einnahmen und zum anderen stieg die Nachfrage nach sozialen Leistungen insbesondere in der Arbeitslosenversicherung. Dazu kam eine zunehmende prekäre Beschäftigung, wachsende soziale Ungleichheit, Haushaltsdefizite und die demographische Entwicklung und Alterung der Gesellschaft. Gerade letzterer Gesichtspunkt betraf Deutschland neben Italien und Japan besonders und führte zu einer steigenden Rentenbelastung sowie höheren Auf-

280 281

staat, S. 314ff.; vgl. auch Klaus Armingeon, Sozialpolitik in den Zeiten von permanenter Austerität, in: Die Zukunft des Sozialstaates (= 26. Bremer Universitäts-Gespräche), Bremen 2014, S. 15. Becker, Sozialstaat, S. 317. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S.14; vgl. auch Hockerts, Einleitung, S. 15. 274

wendungen für Krankheit und Pflege. Diese Problemfelder und Herausforderungen für den Sozialstaat und das System der Sozialversicherung müssen bewältigt werden.282 Aus konservativer und (neo)liberaler Perspektive wurde deshalb in den 1990er Jahren vielstimmig von der „Krise“ des Sozialstaats bzw. den „Grenzen des Sozialstaats“ gesprochen.283 Der teure Sozialstaat wurde als Wachstumsbremse abgewertet, der die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft wegen seiner hohen Kosten vermindere und Innovationen sowie Mobilität und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt behindere. In Deutschland fand sich zudem eine spezifische Problemkonstellation durch die Wiedervereinigung, denn die sehr problematische Abwälzung eines großen Teils der Kosten der deutschen Einheit auf die Sozialversicherung ist bei den Diskussionen zum Sozialstaat in Rechnung zu stellen. Dadurch stieg die Beitragslast für Arbeitnehmer und Arbeitgeber und somit auch die Arbeitskosten. Die in den 1990er Jahren massiv vorgetragene Forderung nach einem grundlegenden Umbau284 des Sozialstaates zeigte, wie verschieden der Sozialstaat alleine in Europa gestaltet ist und in welchem Ausmaß die „einmal eingeschlagenen Pfade“ der Sozialstaatsentwicklung etwaige Reformauswege beeinträchtigen können. So führen unsichere, „prekäre“ Beschäftigungsverhältnisse bei einem auf möglichst durchgehender Erwerbstätigkeit basierenden Alterssicherungssystem zwangsläufig zu niedrigeren Renten und gegebenenfalls sogar zu Altersarmut. Ein mögliches Gegensteuern müsste wohl den „Pfad“ des Versicherungsprinzips verlassen und anderweitige, gesamtgesell-

282

283

284

Vgl. dazu auch Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 167ff. mit ausführlicher Darlegung der Problemkonstellationen. Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 349ff.; Franz-Xaver Kaufmann. Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition, Frankfurt a.M. 2003, S. 173-180. Vgl. dazu auch die knappen und prägnanten Ausführungen bei Ritter, Ursprünge, S. 292 und ebenda (das folgende Zitat). 275

schaftliche Lösungen jenseits bzw. in Ergänzung der gesetzlichen Rentenversicherung anvisieren. Nach Lutz Leisering285 handelte es sich Mitte der 1990er Jahre um eine im Wesentlichen „politische Krise“, die den bisherigen Sozialstaat legitimatorisch infrage stellte. Insbesondere seitens der Arbeitgeber, der FDP und partiell auch von der jüngeren Generation wurde fiskalische Kritik an den vermehrten Schulden bei Bund, Ländern und Gemeinden geäußert und dabei eine strukturell mangelnde Innovationsfähigkeit im politischen System wie die Präsenz von „VetoSpielern“ konstatiert. Auch Hans F. Zacher zielt auf den politischen Aspekt bei einer Standortbestimmung des deutschen Sozialstaates am Ende des 20. Jahrhunderts ab. Die Veränderungen in den 1990er Jahren seien durchaus als „radikal“ zu beschreiben, also die „Deutsche Vereinigung, Europäisierung und vor allem Globalisierung“286. Ausgehend von der Wechselbeziehung zwischen dem politischen System und dem Sozialstaat, dem „Zusammenhang der Legitimation“, zweifelt Zacher, inwieweit gegenwärtig unser politisches System den Anforderungen in dieser Phase genüge. So bekräftige die deutsche Vereinigung den bestehenden Sozialstaat, aber beispielsweise sei es bis dato nicht zu einem Vermögensausgleich zwischen den alten und neuen Bundesländern gekommen. Ebenfalls mache sich die europäische Integration, insbesondere bei einer gemeinsamen Währung nachhaltig bemerkbar, denn „unübersehbar sind die Wirkungen auf den deutschen Sozialstaat“. Eine Aufgabenabgrenzung zwischen der EU und dem Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland stehe noch aus, ein Gesichtspunkt, der auch in unserer unmittelbaren Gegenwart angesichts der Abkehr der neuen amerikanischen Politik vom „Westen“ dringend auf die politische 285 286

Vgl. Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 436ff. Zacher, Sozialstaat, S. 55 und S. 53, S. 74 (die beiden folgenden Zitate). 276

Agenda Europas gehört und weit über den ökonomischen Bereich hinausreicht. Und schließlich betont Zacher zu Recht die Frage der Globalisierung, die zu einer nachdrücklichen Veränderung im Verhältnis von Arbeit zu Kapital führen werde, vor allem unter der Maßgabe, dass das Kapital bisher am Sozialstaat mitbeteiligt war (Sozialversicherung!). Fragen der zukünftigen Finanzierung der Sozialpolitik seien demnach zu klären. Wir werden unten auf die Besonderheiten des politischen Systems in Deutschland im Hinblick auf etwaige Reformmaßnahmen kurz eingehen. Auf Rahmenbedingungen der Krise des Sozialstaats in den 1990er Jahren verweist Leisering und bezieht sich auf die These Franz-Xaver Kaufmanns eines „Veraltens des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements“287, also auf einen Wandel der sozialstrukturellen Voraussetzungen des Sozialstaatsmodells wie die Entstandardisierung von Erwerbskarrieren, die Demographie, den Wandel der Geschlechterrollen oder die Internationalisierung der Kapitalmärkte usw. sowie spezifisch deutsche Besonderheiten wie zuvörderst die deutsche Einheit und deren Finanzierung. Insofern wollen wir an dieser Stelle festhalten: Am Beginn des hier vorrangig interessierenden Zeitraums um die Jahrhundertwende herrschte dieser Krisendiskurs noch vor. Gegenüber vielfach geäußerter Kritik am deutschen Sozialstaat unterstreicht Jens Alber Ende der 1990er Jahre, dass der deutsche Sozialstaat etwa im Hinblick auf die Sozialleistungsquote, die wiederum erheblich von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhänge, im internationalen Vergleich „keineswegs als besonders aufwendig oder kostspielig hervorsticht“288. Weder das Ausgabenvolumen, noch die Kosten oder das institutionelle Leis-

287 288

Kaufmann, Herausforderungen, S. 52. Jens Alber, Der deutsche Sozialstaat im Licht international vergleichender Daten, in: Leviathan 26 (1998) S. 205; ebenda, S. 211, S. 215, S. 217, S. 219 (die folgenden Zitate). 277

tungsniveau des deutschen Sozialstaats im europäischen Vergleich ragen heraus, vielmehr rangiere man überall im Mittelfeld. Auch wachse der deutsche Sozialstaat nicht ungebremst, denn in den 1980er und 1990er Jahren sei er bei der Staatsausgabenquote und den Ausgaben für soziale Sicherung auf durchschnittliche bis unterdurchschnittliche Werte abgefallen.289 Deshalb betont Alber, „im internationalen Vergleich sticht der deutsche Sozialstaat also durch eine überdurchschnittliche Bremsung der Ausdehnungsdynamik hervor“, d.h. es gab durchaus Kürzungen, so dass, wie die Kritik am Sozialstaat immer behaupte, „von einem Ausufern des deutschen Sozialstaats keine Rede sein kann“. Die konstatierte starke Bremsung habe aber beispielsweise nicht zu mehr Armut geführt, die Armutsquoten in Deutschland seien im EUVergleich nie überdurchschnittlich gewesen und man könne „kaum behaupten, daß der deutsche Sozialstaat bei der Bekämpfung der Armut in auffallendem Maße versage“, was im Übrigen auch für die Einkommensverteilung gelte. Jedenfalls hebt Jens Alber die „Unauffälligkeit des deutschen Sozialstaats im internationalen Vergleich“ hervor. Ungeachtet dieses eher positiven Urteils zum deutschen Sozialstaat im Umfeld ausgiebiger Krisendiskussionen sieht er, insbesondere im Kontext der demographischen Entwicklung, aber durchaus Reformbedarf in der Alterssicherung. Ähnlich argumentieren die Forscher Stephan Leibfried und Uwe Wagschal mit Blick auf die ausgehenden 1990er Jahre, demnach „Deutschland keineswegs von fehlender sozialer Gerechtigkeit oder

289

Im Jahre 1995 wies Deutschland unter 23 OECD-Staaten die fünfthöchste Sozialstaatsquote auf, vgl. Stephan Leibfried / Uwe Wagschal, Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, in: dies. (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 11. 278

sozialer Kälte geprägt ist“290. Im EU-Durchschnitt weise man eine der egalitärsten Einkommensverteilung und „vergleichsweise geringe Armutsquoten“ auf. Wie kann man nun den deutschen Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts charakterisieren, bevor wir die Ergebnisse unserer Arbeit für den Zeitraum nach 2000 präsentieren. Auf der Basis von Daten der OECD hat Jens Alber291 folgende Trends zum Zustand der europäischen Sozialstaaten am Vorabend der Jahrhundertwende herausgearbeitet, die auch für Deutschland und die Epoche nach 2000 weitgehend Geltung beanspruchen können, wie die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen: Erstens deutete sich auf der Finanzierungsseite ein allmählicher Übergang von der Finanzierung der Leistungen durch Sozialbeiträge, die den Faktor Arbeit belasten, hin zu Steuern an, bei gleichzeitig sinkender Steuerbelastung der Unternehmen und partiell auch reduzierten Arbeitgeberbeiträgen. Die Aufgabe der Parität bei der Krankenversicherung nach 2000 oder die Streichung eines Feiertags zum Ausgleich der Arbeitgeberbeiträge bei der 1995 eingeführten Pflegeversicherung gingen in diese Richtung. Zweitens sei eine Zunahme der Sach- und Dienstleistungen im Vergleich zu den Transferzahlungen zu konstatieren. Drittens kam es zu einer moderaten Steigerung von Leistungen, die eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzen. 290

291

Leibfried / Wagschal, Der deutsche Sozialstaat, S. 20; zu einem ähnlichen Befund kommt Franz-Xaver Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat als Standortbelastung? Vergleichende Perspektiven, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 192: Deutschland weise eine weitgehend egalitäre Einkommensverteilung auf und „keine fehlende soziale Gerechtigkeit“ sei zu beklagen. Vgl. Jens Alber, Modernisierung als Peripetie des Sozialstaats?, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (2002) S. 5-35. 279

Viertens könne ein „Zurückschrauben der finanziellen Verantwortung des Staates“ im Gesundheits- und Rentenbereich festgemacht werden, was u.a. unter Verweis auf die sog. Riesterrente durchaus seine Berechtigung hat. Hierunter fällt die sozialpolitische Reformstrategie mit dem „Kernstück des Aktivierungskonzepts“.

Ergebnisse einer Bilanz des deutschen Sozialstaates seit 2000 Nachdem eine Standortbestimmung des deutschen Sozialstaates bis in die 1990er Jahre wiedergegeben wurde, also der Epoche, die dem hier im Mittelpunkt stehenden Zeitabschnitt unmittelbar vorausging, werden im Folgenden die wesentlichen Ergebnisse der Bilanz zum deutschen Sozialstaat seit dem Jahr 2000 bis in unsere unmittelbare Gegenwart resümierend zusammengefasst. Punktuell werden einige Elemente in aktuelle Forschungsdiskussionen eingeordnet, d.h. wir gehen auf ausgewählte und intensiv diskutierte Reformen bzw. Ergebnisse der sozialpolitischen Entwicklung insbesondere in der Alterssicherung und der Arbeitsmarktpolitik näher ein. Als leitende Fragestellung der empirisch-quantitativen Bilanz fungiert die Überlegung, ob es zu einem Abbau oder/und Umbau des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende gekommen sei. Da eine allgemeingültige Definition des Begriffes „Abbau des Sozialstaates“ nicht vorliegt, sprechen wir von einem Abbau, wenn die Aufwendungen in einem Bereich gesenkt wurden oder wenn die Indikatoren „Bruttoinlandsprodukt“ und „Sozialleistungsquote“ markant auseinandertreten. Wir beginnen mit den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung, die den Kern des deutschen Sozialstaates ausmachen. –

Das System der Alterssicherung basiert in Deutschland auf drei Säulen, nämlich der gesetzlichen Rentenversicherung als den bei weitem wichtigsten Bestandteil, der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge. Falls diese Leistungen nicht reichen, greift die 280

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als unterstes Netz der sozialen Sicherung. Nach Meinung der Bundesregierung steht die Rentenversicherung ab dem Jahr 2020 durch den Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ in das Renteneintrittsalter vor neuen Herausforderungen. Deshalb müssten Anpassungen wie die bereits erfolgte Anhebung der Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgen. Ein Interessenausgleich zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern – über das Jahr 2030 hinaus – bleibe das „zentrale Ziel der Rentenpolitik der Bundesregierung“. Blickt man auf den Personenkreis der gesetzlichen Rentenversicherung, so sind mehr als 50 Mio. Menschen aktiv und passiv versichert. Seit der Jahrhundertwende ist die Zahl der Renten um mehr als zwei Mio. gestiegen, wobei dieser Zuwachs in erster Linie auf die Altersrenten zurückzuführen ist. Hingegen verringerte sich die Zahl der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Dass 2015 nur 2,6 % der über 65-Jährigen und Älteren die Grundsicherung im Alter benötigten, ist ein Hinweis, dass – zumindest derzeit noch nicht – von einer weit verbreiteten Altersarmut gesprochen werden kann. Dieser zunächst positive Befund wird höchstwahrscheinlich nicht von Dauer sein. Allerdings wird neuestens darauf verwiese, dass die Altersarmut deutlich über den Prognosen der Bundesregierung liegen werde.292 Nach den Untersuchungen des Statistischen Bundesamtes seien im Jahre 2015 neun Prozent der Bevölkerung ab 65 Jahren arm gewesen – nach Maßstab der Armutsquote, die sich auf 50 % des Median-Netto-Äquivalenzeinkommens als Basis bezieht. Demnach war die Armutsquote dreimal höher als die Grundsicherungsquote der Bundesregierung. Die Diskrepanz wird u.a. auf die sog. „verschämte Armut“ zurückgeführt, denn weiterhin würden ältere Menschen ihren 292

Vgl. dazu Ebert, Zukunft, S. 104ff., S. 108 (das folgende Zitat). 281

Anspruch auf die Grundsicherung nicht wahrnehmen. Somit sei Altersarmut bereits derzeit höher als die regierungsamtlichen Befunde der Sozialberichte wiedergeben. Im Hinblick auf die Zukunft wird in der neuesten Studie von Thomas Ebert demzufolge nachdrücklich festgehalten: „Viel gravierender ist allerdings, dass Altersarmut künftig zu einem Zentralproblem der Alterssicherungspolitik werden wird“. Über eine betriebliche Altersvorsorge verfügten bis Ende 2015 mehr als die Hälfte der Beschäftigten. Ende 2016 bestanden 16,5 Mio. sog. Riester-Verträge, die Stagnation bei dieser staatlich geförderten Altersvorsorge führte die Bundesregierung auf die Folgen der Bewältigung der Finanzmarktkrise und die derzeit niedrigen Zinsen zurück. Die gesetzliche Rentenversicherung erlebte seit den 1990er Jahren und vor allem seit der Jahrhundertwende eine Vielzahl von Reformen „an Haupt und Gliedern“293, so dass durchaus mit einiger Berechtigung von einer Strukturveränderung des deutschen Sozialstaates gesprochen werden kann: Zunächst mussten nach der Wiedervereinigung die Rentner der neuen Bundesländer in das bundesdeutsche Rentensystem integriert werden. Noch unmittelbar vor dem Ende der DDR hatte eine Rentenreform in der Bundesrepublik erstmals auf die demographische Herausforderung reagiert und den Beitragsanstieg mit verschiedenen Instrumenten wie der Umstellung von der bruttolohnorientierten zur nettolohnorientierten Rentenanpassung oder der schrittweisen Erhöhung der Altersgrenzen bis zur Regelaltersgrenze von 65 Jahren oder der Neubewertung von beitragslosen Zeiten zu begrenzen versucht. Andererseits aber wurden Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung erneut ausgeweitet. 293

Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015, S. 362. 282

Während der rot-grünen Regierungsperiode von 1998 bis 2005 erfolgten mehrere gravierende Rentenreformen, die vor allem mit den Herausforderungen der demographischen Entwicklung sowie der Problematik der Lohnnebenkosten begründet wurden. Das „Kernstück der Rentenreform“ bildete die Einführung einer kapitalgedeckten privaten Zusatzvorsorge (sog. Riesterrente) mit staatlichen Zulagen, die die Regierung in den Kontext eines aktivierenden Sozialstaates mit mehr Eigenverantwortlichkeit verortete. Der Stabilisierung der finanziellen Situation der Rentenversicherung sollte der Einbau eines Nachhaltigkeitsfaktors dienen, der das Verhältnis zwischen Leistungsbeziehern und versicherungspflichtigen Beschäftigen bei der Rentenanpassung in Rechnung stellte (2004). Des Weiteren strebte man eine langfristige Niveausicherung der Renten an, demzufolge das Mindestniveau der Renten vor Steuern bis zum Jahre 2020 46 % und bis zum Jahre 2030 43 % betragen sollte. Auch die Beitragssätze sollten langfristig auf maximal 20 % bis 2020 bzw. auf 22 % bis 2030 begrenzt bleiben. Durch die Einführung von „Schutzklauseln“ wurde im Übrigen eine bei einer negativen Lohnentwicklung an sich durchaus mögliche Rentenkürzung verhindert. Wie erwähnt hat die Rentenversicherung zum Teil gravierende gesetzgeberische Eingriffe erlebt und Leistungskürzungen für die betroffenen Menschen bewirkt. Man spricht wegen der Absenkung des Rentenniveaus bereits vom „Abschied von der dynamischen Rente“. Die Bemühungen zur Beitragsstabilität, die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors, die 2001 begonnene Teilprivatisierung durch die Riesterrente und das Absenken des Rentenniveaus leiteten einen „Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik“294 ein, nämlich einen Übergang von der bisher am Rentenniveau orientierten Politik zu einer am Beitragssatz und damit an den Einnahmen ausgerichteten 294

Schmidt, Sozialstaat, S. 92. 283

Alterssicherungspolitik. Letztlich sei dadurch eine Abkehr von der 1957 implementierten Lebensstandardsicherung und Statusbewahrung im Rentenalter sukzessive eingeleitet worden. Die für die „deutsche Alterssicherung bzw. für die gesamte deutsche Sozialversicherung typische Erwerbszentrierung“ trifft explizit auch und gerade für die Alterssicherung zu, denn diese „knüpft am Erwerbsstatus“295 an. Die Reformen nach der Jahrhundertwende liefen nach Cornelius Torp auf eine „kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus“ hin und bedeuteten eine Zäsur, demzufolge „zukünftig von einer lebensstandardsichernden Funktion der gesetzlichen Rente nicht mehr die Rede sein könnte“296. Die Lebensstandardsicherung sollte mit der zusätzlichen kapitalgestützten Altersvorsorge gewährleistet werden, was aber nur bedingt erreicht worden sei, da die zusätzliche Absicherung bekanntlich nicht obligatorisch angelegt war und die ihr unterstellten Renditen zu optimistisch kalkuliert worden waren. Diese als Kompensation geplante, kapitalbasierte, private Alterssicherung der sog. Riesterrente wird als eine „tiefgreifende Zäsur in der Sozialstaatsgeschichte der Bundesrepublik“297 bezeichnet, die gemäß einer kritischen Sicht vor dem Hintergrund einer von außen kommenden neuen „Orthodoxie“ seit den 1990er Jahren zu sehen sei, nämlich der – angeblichen – Notwendigkeit einer stärkeren kapitalbasierten Altersvorsorge. In Deutschland habe die Investmentbranche der Banken und Versicherungen mit der Aussicht auf gigantische Gewinne maßgeblich diese Reform beflügelt und die umlagenfinanzierte Rentenversicherung diskreditiert. Begleitet wurden die Kampag-

295 296 297

Ebert, Zukunft, S. 35. Torp, Gerechtigkeit, S. 386. Hockerts, Abschied, S. 295 und ebenda, S. 305ff. (zum Folgenden); für Ebert, Zukunft, S. 141 handelte es sich hier um das „Herzstück der rotgrünen Rentenreformen“. 284

nen von einer behaupteten Generationenungerechtigkeit, die nur durch eine Umstellung auf kapitalbasierte Altersvorsorge auszugleichen sei. Der Begriff des Generationenvertrags geriet dabei in den Hintergrund. Laut einer jüngst erschienen Arbeit von Thomas Ebert zur deutschen Alterssicherung sei es ab Mitte der 1990er Jahre vor dem Hintergrund einer nachhaltig propagierten demographischen Herausforderung und Debatten um Lohnnebenkosten im Kontext einer zunehmenden Globalisierung, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft konzentrierte, zu einem Politikwechsel gekommen. „Ausgerechnet“ die SPD habe diesen „grundlegenden Systemwechsel in der Alterssicherung“ implementiert.298 Dabei sei beschlossen worden, vom bislang allgemein verfochtenen Ziel einer Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rente ab298

Vgl. Ebert, Zukunft, S. 115ff. und ebenda, S. 118, S. 121f., S. 127 (die folgenden Zitate); ebenda, S. 122ff. ausführlicher zu den Rahmenbedingungen für die sozialstaatlichen und damit auch das Alterssicherungssystem bestimmenden Faktoren, die Mitte der 1970er Jahre in nahezu allen westlichen Wohlfahrtsstaaten eine Zäsur erfuhren und das „Ende der scheinbar immerwährenden Prosperität“ (ebenda, S. 124) einläuteten. Wenngleich Ebert die gesamten sozialpolitischen Reformen, und insbesondere die hier verhandelte Rentenreform der Regierung Schröder durchaus kritisch beurteilt, wird die strukturelle Konstellation der eingeleiteten Maßnahmen der rot-grünen Regierung doch in einen größeren Zusammenhang verortet und nicht auf irgendwelche Verschwörungen o.ä. zurückgeführt. Zum Verständnis der gesamten Reformpolitik unter Schröder gehört, wie der Autor zu Recht betont, dass der Bruch des Generationenvertrags „ – nicht anders als die wenige Jahre später in Gang gesetzte Agenda 2010 – ein Reflex auf die Krisenstimmung, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Deutschland breitgemacht hatte“ (ebenda, S. 125), gewesen sei. Zusätzlich ist die von der Vorgängerregierung Kohl durchgesetzte erhebliche Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit durch die dadurch belastete Sozialversicherung in Rechnung zu stellen. Damit sind m.E. wesentliche Momente bei der Beurteilung der sozialpolitischen Reformen in den ersten Jahren nach 2000 erkannt. 285

zukehren und die anvisierte Senkung des Rentenniveaus durch eine staatlich geförderte, freiwillige private kapitalgedeckte Zusatzvorsorge auszugleichen. Beachtung verdient der Hinweis von Thomas Ebert, demzufolge der Grund für den Bruch des bis dato geltenden Generationenvertrags in der Rentenversicherung weder in einer wie auch immer zu verstehenden „Verschwörung“ – Einflüssen der Finanzindustrie – noch in einem angeblich „unausweichlichen Sachzwang“ zu finden sei. Vielmehr habe es sich „um das Zusammenspiel zweier Faktoren“ gehandelt, nämlich berechtigterweise einer demographischen Herausforderung und einer „Akzeptanz- und Vertrauenskrise des traditionellen deutschen Rentensystems“, die eine Konsequenz „tiefer liegender gesellschaftlicher Veränderungen“ sei. Politisch haben sich, so Thomas Ebert, die SPD299 wie auch die Grünen den vorherrschenden Meinungen über eine – angebliche oder tatsächliche – „deutsche Krankheit“ (Wachstumsschwäche, steigende Arbeitslosigkeit usw.) wie sie von der Mehrheit der Ökonomen beklagt wurde, kaum entziehen können, denn „politische Parteien, die sich nicht mit der Pflege ihrer eigenen Organisation begnügen, sondern Mehrheiten gewinnen wollen, um politisch gestalten zu können, müssen 299

Inwieweit es sich bei dem „verblüffenden sozialpolitischen Kurswechsel“ (Ebert, Zukunft, S. 127) insbesondere der SPD um einen nicht gänzlich unerwarteten Politikwechsel gehandelt habe, bleibt schwer zu entscheiden, denn ungeachtet mancher vorherigen Tendenzen zu einer anders orientierten Politik, stieß Schröder mit seiner Ankündigung etwa im März 2003 doch auf eine einigermaßen unvorbereitete eigene Partei und Öffentlichkeit. Auch die im Vorfeld weitgehend ausgebliebene Diskussion über seinen Vorstoß deutet wohl eher daraufhin, dass diese neue Politik für sehr viele Menschen unerwartet kam. In diesem Zusammenhang sind auch die von manchen Politikwissenschaftlern wie u.a. Karl-Rudolf Korte (ders., Wahlen in Deutschland, Bonn 2010, S. 118f.) formulierte Kritik an Schröder zu sehen, demnach dieser seinen Kurswechsel nicht angemessen begründet habe. 286

in der einen oder anderen Weise auf die öffentliche Meinung und die gesellschaftlichen Trends reagieren.“ Jedenfalls seien die Grundsätze des Generationenvertrags, also Umlageverfahren, dynamische Rente, Lebensstandardsicherung, in bestimmten Umfang aufgegeben worden. In diesem Kontext gehört des Weiteren die Debatte um die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, also die Frage der Umlagefinanzierung versus Kapitaldeckung. Befürworter einer Kapitaldeckung betonten die Belastung durch steigende Sozialversicherungsbeiträge und damit höhere sog. Lohnnebenkosten, die auf den Faktor Arbeit lasteten. Allerdings ist kaum zu bestreiten, dass eine kapitalgedeckte Alterssicherung von wirtschaftlichen Krisen ähnlich wie die beitragsfinanzierte Rentenversicherung betroffen ist und somit keinesfalls einen „sicheren Hafen“300 darstellt. Treffend weist im Übrigen Hockerts darauf hin, dass der gesamte Vorgang zur Teilprivatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung einige Jahre später unter dem Eindruck der Finanzund Wirtschaftskrise wohl nicht durchsetzbar gewesen wäre. Als Gesamtkonstellation der nach 2000 in Angriff genommenen Reformen müssen zusätzliche Aspekte in Rechnung gestellt werden:301 Die in den 1990er Jahren dramatisch sich verschlechternde Lage der Rentenfinanzen als Konsequenz des einbrechenden Arbeitsmarktes in den neuen Bundesländern und die rasch anwachsenden Rentenausgaben im Osten (Frühverrentungswelle, sinkendes 300

301

Vgl. zum Streit um das Umlageverfahren versus das Kapitaldeckungsverfahren auch neuestens Ebert, Zukunft, S. 128ff. Demnach sei diese Auseinandersetzung letztendlich weniger eine Debatte über Finanzierungsmethoden, sondern vielmehr betraf sie „Grundsatzfragen der Gesellschaftspolitik“, nämlich stehe das Umlageverfahren mehr für „gesellschaftliche[n] Solidarität“, während das Kapitaldeckungsverfahren für den Grundsatz der „individuellen ökonomischen Selbstständigkeit“ stehe. Vgl. dazu auch Torp, Gerechtigkeit, S. 363ff. und Ebert, Zukunft, S. 124f. 287

Rentenzugangsalter), die überwiegende Finanzierung der deutschen Einheit durch die Sozialversicherung, die intensivierte Debatte um den „Standort“ und damit korrespondierend die Frage der Arbeitskosten, d.h. der Lohnnebenkosten. Auch die außerordentliche Hausse am Aktienmarkt seit Mitte der 1990er Jahre, die eine kapitalgestützte Alterssicherung als erfolgreichen Weg zu weisen schien, beflügelte diese Art von Umbauten. Insgesamt gesehen habe es sich, so kritisch Hans G. Hockerts302, bei der Riesterreform um eine „Kostenverlagerung von den Unternehmen auf die privaten Haushalte, zum Teil auch auf den Staat“ gehandelt. Dass dieser Umbau im Parlament eine Mehrheit fand, sei u.a. daran gelegen, dass die „Riester-Rente keine Privatisierung in Reinkultur“ war, „sondern einen Zwitter aus Staat und Markt“ darstellte. Somit entstand ein ausgebauter Wohlfahrtsmarkt303 mit dem Staat als Regulator. Immerhin muss die kritische Perspektive von Hockerts einräumen, dass durch die Reform eine „marktradikale Lösung“304 in Deutschland verhindert worden sei und die gesetzliche Rentenversicherung langfristig der „stärkste Pfeiler im System der Alterssicherung“ bleibe. Es ist somit ein „teilprivatisiertes Rentensystem, eine Mischkonstruktion aus umlagefinanzierter gesetzlicher Rentenversicherung und kapitalgedeckter privater und betrieblicher Vorsorge“305 geschaffen worden. Eine umfangreichere Einbeziehung von kapitalbasierten Anteilen der Alterssicherung sollte angesichts der Unsicherheiten des Kapitalmarktes als neue Säule der Alterssicherung kritisch betrachtet

302 303

304 305

Hockerts, Abschied, S. 318 und S. 319. Vgl. dazu Stephan Köppe, Wohlfahrtsmärkte. Die Privatisierung von Bildung und Rente in Deutschland, Schweden und den USA, Frankfurt/Main 2015. Hockerts, Abschied, S. 324 und ebenda (das folgende Zitat). Ebert, Zukunft, S. 154. 288

werden. Letztendlich sei die Regierung Schröder mit ihrer Riester-Reform „einem allgemeinen internationalen Trend zur zunehmenden Privatisierung der Alterssicherung“306 gefolgt. Insofern spielt auch hier das im Zusammenhang mit den Hartzreformen bereits formulierte „historistische“ Element seine Rolle, d.h. auch diese Reform muss vor dem Hintergrund der damaligen Konstellationen, Einschätzungen und vorherrschenden Ansichten o.ä. gesehen werden. In einer zusammenfassenden Bilanz der rot-grünen Rentenreformen mit dem „Herzstück“ der sog. Riesterrente kommt Thomas Ebert zu dem Ergebnis, dass die „anvisierten Ziele mit dem neu etablierten teilprivatisierten Rentensystem nicht erreicht wurden“307. So seien insgesamt die Arbeitgeber zum Nachteil der Arbeitnehmer entlastet worden. Des Weiteren sei die neue Riesterrente auf weit weniger Resonanz gestoßen, als die damalige Regierung gehofft hatte. Insbesondere bei geringer Verdienenden kam es zu viel zu wenigen Abschlüssen. Auch sei der 4 %-Beitragssatz zu niedrig angesetzt, um die Kürzungen beim Rentenniveau einigermaßen ausgleichen zu können. Den prinzipiellen Fehler sieht der Autor in der „falsche[n] Grundsatzentscheidung“, demzufolge die neue zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge weitgehend der privaten Finanzwirtschaft überlassen worden sei mit allen Konsequenzen von Qualitätsmängeln, mangelnder Transparenz und zu hohen Kosten. Zwar spiele die Zinsfrage sicher auch eine Rolle für das Ausbleiben der anvisierten Ziele, aber letztendlich seien diese genannten „immanenten Defizite der Konstruktion, die mit der Teilprivatisierung des Rentensystems geschaffen wurde […] der zentrale politische Fehler der Reform“. 306 307

Torp, Gerechtigkeit, S. 381. Ebert, Zukunft, S. 224 und ebenda, S. 224ff. (zum Folgenden); ebenda, S. 227 und S. 229 (die beiden Zitate). 289

Inwieweit man von einer Zerstörung des Generationenvertrages durch diese Teilprivatisierung des Rentensystems sprechen kann, erscheint m.E. aber als etwas übertrieben, wenn man die anhaltend weiterhin hohen Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung betrachtet. Insofern bleibt diese die uneingeschränkt wichtigste Säule der Alterssicherung, die aber dessen ungeachtet vielfältiger zukünftiger und das Vertrauen aufbauender Eingriffe in Richtung der (Wieder)Herstellung eines angemessenen Rentenniveaus erfordert.308 Kritisch verweist Gerhard Bosch darauf, dass bisher insbesondere zu wenige Geringverdiener die Riesterrente als zusätzliche Altersvorsorge abgeschlossen hätten. Die Bekämpfung von Altersarmut durch diese freiwillige Zusatzversorgung sei demnach „gründlich verfehlt“309 worden. Tatsächlich schien die Riesterrente zuvörderst bei Familien mit Kindern auf Resonanz gestoßen zu sein: Hatten 2009 Kinderlose nur zu 27 % derartige Verträge abgeschlossen, stieg die Zahl bei Personen mit einem Kind auf 38 %, bei zwei Kindern auf 56 % und bei drei Kindern gar auf 68 %. Zusätzlich trug die Finanzkrise 2008 wohl kaum zu mehr Vertrauen in diese Form der Alterssicherung bei. Neben weiteren Reformen wie der durch das Bundesverfassungsgericht erzwungenen, schrittweisen Rentenbesteuerung bei gleichzeiti308

309

Vgl. die ausführlich diskutierten „Strategieoptionen“ zukünftiger Alterssicherungspolitik bei Ebert, Zukunft, S. 230ff., auf die wir hier aber nicht näher eingehen werden. Ebert plädiert letztendlich unabhängig von den Ergebnissen der rot-grünen Rentenreformen für das Konzept einer Systemreform „mit einer breitestmöglichen Finanzierungsgrundlage, das alle Bürgerinnen und Bürger in eine gesamtgesellschaftliche Solidargemeinschaft einbezieht“ (ebenda, S. 335). Allerdings räumt er wohl zu Recht die kaum mögliche politische Umsetzung derartiger sozialpolitischer Umbauten ein. Bosch, Sozialmodell, S. 28; die folgenden Zahlen nach Torp, Gerechtigkeit, S. 383. 290

ger Steuerfreistellung von Altersvorsorgeaufwendungen verdient die 2007 beschlossene, politisch heftig umstrittene, schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre Erwähnung. Diese Erhöhung der Altersgrenze fiel aber bereits in die Regierungszeit der ersten Großen Koalition mit Angela Merkel nach der rotgrünen Bundesregierung. Auch hier argumentierte die Regierung mit dem demographischen Wandel und der Akzeptanz des Generationenvertrags. Diskutiert wurden die Folgen der Anhebung für unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten, demnach höher qualifizierte Arbeitnehmer jetzt schon eine längere Erwerbstätigkeit mit positiven Folgewirkungen bei der nachmaligen Rente aufwiesen, während umgekehrt einfacher qualifizierte und überwiegend manuell tätige Arbeitnehmer weitaus weniger in der Lage seien, länger erwerbstätig zu bleiben. Hier kann die in der letzten Legislaturperiode verabschiedete verbesserte Erwerbsminderungsrente wohl als eine mögliche Kompensation dieser Disparitäten unterschiedlicher Arbeitnehmergruppen bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit fungieren. Die Legislaturperiode 2013 bis 2017 brachte einschneidende, politisch umstrittene Maßnahmen wie die 2014 eingeführte abschlagsfreie „Rente ab 63“ für besonders langjährig Versicherte mit 45 Beitragsjahren oder die sog. „Mütterrente“. Die These von der demographischen Entwicklung als wichtigste Ursache für die Krise der Alterssicherung um die Jahrhundertwende sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in Großbritannien weist Cornelius Torp eher zurück. Für Deutschland seien die enormen Finanzprobleme der Rentenversicherung infolge der gestiegenen Arbeitslosigkeit insgesamt, der gewollten Frühverrentung in Ostdeutschland und damit – politisch zu Recht hervorhebend – der letztendlich realisierten Finanzierung der deutschen Einheit zuvörderst durch die Sozialversicherung ausschlaggebender gewesen.310 310

Vgl. Torp, Gerechtigkeit, S. 403. 291



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Die finanzielle Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung als größter Teilbereich der sozialen Sicherung wurde daran deutlich, dass ihre Gesamtleistungen ungefähr einem Drittel des gesamten Sozialbudgets entsprachen. Den weit überragenden Teil stellten die Rentenausgaben dar. Die Gesamtausgaben nahmen um mehr als ein Viertel seit 2001 zu. Bei den Einnahmen ragten die Beiträge hervor, aber auch der Bundeszuschuss und die Erstattungen aus öffentlichen Mitteln sind seit Anfang des Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen und entsprachen rund einem Viertel der Gesamteinnahmen. Der wachsende Bundeszuschuss auf der Einnahmenseite verdeutlichte, dass die Ausgaben der Rentenversicherung zu einem nicht unerheblichen Teil vom Bundeshaushalt und damit vom Steuerzahler mit bestritten wurden. Die gesetzliche Krankenversicherung erlebte seit Anfang der 1990er Jahre bzw. nach 2000 zum Teil gravierende Reformen unter dem leitenden Prinzip der Kostendämpfung. Die Diskussionen thematisierten die Kostenexpansion im Gesundheitsbereich, die Art der Einnahmemethoden – Stichwort Bürgerversicherung oder Kopfprämie –, die Kosten für Arzneimittel, die demographische Entwicklung, den medizinischen Fortschritt oder die Zukunft der Krankenhäuser. 311 Reformen im Gesundheitswesen müssen vor dem Hintergrund der Mitwirkung zahlreicher Akteure wie der Ärzteschaft, Apotheken, Pharmaindustrie, Krankenkassen und auch unterschiedlicher politischer Entscheidungsebenen vom Bund über die Länder bis zu den Kommunen mit ihren jeweiligen Interessenlagen bedacht werden. Zugleich sollte man jedoch die zunehmende Bedeutung eines wachsenden Gesundheitswesens im Hinblick auf die Schaffung neuer Dienstleistungsarbeitsplätze nicht unterschätzen. Die Ausgaben der gesetzlichen Vgl. dazu u.a. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 222ff. mit ausführlicher Darlegung der Problemkonstellationen. 292



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Krankenversicherung nahmen bis 2015 um mehr als die Hälfte auf rund 213 Mrd. Euro zu, wobei die Aufwendungen für Arzneimittel die höchsten Zuwachsraten aufwiesen und als ein wesentlicher Kostentreiber fungierten. Dass die Entwicklung der Krankenversicherung auf der Einnahmeseite auch von der gesamtwirtschaftlichen Lage abhängig ist, verdeutlicht die derzeitige positive finanzielle Lage der Kassen aufgrund der Beschäftigungssituation. Eine grundlegende Reform erfuhr die Struktur des Gesundheitswesens durch die Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009, der die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Rentner, Selbstständigen und sonstigen Beitragszahler einsammeln sollte und diese mit dem Bundeszuschuss an die einzelnen Krankenkassen weiterleitete. Die Mittel des Fonds sollten nach einer einheitlichen Kopfpauschale unter Berücksichtigung eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches an die Krankenkassen verteilt werden. Die Kassen verloren ihre Beitrags- und Finanzautonomie durch die Einführung eines einheitlichen Beitragssatzes, während gleichzeitig ein zusätzlicher Beitragsanteil nur noch von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden musste. Damit wurde ein Grundprinzip der bisherigen Sozialversicherung, die paritätische Finanzierung, aufgegeben und es begann der „Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems“312. Der gesetzlichen Unfallversicherung gehört mittlerweile fast die gesamte Bevölkerung an. Die Zahl der meldepflichtigen Unfälle und der Berufskrankheitsfälle ist seit dem Jahre 2000 u.a. aufgrund der Verbesserung bei der Prävention deutlich gesunken. Damit korrespondierte eine geringere Zahl von Renten an Versicherte bzw. Hinterbliebene. Die Ausgaben der gesetzlichen UnSchmidt, Sozialpolitik 2009 bis 2013, S. 402. 293



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fallversicherung sind demzufolge von 2001 bis 2015 moderat von rund 11 Mrd. Euro auf 13 Mrd. Euro gestiegen. Die wesentlichen Veränderungen betrafen vor dem Hintergrund des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft organisatorische Aspekte dieser allein von den Arbeitgebern getragenen Sozialversicherung. So wurden zum Ausgleich von Nachteilen einzelner Gewerbezweige (z.B. der Bauwirtschaft) 2003 die solidarische Lastenverteilung verbessert und Fusionen zwischen einzelnen Trägern der Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften, in die Wege geleitet. Demzufolge reduzierte sich die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften bis zum Jahre 2011 von 23 auf neun. Auch die bisherigen bundesunmittelbaren Unfallkassen wurden 2015 zu einem einzigen Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand „Bund und Bahn“ zusammengeführt, der die Unfallkasse des Bundes und die Eisenbahn-Unfallkasse miteinbezog. Ein Jahr später erfolgte die Fusion der Unfallkasse Post und Telekom sowie der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft zur Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation. Die Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung) wurde seit der Jahrhundertwende von den politisch partiell bis zum heutigen Tag umstrittenen Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder im Rahmen der sog. Agenda 2010313 betroffen. Zunächst ist aber auf die positive Arbeitsmarktentwicklung zu verweisen. Die Zahl der in Deutschland wohnenden Erwerbstätigen stieg von 1991 bis 2016 auf rund 43,5 Mio. Personen an, was den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung bedeutete. Die Erwerbstätigenquote – der

Vgl. Schmidt, Koalition, S. 297, demnach die Agenda 2010 „ein Bündel von Kursänderungen und von tiefer gehenden Reformen“ vorsah, neben Arbeitsmarktpolitik, Reformen im Arbeitsrecht, Gesundheitswesen, Rentenreformen und Reformen/Investitionen im Bildungswesen. 294

Anteil der Erwerbstätigen gemessen an der Bevölkerung – nahm von 2000 bis 2016 um zehn Prozent auf 78,7 % zu, wobei die intensivierte Erwerbstätigkeit der Frauen einen wesentlichen Faktor bildete. Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöhte sich deutlich von 26,3 Mio. (2005) auf 30,77 Mio. (2015). Die sog. „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ wie Teilzeit unter 20 Stunden, Minijobs, befristete Beschäftigung oder Zeitarbeitsverhältnisse hatten bis 2010 deutlich zugenommen, seitdem ging ihre Zahl – abgesehen von der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung – zurück: Im Jahre 2005 waren es 6,86 Mio., 2010 7,95 Mio. und 2014 7,51 Mio. Die Zahl der Leiharbeiter hat sich von 2014 bis 2016 auf eine Million erhöht, ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung blieb aber unter drei Prozent. Diese positive Entwicklung der Erwerbstätigkeit wurde vom seit 2005 einsetzenden Rückgang der Arbeitslosigkeit flankiert. Ausgehend vom Gipfelpunkt im Jahre 2005 mit 4,86 Mio. erwerbslosen Personen sank die Arbeitslosigkeit, abgesehen vom kurzen Einbruch wegen der massiven Finanz- und Wirtschaftskrise 2009, bis 2016 kontinuierlich auf 2,69 Mio. Personen. Die Arbeitslosigkeit in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld I), geregelt im SGB III, ist von 2005 bis 2015 um fast drei Fünftel geschmolzen, hingegen nahm die Arbeitslosenzahl in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II nach SGB II) nur um ein knappes Drittel ab, was auf die anhaltende Problematik dieses Personenkreises am Arbeitsmarkt verweist und die Erfolgsbilanz der letzten Jahre eintrübt. Aber auch Ältere waren in dem genannten Zeitraum weiterhin stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sowie Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Ein weiteres Analysekriterium stellt die Dauer der Arbeitslosigkeit dar, also die Unterscheidung einer Arbeitslosendauer bis zu einem Jahr bzw. länger als ein Jahr (Langzeitarbeitslose). Der langsamere Abbau der Empfänger von Arbeitslosengeld II aus der Grundsicherung zeigte die Prob295

lematik dieser Teilgruppe auf dem Arbeitsmarkt. Höheres Alter, mangelnde Qualifikation, fehlende abgeschlossene Berufsausbildung stellten Kennzeichen dieser Gruppe dar. Gut ein Drittel aller Arbeitslosen war 2016 langzeitarbeitslos. Schließlich sei noch ein Blick auf die Beschäftigungssituation von Ausländern in Deutschland geworfen: Bis zum Ende der Anwerbung sog. Gastarbeiter 1973 waren rund 14 Mio. ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen. Von 1987 bis 2013 wanderten mehr als drei Mio. Aussiedler in Deutschland ein. Infolge der sukzessiven Öffnung des Arbeitsmarktes für EU-Bürger aus Ost- und Südosteuropa hatte sich erneut die Wanderungsbewegung nach Deutschland verstärkt. 2015 wiesen rund 17,1 Mio. Menschen einen Migrationshintergrund (= 21,0 % der Gesamtbevölkerung) auf. Die überwiegende Mehrheit kam aus den vormaligen Anwerbeländern Griechenland, Italien, eh. Jugoslawien, Marokko, Portugal, Spanien, Tunesien und der Türkei. Mehr als die Hälfte der Ausländer lebte seit mehr als zehn Jahren in Deutschland und die Türken stellten mit zwei Mio. Personen die größte Gruppe. Ausländer waren überproportional arbeitslos, wofür ihre wesentlich ungünstigere Qualifikation und ihre Beschäftigung auf Arbeitsplätzen mit geringen Qualifikationsanforderungen verantwortlich zeichneten. Außerdem gelang es vielfach nicht, ausländischen Jugendlichen eine Berufsausbildung zu vermitteln. Eine besondere Schwierigkeit stellte die Integration ausländischer Frauen dar, die vielfach sozial isoliert lebten. 2015 war die Arbeitslosenquote von Ausländern fast dreimal so hoch, was die weiterhin ungelöste Problematik der Arbeitsintegration der Menschen mit Migrationshintergrund verdeutlicht. Hier muss auf den relativ hohen Anteil von Ausländern unter den Beziehern von Arbeitslosengeld

296

II verwiesen werden.314 Am 1. Januar 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft, das die Begründung eines Aufenthaltsrechts zu einer vorab von der Bundesagentur für Arbeit zu genehmigenden Erwerbstätigkeit ermöglichte. Darin wurde u.a. der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für hoch Qualifizierte erleichtert. Die hohe Fluchtmigration seit 2015 wurde zunehmend auf dem Arbeitsmarkt sichtbar. Im Juni 2017 waren 490 000 schutzsuchende Menschen als arbeitsuchend gemeldet, darunter 181 000 Arbeitslose. Von den 4,4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Rechtskreis des SGB II hatten im Februar 2017 11,6 % einen Fluchthintergrund. Für den gesamten Zeitraum von 2002 bis 2015 ist eine erhebliche Abnahme bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu konstatieren. 2016 allerdings nahm die Zahl der Teilnehmer an ausgewählten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wieder deutlich zu. Unter allen Arbeitslosen wurden in diesem Jahr Langzeitarbeitslose, die wichtigste Problemgruppe am Arbeitsmarkt, wesentlich häufiger in Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung und in andere Beschäftigung schaffende Maßnahmen gefördert. Neben den oben (IV. 1.4.2) ausführlicher beschriebenen Arbeitsmarktreformen war die neue rot-grüne Regierung Schröder bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vor allem mit dem Sofortprogramm Jump erfolgreich. Es konnte die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen unter 25 Jahren von 2005 bis 2015 halbiert werden. Weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit betrafen in Kooperation mit der Wirtschaft die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze durch den mehrfach 314

Vgl. dazu nur Kolja Rudzio, Das solidarische … was? (DIE ZEIT NR. 15 v. 05.04.2018): „Doch der Grund ist offenbar nicht ein kaputtes HartzIV-System, sondern die Zuwanderung.“ 297

verlängerten Ausbildungspakt und den Ausbau der sog. Benachteiligtenförderung für benachteiligte Jugendliche. In diesen Kontext rückte zunehmend die Sicherung des Fachkräftemangels vor dem Hintergrund des demographischen Wandels in den Mittelpunkt. Die berufliche Eingliederung von Langzeitarbeitslosen bildete ein Dauerthema innerhalb der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Offensichtlich bewirkte der wirtschaftliche Aufschwung gerade für viele langzeitarbeitslose Arbeitnehmer nicht den gewünschten Erfolg. Aktive Arbeitsmarktpolitik war vor allem eine Aufgabe für die Jobcenter, denn hier befanden sich diejenigen erwerbslosen Personen mit zum Teil mehrfachen Beeinträchtigungen. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, d.h. der über 50-Jährigen. Berufliche Weiterbildung wie auch eine Reform der Winterbauförderung mit dem Ziel einer ganzjährigen Beschäftigung stellten ebenfalls Elemente der Arbeitsmarkpolitik dar. Im Kontext der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich im Spätherbst 2008 auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht hatte, verfolgte die Bundesregierung eine Arbeitsmarktpolitik unter der Vorgabe „Qualifizieren statt Entlassen“. Das Kernstück zur Krisenbekämpfung war die Ausweitung der Kurzarbeit. Die hier auf den Weg gebrachten Krisenmaßnahmen können zu Recht als ein positives Element in der Entwicklung der Sozialpolitik von der Jahrhundertwende bis 2015/16 gewürdigt werden. Rückblickend auf die abgelaufene Legislaturperiode von 2013 bis 2017 räumte die Bundesregierung aktuell ein, dass ungeachtet einer guten Arbeitsmarktentwicklung gering qualifizierte, langzeitarbeitslose, ältere und behinderte Menschen und Personen mit Migrationshintergrund weiterhin Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben. Fortbestehend bleibe auch das sog. Passungsproblem auf dem Ausbildungsmarkt, demzufolge ausbil298

dungsinteressierte junge Menschen und die freien Ausbildungsplätze zusammengeführt werden müssen. Dazu gesellt sich der wachsende Bedarf an Fachkräften, der die Arbeitsmarktchancen benachteiligter Personen einschränkt, wenn ihnen die nachgefragte berufliche Qualifikation fehlt. Blicken wir schließlich auf die finanziellen Aspekte der Arbeitsförderung, so setzten sich die Einnahmen der Arbeitsförderung von 2001 bis 2015/16 im Wesentlichen zu drei Vierteln aus Beiträgen und zu einem Viertel aus öffentlichen Mitteln zusammen. Seit 2014 fielen auch keine Bundesmittel mehr an. Die Finanzierungsseite der Arbeitsförderung stand verständlicherweise in enger Korrelation mit der gesamtwirtschaftlichen Lage. Den durchgehend größten Posten bei den Ausgaben der Arbeitslosenversicherung stellten die Ausgaben für das Arbeitslosengeld, also die Lohnersatzleistungen, dar. Von 2002 bis 2016 halbierten sich die gesamten Leistungen der Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung) auf 27,4 Mrd. Euro. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den sonstigen Leistungen der Arbeitsförderung, die ebenfalls wegen der positiven Konjunktur zurückgefahren wurden. Bekanntlich waren und sind bis in unsere unmittelbare Gegenwart die Arbeitsmarktreformen im Rahmen der sog. Agenda 2010 umstritten und werden im Hinblick auf ihre Effizienz kontrovers beurteilt. Eine angemessene Beurteilung der Reformen, die einen „Paradigmenwechsel“ in der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland einleiteten, hat als grundlegende Rahmenbedingung das Ausmaß der Arbeitslosigkeit mit dem Erreichen der 5-Millionengrenze Anfang 2005 in Rechnung zu stellen.315 Die Abschaffung der einkommensabhängigen Arbeitslo315

Vgl. dazu auch Schmid, Reform, S. 273, der auf die drei Problemgruppen am Arbeitsmarkt verweist, nämlich die – zum damaligen Zeitpunkt – noch vergleichsweise niedrige Frauenerwerbsquote, den „Jugendwahn“ in vielen Un299

senhilfe und deren Verschmelzung mit der Sozialhilfe zur neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende war ein „Bruch mit dem Prinzip der Sicherung des Lebensstandards“316 und hat erhebliche Verschlechterungen für Arbeitslose zur Folge gehabt. Wie lange Arbeitslose vorher erwerbstätig gewesen waren, spielte nunmehr keine Rolle. Kritisch beurteilt wird ebenfalls das neue „Paradigma der Arbeitsmarktpolitik“, d.h. die „Vermittlung in Arbeit um jeden Preis“ mit gegebenenfalls Sanktionsdrohungen sowie die herbeigeführte Deregulierung des Arbeitsmarktes. Als Beispiele für die divergierende Beurteilung der Reformen317 seien stellvertretend die kritischen Befunde bei Gerhard Bosch und demgegenüber das überwiegend positive Fazit eines neuesten Beitrags von Ulrich Walwei kurz skizziert.318 Walwei geht zunächst zu

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ternehmen und schließlich die Langzeitarbeitslosen; ebenda, S. 275ff. auch kurze Diskussion der damaligen beschäftigungspolitischen Denkansätze. Bosch, Sozialmodell, S. 12. Die Debatte über ist kaum mehr zu überschauen, vgl. nur hier die umfangreichen Angaben und Literaturhinweise beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Erlangen. Vgl. Bosch, Sozialmodell, S. 11ff. und S. 15ff. und Ulrich Walwei, Agenda 2010 und Arbeitsmarkt: Eine Bilanz, in: APUZ 26 (2017) S. 25-33; Walwei, Agenda, S. 26 (das folgende Zitat); ebenfalls eine kritische Position aus gewerkschaftlicher Sicht vertretend Wilhelm Adamy, Hartz IV – Achillesferse der Arbeits- und Sozialhilfepolitik, in: Reinhard Bispinck / Gerhard Bosch / Klaus Hofemann / Gerhard Naegele (Hg.), Sozialpolitik und Sozialstaat. Festschrift für Gerhard Bäcker, Wiesbaden 2012, S. 257291, der eine Reihe von Defiziten hervorhebt: Dominanz des Forderns, Ausweitung des Begriffs der Erwerbsfähigkeit, Zielsetzung der vormaligen Sozialhilfe nicht mehr leitend, neues Existenzminimum unabhängig vom vorherigen Erwerbseinkommen, Rentenbeiträge für Hartz IV Bezug gestrichen (2011), Langzeitarbeitslosigkeit weiter geblieben, Beschäftigungseffekt umstritten, Niedriglohnsektor ausgeweitet, „auch wenn dies keinesfalls alleinige Ursache hierfür ist“ (276). 300

Recht von der damaligen schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Arbeitslosigkeit aus und erinnert daran, dass die Agenda 2010 neben den Kürzungen, Deregulierungen im Arbeitsrecht und Einschnitten ein breiteres Bündel von Reformmaßnahmen beinhaltete wie die Lockerung der relativ starren Handwerksordnung, mehr Investitionen in Bildung (Ganztagsschulen) und Ausbildung. Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende bedeutete einen Wechsel „vom Statuserhalt hin zu einer Basisabsicherung mit starken Aktivierungselementen“. So haben Leistungskürzungen in der Arbeitsmarktpolitik vor allem vormalige Bezieher von Arbeitslosenhilfe und ältere Arbeitslose betroffen, hingegen konnten Personen, die zuvor keine Leistungen beantragt hatten und Alleinerziehende ihre Situation verbessern. Die Vermittlung von Arbeitslosen sei aber schwieriger wegen der Definition von Erwerbsfähigkeit, diese verstanden als Fähigkeit, einer Erwerbstätigkeit im Umfang von mindestens drei Stunden Arbeit täglich nachgehen zu können. Immerhin musste die Kritik an den Hartzreformen einräumen, dass die Betreuung der Arbeitslosen sich verbessert habe. Jedoch bleibe unklar, ob die angestrebte Verbesserung der Vermittlungen eingetreten sei, denn der Abbau der Arbeitslosigkeit seit 2005 habe sich bisher vor allem auf die Arbeitslosengeldbezieher I ausgewirkt. Allerdings konnte immerhin die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II etwas gesenkt werden. Kritisch registriert wurde die erhebliche Zunahme von Leiharbeit und Minijobs. Neben der Einschränkung des Lebensstandards durch das Arbeitslosengeld II wird der „Mangel an Fördern im Verhältnis zum durchgesetzten Fordern“319 als Negativpunkt betont. Mit einiger 319

Schmid, Arbeitsmarktpolitik, S. 13 und ebenda (auch das folgende Zitat); vgl. zur Bilanz der Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder auch 301

Berechtigung hebt Josef Schmid die wenig überzeugende Kommunikation bei der Implementation der Reform hervor: „Positive Elemente wie die Öffnung der arbeitsmarkpolitischen Maßnahmen und Leistungen für bislang nicht versicherte, aber arbeitsfähige und arbeitsuchende Menschen wie Schüler und Studierende nach ihrem Abschluss oder aber die finanzielle Entlastung der Kommunen wurden kaum wahrgenommen.“ In einem neueren Beitrag heißt es ebenfalls mit kritischem Aspekt zu den Reformen im Kontext der Agenda 2010 – die explizit die Aktivierung propagierten – angesichts der zurückgegangenen Förderungen etwa im Bereich der beruflichen Qualifizierung: „Pointiert formuliert, erscheinen die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 somit weniger als Fördern und Fordern, sondern vielmehr als Fordern ohne Fördern“.320

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ders., Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – große Reform mit kleiner Wirkung?, in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes (2002-2005), Wiesbaden 2007, S. 271-294. Florian Fößel, Warum scheiterte der Dritte Weg der SPD? Eine Analyse am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik, in: Eckhard Jesse / Roland Sturm (Hg.), Demokratie in Deutschland und Europa. Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven, Berlin 2015, S. 155-173. Auf die parteipolitischen Folgen des Scheiterns der Politik des dritten Weges und die daraus resultierende Durchsetzung der Linkspartei, wie sie Fößel formuliert, wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber nicht eingegangen. Es sei lediglich angemerkt, dass der massive Rückgang der SPD in den letzten Jahren seit der rot-grünen Regierungszeit nicht nur mit der Agenda-Politik eindimensional erklärt werden kann. So müssten die Wahlergebnisse der Linken, der Hauptkritikerin der Agenda 2010, eigentlich weitaus höher sein (Ausnahme ev. die Bundestagswahl 2009). Zutreffend räumt Fößel ein, dass die Arbeitsmarktreformen wohl in erste Linie für die positive Arbeitsmarktentwicklung verantwortlich zeichneten, aber die SPD daraus keinen politischen Profit ziehen konnte: „Trotz der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt ist es der SPD nicht gelungen, von den Erfolgen ihrer Arbeitsmarktpolitik innerhalb des Parteien302

Aber am umstrittensten ist die Frage nach den Auswirkungen der Hartzreformen auf die Beschäftigung. Hier vertritt die kritische Position die These, demzufolge die Aufschwünge nach 2005 vor allem auf dem Export basierten, d.h. die günstige Beschäftigungsentwicklung in Deutschland seit den letzten Jahren resultiere „nicht in den Hartz-Gesetzen“321, vielmehr spielte eine Politik der Lohnzurückhaltung eine wesentliche Rolle. Die Hartzreformen verhinderten, dass nach 2005 der Niedriglohnsektor zurückgeschraubt wurde. Die Kritik an den Agenda-Maßnahmen konzentriert sich vor allem auf die anhaltende Langzeitarbeitslosigkeit, den zunehmenden Niedriglohnsektor und die atypischen Beschäftigungsformen. Die zumindest längere Zeit vorherrschende geringere Lohnsteigerung in Deutschland sei eine Folge des – politisch gewollten – Ausbaus des Niedriglohnsektors, der aber, wie die Kritik einräumen musste, bereits zehn Jahre vor den Hartzreformen begonnen hatte.322 Diese Reformen hätten wiederum aber verhinderten, dass nach 2005 der Niedriglohnsektor zurückgeschraubt wurde. An die bereits seit den 1970er Jahren anlässlich des Endes der Boomphase des Sozialstaates sich ändernden Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt erinnert Hockerts323: Steigende Qualifikations- und Flexibilitätserwartungen, die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge, Ausweitung der Teilzeitarbeit, (Schein-)Selbstständigkeit.

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wettbewerbs zu profitieren. Insofern kann die Politik des Dritten Weges als „erfolgreich gescheitert“ angesehen werden.“ (S. 173). Bosch, Sozialmodell, S. 18. Insofern trifft die Formulierung bei Butterwegge, Krise, S. 191 nicht zu, demzufolge „ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor, „wie ihn die Hartz-Gesetze errichten halfen“, durch diese erst geschaffen worden sei. Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 344f. 303

Eine weitere Verfestigung des Niedriglohnsektors werde, worauf die Kritiker der Reformen mit einiger Berechtigung untermauern, zu Niedrigrenten und damit zur wachsenden Altersarmut führen. Auch die Frage der sog. Aufstocker aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende blieb ungelöst. Zutreffend wird dazu ausgeführt, dass es sich hier um ein „komplexes Phänomen“ handle, „das nicht erst infolge der Hartz-Reformen entstand“324. Interessanterweise fand die „Aufstocker-Thematik“ erst seit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Öffentlichkeit Anklang und sei „sichtbar“ geworden. Unzutreffend wurde dabei in der gesamten Agenda-Politik der Grund für deren Zunahme oder gar überhaupt erst deren Entstehen behauptet. Tatsächlich hatten „auch vor 2005 Erwerbstätigenhaushalte bedürftigkeitsgeprüfte Transferleistungen erhalten [z.B. Arbeitslosenhilfe, Wohngeld und eventuell ergänzende Sozialhilfe, A.d.V.]“, d.h. „Aufstocker sind also kein neues, durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende hervorgerufenes Phänomen“. Auch die Niedriglohnbeschäftigung habe bereits, wie erwähnt, seit 1995 zugenommen, sich von 1998 bis 2003 rapide verschärft und sei danach aber nur noch moderat gestiegen. Somit wird festgehalten, „dass die größere Ausweitung des Niedriglohnsektors vor den Hartzreformen und der Einführung der Grundsicherung stattgefunden hat“. Das Armutsrisiko durch die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung habe von 1998 bis 2004 stark zugenommen und sich seit 2005 „auf hohem Niveau eingependelt“. Weitere differenzierende Erhebungen heranziehend kommt Rudolph zu der Schlussfolgerung, „dass entscheidende Einflüsse für unzureichende Erwerbseinkommen und Bedürftigkeit bereits vor 324

Vgl. Helmut Rudolph, „Aufstocker“: Folge der Arbeitsmarktreformen?, in: WSI Mitteilungen 3/2014, S. 207-217, hier S. 213 und S. 210, S. 211, S. 212, S. 213 (die folgenden Zitate). 304

den Hartz-Reformen eingetreten sind“. Damit ist der Fokus zu Recht auf die Frage des Mindestlohnes gelegt, der weiter erhöht werden muss, um der Problematik der Aufstocker und weiteren Aspekten geringerer Erwerbseinkommen (Alterssicherung!) effektiv zu begegnen. In Bezug auf die Auswirkungen der Hartzreformen betont Walwei, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt zeitgleich mit dem „Inkrafttreten der Reformen einsetzte“325 und sich die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit bis 2017 beinahe halbierte. Insbesondere verwies er auf eine starke Zunahme bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen. Die Reformen seien der Hauptgrund des Beschäftigtenaufschwungs, der die strukturelle Arbeitslosigkeit senkte. Es gebe für ihre Wirkung „klare Indizien“. Die immer niedrigere Zahl von Arbeitslosen in Relation zu den offenen Stellen deutete nach Meinung dieses Forschers auf eine effektivere Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt auch wegen der durch die Reformen implementierten besseren Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hin. Der längere Verbleib gerade älterer Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt beruhe in der verkürzten Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder auch der Einschränkung des Vorruhestandes sowie der Rente ab 67. Schließlich verweist Walwei zu Recht auf die Lohnzurückhaltung, die mit den Arbeitsmarktreformen zusammenhingen, denn diese hätten die Zugeständnisse der Arbeitslosen bei den Löhnen erhöht. Des Weiteren sieht Walwei keine unmittelbare Verantwortung der Reformen für die sog. atypischen Beschäftigungen und es sei 325

Walwei, Agenda, S. 27 und ebenda, S. 28, S. 30 und S. 31 (die folgenden Zitate); ebenfalls auf die positive Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes seit 2005/06 verweisen Bandau / Dümig, „Beschäftigungswunder“, S. 379f. 305

auch keine Verdrängung des Normalarbeitsverhältnisses eingetreten. Zwar seien Zeitarbeit und geringfügige Beschäftigung zunächst kräftig gestiegen, der Trend habe sich aber nicht fortgesetzt.326 Befristungen seien zurückgegangen, jedoch boomten bei den atypischen Erwerbsformen die sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungen. Auch der Niedriglohnsektor ist nur noch gering nach den Reformen gewachsen im Unterschied zum Zeitraum von 1995 bis 2005. Das Niedriglohnrisiko treffe vorrangig Teilzeitbeschäftigte und Minijobber, während es bei Vollzeitbeschäftigten seit 2005 zurückgegangen sei. Insgesamt kämen die Arbeitsmarktreformen „nicht als Initialzündung für wachsende Lohnungleichheiten in Betracht“, weil es vorher hier gravierende Veränderungen gegeben habe – so z.B. die rückläufige Tarifbindung. Kritischer fasst der Beitrag die Frage der Armutsgefährdung im Kontext der Agenda 2010 in den Blick, jedoch habe die Armutsrisikogefährdung bereits seit der Jahrhundertwende zugenommen und sich bei den Arbeitslosen nach 2005 fortgesetzt, wobei unklar sei, ob dies eine Konsequenz der Reformen sei. Zusammenfassend hält Walwei fest, die Agenda 2010 habe nachhaltig den Arbeitsmarkt belebt, mehr atypische und niedrig entlohnte Beschäftigung seien bereits vor den Reformen festzustellen und dadurch nicht beschleunigt worden. Als zukünftige Probleme sieht er wachsende Fachkräfteengpässe, eine Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit als des „harten Kerns der Arbeitslosen“ mit mehrfachen Risikomerkmalen und einer mangelnden Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt, die verbreitete Niedriglohnbeschäftigung und die stark gewachsenen atypischen Erwerbsformen. Defizitär blieben auch die hohen Arbeitslosenquoten bei 326

Dass prekäre Beschäftigung die Regel werde und tarifliche Bezahlung die Ausnahme werde als Konsequenz der Hartzreformen (Butterwegge, Krise, S. 194) erscheint doch stark übertrieben! 306



327

Personen mit Migrationshintergrund. Unter Verweis auf die bis dato aktuellen Veränderungen von Arbeitsmarktregulierungen – z.B. dem notwendigen, neuen Mindestlohn – lenkt Walwei m.E. mit einiger Berechtigung den Blick weg von der politischen Forderung eines substanziellen Zurückfahrens der Agenda 2010 und betont demgegenüber deren Weiterentwicklung durch Qualifizierung, Gesundheitsvorsorge und die bevorstehende digitale Modernisierung der Arbeitswelt. Mit kritischerem Blick auf Folgen eine der „einschneidendsten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik“327 setzt sich ein Beitrag aus dem Jahre 2014 auseinander und führt für die günstige Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland auch Gründe unabhängig von der Agenda 2010 an. Dabei wird u.a. auf die Rentenreformen seit den 1990er Jahren verwiesen, die von älteren Arbeitnehmern zur Statuserhaltung einen längeren Verbleib auf dem Arbeitsmarkt erforderten, d.h. einen vorzeitigen Ruhestandes unattraktiv machten. Des Weiteren verweisen die Autoren auf die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, die Zunahme der Erwerbstätigenquote und auch den langsam bemerkbaren demographischen Wandel als mögliche Gründe für die positive Arbeitsmarktentwicklung unabhängig von den Arbeitsmarktreformen. Die soziale Pflegeversicherung war 1995 vor dem Hintergrund einer veränderten demographischen Entwicklung, d.h. der steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, als „fünfte Säule unseres Sozialversicherungssystems“ eingeführt worden. Dies zeigte, dass in der Phase nach dem Boom die Sozialstaatsentwicklung inmitten intensiver Krisendebatten um den Sozialstaat ein Ausbau möglich war. Allerdings beinhaltete die neue Pflegeversicherung beachMatthias Knuth/ Petra Kaps, Arbeitsmarkt und „Beschäftigungswunder“ in Deutschland, in: WSI Mitteilungen 3 /2014, S. 173-181. 307

tenswerte Änderungen wie das Budgetprinzip und bot Raum für mehr kommerzielle Anbieter, d.h. der „Staat trat als eigenständiger Produzent von Wohlfahrt zurück, jedoch nicht in seiner Bedeutung als sozialer Regulator“328. Die Pflegeversicherung wurde nicht wie die gesetzliche Krankenversicherung als Vollversicherung mit einem entsprechenden Beitragssatz konzipiert, sondern hat einen „Teilsicherungscharakter“, demzufolge Kosten, die ihren Leistungsumfang überschritten, von den Einzelnen selbst getragen werden mussten bzw. falls dies nicht möglich war, die Sozialhilfe herangezogen wurde. Nahezu die gesamte Bevölkerung ist gegen das Pflegerisiko abgesichert. Vom Anfang des Jahrhunderts bis 2016 ist die Zahl der Pflegebedürftigen um fast eine Mio. Menschen gewachsen und hier überwog der Bereich der ambulanten Pflege. Dementsprechend stiegen die Ausgaben der Pflegeversicherung von beinahe 17 Mrd. Euro (2001) auf 28 Mrd. Euro (2015). Gut zwei Drittel der Pflegebedürftigen waren aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung Frauen. Die Einführung der Pflegeversicherung hat erheblich den Ausbau der pflegerischen Versorgungseinrichtungen mit zunehmend privaten Akteuren beschleunigt und gilt als ein Beispiel für die Pluralisierung der sog. Wohlfahrtsproduktion (Leisering). Nachfolgende Reformen betrafen u.a. die bessere Integration der Demenzkranken in das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung. Aufgrund der wachsenden Aufgaben der Pflegeversicherung musste der Beitragssatz mehrfach erhöht werden. Im Übrigen tragen die Arbeitnehmer letztendlich den Beitrag der Pflegeversicherung alleine durch den Wegfall eines Feiertags, so dass eine Abwendung vom Prinzip der paritätischen Beitragsfinanzierung in der Sozialversicherung erfolgte. Kinderlose wurden eben328

Hockerts, Problemlöser, S. 357. 308



falls mit einem etwas höheren Beitragssatz belastet. In der letzten Legislaturperiode ersetzte man die bisherigen Pflegestufen durch fünf Pflegegrade und beschloss weitere Leistungsausweitungen. Als Erfolg kann man verbuchen, dass durch die Einführung der Pflegeversicherung die Sozialhilfe spürbar entlastet wurde, indem viele Leistungsempfänger aus ihrer Abhängigkeit von der Sozialhilfe befreit wurden. Das System der Grundsicherung umfasst die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die Sozialhilfe im engeren Sinne. Hierbei handelt es sich letztendlich um „Mindestsicherungssysteme“, die das Existenzminimum und ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Rechts auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleisten sollen. Die politisch umstrittene Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) war im Kontext der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zum 1. Januar 2005 eingeführt (SGB II) worden. Leistungen aus diesem neuen System waren gedacht für erwerbsfähige Leistungsberechtigte und Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft lebten. Bedürftige, erwerbsfähige Personen zwischen 15 und 65 Jahren erhielten nun das Arbeitslosengeld II. Zur Bedarfsgemeinschaft zählten die Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sowie die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder unter 25 Jahren und die im Haushalt lebenden Eltern von unverheirateten unter 25jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Organisatorisch übernahmen die Kommunen die Leistungen für die Unterkunft und psychosoziale Beratung, Kinderbetreuung, Schuldner- und Suchtberatung usw., während die übrigen Leistungen zur Eingliederung die Agenturen für Arbeit bestritten. Die Leistungen sollten somit in der Regel von den Arbeitsagenturen 309

und Kommunen in gemeinsamen Arbeitsgemeinschaften (ARGE) erbracht werden. Von dieser Regelung abweichend übernahmen zunächst 69 Kommunen in einem Modellversuch die gesamte Betreuung der Leistungsempfänger (Optionskommunen). Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2007 aber entschieden hatte, dass die betreffenden Arbeitsgemeinschaften eine mit dem Grundgesetz nicht vereinbare Mischverwaltung darstellten, wurde 2010 gesetzlich die getrennte Aufgabenwahrnehmung abgeschafft und die Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende an gemeinsame Einrichtungen der Agentur für Arbeit und der kommunalen Träger, den Job-Centern, übertragen. Die Zahl der Leistungsempfänger in der Grundsicherung für Arbeitsuchende – Bedarfsgemeinschaften, Personen in Bedarfsgemeinschaften, erwerbsfähige Leistungsberechtigte – ist von 2005 bis 2016 gesunken, was positiv vermerkt werden sollte. Bei den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sank sie moderat von 4,9 Mio. auf 4,3 Mio. Personen. Jedoch hat sich die Zahl dieser Arbeitslosengeld II-Bezieher im Vergleich zu den Arbeitslosengeldbeziehern der Arbeitslosenversicherung (Arbeitsförderung) weniger vermindert. Die Ausgaben für die Grundsicherung für Arbeitsuchende spiegelten den dennoch überwiegend positiven Verlauf der Arbeitsmarktentwicklung wider. Von 2005 bis 2015 sanken demzufolge die Gesamtleistungen um rund drei Mrd. Euro auf 42,8 Mrd. Euro. Die Sozialhilfe (im engeren Sinn) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung fungieren als letztes „Auffangnetz“ und unterstes Sicherungssystem. Sie sind zuständig für nicht oder nicht mehr erwerbstätige Menschen und sollen diejenigen vor Armut und sozialer Ausgrenzung schützen, die sich aus eigenen Mitteln bzw. wegen fehlender Ansprüche gegen andere selbst ihre Existenz nicht sichern können. Es stehen Leistungen 310

der Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zur Verfügung. Darüber hinaus werden gegebenenfalls Hilfen zur Gesundheit und zur Pflege gewährt. Nach Leistungsempfängern differenziert hat sich infolge der Einführung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende die Zahl der „klassischen“ Hilfen zum Lebensunterhalt von 2,6 Mio. Personen (2000) drastisch auf knapp 140 000 Personen (2015) verringert. Hingegen ist der Kreis von Personen, die die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch nahmen, seit 2005 kontinuierlich gewachsen und übertraf 2015 die Millionengrenze, was auf die positive Resonanz dieser Einrichtung für Ältere schließen lässt, aber auch ein klarer Indikator für allmählich zunehmende Altersarmut ist. Weitgehend auf dem gleichen Niveau von gut einer Million verharrten die Empfänger von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit und Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Die Zahl der Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erreichte im Jahr 2015 mit 975 000 einen neuen Spitzenwert (= 170 % mehr als im Vorjahr). Im Zentrum der Reformen in der Sozialhilfe standen die Maßnahmen der rot-grünen Regierung seit 2003. Die Reform der Sozialhilfe, die gemeinsam mit der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende zum 1. Januar 2005 in Kraft trat, sah Leistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts nur noch für nichterwerbsfähige Hilfebedürftige vor. Der Übergang bisher erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher und deren minderjähriger Angehöriger in die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende entlastete die Kommunen erheblich. Das zum 1. Januar 2003 eingeführte Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurde 2005 als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde311

rung Bestandteil des neuen SGB XII. Diese steuerfinanzierte bedarfsorientierte Grundsicherung für ältere Menschen ab 65 Jahren war aber keine Versicherungsleistung, also keine „Ersatz- oder Mindestrente“ und blieb bedürftigkeitsabhängig. Finanziert wurde sie aus Steuermitteln, wobei der Bund den Ländern die Mehrausgaben erstattet. Eine dauerhafte volle Erwerbsminderung lag vor, wenn der Betreffende nur noch weniger als drei Stunden täglich erwerbsfähig sein konnte und keine Besserung der gesundheitlichen Einschränkung zu erwarten ist. Zwar blieb es bei der Verpflichtung des Einsatzes eigenen Vermögens und Einkommens bzw. des Ehegatten oder Lebenspartners einer eheähnlichen Gemeinschaft zur Bestreitung des Lebensunterhalts, aber im Unterschied zur Hilfe zum Lebensunterhalt wurde bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung weitgehend auf einen Unterhaltsrückgriff verzichtet, um die sog. verschämte Armut zu bekämpfen. Erst ab einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro der Kinder der Grundsicherungsberechtigten entfiel der Anspruch auf die Grundsicherung. Wegen der problematischen finanziellen Lage vieler Kommunen bestritt der Bund ab 2014 endgültig die Nettoausgaben in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu 100 %. Da aufgrund der demographischen Entwicklung die Zahl älterer Menschen weiter zunehmen wird, werden die Grundsicherungsausgaben weiter ansteigen. Weitere Änderungen im Sozialhilferecht beinhalteten ab 2006 die Gleichstellung von lebenspartnerschaftsähnlichen mit eheähnlichen Gemeinschaften sowie die Anpassung der Regelsatzbemessung. Die Ausgaben der Sozialhilfe insgesamt waren wegen der Arbeitsmarktreformen 2005 zurückgegangen, stiegen aber von 21,9 Mrd. Euro (2005) auf 36,6 Mrd. Euro (2015) wieder an, wobei sich von 2013 bis 2015 allein die Ausgaben für das Asylbewerbergesetz mehr als verdreifachten. Kontinuierlich wuchsen auch die 312



329

Aufwendungen für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, den größten Einzelposten bildete die Eingliederungshilfe für Behinderte. Zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung: Armut bildet einen Teilaspekt der hier vorgelegten Bilanz des deutschen Sozialstaates, dessen Anspruch und Zielsetzung aber weit über die Armutsproblematik hinausreicht. Seit 2001 legten die jeweiligen Bundesregierungen fünf Armutsberichte vor. Armut wurde dabei unterschiedlich definiert.329 Der erste Bericht der Bundesregierung verzichtete auf eine bezifferte Armutsgrenze. Hingegen wurde in den folgenden Berichten ein relativer Armutsbegriff herangezogen, d.h. die von den EU-Staaten verwendete „Armutsrisikoquote“, die den Anteil der Personen in Haushalten bezeichnet, deren „bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen“ weniger als 60 % des Mittelwerts (Median) aller Personen betrug. Generell betonten die Berichte den engen Zusammenhang zwischen dem Armutsrisiko und der Arbeitslosigkeit, die das „wichtigste ArVgl. zu den Diskussionen über den Begriff Armut – u.a. absolute bzw. relative Armut - in Deutschland mit kritischer Perspektive Christoph Butterwegge, Armut, Köln 20183, S. 8ff. Der These von den „verheerenden Folgen seines [d.h. Sozialstaats] mittlerweile gut vier Jahrzehnte währenden „Um- bzw. Abbaus“, ebenda, S. 24, kann hier nicht gefolgt werden. Zustimmen kann man der Feststellung, dass Armut und Reichtum zusammen gesehen werden müssen, d.h. Armut kann man nicht „losgelöst von Raum und Zeit bestimmen, sondern muss das Wohlstandsniveau der jeweiligen Gesellschaft als Vergleichsmaßstab berücksichtigen“ (ebenda, S. 26). Der Hauptvorwurf des Autors gegen die Armutsberichterstattung der Regierungen richtet sich darauf, dass nach den ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Spreizung von Einkommen und Vermögen nicht gefragt werde (vgl. ebenda, S. 55). 313

mutsrisiko“ blieb. So lag das Armutsrisiko im Jahre 2003 bei Arbeitslosen bei 40,9 % im Vergleich zu vier Prozent bei Vollerwerbstätigen. Der Faktor Bildung und die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit wurde in diesem Kontext besonders hervorgehoben. Kinderarmut sah man in erster Linie in einer Wechselwirkung mit der Erwerbstätigkeit der Eltern, d.h. in je höherem Umfang die Eltern einer beruflichen Tätigkeit nachgingen, desto niedriger war das Risiko von Kinderarmut. Problematisch seien aber die Lebenslagen von Alleinerziehenden. Insgesamt seien Arbeitslose, Alleinerziehende, niedrig Qualifizierte und Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen. Die Armutsrisikoquote fungiert als ein Maß der Einkommensungleichheit. Mit Blick auf die Entwicklung bis 1998 stellte der erste Armut- und Reichtumsbericht330 kritisch fest, dass die Verteilungsgerechtigkeit abgenommen habe und das Armutsrisiko von 1998 bis 2003 von 12,1 % auf 13,5 % leicht zugenommen habe. Das Armutsrisiko stieg bis zum Jahr 2005 konstant an und seit 2007 lag es zwischen 14 und 16 Prozent. Das Risiko der Gesamtbevölkerung einkommensarm zu sein, lag im Jahr 2005 bei 26 % vor Berücksichtigung von Sozialtransfers und nach Sozialtransfers verringerte sich dieses Risiko auf einen Anteil von 13 %. Damit zählte Deutschland – im Vergleich zu den OECD-Staaten – zu denjenigen Staaten, die Ungleichheit durch Steuern und Sozialtransfers markant gemindert haben. Seit dem Jahr 2005 verharrte diese Quote weitgehend auf einem gleichen Niveau und ungeachtet der guten wirtschaftlichen Lage sei, wie der aktuelle Bericht 2017 vorsichtig formulierte, derzeit sogar eher ein Anstieg zu verzeichnen. Die Bundesregierung be330

Vgl. dazu wiederum kritisch Butterwegge, Armut, S. 34ff., demzufolge dem Bericht ein angemessener Blick auf die Lebenslagen in Deutschland nicht zu entnehmen sei. 314

tonte zwar, dass Kinder in Deutschland „weit überwiegend in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen“ lebten. Allerdings befänden sich zwischen 15 und 21 % der Kinder in Armutsrisiko, was deutlich über dem Armutsrisiko der Gesamtbevölkerung liege. In Alleinerziehungshaushalten bewegte sich demnach das Armutsrisiko bei 46 % (!), bei zwei oder mehr Kindern stieg es gar auf 54 %. Alleinerziehende Frauen stellten im Übrigen die größte, von Sozialhilfe abhängige Gruppe, während ältere Personen über 65 Jahren wesentlich weniger auf Sozialhilfe angewiesen waren. Die Einkommens- und Vermögenssituation älterer Menschen wurde von den Berichten noch als wenig gefährdet beurteilt, so seien Ende 2015 nur drei Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe leistungsberechtigt in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung registriert gewesen. Grundsätzlich ist die Altersgruppe der über 65-Jährigen durchschnittlich derzeit seltener armutsgefährdet als die Gesamtbevölkerung, wenngleich aus der Perspektive der Bürger das Risiko drohender „Altersarmut“ als problematisch wahrgenommen wird. Vermögen und Einkommen blieben seit der Jahrhundertwende ungleich verteilt, wobei hier markante Differenzen zwischen den neuen Ländern und dem alten Bundesgebiet bestanden. 1998 gab es 1,5 Mio. Vermögensmillionäre und die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte in Westdeutschland besaßen durchschnittlich 1,1 Mio. DM Privatvermögen (= das Vierfache des Durchschnitts aller Haushalte). Lediglich 4,5 % des Privatvermögens entfielen auf die untere Hälfte der Haushalte und 42 % auf die obersten 10 %. Das Privatvermögen ostdeutscher Haushalte umfasste mit rund 88 000 DM im Durchschnitt ein gutes Drittel des Vermögens der westdeutschen Haushalte. Die ungleiche Vermögensverteilung blieb in den folgenden Jahren erhalten, d.h. die untere Hälfte der Haushalte verfügte lediglich über knapp vier 315

Prozent des gesamten Nettovermögens, hingegen entfielen auf die vermögendsten 10 % der Haushalte nunmehr fast 47 %. Rund sechs Prozent der deutschen Haushalte besaßen darüber hinaus auch Betriebsvermögen, wobei dieses im Durchschnitt in Westdeutschland deutlich über demjenigen in Ostdeutschland lag. Im Jahre 2008 verfügten die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während umgekehrt die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens besaßen. Der Vermögensanteil des obersten Zehntels ist seit 1998 immer weiter angestiegen. Die Summe aller Nettogesamtvermögen in Deutschland betrug im Jahr 2013 rund 4,9 Billionen Euro. Die Einkommensverteilung in Deutschland war laut dem aktuellen fünften Bericht stabil, d.h. die jeweiligen Einkommensanteile der oberen und der unteren Hälfte bewegten sich seit 2005 im Verhältnis von 70:30, während sie zu Beginn der 2000er-Jahre allerdings noch deutlich gleichmäßiger verteilt waren. Die Einkommen haben sich zunehmend am oberen Rand der Einkommensverteilung konzentriert. Konnte das oberste Prozent der Einkommensverteilung im Jahr 1995 rund neun Prozent der Einkommen auf sich vereinen, so stieg dieser Anteil bis 2008 auf rund 13 Prozent. Dabei wuchs das Durchschnittseinkommen dieser Gruppe stark von rund 250 000 Euro auf rund 430 000. Der Anteil der Bevölkerung, der über mindestens das Doppelte bzw. Dreifache des mittleren Einkommens verfügte, lag bei allen Datenquellen zwar höher als in den 1990er Jahren, aber seit Jahren relativ stabil bei sieben bis acht bzw. bei zwei Prozent. Zusammenfassend formuliert Winfried Süß331, dass sich die Ein331

Vgl. Winfried Süß, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Hans Günter Hockerts/ Winfried Süß (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, 2010, S. 19-41. 316



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kommensverhältnisse in der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren zunehmend polarisierten und das Armutsrisiko kontinuierlich steige wie ebenso die Sozialhilfequote, die seit der Jahrtausendwende noch einmal deutliche Zuwächse verzeichnete. Auch in der Bundesrepublik hat das Schlagwort von der Wiederkehr der Armut also einen empirischen Kern:332 In der Bundesrepublik sind vor allem Asylbewerber und Nachkommen der ersten Migrantengeneration ohne Berufsausbildung von Armut betroffen, seit den 1990er Jahren auch zunehmend russlanddeutsche Rückwanderer mit mangelnden Deutschkenntnissen und fehlender Berufsqualifikation. Zu ergänzen ist an dieser Stelle, dass Deutschland im EU-Vergleich aber nach wie vor gut abschneidet. Kinder- und Jugendhilfe: Mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 wurde das aus dem Jahre 1922 stammende Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst. Zum relevanten Personenkreis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gehören alle unter 27-Jährigen, dies waren im Jahr 2014 21,4 Mio. Personen (= 26 %). Das Sozialbudget erfasste neben den Leistungen, die von der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe erbracht wurden, auch die öffentliche Förderung der Träger der freien Jugendhilfe. Einen zentralen Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe bildete nach 2000 der Ausbau der Kinderbetreuung, die vor allem der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen sollte. Bis 2013 hatten sich der Bund, die Länder und die Kommunen geeinigt, letztendlich 780 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige bereitzustellen. Ab dem 1. August 2013 bestand ein Rechtsanspruch für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr auf frühe Förderung in einer Kindertageseinrichtung bzw. in Kindertagespflege, wobei sich erneut der Bund mit erheblichen Mitteln beteiligte. Vgl. Süß, Armut, S. 32f 317

Weitere Programme des Bundes betrafen die Unterstützung der Länder, Kommunen und Träger in Bezug auf Qualitätsstandards für frühkindliche Bildung in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege sowie die gezielte Förderung der Kindertagespflege. Einen zusätzlichen Schwerpunkt nahm die Bildungs- und Ausbildungspolitik ein, die sich die Sicherung von passenden Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten für alle ausbildungswilligen Jugendlichen zum Ziel setzte. Zur Bildungsförderung zählte auch der Ausbau der Ganztagsschulen, zu dem der Bund nicht unerhebliche Mittel beisteuerte. Im Jahre 2011 wurde das Bildungs- und Teilhabepaket als Leistung für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien als soziokulturelles Existenzminimum eingeführt und stieß auf große Resonanz. Der 2005 eingeführte Kinderzuschlag unterstützte 2012 rund 300 000 Kinder und betrug zunächst pro Kind bis zu 140 Euro im Monat bzw. ab 2017 170 Euro. Die bundesweite Betreuungsquote der Kinder unter drei Jahren ist von 13,6 % (2006) auf 32,7 % (2016) gestiegen, im Alter von drei bis fünf Jahren lag sie im Jahr 2016 bei 94,0 %. Mit den verschiedenen Investitionsprogrammen von 2008 bis 2018 wurden insgesamt 3,28 Mrd. Euro für den Ausbau der Betreuungsplätze (400 000) für unter Dreijährige bereitgestellt. Jedoch konnte immer noch keine flächendeckende Bedarfsdeckung aufgrund der hohen Nachfrage erreicht werden, so dass ein weiterer Ausbau bis 2020 anvisiert wird. Hier machte sich auch die wachsende Zahl von Kindern mit Fluchterfahrung bemerkbar. Aufgrund der hohen Zuwanderung und der Geburtensteigerung 2014 und 2015 wuchs somit der Bedarf für Kindertageseinrichtungen und in der 18. Legislaturperiode (2013-2017) investierte der Bund 4,4 Mrd. Euro in die Kindertagesbetreuung zur Unterstützung der Länder. Die erzieherischen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe richten sich an junge Menschen bis zum 27. Lebensjahr und beinhal318

ten familienunterstützende Hilfen und familienersetzende Hilfen. Familienunterstützende Hilfen streben einen Verbleib der jungen Menschen in der Familie an („ambulante Hilfen“), während familienersetzende Hilfen außerhalb des Elternhauses erbracht werden (v.a. „stationäre Hilfen“). Die erzieherischen Hilfen für junge Menschen und Familien hatten sich bis 2014 mit fast 914 000 Hilfen gegenüber dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Diese Zahlen verdeutlichen den enorm gewachsenen Aufgabenbereich dieses Zweiges des deutschen Sozialstaates seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1991, denn insgesamt haben sich die ambulanten Hilfen seit 2000 mehr als verdoppelt, während die stationären Hilfen geringere Zuwachsraten zeigten. Die Ausgaben der Jugendhilfe gemäß dem Sozialbudget umfassten die Unterinstitutionen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz sowie das Unterhaltsvorschussgesetz. Finanziert wurden die Kinder- und Jugendhilfe zu rund 80 % von den kommunalen Gebietskörperschaften, zu 19 % von den Ländern und zu einem Prozent vom Bund (2000). Die Aufwendungen in der Kinder- und Jugendhilfe haben sich auf rd. 36 Mrd. Euro mehr als verdoppelt. Hier ist somit ein klares Positivum der Entwicklung des deutschen Sozialstaates festzuhalten, der auf die strukturellen Herausforderungen des Wandels der Arbeits- und Lebenswelt durchaus mit großem Engagement reagierte. Für die steigenden Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe war vorrangig der Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren ausschlaggebend. Die Ausgaben für Tageseinrichtungen für Kinder haben sich verdoppelt und für die Jugendhilfeleistungen fast verdreifacht. Von 2008 bis 2014 stellte der Bund insgesamt 5,4 Mrd. Euro zur Erfüllung des Rechtsanspruchs für Kinderbetreuungsplätze ab dem ersten Lebensjahr zur Verfügung. Somit fanden sich die mit Abstand größten Ausgabenstei319



gerungen im Bereich der Kindertagesbetreuungseinrichtungen aufgrund des von Bund, Ländern und Gemeinden politisch gewollten Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter Dreijährigen. Zusätzliche Ausgaben sind gegenwärtig für die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in der Heimerziehung in den Jahren 2015 und 2016 entstanden. Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Grundsätzliches Ziel der sozialstaatlichen Bemühungen ist es, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben bzw. ein Leben ohne Benachteiligungen zu ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen das SGB IX (2001) und die seit 2009 für Deutschland verbindliche UN-Behindertenkonvention mit dem zentralen Gedanken der Inklusion. Begrifflich hat sich im deutschen Sozialrecht der Terminus „Behinderung“ etabliert (vgl. § 3 Behindertengleichstellungsgesetz). Daneben wird der Begriff „Menschen mit Beeinträchtigungen“ verwendet, worunter Menschen mit anerkannter Behinderung sowie mit chronischer Erkrankung oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen subsumiert werden. Zahlenmäßig lässt sich der Personenkreis wie folgt skizzieren. Waren Ende 2005 6,728 Mio. Menschen amtlich anerkannt schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50 und mehr, stieg ihre Zahl bis zum Jahresende 2015 auf rund 7,6 Mio., was 9,3 % der gesamten Bevölkerung Deutschlands entsprach. Die Anzahl der Menschen mit Behinderungen wird aufgrund der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts wachsen. Weiter gefasst ist der Begriff der Beeinträchtigungen, hierunter fielen im Jahre 2013 12,77 Mio. Menschen, was 15,8 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Generell stieg der Bevölkerungsanteil der Menschen mit Beeinträchtigungen mit zunehmendem Alter an. Die Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe umfassen u.a. die 320

medizinische Rehabilitation behinderter Menschen und die Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben möglichst mit einem Abschluss in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf. Als Träger der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben fungieren die Renten- und Unfallversicherung, die Kriegsopferfürsorge (gemäß dem Bundesversorgungsgesetz), die Bundesanstalt für Arbeit (nachmalig: Bundesagentur für Arbeit) und die Kommunen (für die Sozialhilfe) sowie die Integrationsämter. Gegebenenfalls stehen Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke sowie Werkstätten für behinderte Menschen (WfB) zur Verfügung. Einen Schwerpunkt der politischen Bestrebungen auf dem Feld der Rehabilitation bildete der Abbau der verhältnismäßig hohen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen, wozu u.a. die von den Unternehmen zu leistende Ausgleichsabgabe beitragen sollte. Im Vergleich zu den nichtbehinderten Personen blieb es bei der schlechteren Arbeitsmarktbilanz sowohl für die Bezieher von Arbeitslosengeld I wie auch für Bezieher von Arbeitslosengeld II. Immerhin ist die Beschäftigung schwerbehinderter bzw. ihnen gleichgestellter Menschen auf Pflichtarbeitsplätzen bei Arbeitgebern mit mehr als 20 Arbeitsplätzen auf rund eine Mio. im Jahre 2015 gestiegen, dennoch musste die Bundesregierung in ihrem neuesten Sozialbericht einräumen, dass die Beschäftigungssituation der beeinträchtigten Menschen zu verbessern sei. Nach 2000 startete die Bundesregierung Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen wie das Programm „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“, die Initiative „job – Jobs ohne Barrieren“, das zum 1. Mai 2004 in Kraft getretene Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen, das sich die Stärkung der Ausbildungsbereitschaft der Arbeitgeber und mehr Ausbildungsmöglichkeiten für behinderte, insbesondere schwerbehinderte Jugendliche als Ziel 321

setzte und 2007 das Bundesarbeitsprogramm Job4000 zur beruflichen Integration schwerbehinderter Menschen mit besonderen Schwierigkeiten bei der Teilhabe am Arbeitsleben außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen. Ende 2008 folgte zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsmarkt das Gesetz Unterstützter Beschäftigung mit dem Ziel der Eingliederung behinderter Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf in den ersten Arbeitsmarkt jenseits der Werkstätten für Behinderte. Seit Inkrafttreten des SGB IX konnten Rehabilitationsträger Leistungen zur Teilhabe in Form von Persönlichen Budgets ausführen, wobei die Behinderten selbst trägerübergreifend und „aus einer Hand“ die gewünschten Leistungen organisieren konnten. Die Bundesregierung hob 2017 die vielfältigen Leistungen für Menschen mit Behinderung zur Teilhabe am Arbeitsleben hervor. So haben die Bundesagentur für Arbeit und die Rentenversicherungs- und Unfallversicherungsträger allein im Jahre 2014 rund 3,7 Mrd. Euro in die berufliche Rehabilitation zur Teilhabe am Arbeitsleben investiert. Bei den Einkommensersatzleistungen für Menschen mit Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter standen an erster Stelle die seit 2005 deutlich gestiegene Zahl von Altersrenten für Menschen mit Schwerbehinderung (2015: 1,831 Mio.), gefolgt von den Erwerbsminderungsrenten für Schwerbehinderte (2015: 1,788 Mio.) und den Verletztenrenten im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung für Versicherte. Im Kontext der Einkommensleistungen wurde auch kurz die Frage von Armut bei beeinträchtigten bzw. schwerbehinderten Menschen aufgeworfen. Als „armutsgefährdet“ galt derjenige, dem weniger als 60 % des Medianeinkommens zur Verfügung stehen. Im Jahr 2013 betrug die Armutsrisikoquote bei Menschen mit Beeinträchtigungen 20 % im Vergleich zu 13 % (2005) und rangierte damit deutlich über der Armutsrisikoquote von Menschen ohne Beeinträchtigungen (13 %). Die Armutsrisikoquote von Men322



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schen mit Schwerbehinderung ist seit 2005 auf 19 % (2013) gestiegen. Mögliche Gründe für diesen Anstieg können darin liegen, dass die Zahl der Menschen mit Beeinträchtigungen im jüngeren und mittleren Lebensalter u.a. wegen der Zunahme psychischer Beeinträchtigungen von 2005 bis 2013 stark wuchs. Auch die Armutsrisikoquote der älteren Menschen mit Beeinträchtigungen nahm zu und zwar im gleichen Maße wie die Armutsrisikoquote der älteren Gesamtbevölkerung. Beispiele für Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe sind auch die Gesundheitsfürsorge und medizinische Rehabilitation, die von folgenden Trägern besorgt wird: Vorrangig die gesetzliche Rentenversicherung, des Weiteren die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung und die Sozialhilfe. Abgesehen von der Sozialhilfe, die bis 2014 einen deutlichen Rückgang verzeichnete, sind die Ausgaben aller Träger um mehr als ein Fünftel gestiegen. Dieser Rückgang bei der Sozialhilfe war die Folge der Reformen im Gesundheitswesen, denn seit dem 1. Januar 2009 bestand für alle Einwohner die Pflicht, eine Krankenversicherung abzuschließen, wenn kein ausreichender anderer Schutz vorhanden war. Eine Aussage zu den gesamten finanziellen Ausgaben des Teilbereichs der Rehabilitation und Teilhabe im Rahmen des deutschen Sozialstaates ist hier nicht möglich, da die verschiedenen Leistungen bei unterschiedlichen Leistungsträgern auftauchten. Im Sozialbericht 2017333 wurden die Ausgaben für Rehabilitation und Teilhabe aller Träger für das Jahr 2014 auf knapp 32,6 Mrd. Euro beziffert, wobei die Träger der Eingliederungshilfe rund 16,3 Mrd. Euro beisteuerten. Das Asylbewerberleistungsgesetz rückte aufgrund der außerordentlich hohen Zuwanderung im Jahr 2015 verstärkt in den sozialpolitischen Fokus. Nachdem in den 1990er Jahren im Kontext Vgl. Sozialbericht 2017, S. 99. 323



der Kriege im ehemaligen Jugoslawien mehr als 400 000 Personen nach Deutschland gekommen waren, erlaubten 1993 beschlossene Änderungen im Asylrecht die Einreise nach Deutschland nur noch aus nicht sicheren Drittstaaten. Seit 2010 sind die Asylbewerberzahlen wieder angestiegen und 2015 suchten rund 890 000 Personen Schutz in Deutschland. Am Jahresende 2014 bekamen rund 363 000 Personen Regelleistungen gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz, hierfür wurden 1,8 Mrd. Euro aufgewendet und ein Jahr später betrugen die Ausgaben bereits 5,9 Mrd. Euro. Das Asylbewerberleistungsgesetz von 1993 hatte im Übrigen die Leistungen für Asylbewerber aus der Sozialhilfe herausgelöst und das Leistungsniveau abgesenkt. Die in die EU einreisenden Asylsuchenden kamen im Wesentlichen aus dem Osten Europas, den nicht zur Europäischen Union gehörenden Balkangebieten, afrikanischen Staaten südlich der Sahara und dem Mittleren Osten sowie aus Pakistan und Afghanistan. Im ersten Halbjahr 2015 stellten die Syrer die größte Gruppe vor Menschen aus dem Kosovo, Afghanistan, Albanien, Irak und Serbien. Infolge des erheblichen Zuzugs 2015 wurden verschiedene Gesetze verabschiedet wie u.a. das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket I), die sowohl integrationsfördernde Elemente wie auch Restriktionen beinhalteten. Die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt erweist sich als schwierig, was u.a. auch darauf zurückgeführt wird, dass eine Arbeitserlaubnis im Regelfall erst nach dem Abschluss der stark angewachsenen Zahl von Asylverfahren erteilt wird. Dazu kommen die vielfach ungenügenden Sprachkenntnisse, die fehlenden Berufsausbildungen und die zum Teil lange Nichterwerbstätigkeit infolge der manchmal langen Fluchtzeiten und der zeitaufwendigen Asylverfahren. Arbeitsbeziehungen: Im Bereich des Arbeitsrechts und der Mitbestimmung fanden in den letzten fünfzehn Jahren wichtige Reformen statt. Zunächst verdient das unter der rot-grünen Bundesre324

gierung Schröder nach fast dreißig Jahren 2001 reformierte Betriebsverfassungsgesetz eine Hervorhebung, da sich zwischenzeitlich viele Strukturen in den Betrieben oder Unternehmen geändert hatten. So konnte z.B. nunmehr in kleineren Betrieben mit fünf bis 50 Arbeitnehmern der Betriebsrat in einem vereinfachten Verfahren gewählt werden. In allen Betrieben sollten Arbeiter und Angestellte unter Aufgabe des Gruppenprinzips gemeinsam den Betriebsrat wählen. Auch Leiharbeiter mit mehr als dreimonatiger Überlassungsdauer durften nun im Entleiherbetrieb mitwählen. Die Zahl der Betriebsräte in Relation zur Arbeitnehmerzahl wurde erhöht einschließlich ihres Schutzes vor Kündigungen oder Versetzungen. Nachdem zunächst am Anfang der Regierung Schröder die Reform des Kündigungsschutzgesetzes der Vorgängerregierung Kohl rückgängig gemacht worden war, erfolgten 2004 erneute Änderungen im Kündigungsschutz dahingehend, dass die Anwendung des Gesetzes bei Neueinstellungen erst in Betrieben mit mindestens zehn Mitarbeitern zuließ. Befristete Arbeitsverträge wurden nun erleichtert. Die Frage von Mindestlöhnen konnte zum Ende der 16. Legislaturperiode des Bundestages im April 2009 mit Hilfe des neugefassten Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des reformierten Mindestarbeitsbedingungengesetzes zumindest einer teilweisen Lösung angenähert werden. Diese beiden Gesetze ermöglichten die Festlegung von Mindestlöhnen in weiteren Branchen, die in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz Aufnahme fanden. Erstmals waren mit Hilfe dieses Gesetzes seit 2007 Gebäudereiniger und Briefdienstleistungen mit einem Mindestlohn ausgestattet und nach Jahre 2009 folgten sechs weitere Branchen (Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten in Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft inklusive Straßenreinigung und Winterdienst und Ausund Weiterbildungsdienstleistungen). 325



Nach weiteren Zwischenschritten kam es endgültig im Januar 2015 zur Einführung des lange politisch umstrittenen, gesetzlichen, und generellen Mindestlohnes, wenngleich zunächst noch Ausnahmen zugelassen wurden (Zeitungszusteller, Minderjährige). Entgegen den vielfachen, vorherigen Befürchtungen ist auch zwei Jahre nach dessen Einführung kein negativer Beschäftigungseffekt zu verzeichnen, vielmehr ist die Beschäftigung weiter angestiegen und sogar geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind oftmals in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt worden. Ein ähnlich umstrittenes Gebiet bildet die Arbeitnehmerüberlassung bzw. die Leiharbeit, die in den letzten Jahren, zum Teil auch politisch gewollt, zugenommen hat. Arbeitnehmerüberlassung an sich wurde als eine Form des flexiblen Personalbedarfs für Unternehmen akzeptiert, jedoch weist die Arbeitnehmerüberlassung vielfach ungünstige Arbeitsbedingungen auf, so dass zum April 2017 gesetzlich die Arbeitnehmerüberlassung zeitlich begrenzt wurde und die Stellung von Leiharbeitern gebessert wurde. Werkverträge sollten ebenfalls transparenter gestaltet werden und Leiharbeiter beim Arbeitsentgelt der Stammbelegschaft nach neun Monaten („Equal Pay“) gleichgestellt werden. Außerdem wurde eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten anvisiert, wovon allerdings tarifvertraglich abgewichen werden konnte. Bei den steuerfinanzierten Entschädigungssystemen erbrachte die Bundesrepublik Deutschland Leistungen bei Sonderopfern von Personen, wenn jemand einen Gesundheitsschaden erlitt, für den die Gemeinschaft die Verantwortung übernehmen musste. Maßgebend ist hier das Bundesversorgungsgesetz, das zwar ursprünglich für die Folgen des Zweiten Weltkriegs geschaffen worden war und u.a. Leistungen für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung oder den Lastenausgleich beinhaltete (Wiedergutmachung), mittlerweile auch für Entschädigungsleistungen für Opfer von Ge326



walttaten, Wehr- und Zivildienstbeschädigte, Impfopfer oder Opfer staatlichen Unrechts der ehemaligen DDR und deren Hinterbliebenen gilt. Die Zahl der Personen, die Leistungen aus der sozialen Entschädigung erhalten, ist verständlicherweise infolge des wachsenden zeitlichen Abstandes zum Zweiten Weltkrieg zurückgegangen und betrug am 1. Januar 2017 nur noch 126 000. Die Aufwendungen für Entschädigungen sind dementsprechend von rund 10 Mrd. Euro (2000) auf 2,7 Mrd. Euro (2015) gesunken. Zu den familienpolitischen Leistungen werden in der vorliegenden Arbeit das Kindergeld, Elterngeld, Erziehungsgeld und Betreuungsgeld gezählt. Das Kindergeld wird entweder nach dem Einkommensteuergesetz oder gemäß dem Bundeskindergeldgesetz im Normalfall bis zum 18. Lebensjahr bezahlt, außer bei noch andauernder Ausbildung oder Arbeitslosigkeit des Kindes. Das Kindergeld wie auch die steuerlichen Freibeträge für das Existenzminimum stiegen im Zeitraum von 2001 bis 2017 deutlich. Zum 1. Januar 2005 war als neue familienpolitische Leistung der Kinderzuschlag für einkommensschwache Eltern gemeinsam mit der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende eingeführt worden. Weitere wesentliche familienpolitische Leistungen wie u.a. das Erziehungsgeld sowie ein Anspruch auf Erziehungsurlaub waren bereits 1986 vor der deutschen Wiedervereinigung in die Wege geleitet worden und in der Folgezeit vor dem Hintergrund einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf 1992/1993 ausgebaut worden. 1999 erhielten rund 95 % der Eltern nach der Geburt ihres Kindes Erziehungsgeld und knapp 390 000 Eltern (= rund 95 % der Anspruchsberechtigten) befanden sich im ersten Lebensjahr des Kindes im Erziehungsurlaub. Der Anteil der Väter betrug im Laufe der Jahre allerdings nur rd. 1,5 %. Weitere Reformen zum Erziehungsgeld folgten und anstelle des 327

Erziehungsurlaubs trat die neue Elternzeit mit Variationsmöglichkeiten (Teilzeitarbeit während des Leistungsbezugs). Zum 1. Januar 2007 wurde das Bundeserziehungsgeldgesetz durch das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz ersetzt, das zumindest teilweise das wegfallende Einkommen auszugleichen versuchte und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf anstrebte. Das einkommensabhängige Elterngeld sollte das ausfallende Erwerbseinkommen desjenigen Elternteils, der das Kind betreut, ersetzen und betrug maximal 1800 Euro. Rund 810 000 Mütter und Väter haben für ihr 2010 geborenes Kind Elterngeld erhalten, darunter rund ein Viertel Väter. Neben dem 2007 eingeführten Elterngeld sollte das zum 1. Juli 2015 eingeführte ElterngeldPlus flexiblere Möglichkeiten bieten und doppelt so lange beziehbar sein, jedoch bis maximal zur halben Höhe. Seit der Einführung des Elterngeldes 2007 haben rund acht Mio. Personen diese Leistung bezogen. Für ihr 2014 geborenes Kind haben 933 000 Mütter und Väter Elterngeld erhalten. Das am 1. August 2013 eingeführte Betreuungsgeld für Eltern von nach dem 31. Juli 2012 geborenen Kindern, das nach dem Willen des Gesetzgebers die Wahlfreiheit für Eltern betonte, die die Betreuung ihres Kindes im zweiten und dritten Lebensjahr selbst übernehmen wollen, wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2015 wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes für nichtig erklärt. Daraufhin hat das Bundesland Bayern mit einem am 1. Juni 2016 beschlossenen Bayerischen Betreuungsgeldgesetz die Fortführung des Betreuungsgeldes als eine Landesleistung Bayerns in die Wege geleitet. Blicken wir auf die Aufwendungen für Kindergeld, Familienleistungsausgleich, Elterngeld und Betreuungsgeld, so haben sich die Ausgaben von ca. 32 Mrd. Euro (2000) auf mehr als 43 Mrd. Euro (2015) erhöht. Diese an sich positive familienpolitische Entwicklung im deutschen Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten wurde 328



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aber auch einer Kritik unterzogen, weil sie sich zu lange mit „ideologischen Ballast“ am männlichen Alleinverdienermodell und der Privilegierung der Ehe orientiert habe.334 Demnach gebe es nach wie vor zu viele Transfers und Steuererleichterungen sowie zu wenig Dienstleistungen für die Familien wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen. Die Familienpolitik in Deutschland befinde sich dieser Kritik zufolge derzeit „in einem Patt zwischen altem und neuem Modell“. Ergänzt sei aber angemerkt, dass Deutschland auf diesem Sektor seiner sozialstaatlichen Entwicklung seit den 1990er Jahren einen erheblichen Aufschwung verzeichnete, so dass die Kritik durchaus relativiert werden sollte. Der Ausbau der Kinderbetreuung war im Übrigen Teil der Agenda-2010 und die Aufwendungen für familienpolitische Leistungen sind, wie im Rahmen dieser Arbeit ausgeführt, in der letzten Dekade auch in Deutschland gestiegen im Unterschied zu den partiellen Kürzungen in anderen sozialpolitischen Feldern.335 Diese familienpolitischen Leistungen müssen vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung und dem Bestreben, mehr Frauen in die Erwerbsarbeit zu integrieren, gesehen werden. Eine Steigerung der Geburtenrate durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit bildet das Leitziel wie es erfolgreich die skandinavischen Länder praktizieren, während noch bis vor einigen Jahren in Deutschland ein „expliziter Familialismus“ vorherrschte, d.h. wenig Kinderbetreuung bei gleichzeitig finanzieller Entlastung der Familien durch Transferzahlungen. Wohngeld und Wohnungspolitik: Das jeweils zur Hälfte vom Bund und den Ländern finanzierte Wohngeld erhalten Haushalte mit geringem Einkommen und sonstiger fehlender TransferzahVgl. dazu Bosch, Sozialmodell, S. 30ff., S. 35 (das folgende Zitat). Vgl. auch Ursula Dallinger, Sozialpolitik im internationalen Vergleich, Konstanz und München 2016, S. 154ff. 329

lung für die Unterkunft. Seine Höhe hängt von dem Einkommen, der Miet- bzw. Belastungshöhe und der Größe des Haushalts ab. Im Kontext der Hartzreformen bekam ein Großteil der Haushalte, die vor 2005 Wohngeld bezogen hatten, nach der Reform die Leistungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Demzufolge verringerte sich die Anzahl der Empfängerhaushalte von allgemeinem Wohngeld und 2015 erhielten noch eine halbe Mio. Haushalte Wohngeld. Die Wohngeldausgaben sanken somit erheblich von 4,9 Mrd. Euro (2002) auf 0,7 Mrd. Euro (2015). Die infolge steigender Wohnkosten in die Wege geleitete Wohngeldreform 2016 erhöhte das Ausgabenniveau deutlich auf 1,2 Mrd. Euro. Im Rahmen der Wohnungspolitik betrieb der Bund seit 1999 auch Städtebauförderung durch das Programm „Soziale Stadt“ in benachteiligten Stadtvierteln, indem er und die Länder die Verbesserung der Lebensbedingungen in Kommunen mit benachteiligten Stadt- und Ortsteilen mit hoher Arbeitslosigkeit, geringer Bildung und Integrationsproblemen unterstützte. 2008 wurde das Nachfolgeprogramm „Soziale Stadt – Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“ ausgeschrieben. Von 1999 bis 2011 wurden in rund 600 Fördergebieten vom Bund, zusätzlichen Mitteln von den Ländern und den Kommunen rund drei Mrd. Euro bereitgestellt. 2014 wurde das Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ weiter aufgewertet. Ein drängendes Problem stellte die Schaffung bezahlbaren Wohnraums für alle Bevölkerungsschichten insbesondere in Ballungsgebieten und Groß- und Hochschulstädten dar. Seit 2006 lag die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumförderung ausschließlich bei den Ländern, jedoch steuerte der Bund wie bisher Kompensationsmittel zum Ausgleich früherer Bundesfinanzhilfen bei. Im Koalitionsvertrag von 2013 einigte man sich auf eine Stärkung der Investitionstätigkeit, eine Wiederbelebung des sozi330





alen Wohnungsbaus und mietrechtliche Maßnahmen. Am 1. Juni 2015 trat wegen der hohen Mieten ein Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs in Kraft („Mietpreisbremse“). Derzeit ist die Mietpreisbremse in 313 Kommunen im Einsatz. Die Neubautätigkeit erreichte auch 2016 nicht das erforderliche Niveau (350 000 Wohnungen pro Jahr). Infolge der außerordentlich hohen Zuwanderung 2015 ist die Integration der anerkannten Flüchtlinge und sonstigen bleibeberechtigten Personen in den Wohnungsmarkt erforderlich, weshalb die Bundesregierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau für die Jahre 2017 und 2018 auf jährlich mehr als 1,5 Mrd. Euro nachhaltig aufgestockt hat. Dennoch bleibt ein weniger positives Fazit festzustellen, denn der Wohnungsbau konnte und kann den erforderlichen Bedarf nicht decken. Eher unter positiven Ergebnissen der Bilanz des deutschen Sozialstaates seit der Jahrhundertwende kann die Ausbildungs- und Aufstiegsförderung verbucht werden, also das BAföG und das AFBG (Aufstiegsfortbildungsgesetz). Seit 1999 stiegen die Aufwendungen wieder an und erreichten bis zum Jahr 2015 2,4 Mrd. Euro., was vor allem Studierenden aus einkommensschwächeren Familien zugutegekommen sei. 2015 waren es 1 032 000 geförderte Personen. Zusammenfassend lässt sich positiv festhalten, dass sowohl die Zahl der Bezieher von Ausbildungsförderung als auch die Aufwendungen bzw. Leistungen gestiegen sind. Die Kennzahlen des Sozialbudgets untermauern abschließend die vorliegende empirisch-statistische Bilanz des bundesdeutschen Sozialstaates seit der Wiedervereinigung bzw. der Jahrhundertwende, demzufolge von einem grundlegenden Abbau keinesfalls die Rede sein kann. Zunächst blicken wir auf die Sozialausgaben „als Indikator für den Ausbau der „Sozialstaatlichkeit“ eines Lan-

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des“336 , der üblicherweise durch den Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BiP) zum Ausdruck kommt. Nach Ursula Dallinger seien letztendlich die Nettosozialausgaben aussagekräftiger, weil sie die unterschiedliche Besteuerung von Sozialleistungen berücksichtigen. Dennoch hält Dallinger grundsätzlich fest, es „gehen hohe Ausgaben mit höherer Umverteilung einher“. Von 1991 bis 2015 haben sich somit die Sozialleistungen, also die Sozialausgaben, auf 885 Mrd. Euro mehr als verdoppelt, wobei der stärkste Anstieg nach der Wiedervereinigung wegen der Überleitung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die ostdeutschen Länder zu verzeichnen war. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1991 lag die Sozialleistungsquote bei 25 % und stieg bis 1996 auf 28,7 %, wofür neben dem Wiedervereinigungsprozess, die Einführung der Pflegeversicherung und die Neuordnungen des Familienlastenausgleichs verantwortlich zeichneten. Der vorübergehend markante Anstieg der Sozialleistungen und der Sozialleistungsquote im Jahre 2009 auf 30,5 % resultierte zum einen aus einer statistischen Änderung, demzufolge die Grundleistungen der privaten Krankenversicherung mit einbezogen wurden, und zum anderen verursachte die Finanz- und Wirtschaftskrise erheblich höhere Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bis 2016 stiegen schließlich die Sozialausgaben auf rund 918 Mrd. Euro, was für den Zeitraum von 2009 bis 2016 einer jährlichen 336

Dallinger, Vergleich, S. 19 und ebenda, S. 21 (das folgende Zitat). Diese Methode stößt z.T. auf Kritik, denn die aggregierten Sozialausgaben seien ungenau, d.h. wenn beispielsweise die Arbeitslosigkeit zunehme und die Zahl der Empfänger von Sozialleistungen steigt, dann nimmt bei gleichbleibenden BIP der prozentuale Anteil der Sozialleistungen zu, obwohl tatsächlich kein Ausbau erfolgt sei. Umgekehrt würde bei einem schrumpfenden BiP und gleichbleibenden Sozialausgaben der Anteil der Sozialleistungen wieder steigen, ohne dass die Ausgaben erhöht worden seien. 332

Zunahme von 2,9 % entsprach, während das Bruttoinlandsprodukt (BiP) nach der Finanzkrise sogar rund 3,5 % im Jahresdurchschnitt zulegte. Unter Berücksichtigung eines größeren Zeitrahmens vom Ende des Booms des Sozialstaats Mitte der 1970er Jahre bis 2010 verweist Lutz Leisering337 darauf, dass ungeachtet dieses Wendepunktes die Sozialausgaben absolut und kaufkraftbereinigt weiter – wenn auch entsprechend dem verlangsamten Wirtschaftswachstum – gestiegen sind. Von 1991 bis 2015 wuchsen die Sozialleistungen um 123,9 %, während das Bruttoinlandsprodukt lediglich 92,0 % zulegte. Angesichts der enormen Steigerungen der Sozialleistungen muss demzufolge zugleich auf den ebenfalls starken Anstieg des Bruttoinlandsprodukts verwiesen werden, dessen Wert sich von rund 1580 Mrd. Euro im Jahr 1991 auf rund 3032 Mrd. Euro im Jahr 2015 fast verdoppelte. Somit stand die Leistungsausweitung der Sozialausgaben in Wechselwirkung mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Damit ist zumindest aus der Perspektive der Entwicklung der Sozialleistungen und der Sozialleistungsquote ein nahezu durchgehendes Wachstum des Sozialstaates in Deutschland zu konstatieren, d.h. kein Abkoppeln von der gesamtwirtschaftlichen Lage. Lässt man die Phase der unmittelbaren Wiedervereinigung beiseite, so bewegte sich nach Darlegung der Regierung die Entwicklung der Sozialleistungen „im Wesentlichen im Einklang mit dem Wirtschaftswachstum, die Ausweitung von Leistungen korres337

Vgl. Lutz Leisering, Nach der Expansion. Die Evolution des bundesrepublikanischen Sozialstaat seit den 1970er Jahren, in: Anselm DoeringManteuffel/ Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 218ff. Leisering weist hier auf den Befund hin, dass Sozialausgaben steigen können ohne eine entsprechende gesetzgeberische Ausbaumaßnahme, wenn bspw. die Arbeitslosigkeit zunimmt oder neue und teurere medizinische Techniken zum Einsatz kommen. 333

pondierte mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“338. Auch dieser generelle, wenn auch quasi „offiziöse“ Befund des Sozialberichts 2013 spricht gegen pauschal vorgetragene Thesen vom Abbau des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland. Gemäß der jeweiligen Zweckbestimmung differenziert das Sozialbudget die Sozialleistungen nach zehn Funktionen: Krankheit, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Kinder, Ehegatten, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Wohnen und allgemeine Lebenshilfen. Diese werden in fünf Gruppen zusammengefasst. Bis zum Jahr 2009 waren die Aufwendungen der Funktion Alter und Hinterbliebene am höchsten, bevor die Funktion Krankheit und Invalidität unter Einbeziehung der privaten Kranken- und Pflegeversicherung an die erste Stelle rückte. Den durchgehend niedrigsten Wert verzeichnete die Funktion Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen. Den jeweiligen Stellenwert der Funktionen im Gesamtgefüge der Sozialleistungen kann man nach ihrem prozentualen Anteil am gesamten Sozialbudget festmachen: Die Funktionen Krankheit und Alter stellten durchgehend den größten Anteilsfaktor an den gesamten Funktionen und unterstrichen damit ihren herausragenden Stellenwert im Sozialbudget. Rückgänge wies die Funktion Hinterbliebene auf und entsprechend der Schwankungen der Arbeitsmarktentwicklung verlief die Funktion Arbeitslosigkeit nicht kontinuierlich. Bei Betrachtung der einzelnen Funktionen rangierte Krankheit und Invalidität an erster Stelle mit mehr als einer Verdoppelung von 1991 bis 2015, wobei alleine zwischen 2005 und 2015 die Aufwendungen für stationäre und ambulante Behandlungen um mehr als 60 Mrd. Euro wuchsen. Eine deutlich geringere Dynamik bei den Aufwendungen wies dagegen der Komplex Invalidität auf. Bei den zweitgrößten Funktionen Alter und Hinterbliebe338

Sozialbericht 2013, S. 171. 334

ne verzeichneten die Leistungen nahezu eine Verdoppelung im Vergleich zum Ausgangsjahr 1991. An dritter Stelle standen die Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft und hier ragten die Leistungen zum Familienleistungsausgleich als größter Einzelposten wie auch die Kinder- und Jugendhilfe heraus. Die Leistungen für Kinder sind seit 2005 stark gestiegen und spiegelten die vielfältigen Investitionen auf diesem Sektor des bundesdeutschen Sozialstaates wider. Mit deutlichem Abstand zu den Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft folgte die Funktion Arbeitslosigkeit, bei der 2012 der niedrigste Wert bei den Leistungen seit der Wiedervereinigung erreicht worden war. Die Ausgaben der Funktion Arbeitslosigkeit zeigten aufgrund der unterschiedlich verlaufenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt dementsprechend auch unterschiedliche Verläufe. Ausgehend vom Gipfel 2005 gingen die Ausgaben bis 2015 auf rund 31 Mrd. Euro deutlich zurück. Schließlich werfen wir noch einen Blick auf die Funktionen Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen. Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 sind die Leistungen der Funktion Wohnen im Sozialbudget deutlich angestiegen, hingegen sind die Ausgaben für die Funktion Wohnen gesunken, da die Wohngeldausgaben wegen der Einführung der wohnbezogenen Leistungen in der Grundsicherung zurückgingen. Die Aufwendungen zur allgemeinen Lebenshilfe haben sich mehr als verdoppelt. Im Sozialbudget sind noch die Sozialleistungen nach Institutionen kurz zu rekapitulieren, d.h. die Sozialversicherungssysteme, also die Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, die Sondersysteme, d.h. die Alterssicherung der Landwirte, die berufsständischen Versorgungswerke, die private Altersvorsorge, die private Krankenversicherung und die private Pflegeversicherung, die Systeme des öffentlichen Dienstes und die Arbeit335

gebersysteme, die Entschädigungssysteme und die Förder- und Fürsorgesysteme wie das Kindergeld, der Familienleistungsausgleich, das Erziehungs- bzw. Elterngeld, das Betreuungsgeld, die Grundsicherung für Arbeitsuchende, sonstige Arbeitsförderung, Ausbildungs- und Aufstiegsförderung, Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe und Wohngeld. Bei der Zahl der Versicherten bzw. Leistungsempfänger dominierte die Sozialversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen, aber auch die Sozialhilfe erreichte zumindest bis zur Einführung der Grundsicherung 2005 hohe Empfängerzahlen. Damit ist der Begriff der Sozialstaatsklientel angesprochen und es wird der enorme Umfang des Kreises der Bevölkerung deutlich, der, wie oben im Abschnitt 9.3. mit Bezugnahme auf die Ergebnisse von Manfred G Schmidt kurz skizziert wird, in unterschiedlichem Ausmaß vom Sozialstaat abhängig ist bzw. von ihm profitierte. Die größte Gruppe stellten demzufolge die verschiedenen Rentenbezieher einschließlich der Pensionäre dar. Weiterhin sind rund 90 % der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der Familienversicherung abgesichert. Eine kontinuierlich zunehmende Zahl von Personen ist pflegebedürftig und bezog Leistungen aus der Pflegeversicherung. Hingegen ist die Zahl der Rentenbezieher aus der Unfallversicherung seit 2002 zurückgegangen. Erwähnenswert sind die rückläufigen Zahlen der Arbeitslosenversicherung aufgrund der sich bessernden konjunkturellen Lage, allerdings verblieb ein relativ hoher Anteil von Personen, die auf die 2005 eingeführte Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen waren. Zu den Sondersystemen gehörten die mehr als 17 Millionen, mittlerweile überwiegend kritisch beurteilten, sog. Riester-Rentenverträge im Rahmen der 2001 ins Leben gerufenen privaten Altersvorsorge. Einen quasi natürlichen Rückgang infolge des immer größeren zeitlichen Abstands zum Zweiten Welt336

krieg erlebte die Entschädigung, also vor allem die Kriegsopferversorgung. Zuwächse fanden sich in der Ausbildungsförderung einschließlich der Aufstiegsfortbildung. Blicken wir auf die Ausgaben der Institutionen wird erneut der Schwerpunkt der Sozialversicherung im bundesdeutschen Sozialstaat offensichtlich, gefolgt von den Förder- und Fürsorgesystemen, den Arbeitgebersystemen und den Systemen des öffentlichen Dienstes. Die Sozialversicherungen umfassten nahezu zwei Drittel der Leistungen, wobei die Rentenversicherung mit rund einem Drittel der Leistungen des gesamten Sozialbudgets den umfangreichsten Posten einnahm, gefolgt von der Krankenversicherung mit gut einem Fünftel der Leistungen des gesamten Sozialbudgets und mit großem Abstand die Schwankungen ausgesetzte Arbeitslosenversicherung. Bei den Sondersystemen stellte seit 2009 die private Krankenversicherung den größten Posten dar und im Rahmen der Systeme des öffentlichen Dienstes dominierten die Pensionslasten als der mit Abstand umfangreichste Leistungsposten. Bei den Arbeitgebersystemen lag die Entgeltfortzahlung deutlich vor der betrieblichen Altersversorgung. Des Weiteren fällt die Zunahme der Ausgaben der Förder- und Fürsorgesysteme ab 2005 auf, wobei hier die 2005 implementierte Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Sparte Kindergeld und der Familienlastenausgleich sowie die erhebliche Zunahme der Kinder- und Jugendhilfe hervorstachen. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren zeichnete verantwortlich für diese Ausgabensteigerung. Ein weiterer erwähnenswerter Ausgabenanteil betraf hier die Sozialhilfe. Schließlich seien noch die prozentualen Anteile der einzelnen Institutionen am Bruttoinlandsprodukt (BiP) erwähnt, um etwaige Verschiebungen der Leistungsanteile in Beziehung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einordnen zu können. Zunächst ist festzuhalten, dass der Anteil des Sozialbudgets am BiP seit 1991 337

von 25,0 % auf 29,2 % (2015) gestiegen ist. Entsprechend den Anteilen der Institutionen am Sozialbudget stellten die Sozialversicherung und die Förder- und Fürsorgesysteme hier die wichtigsten Posten dar. Beide Systemgruppen nahmen seit 1991 zu. Innerhalb der Sozialversicherung stieg der Anteil der Rentenversicherung, während derjenige der Arbeitslosenversicherung infolge der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung und des damit korrespondierenden Abbaus der Arbeitslosigkeit deutlich abnahm. Die Anteile der Unfallversicherung und der Pflegeversicherung verharrten ungefähr auf dem gleichen Niveau. Bei den Sondersystemen nahm der Anteil deutlich zu, was ausschließlich auf die Einbeziehung der Privaten Krankenversicherung in das Sozialbudget seit 2009 zurückzuführen ist. Auffällig ist der deutlich gewachsene Anteil der steuerfinanzierten Förderund Fürsorgesysteme von 3,5 % (1991) auf 5,6 % (2015). Damit ist ein Charakteristikum der Zunahme steuerfinanzierter Sozialstaatsleistungen im Zeitraum seit der Wiedervereinigung bzw. seit der Jahrhundertwende zu konstatieren. Im Einzelnen verdoppelte sich bei den Förder- und Fürsorgesystemen der BIP-Anteil beim Kindergeld und Familienlastenausgleich und auch bei der Kinder- und Jugendhilfe nahm er massiv zu. Hier machte sich wiederum der forcierte Ausbau der Kinderbetreuung in den letzten Jahren nachhaltig bemerkbar. Vereinfacht formuliert kann konstatiert werden, dass die Anteile der großen Teilbereiche Rentenversicherung und – geringer – Krankenversicherung am BiP weiter gewachsen sind sowie einige steuerfinanzierte Leistungen im Bereich der Förder- und Fürsorgesysteme ebenfalls sichtbar zugenommen haben. Insofern untermauern auch diese Befunde tendenziell eher einen Ausbau des Sozialstaates als einen Abbau. Fragt man nach der Finanzierung der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets, so stehen die Arten der Finanzierung und die Finanzierungsquellen im Zentrum. Bei der Art der Finanzierung 338

wird grundsätzlich zwischen Sozialbeiträgen und Zuschüssen des Staates unterschieden. Hinsichtlich der Sozialbeiträge differenziert man nach ihrer Herkunft. Beiträge bildeten die wesentliche Finanzierung der verschiedenen Sozialversicherungszweige (Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung), die anderen Sozialleistungen wurden vorrangig aus Steuermittel finanziert bzw. als Arbeitgebersysteme von privaten und öffentlichen Arbeitgebern bestritten. Gemäß der hervorgehobenen Bedeutung der Sozialversicherung im Gefüge der sozialen Leistungen nahmen die Beiträge mit nahezu zwei Drittel des gesamten Finanzvolumens des Sozialbudgets den dominierenden Rang ein. So verdoppelten sich die Beiträge der Versicherten und auch die Beiträge der Arbeitgeber nahmen zu, allerdings wuchsen die Letzteren aufgrund von Strukturverschiebungen in der Finanzierung bis 2015 deutlich geringer. Ein Drittel der Einnahmen lieferten die Staatszuschüsse, die sich von 1991 bis 2015 mehr als verdoppelten und 2015 ein Drittel des gesamten Einnahmevolumens stellten. Der Anteil der Arbeitgeberbeiträge an den gesamten Beitragseinnahmen hingegen sank von 42,1 % (1991) auf 34,3 % (2015), während der entsprechende Anteil bei den Beiträgen der Versicherten (= im Wesentlichen die Arbeitnehmer) von 28,2 % auf 30,5 % zunahm. Diese Entwicklung ist vor allem auf die im Rahmen der Gesundheitsreformen seit 2005 durchgesetzte Abweichung von der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer mittels von letzteren zu bestreitenden Zusatzbeiträgen in der Krankenversicherung und auf die Zuschläge für Kinderlose in der Pflegeversicherung zurückzuführen. Insofern verlagerte sich die Finanzierung der beitragsbezogenen Sozialleistungen eindeutig zu Lasten der Versicherten. Bei den Zuschüssen des Staates wirkten sich die wachsenden Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung und die Zuweisungen in den Gesundheitsfonds aus. Auch der 339

massive Ausbau der weit überwiegend steuerfinanzierten Förderund Fürsorgesysteme – u.a. beim Familienlastenausgleich seit 1996 – machte sich bemerkbar. Zusammenfassend ist somit der Anteil der Beitragsfinanzierung von rund 70 % im Jahre 1991 auf rund 64 % im Jahre 2015 gefallen. Eine jeweilige Zunahme der Beitragsfinanzierung des gesamten Sozialbudgets ist nach Hinweis der Bundesregierung zusätzlich dann zu konstatieren, wenn eine „gute Konjunktur für weitere zusätzliche Einnahmen“ sorgt und im Gegenzug „das Gewicht der Zuschüsse des Staates“339 fällt. Bei den Sozialleistungen der anderen Systeme wie der sozialen Entschädigung oder den Förder- und Fürsorgesysteme dominierten die Steuermittel. So haben sich von 1991 bis 2015 die Zuschüsse des Staates verdoppelt und machen 2015 mehr als ein Drittel des gesamten Einnahmevolumens aus. Bei den Finanzierungsquellen der Sozialleistungen schließlich unterscheidet das Sozialbudget zwischen Unternehmen (Kapitalgesellschaften), den Staat – Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung –, privaten Organisationen ohne Erwerbszweck, privaten Haushalten und der übrigen Welt. Die Einnahmen der privaten Haushalte sind weitgehend identisch mit den Sozialbeiträgen der Versicherten, somit entsprach ihr Anteil am gesamten Volumen mit 31,0 % (2015) nahezu einem Drittel. Deutlich mehr als eine Verdoppelung wiesen die dominierende Finanzierungsquelle „Staat“ mit Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung sowie die privaten Organisationen und privaten Haushalte auf, wobei die größten Zuwächse in den 1990er Jahren im Kontext der Wiedervereinigung erfolgten. Rund 40 % machte im Jahr 2015 der Anteil des Staates am Gesamtvolumen aus, wobei die Rolle des Bundes mit mehr als der Hälfte als wichtigster Finanzier in der Kategorie „Staat“ hervorstach, während 339

Sozialbericht 2013, S. 222. 340

die Länder knapp ein Fünftel und die Gemeinden ein Viertel beisteuerten. Zum „Staat“ zählten neben den steuerfinanzierten Sozialleistungen auch seine Arbeitgeberbeiträge im Zusammenhang mit seiner Rolle als Arbeitgeber. Der Beitrag der Unternehmen lag mit 26,8 % (2015) unterhalb des Umfangs der Arbeitgeberbeiträge, da der Staat als Arbeitgeber hier nicht enthalten ist. Insgesamt nahm der Anteil der Unternehmen an der Finanzierung entsprechend den Quellen seit 1991 (34,8 %) klar ab. Als Fazit ist festzuhalten, dass der Stellenwert des Staates als Finanzierungsquelle seit der Jahrhundertwende erheblich zugenommen hat, wofür der Ausbau steuerfinanzierter Leistungen zuvörderst verantwortlich war. Der Anteil der Unternehmen an der Finanzierung der Sozialausgaben sank, während umgekehrt der Staatsanteil zunahm und auch der Anteil der privaten Haushalte – im Wesentlichen die Beiträge der Versicherten – von 28,6 % (1991) auf 31,0 % (2015) anstieg. Offensichtlich kamen somit diese Strukturveränderungen der Sozialausgabenfinanzierung den Unternehmen zugute. Beim Vergleich des deutschen Sozialstaates innerhalb der Europäischen Union wurden die Indikatoren Sozialleistungsquote, die Finanzierung der Sozialschutzleistungen und die Funktionen herangezogen. Bei der Sozialleistungsquote befand sich Deutschland immer im vorderen Abschnitt der EU-Mitgliedstaaten. Eine Analyse der Sozialleistungen nach ihrer Zweckbestimmung, also nach den Funktionen, zeigte beim Blick auf das Jahr 2010 bzw. 2014 sichtbare Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Die deutschen Aufwendungen bei den Funktionen Alter/Hinterbliebene, Krankheit/Invalidität, Familie und Arbeitslosigkeit bewegten sich jeweils sehr nahe am EUDurchschnitt. Wiederum am Beispiel des Jahres 2010 wurden bei der Frage nach der Art der Finanzierung der Sozialleistungen markante Differenzen deutlich, die u.a. auf die jeweilige Altersstruktur der Bevölkerung oder auch den Anteil von Beamten an den Erwerbspersonen verwiesen. 341

Überwiegend herrschte die Finanzierung durch Beiträge vor, jedoch wich Irland mit einem hohen Anteil von Staatszuschüssen ab, wie auch Slowenien, wo die Arbeitnehmerbeiträge dominierten. In Estland dominierten umgekehrt die Arbeitgeberbeiträge. Deutschland wiederum bewegte sich bei den Staatszuschüssen sowie den Arbeitgeberbeiträgen nahe am EU-Durchschnitt bzw. knapp darunter, bei den Arbeitnehmerbeiträgen übertraf es den EU-Durchschnitt eindeutig. Blickt man auf die Finanzierungsquellen war die Verteilung in Deutschland gleichmäßiger als in den meisten EU-Staaten, relativ hoch war der Anteil der Privathaushalte, während umgekehrt der Finanzierungsanteil des Staates eher unterdurchschnittlich verharrte.

Zu einer Standortbestimmung des deutschen Sozialstaates nach dem Boom: Abbau oder Umbau? Nachdem die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Bilanz zum deutschen Sozialstaat zusammenfassend referiert wurden, wollen wir noch einmal die Frage hinsichtlich eines potentiellen Abbaus oder Umbaus aufwerfen, wobei wir die Phase „nach dem Boom“ schwerpunktmäßig auf die Jahre nach 2000 erweitern. Berücksichtigt man zunächst quantitativ den finanziellen Gesamtumfang der Sozialleistungen, so kann von einem generellen und durchgehenden Abbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland auch nach der Jahrhundertwende nicht die Rede sein, denn die Leistungsausgaben sind insgesamt nahezu durchgehend weiter gestiegen. War die vorherige Phase der Regierung Kohl noch von Kürzungen, Konsolidierungen, aber auch punktuellen Leistungsausweitungen geprägt, so bietet die nachfolgende Epoche – aus einer Vogelperspektive gesehen – zwar zunächst tiefgreifende Reformen und Einschnitte mit der sog. Agenda 2010, aber zugleich kam es in bestimmten sozialpolitischen Bereichen zu erheblichen Expansionen.

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Schließlich erfolgten in den letzten Jahren, vor dem Hintergrund einer deutlich verbesserten Arbeitsmarktentwicklung, einige Korrekturen der Arbeitsmarktreformen aus der Zeit der Kanzlerschaft Schröders. Damit ist erneut auf die jeweiligen Zeitumstände zu verweisen, die als prinzipielle Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines komplexen Gegenstandes wie den Sozialstaat in Rechnung zu stellen sind. Reformmaßnahmen sind unabhängig davon, in welche Richtung sie tendieren, ohne den historischen Hintergrund ihrer jeweiligen Umsetzung, nicht angemessen zu erfassen. Deshalb sei erneut auf den „historistischen“ Ansatz bei ihrer Beurteilung hingewiesen, denn ohne ein angemessenes Verständnis der damaligen ökonomischen und politischen Bedingungen kann man heute die entsprechenden Interventionen bzw. Umbauten nicht adäquat erfassen. Zutreffend bringt dies die neue Arbeit von Thomas Ebert über die Alterssicherungsreformen der rot-grünen Regierung zum Ausdruck, demnach „die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Alterssicherungspolitik um die Jahrtausendwende herum wesentlich anders waren als in der Zeit, in der der Generationenvertrag begründet worden war“340. Man kann dabei über die bei Ebert im Mittelpunkt stehenden Rentenreformen hinausgehen und mit einiger Berechtigung auf die „Erosion der Mentalitäten und Verhaltensmuster, die eine wesentliche Voraussetzung des Sozialstaates bilden“, verweisen. Mit Blick auf die Alterssicherung betont der Autor, was wohl auch generell für die Sozialstaatsreformen gilt, den „Bruch mit der Logik der kollektiven Solidarität“, der im Übrigen „durchaus den Megatrends der gesellschaftlichen Entwicklung“ entsprach. Strukturelle Umbauten bei der Finanzierung des bundesdeutschen Sozialstaats sind nicht zu übersehen, d.h. der – bereits vor der Jahrhundertwende einsetzende – wachsende Anteil steuerfinanzierter 340

Ebert, Zukunft, S. 125, ebenda (die folgenden Zitate). 343

Sozialleistungen und der Rückgang der Finanzierungsbeteiligung der Unternehmen wie auch das partielle Abweichen von der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung stellen ein wichtiges, durchaus kritikwürdiges Ergebnis der vorliegenden Bilanz dar. Jedoch konnte aktuell die paritätische Beitragsfinanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder hergestellt werden, so dass damit zumindest ein problematisches Element aus der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts beseitigt wurde. Die Pflegeversicherung wurde unter Hinnahme weiterer Beitragssteigerungen ausgedehnt (u.a. wurden Demenzkranke stärker einbezogen). Mit berechtigtem kritischen Blick ist die Verteilung von Armut bzw. Reichtum, also Einkommen und Vermögen zu betrachten, denn auf diesem Sektor hat sich die Kluft ungeachtet der positiven Arbeitsmarktlage nach 2005 eher verstetigt. Hier ist erneut die Lohnfrage aufzuwerfen, will sagen, mittelfristig ist ein signifikanter Anstieg des Mindestlohnes unbedingt neben weiteren steuerrechtlichen Instrumenten (Erbschaftssteuer) zu einer Korrektur der bestehenden Einkommens- und insbesondere Vermögensverteilung ins Auge zu fassen. Als positive Befunde kann man seit den 1990er Jahren bzw. verstärkt nach 2000 festhalten: Investitionen in der Kinder- und Jugendhilfe durch den massiven Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen wie auch weitere familienpolitische Leistungen (z.B. Kindergelderhöhungen) und eindeutige Verbesserungen für Frauen in der Rentenversicherung, der Ausbau der Ausbildungsförderung und die Verbesserungen beim Wohngeld, die nicht abzustreitende positive Arbeitsmarktentwicklung seit 2005 ungeachtet der weiterhin bestehenden Langzeitarbeitslosigkeit, deren Abbau zögerlicher verlief, wie auch die vielfältigen Bemühungen der Regierung Schröder zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, die durchaus von Erfolg gekrönt waren.

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Jedoch erscheint der Rückgang der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen angesichts der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit zumindest bis 2014/2015 als diskussionswürdig, insbesondere vor dem Hintergrund der wesentlichen Grundgedanken der Agenda 2010, nämlich des Förderns und Forderns. Hierbei bleibt die Problematik des Niedriglohnsektors bestehen, denn die Lohnfrage wirkt sich naheliegend auf die Alterssicherung aus. Allerdings sollte nicht unterschlagen werden, dass der Niedriglohnsektor eindeutig vor den Hartzreformen seinen Anfang genommen hatte. Gerade im Hinblick auf die Beurteilung der bis zum heutigen Tag zum Teil heftig diskutierten Reformen der sog. Agenda 2010 ist der historische Kontext der Krise auf dem Arbeitsmarkt in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts zu berücksichtigen. Die Arbeitsmarktlage in diesen Jahren hatte in Deutschland 2005 einen negativen Höhepunkt erreicht. Der partiell berechtigte kritische Rückblick aus dem Jahr 2017 oder 2018 auf dieses Reformpaket sollte diese „historistische“ Perspektive nicht außer Acht lassen, wie auch machtpolitisch die Regierung Schröder nach 2003 keine Mehrheit im Bundesrat mehr besaß. Somit nahm die Opposition im Bundestag vielfach entscheidenden Einfluss auf die Umsetzung der Arbeitsmarktreformen im Rahmen des bundesdeutschen, politischen Mehrebenensystems. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch die neue Grundsicherung hat für einen Teil der Betroffenen – diejenigen, die bis dahin eine höhere Arbeitslosenhilfe bezogen hatten – erhebliche Einbußen zur Konsequenz, so dass hier von einem Abbau eines Teilgebietes des Sozialstaates berechtigt gesprochen werden kann. Jedoch wurde der Übergang in die Grundsicherung in den ersten Jahren noch mit Übergangsregelungen abgefedert. Auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I wurde bekanntlich verkürzt. Auf die Habenseite einer Bilanz des deutschen Sozialstaats kann man jedenfalls die aktive Krisenbewältigung im Kontext der heftigen

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Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 verbuchen.341 Eine zumindest vorübergehende Zäsur bewirkte diese Finanzkrise auch dahingehend, dass der ideologisch geprägte Trend der Abkehr vom Staat gestoppt wurde und man im „Nationalstaat, gegebenenfalls samt der EU, das letzte Refugium von Sicherheit“342 erblickte. Einen breiten Raum nahmen die Reformen in der Rentenversicherung ein, aber ungeachtet der problematischen Rentenniveauabsenkungen und der Einschränkung der Lebensstandardsicherung wurde immerhin die zumindest ergänzende private Zusatzabsicherung durch die sog. Riesterrente implementiert, wenngleich deren Rendite u.a. aufgrund der Politik der Europäischen Zentralbank anhaltend sehr mager ist. Insofern wurde das von der rot-grünen Regierung Schröder anvisierte Ziel einer Kompensation der Absenkung des Rentenniveaus nicht erreicht. Die Sicherung eines angemessenen Rentenniveaus für die Zukunft, auch und gerade für die Bezieher eher niedriger Altersbezüge, wird sozialpolitisch eine der größten Herausforderungen sein. Die Rente mit 67 war wohl, bei aller Problematik für bestimmte Berufsgruppen, im Kontext der demographischen Entwicklung ein letztendlich notwendiger Einschnitt, wenngleich ihre politische Implementierung durchaus als bedenklich beurteilt werden kann. 341

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Insofern verfehlen die Befürchtungen bei Butterwegge, Krise, S. 10, demnach eine auf die Austeritätspolitik zurückzuführende „Verarmung und Verelendung“ aus Südeuropa auch nach Deutschland übergreifen würden, wohl die Realität. Leibfried, Wohlfahrtsstaat, S. 27. Interessant erscheint der Hinweis von Stefan Leibfried bezüglich der öffentlichen Aufwendungen für soziale Aufgaben, demnach zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den entwickelten Demokratien die Verteidigungsausgaben durchschnittlich vier Prozent der Ausgaben der öffentlichen Hand ausmachten, die Sozialtransfers hingegen 40 %, so dass das Verhältnis der Ausgaben im Vergleich zum Anfang des 20. Jahrhunderts „völlig auf den Kopf gestellt worden“ sei (ebenda, S. 13). 346

Berechtigt erscheint die Kritik an der überwiegenden Finanzierung der deutschen Einheit durch die Sozialversicherung und damit deren negativen Folgen für die Arbeitskosten im bundesdeutschen „Sozialversicherungsstaat“. Hier fand sich ein wesentlicher Grund für die hohen Lohnnebenkosten, die im Kontext der zunehmenden Globalisierung und den Diskussionen um die gefährdete Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft immer wieder von der Arbeitgeberseite moniert wurden.343 Allerdings wurde dieser gravierende Finanzierungsweg vor der Jahrhundertwende in der Regierungszeit Kohls eingeleitet. Positiv hervorzuheben ist der aktuelle Befund, demnach sich die Altersarmut noch auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau bewegt, wie die Werte bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zeigten, wenngleich zukünftig mit wachsenden Zahlen zu rechnen ist. Kritisch bleiben die Wohnraumversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und die dortige hohe Mietbelastung. Die Ausgaben zur Bewältigung der 2015 stark angewachsenen Zuwanderung sind außerordentlich angestiegen und untermauern die Bereitschaft zur Bewältigung dieser enormen Herausforderung. Des Weiteren kann man gerade die in der letzten Legislaturperiode durchgesetzten sozialpolitischen Reformen, insbesondere den notwendigen Mindestlohn, der auch im Hinblick auf eine tragfähige Alterssicherung weiterer Aufstockung bedarf, als angemessene Weiterentwicklung zuvörderst nennen. Ebenso erwähnen wir die Einschränkungen bei der Leiharbeit sowie Maßnahmen wie die Rente ab 63344 und die sog. Mütterrente. Die beiden letztgenannten Rentenmaßnahmen brachten

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Vgl. zur Verantwortung der Art der Einheitsfinanzierung für die hohen Lohnnebenkosten u.a. Kaufmann, Sozialstaat, S. 185. Kritisch zur Rente mit 63 Leisering, Expansion, S. 243, die „demografisch zukunftsvergessen“ sei. 347

zumindest für Teilgruppen der sog. Sozialstaatsklientel eindeutige Verbesserungen. Resümierend kam es somit zu punktuell schmerzlichen Kürzungen in manchen Sparten des bundesdeutschen Sozialstaats, aber es bleibt ein überwiegend positives Gesamtbild vor allem beim Blick auf die enorm gewachsenen Ausgaben seit der Jahrhundertwende. Von knapp 400 Mrd. Euro (1991) über gut 600 Mrd. Euro (2000) sind die Sozialausgaben bis zu 885 Mrd. Euro (2015) gestiegen, was einer Entwicklung der Sozialleistungsquote von 25,0 %, 28,7 % und 29,2 % entsprach.345 Also wird auch nach der Jahrhundertwende nahezu ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts für Soziales beansprucht. Aus einer grundsätzlicheren, kritischen Perspektive blickt Stephan Lessenich im Jahre 2012 auf den gesamtdeutschen Sozialstaat, der in den letzten zwei Jahrzehnten „dabei ist, sein Gesicht zu ändern“346. Den Hintergrund dieser mehr qualitativen Umgestaltung bildet neben der ökonomischen Globalisierung und der Individualisierung der Lebensstile vor allem ein politischer „Einsatz“ dieser Wende, die bereits Mitte der 1990er Jahre eingesetzt hatte und nachhaltig in der rotgrünen Regierung Schröder zum Ausdruck kam, nämlich „Aktivierung“ als charakteristisches Merkmal. Der regulativen Idee der „Aktivierung“ gehe es darum, „aus mehr oder weniger marktfernen Sozialstaatsbürger/-innen durch sozialpolitische Intervention (pro)aktive Marktsubjekte werden zu lassen“.

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Und der Trend geht weiter, denn nach dem neuesten Sozialbudget 2017 belaufen sich die gesamten Sozialausgaben im Jahr 2017 auf rund 965 Mrd. Euro. Stephan Lessenich: „Aktivierender“ Sozialstaat: eine politisch-soziologische Zwischenbilanz, in: Reinhard Bispinck / Gerhard Bosch / Klaus Hofemann / Gerhard Naegele (Hg.), Sozialpolitik und Sozialstaat. Festschrift für Gerhard Bäcker, Wiesbaden 2012, S. 42; ebenda, ebenda, S. 45 und S. 49 (die folgende Zitate). 348

Ausgangspunkt dieser „Aktivierung“ seien die Feststellungen der vergleichenden wohlfahrtsstaatlichen Forschung, demnach die konservativen Wohlfahrtsstaaten Bismarck'scher Prägung mit dem männlichen Normalarbeitsverhältnis als Basis des „Sozialversicherungsstaates“ den Anforderungen nicht mehr gewachsen seien. „Aktivierung“ sei durch zwei Bestimmungsmerkmale gekennzeichnet, nämlich den „Marktbezug zum einen, der[n] Arbeitsbezug zum anderen“. Angestrebt werden eine „Vermarktlichung“ von Sozialpolitik. In Übereinstimmung mit einer allgemeinen Subjektivierung als makrosozialen Entwicklungstrend verortet Lessenich die gesamte Aktivierungsprogrammatik in diesen umfassenderen Zusammenhang, wobei Selbstverantwortung als leitender Begriff fungiere. Der Weg der Aktivierung als zentrales Element der von Rot-Grün beschrittenen Sozialstaatsreform sei im Übrigen die „strategische Antwort der politischen Linken auf die politisch-kulturelle Hegemonie des Marktliberalismus“. Setzt man diese anregenden Überlegungen von Lessenich mit den hier vorgelegten Ergebnissen einer Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende in Beziehung, so erscheint der postulierte Umbau des Sozialstaats in Richtung eines selbstverantwortlichen, „aktivierten“ Individuums doch als ein eher nur bedingt realisiertes Konzept. Jedenfalls ist – nicht nur in Deutschland – ein derartiger, radikaler Umbau ausgeblieben, wenngleich familienpolitische Erweiterungen vor dem Hintergrund der gewünschten Ausweitung der Erwerbstätigenquote zu sehen sind. Nur als ein Beleg sei die sog. Riesterrente erwähnt, die zwar vom selbst verantwortlichen Individuum exekutiert werden muss, aber letztlich hat der Gesetzgeber weitgehend die einzelnen Bausteine festgelegt und stellt noch entsprechende Zuschüsse (Zulagen) bereit. 347 Des Weiteren könnte man als überfällige Korrektur den – baldmöglichst weiter deutlich anzuhebenden – Mindestlohn erwähnen. 347

Vgl. Hockerts, Abschied S. 318f. 349

Für Deutschland hält Gerhard Bosch zu Recht fest, dass der andernorts zu beobachtende Sozialabbau in den beiden Jahrzehnten vor der Finanzkrise bzw. auch in den dieser Krise folgenden Jahren nicht eingetreten sei, was die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit weitgehend untermauern. Vielmehr handle es sich um eine „Kombination von Ab, Auf- und Umbau von Sozialleistungen“348. Mit kritischem Blick verweist Bosch in seiner Analyse zum deutschen Sozialmodell aber auf den im „hohem Tempo“ erfolgten Umbau des deutschen Sozialsystems in den letzten 20 Jahren. Hierbei hebt er eine Entwicklung vom inklusiven zum eher exklusiven Sozialstaat aufgrund eines wachsenden Niedriglohnsektors hervor.349 Als wesentliche „Treiber“ dieses Prozesses identifiziert er die Alterung der Gesellschaft, die wachsende Erwerbstätigkeit der Frauen, die deutsche Wiedervereinigung, neue Leitbilder wie Deregulierungen am Arbeitsmarkt, mehr Eigenvorsorge und Senkungen der Sozialabgaben zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Als Positiva betont Bosch die Integration der ostdeutschen Bevölkerung in das westdeutsche Sozialsystem, die Pflegeversicherung und den Gesundheitsfonds mit seinem Finanzausgleich wie auch die Einführung des Elterngeldes und die erfolgreiche Bekämpfung der Folgen der Finanzkrise durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Demgegenüber stehen als negative Befunde die „Erosion des deutschen Tarifsystems und die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die Hartz-Gesetze“ wie auch drastische Einschnitte in der Alterssicherung durch die Absenkung des Rentenniveaus. Als Folge des expandierenden Niedriglohnsektors prognostiziert er wohl zutreffend eine wachsende Altersarmut. Die Hartzreformen haben, so Bosch, hingegen die Beschäftigung nicht erhöht, wie die „Fehldiagnose, dass die 348

349

Bosch, Sozialmodell, S. 3 (auch die folgenden Zitate) und ebenda, S. 45f. (zum Folgenden). Vgl. Bosch, Sozialmodell, S. 1 und ebenda, S. 46 (das folgende Zitat). 350

Arbeitskosten in Deutschland zu hoch seien“. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern könne man in Deutschland resümierend „weder im Rückblick auf die letzten Jahre nach der Finanzkrise noch auf die 20 Jahre vor der Finanzkrise von einem reinen Sozialabbau sprechen“, vielmehr herrschte eine „Kombination von Ab-, Auf- und Umbau von Sozialleistungen“ vor. Auch andere Autoren weisen Behauptungen bezüglich eines umfassenden Sozialabbaus zurück, denn „radikale Einschnitte waren äußerst selten“350 und der Wohlfahrtsstaat blieb in seinen Grundzügen unangetastet, ja in einigen Bereichen ist sogar ein qualitativer wie auch quantitativer Ausbau (Familienpolitik) zu konstatieren. Angesichts variabler Einschnitte wie der Verschärfung von Zugangsvoraussetzungen oder längeren Wartezeiten sei es „ratsam, weniger von einer Abbau- als von einer Umbauphase des Wohlfahrtsstaates zu sprechen“. Diese Umbauthese gewinnt beim Blick auf den deutschen Sozialstaat an Gewicht. Ein sozial-politischer Kahlschlag nach der Boomphase und damit auch nach der Jahrhundertwende findet sich nahezu nirgends. Mit den Ergebnissen der hier vorgelegten Bilanz übereinstimmend erfolgten zwar vielfach bestimmte soziale Leistungskürzungen, aber es sind nachweisbar „die öffentlichen wie privaten Sozialausgaben fast überall weiter gewachsen“351, weil der Bedarf wegen der demographischen Entwicklung oder der Bewältigung der Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Und ergänzend ist zu betonen: Weil eben Bereiche wie die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit Fokussierung auf eine angestrebte, verstärkte berufliche Tätigkeit der Frauen zu höheren Ausgaben führten.

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351

Köppe/Starke/Leibfried, Sozialpolitik, S. 17 und ebenda, S. 18 (das folgende Zitat). Leibfried, Wohlfahrtsstaat, S. 24 und S. 27 (das folgende Zitat) sowie ebenda, S. 13 (zum Folgenden). 351

Seit den 1990er Jahren und insbesondere nach 2000 wird der wohlfahrtsstaatlichen Politik dennoch ein Wandel „graduellen und kumulativen Charakters“ attestiert, d.h. etwa die Einführung neuer Regeln, Ergänzungen alter Regeln oder einer Bedeutungsänderung gleich bleibender Regeln.352 Auch haben globale Faktoren bzw. Organisationen wie z.B. die EU oder die UN mittels der Hervorhebung von Rechten von Behinderten Einfluss auf die Sozialstaaten gewonnen. Lutz Leisering rückt organisatorische und institutionelle Faktoren in den Vordergrund, die letztendlich sogar zur Expansion des Sozialstaats nach dessen Boomphase geführt haben. Es habe sich eine „institutionelle Eigendynamik des Sozialsektors oder Wohlfahrtssektors“ herausgeschält. Dieser Sektor offenbarte eine bedeutende institutionelle Eigenständigkeit mit Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Bewegungen und umfasst Bürokratien sozialer Umverteilung, soziale Dienstleistungen, die Sozialversicherungen, die Wohlfahrtsverbände, kommunale Einrichtungen, Sozial- und Arbeitsgerichte usw. Damit greift der Wohlfahrtssektor weit über staatliche Institutionen hinaus. Die oben bereits diskutierte private Zusatzrentenversicherung der sog. Riesterrente kann neben zahlreichen privaten oder freigemeinnützigen Anbietern im Gesundheitswesen und insbesondere im Pflegebereich hierunter subsumiert werden. Auch der im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigte Bildungssektor (Privatschulen etc.) einschließlich der berufsqualifizierenden bzw. beruflichen Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit hat für private und/oder gemeinnützige Anbieter (über die Wohlfahrtsverbände hinausgehend) ein weites Feld eröffnet. Für die Epoche der Sozialstaatsentwicklung nach dem Ende des Booms und damit den hier interessierenden Zeitraum überwölbend, formuliert Leisering die beiden Hypothesen einer Kontinuität und 352

Vgl. zum Folgenden Leisering, Expansion, S. 223f.; ebenda, S. 224 (das folgende Zitat). 352

eines Bruchs. Die Bruchthese wird u.a. von Christoph Butterwegge vertreten, der als „zentrale These“ seiner Beurteilung des deutschen Sozialstaats vor dem Hintergrund einer „neoliberale[n] Wende“ behauptet, „dass der Sozialstaat seit Mitte der 1970er Jahre restrukturiert und demontiert wird“.353 Betont kritisch resümiert der Politikwissenschaftler: „Bei der heutigen „Umbau“-Diskussion handelt es sich um einen politischen Frontalangriff auf den Sozialstaat in seiner gewohnten Gestalt“. Da einleitend in diesem Abschlusskapitel darauf verwiesen wird, dass sich der Sozialstaat vielfach verändert und an manchen Stellen seine Gestalt modifiziert, müsste hier wohl erst einmal geklärt werden, worin die „gewohnte Gestalt“ des Sozialstaates eigentlich besteht. Die Behauptung Butterwegges, dass die Sozialleistungsquote 2011/12 niedriger als Mitte der 1970er sei, trifft nicht zu, wenn man die Berechnungen aus den Sozialberichten der Bundesregierung zu Grunde legt.354 Demgegenüber beobachtet Lutz Leisering differenzierend seit den 1970er Jahren eine teilweise Expansion wie auch einen teilweisen Rückbau des Sozialstaates. Für unseren Zeitabschnitt verdienen die Reformen der Regierung Schröder im Rahmen der „Agenda 2010“ eine besondere Beachtung, die auf eine Leistungsbeschränkung und zugleich eine aktivierende Politik abzielten. Schröders Politik blieb nicht nur Rhetorik, sie wurde weitgehend umgesetzt, mit bis heute allerdings anhaltenden Protesten, auf die politisch die Sozialdemokratie immer noch keine befriedigende Antwort gefunden hat und die die neue Partei „Die Linke“ als eine dauerhafte Konkurrenz entstehen ließ. Diese Reformpolitik der zweiten Regierung Schröder stieß auf heftigen Widerstand, auch weil Schröder „nur unzureichend öffentli-

353 354

Butterwegge, Krise, S. 9 und ebenda, S. 35 (das folgende Zitat). Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialrecht, S. 1208: 26,3 % Quote (1975) gegenüber 29,4 % (2011) bzw. (geschätzt) 29,5 % (2012). 353

che Diskurse initiierte, die seine Politik stützen könnten“355. Damit ist wohl ein Schwachpunkt der letztendlich zumindest in manchen Bereichen unvermeidbaren Reformen angesprochen, der ihre Akzeptanz vielfach bis in unsere unmittelbare Gegenwart zumindest im eher traditionellen sozialdemokratischen Milieu beeinträchtigt. Für die Jahre 2000 bis 2008 arbeitet Leisering drei Veränderungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik heraus: Erstens tiefgreifende Veränderungen in den Bereichen Alterssicherung und Arbeitsmarkt, zweitens weiterhin eher kleine Reformen in der Bildung, Einwanderung oder Gesundheit und schließlich drittens das Aufkommen folgenreichen Sozialprotests vor allem gegen die Agenda-Politik mit der Bildung einer neuen Partei, der „Linken“ und dem Vormarsch eines „Sozialpopulismus“. Der im Übrigen weitergehende sozialpolitische Reformversuch der CDU mit Angela Merkel des Jahres 2005 mit einer vollständigen Abweichung von der bisherigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine einkommensunabhängige Prämie konnte politisch nicht durchgesetzt werden. Begrifflich könne man erst seit Mitte der 1990er Jahre von einer „Krise des Sozialstaats“356 sprechen, die Zeit vom Ende des Booms 1975 bis in die beginnenden 1990er Jahre erscheint noch als „Sozialstaat in Bedrängnis“. Normative Leitvorstellungen wandelten sich, Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit wurden durch Thesen einer neuen „Generationengerechtigkeit“ und durch „Geschlechtergerechtigkeit“ ergänzt. Abweichend von der gängigen Sozialabbauthese, die sich auf die Leistungsgesetzgebung rekurriert, rückt Leisering den dynamischen Sozialsektor, der sich mit einer Eigendynamik wiederum weitgehend unabhän-

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Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 439 und ebenda, S. 439ff. (zum Folgenden). Leisering, Expansion, S. 230, S. 232 und S. 241 (die folgenden Zitate); ebenda, S. 231ff. (zum Folgenden). 354

gig vom Leistungsrecht bewegt, in den Mittelpunkt. Zusammenfassend hält der Autor fest, „der (west-)deutsche Sozialstaat wurde nach dem Boom also nicht substanziell abgebaut, wohl aber (verzögert) verändert“. Neben der dominierenden, zumeist kritischen, Fokussierung auf die Leistungsgesetzgebung müsse man auf ein weiteres „Erbe“ aus den Boomzeiten verweisen, nämlich die „gewachsenen Institutionen des Sozialstaats“, d.h. den Sozialsektor. Dieser institutionelle Aspekt sei letztendlich dafür verantwortlich, dass ungeachtet von Kürzungen im Leistungsrecht der Sozialstaat weiter expandiert sei, so im Bereich des Gesundheitswesens mit mehr Ärzten, mehr medizinischem Fortschritt, längeren Rentenlaufzeiten oder mehr im Sozialsektor überhaupt Beschäftigten. Der deutsche „Konsenssozialstaat“ war in der Boomzeit als ein „Stück nationaler Kultur“ (Kaufmann) entstanden und von den beiden großen, den Sozialstaat befürwortenden Parteien gefördert worden. In Abweichung von der von Esping-Andersen entworfenen Typenlehre westlicher Sozialstaaten, die Deutschland zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten zählte, verweist Leisering darauf, dass der deutsche Sozialstaat sich sowohl dem sozialdemokratischen Typ wie auch dem liberalen Typ angenähert habe.357 Im Hinblick auf die Thematik der Diskussion über den Sozialstaatsumbau betont der Autor den Erhalt einer „Grundsicherung“ als „verfassungsrechtlich nicht unterschreitbare Grenze eines Sozialstaatsumbaus“. Die ausgeprägte deutsche Sozialstaatstradition beinhalte zwar „eine weitreichende Verantwortung des Staates für die Wohlfahrt der Individuen, aber nicht, dass der Staat selbst die Leistungen erbringt“.

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Vgl. Leisering, Expansion, S. 241f. Treffend der Hinweis an dieser Stelle, dass sich auch die Parteien „sozialdemokratisiert“ hätten, ein Befund, der gerade auf die Merkel-CDU einen hohen Grad an Berechtigung aufweist; ebenda, S. 244 (die beiden folgenden Zitate). 355

Mit Köppe/Starke/Leibfried fragen wir nach Erklärungen für die Gleichzeitigkeit von Rückbau und weiterem Ausbau des Sozialstaates, wobei die Autoren drei Erklärungsansätze im Allgemeinen zur Entstehung von Wohlfahrtsstaaten heranziehen. 358 Die funktionalistischen Ansätze betonen die Rückbauthese, d.h. im Kontext von Globalisierung, demographischen Wandel, ökonomischer Wachstumsschwäche und hoher öffentlicher Verschuldung würden die Wohlfahrtsstaaten einen Abwärtslauf nach unten starten, ein „race to the bottom“. Dies könne man aber auch geradezu umkehren, denn eine alternde Gesellschaft könne durchaus einen sozialpolitischen Ausbau zur Folge haben. Die Vertreter des institutionellen Ansatzes betonen die Folgewirkung der sog. Pfadabhängigkeit, die einem Umbau entgegensteht, d.h. viele Bürger seien vom Fortbestand des Wohlfahrtsstaats abhängig. In diesem Zusammenhang verdient die, so Lutz Leisering, auf Franz-Xaver Kaufmann zurückgehende Theorie einer „kulturellen Pfadabhängigkeit“359 eine besondere Erwähnung. Hierunter versteht Kaufmann, dass jedes Land sich mit “Eigensinn“ mit sozialen Fragen und Institutionen beschäftige. So sei in Deutschland frühzeitig die soziale Frage als Arbeiterfrage definiert worden und der Weg in einen Sozialversicherungsstaat geebnet worden. Auch sei im Übrigen beispielsweise in föderalen Systemen die Zahl der involvierten Mitspieler bei politischen Entscheidungen hoch, so dass es zu einem radikalen Umbau eher selten komme. Umstritten ist schließlich der Machtressourcenansatz, d.h. die Stärke von traditionellen Sozialstaatsparteien im Hinblick auf einen Abbau bzw. Umbau des Sozialstaates. Hierbei unterscheiden sich Kürzungen durchaus dahingehend, ob sie von sozialdemokratischen Regierungen oder von konservativen Kräften in Gang gesetzt werden. 358 359

Vgl. Köppe / Starke / Leibfried, Sozialpolitik, S. 17ff. So Leisering, Expansion, S. 222. 356

Seit der Jahrhundertwende kann eine derart klare (partei-)politische Zuordnung in Bezug auf Sozialstaatsreformen nicht behauptet werden. Zwar leitete die rot-grüne Regierung Schröder tiefgreifende Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der Alterssicherung ein, aber weitere Eingriffe wie die Anhebung des Renteneingangsalters auf 67 Jahre oder die Implementation des Gesundheitsfonds in der gesetzlichen Krankenversicherung fielen in die erste Große Koalition mit Bundeskanzlerin Merkel wie auch die Einführung des Mindestlohns oder die Rente mit 63 in der zweiten Großen Koalition Merkel exekutiert wurden. Insofern ist eine eindeutige parteipolitische Zuordnung der sozialpolitischen Interventionen nicht möglich. Nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Manfred G. Schmidt habe die erste rot-grüne Regierung Schröder von 1998 bis 2002 keine „neoliberale Umgründung“ 360 der Sozialpolitik bewirkt. Allerdings treffe der Befund eines „Reformstau“ zu Rot-Grün nur bedingt zu. Die erste Regierung Schröder habe zwar – im Sinne der Mandatstheorie, d.h. der Umsetzung vorher versprochener Politik – eine Reihe von Entscheidungen der vorherigen Regierung Kohl zurückgenommen wie den Demographiefaktor in der Rentenversicherung, den eingeschränkten Kündigungsschutz und die Eigenbeteiligungen bei der Krankenversicherung. Sie habe dabei analog der Parteiendifferenztheorie361 agiert, demzufolge Parteien in ihrer Regierungszeit ihre 360

361

Schmidt, Sozialpolitik, S. 113; vgl. zum Folgenden ebenda, S. 113ff., S. 120 („Renteneintrittsalters“). Vgl. zur Parteiendifferenztheorie mit Bezug auf die Sozialpolitik Manfred G. Schmidt, Parteiendifferenztheorie – am Beispiel der Sozialpolitik, in: Alexander Gallus, Thomas Schubert, Tom Thieme (Hrsg.), Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden 2013, S. 535546: Die Parteiendifferenztheorie ist eine „akteurzentrierte historischinstitutionalistische Theorie demokratischer politischer Märkte“ (535), bei der die Wählerschaft als Ton- und Taktgeber fungiert. Es geht um Korrelationen zwischen parteipolitischen Zusammensetzungen der Re357

spezifischen Spuren hinterlassen. Jedoch seien erste Pfadabweichungen etwa in der Rentenpolitik (Riesterrente) und die allmähliche Hinwendung zu einer einnahmeorientierten Rentenpolitik erfolgt. Kritisch beurteilt Schmidt aber die Politik der „Nichtentscheidungen“ des ersten Kabinetts Schröder, etwa beim Ausweichen in der Frage des Renteneintrittsalters. Grundsätzlich gilt, was für die hier vorgelegte Bilanz besonders zu beachten ist: Reformen müssen zu ihrer Umsetzung mit den Gegebenheiten des jeweiligen politischen Systems zurechtkommen. Nach Manfred G. Schmidt bestehen in Deutschland große Hindernisse für Sozialstaatsreformen aufgrund zahlreicher „Mitregenten“ und „Vetospieler“ wie Koalitionspartner, dem Bundesrat oder dem Bundesverfassungsgericht.362 Entsprechende Reformen waren bereits unter der Regierung Helmut Schmidts begonnen worden und von der nachfolgenden Regierung Kohl intensiviert worden, die Wert auf Konsolidierung der Finanzen legte und den Anteil der öffentlichen Sozialausga-

362

gierung und der Staatstätigkeit (z.B. Wechselbeziehungen zwischen starken linken Parteien und der Höhe der Sozialleistungsquote). Diese Theorie habe sich beim internationalen Sozialpolitikvergleich bewährt, demnach Parteieneffekte durch vergleichende Studien zur Sozialpolitik nachgewiesen wurden, allerdings nehme ihre Nachweisbarkeit bei außereuropäischen Demokratien ab. Einschränkend müsse aber die Parteiendifferenztheorie durch andere Theorien der Staatstätigkeit wie u.a. die Machtressourcentheorie oder institutionalistische Theorien sowie durch die EU und die Globalisierung, die u.a. den Handlungsspielraum begrenzt, ergänzt werden. Dennoch bestünden laut Schmidt „überzufällige Zusammenhänge zwischen den politischen Parteien und der Sozialpolitik“ (544); vgl. auch ders., Sozialpolitik 2009 bis 2013, S. 410, demnach die Parteiendifferenz „ebenfalls zur Erklärung der schwarz-gelben Sozialpolitik von 2009 bis 2013 bei[trage]“. Vgl. zum Folgenden Schmidt, Sozialstaat, S. 89ff., S. 92 (das folgende Zitat). 358

ben am Bruttoinlandsprodukt absenkte. Neben den sog. Reformen erster Ordnung – Kürzungen von Sozialleistungen und Erhöhungen von Sozialbeiträgen – folgten in den 1980er Jahren aber Reformen zweiter Ordnung, die die Sozialversicherungen stabilisieren sollten wie in der Rente mit der Einführung eines demographischen Faktors oder der Dämpfung von Kostensteigerungen im Gesundheitswesen. Tiefgreifende Reformen dritter Ordnung brachte aber erst die rotgrüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder auf den Weg, also die Implementation neuer Instrumente und eine „neue Regelungsphilosophie“. Damit sei ein Paradigmenwechsel wie beispielsweise in der Rentenversicherung durch eine ergänzende private kapitalgedeckte dritte Säule, der sog. Riesterrente, auf den Weg gebracht worden. Ebenso ist die Agenda 2010 mit ihren arbeitsmarktpolitischen Eingriffen zu erwähnen („Hartz IV“). Vergleicht man die Reformpolitik der konservativ-liberalen Regierung Kohl363 mit der rot-grünen Regierung Schröder, so hatte Kohl seine Vorhaben vor der Wahl bereits begonnen und vorher ebenfalls weitere Einschnitte verkündet, während Schröder „ohne Vorwarnung“ und ohne ein eindeutiges parteiintern abgesegnetes Mandat startete. Die unterschiedliche Reaktion der Wahlbürger auf die Sozialstaatsreformen Kohls und Schröders erklärt Schmidt u.a. mit der sog. Mandattheorie, deren Kernsatz laute: „Halte dich in der Regierungspolitik nach der Wahl im Prinzip an das, was du vor der Wahl angekündigt hast – andernfalls drohen schwere Glaubwürdigkeits- und Stimmenverluste“.364 Da die entsprechenden Pläne vor der Wahl nicht angekündigt worden seien, habe Schröder kein „klares, unumstrittenes Mandat“ gehabt. Des Weiteren war Schröder, wie erwähnt, aufgrund der Mehr363

364

Zur Sozialpolitik während der Regierung Kohl siehe oben die Ausführungen von Jens Alber. Schmidt, Sozialstaat, S. 97. 359

heitsverhältnisse im Bundesrat auf die Opposition angewiesen. Wie bereits erwähnt kam die letztendlich konkrete Ausgestaltung der Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder – und vielfach ihre Verschärfung – nach 2002 angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat unter zum Teil erheblicher Mitwirkung durch die damalige Opposition der CDU/CSU zustande, was in der Öffentlichkeit kaum weiter thematisiert wurde. Allerdings erlitt die SPD als Juniorpartner der großen Koalition von 2005 bis 2009 eine deutliche Abfuhr durch den Wähler, der die Verantwortung für die Einschnitte mehr bei der Sozialdemokratie verortete. Von diesen Rückschlägen hat sich die SPD bis in die aktuelle Gegenwart nicht erholt, ohne auf weitere Zusammenhänge zu den sozialdemokratischen Wahlergebnissen hier einzugehen.365 Frank Nullmeier verweist zu Recht darauf, dass die wichtigsten sozialpolitischen Umbruchpunkte innerhalb von Regierungsperioden erfolgten, d.h. es seien nicht parteipolitische Veränderungen der jeweiligen Regierungskoalitionen für sozialpolitische Ausrichtungen relevant gewesen, sondern die „entscheidenden Umschwünge vollzogen sich während der Regierungszeit in und zwischen den Koalitionsparteien“366. Markantes Beispiel für diese These waren die grundlegenden Reformen während der Regierung Schröder nach 1999 bzw. 2002 wie auch nach 2005 innerhalb der Großen Koalition mit Angela Merkel. Vereinfacht formuliert unterscheidet Nullmeier verschiedene Phasen der Sozialpolitik seit der Wiedervereinigung: Zur unmittelbaren Bewältigung der Wiedervereinigung zunächst bis 1994 eine offensive, mit erheblich gestiegenen Ausgaben verbundene Phase, die eine vollständige Übernahme des westdeutschen Sozialsystems auf die ehemalige DDR insbesondere mittels der Sozialversicherungen beinhaltete. 365 366

Vgl. Krapf, Von Schröder zu Merkel, passim. Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 12 und ebenda, S. 15 (zum Folgenden). 360

Dann folgte eine Bremsung der enorm angestiegenen Staatsausgaben durch Verzögerung verbunden mit Kürzungen, Leistungsminderungen, Liberalisierungen usw., bevor die grundlegenden Reformen zwischen 2000 und 2004 bzw. durch die erste Große Koalition Merkel bis 2007 zur Ausführung kamen. Stichwortartig seien genannt die Riesterrente oder die sog. Hartzreformen oder die Rente mit 67. Im Ergebnis korrespondierten diese Umbauten mit punktuellen Abweichungen von bislang geltenden Grundsätzen der Sozialversicherung wie der paritätischen Finanzierung, der Abkehr vom Prinzip der Lebensstandardsicherung oder einer Teilprivatisierung der Alterssicherung, Abstiegsängsten durch die Hartzreformen und gesundheitspolitischen Maßnahmen wie Zusatzbeiträgen, plus einheitlichem Beitragssatz in der Krankenversicherung und demzufolge einer Einschränkung der Selbstverwaltung. Die Finanzkrise 2008 brachte „klassische“ Konjunkturprogramme mit sozialpolitischen Impulsen, wobei der Eintritt der FDP 2009 in die Koalition mit der CDU/CSU keine nachhaltige sozialpolitische Wende bedeutete. Seit 2013 fand im Rahmen der zweiten Großen Koalition Merkel eine „vorsichtige Korrektur“ der Agenda 2010 statt, wofür u.a. der Mindestlohn beispielhaft stehe. In einer zeitlich übergreifenden Perspektive skizziert Nullmeier fünf Entwicklungsdimensionen, die die Sozialpolitikentwicklung der letzten 25 Jahre weiter beleuchten und den hier im Zentrum stehenden Zeitabschnitt mit einbeziehen: Die partielle Privatisierung des Sozialstaates mit z.B. der Riesterrente, ein stärkeres Engagement freigemeinnütziger und privater Träger in der Kinder- und Jugendhilfe, im Krankenhausbereich und in der Pflege mit starker Präsenz der großen Wohlfahrtsverbände, die Ausrichtung der Sozialpolitik auf Armutspolitik mittels der neuen Grundsicherung und einer vorrangigen Mindestsicherung als Maßstab, die – noch nicht voll ausgeprägten – Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Bildungs- und Sozialpolitik (KITAS,) die Geschlechterpolitik (Antidiskriminierung, Quoten, Gleichstellungen in vorsichtiger Abkehr vom Alleinernährer361

modell, Elterngeld) und schließlich die Europäisierung und Internationalisierung, die im Rahmen der Europäischen Union noch auf indirekte Weise ablief. Die folgenden Arbeiten aus der angelsächsischen Wohlfahrtsforschung zur Epoche seit dem Ende des Booms bzw. den 1990er Jahren kommen ebenfalls zu dem Ergebnis eines Wandels des Sozialstaates in den westlichen Staaten einschließlich der Bundesrepublik Deutschland und heben sowohl Abbaumaßnahmen wie auch die Erschließung neuer sozialpolitischer Felder hervor. Mit Blick auf die OECDStaaten untermauert Paul Pierson zunächst die Widerstandskraft der reifen Wohlfahrtsstaaten gegen große angelegte Abbaubestrebungen: “Underlining the severe pressure confronting mature welfare states does not, however, imply that the expected result is a collapse or radical retrenchment of national welfare states. Major policy reform is a political process, dependent on the mobilization of political resources sufficient to overcome organized opponents and other barriers to change. The welfare state‘s opponents have found it very difficult to generate and sustain this kind of political mobilization.”367 Im Rückblick auf die letzten vierzig Jahre konstatiert Pierson 2011 ein erstaunliches Ausmaß sozialstaatlicher Leistungen: „To me, the evidence suggests a surprising level of stability. Of course, there are significant changes over four decades – how could there not be? Yet based on crucial criteria like coverage and replacement rates, most welfare state programs in most affluent democracies are close to as generous as they have ever been.” Und Pierson geht sogar noch weiter und kommt zu dem beinahe überraschenden Befund, demnach vielfach sozialstaatliche Leistungen großzügiger gestaltet waren: „Despite

367

Paul Pierson, Coping with Permanent Austerity. Welfare State Restructuring in Affluent Democracies, 410-457, in: Paul Pierson (Hg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001, S. 411 und ebenda, S. 18 (die folgenden Zitate). 362

the dramatic social transformations and acute fiscal pressures of the past generation, the overwhelming majority of major social programs are more generous than they were towards the end of the `Golden Age`.” Tatsächlich fielen die sozialpolitischen Leistungen aber in einigen liberalen Wohlfahrtsstaaten ab, wo die Gewerkschaften schwächer waren: “And indeed, it is the case that generosity has fallen relatively far in some of the liberal welfare states where unions are weakest and getting even weaker.” In einem 2013 herausgegebenen Sammelband wird der Frage nach dem Wandel des „welfare State“ seit Mitte der 1990er Jahre nachgegangen, wobei die Autoren Bonoli und Natali sich nur mit westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten (unter Einbezug von Deutschland) befassen, d.h. osteuropäische Staaten blieben wegen ihrer nach 1945 zunächst anders verlaufenden Geschichte unberücksichtigt und der amerikanische Wohlfahrtsstaat sei einfach zu wenig ausgebildet. Da es sich hier um eine sehr aktuelle Untersuchung handelt, wollen wir etwas näher auf ihre Ergebnisse eingehen. In partieller Abweichung von Pierson konstatieren die beiden Forscher in ihrem einleitenden Beitrag368 einerseits viele Kürzungen in den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten seit den 1990er Jahren, andererseits übernehme der neue Wohlfahrtsstaat auch neue Funktionen: “At the same time, today´s welfare states have taken up some new functions“ wie “to help and/or push non-working people back into employment, […] to promote gender equality, to support child development, and to provide social services for an ageing society.“369

368

369

Vgl. Giuliano Bonoli and David Natali, The Politics of the “New” Welfare States: Analysing Reforms in Western Europe, in: Giuliano Bonoli and David Natali (Hg.), The Politics of the New Welfare State, Oxford 2013, S. 3-17. Bonoli / Natali, Politics, S. 3, ebenda (das folgende Zitat) und ebenda, S. 6 (die beiden folgenden Zitate). 363

Es bildete sich demzufolge eine neue Politik unter dem Zeichen von „big changes” aus („new policies have emerged too“). Die beiden Forscher betonen eine Zweigleisigkeit, denn: „Western European welfare states, while performing retrenchment in some traditional areas were also expanding provision in these new fields.” Kürzungen und Kosteneindämmung seien, z.B. in der Rentenpolitik oder bei der Versorgung von Arbeitslosen, in den ersten Jahren nach 2000 überall wichtige Themen in der Sozialpolitik gewesen wie wir in unserer Bilanz beim Blick auf den gleichen Zeitraum bestätigen können: „Retrenchment and cost-containment have been important themes of social policymaking throughout the 2000s.” Jedenfalls unterscheide sich der heutige Sozialstaat demzufolge sehr von dem, der in der Nachkriegszeit entstanden war. In den letzten zwanzig Jahren – und insbesondere im letzten Jahrzehnt – habe es also tiefgreifende Veränderungen gegeben, was die hier vorgelegte Bilanz des deutschen Sozialstaates weitgehend untermauern kann: „Over the last 20 years, and perhaps even more during the last decade, change in social policies has been substantial.“370 So seien etwa Alterssicherungssysteme reformiert worden, allerdings liefen dabei die „Reformen“ in ihrer Konsequenz letztendlich auf Kürzungen hinaus: „Pension systems have been reformed a number off times in virtually all European countries, with the term ´reform´ being usually a synonym for cutbacks.“ Auch Arbeitslosigkeitssysteme wurden umgebaut in Richtung einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Ungeachtet der vielfältigen Veränderungen habe der Wohlfahrtsstaat aber, so die beiden Autoren, seinen Stellenwert behalten: “sure, the traditional functions of the welfare state have not lost relevance, and remain important”371, wenngleich man nun vom „new welfare 370 371

Bonoli / Natali, Politics, S. 5 und ebenda (das folgende Zitat). Bonoli / Natali, Politics, S. 3 und ebenda, S. 3, S. 4, S. 3 und S. 8 (die folgenden Zitate). 364

state“ sprach. Das gesamte Gebiet der Sozialpolitik habe einen anderen Stellenwert im ganzen politischen System erhalten und es werde ihm ein weit ausgreifender Einfluss auf das Funktionieren der jeweiligen Volkswirtschaft in den einzelnen Staaten zugeschrieben: „Finally, the field of social policy is increasingly considered as part of a broader politico-economic settlement that can impact significantly on the functioning of a country´s economy.“ Neu sei auch das Verständnis von Sozialpolitik als Produktivfaktor (“that of being a productive factor”), was sich vom Selbstverständnis des Nachkriegssozialstaates, der sich ursprünglich als Antwort auf Marktversäumnisse verstand, unterscheidet. Die beiden Autoren fragen nun, wie dieser Wandel zu interpretieren ist und bieten dazu zwei unterschiedliche Sichtweisen an:372 Eine eher optimistischere Sichtweise betont die Integration in den Arbeitsmarkt und die Stärkung dafür notwendiger Fähigkeiten, demnach „the functional reorientation of welfare states towards the promotion of labour market participation and investment in skills as a tool to deal with social problems”. Eine zweite, pessimistischere Perspektive stellt auf eine Zweiteilung (Dualisierung) als Kennzeichen des neuen Wohlfahrtsstaates ab und spricht von “dualization trends in modern welfare states” mit einerseits Insidern mit weiterhin guter (arbeitsmarktlicher) Absicherung und andererseits outsidern mit wirtschaftlichen Unsicherheiten. Kritisch wird dabei die aktivierende Politik gesehen, die die benachteiligten Menschen in schlechtere Tätigkeiten dränge: „activation as a tool to push disadvantaged people into bad quality jobs“. In Bezug auf die Kürzungen verweisen die Autoren auf Paul Piersons Ergebnisse, demnach die Strategie der Politik gewesen sei, „to make retrenchment politically feasible: divison.“373 Und mit Bezug auf Re372 373

Vgl. Bonoli / Natali, Politics, S. 9 und ebenda (die folgenden Zitate). Bonoli / Natali, Politics, S. 7. 365

formen bei den Renten: „Division is a strong dimension of the pension reforms adopted in the Bismarckian countries”. Dabei seien bestimmte Personenkreise unterschiedlich behandelt bzw. verschont worden, d.h. “current retirees and older workers have generally been spared the negative consequences of reform“. Des Weiteren kam es zu vielfachen Arbeitsmarktderegulationen mit mehr Flexibilitäten, Zeitarbeit usw. Diese Entwicklungen trafen aber nicht Stammbelegschaften, so dass man festhalten kann: „The result of this trend is an increasingly dualized labour market“374 mit Insidern und outsidern mit unterschiedlichen Sicherungschancen. Mit der These einer Dualisierung der Bevölkerung in Bezug auf die soziale Sicherung treffen die beiden Forscher m.E. einen wesentlichen Aspekt des „neuen“ Sozialstaates, der zum Teil auch für den deutschen Sozialstaat Geltung beanspruchen kann. Insofern kann man u.a. zwar an dem umstrittenen Fördern und Fordern festhalten, aber der erstgenannte Aspekt muss in den Mittelpunkt rücken und eine weitere Spaltung der Gesellschaft vorbeugen. Neben steuerlichen Umbauten kann man hier auch allgemeine Verbesserungen insbesondere beim Mindestlohn anführen. Im resümierenden Schlusskapitel des Sammelbandes halten Bonoli und Natali fest: Es habe sich gezeigt, dass im letzten Jahrzehnt im Vergleich zu früheren Jahren ein mehr grundsätzlicher Wandel erfolgt sei. Bei der Beurteilung des Wandels des Sozialstaates in den ca. letzten 15 Jahren betonen sie die Mehrdimensionalität dieser Vorgänge.375 Die von bisherigen Sozialstaatsforschern in den Mittelpunkt gerückte einzige, zumeist quantitative Dimension reiche nicht aus,

374 375

Bonoli / Natali, Politics, S. 8. Giuliano Bonoli and David Natali, Multidimensional Transformations in the Early 21st Century Welfare States, in: Giuliano Bonoli and David Natali (Hg.), The Politics of the New Welfare State, Oxford 2013, S. 287: „The main emphasis is on the recognition of the multidimensional character of the process of welfare state transformation.” 366

denn diese habe jeweils nur die Frage eines Ausbaus oder einer Kürzung thematisiert. Die 1990er Jahre und die ersten 2000er Jahre hätten gezeigt, dass bloßes Kürzen als Merkmal zur Charakterisierung des eingetretenen Wandels nicht genügte, denn man „have seen more than retrenchment“376. Ein multidimensionaler Blick auf die Sozialpolitik zeige eher den Einfluss des Wohlfahrtsstaates auf den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes. Zwei wichtige Bedeutungen im Reformprozess des letzten Jahrzehnts heben die Forscher hervor, die über ein rein quantitatives Verständnis von Sozialpolitik hinausgehen und den Stellenwert aktivierender Sozialpolitik und die Reduzierung umfassender sozialer Schutzprogramme hervorheben: „the development of a more active orientation in social policy and the reduction in the encompassing character of coverage of some social programmes”.377 Die beiden Autoren arbeiten dazu drei untereinander kombinierte Dimensionen zur Beschreibung des Wandels des Wohlfahrtsstaates heraus, die über quantitative Aspekte hinausgehen: Eine erste Dimension (traditionell quantitativ, also die Frage nach Ausweitung oder Kürzung): „the level of protection or quantity of welfare refers to the size of social transfers and has big implications for the labour market“ (= level of protection); eine zweite Dimension „active versus passive provision is largely responsible for determining how the welfare state will interact with the labour market and with the wider economy“ (= Proemployment orientation, hier ist zentral die Orientierung an einer besseren Beschäftigung und damit Armutsvermeidung) und die dritte Dimension, die den Umfang des Schutzes thematisiert, “the extent of coverage“ (= encompassing character), es interessiert hier die Frage, 376 377

Bonoli / Natali, Transformations, S. 288. Bonoli / Natali, Transformations, S. 292 und ebenda, S. 292ff. (zum Folgenden), die folgenden Zitate ebenda, S 292, S. 293 und S. 292. 367

in welchem Umfang die gesamte Wohnbevölkerung eines Landes sozial gesichert leben kann, d.h. “in the extent to which social programmes succeed in providing coverage to the whole resident population of a country”. Dabei geht es um unterschiedlichen sozialen Schutz (Insider oder outsider) und den Prozess der Deregulierung bei den Beschäftigungsverhältnissen. Diese drei Dimensionen seien elementar für das Verständnis eines „new welfare state“. Am Ende ihrer aktuellen Schlussfolgerung378 halten die beiden Autoren mit Blick auf die Finanzkrise 2008 fest, dass der Wohlfahrtsstaat ungeachtet substantieller Änderungen im letzten Jahrzehnt eine zentrale Institution moderner, kapitalistischer Gesellschaften bleibe: „At the start of the second decade of the 21st century, the welfare state remains a central institution in modern capitalist societies, strongly supportes in the countries hit by the crisis. However, it has undergone substantial changes over the last decade or so […]”. Wie nun können wir am Ende der vorliegenden Bilanz zum deutschen Sozialstaat diesen angemessen charakterisieren und verorten? Der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt bezeichnet den deutschen Sozialstaat zutreffend als „vielschichtig“, der viel mehr als ein „Sozialversicherungsstaat“ sei und einen „komplexeren Mischtyp“ verkörpere.379 Die Charakterisierung des deutschen Modells als kon378 379

Bonoli / Natali, Transformations, S. 304. Manfred G. Schmidt, Wirklich nur Mittelmaß? Deutschlands Sozialstaat im Spiegel neuer, international vergleichender Daten, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 10 (2012), S. 162 („vielschichtig“) und ebenda, S. 191 und S. 162 (die folgenden drei Zitate); vgl. auch ders., Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, in: Marianne Kneuer (Hrsg.), Standortbestimmung Deutschlands: Innere Verfasstheit und internationale Verantwortung, Baden-Baden 2015, S. 123-152. Auf die vielfältige Diskussionen um Wohlfahrtsstaatstypen, wobei meist zwischen einem konservativen, einem liberalen und einem sozialdemokratischen 368

servativen Typ hält er jedenfalls für ein „Zerrbild des deutschen Sozialstaats“. Demgegenüber formuliert er fünf Schichten des deutschen Sozialstaates, nämlich als erste und kostspieligste die Sozialversicherungen als Kern der Sicherungssysteme mit der ausgabenintensivsten Rentenversicherung. Deutschland sei zwar zunächst zutreffend ein „Sozialversicherungsstaat“, denn rund zwei Drittel der gesamten öffentlichen Sozialausgaben fielen auf die Sozialversicherungen, aber immerhin betraf rund ein Drittel der Ausgaben sozialpolitische Bereiche außerhalb der Sozialversicherungen. Damit sind als zweite Schicht das Förder- und Fürsorgesystem, die Arbeitgebersysteme, die Systeme des öffentlichen Dienstes, Sondersysteme und die Entschädigungssysteme gemeint. Die dritte Schicht stellen die Wohlfahrtsverbände mit ihrem Schwerpunkt in der Familien- und Jugendpolitik, der Pflegeversicherung und der Fürsorge dar. Dadurch überträgt im Kontext des Subsidiaritätsprinzips der Staat sozialpolitische Aufgaben an die Wohlfahrtsverbände, was die vierte Schicht sei. Die fünfte Schicht bilde die in Deutschland bedeutende Regulierung der Arbeitswelt, auf die wir hier nur begrenzt eingegangen sind. Das Sozialbudget, das auch die Basis der vorliegenden Bilanz bildet, umfasst im Übrigen nicht den ganzen Sozialstaat, denn die Regelungen der Arbeitsbeziehungen gehören zum deutschen Sozialstaat, hinterlassen aber im Normalfall keine Spuren im Budget und wirken regulativ (Arbeitsschutz, Kündigungsschutz). Mit neueren Daten aus der OECD vergleicht Schmidt den deutschen Sozialstaat mit anderen Staaten und verweist auf die Tatsache, dass kein anderes Politikfeld in Deutschland so hohe Ausgaben wie die Sozialpolitik verursacht und Deutschland demzufolge zur Spitzengruppe in der OECD zählt. Somit bleibt mit Schmidt festzuhalten und die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bestätigend, dass die SoTyp unterschieden wird, gehen wir im Rahmen dieser Arbeit nicht ein, vgl. dazu auch Schmidt, Vergleich, S. 135ff. 369

zialausgaben im „Zeitalter der Globalisierung und im Lichte hitziger Debatten um „Sozialabbau“ oder „Demontage des Sozialstaates“ trotz mancher Einschnitte auch nach 2000 weiter gewachsen sind.380 Des Weiteren weist Schmidt die These vom deutschen Sozialstaat als Arbeitnehmersozialstaat zurück, denn mittlerweile erfasse dieser nahezu alle Staatsbürger. Hier ist an die oben erwähnte Expansion der Empfänger der Sozialstaatsleistungen zu erinnern. Ein wesentliches Charakteristikum der deutschen Sozialpolitik ist die Suche nach Sicherheit im Sinne der Sozialversicherungen und durch Mindestsicherungssysteme für Bedürftige. Nach Schmidt sei aber der „Abbau sozialer Ungleichheit [ist] nicht das Hauptanliegen des deutschen Sozialstaats, sondern ein dem Sicherheitsstreben nachgeordnetes Ziel“. Dennoch verzichte man in Deutschland nicht auf einen sozialen Ausgleich, der durch Sozialtransfers die Armutsquote deutlich senke. Jedoch ist an dieser Stelle an die nach 2000 zumindest sich verstetigende Auseinanderentwicklung der Einkommen und Vermögen kritisch zu verweisen. Schließlich erinnert Schmidt an Nebenwirkungen der deutschen Sozialpolitik, denn „sie ist zugleich Problemlöser und Problemerzeuger“381. So sei bisher das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nicht gelöst und auf dem Arbeitsmarkt herrschte zumindest bis 2008/09 eine hohe Arbeitslosenquote – vorrangig unter den Langzeitarbeitslosen – vor, so dass bis in die zweite Hälfte des ersten Jahrzehnts nach 2000 die „Achillesferse der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik in der Arbeitslosigkeit zu suchen ist“. Wegen der hohen sozialstaatlichen Kosten, 380

381

Schmidt, Mittelmaß, S. 166 und ebenda, S. 179 und S. 181 (die folgenden Zitate). Unter Berücksichtigung der Nettosozialleistungsquote, d.h. der Einbeziehung von Steuern und Sozialabgaben, privaten Pflichtleistungen wie die Lohnfortzahlung, rückt Deutschland nach Frankreich an die zweitstärkster Sozialstaat innerhalb der OECD. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor der bundesrepublikanischen Entwicklung? In: Zeitschrift für Politik 56 (2009) S. 432f.; vgl. dazu auch ders., Sozialstaat, S. 99ff. 370

die mitverantwortlich für die Staatsverschuldung seien, würden andere wichtige, ausgabenintensive Aufgaben wie in der Bildungspolitik verdrängt. Entsprechende Steuererhöhungen zu deren Finanzierung seien im Übrigen unpopulär. Letzterem Aspekt gegenzusteuern falle wegen der wachsenden Wohlfahrtstaatsklientel immer schwerer. Mit Blick auf die Alterssicherung gibt Schmidt – im Unterschied zu den oben referierten Thesen von Thomas Ebert – zu bedenken, dass man die Wahl habe entweder eine Lastenverteilung zuungunsten der Rentner oder höhere Erwerbsquoten und längere Lebensarbeitszeiten der beruflich aktiven Personen durchzusetzen. Auch komme es im Sinne eines Wohlfahrtskorporatismus beispielsweise zu Kostenabwälzungen auf die Sozialpolitik im Kontext von Vereinbarungen der Tarifpartner zur Frühverrentung. Weiterhin seien auch sog. Insider am Arbeitsmarkt arbeitsrechtlich bevorzugt. Schließlich belasteten die hohen Kosten darüber hinaus den Faktor Arbeit. Zusammenfassend waren nach Schmidt für den historischen Entwicklungsverlauf des deutschen Sozialstaates, also seinen Auf- und Ausbau eine wirtschaftliche Modernisierung, die Alterung der Bevölkerung, die mehr Sozialpolitik erforderte, sozialstaatsfreundliche Ideen und entsprechende Parteien relevant gewesen. Der deutsche Sozialstaat basiert auf einer breiten Machtverteilung, d.h. dem Staat, also den Bund, den Ländern und Kommunen, den Trägern der Sozialversicherung, den Arbeitgebern und Wohlfahrtsverbänden. Ende der 1990er Jahre und damit am Anfang des in der vorliegenden Arbeit interessierenden Zeitraums hält Schmidt fest: „Deutschland hat heutzutage einen der weltweit am weitesten ausgebauten Wohlfahrtsstaaten“, wofür, wie bereits erwähnt, ein wesentlicher Grund in einem „außergewöhnlich sozialstaatsfreundlichen Parteiensystem“382 mit zwei – bzw. drei (PDS/Die Linke) – uneingeschränkt den 382

Manfred G. Schmidt, Reformen der Sozialpolitik in Deutschland: Lehren des historischen und internationalen Vergleichs, in: Stephan Leibfried / 371

Sozialstaat befördernden Parteien zu finden ist. Allerdings seien aufgrund des spezifischen deutschen politischen Systems mit zahlreichen Vetospielern „Reformen in Trippelschritten“ der einzig gangbare Weg, denn: „Wer reformiert, verliert Wahlen.“ Diese Feststellung am Beginn der ersten Regierung Schröder sollte sich nach 2003 nachhaltig und bis in unsere unmittelbare Gegenwart bewahrheiten. Auf die vielfach diskutierten Lösungsansätze im Umgang mit den oben genannten Herausforderungen des deutschen Sozialstaats wie einer Zuwanderung als Abhilfe gegen die demographische Alterung und die damit verbundene Schmälerung der Basis des auf Erwerbsarbeit fußenden Systems der sozialen Sicherheit oder als eine weitere demographische Strategie eine anzustrebende höhere Geburtenrate, die man durch familienpolitische Maßnahmen und Elterngeld fördern wollte, gehen wir in diesem Überblick nicht weiter ein. Nur so viel sei angemerkt: Zur Aktivierungspolitik als den Kern der Agenda2010 sollte darüber hinaus eine früh einsetzende Bildungspolitik gehören, die bereits in den Formphasen der frühkindlichen Bildung die Weichen in Richtung eines angemessenen Bildungsniveaus stellt. Da gerade in Deutschland die Bildungswege erheblich von den sozialen Herkunftsverhältnissen abhängen und demzufolge die berufliche Bildung und damit den Stellenwert auf dem Arbeitsmarkt bestimmen, „ist es eine vordringliche, vielleicht sogar die entscheidende gesellschaftspolitische Aufgabe, die Ungleichheit der Bildungschancen zu verringern und Bildungsarmut abzubauen“383.

383

Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 158; ebenda, S. 159 und S. 161 (die folgenden Zitate). Hans Günter Hockerts, Soziale Ungleichheit im Sozialstaat, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 291. 372

Damit wird nachhaltig unterstrichen, dass Bildungspolitik unverzichtbarer Bestandteil des Sozialstaates ist. Die Wohlfahrtsstaatsforschung muss demzufolge den bisher dominierenden Blick auf Transfer- und Sachleistungssysteme und Arbeits- und Sozialrecht durch die Einbeziehung der Bildungspolitik erweitern, denn Bildung ist ein „zentraler Bestandteil des sozialen Interventionsstaates“384. Abschließend sei noch einmal die prinzipielle Funktion und Leistung des deutschen Sozialstaates hervorgehoben. Gerhard A. Ritter bemerkte dazu grundlegend bereits vor dem Hintergrund der Krisendebatte der 1990er Jahre, in der von manchen Protagonisten ein „Umbau“ bzw. letztendlich ein Abbau des Sozialstaates gefordert wurde, dass derartige Kritiken übersehen, „daß der Sozialstaat nicht nur ein Kostenfaktor, eine Belastung von Wirtschaft und Staat ist, sondern auch wesentlich zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und zur politischen Stabilität beiträgt, indem er sozialen Frieden stiftet“385. Dieser Feststellung ist unbedingt zuzustimmen, da sie über den Kreis des Sozialstaats hinausreicht und diesen politisch den gebührenden Rang zuweist. Somit verdient das resümierende Fazit des gleichen Autors zum deutschen Sozialstaat ebenfalls eine analoge Unterstützung: „Insgesamt wird man dem demokratischen Sozialstaat – bei aller Verschiedenheit seiner Ausprägung in Ländern und Zeitepochen – bescheinigen können, daß er zur Hebung des Wohlstandes, zur besseren Absicherung des einzelnen Bürgers, zur Entschärfung sozialer Spannungen und zu mehr Gleichheit in der Gesellschaft beigetragen hat.“386

384

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Busemeyer, Ebbinghaus, Leibfried, Mayer-Ahuja, Obinger, Pfau-Effinger (Hg.) Wohlfahrtspolitik, S. 39. Gerhard A. Ritter, Probleme und Tendenzen des Sozialstaates in den 1990er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) S. 393. Ritter, Sozialstaat, S. 219. 373

Aus einer übergreifenden Perspektive hält Ritter im Hinblick auf die letztendlich begrenzte Reformfähigkeit des deutschen Sozialstaats fest: „Insgesamt ist der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich durch einen sehr weitgehenden Grad an Kontinuität und Pfadabhängigkeit seit seiner Entstehung in den 1880er Jahren gekennzeichnet“.387 Die politischen Bedingungen und Institutionen einschließlich zahlreicher Mitspieler würden einen radikalen Umbau mehr oder weniger nicht zulassen. Ebenfalls eine positive Wirkung von Sozialpolitik konstatieren Köppe/Starke/Leibfried, denn es wurde Armut verhindert bzw. vermindert. Problematisch bleibe zwar die Frage nach der Inklusion breiter Bevölkerungsschichten in die Gesellschaft und die wirtschaftlichen Folgen eines hohen Grades an Sozialstaatlichkeit z.B. im Hinblick auf eine Bremsung des Wirtschaftswachstums, empirisch sei aber dennoch „kein robuster Zusammenhang zwischen der Sozialleistungsquote und dem Wirtschaftswachstum sowie sinkenden Arbeitsanreizen nachgewiesen worden“388. Hinsichtlich der politischen Folgen betonen sie gleichfalls das Konfliktlösungspotenzial der Stabilisierungsfunktion der Sozialpolitik: „Insgesamt stabilisiert die hohe Akzeptanz sozialpolitischer Intervention die Demokratie und trägt damit zur Legitimität des politischen Systems bei“. Diese grundsätzliche Einordnung des Sozialstaates, der mehr sei als die Umsetzung einzelner sozialpolitischer Programme, untermauert eine neuere vergleichende Arbeit mit einer erweiterten Perspektive zu Recht als einen „Teil von Modernisierungsprozessen und der Demokratisierung, die Bürger und Staat in ein neues Verhältnis brachte“389. Erst der Sozialstaat konstituiert den Staatsbürger mit sozialen Rechten. Letztendlich gehe es, so Ursula Dallinger, „um

387 388 389

Ritter, Gesamtbetrachtung, S. 1119. Köppe/Starke/Leibfried, Sozialpolitik, S. 22 und ebenda (das folgende Zitat). Dallinger, Vergleich, S. 25 und ebenda (das folgende Zitat). 374

eine spezifische Relation zwischen der Wirtschaft, dem Staat und den Bürgern“. Manfred G. Schmidt stellt dem deutschen Sozialstaat ebenfalls ein positives Zeugnis aus, denn dieser bewältige „seine ureigenen Aufgaben insgesamt gut und manchmal sehr gut“390, d.h. er schütze seine Bürger vor materieller Verelendung, sichere sie vor den Wechselfällen des Lebens wie dem Alter, Krankheit, Invalidität, Pflegefall oder Arbeitslosigkeit. Des Weiteren trage er zum Abbau sozialer Ungleichheit bei und verteile durch die Steuerpolitik um. Darüber hinaus erfülle er eine grundlegende, stabilisierende politische Funktion, wie sie vorher bereits von Gerhard A. Ritter betont worden war: „Der Sozialstaat ist eine der wichtigsten Quellen der Herrschaftslegitimierung in der Demokratie“.391 Ebenso erreiche die Sozialpolitik in Deutschland die „Linderung großer gesellschaftlicher Spannungen“ – z.B. beim Konflikt zwischen Arbeit und Kapital – und wirke wegen der damit verbundenen Kosten für die Unternehmen zugleich ökonomisch wie eine „Modernisierungspeitsche“.392 Damit sind weitere Aspekte von Sozialstaatlichkeit aufgeworfen, die in den üblichen, meist nur von finanziellen Belastungen für die Wirtschaft dominierten Debatten, zu kurz kommen. Alles in Allem bedarf es auch in der Zukunft eines funktionierenden Sozialstaats, denn der „Markt“ allein kann keinen sozialen Ausgleich herstellen. Ein Korrektiv durch einen aktivierenden und solidarischen (Sozial)Staat bleibt für die Integration moderner Gesellschaften auch 390

391

392

Schmidt, Sozialstaat, S. 102; ähnlich ders, Stabilisierungsfaktor, S. 429, denn die deutsche Sozialpolitik „verhindert den Absturz in materielle Verelendung“ durch ihre Mindestsicherungssysteme und sie sei erfolgreich in der Armutsbekämpfung durch ihre Transfers. Schmidt, Sozialstaat, S. 103; ähnlich ders., Stabilisierungsfaktor, S. 430, demnach die Sozialpolitik eine „potenziell zentrale Quelle der Legitimation im demokratischen Staat“ sei. Schmidt, Stabilisierungsfaktor, S. 431. 375

und gerade in Zeiten der Globalisierung unverzichtbar. Somit fällt dem Sozialstaat „die Aufgabe zu, negative Marktergebnisse zu korrigieren“393. Ein zusätzlicher Gesichtspunkt, der auf die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik verweist, sollte nicht unterschlagen werden, denn bisher sei „Sozialpolitik in Deutschland verträglich mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes [gewesen] und ist bis auf den heutigen Tag eine Stütze nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung geblieben“ 394 . Letztlich betont Schmidt, „Deutschlands Sozialstaat ist von eindrucksvoller Größe“395, beinhalte ein umfangreiches Sozialrecht und sei für eine hohe Zahl von Bürgern von existentieller Bedeutung, denn rund 40 % der Wähler beziehen von ihm Leistungen, darunter 15 Mio. Rentner. Der Stellenwert der sog. Sozialstaatsklientel kann somit auch für den hier verhandelten Zeitabschnitt der letzten fünfzehn Jahre bestätigt werden. Resümierend kann man festhalten: Der Sozialstaat trägt zur Legitimation der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin entscheidend bei und bleibt angesichts periodisch auftretender Schwankungen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die aus sich selbst heraus keinen angemessenen sozialen Ausgleich erzeugen kann, ein unverzichtbares Element für soziale und gesellschaftliche Stabilität. Bei aller Formveränderung, die er im Laufe seiner mehr als hundertjährigen Geschichte – wenn man die Implementierung der Sozialversicherung in den 1880er Jahren als seinen Beginn fixiert – durchlebt hat, kann man für die ersten anderthalb Dekaden des neuen Jahrhunderts einen partiellen Umbau wie auch einen Wandel, aber keinesfalls einen gravierenden Abbau konstatieren. Reformen finden sich in allen Organisationsformen des

393 394 395

Dallinger, Vergleich, S. 25. Schmidt, Reformen, S. 153. Schmidt, Vergleich, S. 123. 376

menschlichen Zusammenlebens – und damit auch innerhalb des deutschen Sozialstaates. Sie haben zumindest bis in unsere unmittelbare, aktuelle Gegenwart den Grundcharakter und die grundsätzliche Aufgabe des deutschen Sozialstaats nicht nachhaltig zum Nachteil weiter Bevölkerungskreise beeinträchtigt.

377

Chronologie zur Sozialpolitik 1998 bis 2015396 01.01.1999:

Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz (GKV-SolG): u.a. Zuzahlungen gesenkt, Krankenhausnotopfer beseitigt

01.01.1999:

Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte

01.01.1999:

Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit (Jump)

01.01.1999:

Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002: Kindergeldanhebung, höherer Grundfreibetrag

01.01.2000:

Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahre 2000 (GKV-Gesundheitsreform 2000): u.a. Positivliste, Preiswettbewerb intensiviert

01.01.2001:

Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes für Eltern mit Kindern ab dem Geburtsjahrgang 2001

396

Die Chronologie zusammengestellt aus Dauerbaustelle Sozialstaat und den Sozialberichten der Bundesregierung. Selbstverständlich handelt es sich bei der Chronologie nur um einen Ausschnitt der wichtigsten Gesetze, Reformen usw. 378

01.01.2001:

Zweites Gesetz zur Familienförderung (Kindergeldund Kinderfreibetragserhöhung)

01.07.2001:

SGB IX (Behindertenrecht) in Kraft

01.04.2001:

Gesetz zur Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung – Ausbildungsförderungsreformgesetz (AföRG): u.a. Nichtanrechnung von Kindergeld beim Einkommen der Eltern, Beträge und Freibeträge deutlich erhöht

28.07.2001:

Reform der Betriebsverfassung

01.01.2002:

Gesetz zur Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte

01.01.2002:

Job-ACTIV-Gesetz

01.01.2002:

Erhöhung des Kindergeldes

01.01.2002:

Geförderte private und betriebliche Vorsorge als Teilersatz der Leistungen der umlagefinanzierten Rentenversicherung (Riesterrente)

01.01.2002:

Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensergänzungsgesetz): u.a. Änderung der Rentenanpassungsformel (Riester-Faktor), Absenkung des Rentenniveaus

01.05.2002:

Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)

01.01.2003/ 01.04.2003:

Erstes und zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I und II: Deregulierung der Leiharbeit, Verschärfung von Zumutbarkeits- und Sperrzeitenregelungen, Einführung von Personal-Service-Agenturen, „Ich-AG“, Neuregelung Mini- und Midi Jobs usw.) 379

01.03.2003:

Fallpauschalen-Gesetz. Maßnahmen zur Einführung eines leistungsorientierten Entgeltsystems in den Krankenhäusern

01.01.2003:

Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Schwerpunkt: Einführung einer besonderen Grundsicherung für Ältere)

01.05.2004:

Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen

01.01.2004:

Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung: u.a. Bundeszuschuss, Sonderbeitrag der Versicherten, Ausweitungen von Zuzahlungen, Leistungseinschränkungen, Veränderungen in den Versorgungsstrukturen

01.01.2004:

Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt (Kündigungsschutz gelockert, Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf 12 bzw. 18 Monate, Erleichterung von befristeten Beschäftigungsverhältnissen bei Existenzgründern)

01.01.2004:

Zweites und Drittes Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Neuregelungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung durch u.a.: Rentner müssen vollen Beitrag zur Pflegeversicherung übernehmen, Rentenanpassung 2004 entfällt)

01.01.2004:

Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III: u.a. Neuordnung der Bundesanstalt für Arbeit)

01.06.2004:

„Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“ (= „Ausbildungspakt“) zwi380

schen Bundesregierung und Wirtschaft 01.08.2004:

Gesetz zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (Übernahme aller Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch ausgewählte Kommunen)

01.08.2004:

Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz (u.a. Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors)

01.09.2004:

Initiative „job – Jobs ohne Barrieren“

31.12.2004:

Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aufgehoben

01.01.2005:

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als Bestandteil des neuen SGB XII eingeführt

01.01.2005:

Zuwanderungsgesetz

01.01.2005:

Viertes Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Artikel 46): Einführung eines Kinderzuschlags im Bundeskindergeldgesetz

01.01.2005:

Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt/SGB II (Hartz IV: Grundsicherung für Arbeitsuchende: Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe)

01.01.2005:

Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung

01.01.2005:

Alterseinkünftegesetz (Rentenbesteuerung)

01.01.2005:

Gesetz zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder (TAG). Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe

01.07.2005:

Keine Rentenanpassung

381

01.10.2005:

Errichtung der Deutschen Rentenversicherung

18.08.2006:

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

01.02.2006:

Neuregelungen beim Arbeitslosengeld (Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt: Arbeitslosengeldbezug auf 12 bzw. 18 Monate begrenzt)

01.04.2007:

RentenversicherungsAltersgrenzenanpassungsgesetz (Rente ab 67)

01.01.2007:

Mindestlohn erstmalig durch das ArbeitnehmerEntsendegesetz (Gebäudereiniger)

01.01.2007:

Bundesarbeitsprogramm Job4000 (berufliche Integration schwerbehinderter Menschen mit besonderen Schwierigkeiten verbessern)

01.01.2007:

Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz

01.01.2007:

Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung sinkt von 6,5 % auf 4,2 %

01.04.2007:

Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (u.a. „Reha vor Pflege“, Versicherungspflicht für alle Personen, Wahltarife)

01.07.2007:

Anpassung des ALG II-Regelsatzes

01.07.2007:

Renten werden nach längerer Pause wieder angepasst

01.01.2007:

Einführung von Elterngeld für alle ab 2007 geborenen Kinder

01.04.2007:

Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Krankenversicherungspflicht, Standardtarif in der Privatversicherung

01.10.2007:

Zweites Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Neue arbeitsmarktpolitische Instrumente für Arbeitslosengeld II-Bezieher mit be382

sonderen Vermittlungshemmnissen (JobPerspektive) 1.10.2007:

Viertes Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der Qualifizierung und Beschäftigungschancen von jüngeren Menschen mit Vermittlungshemmnissen. Einführung neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit 10/2007

01.01.2008:

Persönliches Budget als Rechtsanspruch eingeführt

01.01.2008:

Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung sinkt von 4,2 % auf 3,3 %

01.01.2008:

Pflege-Weiterentwicklungsgesetz tritt (Grundsatz „ambulant vor stationär“)

01.07.2008:

Beitragssatz in der Pflegeversicherung um 0,25 % angehoben

16.12.2008:

Kinderförderungsgesetz (KiföG) in Kraft

01.01.2008:

BAFÖG-Änderungsgesetz in Kraft (u.a. Bedarfssätze und Freibeträge angehoben)

01.07.2008:

Beitrag zur Pflegeversicherung steigt auf 1,95 %

01.07.2008:

Drittes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch. Rentengarantie - Vermeidung von Rentenkürzungen: Schutzklausel („Rentengarantie“)

21.12.2008:

Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Neuordnung/Modifizierung der Erbringung von Eingliederungsleistungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

30.12.2008:

Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäftigung

01.01.2009:

UN-Behindertenkonvention wird in Deutschland rechtsgültig

383

in

Kraft

01.01.2009:

Familienleistungsgesetz (Kindergelderhöhung und Anhebung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen, Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen)

01.01.2009:

Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung 3 % bzw. vom 1. Januar 2009 bis zum 30. Juni 2010 vorübergehend auf 2,8 % gesenkt

21.12.2008:

Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente in Kraft (u.a. Vermittlungsbudget, „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“)

20.02.2009:

Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland (Kurzarbeit)

05.03.2009:

Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland („Konjunkturpaket II“): Einmalzahlung Kindergeld, Anhebung des Grundfreibetrags

01.01.2009:

Einführung des Gesundheitsfonds

24.04.2009/ 28.04.2009:

Neufassung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und Änderung des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes (u.a. weitere Mindestlöhne)

01.01.2009:

Wohngeldreform

01.01.2010:

Wachstumsbeschleunigungsgesetz (Kindergelderhöhung, Kinderfreibetragserhöhung)

09.02.2010:

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelbedarfen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende

01.07.2010:

Rentenanpassung entfällt

01.01.2011:

Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz): u.a. Weiterentwicklung des Gesundheitsfonds, einkommensunabhängige Zu384

satzbeiträge, neuer Sozialausgleich 01.01.2011:

Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende

01.01.2011:

Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuches (u.a. Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche)

01.01.2011:

Haushaltsbegleitgesetz 2011 - Artikel 19: Streichung der Rentenversicherungsbeiträge von Bezieher von ALG II (Artikel 19)

01.07.2011:

Rentenanpassung

01.01.2012:

Versorgungsstrukturgesetz in Kraft (u.a. flächendeckende wohnortnahe medizinische Versorgung)

01.04.2012:

Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt weitgehend in Kraft (Instrumente der aktiven Arbeitsförderung neu ordnend und vereinfachend)

01.07.2012:

Rentenanpassung

01.01.2013:

Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Übernahme der Kosten für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund)

01.01.2013:

Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in Kraft („Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“)

01.01.2013:

Pflege-Neuausrichtungsgesetz in Kraft (u.a. weitere Leistungsverbesserungen für an Demenz erkrankte Menschen)

01.08.2013:

Betreuungsgeldgesetz (aufgehoben 2015 durch Be385

schluss des Bundesverfassungsgerichtes): Einführung eines Betreuungsgelds für Eltern bei der privaten Betreuung von Kleinkindern 01.07.2013:

Rentenanpassung

01.08.2013:

Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder ab vollendetem erstem Lebensjahr

01.07.2014:

Rentenanpassung

01.07.2014:

Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz (Abschlagsfreie Altersrente ab 63, „Mütterrente“, Ausweitung der Zurechnungszeiten)

01.01.2015:

GKV-Finanzstrukturund QualitätsWeiterentwicklungsgesetz (u.a. paritätisch finanzierte Beitragssatz auf 14,6 % festgelegt und zugleich individuelle Zusatzbeiträge der Krankenkassen, Arbeitgeberbeiträge auf 7,3 %, Abschaffung des Sonderbeitrags der Versicherten, Finanzierung zukünftiger Ausgabensteigerungen durch kassenindividuellen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag)

01.01.2015:

Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz)

01.01.2015:

Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € in Deutschland

01.01.2015:

Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung durch den Bund

01.01.2015:

Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf (u.a. Einführung eines Rechtsanspruchs auf Familienpflegezeit, Anspruch auf finanzielle Förderung zum (Teil)Ausgleich des Einkommensausfalls

386

während der Freistellungsphase durch ein zinsloses Darlehen, Verknüpfung der Kurzzeitpflege (bis zu 10 Tagen) mit einer Lohnersatzleistung (Pflegeunterstützungsgeld) 01.01.2015/ 1.1.2016:

Gesetz zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes, des Kinderzuschlags und des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende

01.04.2015:

Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes (u.a. Begrenzung des Bezugs der Dauer der Grundleistung)

24.10.2015:

Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket I: Leistungsbeschränkungen u.a. für Abzuschiebende)

01.06.2015:

Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs („Mietpreisbremse“)

01.07.2015:

Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und flexiblerer Elternzeit

01.07.2015:

Rentenanpassung

387

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 1:

Bevölkerungsentwicklung und Geborene/Gestorbene seit der Wiedervereinigung (in Tausend)

Tabelle 2:

Durchschnittliche Lebenserwartung (in Jahren)

Tabelle 3:

Renten der gesetzlichen Rentenversicherung jeweils zum 1. Juli (in 1000)

Tabelle 4:

Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung (in Mrd. Euro)

Tabelle 5:

Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (in 1000)

Tabelle 6:

Leistungen und Einnahmen bzw. Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (in Mrd. Euro)

Tabelle 7:

Unfälle und Leistungsfälle in der gesetzlichen Unfallversicherung (in 1000)

Tabelle 8:

Zahl der registrierten Arbeitslosen (im Jahresdurchschnitt)

Tabelle 9:

Teilnehmer und Empfänger von Leistungen der Arbeitslosenversicherung 2000 bis 2016 (1000 im Jahresdurchschnitt)

Tabelle 10:

Einnahmen und Ausgaben der Arbeitslosenversicherung (in Mrd. Euro)

Tabelle 11:

Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung (in 1000)

Tabelle 12:

Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung (in Mrd. Euro)

388

Tabelle 13:

Leistungsempfänger in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Anzahl in 1000 im Jahresdurchschnitt)

Tabelle 14:

Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und sonstige Arbeitsförderung (in Mrd. Euro)

Tabelle 15:

Leistungsempfänger in der Sozialhilfe (in 1000)

Tabelle 16:

Ausgaben der Sozialhilfe (in Mrd. Euro)

Tabelle 17:

Erzieherische Hilfen nach Hilfearten 2000 bis 2014 (jeweils beendete)

Tabelle 18:

Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe (in Mrd. Euro)

Tabelle 19:

Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland nach Geschlecht und Alter 2005-2013 (in 1000)

Tabelle 20:

Ausgaben für Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben in Mio. Euro

Tabelle 21:

Asylsuchende, Asylberechtigte, Regelleistungen und Ausgaben nach dem Asylbewerbergesetz

Tabelle 22:

Kindergeld, Familienleistungsausgleich, Elterngeld und Betreuungsgeld (in Mrd. Euro)

Tabelle 23:

Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt

Tabelle 24:

Gesamtüberblick nach den Funktionen (in Mrd. Euro)

Tabelle 25:

Leistungen und Finanzierung der Funktionen - Sozialbudget insgesamt in %

Tabelle 26:

Leistungen der Funktionen Krankheit und Invalidität (in Mrd. Euro)

Tabelle 27:

Leistungen der Funktionen Alter und Hinterbliebene (in Mrd. Euro)

Tabelle 28:

Leistungen der Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft (in Mrd. Euro)

389

Tabelle 29:

Leistungen der Funktion Arbeitslosigkeit (in Mrd. Euro)

Tabelle 30:

Leistungen der Funktionen Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen (in Mrd. Euro)

Tabelle 31:

Gesamtübersicht I zu den Leistungen bzw. Leistungsempfängern nach Institutionen (in 1000)

Tabelle 32:

Gesamtübersicht II zu den Sozialleistungen nach Institutionen (Ausgaben in Mrd. Euro)

Tabelle 33:

Leistungen nach Institutionen (Anteile am Bruttoinlandsprodukt in %)

Tabelle 34:

Finanzierung nach Quellen (in Mrd. Euro)

Tabelle 35:

Sozialschutzleistungen in % des Bruttoinlandsprodukts in EU

Abbildung 1: Sozialgesetzbuch (SGB) Abbildung 2: Altersstruktur der deutschen Bevölkerung 1990 bis 2014 Abbildung 3: Ausgaben der gesetzlichen Unfallversicherung in Mrd. Euro Abbildung 4: Arbeitslosigkeit nach dem jeweiligen Rechtskreis (Jahresdurchschnitt in Mio.) Abbildung 5: Leistungen nach Institutionen in % am Sozialbudget (= 100 %) Abbildung 6: Finanzierung der Sozialleistungen nach Arten (in Mrd. Euro)

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Hans Günter Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente. Über den Einzug der Demographie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 294-324 Hans Günter Hockerts, Soziale Ungleichheit im Sozialstaat, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 285-293 Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015 Franz-Xaver Kaufmann, Sozialwissenschaften, Sozialpolitik und Sozialrecht, in: Peter Masuch / Wolfgang Spellbrink / Ulrich Becker/ Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 777-811 Franz-Xaver Kaufmann. Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition, Frankfurt a.M. 2003 Franz-Xaver Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat als Standortbelastung? Vergleichende Perspektiven, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 171-198 Matthias Knuth/ Petra Kaps, Arbeitsmarkt und „Beschäftigungswunder“ in Deutschland, in: WSI Mitteilungen 3 /2014, S. 173-181 Stephan Köppe / Peter Starke / Stephan Leibfried, Sozialpolitik. Konzepte, Theorien und Wirkungen (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 06/2008) Stephan Köppe, Wohlfahrtsmärkte. Die Privatisierung von Bildung und Rente in Deutschland, Schweden und den USA, Frankfurt/Main 2015 Manfred Krapf, Der deutsche Sozialstaat: Geschichte, Aufgabenfelder und Organisation. Eine Einführung, Baltmannsweiler 2016 397

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402

Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.), Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2016 Winfried Süß, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Hans Günter Hockerts/ Winfried Süß (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, 2010, S. 19-41 Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015 Ulrich Walwei, Agenda 2010 und Arbeitsmarkt: Eine Bilanz, in: APUZ 26 (2017) S. 25-33 (www.bpb.de/apuz/250663/agenda-2010und-arbeitsmarkt-eine-bilanz) (02.08.2017) Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008 Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013 Hans F. Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 53-90

403

Sachregister Die Begriffe Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik, Sozialstaat, Sozialbudget, Sozialbericht, Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Armut und Sozialversicherung sowie Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung und Arbeitsförderung werden nicht berücksichtigt.

151, 161, 184, 219, 239, 295, 297, 301, 309, 310, 321, 382 Arbeitsmarktpolitik ....... 20, 23, 25, 32, 33, 100, 105, 112, 113, 120, 122, 126, 142, 280, 294, 298, 300, 301, 302, 350, 364, 391, 395 Armutsberichterstattung ....... 6, 155, 168, 313 Armutsrisikoquote.... 157, 160, 161, 166, 192, 193, 313, 314, 322, 323 Asylbewerber ..... 26, 108, 111, 148, 197, 198, 200, 317, 324 Asylbewerberleistungsgesetz ...... 6, 150, 154, 155, 196, 197, 198, 200, 201, 311, 323

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz.............. 382 Altersarmut .... 18, 64, 157, 162, 275, 281, 290, 304, 311, 315, 347, 350 Alterseinkünftegesetz ... 71, 381 Alterssicherung der Landwirte.......... 79, 236, 241, 243, 250, 335 Arbeitgebersysteme ........... 242, 243, 247, 248, 250, 252, 336, 339, 369 Arbeitsförderungsgesetz ............................ 20, 22 Arbeitslosengeld II..... 6, 29, 76, 82, 100, 102, 103, 104, 119, 138, 140, 142, 143, 146, 147, 404

Bevölkerungsentwicklung .....5, 11, 47, 48, 52, 329, 388 Bildungs- und Teilhabepaket ........................ 172, 318 Bruttoinlandsprodukt ..... 6, 22, 27, 226, 227, 228, 230, 249, 250, 256, 280, 332, 333, 337, 359, 389, 390 Bundesagentur für Arbeit ... 12, 29, 32, 101, 105, 109, 114, 115, 117, 118, 121, 123, 125, 141, 144, 168, 182, 183, 188, 190, 191, 297, 321, 322, 352, 393 Bundesanstalt für Arbeit .... 29, 59, 115, 125, 182, 321, 380 Bundesausbildungsförderungsgesetz ................. 223 Bundeserziehungsgeld ...... 212, 217 Bundessozialhilfegesetz ...... 20, 21, 136, 148, 150, 200 Bundeszuschuss ....... 46, 78, 79, 80, 89, 95, 292, 293, 380 Eingliederungshilfe ... 112, 149, 150, 154, 155, 190, 196, 244, 311, 313, 323 Einkommensverteilung .... 158, 162, 163, 164, 165, 166, 278, 279, 316 Einstiegsqualifizierung ..... 116, 117, 122, 171

Aufstiegsfortbildungsgesetz ............................... 331 Aufstocker ........... 142, 304, 305 Aufwendungen zur Gesundheitsfürsorge ..... 194 Ausbildungsbonus ............ 117, 122, 171 Ausbildungsförderung ........45, 122, 223, 224, 225, 244, 264, 331, 337, 344, 379 Bedarfsgemeinschaft ......... 138, 145, 309 Behindertengleichstellungsgesetz .......176, 177, 320, 379 Beihilfen .............. 235, 242, 243, 247, 250 Benachteiligtenförderung 116, 171, 298, 398 Berufsausbildungsvorbereitung ............................. 117 Berufseinstiegsbegleitung . 118, 127, 171 Berufsgenossenschaften ......96, 98, 294 Berufsorientierung ... 117, 118, 187, 188 Betreuungsgeld ........ 6, 34, 210, 216, 217, 218, 237, 238, 242, 243, 327, 328, 336, 389 Betriebsverfassungsgesetz ...17, 21, 22, 203, 325 Beveridge-Plan........ 16, 17, 396 405

Funktion Wohnen und Allgemeine Lebenshilfen ... 233, 334 Funktionen Alter und Hinterbliebene ... 233, 236, 335, 389 Funktionen Kinder, Ehegatten und Mutterschaft .. 232, 237, 238, 257, 335, 389 Fürsorgeprinzip............... 43, 44 Gesundheitsfonds .......... 27, 33, 88, 89, 95, 253, 293, 339, 350, 357, 384 Gesundheitsreformen .......... 27, 253, 339 Globalisierung................. 31, 49, 267, 271, 274, 276, 277, 285, 347, 348, 356, 358, 370, 376 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ................ 6, 46, 62, 137, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 161, 244, 281, 309, 310, 311, 312, 313, 315, 347, 380, 381, 385 Hartzreformen .... 29, 142, 148, 207, 289, 301, 303, 304, 305, 306, 330, 345, 350, 361 Hilfe zum Lebensunterhalt .......... 148, 149, 150, 152, 153, 154, 159, 201, 311, 312 Inklusion ............ 177, 187, 320, 374

Elterngeld ............. 6, 32, 34, 60, 210, 214, 215, 217, 218, 242, 243, 247, 327, 328, 336, 362, 372, 382, 387, 389 ElterngeldPlus .............215, 328 Erwerbstätigenquote ......... 101, 294, 307, 349 Erziehungsgeld ...........210, 211, 212, 213, 218, 327 Erziehungsurlaub .......211, 212, 213, 214, 327 Europäische Union ......257, 273 Familienlastenausgleich .. 217, 249, 250, 253, 337, 338, 340 Finanz- und Wirtschaftskrise .............. 54, 91, 95, 103, 107, 122, 128, 148, 164, 225, 229, 231, 250, 258, 287, 295, 298, 332, 346 Finanzierungsquellen der Sozialleistungen .......254, 340 Flüchtlinge............ 9, 14, 15, 55, 109, 144, 223, 331 Förder- und Fürsorgesysteme ................ 242, 243, 247, 248, 249, 250, 251, 253, 336, 337, 338, 340 Funktion Arbeitslosigkeit . 232, 234, 239, 240, 259, 334, 335, 389 Funktion Krankheit und Invalidität ....... 232, 233, 334 406

Langzeitarbeitslose ...... 34, 105, 107, 113, 119, 120, 124, 245, 295, 297 Lastenausgleich ...... 15, 98, 208, 209, 242, 247, 326 Lebensstandardsicherung... 30, 31, 69, 284, 285, 287, 346, 361 Leiharbeiter ........ 101, 204, 295, 325, 326 Leistungen der sozialen Entschädigung ...................... 193 Mandattheorie ..................... 359 medizinische Rehabilitation 181, 195, 209, 235, 236, 321, 323 Menschen mit Beeinträchtigungen.... 12, 178, 179, 180, 181, 185, 187, 188, 189, 191, 192, 193, 320, 322, 389, 392 Migrationshintergrund .. 53, 55, 109, 110, 111, 116, 124, 144, 159, 160, 170, 193, 224, 296, 298, 307, 314 Mindestlohn167, 205, 206, 307, 325, 347, 349, 361, 366, 382 Mitbestimmung .................... 17 Mitbestimmungsgesetz ... 17 Mitbestimmungsrechten . 17 Mütterrente .... 34, 76, 291, 347, 386

Integrationsämter ..... 183, 188, 191, 321 Job-AQTIV-Gesetz ............ 113 Jugendarbeitslosigkeit....... 115, 117, 118, 297, 344, 378, 383 Kapitaldeckungsverfahren ..19, 287 Kinder- und Jugendhilfe ....... 6, 46, 167, 168, 170, 172, 174, 175, 231, 237, 238, 242, 244, 247, 249, 250, 317, 318, 319, 335, 336, 337, 338, 344, 361, 381, 389 Kinderarmut .............. 157, 159, 168, 314 Kindergeld .... 6, 20, 32, 60, 161, 210, 216, 217, 237, 238, 242, 243, 247, 249, 250, 264, 327, 328, 336, 337, 338, 378, 379, 383, 384, 389 Kindertagesbetreuung ...... 170, 249, 269, 318, 319, 337, 386 Kinderzuschlag ........... 161, 172, 211, 217, 237, 318, 327 Krankenkassen ........ 25, 46, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 292, 293, 386 Kurzarbeit ............. 32, 122, 123, 239, 298, 384 Landeserziehungsgeld....... 212, 214, 217, 218

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Sozialleistungen nach der Funktion ............. 7, 226, 231 Sozialleistungsquote ..6, 20, 26, 34, 226, 227, 229, 230, 256, 258, 266, 277, 280, 332, 333, 341, 348, 353, 358, 374, 389 Sozialstaatsklientel .... 245, 272, 336, 348, 376 Städtebauförderung, Städtebauförderungsprogramm .................................. 221, 330 Standortdebatte..... 31, 267, 271 Tarifautonomie ...... 17, 21, 386 Tarifvertragsgesetz .......... 17, 21 Teilhabe am Arbeitsleben ... 151, 181, 182, 185, 186, 188, 189, 190, 191, 321, 322, 389 Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben .................................. 182, 321 Umlageverfahren ... 19, 70, 287 UN-Behindertenkonvention .................. 177, 187, 320, 383 Unterhaltsvorschuss ........... 237 Versicherungsprinzip ........... 43 Versorgungsprinzip ........ 43, 44 Weimarer Republik ....... 16, 17, 37, 42 Wiedergutmachung .....15, 208, 209, 242, 247, 326

Niedriglohnsektor......166, 300, 303, 306, 345 Optionskommunen ....144, 310 Parteiendifferenztheorie .... 357 Pensionen, Familienzuschläge und Beihilfen ................... 242 Persönliches Budget ........... 383 Pfadabhängigkeit . 35, 356, 374 Pflegegeld .... 129, 134, 235, 236 Pflegestufen ........ 131, 135, 309 Pflegezusatzversicherung ... 134 private Altersvorsorge ... 30, 69, 242, 335 Reformstau .................... 28, 357 Rente ab 63 ........... 76, 291, 347 Riesterrente ....... 28, 30, 40, 65, 69, 267, 280, 283, 284, 289, 290, 346, 349, 352, 358, 359, 361, 379 Solidarprinzip ........................ 43 Sondersysteme... 241, 243, 246, 247, 250, 335, 369 soziale Entschädigung ......... 45, 209, 242 Soziale Stadt .................221, 330 Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuches .......... 45, 46, 59, 70, 240, 380, 381, 382, 383, 385, 390 Sozialleistungen gemäß der Institution ........... 7, 226, 241

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242, 244, 247, 264, 304, 329, 336, 344 Wohnungspolitik .......... 6, 218, 220, 221, 329, 330 Zuwanderung ........... 9, 52, 108, 111, 120, 168, 170, 223, 297, 318, 323, 331, 347, 372 Zuwanderungsgesetz ........ 109, 297, 381 Zuzahlungen ............ 27, 83, 86, 378, 380

Wiedervereinigung .............5, 9, 11, 13, 24, 25, 34, 47, 48, 50, 58, 63, 65, 66, 81, 82, 101, 102, 118, 126, 211, 225, 226, 228, 230, 251, 253, 255, 263, 265, 266, 268, 275, 282, 294, 327, 331, 332, 333, 335, 338, 340, 350, 360, 388 Wohlfahrtssektor ............... 352 Wohngeld ............. 6, 20, 45, 60, 161, 218, 219, 221, 229, 240,

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