Der Anfang der Reformation: Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung [2 ed.] 9783161563270, 9783161563287, 3161563271

Die Diskussionen um Kontinuitäten und Umbrüche zwischen dem späten Mittelalter und der Reformationszeit nötigen zu einer

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German Pages 676 [695] Year 2018

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
§ 1 Prolegomena: Kontextuelle Reformation – eine historiographische Standortbestimmung
1. Reformation und Reformationen
2. Zur Frage der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation
3. Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“
4. Periodisierungsfragen
5. Dispositionelle Hinweise
I. Traditionskonstruktionen
§ 2 Häresiologie: Jan Hus und die reformatorische Bewegung
1. Luthers früheste Äußerungen über Hus und die Hussiten
2. Die Umformung von Luthers Häresiebegriff im Ablassstreit
3. Hus und die Hussiten im Kontext der Leipziger Disputation
4. Zur öffentlichen Wirkung von Luthers Bezugnahmen auf Hus
5. Prohussitische Stimmung?
6. Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei
7. Luthers Studium und Verbreitung Husschen Gedankenguts
8. Solidarisierung mit Hus im Umkreis der päpstlichen Verurteilung
9. Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers
10. Schlussfolgerungen
§ 3 Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium
1. Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel
2. Erasmus und die volkssprachliche Bibel
3. Die Anfänge von Luthers Bibelübersetzung
4. Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation
§ 4 Religionshermeneutik: Spätmittelalterliche und reformatorische Wahrnehmung des Islams
1. Der Türkendiskurs im 15. und 16. Jahrhundert
2. Die reformatorische Entdeckung des vorreformatorischen Erbes
3. Traditionelle Wahrnehmungsmuster
4. Zusammenfassende Schlussfolgerungen
§ 5 Politiktheorie: Theokratische Konzeptionen in der spätmittelalterlichen Reformliteratur und in der Radikalen Reformation
1. Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise
2. Theokratie als theoretische Konzeption
3. Theokratie als Handlungsmodell
4. Die verwirklichte Ordnung Gottes in Münster
5. Schlussfolgerungen
II. Kommunikationsdynamiken
§ 6 Ausgangsszenario: Luthers 95 Thesen in ihrem historischen Zusammenhang
1. Einleitende Hinweise
2. Der erinnerungskulturelle Kontext
3. Der ablassgeschichtliche Kontext
4. Der territorialgeschichtliche Kontext
5. Der medienhistorische Kontext
6. Der biographische Kontext
7. Schlussbemerkungen
§ 7 Aktionale Aneignungen: Die studentische Reformation
1. Rahmenbedingungen
2. Die Anfänge reformatorischer Aktionen der Studenten
3. Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21
4. Bildungskonzeptionelle Zusammenhänge
5. Studentische Tumulte in Wittenberg
6. Studentische Rezeptionen Wittenberger Theologie
7. Das Erfurter „Pfaffenstürmen“
8. Wittenberger Aktionen im Jahre 1521
9. Studienverhältnisse an der Leucorea im Spiegel studentischer Äußerungen
10. Studentische Reformation im Spiegel volkssprachlicher Flugschriftenpublizistik
11. Studenten als Akteure der reformatorischen Buchproduktion
12. Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise
13. Hugwalds radikalreformatorische Phase
14. Hugwald als reformatorischer Publizist
15. Zum Dialogus Hugwalds
16. Der studentische Reformator und der ‚gemeine Mann‘
17. Zusammenfassende Schlussthesen
Anhang: Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“
§ 8 Stilisierungen: Die Heroisierung Luthers in Wort und Bild
1. Einleitende Bemerkungen
2. Literarische Heroisierungen Luthers
3. Heroisierende Bilder
4. Zusammenfassende Bemerkungen
Anhang: [Capitos] Vorrede zur ersten Luther-Sammelausgabe
§ 9 Argumentative Impressionen: Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation
1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung
2. Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1. 5. 1518
3. Zum Verlauf der Heidelberger Disputation
4. Schlussfolgerungen
§ 10 Publizistische Mobilisierung: Anonyme Flugschriften der frühen Reformation
1. Einleitende Bemerkungen
2. Zu den Anfängen anonymer reformatorischer Flugschriften
3. Thomas Murners anonyme Publikationsoffensive und ihre publizistische Abwehr
Exkurs: Die Straßburger Anti-Murner-Publizistik an der Jahreswende 1520/21
4. Karsthans versus Murner
5. Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521
5.1 Die XV Bundesgenossen
5.2 Ein anonymer Augsburger Flugschriftenzyklus von 1521
6. Zusammenfassende Schlussthesen
III. Lehrbildungen und Identitätsentwürfe
§ 11 Theologisch-philosophische Rationalität: Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation
1. Einleitendes
2. Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft bei Luther
3. Melanchthons theologisch-philosophische Vernunftskonzeption
4. Zwinglis Rationalitätsoptimismus
5. Abschließende Bemerkungen
§ 12 Integrale Existenz: Lehre und Leben in der sog. Radikalen Reformation der frühen 1520er Jahre
1. ‚Doctrina‘ als sperriges Thema bei den „Radikalen“
2. Die frühreformatorische Ausgangskonstellation
3. Vestimentäre Konversionen
4. Kleidung und „Veränderung“
5. Mit dem Geist wider die ‚Schriftgelehrten‘
6. Medien, Orte und Gehalte radikalreformatorischen Lehrens
7. Ethos und Kommunikation
8. Geistbelehrter Glaube
§ 13 Ekklesiologische Revolution: Das Priestertum der Glaubenden in der frühreformatorischen Publizistik – Wittenberger und Basler Beispiele
1. Der Laie in der frühreformatorischen Publizistik
2. Luthers Theologie des Laien
3. Karlstadts Konzeption laikaler Vollmacht
4. Drei anonyme Basler Flugschriften – Datierungs-, Verfasserfragen und Druckgeschichtliches
5. Das Verständnis der Rolle der Laien in den anonymen Schriften
6. Zusammenfassende Bemerkungen
§ 14 Reformation der Lebenswelt: Luthers Ehetheologie
1. Vorreformatorische Voraussetzungen
2. Luthers Ehesermone von 1519
3. Dynamische Entwicklungen 1520/21
4. Hinweise zur Wirkungsgeschichte
§ 15 Personale Identitätskonstruktionen: ‚Erfahrungsmuster‘ in der frühen Reformation
1. Einleitende Bemerkungen
2. Selbstthematisierung als Legitimationsprinzip
3. Gotteserfahrung als Autoritätsstiftung
4. Leseerfahrung als existentielle Wende
5. Zusammenfassende Schlussbemerkungen
§ 16 Fragmentarische Existenz: Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem
1. Einleitende Bemerkungen
2. Wissenschaftsgeschichtliche Hinweise
3. „Alt“ und „jung“ in historischer Perspektive
4. Luthers abendmahlstheologische Entwicklung
5. Die Entwicklung in der „Judenfrage“
6. Bilanzierende Bemerkungen
Nachweise
Ausgewählte Literatur
Register
Personen
Orte
Sachen
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Der Anfang der Reformation: Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung [2 ed.]
 9783161563270, 9783161563287, 3161563271

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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)

67

Thomas Kaufmann

Der Anfang der Reformation Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung

2., durchgesehene und korrigierte Auflage

Mohr Siebeck

Thomas Kaufmann, geboren 1962 in Cuxhaven; Dr. Dr. theol. h.c., Dr. phil. h.c., Professor für Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; o. Mitglied der Akademie der ­Wissenschaften zu Göttingen; Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte. orcid.org / 0000-0002-5003-8731

1. Auflage 2012. 2. Auflage 2018 (durchgesehen und korrigiert).

ISBN  978-3-16-156327-0 / eISBN 978-3-16-156328-7 DOI  10.1628 / 978-3-16-156328-7 ISSN  1865-2840 / eISSN 2569-4391(Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu­stim­mung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel­fältigun­gen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar­beitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

„Hoc erat coelum deturbasse et mundum incendio consumpsisse.“ Martin Luther, Vorrede zum 1. Band der Opera Latina, 1545 (WA 54, S.  180,21 = Cl 4, S.  423,1 f = LuStA 5, S.  628,5).

„Sun. [.  .  .] hastu die [Ablaß]brieff noch? Vatt[er]. Ja. Sun. Hol sie, wir wöllen sie verbrennen. [.  .  .] hat uns nit Christus gebotthen, wir sollen einander leren und unterweisen? Wöllen die pfaffen des nit thun, so müssen wir selbst predigen ec.“ Ein Dialog oder Gespräch zwischen einem Vater und Sohn die Lehre Martini Luthers und sonst andere Sachen des christlichen Glaubens belangend (1523), in: Otto Clemen (Hg.), Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, Bd.  1, Nieuwkoop 1967, S.  33; 35.

„Wiederkehren von allem gezweyten in das eynig, das muß durch alles leben gestudiert werden.“ [Ludwig Hätzer], Etliche Hauptreden, Anhang zur Theologia deutsch (1528), in: Walter Fellmann (Hg.), Hans Denck, Schriften, 2. Teil [QFRG 24 / QGT 6/2], Gütersloh 1956, S.  113, 11 f.

Für Antje, Niki, Mimi und Freddy

Vorwort Dass im Anfang auch der Reformation das Wort war, hat eine Reihe an Gründen für sich: Das biblische Wort brachte den Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg ins Nachdenken, stieß ihn an seine Grenzen, eröffnete ihm ungeahnte Sinnhorizonte und ließ ihn unbekannte Ausdrucksmöglichkeiten entdecken. Luther und bald auch andere legten das biblische Wort in eigenen Worten aus, übersetzten es, verbreiteten es mündlich und schriftlich, in handgeschriebener, vor allem aber in gedruckter Form. Dass im Anfang der Reformation die Tat war, wird man über alledem nicht vergessen wollen: Erst als Luther die ihn im Gewissen bewegende Glaubwürdigkeitskrise seiner Kirche in einen offenen Angriff gegen das Ablassinstitut und seine Akteure überführte und verdichtete und auch erste Parteigänger auf den Plan traten, setzte jene Ereignissequenz ein, die zur tiefgreifendsten Veränderung der lateineuropäischen Kirchengeschichte führen sollte und als „die Reformation“ ein Grundsachverhalt auch der Geschichte der Nationen, Staaten, Gesellschaften und Kulturen geworden ist. Dass im Anfang der Reformation auch der Sinn war, die Suche nach ihm und das Finden, dass schließlich die Kraft der Überzeugung, der Mobilisierung von Menschen, der Ausdrucks- und Aktionsformen am Anfang stand – wer wollte es bestreiten? Und dass es vor jenem Anfang der Reformation Geschichten gab, die ihn vorbereiteten, ermöglichten, anbahnten, vorwegnahmen, begleiteten oder vorantrieben, teilt die Reformation mit anderen historischen Anfängen. So ist denn der Anfang der Reformation vieles in einem; eben deshalb ist sie ein Anfang und zugleich ein Anfang. Die Idee zu diesem Buch entsprang dem Bedürfnis, innezuhalten und eine wissenschaftliche Zwischenbilanz zu ziehen. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten bin ich mit einem wesentlichen Teil meiner Arbeitskraft lehrend und forschend auf dem Felde der Reformationsgeschichte tätig. Die Betriebsamkeit unseres Wissenschaftswesens bietet die Chance, sich auf immer neue Projekte einzulassen, birgt aber auch die Gefahr in sich, die grundlegenden Fragen unserer Fachdisziplinen hintanzustellen. In diesem Buch sah ich eine Möglichkeit, meine Sicht auf die frühe Reformation zu fokussieren und in Bezug auf die mir besonders wichtig erscheinenden Aspekte zu bearbeiten. Ich habe dabei ältere und neuere Studien in der Absicht zusammengeführt, aus der minutiösen und für den Leser gelegentlich vielleicht auch ermüdenden Ar-

VIII

Vorwort

beit am historischen Detail Elemente für ein Gesamtbild des komplexen Sachverhalts des Anfangs der Reformation zusammenzutragen. Die Arbeit in der reformationsgeschichtlichen Forschung stellt sich mir heute, am Ende meines fünften Lebensjahrzehnts, stärker denn je als eine generationenübergreifende Aufgabe dar. Während meine Lehrergeneration mehr und mehr von der aktiven Arbeit an der Sache zurücktritt, wächst mein tiefer Respekt und meine Dankbarkeit für die Konsequenz ihrer Fragestellungen und die quellengesättigte Dignität ihrer Interpretationen. Aus heutiger Sicht erscheint die reformationsgeschichtliche Forschung der 1960er bis 1980er Jahre, in denen das Verhältnis zum Spätmittelalter neu justiert, mit den Flugschriften ein gewaltiges Quellenkorpus neu studiert und die sozialen Kontexte reformatorischer Entwicklungen – auch im Horizont der konkurrierenden und sich allmählich aufeinander zu bewegenden Forschungstraditionen in Ost und West – umfassend diskutiert wurden, als eine außerordentlich produktive Phase reformationsgeschichtlicher Forschung dar, in die ich als Münsteraner, Tübinger und Göttinger Student und Doktorand einzutreten das Glück hatte. Insofern dokumentiert das Buch auch den Wunsch, forschungsgeschichtliche Kontinuitäten und Verbundenheiten aufzuzeigen, die im Horizont aktualistischer Innovationspostulate unserer Tage eher ungewohnt erscheinen mögen. Dass gleichwohl mancherlei Kurskorrekturen unabweisbar sind, wird sich hoffentlich aus der Darstellung und insofern von selbst verstehen. Die in dieses Buch aufgenommenen älteren Studien habe ich durchweg überarbeitet und bibliographisch aktualisiert. Sie erheben insofern durchaus den Anspruch, den gegenwärtigen Forschungsstand zu repräsentieren. Die bisher unveröffentlichten Abschnitte sind dem Bedürfnis entsprungen, Themen zu bearbeiten, die dazu helfen, mein Bild des Anfangs der Reformation abzurunden. Des fragmentarischen Charakters dieser Bemühungen bin ich mir bewusst. Bei der Konzipierung des Bandes war mir das Gespräch mit meinem Mitarbeiter Dr. Martin Keßler ein großer Gewinn; er und mein Assistent Christoph Schönau halfen auch beim Korrekturlesen. Um die Erstellung satzfähiger Vorlagen hat sich meine Sekretärin Frau Antje Marx sehr verdient gemacht. Herr Dr. Ziebritzki war gegenüber dem Plan zu diesem Buch erfreulich offen. Herr Kollege Berndt Hamm und die Mitherausgeber haben seiner Aufnahme in die Reihe auf unkomplizierte Weise zugestimmt. Ihnen allen sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Wie sich das alltägliche Zusammenleben mit dem Reformationshistoriker darstellt, wissen nur die, die das Leben mit ihm teilen und daran nicht irregeworden sind: meine geliebte Frau Antje und unsere geliebten Kinder Niklas, Marikje und Frederik. Für die Dankbarkeit, die ich ihnen gegenüber empfinde, reichen meine Worte und Taten nicht aus. Es mag ihr Buch sein. Kapstadt, 29. 3. 2012

Thomas Kaufmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV §  1 Prolegomena: Kontextuelle Reformation – eine historiographische Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Reformation und Reformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Zur Frage der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3. Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“ . 15 4. Periodisierungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Dispositionelle Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

I. Traditionskonstruktionen §  2 Häresiologie: Jan Hus und die reformatorische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Luthers früheste Äußerungen über Hus und die Hussiten . . . . . 30 2. Die Umformung von Luthers Häresiebegriff im Ablassstreit . . . . 35 3. Hus und die Hussiten im Kontext der Leipziger Disputation . . . . 37 4. Zur öffentlichen Wirkung von Luthers Bezugnahmen auf Hus . . . 40 5. Prohussitische Stimmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei . . . 45 7. Luthers Studium und Verbreitung Husschen Gedankenguts . . . . 50 8. Solidarisierung mit Hus im Umkreis der päpstlichen Verurteilung . 54 9. Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 10. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 §  3 Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium . . . 68 1. Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel . . . . . . . . . 69 2. Erasmus und die volkssprachliche Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . 78

X

Inhaltsverzeichnis

3. Die Anfänge von Luthers Bibelübersetzung . . . . . . . . . . . . . . 87 4. Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation . . . 97 §  4 Religionshermeneutik: Spätmittelalterliche und reformatorische Wahrnehmung des Islams . . 102 1. 2. 3. 4.

Der Türkendiskurs im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 102 Die reformatorische Entdeckung des vorreformatorischen Erbes . . 106 Traditionelle Wahrnehmungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 116

§  5 Politiktheorie: Theokratische Konzeptionen in der spätmittelalterlichen Reformliteratur und in der Radikalen Reformation . . . . . . . . . . . 121 1. Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Theokratie als theoretische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Theokratie als Handlungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. Die verwirklichte Ordnung Gottes in Münster . . . . . . . . . . . . 151 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

II. Kommunikationsdynamiken §  6 Ausgangsszenario: Luthers 95 Thesen in ihrem historischen Zusammenhang . . . . . . . . 166 1. Einleitende Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Der erinnerungskulturelle Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Der ablassgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Der territorialgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5. Der medienhistorische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6. Der biographische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 §  7 Aktionale Aneignungen: Die studentische Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Die Anfänge reformatorischer Aktionen der Studenten . . . . . . . 187 3. Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21 . . . . . . 191 4. Bildungskonzeptionelle Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . 197 5. Studentische Tumulte in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Inhaltsverzeichnis

XI

6. 7. 8. 9.

Studentische Rezeptionen Wittenberger Theologie . . . . . . . . . 207 Das Erfurter „Pfaffenstürmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Wittenberger Aktionen im Jahre 1521 . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Studienverhältnisse an der Leucorea im Spiegel studentischer Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 10. Studentische Reformation im Spiegel volkssprachlicher Flugschriftenpublizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 11. Studenten als Akteure der reformatorischen Buchproduktion . . . 237 12. Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 13. Hugwalds radikalreformatorische Phase . . . . . . . . . . . . . . . 244 14. Hugwald als reformatorischer Publizist . . . . . . . . . . . . . . . . 247 15. Zum Dialogus Hugwalds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 16. Der studentische Reformator und der ‚gemeine Mann‘ . . . . . . . 253 17. Zusammenfassende Schlussthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Anhang:  Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 260

§  8 Stilisierungen: Die Heroisierung Luthers in Wort und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Literarische Heroisierungen Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Heroisierende Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Anhang: [Capitos] Vorrede zur ersten Luther-Sammelausgabe . . . . . 331 §  9 Argumentative Impressionen: Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation . . . . . . . . . . . . . 334 1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung . . . . . . . . . . . . 334 2. Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1.  5. 1518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3. Zum Verlauf der Heidelberger Disputation . . . . . . . . . . . . . . 345 4. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 §  10 Publizistische Mobilisierung: Anonyme Flugschriften der frühen Reformation . . . . . . . . . . . . . 356 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 2. Zu den Anfängen anonymer reformatorischer Flugschriften . . . . 362 3. Thomas Murners anonyme Publikationsoffensive und ihre publizistische Abwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Exkurs:  Die Straßburger Anti-Murner-Publizistik an der Jahreswende 1520/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

XII

Inhaltsverzeichnis

4. Karsthans versus Murner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 5. Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521 . . . . . . . . . . . . 400 5.1 Die XV Bundesgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 5.2 Ein anonymer Augsburger Flugschriftenzyklus von 1521 . . . 418 6. Zusammenfassende Schlussthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

III.  Lehrbildungen und Identitätsentwürfe §  11 Theologisch-philosophische Rationalität: Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 1. Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 2. Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft bei Luther . . . . . . . . 438 3. Melanchthons theologisch-philosophische Vernunftskonzeption . 453 4. Zwinglis Rationalitätsoptimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 5. Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 §  12 Integrale Existenz: Lehre und Leben in der sog. Radikalen Reformation der frühen 1520er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

‚Doctrina‘ als sperriges Thema bei den „Radikalen“ . . . . . . . . . 464 Die frühreformatorische Ausgangskonstellation . . . . . . . . . . . 466 Vestimentäre Konversionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Kleidung und „Veränderung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Mit dem Geist wider die ‚Schriftgelehrten‘ . . . . . . . . . . . . . . 486 Medien, Orte und Gehalte radikalreformatorischen Lehrens . . . . 493 Ethos und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Geistbelehrter Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

§  13 Ekklesiologische Revolution: Das Priestertum der Glaubenden in der frühreformatorischen Publizistik – Wittenberger und Basler Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 506 1. 2. 3. 4.

Der Laie in der frühreformatorischen Publizistik . . . . . . . . . . 506 Luthers Theologie des Laien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Karlstadts Konzeption laikaler Vollmacht . . . . . . . . . . . . . . . 522 Drei anonyme Basler Flugschriften – Datierungs-, Verfasserfragen und Druckgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 5. Das Verständnis der Rolle der Laien in den anonymen Schriften . . 541 6. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

Inhaltsverzeichnis

XIII

§  14 Reformation der Lebenswelt: Luthers Ehetheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 1. 2. 3. 4.

Vorreformatorische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Luthers Ehesermone von 1519 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 Dynamische Entwicklungen 1520/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Hinweise zur Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

§  15 Personale Identitätskonstruktionen: ‚Erfahrungsmuster‘ in der frühen Reformation . . . . . . . . . . . . . . 565 1. 2. 3. 4. 5.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Selbstthematisierung als Legitimationsprinzip . . . . . . . . . . . . 567 Gotteserfahrung als Autoritätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Leseerfahrung als existentielle Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Zusammenfassende Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . 586

§  16 Fragmentarische Existenz: Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem . . . . . . 589 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Wissenschaftsgeschichtliche Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 „Alt“ und „jung“ in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . 594 Luthers abendmahlstheologische Entwicklung . . . . . . . . . . . . 596 Die Entwicklung in der „Judenfrage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Bilanzierende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

Abkürzungsverzeichnis Sofern Abkürzungen benutzt werden, folgen sie dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin, New York 21994. In eckige Klammern gesetzte Namens-, Orts- und Jahresangaben sind erschlossen. Ansonsten bedeuten: Abb.

Abbildung (die nachfolgende Ziffer verweist jeweils auf die Abbildung innerhalb eines Paragraphen) Abschnitt interner Verweis auf einen bestimmten Abschnitt innerhalb eines Paragraphen dieses Buches Allen Erasmus Roterodamus, Opus epistolarum. Denuo recognitum et auctum per P. S. Allen, Bd.  1–12, Oxford 1906–1958 Anm. Anmerkung a. R. am Rande (Randglosse in zeitgenössischem Druck) AWA Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers BAO 1/2 Ernst Staehelin (Bearb.), Briefe und Akten zum Leben Oekolampads, Bd.  1: 1499–1526 [QFRG 10], Leipzig 1927, ND New York, London 1971; Bd.  2 : 1527–1593 [QFRG 19], Leipzig 1934, ND New York, London 1971 Bcor Correspondance de Martin Bucer, hg. von Jean Rott, Reinhold Friedrich, Berndt Hamm u. a., Bd.  1 ff. [SMRT 25 ff.], Leiden u. a. 1979 ff. BDS Martin Bucer, Deutsche Schriften, hg. von Robert Stupperich u. a., Bd.  1 ff., Gütersloh 1960 ff. Benzing, Bibl. Stras. Josef Benzing, Bibliographie Strasbourgeoise: bibliographie des ouv­rages imprimés à Strasbourg au XVIe siècle [BBAur 50], BadenBaden 1981 Benzing/Claus Josef Benzing/Helmut Claus, Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, 2 Bde. [BBAur 10], Baden-Baden 21989/1994 Bircher Martin Bircher, Deutsche Drucke des Barock in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bd.  A1 ff.–D1 ff., Millwood, New York, London u. a. 1977 ff. Böcking Eduard Böcking (Hg.), Ulrici Hutteni Opera Omnia Bd.  1–6, Leipzig 1859–1861, ND Aalen 1963 BSLK Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982 Cl Martin Luther, Werke in Auswahl, unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hg. von Otto Clemen, Berlin 31962

XVI

Abkürzungsverzeichnis

Clemen, Flugschriften Otto Clemen (Hg.), Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, Bd.  1–4, Halle 1907–1911, ND Nieuwkoop 1967 CR Corpus Reformatorum CS Corpus Schwenckfeldianorum, 19 Bde., Leipzig 1901–1961 dat. datiert; Datum DBE Walther Killy (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  1– 10, München 1995–1999 DBETh Bernd Moeller mit Bruno Jahn (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Bd.  1–2, München 2005 {digit.} digitalisierte Internetressource DRTA J. R. Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe DS38 Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, verb., erw. und ins Deutsche übertragen von Peter Hünermann, Freiburg/B. u. a. 1999 DWb Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, 32 Bde., Leipzig 1854–1963; ND München 1984 ed. / Ed. ediert / Edition Enders Ernst Ludwig Enders (Hg.), Dr. Martin Luthers Briefwechsel, Bd.  1–17, Frankfurt/M., Leipzig 1884–1920 Enders, Eberlin Ludwig Enders (Hg.), Johann Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd.  1–3 [Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 139–141; 170–172; 183–188, Flugschriften der Reformationszeit 11, 15, 18], Halle 1896–1902 Ex. Exemplar GSA Gesamtausgabe GW Gesamtkatalog der Wiegendrucke (www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de) Hohenemser Paul Hohenemser, Flugschriftensammlung Gustav Freytag, Mikroficheserie München u. a. 1980–1981 KGK Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt, Bd.  I/1, 2, hg. von Thomas Kaufmann [QFRG 90/1 und 90/2], Gütersloh 2017 Köhler Bibl. Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil  I : Das frühe 16. Jahrhundert (1501–1530), Druckbeschreibungen, Bd.  1 ff., Tübingen 1991 ff. Laube, Flugschriften, Adolf Laube u. a. (Hg.), Flugschriften der frühen Reformationsbe  Bd.  1/2 wegung (1518–1524), 2 Bde., Berlin/O. 1983 LexMA Lexikon des Mittelalters, Bd.  1–9, 1980–1999; ND München 2002 LuStA Hans-Ulrich Delius (Hg.), Martin Luther, Studienausgabe, Bd.  1– 6, Berlin/Leipzig, 1979–1999 MBW Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Heinz Scheible, Abt. Regesten, bearb. von Heinz Scheible und Walter Thüringer, Stuttgart – Bad Cannstatt 1977 ff. MBW.T Melanchthon Briefwechsel, Abt. Texte, Bd.   1 ff., Stuttgart – Bad Cannstatt 1991 ff.

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MDS

XVII

Thomas Murner, Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke, Bd.  1–9, Berlin, Leipzig 1918–1931 MennLex 5 Mennonitisches Lexikon, Bd.  5, Teil  1: Revision und Ergänzung, im Auftrag des Mennonitischen Geschichtsvereins hg. von Hans-Jürgen Goertz, 2010 (www.mennlex.de) MF Hans-Joachim Köhler/Hildegard Hebenstreit-Wilfert/Christoph Weissmann (Hg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Zug 1978–1988 MF (nach 1530) Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Leiden 1990–2003 MF Bibl. Pal. Mikroficheserie Bibliotheca Palatina, hg. von Elmar Mittler; Katalog München 1999 MSA Robert Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke in Auswahl, 7 Bde., Gütersloh 1951–1975, zum Teil in 2.  Aufl. 1978–1983 Muller, Bibl. Stras. Jean Muller, Bibliographie Strasbourgeoise tom. 2 und 3 [BBAur 90/95], Baden-Baden 1985/1986 ND Neudruck o. Dr. ohne Druckerangabe o. J. ohne Jahresangabe o.  O. ohne Ortsangabe OR Der Oberrheinische Revolutionär, hg. von Klaus H. Lauterbach [MGH Staatschriften des Späteren Mittelalters 7], Hannover 2009 RPO Reichspolizeiordnung, nach: Matthias Weber (Hg.), Die Reichspolizeiordnung von 1530, 1548 und 1577 [Jus Commune Sonderheft 146], Frankfurt/M. 2002 RGG4 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., Bd.  1–8, Tübingen 1998–2005; Register Tübingen 2007 RN Revisionsnachtrag zur WA TAE Manfred Krebs/Jean Rott (Hg.), Täuferakten Elsass I. Stadt Strassburg 1522–1532 [QFRG 26 – QGT 7], Gütersloh 1959; dies., Elsass II. Stadt Strassburg 1533–1535 [QFRG 27 – QGT 8], Gütersloh 1960; Marc Lienhard/Stephan F. Nelson/Jean Rott (Hg.), Elsass III. Stadt Strassburg 1536–1542 [QFRG 53 – QGT 15], Gütersloh 1986 ThMA Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd.  2, Leipzig 2010; Bd.  3, Leipzig 2004; Bd.  1, Leipzig 2017 VD 16 Bayerische Staatsbibliothek [München] / Herzog August Bibliothek [Wolfenbüttel] (Hg.), Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, Bd.  1–25, Stuttgart 1983– 2000 (http://www.vd16.de) VL2 Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. völlig neu bearb. Auflage hg. von Kurt Ruh u. a., 11 Bde., Berlin, New York 1978–2004 Z Huldrych Zwingli, Sämtliche Werke, hg. von Emil Egli, Joachim Staedtke, Fritz Büsser u. a., Berlin, Zürich 1905 ff. (CR 88 bis 101) Z. Zeile

XVIII ZHF zit. / Zit. ZV

Abkürzungsverzeichnis

Zeitschrift für Historische Forschung zitiert / Zitat Supplement zum Grundwerk (VD 16) mit kompletten Titelaufnahmen im elektronischen Zusatzverzeichnis

§  1  Prolegomena: Kontextuelle Reformation – eine historiographische Standortbestimmung 1.  Reformation und Reformationen In Analogie zu der hermeneutischen Einsicht, dass der „Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle [.  .  .] nach seinem Zusammenhang mit denen die es umgeben“1 zu bestimmen ist, liegt den in diesem Band vereinigten Studien zur frühreformatorischen Bewegung die Überzeugung zugrunde, dass sich der Sinn und die Bedeutung mancher Einzelphänomene der „Reformation“ in ihrer formativen Phase nur aus ihren engeren und weiteren Kontexten erheben lässt. Diese Feststellung ist einerseits banal, denn sie entspricht dem elementaren Gebot historischer Erkenntnis, eine Zeit aus sich heraus zu verstehen und nach den ihr gemäßen Maßstäben zu interpretieren. Sie ist in Bezug auf den „Reformation“ genannten historischen Zusammenhang aber vielleicht doch nicht völlig trivial, da der Begriff und die Sache der „Reformation“ in der neueren Diskussion keineswegs eindeutig und selbstverständlich sind. Während in der protestantischen Kirchengeschichtswissenschaft, soweit ich sehe, bis heute die vor allem durch Leopold von Rankes „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839–1847) grundgelegte historiographische Tradition dominiert, die mit der singularisch verwendeten „Reformation“ die von Luther ausgehende, aber auch von anderen reformatorischen Akteuren etwa Oberdeutschlands und der Schweiz maßgeblich getragene und wesentlich mitbestimmte „evangelische“ oder „protestantische“ Veränderung der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnet2, hat sich in der geschichtswissenschaftlichen Literatur, nicht zuletzt im 1

  Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Friedrich Lücke [Sämmtliche Werke I. Abt. Bd.  7], Berlin 1838, S.  69. In seiner Einleitung zur Kirchengeschichte (1806) formulierte Schleiermacher in Bezug auf die unveräußerliche Dialektik von Einzelnem und Ganzem: „Auch läßt sich ja das Werden des Ganzen nicht Darstellen ohne Darstellung des Einzelnen weil das Ganze nur im Einzelnen erscheint, und es gehört grade zur Form seines Wesens auch die Abwechselung zwischen Verbreitetsein des inneren Geistes in der ganzen Masse und starckem Hervortreten desselben im Einzelnen, welche wiederum nicht anders als in einzelnen Theilen kann gezeiget werden.“ Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg. von Simon Gerber [KGA II,6], Berlin, New York 2006, S.  10,30–11,3. 2   Vgl. nur aus dem Kreis der neueren Veröffentlichungen zur Sache: Volker Leppin, Das Zeital-

2

§  1  Prolegomena

angloamerikanischen Kontext, ein Sprachgebrauch etabliert, bei dem der Begriff „Reformation“ immer häufiger im Plural verwendet wird.3 Auch ein durch Personaloder Lokaleponyme wie „Wittenberger“4, „Luthersche“ oder „Genfer Reformation“ geprägter Sprachgebrauch hat sich in der neueren Forschung breit gemacht; er indiziert neben traditionelleren Begriffsbildungen wie „katholische Reform oder Reformation“5 oder „Radikale Reformation“6, dass jener historische Zusammenhang, der ter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009; Athina Lexutt, Die Reformation. Ein Ereignis macht Epoche, Köln, Weimar, Wien 2009; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010; Luise Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung, München 32002; Ulinka Rublack, Die Reformation in Europa [fischer TB 60129], Frankfurt/M. 2003; Helga Schnabel-Schüle, Die Reformation 1495–1555 [ub 17048], Stuttgart 2006; aus der englischsprachigen Literatur vgl. etwa: C. Scott Dixon, The Reformation in Germany, Oxford 2002; Diarmaid MacCulloch, The Reformation, New York, London 2004 [dt. Ausgabe: Die Reformation 1490–1700, München 2008]; Martin H. Jung, Die Reformation. Theologen, Politiker, Künstler, Göttingen 2008. Als Teil des „konfessionellen Zeitalters“ und „Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben“ behandelt „die Reformation“ – unterschieden als „Wittenberger“ und „Zürcher Reformation“: Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne, Darmstadt 2007, S.  135 ff.; zur Orientierung in den neueren Debatten einschlägig: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter [Kontroversen um die Geschichte], Darmstadt 2002. Von der grundsätzlichen Einheit der in sich differenzierten Reformation her setzt an: Hans Joachim Hillerbrand, The Division of Christendom. Christianity in Sixteenth Century, Louisville, London 2007. 3   Zur Pluralisierung und Verunklarung des Reformationsbegriffs bei MacCulloch vgl. Thomas Kaufmann, „History is good at confounding and confessing labelers“ – „Die Geschichte versteht es meisterlich, Schlagwortexperten zu irritieren und zu verwirren“. Zu Diarmaid MacCullochs „Reformation“, in: ARG 101, 2010, S.  305–320; einflussreich in Bezug auf die Pluralisierung des Reformationsbegriffs ist sicher, anknüpfend an ältere historiographische Traditionen insbesondere des reformierten Protestantismus: Heiko A. Oberman, vgl. etwa: Eine Epoche – Drei Reformationen, in: Ders., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S.  283– 299; ders., Zwei Reformationen. Luther und Calvin. Alte und Neue Welt, Berlin 2003; zuletzt: Thomas A. Brady Jr., German Histories in the Age of Reformations 1400–1650, Cambridge, New York 2009; vgl. auch Scott H. Hendrix, Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville, London 2004, der Luthers, die städtische, die radikale und die katholische „Agenda“ unterscheidet. Auch Carter Lindberg (The European Reformations, Chichester 2 2010) hat die Pluriformität der unterschiedlichen Reformationsprozesse in Europa zur Wahl des Plurals „Reformations“ veranlasst. 4   Die Rede von der „Wittenberger Reformation“ wurde, wenn ich recht sehe, in letzter Zeit besonders von den Leipziger Kirchenhistorikern publizistisch wirkungsreich lanciert, vgl. etwa die Festschrift für Helmar Junghans: Humanismus und Wittenberger Reformation, hg. v. Michael Beyer und Günther Wartenberg, Leipzig 1996, oder: Günther Wartenberg, Wittenberger Reformation und territoriale Politik. Gesammelte Aufsätze [AKThG 11], Leipzig 2003, sowie verschiedene von Wartenberg und Irene Dingel hg. Tagungsbände in der Reihe der Leucorea-Stiftung [LStRLO, hg. von Udo Sträter und Günther Wartenberg]. Ob die regionalistische Kolorierung der „Wittenberger Reformation“ dazu beiträgt, ihre Einbettung in die allgemeineren Interaktionsprozesse des Reiches und Europas sichtbar zu machen, wird die weitere Diskussion zu zeigen haben. 5   Auch wissenschaftsgeschichtlich substanziell orientierend: Gottfried Maron, Art. Katholische Reform und Gegenreformation, in: TRE 18, 1989, S.  45–72; eine positive Verwendung der katholischen „Reformation“ im Umkreis des Cusaners schon bei Johannes Janssen, Die allgemeinen Zustände des deutsches Volkes bei Ausgang des Mittelalters [Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters 1], Freiburg/B. 161892, S.  6 ff.; 636 ff.; inzwischen, von der Leitter-

1.  Reformation und Reformationen

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„Reformation“ genannt zu werden verdient, entweder als komplexes Bündel irgendwie eigenständiger Reformationen oder aber als in sich plurales Phänomen einer substanziell einheitlichen Reformation zu bestimmen ist. Will man den Umstand, dass der gegebenenfalls wohl verkaufsfördernde Singular „Reformation“ auf einem Buchtitel mit dem inhaltlichen Plural der Darstellung einhergeht, nicht für der Weisheit letzten Schluss halten, ist hier auf Klarheit zu dringen. Denn wenn man das historiographische Konzept der „einen“ „evangelischen“ oder „protestantischen“ Reformation als eines epochalen Sachverhalts mit Grund infrage stellen bzw. überwinden will, sollte man beherzt dem Beispiel Bradys folgen und sowohl „die“ Geschichte als auch „die“ Reformation pluralisieren.7 Das von mir hier vertretene und an anderem Ort8 umfassender ausgearbeitete Verständnis von „Reformation“ ist einem Konzept der in sich pluralen, gleichwohl einen spezifischen und einheitlichen historischen Zusammenhang bildenden, untereinander mannigfach vernetzten territorialen, lokalen, regionalen und nationalen Veränderungsprozesse als der Reformation verpflichtet. Die eine Reformation gibt es demnach sofern und weil sich zwischen den einzelnen städtischen, territorialen, nationalen und mileu- bzw. richtungstheologischen Reformationsprozessen höchst unterschiedliche und komplexe Interaktionen abspielten bzw. nachweisen lassen, die „die“ Reformation ausmachten bzw. ihr den Weg bahnten. „Die Reformation“ erscheint in dieser Perspektive als ein dynamischer Prozess literarisch-publizistischer bzw. aktional-inszenatorischer Interaktionen, der wesentlich von häufig kaum mehr sichtbar zu machenden Mobilitätsmomenten bestimmt und geprägt worden ist. Diese Mobilitätsmomente betreffen einzelne oder Gruppen von Personen, die durch ihre Bewegung an unterschiedliche Orte oder in verschiedene Regionen Nachrichten, Bilder, Texte oder exemplarische und gegebenenfalls modellhaft werdende Aktionsformen verbreiteten, Beziehungen zwischen unterschiedlichen ‚Reformationszentren‘ herstellten oder Kommunikationsnetzwerke bildeten, die wesentlich dafür verantwortlich waren, dass eine „reformatorische Bewegung“ entstand. Vielfach sind die ersten oder frühesten reformatorischen Mobilitätsakteure in hi­ storisches Dunkel gehüllt; nur selten wissen wir, welche konkreten Individuen dafür verantwortlich waren, dass man weit entfernt von der kursächsischen Provinzstadt Luthers Texte zu lesen, gegebenenfalls zu diskutieren und weiter zu verbreiten begann. Doch alles spricht dafür, dass es die seit langem vorhandenen Kommunikationsnetzwerke und Mobilitätsstrukturen bestimmter Personen- und Berufsgruppen waren, denen in diesem Zusammenhang die entscheidende Bedeutung zukam: Kauf6

minologie des Titels her eher ungewöhnlich: Ronnie Po-chia Hsia, Gegenreformation. Die Welt der katholischen Erneuerung 1540–1770 [fischer TB 60130], Frankfurt/M. 1998. 6   George Huntston Williams, The Radical Reformation [Sixteenth Century Essays and Studies 15] Kirksville 32000; vgl. zu dem Konzept und seinen wissenschaftsgeschichtlichen Implikationen: Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der frühen Neuzeit [EdG 20], München 1993, S.  59 ff. 7   Brady, German Histories, wie Anm.  3. 8   Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  2.

4

§  1  Prolegomena

leute, die in translokale und -regionale Handels- und Marktstrukturen involviert waren, Buchführer, die Druckerzeugnisse zwischen unterschiedlichen Städten und Marktorten vertrieben, Buchdrucker, die die Messen beschickten und mit ihresgleichen in produktionspraktischen, logistischen und ökonomischen Fragen konkurrierten und kooperierten, die ‚Zuliefergewerbe‘ der ‚schwarzen Kunst‘ wie Schriftgießer, „Reisser“, also Holzschnittzeichner, Kupferstecher, Formschneider, Briefmaler, also Buchillustratoren, und Buchbinder9, Handmaler und „Künstler“, aber auch Ordensleute, die sich zwischen den verschiedenen Niederlassungen hin- und herbewegten oder eine Mission erfüllten bzw. mit Ordensgliedern, die dies taten, verkehrten, Stadtschreiber, die für die diplomatischen Kontakte zu anderen Städten und Herrschaften zuständig waren, Briefboten aller Art, Studenten, fahrende Schüler und Magister, die sich im Bewegungsraum der höheren Schulen und Universitäten aufhielten, auch, wenn auch weniger einschlägig, fahrende Händler, Juden, Bettler, Räuber, Komödianten und Bauern, die zumindest an den Markttagen die Städte frequentierten, Söldner, Handwerkergesellen aller Art auf Wanderschaft, sodann geistliche und weltliche Fürsten und Adelspersonen und ihre Beraterstäbe, die sich aus Anlass politischer Versammlungen, Missionen, Wallfahrten oder Bildungsreisen durch unterschiedliche Städte, Regionen und Territorien des Reichs oder Europas bewegten, Wallfahrer aller Stände und beiderlei Geschlechts, Ablasskrämer und ihre Trosse etc. pp. Dass die ständisch stratifizierten, sozial wenig mobilen Gesellschaften des frühen 16. Jahrhunderts in motionaler Hinsicht ‚immobil‘ gewesen wären, wird man schwerlich behaupten können.10 Ein nicht unwesentlicher Teil vor allem der städtischen Bevölkerung wird permanent entweder selbst ‚unterwegs‘ gewesen oder doch planmäßig direkt oder indirekt mit Personen in Kontakt gekommen sein, die gerade von irgendwoher kamen oder irgendwohin gingen. Aufgrund einer letztlich alle Stände und Schichten regelmäßig und mehr oder weniger intensiv berührenden vagierenden oder motivierten „mobilité incessante“ gelangten auch die die „Reformation“ betreffenden Nachrichten, Informationen, Überzeugungen, Texte und Drucke rasch von Ort zu Ort, von Region zu Region und überbrückten mit einer beinahe schon ‚modernen‘ Rasanz Grenzen der politischen, landsmannschaftlichen oder dialektalen Zugehörigkeit. Mit dem Begriff der „Kon9

  Diese verschiedenen Gewerbe und Berufe werden nacheinander jeweils mit charakteristischen Versen von Hans Sachs und Holzschnitten von Jost Amman dargestellt im sog. „Ständebuch“ (1568), am einfachsten greifbar in: Ursula Schulze (Hg., Übers.), Jost Amman, Das Ständebuch. Herrscher, Handwerker und Künstler des ausgehenden Mittelalters, Köln 2006, S.  36–49. 10   Zum „fahrenden Volk“ als sozialer Randgruppe vgl. nur Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten [Kleine Reihe V&R 1568], Göttingen 1993, S.  72 ff.; zum Wirtshaus als Begegnungsraum vgl. z. B.: Arnold Esch, Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst, München 2010, S.  128 ff.; zur Reisetätigkeit eines Augsburger Fernhandelskaufmanns exemplarisch: Kay Peter Jankrift, Henker Huren Handelsherren. Alltag in einer mittelalterlichen Stadt, Stuttgart 2008, S.  77 ff.; zur „für das Überleben im Mittelalter so wichtigen Mobilität“ s. auch Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Darmstadt 2002, S.  163.

2.  Zur Frage der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation

5

textuellen Reformation“ soll dieser von einem in einen anderen lokalen, regionalen, aber auch sozialen und sprachlichen Kontext übergehende Interaktionsprozess, aus dem oder im Zuge dessen eine „reformatorische Bewegung“ und schließlich „die Reformation“ in der Vielfalt ihrer spezifischen Aneignungs- und Auslegungsgestalten entstand, beschrieben bzw. begrifflich verdichtet werden.

2.  Zur Frage der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation Die hier vertretene Reformationskonzeption sieht sich in einer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit zumal in der protestantischen Kirchengeschichte favorisierten Ansätzen, die das ‚Proprium‘ der Reformation, ihr ‚Wesen‘, ihren ‚Identitätskern‘, also das, was die Reformation zur Reformation machte11, mittels einer theologiegeschichtlich-normativen Kriteriologie zu beschreiben versuchen. Die wesentlichen Impulse dieser Forschungs- und Deutungstradition dürften sich der sog. Lutherrenaissance verdanken, deren historiographiegeschichtliche Wirkungen freilich deutlich über die Theologie hinausgingen. War es in der Reformationshistoriographie des späten 19. Jahrhunderts, etwa in einem populären und einflussreichen, im Vergleich mit Rankes Orientierung an der hohen Politik und den Fürsten stärker in der Breite der Gesellschaft ansetzenden Buch wie dem Friedrich von Bezolds12 selbstverständlich, in der seines Erachtens „nur“ in Deutschland bewahrten „alte[n] Glaubenseinfalt und Redlichkeit“, im „Erwachen des deutschen Gewissens“13 gegen die romanische Sittenverderbnis, in der „Gährung unter den niederen Ständen“, die die „lang erwartete Stimme des Befreiers“ elektrisiert aufnahmen, in der „Seelenangst“, „Glaubenskraft“ und dem „bittern Priesterhaß des kleinen Mannes“ die maßgeblichen Bedingungsfaktoren der „größte[n] Tat der neueren Geschichte“14 zu sehen, die der „deutsche Bauernsohn“, ein „Heros des Willens, gestählt im Verzweiflungskampf mit dem eigenen Herzen“15, vollbrachte, so setzte mit der nicht zuletzt durch Troeltsch provozierten Debatte über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der Moderne bzw. über die

11   Vgl. etwa Volker Leppins Frage: Wie reformatorisch war die Reformation? In: ZThK 99, 2002, S.  162–176. 12   Friedrich von Bezold, Geschichte der deutschen Reformation [Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen 3, 1. Th.], Berlin 1886. 13   Bezold, a.a.O., S.  17. 14   A.a.O., S.  244. 15   A.a.O., S.  245. Dass es mühelos möglich wäre, zu entsprechenden Bezold-Zitaten solche Heinrich von Treitschkes beizugesellen, sei nachdrücklich betont. Zu Treitschke vgl. nur: Hartmut Lehmann, „Er ist wir selber: der ewige Deutsche“. Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke, in: Gerd Krumeich/Ders. (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert [VMPIG 162], Göttingen 2000, S.  91–103.

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§  1  Prolegomena

Ursachen der Reformation16 ein weit über die evangelische Theologie hinaus ausstrahlender Theologisierungsschub ein, der nicht in einer tief in der protestantischen Deutungstradition des Mittelalters wurzelnden Verfallsgeschichte17, sondern in der „Religion Luthers“18, in seinem „reformatorischen Erlebnis“19, vor allem aber in der „Rechtfertigungslehre“20 die maßgebliche Ursache der Reformation sah. 16  Zuletzt: Christoph Strohm, Nach hundert Jahren. Ernst Troeltsch, Der Protestantismus und die Entstehung der modernen Welt, in: ARG 99, 2008, S.  6 –35; vgl. die Einleitung von Rendtorff und Pautler in Troeltsch, Schriften, wie Anm.  68. Dass die Troeltsch-Debatte über die universalhistorische Bedeutung der Reformation außerordentlich breit und implizit auch als Diskurs über die historische Bedeutung der Aufklärung geführt wurde, war einem produktiven Historiker wie Georg von Below sehr bewusst, vgl.: Die Ursachen der Reformation. Mit einer Beilage: Die Reformation und der Beginn der Neuzeit [Historische Bibliothek 38], München 1917, bes. S.  6 ff. Im Kontext dieser Debatte erschienen eine Reihe von Abhandlungen unter diesem Titel: „Die Ursachen der Reformation“, vgl. Heinrich Boehmer, Die Ursachen der Reformation, in: ThLBl 38, 1917, Sp.  113–123; Johannes Haller, Die Ursachen der Reformation, Tübingen 1917; zum Kontext: Gottfried Maron, Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, in: ZKG 93, 1982, S.  177–221, bes. 201 f. Below (a.a.O., S.  8 mit Anm.  1) hat im Anschluss an Friedrich Loofs (Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit, Sonderabzug aus den „Deutschen evangelischen Blättern“ 1907, H. 8, Halle 1907, bes. S.  20 mit Anm.  1) auf die in der Aufklärungszeit selbst verwurzelten Urteile über Luther, die Troeltsch in gewissem Sinne präludierten, hingewiesen. Vgl. zu der Debatte auch noch: Heinrich Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig, Berlin 41917, S.  230–244; Gustav Wolf, Quellenkunde der deutschen Reformationsgeschichte, Bd.  2, Teil  1, Gotha 1916, ND Hildesheim 1988, S.  238–240; Hermann Schuster, Rez. von Paul Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart Teil  1, Abt.4, 1 und 2, 21909, in: ThLZ 35, 1910, Sp.  513– 517 (zu Troeltsch 515 f.); Hans Preuß, Rez. zum 1. Band von Otto Scheel, Luther, 1916, in: ThLBl 37, 1916, Sp.  91–97, hier: 92 f. (zur Verhältnisbestimmung von Mittelalter und Reformation, insbesondere zur Nähe von Scheels differenziertem Bild des Mittelalters zur liberalprotestantischen Nivellierung des Abstandes von Spätmittelalter und Reformation). In einer klugen Rezension von Ernst Troeltschs Schrift „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ (München, Berlin 1906, s. Anm.  68) wies der Neutestamentler Ernst von Dobschütz darauf hin, dass dessen Rede vom Altprotestantismus – statt des historiographischen Begriffs „Reformation“ – folgenreich sei: „Indem Tr[oeltsch] immer von Altprotestantismus statt von der Reformation redet, setzt er eine Auswirkung an die Stelle der wirksamen Kraft, von der es durchaus fraglich ist, ob sie die genuine Auswirkung sei. Die Geschichte kennt genug der Fälle, wo bahnbrechende Anstöße erst nach Jahrhunderten sich ausgewirkt haben [.  .  .].“ AKuG 6, 1908, S.  359 f., hier: 360. In der Perspektive dieses methodischen Einwandes ist auch Holls Kritik an Troeltsch (s. Anm.  18) zu deuten. 17  Vgl. Hartmut Boockmann, Das 15. Jahrhundert und die Reformation, in: Ders., Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze, hg. v. Dieter Neitzert, Uwe Israel und Ernst Schubert, München 2000, S.  65–80; zur historiographischen Tradition des Luthertums des konfessionellen Zeitalters grundlegend: Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 [SuR N. R. 37], Tübingen 2007, bes. S.  294 ff.; passim; zu den verfallsgeschichtlichen Deutungstraditionen in der mittelalterlichen Ketzergeschichte (insbesondere der Katharer, Waldenser und Joachimiten) vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Defecit Ecclesia. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters [VIEG 213], Mainz 2006 (Göttingen 2009), S.  91 ff.; 197 ff.; 249 ff. 18   Vgl. Holls Polemik gegen Hallers auf die Fokussierung auf das „reformatorische Erlebnis“ Luthers als der „letzte[n] Ursache der Reformation“ (Boehmer, Ursachen, wie Anm.  16, Sp.  115) bei Boehmer gerichtete Feststellung: „Es wäre in der Tat schwer zu begreifen, daß eine theologische Kontroversfrage, über die sogar gelehrte Fachleute bis heute nicht ganz einig sind [sc. die sog. Rechtfertigungslehre], die Massen in Bewegung gebracht haben sollte.“ (Haller, Ursachen, wie Anm.  17,

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Dass diese für die intellektuelle und kulturelle Selbstbehauptung des deutschen Protestantismus wegweisend gewordene ‚kopernikanische Wende‘ der Reformationsdeutung, die fortan nicht mehr primär in der Negativität des Abgelehnten – der ‚Dekadenz‘ des späten Mittelalters – und in trotzigen nationalen Motiven, sondern in der Positivität einer theologischen Lehre bzw. eines religiösen Erlebnisses den identitätsbildenden Kern der von Luther ausgehenden Reformation identifizierte, im hi­ storischen Kontext der krisenhaften Kriegs- und der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs21 mehr und mehr an Einfluss gewann, dürfte kaum zufällig gewesen sein und 19

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S.  42): „Wenn der heutige Geschichtsforscher nicht mehr begreift, daß eine ins einzelne ausgeführte Lehre – die sich aber eben auf das Verhältnis des Menschen zu diesem Jenseits bezog – die Massen hätte in Bewegung setzen sollen, so beweist er damit nur, wie fremd ihm innerlich die ganze Zeit geworden ist.“ Karl Holl, Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.  2 : Der Westen, Tübingen 1928, S.  525– 557, hier: 534; vgl. 526. Auch die Bemerkung a.a.O., S.  534 Anm.  1: „Es ist bezeichnend für den heutigen Forscher, daß er die Erkenntnis dieses Zusammenhangs von Buße und Rechtfertigung [sc. wie sie in der ersten der 95 Thesen enthalten sei] für ‚Theologie‘ hält; für die Leute von damals war das nicht Theologie, sondern Religion.“ Sicher hat zu der am Ende fruchtlosen Opposition zu Haller auch beigetragen, dass dieser seine m. E. richtige These, die Reformation sei zu einer „Massenbewegung“ geworden, weil „sie sofort auf praktische Ziele losgeht“ (Haller, a.a.O., S.  42; Kursivierung im Original gesperrt), mit der falschen Alternative verband: „Luthers Auftreten zündete nicht darum, weil er die Lehre Roms von Ablaß und Gnade bestritt und bekämpfte, sondern weil er sich gegen die Macht der Kirche erhob.“ (Ebd.) Der Kampf gegen den Ablass war eben ein Sachverhalt, an dem sich die untrennbare Verbindung von Lehre, religiösem Vollzug und kirchlicher Autorität erwies und eine Dissoziation in Theorie und Praxis unmöglich wurde. Eine Trennung von Theologie und Religion aber hätte die Wirkungen der Ablasskritik Luthers zu restringieren erlaubt. Hallers Nachweis einer ‚reformatorischen Rechtfertigungslehre‘ in Faber Stapulensis’ Römerbriefkommentar von 1512 (a.a.O., S.  42 zum sola fide; s. unten §  8, Anm.  157) diente der Untermauerung seiner These, dass die abstrakte Lehre als solche eben keine mit der Reformation vergleichbaren Wirkungen gezeitigt habe. 19   Boehmer, Ursachen, wie Anm.  16, Sp.  115. Boehmer formulierte – im Reformationsjubeljahr 1917 durchaus programmatisch und normativ –: „In der zentralen Stellung, welche die Rechtfertigungslehre in der Theologie aller evangelischen Kirchen und Denominationen einnimmt, spiegelt sich somit noch heute der geschichtliche Zusammenhang der evangelischen Verkündigung mit dem reformatorischen Erlebnis Martin Luthers.“ Ebd. 20  Vgl. Below, Ursachen, wie Anm.  16, S.  6 –8. 21   Dass Holls Luther allerdings von nationalen Momenten vielleicht doch weniger frei ist, als Johannes Wallmann (Karl Holl und seine Schule, ZThK.B 4, 1978: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, S.  1–33, hier: 32) herausgestellt hat, habe ich bereits früher zu zeigen versucht (Thomas Kaufmann, „Anpassung“ als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des ‚Dritten Reiches‘, in: Ders./Harry Oelke [Hg.], Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘ [Veröff­ entlichungen der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21], Gütersloh 2002, S.  122–272, hier: 175 f. mit Anm.  273; 217 mit Anm.  509). Ulrich Barths berechtigter Widerspruch gegen Wallmanns These, Holls Lutherinterpretation sei in einem engen Zusammenhang mit der Krisenerfahrung des Krieges zu sehen (vgl. Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin, New York 1992, S.  18 f. Anm.  4 ; dazu auch Assel, Aufbruch, s. u., S.  59 ff.; 112 ff., dessen Darstellungsmethode allerdings der Erforschung von Interferenzen zwischen der Lutherinterpretation und der Zeiterfahrung wenig günstig ist), ist in Bezug auf die historiographiegeschichtlichen Wirkungen der ‚Lutherre­ naissance‘ insofern unerheblich, als diese vornehmlich im Umkreis des Jahres 1917 und in der Nachkriegszeit einsetzten. Der brillante Aufsatz von Friedrich Loofs (Luthers Stellung, wie

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§  1  Prolegomena

zum Teil auch die Nachhaltigkeit ihrer Wirkungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erklären. Die Lebhaftigkeit der in inhaltlicher Hinsicht zumeist mit der Rechtfertigungslehre identifizierten oder doch in Verbindung gebrachten Debatte um die „reformatorische Entdeckung“ Luthers22 wird – ähnlich der auffälligen polymorphkontroversen Resonanz, die der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vor allem im deutschen Protestantismus zukam23 – als mentalitätsgeschichtliche Fernwirkung jener Konzentration auf die Rechtfertigungslehre anzusprechen sein, die von der „Lutherrenaissance“ und der nicht immer sichtbar gemachten Aufnahme, Weiterführung und Transformation ihrer Impulse in der Dialektischen Theologie, insbesondere bei Iwand und Wolf24, ausging. Auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft wurde es nicht unüblich, in der Rechtfertigungslehre Luthers das entscheidende Motiv, den impulsgebenden AuslöAnm.  16; vgl. Christian Muth, Der Geist der Zeiten und das Evangelium der Reformation. Friedrich Loofs’ Beitrag zur protestantischen Erinnerungskultur, in: Jörg Ulrich [Hg.], Friedrich Loofs in Halle [AKG 114], Berlin 2010, S.  145–184, hier: 158 ff.) wäre meines Erachtens in die Frage der Genese der sog. Lutherrenaissance (s. dazu die grundlegende Studie von Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance [FSÖTh 72], Göttingen 1994) einzubeziehen. Zu Erich Seebergs eigenwilliger historischer Konstruktion der Lutherrenaissance und ihrer Überbietung in der von ihm ausgerufenen „Lutherrevolution“ s. Kaufmann, „Anpassung“, s. o., S.  206 ff. 22   Die wichtigsten Beiträge zur Debatte sind in den von Bernhard Lohse hg. Sammelbänden dokumentiert: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther [WdF 123], Darmstadt 1968; Ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen [VIEG.B 25], Stuttgart 1988; eine vorläufige Analyse der Debatte stellt dar: Thomas Kaufmann, Die Frage nach dem reformatorischen Durchbruch. Ernst Bizers Lutherbuch und seine Bedeutung, in: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick [VIEG.B 62], Mainz 2004, S.  71–98. 23   Vgl. nur: Johannes Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation [utb 1355], Tübingen 52000, S.  320 ff.; ZThK.B 10, 1998: Zur Rechtfertigungslehre; Friedrich Hauschildt/Udo Hahn/Andreas Siemens (Hg.), Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungs- und Rezeptionsprozesses, Göttingen 2009. 24   Zum Umgang mit Luther in der frühen Dialektischen Theologie vgl. Eberhard Busch, Die Lutherforschung in der dialektischen Theologie, in: Vinke, Lutherforschung, wie Anm.  22, S.  51– 70; zu Iwand vgl. aus der Fülle der Literatur nur: Frank Pritzke, Rechtfertigungslehre und Chri­ stologie. Eine Untersuchung zu ihrem Zusammenhang in der dogmatischen und homiletischen Arbeit und in den Predigten des jungen Iwand [Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 19], Neukirchen-Vluyn 2002, S.  77 ff.; zu Hermann s. auch Assel, Aufbruch, wie Anm.  21, S.  305 ff.; zu Iwand und Hermann vgl. nur: Arnold Wiebel, Rudolf Hermann (1887– 1962) [UnCo 21], Bielefeld 1998, bes. S.  238–252; von Ernst Wolf s. v. a.: Die Rechtfertigungslehre als Mittel und Grenze reformatorischer Theologie (zuerst 1949/50); zuletzt in: Ders., Peregrinatio, Bd.  2, München 1965, S.  11–21. Auch wenn schwerlich zu bestreiten sein dürfte, dass in den dialektischen Interpretationen der Rechtfertigungslehre Luthers gegenüber Holl etwa die Bedeutung der Christologie in der Regel grundlegend aufgewertet wurde, markiert die Zentralstellung, die der Rechtfertigungstheologie bei den Dialektikern und den Anhänger der „Lutherrenaissance“ zukam, doch eine – zumal vor dem Hintergrund der vorangehenden Theologiegeschichte geurteilt – markante Gemeinsamkeit. Hermann Fischer formuliert: „In dem Interesse an der Theologie Luthers berührt sich diese Strömung [sc. die Lutherrenaissance] mit der frühen dialektischen Theologie, in der näheren Gestalt dieses Interesses freilich und vollends in der auf das nationale Geschick Deutschlands bezogenen Aktualisierung Luthers tritt sie zu ihr in einen klaren Gegensatz.“ Prote­ stantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S.  45.

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ser oder doch einen maßgeblichen Faktor bei der Entstehung der Reformation bzw. der reformatorischen Bewegung zu sehen.25 In der wissenschaftsgeschichtlich epochalen Reformationsgeschichte des katholischen Kirchenhistorikers Joseph Lortz 25   Vgl. etwa Gerhard Ritter: „Es gehört zu den historisch bedeutsamsten Wesensmerkmalen der deutschen Reformation, dass ihr Ursprung nicht in irgendwelchen öffentlichen Ärgernissen, sondern in der weltfremden Abgeschlossenheit der Klosterzelle, in den höchstpersönlichen Gewissensnöten einer einsam mit ihrem Gott ringenden Menschenseele zu suchen ist.“ Den Grund für das historische Bedeutsamwerden der Theologie Luthers sieht Ritter darin, dass dieser religiöse Kämpfer seine Gewissenstat „nicht in der Form eines rein privaten ‚Erlebens‘, sondern in fortwährender Auseinandersetzung mit dem theologischen Erbe seiner Zeit vollzogen“ habe. Die Neugestaltung Europas im 16. Jahrhundert, Berlin 1950, S.  74; 76. Ritters einflussreiches Lutherbuch, das auch in seinen verschiedenen Überarbeitungen (vgl. Michael Matthiesen, Gerhard Ritter. Studien zu Leben und Werk bis 1933 [Deutsche Hochschulschriften 451], 2 Bde., Egelsbach u. a. 1993, S.  376–498; Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert [Schriften des Bundesarchivs 58], Düsseldorf 2002, bes. S.  196 ff.) die tiefgreifende Prägung durch Holls Lutherinterpretation nicht verlor, hatte die Zustimmung Holls gefunden (vgl. Postkarte Holls an Ritter vom 1.  5. 1925 [BA Koblenz N 1116/117]; Cornelißen, a.a.O., S.  208 Anm.  174) und den Anlass für die von Heinrich Bornkamm betriebene Gießener theologische Ehrenpromotion des Freiburger Historikers (s. dazu die Hinweise in: Thomas Kaufmann, Heinrich Bornkamm als zweiter und erster Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte [1931–1976], in: Luise Schorn-Schütte [Hg.], 125 Jahre Verein für Reformationsgeschichte [SVRG 200], Gütersloh 2008, S.  100–158, hier: 117 mit Anm.  87) gebildet; vgl. auch Thomas Kaufmann, Die deutsche Reformationsforschung seit dem Zweiten Weltkrieg, in: ARG 100, 2009, S.  15–47, bes. 16. Instruktiv ist auch die Sicht Paul Joachimsens, der das historiographische Problem einer sachgemäßen Verhältnisbestimmung der ‚initia Lutheri‘ und der ‚initia reformationis‘ (vgl. dazu Heiko A. Oberman, Reformation: Epoche oder Episode, in: ARG 68, 1977, S.  56–111, hier bes. 73 f.) letztlich auf Luthers großes Selbstzeugnis von 1545 zurückführt und unter der Voraussetzung, dass dieses für die Frühzeit zutreffend sei, folgert: „Wäre dem [sc. dass Luthers theologische Erkenntnis ein Moment seines Kampfes gegen die Papstkirche gewesen sei] wirklich so, dann wäre Luther durch den Gegensatz zur Papstkirche, also durch eine Tatsache der äußeren Erfahrung zum Reformator geworden, ebenso also wie Wiclif und Hus. Das ist nicht so gewesen. Luther war fertig, als er in den Kampf um den Ablass eintrat. [.  .  .] Luther identifiziert seine Entwicklung zum Reformator mit der Entwicklung der Reformation. Diese beginnt allerdings 1517, jene viel früher, sicherlich schon im Erfurter Kloster.“ Paul Joachimsen, Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte. In vollständiger Fassung erstmals aus dem Nachlass hg. von Otto Schottenloher, München 1951, S.  25 f. Für das Werden des Reformators Luther war die Rechtfertigungslehre entscheidend (s. Joachimsen, a.a.O., S.  30 f.), für die Entstehung der Reformation die im Ablassstreit beginnende Auseinandersetzung mit der Papstkirche. Zu Joachimsen und seiner Reformationsdeutung vgl. nur: Notker Hammerstein, Reformation und deutsche Modernität – Paul Joachimsen, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft [ZHF, Beih. 23], Berlin 1999, S.  25–44. In der Darstellung Erich Hassingers spielt die zur Rechtfertigungslehre führende „innere Entwicklung“ (S.  126) Luthers zwar eine gewichtige Rolle. Gleichwohl erscheint der in die Reformation mündende Ablassstreit von Luthers Seite aus von jeder „revolutionäre[n] Absicht“ (S.  127) frei. In einen Kausalnexus von Ursache und Wirkung kann man das Interesse an der Rechtfertigungslehre bei Hassinger nicht bringen; für ihn „bleibt es doch letztlich ein Geheimnis, daß ein theologisches Disputationsprogramm binnen kurzem derartiges Aufsehen erregen konnte, wie es die 95 Thesen verursachten“ (S.  128). Die hochgradige Kontingenz der Reformation wird in folgendem Satz besonders schön deutlich: „Eingetreten ist dann aber etwas völlig Unerwartetes: daß ein Mönch und Professor der Theologie, von einer ganz unirdischen, auf das ewige Heil gerichtete Frage ausgehend, alsbald eine umfassende Neuordnung des ganzen Lebens entwarf [.  .  .].“ (S.  119). In dieser Perspektive wurzeln die Reformationsvor-

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§  1  Prolegomena

kam dem „inneren Durchbruch“26 Luthers, seiner „Deutung der Gerechtigkeit Gottes als der uns gerechtmachenden Gnade“, die freilich in inhaltlicher Hinsicht ganz der exegetischen Lehrmeinung des Mittelalters entsprochen habe, aber im Sinne des „Reformatorisch-Häretischen“27 insofern „neu“ gewesen sei, als Luther sie nicht – „wie die mittelalterlichen katholischen Exegeten aus einer katholischen Gesamthaltung“ heraus verstanden habe –, sondern im Sinne einer „Vernichtung der Willenskräfte des Menschen“ und der „Statuierung des Menschen als Nur-Sünde“28 deutete, die Qualität eines im subjektiven Erleben des Reformators gründenden, gleichwohl entscheidenden Verursachungsmoments der Reformation zu: „Die deutsche Reformation ist zu einem Großteil Martin Luther.“29 Bis heute ist es üblich, zwischen der Rechtfertigungslehre Luthers und dem Beginn der Reformation bzw. den Anfängen der reformatorischen Bewegung einen sehr unmittelbaren, gleichsam kausal-genetischen Zusammenhang zu sehen, mithin in der genuinen reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft jenen ursächlichen Ausgangsimpuls zu identifizieren, der bestimmte reformatorische Wirkungen zeitigte und die Vielfalt der reformatorischen Prozesse verband bzw. integrierte. In bemerkenswerter Eintracht affirmieren Karl Holl und Bernd Moeller die von Johannes Haller30 ab­ gewiesene These, es sei Luthers Rechtfertigungslehre gewesen, die „die Massen in Bewegung“31 gebracht habe, ohne dass allerdings an den ja nicht eben zahlreichen Phänomenen ‚massenwirksamer‘ Mobilisierung in der frühen Reformationszeit in concreto aufgewiesen würde, dass und inwiefern hier rezeptionsgeschichtliche Verbindungen zur „Rechtfertigungslehre“ Luthers vorliegen. Richtete sich Holl gegen Hallers These, Luthers Auftreten gegen die Macht der Kirche habe ihm entscheidende Zustimmung eingebracht32, so wandte sie Moeller ganz analog gegen den von Hans-Jürgen Goertz als Motiv und Stimulanz reformatorischer Entwicklungen in Anschlag gebrachten „Antiklerikalismus“33.

stellungen Luthers dann doch unstrittig in der Rechtfertigungslehre. Die angeführten Zitate aus: Erich Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300–1600, Braunschweig 21966. 26   Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Erster Band, Freiburg/B. 21941, S.  180. Zu Lortz vgl. DBETh 1, 2005, S.  868 f. 27   Lortz, Die Reformation, wie Anm.  26, S.  183. 28   A.a.O., S.  183. 29   A.a.O., S.  147. 30   Haller, Ursachen, wie Anm.  16, S.  42. 31   Holl, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  18, S.  534. Moeller formuliert unter explizitem Rekurs auf Haller: „Ich scheue nicht vor der These zurück, es sei Luthers ‚Rechtfertigungslehre‘ gewesen, die ‚die Massen in Bewegung gebracht‘ hat (um nochmals Haller, wenn auch gegen den Strich, zu zitieren).“ Bernd Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Berndt Hamm/ ders./Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien, Göttingen 1995, S.  9 –29, hier: 27. 32   Holl, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  18, S.  534 Anm.  1; vgl. Haller, Ursachen, wie Anm.  16, bes. S.  42; vgl. 30 f. 33   Moeller, Rezeption, wie Anm.  31, S.  26 Anm.  33; vgl. ansonsten vor allem: Ders., LutherRezeption, Göttingen 2001; vgl. auch: Hans-Jürgen Goertz, Pfaffenhaus und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987; ders., Antiklerikalis-

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Die Rechtfertigungslehre Luthers erfüllt bei Holl und Moeller in argumentationslogischer Hinsicht eine normative Funktion: Sie stellt sicher, dass jene Phänomene als „reformatorisch“ zu bewerten sind, die sich durch ihren Bezug zur Rechtfertigungslehre Luthers als reformatorisch erweisen lassen. Die Rechtfertigungslehre sowie die aus ihr ableitbaren doktrinalen und praktischen Elemente34 bildeten nach einem einflussreichen Deutungsstrang auch der neueren und neuesten Forschung den maßgeblichen Gehalt der frühreformatorischen Predigttätigkeit35 und der Flugschriftenpublizistik 36, ja die hierin nachweisbare Luther-Rezeption stellte demnach gleichsam den Vermittlungs-, Kommunikations- und Wirkungszusammenhang zwischen der Rechtfertigungslehre des Reformators und der „Reformation“ her. Im Nachweis dieser rechtfertigungstheologisch relevanten Rezeptionsprozesse in der Flugschriftenliteratur besteht etwa gegenüber der Position Holls ein substanzieller methodischer Plausibilitätsgewinn, da sich Holl selbst im Wesentlichen darauf beschränkte, die „Kulturbedeutung der Reformation“37 im Ausgang von Wirkungen Luthers selbst zu beschreiben, die übrige reformatorische Publizistik aber weitgehend ignorierte. Auch Berndt Hamm hat der reformatorischen Rechtfertigungslehre38 Luthers, wie sie in seinen frühesten, bis zum Wormser Reichstag erschienenen Schriften formuliert worden war, eine basale Bedeutung für die gesamte reformatorische Entwicklung in allen ihren unterschiedlichen Richtungen zugeschrieben: „Alle entscheidenden Komponenten, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für das Profil eines reformatorischen [d. h. „gegenüber dem mittelalterlichen Gefüge von Kirche, Theologie und Frömmigkeit systemsprengend“ gewordenen], evangelischen oder protestantischen und nicht nur lutherischen Rechtfertigungs- und Heilsverständnisses im systemverändernden Gegensatz zur altgläubigen Religiosität charakteristisch waren, finden sich bereits in den frühen Druckschriften Luthers [.  .  .] und haben durch den hohen Wirkungsgrad der Publikationstätigkeit Luthers dieses Profil mus und Reformation [Kleine Reihe V&R 1571], Göttingen 1995; sodann: Ders., Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt [utb 2606], Paderborn 2004, bes. S.  80 ff. 34   Sie unter dem Gesichtspunkt des Gemeinreformatorischen zusammengestellt und analysiert zu haben, ist das besondere Verdienst Berndt Hamms, vgl. bes. dessen Beitrag: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders./Moeller/Wendebourg, Reformationstheorien, wie Anm.  31, S.  57–127; vgl. auch ders., Der frühe Luther, wie Anm.  38, S.  276. 35   Vgl. vor allem Bernd Moeller/Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 [AAWG 3/220], Göttingen 1996 (s. dazu auch meine Rezension in: GGA 251, 1999, S.  229–249). 36   Vgl. bes. Thomas Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–22 [SuR N. R. 6], Tübingen 1996. 37  Vgl. Holls gleichnamigen Aufsatz, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.  1, Luther, Tübingen 2/31923, S.  468–543. 38   Berndt Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? In: ZThK 83, 1986, S.  1–38; aus der Fülle weiterer einschlägiger Texte Hamms sei noch besonders verwiesen auf: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010.

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nachhaltig geformt.“39 Selbst da, wo der Lehre vom allgemeinen Priestertum der Glaubenden und Getauften die zentrale Bedeutung bei der „entscheidenden reformationshistorischen Frage“ zuerkannt wird, „wie aus dieser theologischen Entwicklung [Luthers] ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang werden konnte“40, geschieht dies unter ausdrücklicher Betonung des rechtfertigungstheologischen Gehaltes dieses Theologumenons.41 Im Sinne dieser Deutung des Priestertums aller Gläubigen als Applikation und Aktualisierung der Rechtfertigungslehre Luthers hatte auch der bekanntlich epochale Erfolg der reformatorischen Verkündigung in den Städten plausibilisiert werden können: Mit dieser Lehre gab Luther der Stadt „eine ganz neue und vertiefte Begründung ihrer Existenz, indem das Grundgesetz der Genossenschaft, die prinzipielle Gleichheit und Gleichberechtigung der Genossen, theo­ logisch verankert wurde.“42 Die Vermittlung zwischen dem für die Reformation in der Vielfalt ihrer Erscheinungen grundlegenden Rechtfertigungsverständnis Luthers, das Sündenvergebung und Heil exklusiv in Gottes schenkender Barmherzigkeit und in dem diese empfangenden Glauben begründete43, und den konkreten Handlungsvorgängen, Konflikten und Entscheidungsprozessen in Stadt und Land erfolgte nach Maßgabe dieser Konzeption vor allem durch Predigten und Druckschriften. Im Kern wäre die Reformation demnach als Aufnahme, Weitergabe, Aneignung und durchaus lokal- und gruppenspezifische Adaption von schriftlichen oder mündlichen Kommunikationsakten zu beschreiben, die substanzielle Gehalte Lutherscher Rechtfertigungstheologie übermittelten. Die großen Stärken dieses Modells sind nicht zu übersehen: Es integriert Luthers frühe, sich publizistisch geltend machende Theologie und die vor allem im städtischen Raum nachweisbaren Rezeptionsprozesse innerhalb eines komplexen Kommunikationsprozesses; 44 es gewährleistet zudem, diesen Vorgang, mithin die Refor39   Hamm, Der frühe Luther, wie Anm.  38, S.  275; die im Haupttext in Klammern zitierte Erläuterung findet sich ebd., Anm.  56. 40   Volker Leppin, Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten [SSAW. PH 140/4], Stuttgart, Leipzig 2008, S.  32; vgl. der Sache nach auch schon Leppin, Wie reformatorisch, wie Anm.  11. 41   „In dem bei ihm [sc. Luther] jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, zum Priester oder Bischof geweiht ist, gelangt er auf der Basis der Rechtfertigung, die keine Voraussetzung von Seiten des Menschen benennt, zu einer Lehre von einem tatsächlich allgemeinen Priestertum, dessen einzige Voraussetzung die gnädige Zuwendung Gottes ist.“ Leppin, Wittenberger Reformation, wie Anm.  40, S.  33. 42   Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation. Neue Ausgabe. Mit einer Einleitung hg. von Thomas Kaufmann, Tübingen 2011, S.  83. 43   Vgl. etwa Berndt Hamm, Die Emergenz der Reformation, in: Ders./Michael Welker, Die Reformation. Potenziale der Freiheit, Tübingen 2008, S.  1–28, bes. 11 f.; in seiner Substanz ist dieses reformatorische Rechtfertigungsverständnis nach Hamm bereits in den 95 Thesen vorhanden bzw. liegt ihnen zugrunde, s. Berndt Hamm, Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt. Das Freiheitspotenzial der 95 Thesen vom 31. Oktober 1517, in: A.a.O., S.  29–66; ders., Der frühe Luther, wie Anm.  38, S.  90 ff. 44  Vgl. Bernd Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: Ders., Luther-

2.  Zur Frage der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation

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mation, als „Einheit“ zu verstehen. Diese Einheit der Reformation wird durch einen bestimmten theologisch-religiösen Kerngehalt – die bedingungslose Sündenvergebung Gottes durch den Glauben – 45 und zugleich durch den medialen Prozess seiner Verbreitung verbürgt. In der skizzierten Form konnte das in der protestantischen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts tief verwurzelte, auf die Rechtfertigungslehre zentrierte Verständnis der Reformation einen Anschluss an sozial- und kommunikationsgeschichtliche Forschungsperspektiven gewinnen. Durch die Fokussierung auf den publizistisch zentralen Vorgang der Luther-Rezeption46 und das reformatorische Rechtfertigungsverständnis war zugleich das maßgebliche Moment des „Systemsprengenden“47 bzw. des reformatorischen „Umbruchs“48 konstituiert, ohne die ‚Identität‘ der Reformation durch den Aufweis zahlreicher Kontinuitätsmomente, die sie in kultureller, frömmigkeits-, sozial-, bildungs-, theologie-, mentalitäts- und kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht mit dem späten Mittelalter verband, sub­ stanziell zu gefährden. Die seit den 1960er Jahren von Oberman49, Moeller50 und anderen entwickelten, zum Teil an Rückert51, vor allem aber an die ältere allgemeinhistorische Forschung Rezeption, wie Anm.  33, S.  73–90; Berndt Hamm, Die Reformation als Medienereignis, in: JBTh 11, 1996, S.  137–166. 45  Vgl. Hamms zusammenfassende Charakterisierung „des spätmittelalterlich-katholischen Gnaden- und Rechtfertigungsverständnisses“, das als ‚gradualistisches‘ folgendermaßen zu charakterisieren sei: „daß die letztgültige Gerechtsprechung des Menschen im Jüngsten Gericht nicht bedingungslos geschieht, sondern als notwendige Bedingung die Gerechtmachung des Sünders voraussetzt, die sich in Tugenden und Werken prozeßhaft und stufenweise aufsteigend entfaltet.“ Hamm, Einheit und Vielfalt, wie Anm.  34, S.  69. 46   Wegweisend in dieser Hinsicht: Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: Ders., Luther-Rezeption, wie Anm.  33, S.  15–41; die quantitativen Befunde zur herausragenden Bedeutung der Lutherschen Druckproduktion in der frühen Reformationszeit haben auf je ihre Weise bestätigt: Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, bes. S.  26 ff. und Mark U. Edwards Jr., Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley, Los Angeles 1994, bes. S.  14 ff. 47   Vgl. bes. Hamm, Einheit und Vielfalt, wie Anm.  34, S.  64 ff.; den Versuch einer periodisierungskonzeptionellen Synthese stellt dar: Ders., Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, S.  7–82; Ders., Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zur Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26, 1999, S.  163–202; Ders., The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety, Essays hg. von Robert G. Bast [SHCT 110], Leiden u. a. 2004; Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hg.), Normative Zentrierung / Normative Centering [Medieval to Early Modern Culture 2], Frankfurt/M. u. a. 2002. 48  Vgl. Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998. 49   Wegweisend vor allem: Heiko A. Oberman, Spätmittelalter und Reformation. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965; eine erste instruktive historiographiegeschichtliche Würdigung bietet Manfred Schulze im Nachwort zu dem posthum erschienenen, testimoniale Züge tragenden Buch Obermans: Zwei Reformationen, wie Anm.  3, S.  235 ff. Durch sein Insistieren auf einer pluralistischen Verwendung des Reformationsbegriffs nimmt Oberman freilich eine auch sonst im angloamerikanischen Raum (s. o. Anm.  3) verbreitete Position ein, die der Dominierung des Reformationsbegriffs durch Luther entgegensteht. Im Modus der rezeptionsgeschichtlichen Analyse des bekanntlich auch wesentlich von Luther geprägten literarischen Frühwerks Calvins

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§  1  Prolegomena

anknüpfenden, auch in Auseinandersetzung mit der seit Johannes Janssen52 florierenden katholischen, die Stabilität, Fruchtbarkeit und Blüte der spätmittelalterlichen Kultur betonenden Forschung ausgearbeiteten Perspektiven, die die traditionelle protestantische Verfallstheorie auf das späte Mittelalter definitiv verabschiedeten, sind in der neueren Spätmittelalter- und Reformationsforschung weiterverfolgt und differenziert, aber nicht grundsätzlich korrigiert worden. Dass man die Reformation nur im Zusammenhang damit verstehen kann, was sie mit der in sich höchst pluralen Frömmigkeit, Theologie und Kultur des Spätmittelalters verbindet und von dieser trennt, kann als eine Art opinio communis der neueren Forschung gelten.53 Im reformationshistorischen Narrativ des späteren 20. Jahrhunderts ist das in der Rechtfertigungslehre theologisch verdichtete religiöse Erlebnis Luthers und seine gesellschaftliche Wirkung als Plausibilisierungsmoment der Reformation funktionsanalog an jene Stelle getreten, die in der älteren, protestantisch geprägten Reformationshistoriographie der Verfalls- oder der „Pulverfasstheorie“54 zugekommen war. 50

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habe ich diesem Ansatz widersprochen: Thomas Kaufmann, Luther und Calvin – eine Reformation, in: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann/Olaf Mörke/Luise Schorn-Schütte (Hg.), Wege der Neuzeit. FS für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag [Historische Forschungen 85], Berlin 2007, S.  73–96. 50   Einflussreich wurde vor allem der zuerst 1965 erschienene Aufsatz: Bernd Moeller, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, zuletzt in: Ders.: Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  73–85; 304–317. 51   Die wichtigsten Beiträge in: Hanns Rückert, Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Tübingen 1972. 52   Vgl. über ihn außer den in DBETh 1, 2005, S.  708 f. gegebenen Hinweisen: Andreas Holzem, Weltversuchung und Heilsgewißheit. Kirchengeschichte im Katholizismus des 19. Jahrhunderts [MThA 35], Altenberge 1995, bes. S.  180–190. 53  Wenn Andreas Holzem allerdings die neuere Forschungsentwicklung dahingehend zusammenfasst, dass in ihr „die Theologie und die religiöse Kultur der Reformation zum Ergebnis spätmittelalterlicher Formierungsprozesse“ (Katholische Konfessionalisierung – ein Epochenphänomen der Frühneuzeit zwischen Spätmittelalter und Aufklärung, in: Helmut Neuhaus [Hg.], Die Frühe Neuzeit als Epoche [HZ Beih. 49], München 2009, S.  251–289, hier: 254) würden, löst er im Sinne einer ‚linearen‘ Vorstellung auf, was eben nur in der Dialektik von ‚Kontinuität‘ und ‚Umbruch‘ aussagbar ist. Denn Holzems und anderer Sicht der Reformation als Fortführung bestimmter Tendenzen des späten Mittelalters macht doch im Grunde den Reformationsbegriff historiographisch überflüssig, wie dies ja auch einer bestimmten Lesart des Konfessionalisierungskonzepts entspricht (vgl. dazu zuletzt: Kaufmann, Einleitung, in: Moeller, Reichsstadt, wie Anm.  42, S.  1– 38, hier: 34 f. mit Anm.  83). Überdies nivelliert diese Sicht die mit der Exkommunikation Luthers und ihrer Folgen gegebene historische Zäsur; insofern löst sie die komplexe kontextuelle Konstellation des Ereigniszusammenhangs ‚Reformation‘ zugunsten prozessualer Strukturen auf. Die konfessionell katholische Prägung dieser Konzeption dürfte durchsichtig sein. 54   Der kritisch-ironische Begriff stammt von Moeller (Rezeption Luthers, wie Anm.  31, S.  13), der dessen von ihm kritisierten Gehalt in Gestalt eines Zitates von Haller (Ursachen, wie Anm.  16, S.  30 f.) wiedergibt: „Wohl lag der Sprengstoff bereit [sc. um das kirchliche Ancien Régime zu bekämpfen], in ungeheuren Massen. Aber damit die Explosion erfolge, musste einer die Zündschnur fassen und in Brand stecken. Ja, es war alles bereit, Gedanken, Stimmungen, Worte im Überfluss; nur eines fehlte, – die Hauptsache: es fehlte die mutige Tat. Tausende dachten, fühlten, sprachen; den Mut zum Handeln hatte nur einer – Martin Luther.“ Das entscheidende Defizit der Hallerschen Position ist darin zu sehen, dass er Luther als Akteur eines gleichsam präfigurierten, in seinen entscheidenden Elementen – Kirchenkritik, Humanismus, frühmoderne Staatsbildung versus Domi-

3.  Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“

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3.  Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“ Soweit, so gut. In Bezug auf die Deutung der Reformation ist allerdings entscheidend, ob und inwiefern die persistenten Phänomene spätmittelalterlicher religionskultureller Kontinuität – die die Schranken der theologischen Gelehrtenkultur ‚transzendierende‘ „Frömmigkeitstheologie“55 etwa, die auch die Laien einbeziehende Bibelfrömmigkeit56, die laikalen Bildungsprozesse und sich steigernden Partizipationsbedürfnisse und -möglichkeiten, auch die Momente der Kirchen- und Kleruskritik, die sich verdichtenden Anstrengungen medialer und katechetischer Erschließung und Vermittlung religiöser Lehrgehalte57 u. a. mehr –, deren Bedeutung für das Verständnis der Reformation und ihrer „Voraussetzungen“58 schlechterdings nicht zu bestreiten ist, auf den historischen Ereigniszusammenhang der Jahre ab 1517, den Anfang der Reformation, bezogen werden. Von der methodischen Herausforderung, makrokontextuelle Langzeit- und mikrokontextuelle Ereignisperspektiven, Strukturen des allmählichen, gesellschaftsgeschichtlichen und kulturellen Wandels und Momente und Konstellationen der politischen oder biografischen Kontingenz zu integrieren und sinnvoll aufeinander zu beziehen, kann sich eine der Komplexität und Kontextualität ihres Gegenstandes verpflichtete Reformationsgeschichtsschreibung nicht dispensieren. Manche Provokationen und Aufgeregtheiten bei der periodisierungskonzeptionellen Einordnung der Reformation „zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit“59 bzw. bei der Diskussion über ihren nanz des Kirchentums etc. – bereits vorhandenen Schauspiels deutete, das dann durch Luther anhob: „Aber damit das Stück beginne, musste einer auftreten, den Vorhang ziehen und das Stichwort aussprechen.“ (Haller, a.a.O., S.  30). Reformationskonzeptionell dürfte entscheidend sein, dass das irgendwie mit Luther beginnende ‚Schauspiel‘ Momente des nicht aus seiner ‚Vorgeschichte‘ Erweisbaren oder aus dieser Ableitbaren aufweist und sich auch die dramatis personae in seinem Verlauf veränderten. 55  Grundlegend: Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts [BHTh 65], Tübingen 1982; Ders., Religiosität im späten Mittelalter, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon [SMHR 54], Tübingen 2011; vgl. auch: Gudrun Litz/Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Festschrift für Berndt Hamm [SHCT 124], Leiden, Boston 2005 sowie den von Berndt Hamm und Volker Leppin hg. Sammelband „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther [SuR N. R. 36], Tübingen 2007. 56   S. unten, I, §  3. 57  Instruktiv: Gabriela Signori, Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005, bes. S.  36 ff.; Ruth Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen [Pictura et Poesis 10], Köln, Weimar, Wien 1998, bes. S.  177 ff. Auf einen engen Korrelationszusammenhang zwischen „emphases of late medieval penitential preaching and sixteenth-century Protestant areas“ bzw. auf die Wirkung von „penitential teaching [.  .  .] as a pre-disposing factor in people’s receptivity to the new spiritual teaching“ hat Anne T. Thayer (Penitence, Preaching and the Coming of the Reformation [St. Andrews Studies in Reformation History], Aldershot 2002, S.  141) eindrücklich hingewiesen. 58  Vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  62 ff. 59   Thomas A. Brady (Hg.), Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit [Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 50], München 2001.

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Epochencharakter60 dürften sich methodologisch als Folge der notorisch schwierigen Aufgabe erweisen lassen, longue durée und Ereignis historiographisch sinnvoll zu vermitteln.61 Das die unterschiedlichen Kapitel und Forschungsfelder dieses Buches verbindende Verständnis der Reformation als eines „kontextuellen“ Sachverhaltes speist sich aus meiner in den letzten Jahren gewachsenen Skepsis gegenüber gewissen Einseitigkeiten in den skizzierten Tendenzen der neueren Reformationshistoriographie. Die historische Priorität der theologischen Entwicklung Luthers wurde etwa reformationskonzeptionell als sachliche Prävalenz der Rechtfertigungslehre gegenüber etwaiger Kirchenkritik, sozialer Unruhe etc. aktualisiert und forschungsstrategisch konzeptionalisiert. Angesichts neuerer Forschungen zur vorreformatorischen Ablasskritik62 ist allerdings deutlich geworden, dass die Kirchlichkeit in Deutschland um 1500 so fraglos stabil, so unbestritten valide vielleicht doch nicht war, wie man vielfach vorausgesetzt hat. Ohne die dekadenzgeschichtliche Vision einer allenthalben vitalen vorreformatorischen Gärung restituieren zu wollen, wird man aber doch unbefangen zu fragen haben, ob die religionskulturelle „Gesamtlage um 1500“ nicht differenzierter zu zeichnen ist, als es das „Hohelied, das die neuere Geschichtsschreibung nach der Melodie ‚kein frömmer Land‘ über die Zustände im spätmittelalterlich-vorreformatorischen Deutschland singt“63, nahelegt. Das bedeutet nicht nur, dass man die Spannbreite der frömmigkeitlichen Ausdrucksformen bzw. die „kulturellen Polaritäten“64 zwischen internalisierten bzw. individualisierten und veräußer60   Vgl. dazu nur: Thomas Kaufmann, Die Reformation als Epoche? In: VF 47, 2002, S.  49–63; Ders., Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  20 ff.; Ders., Konfession und Kultur. Luthe­ rischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, S.  7 ff.; Gottfried Seebaß, Die Reformation als Epoche, in: Ehrenpreis u. a., Wege der Neuzeit, wie Anm.  49, S.  21–32; ders., Geschichte des Christentums 3. Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung [ThW 7], Stuttgart 2006, S.  17 ff. In einer jüngst erschienenen Darstellung der Reformationsgeschichte hat Athina Lexutt die Frage der Epochalität der Reformation zum Schlüsselproblem der Darstellung gemacht (Die Reformation. Ein Ereignis macht Epoche, wie Anm.  2), wobei ihres Erachtens Luthers „Erkenntnis durchaus als Auslöser der Epoche gelten muss“ (S.  23). 61  In dem von Bernhard Jussen und Craig Koslofsky hg. Buch: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 [VMPIG 145], Göttingen 1999, ist eine solche Vermittlung gerade nicht versucht, sondern ein umfassender, in einem breiten Zeitstreifen angesiedelter Prozess kultureller Transformationen untersucht worden. Die Folge kann nur in einer Äquivokation des Reformationsbegriffs bestehen. 62   Wilhelm Ernst Winterhager, Ablaßkritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: ARG 90, 1999, S.  6 –71. 63   Winterhager, Ablaßkritik, wie Anm.  62, S.  63; vgl. dazu auch meinen Beitrag: Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Johanna Haberer/Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation [SMHR], Tübingen 2012, S.  11–43. In Moellers Sicht der Frömmigkeit um 1500 (s. Anm.  50) wirken – insbesondere was die Darstellung der Deutschen als eines „kirchenfromme[n] Volk[s]“ angeht, Deutungs- und Wertungsmotive Willy Andreas’ (Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 61959, S.  201) nach. 64   Leppin, Wittenberger Reformation, wie Anm.  40, S.  6 ff.

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lichten bzw. quantifizierten Momenten der Frömmigkeit, die – soweit ich sehe – spätestens seit Huizingas „Herbst des Mittelalters“65 im Blick der Forschung sind, stark zu akzentuieren hat, sondern auch die innere Pluralität des spätmittelalterlichen Christentums, die Spannungen zwischen laikalen Heilserwartungen und sakralin­ stitutionellen Interessen, die Dissonanzen zwischen lokalen kirchlichen Identitäten und den Ansprüchen etwa der römischen Kapitale, die Diskrepanzen und Konkurrenzen zwischen Ordensgeistlichkeit und Weltklerus und innerhalb derselben, die Gegensätze zwischen spirituellen und juristischen, konziliaristischen und papalistischen Ekklesiologien, die Offenheit und Ungeklärtheit der normativen Geltungsansprüche eines Schriftprinzips im Verhältnis zum Traditionsprinzip und auch die Bedeutung klerusdistanzierter, hierarchie- oder allgemein kirchenkritischer Äußerungen und Manifestationen ernsthaft bedenken sollte. Möglicherweise ergeben sich auch in Bezug auf die Frage nach der zumindest punktuellen Bedeutung spätmittelalterlicher ‚Ketzereien‘ für die Genese und Struktur einzelner reformationszeitlicher Konstellationen66 neuere Aufschlüsse, wenn man das Bild der spätmittelalterlichen Religionskultur weniger „harmonisch und gleichförmig“67 entwirft und mentale Orientierungskrisen und einen Vertrauensund Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche in einzelnen Milieus, bei kleineren Gruppen oder in einzelnen Personen einräumt. Dass der historische Erfolg Luthers in mancher Hinsicht leichter zu verstehen ist, wenn man ihn nicht nur oder nicht primär aus der Überzeugungskraft seiner religiös-theologischen Botschaft sondern auch, wenn auch nicht allein, vor dem Hintergrund eines wie auch immer gearteten und gewerteten, nur differenziert zu erfassenden ‚Unbehagens‘ gegenüber der ‚realexistierenden‘ und einer Sehnsucht nach einer anderen Kirche versteht, dürfte kaum zu bestreiten sein. Die Differenzierung des Bildes spätmittelalterlicher Religionskultur68 eröffnet zugleich Perspektiven auf die kontextuelle Vielfalt der frühreformatorischen Religions65   Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, hg. von Kurt Köster [Kröner Taschenbuchausgabe 204], Stuttgart 111975, z. B. S.  246; zu Huizinga s. Christoph Strupp, Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000, bes. S.  134 ff. 66   Vgl. in Bezug auf waldensische Traditionen in ihrer Bedeutung für die Interpretation der sog. „Zwickauer Propheten“: Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010. 67   So auch die Kritik Winterhagers, Ablaßkritik, wie Anm.  62, S.  63, an bis heute einflussreichen Bildern. 68   Die Konstruktion der „sog. mittelalterlichen“ als einer „kirchlichen“ ‚Einheits‘- und „Autoritätskultur“ eines „einheitlichen corpus Christianum“ (Troeltsch, s. u., S.  208 f.; 227), die auch den sog. Altprotestantismus einschloss, setzt bei ihrem wohl einflussreichsten Vertreter, Ernst Troeltsch, bekanntlich von der Differenzmarkierung gegenüber der durch „autonom erzeugte Kulturideen“ (a.a.O., S.  211) geprägten, individualistischen und relativistischen „modernen Kultur“ an. Insofern ist die ratio cognoscendi der „Einheitskultur“ des Mittelalters der Gegensatz zur Neuzeit. Ernst Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906– 1913), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler [Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe 8], Berlin, New York 2001; vgl. auch: Ulrich Köpf, Die Idee der ‚Einheitskul-

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kultur, die sich nicht ohne weiteres auf den ‚Nenner‘ einer rechtfertigungstheologisch fokussierten Lutherinterpretation bringen lässt. Gewiss – Luther ist die Zentralfigur der frühreformatorischen Bewegung. Aber er ist dies eben nicht nur im Sinne der Aufnahme seiner ‚genuinen‘ Anliegen vermittels der Rezeption seiner Ideen und Texte, sondern er ist dies auch als Projektionsfläche vielfältiger Sehnsüchte, Hoffnungen, Feind- und Traumbilder. Der ‚viel‘- bzw. siebenköpfige Luther ist nicht nur eine bildschöpferisch geniale Kreation kontroverstheologischer Polemik69, sondern auch ein Symbol eigenständiger, auch eigenwilliger Aneignungen, Bezugnahmen, lockerer oder auch festerer Anknüpfungen an eine höchst komplexe historische Gestalt. Der Bezug auf Luther in einer theologisch nicht-normativen, also nicht auf die „Rechtfertigungslehre“ fokussierten Offenheit diverser Aneignungen und Kontexte, begründet weniger „die“ Einheit „der“ Reformation als die Vielfalt ihrer Ausprägungen und Kontextualisierungen. Dieser Ansatz einer „Kontextuellen Reformation“ ist einer konsequenten Historisierung ihres Gegenstandes verpflichtet und trägt dem Umstand Rechnung, dass auch die Art und Weise, wie die Nachrichten über die Texte von Luther und anderen Akteuren aufgenommen wurden, in mehr oder minder starkem Maße von den Kontexten, Lebensumständen und Erwartungshorizonten derer abhingen, die sie aufnahmen. Gegenläufig zu einem Interpretationskonzept von Reformation, das bei einem spezifischen Inhalt – der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft – und den dominierenden Medien ihrer Verbreitung – der Predigt und der Flugschriftenliteratur – ansetzt und von daher zu einer Bestimmung ihrer Identität und ihrer „Einheit“ gelangt, setzt die „Kontextuelle Reformation“ bei den individuellen und sozialen Akteuren und den Strategien und Praktiken ihrer Aneignungen an. Dass im Zuge der „Kontextuellen Reformation“ „das, was als Wort Gottes verkündet wurde, in sich nicht völlig homogen, sondern sehr stark differenziert war“70, muss nicht zwangsläufig dazu führen, eine Phase des chaotischen „Wildwuchs[es] der Reformation“71 von der Phase ihrer diesen zurückdrängenden – und insofern historisch nottur‘ des Mittelalters, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation [Troeltsch-Studien 6], Gütersloh 1993, S.  103–121. 69   Zum von Hans Brosamer stammenden Titelblatt des Leipziger Drucks der Cochläus-Schrift Sieben Köpfe Martin Luthers von sieben Sachen des christlichen Glaubens, Leipzig, Valentin Schumann 1529; VD 16 C 4391; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  252 Nr.  578; Ex. MF 471 Nr.  1272; vgl. Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, Frankfurt/M. 1983, S.  227 f. Nr.  287; Martin Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image [dtv 3904], München 1984, S.  51 f.; zu Cochläus’ Text siehe die Ausgabe in: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd.  2, Berlin 2000, S.  989– 1075. 70   Franz Lau, Reformationsgeschichte bis 1532, in: Ders./Ernst Bizer, Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555 [KiG 3, Lfg. K], Göttingen 1964, S.  19. 71   Lau, Reformationsgeschichte, wie Anm.  70, §  2, S.  17–43. Susan Karant-Nunn hat positiv an Laus Wildwuchs-Metapher angeknüpft, vgl. ihren v. a. gegen Moeller gerichteten Aufsatz: „What was Preached in German Cities in the Early Years of the Reformation? Wildwuchs Versus Lutheran Unity“, in: Philipp N.  Bebb/Sherrin Marshall (Hg.), The Process of Change in Early Modern

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wendigen – Kirchwerdung abzugrenzen, da eine akteursorientierte Reformationsgeschichte auf der Ebene der „pratique“ durchaus Gesichtspunkte zu identifizieren vermag, die es berechtigt erscheinen lassen, „die Reformation“ als historisch ‚einheitliches‘ Phänomen zu deuten, auch wenn diese ‚Einheit‘ nicht über bestimmte eindeutige bzw. ‚kanonische‘ doktrinale Gehalte definiert werden kann. Zunächst fällt auf, dass die ‚Akteure‘ der frühen Reformation, um die es in diesem Buch vor allem geht – humanistische Gelehrte, Drucker, Holzschneider und ‚Künstler‘, Studenten, Ordensleute, reformatorische Theologen und Pfarrer der ‚magistralen‘ und der sog. radikalen Observanz, Bauern und Handwerker, wirkliche oder fingierte Laien etc. – alle auf je ihre Weise mit den Nachrichten, Texten und Begebenheiten, die seit dem Herbst 1517 aus dem Umkreis Luthers und der Wittenberger Universität bekannt wurden, etwas ‚anfangen‘ konnten und wollten. Sie zeigten sich also gegenüber einer zunächst und vor allem mit dem „Evangelium“ legitimierten Argumentationsstrategie in einer auf theologische Fragen zentrierten Kontroverskonstellation, wie sie mit dem Ablassstreit und den sich an diesen anschließenden Debatten aufbrach, interessiert. Überhaupt ist die frühreformatorische Bewegung durch gesellschaftliche Mobilisierungseffekte gekennzeichnet, deren räumliche Extension und zeitliche Verdichtung eine Besonderheit darstellt. Sodann verbindet die ‚Akteure‘ der frühen Reformation, dass ihnen eine erhebliche ‚Mitteilsamkeit‘, ja so etwas wie ein ‚Drang nach Öffentlichkeit‘72 zu eigen war: Studenten ‚rotteten‘ sich zu provokativen und spektakulären ‚Aktionen‘ zusammen, um ihre Solidarität mit Luther und anderen Dozenten der Leucorea, etwa Karlstadt, zum Ausdruck zu bringen; Gelehrte verbreiteten in fieberhafter Betriebsamkeit einschlägiges Wissen über die epistolografischen Kommunikationsnetze oder durch den Druck; der ‚gemeine Mann‘ oder die Intellektuellen, die ihn erreichen wollten, suchten nach symbolischen, etwa vestimentären, Ausdrucksformen, um einer sich verändernden und gegenüber den überkommenen Lebensordnungen kritischen Haltung eine Bahn zu brechen; Pfarrer und Mönche, die von den Impulsen aus Wittenberg erfasst wurden, ‚predigten‘ mündlich oder schriftlich zu ihren Gemeinden oder ins weite Land hinein. Dieser ‚Drang nach Öffentlichkeit‘ war auch durch die offenkundigen Gefahren, die sich für Leib und Leben aus einem Eintreten für Luther und seine Sache ergeben Europe, Athens, OH 1988, S.  81–96; vgl. Dies., Clerical Anticlericalism in the Early German Reformation: An Oxymoron? In: Peter A Dykema/Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe [SMRT 51], Leiden, New York, Köln 1993, S.  521–534; um eine Richtigstellung hinsichtlich des Sinns der Metapher bei Lau hat sich bemüht: Helmar Junghans, Plädoyer für „Wildwuchs der Reformation“ als Metapher, in: Ders., Spätmittelalter, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen. Ausgewählte Aufsätze [AKThG 8], Leipzig 2001, S.  261–267. 72   Zur ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ vgl. Rainer Wohlfeil: „Reformatorische Öffentlichkeit“, in: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit [Germanistische Symposien, Berichtsbände 5], Stuttgart 1984, S.  41–54; ders., Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S.  132 ff.; zu meinen eigenen Überlegungen an einem Beispiel der späten 1540er Jahre, der ‚Herrgottskanzlei‘, vgl. Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548– 1551/2 [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  65 ff.

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konnten, nicht zu bändigen. Auch in der exzessiven Produktion anonymer Flugschriften brach er sich Bahn. Die unterschiedlichen sozialen, literarischen, inszenatorischen und kommunikativen Kontexte, in denen die frühreformatorische Bewegung lebendig wurde, wiesen eine bemerkenswerte Tendenz zur sozialen Permeabilität auf: Seit 1519/20 erschienen nur mehr wenige Druckschriften reformatorischen Charakters ausschließlich in der Gelehrtensprache, dem Latein; zusehends wurde es selbstverständlich, dass die „Laien“, der ‚gemeine Mann‘, als Adressaten direkt ins Visier literarischer Akteure rückten und die Texte in der Volkssprache oder in deutschen Übersetzungen erschienen. Studenten führten Aktionen auch gemeinsam mit Handwerkerknechten und sogar Bauern durch. In der Druckproduktion arbeiteten Handwerker, Buchführer, Studenten und Gelehrte engstens zusammen. Die Solidarisierung mit dem unverhört verurteilten Ketzer und seiner Sache und die Gegnerschaft gegen jene, die dafür verantwortlich waren, machten soziale Grenzen faktisch oder ideell, im Modus der literarischen Imagination, durchlässig; in der Dialogliteratur, die seit 1521 ins Kraut schoss, kamen regelmäßig Personengruppen unterschiedlichster Stände ins Gespräch – Adlige und Bauern, Köchinnen und Domherren, Gelehrte und Illiterate –, deren alltäglicher Kontakt alles andere als selbstverständlich war. In den kontextuellen Aneignungen, die der Reformation eine gesellschaftliche Basis zu verschaffen begannen, fing die Welt an, auf dem ‚Kopf zu stehen‘73 : Der Theologieprofessor und Karrieregeistliche Karlstadt ‚konvertierte‘ zum Stand des gemeinen Laien im grauen Rock, der Bettelmönch Luther zum Bürger, Priester zu Ehemännern, Nonnen zu Ehefrauen, entlaufene Mönche zu Bauernpredigern, Tuchknappen zu Predigern – doch in, mit und auch gegen all die „Veränderung“, die sich Bahn brach, kündigten sich neue Ordnungsvorstellungen an und behaupteten alte ihr Recht. Neben und in der Intensität der vielfältigen Aneignungen war es auch die Ergebnisoffenheit, mit der die ganz großen Fragen eines christlichen Gemeinwesens aufgeworfen wurden, die die „Kontextuelle Reformation“ des Anfangs einte: Wie steht es um die Grundordnung von Kirche und Gesellschaft, wenn all das, „was ausz der tauff krochen ist [.  .  .] mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey“?74 Wie gelangt man zu religiöser Verbindlichkeit, wenn jeder Christenmensch prinzipiell gleich berechtigt ist, die Bibel als maßgebliche religiöse Ressource zu nutzen und auszulegen? Nimmt die politisch-hierarchische Ordnung Schaden, wenn man in einer Gesellschaft von Christen auf die überkommenen religiösen und sakralen Autorisierungs- und Legitimationsstrategien verzichtet? Die Auf- und Umbrüche des reformatorischen Anfangs bildeten ein ‚Laboratorium‘ der Möglichkeiten,

73  Vgl. Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk, bes. das Kapitel: Antichrist and the World Turned Upside-down, New York 1994, S.  148 ff.; ders., Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London, Ronceverte 1987, S.  71–101. 74   An den christlichen Adel (1520), WA 6, S.  408,11 f.

3.  Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“

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das der deutschen Geschichte zwischen dem Ende des zweiten und der Mitte des dritten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts ihr spezifisches Gepräge gab. Auch in dem, was die verschiedenen Akteure kritisierten, ablehnten oder verwarfen, bestand nicht unerhebliche Einigkeit: das überkommene Kirchenwesen mit seinen Hierarchien; die soteriologische Aufwertung des Klerikers gegenüber den Laien, dem, wie man beklagte, kein entsprechendes Ethos sekundierte; die Fiskalisierung des Heils und seine Bindung an tote Materie. Die in der frühreformatorischen Bewegung allenthalben greifbare Bereitschaft der Akteure aus dem ‚Laienstand‘, sich bei der Suche nach ‚Neuem‘, nach Alternativen, vor allem aber nach bisher verborgenen oder unterdrückten ‚alten‘, heiligen und ehrwürdigen Ordnungen aus dem Worte Gottes von Priestern und Mönchen, von Theologieprofessoren, von Geistlichen, anleiten, orientieren und führen zu lassen, lässt es zweifelhaft erscheinen, dass eine mentalitätsmäßig sedimentierte antiklerikale Gesinnung eine prägende Tatsache des gesellschaftlichen Lebens gewesen sein soll. Gerade weil man an der Kirche hing und vor allem ihre Führungselite für die erlebten und erlittenen Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrisen verantwortlich machte, konnte man bereit sein, auch in Vertretern der Kirche ihre Retter zu sehen. Die Reformatoren sind solche Vertreter des ‚Alten‘ im Geist einer besseren, biblischeren Kirche. Zu den die „Kontextuelle Reformation“ verbindenden Motiven und Sachverhalten gehört sicher auch die „Heilsfrage“. In der Tat: Auch den Studenten, die Nachdrucke der Bannandrohungsbulle in die Gera warfen, Tetzels Thesen verbrannten und Kot auf Antoniterboten schleuderten, auch den anonymen Publizisten und all den anderen ‚Akteuren‘ der frühreformatorischen Bewegung ging es um „das Heil“. Das Heil aber war nicht etwas gegenüber ihrer Lebenswelt Fremdes, von dieser Getrenntes, Segmentierbares. Das Heil war in Ordnungen gegenwärtig; und Unordnung bedeutete Unheil. Der Antichrist bedrohte und zerstörte bestehende Ordnung, ebenso, im großen Stil, der Türke, sein Verbündeter, und, in kleinerem Maßstab, noch mancher andere, der Jude voran. Doch im Unterschied zum postaufklärerisch-neuzeitlichen Segmentierungsprozess gesellschaftlicher Ordnungs- und Sinnsysteme, in deren Folge die Religion ein Eigenes, von anderen kulturellen Faktoren spezifisch Unterschiedenes geworden ist75, entzündete und entschied sich die reformatorische Heilsfrage in und an der Legitimität von Ordnungen: ob der Mönchsstand geheiligt ist oder der Ehestand; ob der Laie dem Abendmahlsritus in der Volkssprache folgen kann; ob ein abgelegtes Gelübde unauflöslich vor Gott gilt; ob in der Hostie der Heiland selbst da ist; ob dem biblischen Wortsinn strikt entsprochen werden muss; ob die Heiligkeit Gottes und für heilig gehaltene Objekte nebeneinander bestehen kön75   In begriffsgeschichtlicher Hinsicht hat die Verinnerlichungs- und neuzeitspezifische Umformungsdynamik der „Religion“ hin zu einer dominant emotionalen Bestimmung aufgewiesen: Ernst Feil, Religio. Dritter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert [FKDG 79], Göttingen 22012, bes. S.  410 ff.; ders., Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert [FKDG 91], Göttingen 2007.

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§  1  Prolegomena

nen usw. Die unbestreitbar zentrale Bedeutung der Heilsfrage wäre in Bezug auf die Reformationszeit vielleicht doch falsch oder in anachronistischer Weise gestellt, rückte man sie gleichsam als solche, als „Gretchenfrage“76, ins Zentrum und schlösse sie gegen die vitale Lebenswelt und die zeitgenössische Ordnungskultur ab. Auch Luthers „Rechtfertigungslehre“ dürfte als segmentierbarer doktrinaler Locus, zumal wenn es um ihre historische Dynamik geht, gravierend missverstanden sein.77 Denn es handelt sich bei der Rechtfertigung im Kern um das Verhältnis des unbedingt barmherzigen Gottes zu den Menschen in ihrer Welt, d. h. unter den Bedingungen der Sünde, der Unfreiheit, der Bußbedürftigkeit. Es geht um die durch Christus ermöglichte Eröffnung eines Kommunikationsaktes, der im zugesprochenen, gepredigten, geschriebenen Wort wirksam wird. Von der Bedeutung der „Rechtfertigungslehre“ in der frühen Reformation zu handeln, kann also nicht bedeuten, eine bestimmte ‚reine Wahrheit‘ nach Art einer Idee jenseits der lebensweltlichen Kontexte der Zeit für historisch wirksam zu halten, sondern einen auf diese Kontexte bezogenen Kommunikationsprozess zu bezeichnen. In diesem Sinne ist die „Rechtfertigungslehre“ – oder besser: die theologisch-existenzielle Wahrheit, dass Gott des Menschen Heil schafft und nicht dieser selbst oder eine allmächtige Sakralinstitution dies vermag, eine, ja vielleicht die zentrale Botschaft in, mit und unter den kontextuellen Aneignungen der frühen Reformation gewesen. In dieser zentralen Botschaft aber ist die positive Aussage über den barmherzigen Gott zugleich untrennbar mit der kritischen Absage an die menschlichen und kirchlich-institutionellen Möglichkeiten verbunden. Die falsche Alternative Hallers – Rechtfertigungslehre oder Kirchenkritik – und der ihr innewohnende Zwang zur ‚bekennenden‘ Hierarchisierung unverzichtbarer Momente der reformatorischen Dynamik sind zu verabschieden. Denn Luthers Erkenntnis der bedingungslosen Barmherzigkeit Gottes ist allein in Verbindung mit seiner Kritik an bestehenden Praktiken kirchlichinstitutionell legitimierter und inszenierter menschlicher ‚Heilsbeschaffung‘ zu hi­ storischer Wirkung gelangt und insofern eine ‚reformatorische‘ geworden. Luthers theologische Entwicklung vor dem im Herbst 1517 einsetzenden Ablassstreit78 gehört

76  Vgl. Konrad Paul Liessmann (Hg.), Die Gretchenfrage: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion“ [Philisophicum Lech 11], Wien 2008, S.  7–18. 77   In systematischer Hinsicht aufschlussreich: Sibylle Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums [Arbeiten zur Systematischen Theologie 1], Leipzig 2008. 78   In dieser Hinsicht, die sich wohl auf die Frage der Terminologie zuspitzen lässt, stehe ich in einem Widerspruch zu Hamm, der in: Der frühe Luther, wie Anm.  38, die meines Erachtens derzeit subtilste Rekonstruktion der theologischen Entwicklung Luthers vorgelegt hat. Denn für Hamm beginnt Luthers „reformatorische“ Entwicklung bereits im Kloster (vgl. bes. a.a.O., S.  25 f.); in meinem Verständnis des „Reformatorischen“ setzt dies einen auf die Außenwirkung einer intendierten Veränderung des kirchlich-gesellschaftlichen Status quo gerichteten Impetus voraus, den ich erst mit Luthers tastendem Schritt (s. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  182 sowie unten II, §  6) in die akademische Öffentlichkeit mit der Verbreitung der 95 Thesen erreicht sehe.

3.  Konzeptionelle Überlegungen zur „Kontextuellen Reformation“

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deshalb in einem strikten Sinne zu den „Voraussetzungen der Reformation.“79 Eine die untrennbare Verwobenheit beider Momente bestreitende Konstruktion der „Rechtfertigungslehre“ dürfte deshalb für die „Kontextuelle Reformation“ belanglos und reformationshistorisch irrelevant sein. Für die Verlaufsdynamik der Reformationsgeschichte als ganzer wurde es entscheidend, dass unterschiedliche kontextuelle Aneignungen der Reformation in Konkurrenz und Spannung zueinander traten. Dies begann sich bereits 1521/2 im Wirken der „Zwickauer Propheten“ und Thomas Müntzers und in den ersten theologischen und wohl auch persönlichen Dissonanzen im ‚Herzen‘ der anhebenden Bewegung, an der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg – zwischen Luther und Karlstadt – abzuzeichnen und setzte sich in den Verwerfungen des Bauernkriegs und des Abendmahlsstreites fort. Die Varianz in den Aneignungs- und Auslegungsgestalten der „Kontextuellen Reformation“ wurde überall dort zum Problem, wo mehr als eine von ihnen zur selben Zeit am selben Ort auftrat, das Reformatorische also selbst in pluraler Form begegnete und nicht mehr nur der einfache und eindeutige Widerspruch gegen das Bestehende war. Mit dem Entstehen einer „reformatorischen Öffentlichkeit“ aber waren manche Varianten und Alternativen, etwa zu Luther, sehr rasch mancherorts präsent, auch wenn seine Meinung zu den Dingen immer die wort- und wirkmächtigste, selten aber die einzige gewesen ist. Vor allem im Zuge des publizistischen Ringens um die Meinungsführerschaft im sich bildenden reformatorischen Lager, die sich vor dem Hintergrund des steten Kampfes gegen die römischen Gegner abspielte, drängte Luther immer stärker darauf, das von ihm Gesagte und Gemeinte zu interpretieren, seine Überzeugungen zu ‚kanonisieren‘, innerreformatorische Alternativen abzuschneiden. Er sah zusehends in dieser Durchsetzung seiner als „der“ Reformation einen notwendigen Akt ihrer Sicherung, und die Mehrheit der territorialen und städtischen Obrigkeiten des reformatorischen Lagers im Reich stärkte ihn darin. Insofern stellt sich der Sieg der Reformation im Sinne einer jeweils dominierenden und den Alleinvertretungsanspruch des Christlichen verfechtenden Lehr- und Organisationsgestalt an einem Ort bzw. in einem Territorium, d. h. der Prozess der Formierung evangelischer Kirchentümer, als ein Vorgang dar, der im Laufe der späten 1520er Jahre weithin fortgeschritten war. Die für die „Kontextuelle Reformation“ charakteristische Tendenz zum Partikularen, Fragmentarischen oder situativ Provokativen – eine Aktion hier, ein symbolisch aufgeladener Filzhut dort, ein Flugblatt als Lutherdevotionalie etwa, ein predigender Bauer, eine Visionärin – hielt dem wachsenden Anspruch und der sich bietenden Chance nicht stand, eine realisierbare Alternative zu dem überkommenen Kirchenwesen aufzubauen und zu gestalten. Indem sich abzeichnete, dass die Reformation die jeweils eine Alternative zur Papstkirche an einem Ort, in einem Territori-

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  In diesem Sinne habe ich sie auch dargestellt in meiner Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  126 ff.

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§  1  Prolegomena

um, sein könne und müsse, schwanden die Alternativen80 und stieg der Normierungsdruck, der die „Kontextuelle Reformation“ des Anfangs entweder in sich aufnahm oder marginalisierte. Die „Kontextuelle Reformation“, die Bewegung des Anfangs, aber brach den vielfältigen lokalen und territorialen Veränderungsprozessen von Kirche und Gesellschaft die Bahn.

4. Periodisierungsfragen Die „Kontextuelle Reformation“ stellt insofern keine Provinz im periodisierungskonzeptionellen ‚Niemandsland‘ zwischen einer irgendwie substanziell kohärenten und rechtlich gefügten spätmittelalterlichen Kirchlichkeit und der mancherorts allmählich siegreichen reformatorischen Alternative dar; sie markiert die historische Zäsur, die unter bestimmten Perspektiven zwischen dem „Mittelalter“ und der „Reformation“ gesetzt werden kann. Sie stellt eine konzeptionelle Verdichtung der reformatorischen Bewegung als einen die Reformation heraufführenden Umbruch dar. Dies gilt unter folgenden Gesichtspunkten81 einer Periodisierung in christentumsgeschichtlicher Perspektive, die allerdings auch für allgemeinhistorische Epochenkonzeptionen Beachtung beansprucht: 1.  In institutionsgeschichtlicher Hinsicht bedeutet die reformatorische Bewegung eine tiefgreifende Zäsur. Denn sie beendete die bei aller inneren Vielfalt kirchenverfassungsrechtlich einheitliche Geschichte der unter dem römischen Papst gesammelten kirchlichen Organisation der lateineuropäischen Christenheit. Ein nicht selten apokalyptisch dynamisierter Antipapalismus bildete ein integrales Identitätsmerkmal der reformatorischen Bewegung. 2. Die Reformation markiert in kirchenrechtsgeschichtlicher Perspektive eine fundamentale Zäsur, insofern erstmals seit der Einführung des Reichsketzerrechts in der Spätantike die reichsrechtliche Anerkennung einer vom römischen Papst verurteilten Ketzerei vollzogen bzw. ihre faktische Etablierung erreicht wurde und weltliche Herrschaftsträger zu Garanten kirchlicher Ordnung und Lehre avancierten. 3.  Die reformatorische Bewegung stellt einen tiefgreifenden theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Umbruch dar, insofern dem persönlichen Gottesverhältnis des Menschen und seinem Bekenntnis eine heilsentscheidende Bedeutung zuerkannt wurde. Sie stellt eine Neubestimmung des christlichen Selbstverständnisses dar. 4.  Die Reformation ist als fundamentale kommunikationsgeschichtliche Zäsur zu beschreiben, insofern mit der Entstehung der „reformatorischen Öffentlichkeit“ 80  Anregend: Günter Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994. 81   Mit den folgenden Thesen nehme ich zum Teil wörtlich einen Passus aus meinem Aufsatz auf: Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte (2 Teile), in: ThLZ 121, 1996, Sp.  1008–1025; 1113–1121, hier: 1119.

4. Periodisierungsfragen

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erstmals in der Geschichte der lateineuropäischen Christenheit umfassende kommunikative Meinungsbildungsprozesse abliefen, die sich einer politischen Kontrolle weitgehend entzogen und durch die eruptive reformatorische Flugschriftenproduktion identische Überzeugungen und Meinungen in geografisch weit auseinander liegende Regionen transportiert wurden. 5.  In mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht kann der „Kontextuellen Reformation“ insofern ein zäsurierender Charakter zuerkannt werden, als erstmals in der Geschichte des lateineuropäischen Christentums Laien als Akteure theologischer Meinungsbildungsprozesse in größerer Zahl auftraten und das publizistische und gesellschaftliche Agieren zu einem maßgeblichen Faktor kirchlicher Veränderung wurde. In den magistralen Reformationen entschieden Laien in weltlichen Amtspositionen über die Lehre der Kirche und die Gestalt ihres Gottesdienstes. 6.  Die Abschaffung des Mönchtums als herausgehobener christlicher Lebensform im Zuge der Reformation beendete eine über tausendjährige Geschichte, deren Bedeutung von unübersehbarer Ausstrahlungskraft gewesen war. Der weltliche Berufsstand als alternativloser Ort christlichen Lebens markiert ein tiefgreifendes Umbruchsmoment von gesellschaftsgeschichtlicher Tragweite. 7. Die Entstehung des protestantischen Pfarrhauses indiziert einen sozialgeschichtlichen Wandel, insofern nicht mehr die durch Weihe vermittelte und durch sexuelle Enthaltsamkeit geprägte priesterliche Lebensform eines geistlichen Standes, sondern das funktional definierte, unter der Mitbeteiligung der Pfarrfrau ausgeübte Gemeindepfarramt eines christlichen Mitbürgers heilsvermittelnde Funktionen wie Predigt und Sakramentsverwaltung ausübte. Die durch die Auslegung der Schrift vermittelte Amtsbeziehung des evangelischen Geistlichen zu seiner Gemeinde begründete ein strukturell neuartiges Beziehungsverhältnis pastoraler Amtsträgerschaft. 8.  In Bezug auf die „sensibilité religieuse“ markiert die Reformation insofern eine Zäsur, als die sinnlichen Träger des Sakralen wie Bilder, Reliquien, aber auch die Sakramente entwertet und eine visuell vermittelte Sakralität durch eine primär auditiv, durch das Wort, vermittelte Sakralität ersetzt wurden. Der Wortzentrierung protestantischer Frömmigkeit sekundierten bildungsgeschichtliche Umbruchprozesse hinsichtlich der Alphabetisierung der Illiteraten, des Auf- und Ausbaus des Schul- und Universitätssystems, die freilich die forcierten bildungspolitischen Anstrengungen in spätmittelalterlichen Städten voraus- und fortsetzten. 9.  Die Zentrierung reformatorischer Theologie und Frömmigkeit auf die Bibel und den versöhnenden Christus trug zu einem allgemeinen kultur- und kunstgeschichtlichen Veränderungsprozess und zu prägenden Akzentverschiebungen im Bereich liturgisch-gottesdienstlicher Gestaltung und im Verständnis gottesdienst­ lichen Handelns bei. 10.  Im Zuge der Reformation bildeten sich theologische Legitimationsstrategien aus, die neben der biblisch-exegetischen Fundierung der eigenen Lehre auch spezifische Zugänge zur vorangehenden Kirchengeschichte bzw. zu bestimmten Traditi-

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§  1  Prolegomena

onsbeständen boten und den Anspruch implizierten, ein als vorbildlich und wahr erwiesenes ‚Erbe‘ der antiken und der mittelalterlichen Christentumsgeschichte fortzusetzen und zu repräsentieren.82 Diese ‚konstruktivistischen‘ Anknüpfungen an die ‚Vorgeschichte‘ der Reformation setzten gerade voraus, dass man sich von ihr durch eine Zäsur getrennt wusste. Bei inverser Wertung waren sich die Reformatoren und ihre römisch-katholischen Opponenten hinsichtlich der zäsurierenden Bedeutung der Reformation weitgehend einig.

5.  Dispositionelle Hinweise Die in diesem Buch verbundenen Studien sind drei zu unterscheidenden, aber doch grundsätzlich ineinander greifenden Dimensionen der reformatorischen Anfänge gewidmet. Im ersten Teil (I) geht es um Momente der Aneignung und Konstruktion von Tradition, im zweiten (II) um die frühreformatorische Dynamisierung der Kommunikation mit publizistischen und disputatorischen Mitteln. Im dritten Teil (III) steht die „Lehre“ im Horizont insbesondere innerreformatorischer Entwicklungen, unter Bezug auf die Frage ihrer legitimen Akteure und ihrer Deutungsmuster und Lebensgestalten im Vordergrund. Den einzelnen Themen kommt jeweils eine exemplarische Bedeutung für die genannte Dimension zu; das kontextuelle Einzelbeispiel soll also immer auch in seiner Beziehung zum Gesamtvorgang, dem Anfang der Reformation, bedacht werden. Die Studien verbinden Text- und Akteursbeispiele aus dem Wittenberger und vor allem dem oberdeutschen Raum; ein Anliegen dieser Studien besteht auch darin, die intensiven Interaktionen zwischen den mitteldeutschen und den südwestdeutschen Reformationszentren und ihren Akteuren aufzuweisen. Gegenüber lokal- oder regionalbezogenen Zugängen, die den weiteren reformationsgeschichtlichen Zusammenhang auszublenden drohen, werben sie dafür, Grenzen ‚offen‘ zu halten und starre Antinomien zwischen stadt- und territorialgeschichtlichen Prozessen zu verflüssigen. Auch im Verhältnis zwischen ‚magistralen‘ obrigkeitsgeleiteten, auf Allgemeinheit Anspruch erhebenden und ‚radikalen‘, gruppenbezogenen Reformationsprozessen sollten meines Erachtens fließende Übergänge beachtet werden. Die in der Forschung bisweilen ausgeprägte, prinzipiell legitime Tendenz, durch Typologisierungen Eindeutigkeit zu suggerieren und Abgrenzungen vorzunehmen, sollte in Bezug auf die Anfänge der Reformation in der Absicht konterkariert werden, Verbindungen oder Ähnlichkeiten auch dort sichtbar zu machen, wo dies aufgrund vermeintlich klarer 82   Diesen Aspekt habe ich in Bezug auf die ‚Ketzergeschichte‘ exemplarisch am Umgang mit Hus zu zeigen versucht (s. unten I, §  2); in Bezug auf die traditionskonstruierende Umgangsweise mit mittelalterlichen Zeugen der Islampolemik vgl. mein „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008 (s. a. unten I, §  4); im Verhältnis zum mittelalterlichen Antijudaismus vgl. meine Studie: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 22013.

5.  Dispositionelle Hinweise

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Zuordnungen und Gruppenidentitäten wie „Luthertum“, „Schwärmer“, „Gelehrte“ und „Laien“ etc. gelegentlich unterbleibt. Dass Luther die zentrale Figur auch der „Kontextuellen Reformation“ war, wird wohl niemanden verwundern. Allerdings werden die auf Luther geworfenen Perspektiven, gegenläufig zu einer einflussreichen Tendenz in der sog. Lutherforschung, nicht in der Absicht eingenommen, den Ursprungssinn seines Denkens und Wollens zu rekonstruieren. Vielmehr geht es im Zusammenhang der „Kontextuellen Reformation“ des Anfangs darum, die frappierende Präsenz seiner Person und der Bilder von ihm – im doppelten Sinne – in unterschiedlichsten Zusammenhängen in den Blick zu nehmen. In der Brechung diverser medialer, diskursiver, doktrinaler und aktional-inszenatorischer Dimensionen der „Kontextuellen Reformation“ erscheint der Wittenberger Theologieprofessor weniger monolithisch und übermächtig, als dies üblicherweise der Fall ist. Würde dieses Buch als Versuch verstanden, dazu beizutragen, jene Polyvalenz und Deutungsoffenheit, ja jenen Zauber wiederzugewinnen, der Luthers Person und seiner Theologie im Anfang der reformatorischen Bewegung zu eigen war und ihr Wirkungen ermöglichte, die im Lichte der Entwicklungen seit der Mitte der 1520er Jahre auch überraschen mögen, hätte es ein Ziel erreicht: die historische Kontextualisierung eines gewaltigen geschichtlichen Ereignisses, dessen Dimensionen wir durch Distanzlosigkeit verfehlen.83

83

  Vgl. dazu meinen Artikel „Das schwierige Erbe der Reformation“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.  265, 14.  11. 2011, S.  7.

I. Traditionskonstruktionen

§  2  Häresiologie: Jan Hus und die reformatorische Bewegung Der Auseinandersetzung mit dem 1415 in Konstanz als Ketzer hingerichteten Jan Hus kam in der frühen Reformationszeit eine Schlüsselrolle zu, und zwar aus verschiedenen Gründen: 1. weil Luther seit den Anfängen des Ablassstreites von Seiten seiner ‚altgläubigen‘ Gegner mit Hus bzw. den Hussiten in Verbindung gebracht wurde und sich deshalb 2. zu einer sich bis 1520/1 stetig intensivierenden theologischen Auseinandersetzung mit dessen Lehre und Schicksal veranlasst sah. 3. Weil die frühreformatorische Bewegung einige durchaus zentrale Beiträge dazu leistete, dass Teile von Hus’ Werk und auch Informationen über seinen Prozess verbreitet wurden und Hus so 4. zu einem integralen Moment der historischen Selbstdeutung des Prote­ stantismus und insofern zu einer Schlüsselfigur für jede Verhältnisbestimmung von „Spätmittelalter“ und „Reformation“ wurde. Schließlich 5. weil von Seiten der Wittenberger im Verhältnis zum Hussitismus bzw. zu den Böhmischen Brüdern ein von ihrem Umgang mit den schweizerisch-oberdeutschen Reformationsanhängern charakteristisch verschiedenes Konzept innerprotestantischer Verständigung bzw. Konnivenz praktiziert wurde. Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, jeden der genannten Gesichtspunkte abermals gründlich aufzuarbeiten; dies ist angesichts des Forschungsstandes auch keineswegs erforderlich. Im Zentrum sollen vornehmlich die Diskussionen der Jahre 1519 und 1520 stehen, und zwar primär unter dem Aspekt von Luthers publizistischem Agieren, das – so sei thetisch vorangestellt – nur in eng­ stem Konnex mit dem Fortgang seines römischen Prozesses zu verstehen ist. In dieser Perspektive erweist sich der Umgang mit Hus als Indikator jenes Wandlungsprozesses, der „Reformation“ genannt zu werden verdient. In methodischer Hinsicht kommt der Unterscheidung zwischen publizistischen und sonstigen Äußerungen Luthers eine entscheidende Bedeutung zu.

1.  Luthers früheste Äußerungen über Hus und die Hussiten Zur Ausgangslage nur knapp folgendes: Seit der ersten Psalmenvorlesung war Luther im Rahmen seiner akademischen Lehrtätigkeit immer wieder einmal auf Hus bzw. die Hussiten zu sprechen gekommen. Sein Wissen war weithin konventionell; präzisere Kenntnisse der binnenhussitischen Gruppenbildungen – der gemäßigten Öf-

1.  Luthers früheste Äußerungen über Hus und die Hussiten

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fentlichkeitskirche der Utraquisten aus Hochadel und Prager Bürgertum, der chiliastisch geprägten radikalen Taboriten, der von waldensischen Elementen beeinflussten, seit 1467 von der utraquistischen und der römischen Kirche separierten biblizistisch-irenischen Brüdergemeine – besaß Luther zunächst nicht. Die ihm geläufige Bezeichnung „Pikarden“, die ansonsten vornehmlich für die Taboriten bezeugt ist, deutet darauf hin, dass in der ihm zugänglichen Sprach- und Vorstellungswelt vor allem Erinnerungen an die militärischen Übergriffe der Taboriten aus der Zeit der Hussitenkriege nachwirkten. Die böhmischen Ketzer waren für Luther „Nachbarn“; 1 auch diese mit negativen Konnotationen verbundene Wortwahl dürfte mit den militärischen Übergriffen der Taboriten im vergangenen Jahrhundert zusammenhängen. In einem Sermon von 1516 kritisierte Luther, dass sich die Böhmen von der Einheit der Zuchtordnung, die Christus in Mt 18,18 der ganzen Kirche übertragen habe, gelöst hätten und sich auf ihre eigenen Erleuchtungen und Guttaten beriefen.2 Sie verließen sich – so in den Decem praecepta vom Sommer 1518 – auf ihr hochmütiges Überlegenheitsbewusstsein gegenüber der Kirche, der sie den Dienst der Heiligen und der Götzen vorwürfen.3 Dabei setzte Luther in der Sache voraus, dass ihre Kirchenkritik Berechtigtes enthalte; doch da sie aus einem hochmütigen, schismatischen Bewusstsein stamme, sei sie nicht akzeptabel. In seinen Vorlesungen stimmte er ähnliche Töne an: In der ersten Psalmenvorlesung identifizierte er die „superbia“ der Pikarden als eines jener Lügenzeichen, die dem Antichristen vorhergingen.4 Superbia 1   Vgl. etwa WA 3, S.  334,27 f. = WA 55 II, S.  308,193; daß der Gegnerschaft gegen die Juden in Luthers Dictata super Psalterium die Schlüsselrolle bei der Konstruktion von Feindbildern zukam, hat Tarald Rasmussen (Inimici Ecclesiae. Das ekklesiologische Feindbild in Luthers „Dictata super Psalterium“ [1513–1515] im Horizont der theologischen Tradition [SMRT 44], Leiden u. a. 1989) gezeigt. 2   WA 1, S.  69,20–33 (Sermo in vincula S. Petri, 1.  8. 1516). 3   WA 1, S.  425,35–426,1. 4   WA 3, S.  334,27–31 = WA 55 II, S.  308,193–195. Möglicherweise setzt diese Formulierung („Hec enim sunt illa signa et prodigia mendacia, in quibus Antichristi omnes procedunt, ita ut in errorem ducantur [.  .  .] etiam electi“, WA 3, S.  334,28–30 = WA 55 II, S.  308,193–195) die Kenntnis der 19. Vorwerfungsthese, die das Konstanzer Konzil von der Lehre Hus’ aufstellte (DS38, Nr.  1219, S.  441; Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 6. völlig neu bearb. Aufl. von Kurt Aland, Bd.  1: Von den Anfängen bis zum Tridentinum, Tübingen 1967, Nr.  771, S.  480 ff.), voraus. Dieser Artikel formuliert, dass die kirchlichen Zensuren der Exkommunikation, der Suspension und des Interdikts, mit denen sich der Klerus das Laienvolk (populum laicalem) unterwerfe, jene Zeichen darstellten, die dem Antichristen vorausgingen. Luther würde hingegen die ihm wohl aus dem Konstanzer Kanon bekannte moralische Kirchenkritik der Hussiten als superbia werten und als Zeichen der Endzeit stilisieren, d. h. die Kritik der Ketzer an der Kirche gegen diese selbst richten. Luther mochte allgemein verbreitete Kenntnisse über das Kon­ stanzer Konzil vorausgesetzt haben. Die umfassendste Informationsquelle stellten die im Druck erschienenen Konzilsakten dar. Sie enthielten auch die Artikel der verworfenen Lehren Wiclifs und Hus’: Acta Scitu dignissima docteque consinna Constantiensis concilii celebratissimi, Hagenau, Heinrich Grahn 1500; Ex. Hohenemser, MF 266, Nr.  2200, C 1r–C 6v [Abdruck der Artikel und des Ex­ humierungsbeschlusses des Konzils zu Wiclif; Hus-Artikel; Damnation; Verbrennungsbeschluss hinsichtlich seiner Bücher]. Herausgeber des Werkes war der Ingolstädter Jurist Hieronymus de Troaria; dem Werk ist ein Schreiben des Tübinger Theologen Konrad Summenhart und des neula-

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§  2  Häresiologie

und Absonderung von der Gemeinschaft seien die Kennzeichen der Häresie; dies sah Luther an den Böhmen bestätigt.5 Der sich von der Kirche absondernde Pikarde strebe danach, allein unter den Gerechten zu sterben und für heilig gehalten zu werden, während sich Christus unter die Übeltäter begeben habe und mit ihnen gestorben sei.6 Die Reinheit der äußeren Werke, die Luther bei den Böhmen wahrnahm, blieb deshalb verwerflich, weil sie s. E. als Folge geistlichen Hochmuts zu bestimmen war; mögen die Pikarden den Katholiken auch in Hinblick auf jede denkbare Form der Reinheit überlegen sein – in Bezug auf das Herz sind sie es nicht! 7 Hinsichtlich dessen, dass die Böhmen alles, was in der römischen Kirche geschieht, als Sünde verdammten, verglich sie Luther mit Mohammed.8 Eine schärfere Distanzierung von dieser einzigen rezenten Häresie in Luthers Nähe als der Vergleich mit Mohammed und der „türkischen Religion“9 war unter den Bedingungen des frühen 16. Jahrhunderts natürlich nicht vorstellbar. Möglicherweise setzte dieser Vergleich bereits eine Bekanntschaft des Wittenbergers mit dem Tractatus de moribus turcorum des zumeist ‚Georgius de Hungaria‘ genannten Siebenbürgeners10 voraus, den er ca. eineinhalb Jahrzehnte später, 1530, mit einem Vorwort neu herausgeben sollte.11 Die These, sittlich-asketische Leistungen seien ein Blendwerk des Teufels, des Meisters des schö-

teinischen Dichters Jakob Locher (Philomusus) vorangestellt. In Bezug auf die gelehrte Auseinandersetzung mit den Böhmen markieren Schriften Jakob Zieglers von 1512 und Hieronymus Dungersheims von Ochsenfahrt von 1514 den aktuellen Diskussionsstand, der Luther bekannt gewesen sein könnte; vgl. zu den genannten Werken: Erhard Peschke, Die Böhmischen Brüder im Urteil ihrer Zeit [AzTh I H. 17], Stuttgart 1964, S.  28 ff.; 65 ff.; ders., Kirche und Welt in der Theologie der böhmischen Brüder, Berlin 1981, S.  173 ff. Delius’ auf WA 50, S.  600,30 ff. und WA 6, S.  184,24 gegründete These, Luthers Kenntnisse über Hus seien v. a. aus Schriften Johann Wesels an die Böhmen gewonnen (Walter Delius, Luther und Hus, in: LuJ 38, 1971, S.  9 –25, hier: 13), überzeugt mich nicht. Aus WA 6, S.  507,3 f. = LuStA 2, S.  184,5 f. geht hervor, dass Luther die Baseler Konzilsakten kannte; sollte es angesichts der ungleich heftigeren Diskussion um das Konstanzer Konzil nicht zu erwarten sein, dass er auch diese benutzt hat? 5   Vgl. den Zusammenhang WA 3, S.  334,11–30 = WA 55 II, S.  307,177–308,195. 6   WA 4, S.  361,12–21 = WA 55 II, S.  969,2229–2238. 7   „Et hodie Boemi vicini nostri: qui in omni mundicia pene nos excedunt, excepto corde, quod spiritualis superbia polluit. Et haec est esca diaboli electa.“ WA 3, S.  292,19–21 = WA 55 II, S.  275,202– 204. 8   WA 4, S.  77,28–31 = WA 55 II, S.  716,536–539: „Et hanc persecutionem, nisi fallor [sc. Luther], Bohemi nostri auspicantur, Qui omnem Ecclesiam Romanam condemnaverunt Et quiquid in eius obedientia fit ab ullis, peccatum arbitrentur Nec minus illud et maometus facit.“ 9   Vgl. dazu zuletzt: Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008. 10   Vgl. zu den sieben Drucken vor der Ausgabe von 1530 nur: Reinhard Klockow, Georgius de Hungaria. Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia turcorum [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15], Köln, Weimar, Wien 21994, S.  61–66. 11   WA 30 II, S.  198–208; Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546) [QFRG 80], Gütersloh 2008, bes. S.  324 ff.; zur Rezeptionsgeschichte der Vorrede Luthers im Kontext von Sebastian Francks deutscher Ausgabe des Tractatus vgl. die Hinweise bei Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  9, sowie unten I, §  4.

1.  Luthers früheste Äußerungen über Hus und die Hussiten

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nen Scheins, die Luther in den Dictata auf die Pikarden bezog, war für das Türkenbild des Siebenbürgeners von konstitutiver Bedeutung. Dass die Böhmen in Bezug auf die Sakramente und den päpstlichen Primat von der römischen Kirche, der sich Luther damals selbstverständlich zugehörig wusste, abwichen, war ihm natürlich bekannt.12 In der Römerbriefvorlesung (1515/6) verdichtete Luther seine Kritik und sein Wissen um die böhmischen Ketzer dahingehend, dass er ihnen ein Missverständnis und einen Missbrauch der Freiheit vorwarf, da sie Phänomene wie Kirchenschmuck, geweihte Räume, Fasten- und Feiertage, bestimmte kirchliche Handlungen, das Klosterwesen etc. angriffen und darin eine neue Gesetzlichkeit zum Ausdruck brächten.13 Eine ganze Reihe an Aspekten römisch-katholischer Kirchlichkeit, die der Reformator seit 1519/20 an seiner Kirche kritisieren sollte, gehörte also, wie Luther wusste, ins Repertoire hussitischer Kirchenkritik. Doch nichts deutet darauf hin, dass diese vorreformatorische Kirchenkritik eine Quelle späterer reformatorischer Forderungen und Überzeugungen gewesen ist. Dass Luther seit Sommer 1520, seit Bekanntwerden des Ausgangs seines römischen Prozesses, den Eindruck zu erzeugen wusste, seine Kirchenkritik stehe in einer direkten Kontinuität mit der des Jan Hus, wäre im Sinne eines rezeptionsgeschichtlichen Kausalnexus missverstanden. Noch zu Beginn des Ablassstreites, als Luther erstmals von Tetzel mit der Ablasskritik Wiclifs und Hus’ in Verbindung gebracht wurde14, war ihm unstrittig, dass es 12

  WA 4, S.  345,24 f. = WA 55 II, S.  947,1597 f. reiht er die ‚Abweichungen‘ der Böhmen hinsichtlich der Sakramente und des römischen Primats zwischen die Lehrdifferenzen in der Frage der immaculata conceptio und andere scholastische Lehrmeinungen ein. Ähnlich, ohne besondere Wertung, in der Predigt vom Sonntag Judica 1520 [WA 59, S.  342] WA 4, S.  614–616, hier: 614,22 f.: „Et perinde fuit ut hodie nobiscum et Bohemis in administratione eucharistiae non convenit.“ 13   WA 56, S.  494,9–17. Nach einer Aufzählung der von den Böhmen kritisierten religiösen Praktiken der römischen Kirche bilanziert er: „Sic enim faciunt illi [sc. die Böhmen] et sic requirit Libertas nove¸ Legis. Absit.“ S.  494,16 f. 14  Vgl. Valentin Gröne, Tetzel und Luther, Soest 21860, S.  219–234; Martin Brecht, Martin Luther. Bd.  1: Sein Weg zur Reformation, Stuttgart 31990, S.  204; Walther Köhler, Luther und die Kirchengeschichte, Erlangen 1900, ND Hildesheim u. a. 1984, S.  172. In seiner Widerlegung von Luthers Sermon von Ablaß und Gnade vom April 1518 stellte Tetzel fest, dass es eine allgemein verbreitete Strategie aller Ketzer sei, die anerkannten „doctores“ der Kirche zu desavouieren; dies hätten auch Wiclif und Hus getan (vgl. Adolf Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1518–1524], Berlin 1997, S.  51,32 ff.; vgl. die Edition des Textes in Peter Fabisch/Erwin Iserloh [Hg.], Dokumente zur Causa Lutheri [1517–1521], 1. Teil [CCath 41], Münster/W. 1988, S.  337 ff., hier: 342; 348; 354). Hus habe nicht nur die satisfactio für die Sünde, sondern auch die sakramentale Beichte für unnötig gehalten und sei deshalb in Konstanz zum Ketzertod verurteilt worden, Laube, a.a.O., S.  51,34 ff. Darin stimme Luther mit Hus (und Wiclif, vgl. a.a.O., S.  56,1 ff.) überein, wie Tetzel am sechsten Artikel des Lutherschen Sermons (WA 1, S.  244,15 ff.) darstellt. In seiner Widerlegung des 13. Artikels von Luthers Sermon, in dem dieser festgestellt hatte, dass es niemandem möglich sei, für seine Sünde genug zu tun (WA 1, S.  245,21–25), kam Tetzel abermals auf Wiclif und Hus und ihre Bestreitung einer Notwendigkeit der sakramentalen Beichtbuße zu sprechen (Laube, a.a.O., S.  61,16 ff.). Luthers Angriff auf den der satisfactio operis dienenden Ablass bedeutete – soweit ich sehe (vgl. auch Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S.  117–119) – im Frühjahr 1518 noch keine grundsätzliche Infragestellung der sakramentalen Beichtbuße, die ihm Tetzel unter-

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§  2  Häresiologie

sich bei den böhmischen Hussiten um zu Recht verurteilte Ketzer handelte. „Böhme“ war, wie Luther, einen allgemeinen Sprachgebrauch aufnehmend, feststellte, die in seiner Zeit übliche Bezeichnung des vom Teufel besessenen Ketzers schlechthin.15 Da Luther bis 1518 in seinen Publikationen nicht anders über die Hussiten urteilte als in seinen Predigten und Vorlesungen, deutet meines Erachtens nichts darauf hin, dass er heimliche Affinitäten oder Sympathien für diese letzte große Ketzerei der okzidentalen Kirchengeschichte vor der Reformation besessen hätte. Luther suchte das Heil in seiner Kirche; dass die Böhmen, wie er meinte, mit dieser Kirche gebrochen hatten und sich ihr nun überlegen dünkten, empfand er als unerträglichen Skandal. Allerdings wird man zu fragen haben, ob die schließlich bis zur Identifikation gesteigerte Bezugnahme auf Hus und die Seinen, wie sie sich im Jahre 1520 zunächst in der privaten Korrespondenz, später auch in den öffentlichen Schriften beobachten lässt, ausschließlich als Folge kontroverstheologischer Fremdzuschreibung zu werten ist. Zweifellos liegt in der altgläubigen Strategie, Luther zum Hussiten zu machen, ein entscheidender Grund dafür, dass sich der Wittenberger vor allem nach der Leipziger Disputation intensiver mit Hus und seiner Lehre zu beschäftigen begann. Gleichwohl bot sein aus der Kritik an einer Frömmigkeitshaltung, die durch Verdienste heilig und gerecht zu werden suchte, erwachsener Begriff der Ketzerei einen Ansatzpunkt dafür, sein Verhältnis zu den Böhmen sukzessive zu revidieren. Denn bereits in der ersten Psalmenvorlesung hatte er die Böhmen deshalb als hochmütige und allzu heilige Ketzer (superbi heretici et nimis sancti)16 bezeichnet, weil sie mehr auf ihre Verdienste (merita) als auf das Wort Gottes (verbum domini)17 vertrauten. In der literarischen Auseinandersetzung mit Eck hat Luther die Böhmen dann mit den Donatisten parallelisiert und darin zum Ausdruck gebracht, dass es vor allem ihr eigener Heiligkeitsanspruch, eben ihre superbia, sei, die sie zu Ketzern mache.18 Indem das Vertrauen auf die eigenen Verdienste und die daraus resultierende Verwerfung der sittlich unvollkommenen ‚Kirche der Vielen‘ zum maßgeblichen Kriterium für Luthers Begriff von Ketzerei geworden war und kirchenrechtliche Gesichtsstellte, auch wenn einige Äußerungen, etwa These 36 (WA 1, S.  235,7 f.), dem nahekamen. Schon im Sermon von Ablaß und Gnade ging Luther mit der Fremdzuschreibung des Ketzers offensiv um: „Als ettlich mich nu wol eynes ketzers scheltenn [.  .  .].“ WA 1, S.  246,31. Die die Beichte betreffenden Aussagen zur hussitisch-wiclifitischen Lehre dürften sich auf die Verwerfungscanones in der Bulle Inter cunctas (22.  2. 1418) Martins V. beziehen, hier: Tenor Articulorum Joannis Wyclif Art.  7, in: Mirbt/Aland, wie Anm.  4, Nr.  771, S.  478 f.; DS38, Nr.  1157, S.  432; aufgrund von Hus’ Verwerfung der Verurteilung der 45 Art. Wiclifs (Hus, Art.  25; DS38, Nr.  1125, S.  442; Mirbt/Aland, S.  481) war es natürlich nicht unsachgemäß, dem tschechischen Theologen die Lehrauffassung seines englischen Vorgängers zuzuschreiben. In den Acta .  .  . Constantiensis (wie Anm.  4) wurde Hus als WiclifSchüler behandelt, e 1r–2r. 15   WA 4, S.  614,24 f. 16   WA 4, S.  361,12 f. = WA 55 II, S.  969,2230. 17   WA 4, S.  361,13 f. = WA 55 II, S.  969,2230 f. 18   WA 2, S.  632,26–31; hereticus i. S. von schismaticus etwa: WA 1, S.  69,14; WA 2, S.  186,1; WA 3, S.  404,8; WA 4, S.  209,13; 224,10; WA 56, S.  163,12; 284,7; 413,4; vgl. zur Sache die Materialübersicht in: WA 65, S.  564–571; zu den Befunden in Luthers exegetischem Frühwerk s. Ulrich Mauser, Der junge Luther und die Häresie [SVRG 184], Gütersloh 1968.

2.  Die Umformung von Luthers Häresiebegriff im Ablassstreit

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punkte bei seiner Bestimmung keine zentrale Rolle mehr spielten, war in ihm selbst freilich die Möglichkeit angelegt, auch Phänomene und Haltungen als ‚häretisch‘ zu bezeichnen, die nicht von der römischen Kirche verworfen worden waren. Ja, in Luthers Begriff der Ketzerei als hochmütiger Werkgerechtigkeit, den er lange vor seinem eigenen Konflikt mit der römischen Kirche ausgebildet hatte, lag die dann de­ finitiv mit der Verbrennung des kanonischen Rechts am 10. Dezember 1520 exekutierte Möglichkeit einer Anathematisierung des Papsttums beschlossen. Die neue Auffassung des Kirchenrechts, die in der Grundüberzeugung bestand, „daß Christus der Herr der Kirche ist und daß die Kiche diesen Herrschaftsanspruch anzuerkennen hat“19, ist in einem inneren Zusammenhang mit der Abwertung des kanonischen Rechts und der Neufassung des Kirchenbegriffs in Luthers früher Theologie zu interpretieren. In den Resolutiones zu den 95 Thesen ist dieses neue Konzept des Kirchenrechts bei Luther definitiv nachweisbar.20 In Bezug auf das Verhältnis zu den Böhmen barg Luthers dezidiert theologischer, mit Elementen kanonischen Rechts nicht vermittelter Häresiebegriff also die Chance, ihre Lehren einer vom Urteil der römischen Kirche unabhängigen Überprüfung und Neubeurteilung zu unterziehen. Das Zusammenspiel des äußeren Anlasses, also seiner Verketzerung als Hussit, und der inneren Disposition, d. h. der rechtfertigungstheologischen Umformung des Häresiebegriffs, bestimmten die Dynamik in Luthers Auseinandersetzung mit Hus und den Hussiten in den Jahren zwischen 1518 und 1520.

2.  Die Umformung von Luthers Häresiebegriff im Ablassstreit In seinen Resolutiones zu den 95 Thesen, die im August 1518 im Druck vorlagen, kam Luthers Umwertung des Häresiebegriffs dahingehend zum Tragen, dass er feststellte, dass er diejenigen als seelenverderbende Ketzer bezeichnen müsse, die lehrten, dass der Ablass des Papstes die Gnade der Versöhnung mit Gott sei (indulgentias Papae esse gratiam reconciliationis dei) 21. Diese von Luther als häretisch inkriminierte Lehrauffassung fand sich in der Instructio Summaria Kardinal Albrechts von Brandenburg, in der die Ablassgnade als eine solche Gnade bezeichnet worden war, über die Größeres nichts genannt werden könne (gratia nihil maius dici potest) 22 . „Ich 19   Bernhard Lohse, Luther und Huß, in: Ders., Evangelium in der Geschichte, hg. von Leif Grane, Bernd Moeller und Otto Hermann Pesch, Göttingen 1988, S.  65–79, hier: 71. 20  Vgl. Lohse, a.a.O., S.  71. Johannes Heckel hat unter dem Eindruck der Hollschen Lutherinterpretation bereits an der ersten Psalmenvorlesung wahrgenommen, dass Luther die „mittelalterliche Einheit des geistlich-weltlichen Reichs der Kirche aufgerissen [habe], indem er die Kirche wegen ihres geistlichen Wesens, als regnum sacrum scharf von der weltlichen Herrschaft absonderte.“ Damit aber sei der „Bau des kanonischen Rechts [.  .  .] gesprengt“ worden. Johannes Heckel, Initia iuris Protestantium, in: Ders., Das blinde, undeutliche Wort ‚Kirche‘, Köln, Graz 1964, S.  132–242, hier: 159. 21   WA 1, S.  589,17 f. 22   Walther Köhler, Dokumente zum Ablassstreit von 1517 [SAKDG 3], Tübingen 21934,

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bedauere“, so Luther weiter, „dass unsere benachbarten Ketzer, die böhmischen Pikarden, aufgrund von Äußerungen dieser Art die Gelegenheit erhielten, die römische Kirche mit Recht anzuklagen.“23 Die theologisch skandalöse Ablasspropaganda, die im Namen und durch Repräsentanten der römischen Kirche praktiziert wurde, nötigte den loyalen Sohn dieser Kirche also dazu, die Berechtigung der hussitischen Kritik an ihr anzuerkennen. Gerade gegenüber den Böhmen und ihrer Kritik an der Kirche hatte Luther als deren Apologet auftreten wollen. Deshalb verwarf er die Verbrennung der Ketzer und insistierte mit dem Apostel Paulus darauf, dass es Ketzereien geben müsse (1 Kor 11,19).24 Die am Ablass aufgebrochene Selbstkritik der Kirche, die Luther als ihr loyales Glied vortrug, sollte gegenüber den Böhmen, die sich an der Schande des römischen Stuhls so freuten wie die Pharisäer über den Zöllner, nämlich mitleids- und lieblos, verdeutlichen, „dass wir unsere Fehler und Mängel kennen und nicht verschweigen oder diese gar billigen“.25 In Bezug auf die eigene Kirche aber bedeutete der Rekurs auf die böhmischen Ketzer, deren selbstbezogenen Hochmut Luther auch weiterhin scharf ablehnte, dass sie dazu genötigt wurde, mit Kriterien zu argumentieren, denen sich auch die Ketzer nicht entziehen könnten: Denn die Pikarden werden sich nicht mit einem Hinweis auf den Willen des Papstes und der römischen Kirche begnügen, sondern nach einem Schriftzeugnis oder einem vernünftigen Grund fragen.26 Letzteres aber, so spitzt Luther zu, sei sein eigentliches Anliegen in dieser ganzen Angelegenheit (Et certe iste est mihi vel unicus scopus in ista materia tota).27 Die böhmischen Ketzer fungierten also in den Resolutiones als Instanz, die die römische Kirche nötigt, nach Maßgabe der einzig legitimen Kriterien theologischer Urteilsbildung – Schrift und Vernunft – zu argumentieren. Im Modus der rhetorischen Insinuation repräsentierten die Böhmen jene theologischen Normen, deren Durchsetzung Luthers eigentliches Anliegen im Ablassstreit war. Luthers rhetorische Strategie setzte seine Loyalität gegenüber der römischen Kirche ebenso voraus wie die Berechtigung der Verketzerung der Böhmen. Wegen dieser beiden Voraussetzungen konnte er die Kritik der Böhmen an der römischen Kirche punktuell positiv aufnehmen und als notwendige Selbstkritik behandeln, die dazu dienen sollte, die entsprechenden Missstände zu beseitigen. Damit aber waren die böhmischen Ketzer im Modus der Interpretation durch einen Lehrer der Kirche zu S.  110,25; zit. WA 1, S.  589,25; vgl. zur Instructio Summaria die kompetente Einleitung in die Edition von Fabisch/Iserloh, Dokumente, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  246 ff., hier: 264. 23   „Doleo [sc. Luther] et haereticis nostris propinquis Pighardis tandem venisse occasionem iu­ ste criminandi Ecclesiam Romanam, si haec in ea doceri audierint.“ WA 1, S.  589,33–35. 24   WA 1, S.  625,4 f. 25   „Atque haec ideo quoque commemoro, ne Pighardi, nostri vicini, haeretici, infoelix populus, qui fetore Romano gaudet, sicut Pharisaeus super publicanum, non autem compatitur, ne, inquam, illi nos crederent nescire vitia et labes nostras et immensum adversus nostram miseriam superbirent, si nos ista tacere et approbare videremur.“ WA 1, S.  625,7–12. 26   „Hii [sc. die Pikarden] non voluntatem Papae et Romanae ecclesiae, sed vel auctoritatem vel rationem probabilem quaerent [.  .  .].“ WA 1, S.  608,33 f. 27   WA 1, S.  608,34 f.

3.  Hus und die Hussiten im Kontext der Leipziger Disputation

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Advokaten einer Wahrheit geworden, die es innerhalb der Kirche und notfalls gegen sie durchzusetzen galt. Auch wenn Luther noch an der traditionellen Bezeichnung der Böhmen als Ketzer festhielt, waren die Auswirkungen dessen, dass er auf eine durch das kanonische Recht begründete Häresiologie verzichtete, schon im Sommer 1518 unübersehbar. Denn ja auch in der römischen Kirche und durch sie würden im Zusammenhang mit dem Ablass grässliche Häresien28 vertreten. Freilich erschien Luther dies deshalb noch als relativ erträglicher als die Ketzerei der Böhmen, weil es sich innerhalb der Kirche vollzog. Der Weg der Ketzer aber führte an dem leidenden, halbtoten Leib der Kirche vorbei; „wir hingegen fliehen nicht wie die Ketzer“, so Luther, „als ob wir fürchteten, mit ihren Sünden befleckt zu werden. Wir eilen herbei mit Weinen, Bitten, Ermahnen, Flehen.“29 An der Liebe zur Kirche, an dem Willen zur Solidarität mit ihr gerade angesichts ihres Versagens, entschied sich für den Luther des Ablassstreites, was Ketzerei genannt zu werden verdiente und was nicht. Gerade weil er sich der Liebe zu seiner Kirche sicher war und in der Kritik an ihr die Form sah, ihr beizustehen, hielt er es zunächst für ganz abwegig, dass die Versuche seiner Kontrahenten, ihn als hussitischen Ketzer zu verklagen, erfolgreich sein könnten.

3.  Hus und die Hussiten im Kontext der Leipziger Disputation Im Zusammenhang der Leipziger Disputation erhielt die Auseinandersetzung mit der böhmischen Ketzerei eine neue Intensität. Bei der Interpretation des Gesamtzusammenhangs freilich ist – wie schon in Bezug auf die Kontroverse mit Tetzel – entscheidend, dass Luther keineswegs primär defensiv auf die Thematik einging, sondern sie offensiv behandelte. Dies hatte er auch in den Resolutiones schon getan, indem er die berechtigte Kritik der Hussiten an der römischen Kirche im Modus innerkirchlicher Selbstkritik aufgenommen hatte, freilich ohne deren hochmütigschismatische Gesinnung in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Dies tat er nun auch im Vorfelde der Leipziger Disputation in seinen im Mai 1519 gegen Eck publizierten Thesen. Ecks Vorwurf, er missachte die Monarchie des römischen Papstes30, begeg28

  Vgl. z. B. WA 1, S.  589,16.   „Scimus heu nostrum casum et dolemus, non autem sicut haeretici fugimus et semivivum transimus tanquam alienis peccatis pollui timeremus. Quo furioso timore illi sic timent, ut non pudeant gloriari, sese ideo fugere, ne polluantur. Tanta est charitas. Nos vero, quo miserius laborat Ecclesia, eo fidelius assistimus et accurrimus flendo, orando, monendo, obsecrando. Sic enim charitas iubet, alterum alterius onera portare, non sicut haereticorum charitas facit quae solum commoda quaerit alterius [.  .  .].“ WA 1, S.  625,12–18. 30   Schon in seinen Obelisci vom Frühjahr 1518 hatte Eck im Zusammenhang mit Luthers ekklesiologischen Vorstellungen davon gesprochen, dass er ‚böhmisches Gift‘ ausbreite, vgl. ed. Fabisch/ Iserloh, Dokumente 1. Teil, wie Anm.  14, S.  392; 429; 431 Z.  4. In seinem Disputationsthesen für die Leipziger Auseinandersetzung hatte Eck die Papstfrage in den Thesen 12 und 13 ins Zentrum gerückt, s. Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 29

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§  2  Häresiologie

nete Luther mit dem Hinweis, dass der Papst nicht das Oberhaupt der Kirchen „in India et oriente“31 sei. Überdies zitierte er einen der in Konstanz verurteilten Artikel des Jan Hus, dass die päpstliche Vorrangstellung der Vollmacht des römischen Kaisers entsprungen sei.32 Außerdem ließ er keinen Zweifel daran, dass es wohl auch noch andere Hussche Artikel geben mochte, denen er zustimmte. Damit hatte sich Luther erstmals in einer bestimmten Frage eindeutig positiv zu einem rite et recte verurteilten Häretiker der römischen Kirche gestellt. Als Eck Luther dann im Kontext der Leipziger Disputation mit weiteren der in Konstanz verurteilten ekklesiologischen Artikel Wiclifs und Hus’ konfrontierte33, die die Heilsnotwendigkeit eines Glaubens an einen Primat der römischen Kirche und des Petrusamtes bestritten, knüpfte er an Luthers Thesen vom Mai an, indizierte die entsprechenden Lehrauffassungen freilich eindeutig als ketzerisch und veranlasste Luther dazu, sich grundsätzlich über sein Verhältnis zu den Böhmen zu erklären.34 Für Eck bestand Ketzerei in einer kirchenrechtlich verbindlich ratifizierten 2. Teil [CCath 42], Münster 1991, S.  253. Der erste Beleg einer öffentlichen Reflexion über den gegen ihn erhobenen Ketzervorwurf findet sich im Sermon von Ablaß und Gnade, WA 1, S.  246,31. 31   WA 2, S.  159,13 f. 32  DS38, Nr.  1208, S.  439; Mirbt/Aland, wie Anm.  4, Nr.  771, S.  480 Art.  9 : „Papalis dignitas a Caesare inolevit, et Papae praefectio et institutio a Caesaris potentia emanavit.“ Bei Luther heißt es: „[.  .  .] inter articulos Ioannis Huss censeri etiam a nonnullis hunc, quod Romani Pontificis papalem excellentiam a Caesare esse dixerit [.  .  .].“ WA 2, S.  159,17–19. Er selbst wollte damals die päpstliche Monarchie allerdings noch aus päpstlichen Dekreten erweisen, S.  159, 19 f. In den Auseinandersetzungen, die Luthers Schüler Franz Günther und Thomas Müntzer im Frühjahr 1519 mit den Jüterboger Franziskanern führten (vgl. nur: Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  312 ff.; Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen 31976, S.  49 ff.; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  249 ff.) spielte vor allem die These der Wittenberger Adepten, „quod Bohemi essent meliores Christiani quam nos“ eine Rolle, zit. nach der Schrift des Franziskaners Bernhard Dappen: Articuli Per Fratres Minores .  .  . contra Luteranos, als Faksmile in: Gerhard Brendler (Hg.), Der Lutheraner Müntzer. Erster Bericht über sein Auftreten in Jüterbog. Verfasst von Franziskanern anno 1519, Berlin 1989, A 2r; vgl. S.  10; 26. 33   „Hinc inter damnatos et pestiferos errores Ioannis Vuiclef damnatus est et ille: ‚Non est de necessitate salutis credere Romanam ecclesiam esse supremam inter alias.‘“ WA 2, S.  275,8–10 = WA 59, S.  461,880–882. Es handelt sich um die fast wörtliche Wiedergabe der 41. der verdammten Thesen Wiclifs. DS38, Nr.  1191, S.  436; Mirbt/Aland, wie Anm.  4, Nr.  771, S.  479. Von den Thesen Hus’ werden von Eck angeführt: „‚Petrus non est nec fuit caput ecclesiae sanctae catholicae.‘“ WA 2, S.  275,11 = Art.  7 der verdammten Husschen Artikel, DS38 S.  1207, S.  439; Mirbt/Aland, wie Anm.  4, Nr.  771, S.  480. „Et alius: ‚Non est scintilla apparentiae, quod oporteat esse unum caput in spiritualibus regens ecclesiam, quod semper cum militante ecclesia conversetur.‘“ WA 2, S.  275,12 f. = WA 59, S.  461,884–887 = Art.  27, außer am Schluss: „cum Ecclesia ipsa militante conversetur et conservetur.“ DS38, Nr.  1227, S.  442; Mirbt/Aland, wie Anm.  4, Nr.  771, S.  481. „Et iste ‚papalis dignitas a caesare inolevit‘.“ WA 2, S.  275,14 = WA 59, S.  461,887 f., s. oben Anm.  32; „et papae perfectio et institutio a Caesare emanavit.“ WA 2, S.  275,14 f. = WA 59, S.  461,887 f., s. oben Anm.  32. Die letzten beiden, die 9. der Konstanzer Hus-Anathematismen aufnehmenden Thesen hatte Luther im Mai selbst positiv angeführt, s. Anm.  32. 34   Für überzogen freilich halte ich es, wenn Leppin davon spricht, Luther sei im Zuge der Leipziger Disputation durch Eck „genötigt [worden], zuzubilligen, dass unter den Lehren des Hus viele ganz christlich gewesen seien“ (Volker Leppin, Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner [Hg.], Luther und das monastische Erbe [SMHR 37], Tübingen 2007, S.  153–169, hier: 163; noch

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Devianz von der römischen Kirche. Die Zitation inkriminierter Sätze genügte vollauf, um aktuelle Lehrauffassungen insofern als häretisch zu erweisen, als ihre sachliche Übereinstimmung mit den entsprechenden anathematisierten Sätzen erwiesen werden konnte. Wenn ein Disputant gar, wie Luther es in Leipzig tat, seine Zustimmung zu einem ketzerischen Satz erklärte, war der ‚Fall‘ ohnehin klar. Luther war nach Ecks Einschätzung mit dem böhmischen Gift35, die Schrift besser verstehen zu wollen als Päpste, Konzilien, Doktoren, Universitäten, die Tradition usw., infiziert. Der Ingolstädter Kollege desavouierte ihn deshalb als Schutzherrn der Böhmen bzw. als „hereticus“36. Luther hingegen bestärkte in Übereinstimmung mit seinen ältesten Äußerungen über die Böhmen, dass er ihr schismatisches Verhalten, „quod se auctoritate propria separant a nostra unitate“37, von Grund auf ablehne. Das oberste Gesetz Gottes (ius divinum) bestehe in der Liebe und der Einheit des Geistes.38 Mit der Affirmation irgendeines verurteilten Artikels war für Eck eo ipso der Sachverhalt der Ketzerei gegeben; dass Luther unter den ‚verdammungswürdigen Irrtümern‘ Hussens christliche Aussagen finden zu können meinte39, interpretierte einseitiger in dem Abschnitt „Vom Gegner zur Einsicht gezwungen: die Leipziger Disputation“, in: Ders., Martin Luther, Darmstadt 2006, S.  144–151, hier bes. 145 [mit vorgängigem Zitat wörtlich übereinstimmend]). Leppin ist offenbar entgangen, dass Luther in seinen Thesen vom Mai Art.  9 der Konstanzer Kondemnation zitiert hatte (s. Anm.  32), sich Eck also unter Erweiterung der Kon­ stanzer Quellenbezüge auf ein von Luther selbst betretenes Terrain begab. (Zur Sache hat sich Leppin jetzt erneut geäußert: Volker Leppin, Papst, Konzil und Kirchenväter. Die Autoritätenfrage in der Leipziger Disputation, in: Markus Hein/Armin Kohnle [Hg.], Die Leipziger Disputation 1519 [HerChr Sonderbd. 18], Leipzig 2011, S.  117–124; eine Replik auf Leppin erübrigt sich.) Zur Leipziger Disputation im Lichte akademischer Disputationsregularien vgl. Anselm Schubert, Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105, 2008, S.  411–442; zu verschiedenen Aspekten der Leipziger Disputation vgl. auch Hein/Kohnle, ebd. Dass Eck Luther als Hussiten denunzierte, wirkte in der reformatorischen Publizistik fort, vgl. Intimatio Erphurdiana (s. dazu II, §  7, Anm.  106 ff.), in: Paul Kalkoff, Humanismus und Reformation in Erfurt (1500–1530), Halle 1926, S.  94. 35   „virus Bohemicum“ WA 2, S.  282,12; die Neuedition von Bos liest freilich zutreffender: „verum Bohemicum“, WA 59, S.  470,1177. 36   WA 2, S.  275,36 = WA 59, S.  462,910 f.; WA 2,285,8.10 = WA 59, S.  475,1310–1312; dazu Ecks Replik: „Sum disputator neque haereticum [sc. Luther] dixi, sed dicta sua haereticis et maxime Bohemis favere et patrocinari [.  .  .].“ WA 2, S.  290,12 f. = WA 59, S.  481,1548 f. 37   WA 2, S.  275,38 f. = WA 59, S.  462,913 f. 38   „[.  .  .] inique faciunt Bohemi, quod se auctoritate propria separant a nostra unitate, etiamsi ius divinum pro eis staret, cum supremum ius divinum sit charitas et unitas spiritus.“ WA 2, S.  275,38– 276,1 = WA 59, S.  462,913–915. 39   Vgl. etwa: WA 2, S.  285,12 ff. = WA 59, S.  475,1314 ff. in Replik auf Ecks Ausführungen WA 2, S.  283,26 ff. bzw. Luthers Formulierungen WA 2, S.  279,11 f. = WA 59, S.  466,1048 f. Luthers Einwurf „Non est verum, quod contra Constantiense concilium loquutus sim.“ (WA 2, S.  283,30 f.; in direkter Rede, textgeschichtlich zuverlässiger, WA 59, S.  472, 1237 f.) wird von Leppin (Luther, wie Anm.  34, S.  146) so interpretiert, dass Luther „anscheinend noch gar nicht merkte, worauf er sich eingelassen hatte“. Dies scheint mir nicht einleuchtend zu sein, da es ja auch vorher schon um das Verhältnis von ecclesia universalis, ecclesia Romana und die Rolle der Konzilien gegangen war. Wahrscheinlicher scheint mir zu sein, dass Luther nicht dem Lager der Antikonziliaristen zugeschlagen werden und seine Kritik an der Inkriminierung einzelner Husscher Sentenzen nicht als generelle Kritik am Konzil verstanden wissen wollte. Luther wehrte sich also gegen eine ‚sophisti-

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er logisch zwingend als Infragestellung der Autorität der Konzilien.40 Diese formale Kriteriologie reichte nach Eck für den Nachweis der Ketzerei Luthers aus. Dessen Versuche, etwa in dem in der Textüberlieferung grotesk verstümmelten christologischen Artikel41 Hussens oder in seinen nach Auffassung des Wittenbergers auf Augustin zurückgehenden Aussagen zur Kirche als Gemeinschaft der Prädestinierten42 unwiderlegbare theologische Wahrheiten auszumachen, prallten an der juridischformalistischen Häretisierungsstrategie des Ingolstädter Theologen ab. Die Leipziger Disputation intensivierte also Luthers Beschäftigung insbesondere mit Hus und förderte seine Bereitschaft, sich mit einzelnen seiner Artikel zu identifizieren. Die sich an der Auseinandersetzung um die Husschen Artikel entzündende Verschärfung des Konflikts, die insbesondere Georg von Sachsen zu der Überzeugung führte, Luther selbst sei einer der verhassten Hussiten43, war durch Luthers eigenes Verhalten initiiert worden.

4.  Zur öffentlichen Wirkung von Luthers Bezugnahmen auf Hus In den Obelisci, handschriftlich verbreiteten kritischen Erwiderungen, die Eck für Gabriel von Eyb, den Bischof von Eichstätt und Kanzler der Universität Ingolstadt, in den ersten Monaten des Jahres 151844 zu den 95 Thesen Luthers verfasst hatte, war der sche‘ Konsequenzenmacherei Ecks. Die vorreformatorische Diskussionslage zum Verhältnis von Konziliarismus und Papalismus (vgl. nur: Hans-Jürgen Becker, Die Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil [Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 17], Köln u. a. 1988) dürfte für die Interpretation der Leipziger Disputation von zentraler Bedeutung sein. Vgl. Christoph Spehr, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit [BHTh 153], Tübingen 2010, S.  138 ff. 40   Vgl. Ecks Konsequenz: „Hoc dico [sc. Eck] vobis [sc. Luther], reverende pater, si creditis concilium legitime congregatum errasse aut errare, estis mihi sicut ethnicus et publicanus. Quid sit haereticus in presentia non discutiamus.“ WA 2, S.  311,18–20 = WA 59, S.  511,2415–2418; vgl. WABr 1, S.  489,384–386. 41   Vgl. die Bemerkungen zu Art.  4 in DS38, Nr.  1204 Anm.  1, S.  438. Der Artikel lautet lediglich: „Duae naturae, divinitas et humanitas, sunt unus Christus.“ Ebd. Nach DS38, ebd. ist ein Relativsatz ausgefallen, der Christus als einziges Haupt der als „praedestinatorum universitas“ verstandenen universalen Kirche bezeichnet. Luther kennt nur die zitierte Kurzform und bekräftigt, dass dies ein ‚allerchristlichster‘ und evangelischer Artikel sei, WA 2, S.  288,11 ff.; vgl. 287,39 ff. = WA 59, S.  479, 1441 ff.; 478, 1428 ff. 42   „Inter articulos Huss est et ille: ‚Unica est sancta universalis ecclesia quae est praedestinatorum universitas‘; item alius: ‚Universalis sancta ecclesia tantum est una sicut tantum unus est numerus praedestinatorum‘. [DS38, Nr.  1201, S.  438; Mirbt/Aland, Nr.  771, S.  481 ]. Hi duo non sunt Huss sed Augustini super Iohannem VI. ad verbum propre; et repetuntur per magistrum 4. sententiarum in iiii. de sacramento eucharistiae.“ WA 2, S.  287,34–39 = WA 59, S.  478,1423–1428; vgl. CChr SL 36, S.  267,27–30; MPL 192, col. 857. 43   Vgl. das Votum Herzog Georgs nach dem Bericht Sebastian Fröschls (1566), in: W2 15, Sp.  1207; zit. auch bei Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  305. 44   Vgl. zu den Obelisci (Erstdruck in dem ersten Band der lat. Werke Luthers 1545) WA 1, S.  278– 314; vgl. WA 9, S.  770–778; Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  14, S.  376 ff.; 401–447; s. auch WA 1, S.  320,31; Felician Gess (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs

4.  Zur öffentlichen Wirkung von Luthers Bezugnahmen auf Hus

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Wittenberger bereits im Frühjahr 1518 damit konfrontiert worden, dass sein Ingolstädter Kollege ihn in einer Nähe zur böhmischen Ketzerei sah. Aus Luthers 37. Ablassthese – jeder Christ, lebendig oder tot, habe geschenkweise von Gott, auch ohne Ablassbriefe, an den Gütern Christi und der Kirche teil45 – hatte Eck scharfsichtig gefolgert, dass sie die Bruderschaften und sonstigen Kongregationen überflüssig mache, „quod nihil aliud est quam Bohemicum virus effundere“.46 Und von anderen der Thesen, die den Ablass gegenüber sittlichen Guttaten herabsetzten und dafür sogar den Papst in Anspruch nahmen47, meinte Eck, sie seien ‚unappetitlich‘, wenn man nicht gar sagen wolle: sie schmeckten nach Böhmen.48 Doch diese noch eher vage, von Luther freilich in einem Brief an Egranus in Zwickau als scharfe Häretisierung49 empfundene Verbindung, die Eck zwischen ihm und den böhmischen Husvon Sachsen, Bd.  1, Leipzig 1905, ND Köln, Wien 1985, Nr.  62, S.  48 f., hier: 48,5 ff. Luther kannte die ausschließlich handschriftlich verbreiteten Obelisci am 24.  3. 1518, vgl. WABr 1, Nr.  65, S.  156–159, hier: 157,10 ff. (Luther an Johannes Sylvius Egranus; die Stelle zeigt, dass er angesichts der durch Scheurl eingeleiteten ‚Freundschaft‘ zwischen sich und Eck über Inhalt und Form dieser ihm nur indirekt zugespielten scharfen Einwände des Ingolstädters entsetzt war). Vgl. Kurt-Victor Selge, Der Weg zur Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck im Jahr 1519, in: Bernd Moeller/ Gerhard Rubach (Hg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, Tübingen 1973, S.  169–210, hier bes. 172 ff.; Manfred Schulze, Johannes Eck im Kampf gegen Martin Luther, in: LuJ 63, 1996, S.  39–68, hier bes. 40 f. Volker Mantey, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers ZweiReiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund [SuR N. R. 26], Tübingen 2005, S.  178 ff.; zur Leipziger Disputation und zur Reaktion auf den Sermon im Rahmen der Religionspolitik Georgs von Sachsen vgl.: Christoph Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 [SMHR 41], Tübingen 2008, S.  453 ff. 45   WA 1, S.  235,9–11. 46   WA 1, S.  302,15 f. (XVIII. Obeliscus) = Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  14, S.  430 f. In seinen Asterici (vgl. dazu nur: Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  206 f.) parallelisierte sich Luther daraufhin mit dem als Ketzer inkriminierten Reuchlin: „Per omnia mihi Ecckius facit, sicut Iohanni Reuchlin fecit ille suus Satan.“ (WA 1, S.  302,33 f.). Mit letzterem Hinweis dürfte Hoogstraten gemeint sein (vgl. Hans Peterse, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin [VIEG 165], Mainz 1995). Pirckheimer hatte Eck in einer Verteidigungsschrift für Reuchlin 1517 neben Luther unter die hervorragenden Vertreter einer humanistischen, nicht-scholastischen Theo­ logie gerechnet (vgl. Dieter Wuttke [Hg.], Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  3, München 1989, S.  162, 567–570; Peterse, a.a.O., S.  83). Dass Reuchlins Prozess in Rom unter den Einfluss der Causa Lutheri geriet und schließlich zur Verurteilung des großen Humanisten führte, war freilich nicht dem Engagement Ecks, sondern der Initiative Cajetans geschuldet, s. a.a.O., S.  138. Im Eccius dedolatus, jener Pirckheimer zugeschriebenen Satire, die Luther am 2.  3. 1520 in einer Handschrift (WABr 2, Nr.  263, S.  59,6 mit Anm.  3) kannte, bevor sie am 10.  7. 1520 als Erfurter Druck (WABr 2, Nr.  310, S.  136–138, hier: 137,8) des Matthes Maler erschienen war, war Eck bereits als Gegner der Humanisten und besonders Reuchlins dargestellt worden (vgl. Niklas Holzberg [Hg.], Eckius dedolatus. Der enteckte Eck, lat. dt. [ub 7993], Stuttgart 1983, S.  58 ff.). 47   Gemeint sind die Thesen nach der 45., vgl. WA 1, S.  235,28 ff. 48   „Plura possent dici de sequentibus [sc. nach These 45, vgl. WA 1, S.  304,22–24] Propositionibus, quarum plures sunt incoctae et insipidae, nisi dicas quod Bohemiam sapiant.“ WA 1, S.  305,7 f. = Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  14, S.  435. 49   „Scripsit vero Obeliscos [sc. Eck], in quibus me appellat virulentum, Bohemum, haereticum, seditiosum, procacem, temerarium, iam leviores contumelias omitto, quod dormitantem, ineptum, indoctum, tandem Summi Pontificis contemptorem, breviter nihil aliud nisi teterrimas contumelias, expresso nomine meo et signatis Propositionibus meis, ita ut in Obeliscis illis nihil sit nisi livor

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§  2  Häresiologie

siten hergestellt hatte, war zunächst nicht publik geworden. Hinsichtlich der öffentlichen Identifikation der Lutherschen Lehre mit der Ketzerei der Böhmen aber bedeutete das Ereignis der Leipziger Disputation, die rasch nach ihrem Ende einsetzende Berichterstattung über dieses Ereignis50 und die im Spätsommer bzw. Frühherbst et ferrugo animi furiorissimi.“ WABr 1, S.  158,18–23; vgl. Karlstadts und Luthers Brief auf die ‚Denunziation‘ (vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  311 f.; Pfnür, Eck, Briefwechsel, wie Anm.  59, Nr.  97) Ecks bei ihrem Landesherrn Kurfürst Friedrich von Sachsen vom 18.  8. 1519 (WABr 1, Nr.  192, S.  458 ff., hier: 466,31 ff.), in dem sie die Angriffe Ecks in den Obelisci deutlich herausstellten. Es ist nicht zu übersehen, dass Luther die Verbindung, die Eck zwischen ihm und den Böhmen hergestellt hat, gegenüber Egran und dem Kurfürsten erheblich zuspitzt. Selge hat festgestellt, dass Eck einen „direkte[n] Häresievorwurf“ „nicht explizit ausgesprochen“ (Selge, Weg, wie Anm.  44, S.  174 Anm.  16) habe; Schulze, Eck, wie Anm.  44, S.  41 Anm.  9 betont demgegenüber: „Was ist ‚böhmisches Gift‘ [s. Anm.  46] anderes als geistlich wie politisch brandgefährliche Häresie? Eck hat sich in keiner Weise zurückgehalten, hat gerade auch mit politischen Insinuationen nicht gespart.“ Dieses Urteil scheint mir etwas überzogen zu sein; Ecks Obelisci waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und stellten zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Mobilmachung für die Disputation mit Luther dar. Der Hinweis auf das ‚böhmische Gift‘ diente eher dazu, häretische Implikationen oder mögliche Konsequenzen der Lutherschen Ablassthesen aufzuzeigen, als dass er schon von der Überzeugung bestimmt gewesen wäre, in Luther wirklich einen ‚böhmischen Ketzer‘ vor sich zu haben. Zu Ecks ‚Denunziation‘ Luthers als Husanhänger vgl. auch: WABr 1, S.  460,26 ff.; 462,3 f.; 466,31 ff.; 470,16 ff.; 480,40 ff.; 486,252 ff. 50   In dem ersten gedruckten Bericht (Wittenberg, Grunenberg, vor dem 26.  7. 1519; vgl. MBW.T 1, Nr.  59, S.  132–141; vgl. BAO 1, Nr.  63; 64a, S.  97–99; 99 f.; s. auch MBW 66, S.  65 f.) von der Leipziger Disputation, der an Oekolampad adressierten Epistola de Lipsica Disputatione, ging Melanchthon ausführlicher darauf ein, dass Eck Hus’ in Konstanz verdammten Artikel (DS38, Nr.  1207, s. oben), es sei nicht heilsnotwendig, an den Primat der römischen Kirche zu glauben, angeführt hatte, MBW.T 1, S.  138,130 ff. Luther habe darauf „[p]rudenter“ (MBW.T 1, S.  139, 133) erwidert, dass nicht alle in Konstanz verdammten Artikel häretisch seien. Ansonsten berichtete Melanchthon von dem Problem der Irrtumsfähigkeit bzw. der auctoritas der Konzilien und davon, wie Eck mit dem Vorwurf der böhmischen Ketzerei umgegangen sei, a.a.O., S.  139,135–140; vgl. WA 59, S.  461,880 ff.; 471,1220 ff.; vgl. zu Melanchthons Bericht auch Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  309; Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, S.  58. Der Benediktinermönch Matthäus Hiscold hat unmittelbar nach der Disputation (dat. 27.  7. 1519) einen an Friedrich von Sachsen gerichteten Bericht über die Disputation verfasst (ZV 17396; Otto Clemen, Literarische Nachspiele zur Leipziger Disputation, in: Ernst Koch [Hg.], Otto Clemen. Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, Bd.  1, Leipzig 1982, S.  54–81, hier: 54 Anm.  1), gegen die Johann Ulrich Schultherr von Bu(o)ch eine pro-Eckische Verteidigung publizierte (Clemen, a.a.O., S.  57 Anm.  5); in dieser Schrift des Eckanhängers wurde der Ketzereivorwurf, insbes. Luthers These, einige der hussitischen Artikel seien christlich, ausführlich behandelt (s. a.a.O., S.  56 f.). Hiscold war übrigens vorgeworfen worden, ein entlaufener Mönch zu sein, was er in einer Replik (VD 16 H 3970; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1579, S.  49; Ex. MF 1946 Nr.  4961) zurückwies, s. Clemen, a.a.O., S.  59 f., ohne allerdings auf die Hussitenfrage nochmals einzugehen; zu Cellarius’ Bericht gegenüber Capito (VD 16 K 696 f.; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  227, Nr.  517 f.; Ex. MF 51 Nr.  144; 448 Nr.  1202; vgl. W2  15, Sp.  1232– 1239; vgl. Olivier Millet, Correspondance de Wolfgang Capiton [1478–1541] [Publication de la Bibiothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg VIII], Straßburg 1982, Nr.  31, S.  10 f.) vgl. Clemen, a.a.O., S.  62 ff.; zur Hussitenthematik W2  15, Sp.  1236. Der Wittenberger Rektor Eisenmann (Johannes Hessus Montanus) trat mit einem Encomium (Clemen, a.a.O., S.  68 f. Anm.  31) hervor, in dem er unter anderem gegen die Behauptung, Eck habe im Unterschied zu den Wittenbergern alleine gefochten, darlegte, Mönche und Sophisten hätten ihn umringt und für ihn die „inquisitiones haereticae pravitatis“ (Clemen, a.a.O., S.  70) „aus dem Sack“ gezogen; vgl. auch Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reformation Movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994,

5.  Prohussitische Stimmung?

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1519 aufbrausende Welle der bald in die Volkssprache übergehenden reformatorischen Flugschriftenpublizistik einen ‚Dammbruch‘.

5.  Prohussitische Stimmung? Die vorwiegend affirmative Aufnahme, die die Nachricht, Luther habe sich positiv zu einigen der in Konstanz verurteilten Artikel des Jan Hus gestellt, in der Publizistik je länger, desto mehr fand51, dürfte darauf hindeuten, dass das Image der Hussiten außerhalb der Schultheologie keineswegs so negativ war, wie Häresiologen vom Schlage Tetzels oder Ecks vorausgesetzt hatten.52 In dem Maße, in dem die reformatorische Bewegung publizistisch voranschritt und die ‚öffentliche Meinung‘ zu dominieren verstand, verlor der Ketzername der Hussiten seine verängstigende Kraft. Nachdem die Akten der Leipziger Disputation auf Betreiben von Luthers Freund und Ordensbruder Johannes Lang gegen Ende des Jahres 1519 die Presse verlassen

S.  127 ff. Das Themenfeld der hussitischen Ketzerei ist ein immer wieder genannter, aber nicht der zentrale Aspekt der humanistisch dominierten Publizistik im Nachgang der Leipziger Disputation. Gleichwohl trug die Literaturproduktion nach Leipzig das Ihre dazu bei, dass das ‚Wissen‘ darum, dass Luther mit der böhmischen Ketzerei in Zusammenhang gebracht wurde, weitere Verbreitung fand. 51   Mit dem Datum des 13.  8. 1519 publizierte der in den Diensten Georgs von Sachsen tätige Hieronymus Emser eine Schrift, in der Luthers Äußerungen über die Böhmen, die im Rahmen der Leipziger Disputation gefallen waren, dargelegt und polemisch kommentiert wurden: De disputatione Lipsiensi: quantum ad Boemos obiter deflexa est: Epistola Hieronymi Emser [Leipzig, M. Lotter 1519 ]; anderer Druck: [Augsburg, S. Otmar 1519]; VD 16 E 1115 f.; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  899 f., S.  385; Ex. MF 175 Nr.  486; MF 1200 Nr.  3027; Text von Luthers Entgegnung: WA 2, S.  658–679. Emsers Text auch: EA var. arg. 4, S.  3 –12; Franz Xaver Thurnhofer (Hg.), Hieronymus Emser, De Disputatione Lipsiensi .  .  . [CCath 4], Münster/W. 1921, S.  29–41. Emser argumentierte – anders als Eck und Tetzel – in Richtung auf die böhmischen Katholiken. Obwohl die Hussiten während der Leipziger Disputation angeblich Gottesdienste für Luther veranstaltet hätten (vgl. WA 2, S.  655 f. mit Anm.  1; WABr 1, S.  416), stehe er nicht auf ihrer Seite; zur weiteren Kontroverse, in die auch Eck und Oekolampad involviert waren, vgl. WA 2, S.  656 f. 52   In der anonym erschienenen Canonicorum indoctorum Lutheranorum ad Johannem Eccium Responsio [Johannes Oekolampads], die eine Äußerung Ecks, alle außer einigen ungelehrten Domherren stimmten ihm bei, aufnahm (vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  319 f.; BAO 1, S.  109 Anm.  1; s. u. II, §  10, Anm.  40 ff.), wurde Ecks Ketzereivorwurf gegen Luther dadurch ‚entkräftet‘, dass man die Neigung des Ingolstädters, ‚Ketzerhüte‘ zu verteilen, überspitzend bloßstellte: „Atqui nunc, cum insignis tua [sc. Eck] modestia, quae et in proverbium cessit, Martinum Lutherum, vitae sanctimonia nobis commendatum ecclesiasticaeque theologiae vindicem diligentissimum simul ac liberrimum, privatim et publicitus Manichaeum, Vuicklefistam, Hussitam, et sex centis nominibus aliis vocans, Christianum ferre nequit [.  .  .].“ EA var. arg. 4, S.  62; vgl. a.a.O., S.  68: „Verum tu [sc. Eck] Herode vafrior et nos molareris, si obsequeremur, nunc Vuicklefistas, nunc Manichaeos cognominans, et inter idola sophismatum considens comitatum non polliceris.“ Zu Oekolampads Verfasserschaft vgl. BAO 1, Nr.  70, S.  108 f.; WABr 2, Nr.  261, S.  56 f., hier: 56,7 f.; WABr 1, S.  609 Anm.  5 ; S.  619,4 f.; vgl. WA 6, S.  579,8 mit Anm.  1; zur Einordnung der Schrift in die anonyme frühreformatorische Flugschriftenpublizistik s. u. II, §  10, Abschnitt 2.; vgl. Grane, Martinus Noster, wie Anm.  50, S.  174 ff.

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§  2  Häresiologie

hatten53, obschon ihre Publikation erst für den Zeitpunkt vereinbart war, wenn die Voten der Universitäten Erfurt und Paris vorlägen54, war Luthers öffentliche Solidarisierung mit einigen der in Konstanz verurteilten Artikel des Jan Hus in den Kreisen der Lateinkundigen allgemein bekannt. Diese offensive Umgangsweise der Wittenberger und ihrer Anhänger mit der hussitischen Ketzerei dürfte kaum anders als so zu interpretieren sein, dass man ihre Akzeptanz in breiten Kreisen der Bevölkerung voraussetzen zu können meinte. Im Oktober 1520 sollte Luther in diesem Sinne in einer Flugschrift gegen Eck und die von diesem verbreitete Bannandrohungsbulle feststellen: „Alszo ist an vielen ortten deutsches lands noch altzeit blieben das mummeln von Johan. Husz, und hat ymer zugenummen, bisz ich auch dreyn gefallen [.  .  .].“55 Einen derartigen ‚Beweis‘ für eine breitere prohussitische Stimmung im Land wird man aus dem Munde des soeben selbst zum Ketzer erklärten Wittenbergers natürlich mit quellenkritischer Zurückhaltung aufzunehmen haben. Aber die offenkundige Furchtlosigkeit, ja das Unbeeindrucktsein davon oder der Abscheu darüber, dass man Luther mit dem Hinweis auf seine positive Stellung zu einigen der hussitischen Artikel zu erledigen versuchte, dürfte einerseits die These einer Krise der Inquisition im Deutschland der Reformationszeit56 bestätigen, andererseits nahelegen, dass hinreichend ‚Wissen‘ über Hus und die Hussiten kursierte, das eine differenzierte Bezugnahme auf diesen einflussreichsten vorreformatorischen Ketzer möglich machte. Insofern darf man unterstellen, dass Luther um eine entsprechende 53   Vgl. zu den Drucken: WA 2, S.  252 f. = WA 59, S.  430 f.; Benzing/Claus, Nr.  347–149; 405–407; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  836–838, S.  359 f. Langs Rolle als Herausgeber kann durch Luthers Brief an ihn (18.  12. 1519, WABr 1, Nr.  232, S.  596–598, hier: 597,14 f.) und durch einen Brief Langs an Pirckheimer vom 21.  12. 1519 (zit. WABr 1, S.  598 Anm.  6 ; vgl. Helga Scheible [Hg.], Willibald Pirckheimer-Briefwechsel, Bd.  4, München 1997, Nr.  650, S.  155 f.) als gesichert gelten. 54  Vgl. WA 2, S.  252 f.; Gess, Akten, wie Anm.  44, Bd.  1, Nr.  123 f.; Nr.  125; Nr.  134; Nr.  137; Nr.  149; Nr.  151; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  321; 307; 309; vgl. WABr 1, Nr.  224; Nr.  232; WA 59, S.  428 f. 55   WA 6, S.  591,21–23. Von diesem Zitat her ergeben sich mir Zweifel an Moellers These: „Als Luther auftrat, wußte man in Deutschland aus eigener Erfahrung kaum noch etwas von Ketzern, man kannte sie nicht und wußte daher kaum noch, wie man mit ihnen umzugehen hatte.“ Bernd Moeller, Inquisition und Martyrium in Flugschriften der frühen Reformation in Deutschland, in: Ders., Luther-Rezeption, Göttingen 2001, S.  219–244, hier: 229; vgl. ders., Frömmigkeit in Deutschland um 1500, zuletzt in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  73–85; 307–317, hier bes. 74. Luthers oben zitierte Behauptung korrespondiert mit einer Äußerung J. Wimpfelings von 1515, der meinte: „wenn nicht eine Reform des Klerus erfolge, werde das ‚böhmische Gift‘ immer weiter um sich greifen“ (Selge, Weg, wie Anm.  44, S.  175 Anm.  16). „1517 schreibt Pirckheimer, den Verfolgungen der Theologen zum Trotz gewinne die hussitische Lehre von Tag zu Tag neue Anhänger.“ Ebd. Instruktiv ist auch der Verweis auf: Hermann Haupt, Die religiösen Sekten in Franken, in: Festgabe zur dritten Säcularfeier der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg Nr.  14, Würzburg 1882, S.  48 ff.; vgl. Siegfried Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  2, München 1956, S.  159, 460 ff.; s. auch Köhler, Luther und die Kirchengeschichte, wie Anm.  14, S.  164 ff. Hinweise auf die fortwährende Virulenz hussitischer Auffassungen bis ins späte 15. Jahrhundert hinein dokumentiert Franz Machilek, Deutsche Hussiten, in: Seibt, Hus, wie Anm.  142, S.  267–282. 56  Vgl. Moeller, Inquisition, wie Anm.  55, bes. S.  227–229.

6.  Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei

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Stimmung gewusst und auf diese gesetzt hatte, als er im Mai 1519 erstmals öffentlich erklärte, dass er nicht alle in Konstanz verurteilten Artikel des böhmischen Magi­ sters für häretisch halte.57

6.  Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei Als Luther am 5. Juli 1519 gegen 14 Uhr seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass unter den in Konstanz verurteilten Artikeln des Jan Hus viele sehr christliche und evangelische seien58, könnte er bereits persönlich mit Anhängern der böhmischen Ketzerei gesprochen haben. Denn aus einem Brief, den Johannes Eck am 1. Juli, also drei Tage vor Beginn seiner Disputation mit Luther, an Ingolstädter Kollegen schrieb, geht hervor, dass aus Prag nach Leipzig abgesandte Schismatiker und zahlreiche pikardische Ketzer im Auditorium saßen, die Martinus für einen Hus ebenbürtigen Lehrer der Wahrheit hielten.59 Dass die offenkundig positivere Bezugnahme nun auf zahlreiche (multos) 60 christliche Artikel des böhmischen Märtyrertheologen auch durch direkte Gesprächskontakte Luthers mit Böhmen in Leipzig veranlasst worden sein könnte, ist kaum auszuschließen. In seiner ‚Denunziation‘ gegenüber Friedrich von Sachsen verwendete Eck die Anwesenheit „etlich[er] Ketzer“, die „heimlich in der Disputation gewesen seind“61, als Argument, um Luther missliebig zu machen. Der Umstand, dass dies den kursächsischen Hof ebensowenig beeindruckte wie der Brandbrief, den Herzog Georg am 27.  12. 1519, bald nach dem Erscheinen von Luthers Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Chri­sti und von den Bruderschaften62 an seinen Vetter Friedrich richtete, ist bemerkenswert. Georg war durch die Leipziger Solidarisierung Luthers mit den Böhmen elektrisiert; dass der Wittenberger nun durch seine verhalten-bestimmte Forderung einer com-

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  WA 1, S.  159,16 ff.; s. oben Anm.  32.   WA 2, S.  279,11 ff. = WA 59, S.  466,1048 ff. 59   „[.  .  .] missi ex Praga schismatici et Pigardi haeretici plurimi, qui Martinum maximum veritatis doctorem asserunt, non minorem Ioanne Huss“, Eck an Georg Hauer und Franz Burkhard, Leipzig 1.  7. 1519, zit. nach WABr 1, S.  417 Anm.  1; in der elektronischen Edition der Eck-Korrespondenz von Vinzenz Pfnür (Johannes Eck, Briefwechsel, http://lw7srv15.uni-muenster/mnkg/pfnuer/ Eck-Briefe.html) ist dieser Brief die Nr.  87; ähnlich in Nr.  96 [Eck an Johann von Schleynit, Bischof von Meißen] und in Nr.  97 [Eck an Kurfürst Friedrich]. Zu den ‚böhmischen Artikeln‘, die in Leipzig verhandelt wurden, äußert sich Eck am 24.  7. 1519 auch gegenüber Hoogstraten, ed. ebd.; vgl. W2  15, Sp.  1224–1227. 60   WA 2, S.  279,12 = vgl. WA 59, S.  466,1049 ff. 61   WABr 2, S.  494,573 f.; zu der von Eck (a.a.O., S.  494,573) wie von Emser (s. die Nachweise WABr 2, S.  416 f.; 418,50 f.; vgl. WA 2, S.  664,39–665,18) lancierten Behauptung, die Böhmen beteten öffentlich für Luther, s. die angegebenen Stellen. 62   WA 2, S.  738–758; LuStA 1, S.  272–287; Hinweis auf Datierung: WABr 1, S.  563,3 (am 29.  11. 1519 war der Sermon noch in Druck); vgl. zu den drei Sermonen umfassend: Ursula Stock, Die Bedeutung der Sakramente in Luthers Sermonen von 1519 [SHCT 27], Leiden 1982, S.  193 ff.; 347 ff. (zum Abendmahlssermon). 58

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§  2  Häresiologie

munio sub utraque63 in der Volkssprache „fast Pragisch[e]“64 Gedanken äußerte, barg nach Auffassung des albertinischen Herzogs eine eminente politische Gefährdung beider wettinischer Teilstaaten in sich. Doch Kurfürst Friedrich ging in seinem Antwortschreiben auf diese politische Gefahr gar nicht ein, erklärte seine Nichtzuständigkeit in der theologischen Sachfrage und verwies ansonsten darauf, dass Klärungen der ‚Luthersache‘ mit der Kurie im Gange seien.65 Diese geradezu ostentative Unaufgeregtheit des Kurfürsten mag sich zum einen dadurch erklären lassen, dass sein Territorium geographisch nicht so nahe66 an Böhmen lag und keine so langen Grenzlinien mit diesem teilte wie das albertinische Schwesterterritorium. Zum anderen dürfte es sich aber von daher verstehen, dass der kursächsische Hof zwei Briefe, die Luther nach der Leipziger Disputation von böhmischen Bewunderern aus Prag geschickt worden waren67, zunächst gleichsam ‚kontrolliert‘ und erst dann an ihn weitergegeben hatte. Dass Luther gegenüber Staupitz, dem er diesen Vorgang am 3. Oktober 1519 – dem Tag, an dem er diese böhmischen Anhängerbriefe erhalten hatte – berichtete, hervorhob, dass bei Hofe nichts verborgen sei68, wird man vielleicht so interpretieren können, dass Luther die kursächsische Administration hinsichtlich seiner auswärtigen Kontakte zu den Böhmen hinter sich wusste und in dieser Sache schwerlich etwas zu tun beabsichtigte, was das Vertrauen seines Landesherrn gefährdet hätte. Natürlich bedeutet dies nicht, dass Luther seinen weiteren öffentlichen Umgang mit der hussitischen Thematik en detail mit dem Hof bzw. Spalatin abgestimmt hätte; wohl aber, dass ein wechselseitiges Loyalitätsverhältnis bestand, das sich in der Abwehr äußerer Gegner wie Eck bewährte69 und das den Rückhalt für 63   WA 2, S.  792,18 ff.,24 ff.; zu den theologischen Gewichtungen s. Thomas Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität in der frühen Reformation, in: Martin Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität [QD 221], Freiburg u. a. 2007, S.  194–210, hier bes. 195 ff. 64   Gess, Akten, wie Anm.  44, Bd.  1, Nr.  146 (Georg von Sachsen an Kurfürst Friedrich 27.  12. 1519), S.  110 f., hier: 110,19; vgl. LuStA 1, S.  270 f. 65   Gess, a.a.O., Nr.  148, S.  112 f. 66   Auch für Luther stellte der geographische Aspekt der Nähe zu Böhmen durchaus eine ‚Realität‘ dar; in seiner Apologie für seinen Abendmahlssermon, der Verklerung etlicher Artikel in dem Sermon von dem heiligen Sakrament (Januar 1520), teilte er mit: „Und bin Behemer land zu Dreßen [d. i. Dresden] am nehsten geweßen meyn lebtag.“ WA 6, S.  82,15 f. 67   WABr 1, Nr.  185 f., S.  416–420, beide sind datiert: Prag 17.  7. 1519; der Erhalt der Briefe am 3.  10. 1519 geht aus Luthers Notiz gegenüber Staupitz (WABr 1, Nr.  202, S.  513–517, hier: 514,27–32) hervor: „Accepi hac hora ex Praga Bohemiae literas sacerdotum duorum factionis illius de utraque specie, eruditos sane in Scripturis sanctis, una cum libello Iohannis Huss, quem nondum legi. Exhortantur autem me ad constantiam et patientiam, esse hanc theologiam puram, quam doceo. Erasmisant miro modo tam sensu, quam stylo; venerunt autem per aulam Principis nostri, mittente Spalatino, ad me, nec iam ibi occultum est.“ 68   WABr 1, S.  514,32; zit. Anm.  67. 69   Vgl. etwa Luther an Spalatin (3.  12. 1519): „Gaudeo te in literis Eccii Eccium cognovisse [.  .  .].“ WABr 1, S.  565,6 (es folgen Ausführungen über die Intriganz Ecks, die die Übereinstimmung mit Spalatin voraussetzen); vgl. WABr 1, S.  569,20; 570,6: „Deus bone, quam Eccius meus nunquam non est Eccius!“ In Bezug auf die Miltitzsche Vermittlungsaktion konstatiert Luther gegenüber Spalatin (Mitte Dezember 1519): „Carolo Miltio faciam, que iusserit & consuluerit Cle[mentissimus] princeps.“ WABr 1, S.  572,10 f.

6.  Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei

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Luthers Agieren in den Jahren 1519 und 1520 bildete. Die durchaus gezielte Provokation, die Luther mit seinem Abendmahlssermon und der Aufnahme der dezidiert hussitisch konnotierten Kelchforderung beging, ist von Seiten seines Kontaktmannes Spalatin nach allem, was wir wissen, nicht kritisch kommentiert worden.70 Die öffentliche Identifikation Luthers mit dem Symbol der böhmischen Ketzer, die der Wittenberger aufgrund seiner direkten Kontakte nun auch als in sich differenziertes Phänomen zu sehen begann71, evozierte jene erwartbare Erregung bei den ‚altgläubigen‘ Gegnern, von der er offenbar voraussetzte, dass sie seiner eigenen Sache nützen würde. Ähnlich wie Melanchthons Angriff auf die Transsubstantiationslehre, mit der er in seinen Baccalaureatsthesen vom September 1519 die Wittenberger Offensive gegen das Zentraldogma der abendländischen Kirche des Mittelalters eröffnete72 und damit bei den Gelehrten hussitisch-wiclifitische Reminiszenzen evozierte73, 70

  Spalatin hat am 29.  11. 1519 durch Luther erfahren, dass ein „sermo de Eucharistia verbosissimus“ (WABr 1, S.  563,7) unter der Presse sei. Aus Luthers Brief vom 18.  12. 1519 lässt sich schließen, dass Spalatin den Abendmahlssermon inzwischen kannte und offenbar mit der Rückfrage aufgenommen hatte, ob Luther auch zu den anderen Sakramenten entsprechende Sermone vorlegen werde. Dies nahm Luther zum Anlass – soweit ich sehe erstmals hier – den Sakramentscharakter dieser anderen Sakramente explizit zu bestreiten und sein Konzept von fides und promissio divina als Konstituentien des Sakramentsbegriffs zu entfalten, kurz: das Programm von De captivitate Babylonica zu präludieren, WABr 1, S.  594,19–595,25. E silentio ergibt sich aus dieser Reaktion Spalatins, dass er die Kelchforderung im Abendmahlssermon offenbar nicht beanstandet hat. Diesen Rückschluss legen auch Luthers Briefe an Spalatin vom 10.  1. 1520 (WABr 1, S.  608,5 ff.), vom 14.  1. 1520 (bes. S.  610,3 ff.14 f.18 ff.) und vom 18.  1. 1520 (Ankündigung der Verklerung, S.  612,6 f.) bzw. die Übersendung dieser inzwischen erschienenen Schrift (S.  619,6 ff.) nahe. 71   Vgl. seinen Hinweis auf die Briefe Poduškas und Roždalowskys gegenüber Spalatin, sie seien Priester jener ‚factio‘ der beiderlei Gestalt, s. Anm.  67. 72   „Ergo citra haeresis crimen est non credere caracterem, transsubstantiationem et similia.“ Zit. nach MSA 1, S.  25,1 f. Eck übersetzte in seinem Brief an Friedrich von Sachsen: „Ohn Ketzerei ist, nit glauben das Zeichen des Taufs, zu Latein characterem, und Verwandlung des Brots im Sacrament. Da merkt E. Ch. G., wie da antascht wird das heilig Sacrament des zarten Fronleichnams Jhesu Christi, daß es nit kann sicher vor ihn’ sein, und wöllen die alten Irrung herfürbringen, daß ohn Ketzerei einer mag sagen, das Brot bleib noch im Sacrament und werd nit verwandelt.“ WABr 1, S.  492, 482–487. In der vorangehenden These 17 hatte Melanchthon quasi als Quintessenz der Leipziger Debatte zwischen Eck und Luther festgestellt, dass die Autorität der Konzilien unter der der Schrift stünde, MSA 1, S.  24, 31 f. Zu diesen Thesen s. Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 [VIEG 187], Mainz 2002, S.  227 f. Volker Leppin (Luther, wie Anm.  34, S.  150 f.) hat Melanchthon geradezu zum ‚Erfinder‘ des Wittenberger Schriftprinzips gemacht, schwerlich zu Recht. Kruse etwa betont, dass Luther schon im Frühjahr 1519 die „kirchenkritischen Reformimpulse, die im Wittenberger Schriftverständnis enthalten waren, [.  .  .] in seinem Brief an die Jüterboger Franziskaner verteidigt“ habe (a.a.O., S.  228). Eine meines Erachtens in überzogener Manier auf frühe Differenzen zwischen Luther und Melanchthon fixierte Interpretation der Thesen, deren zweite Reihe (Nr.  12–24) Melanchthon zugeschrieben werden, bietet Wilhelm Maurer, Der junge Melanchthon, Bd.  2, Göttingen 1969 (ND 1996), S.  102 ff. Luther beurteilte diese Thesen gegenüber Staupitz als ‚sehr kühn, aber sehr wahr‘, WABr 1, Nr.  202, S.  514,13. Dies dürfte sich mit Sicherheit auch auf die These 18 bezogen haben. 73   Vgl. in der Liste der ‚Irrtümer‘ Wiclifs vom Konstanzer Konzil These 1 (DS38, Nr.  1151, S.  432), These 2 (a.a.O., Nr.  1152, S.  432). Aus dem Brief Ecks an Kurfürst Friedrich geht hervor, dass der Ingolstädter Theologe die These 18 Melanchthons im Sinne der Remanenz der Brotsubstanz – so die

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§  2  Häresiologie

stellte Luthers Forderung des Laienkelches in der Volkssprache ein gezieltes Mittel polemisch forcierter Agitation dar. Luthers Bezugnahme auf die allgemeine Öffentlichkeit der Laien entsprach dem Umstand, dass er diese bereits im Kontext der Leipziger Disputation implizit als Urteilsinstanz einer auf der Grundlage des Schrift­ prinzips zu fällenden Lehrentscheidung exponiert hatte.74 Angesichts der zügigen Akzeptanz, die die communio sub utraque aufs Ganze gesehen im Kontext der frühreformatorischen Bewegung gefunden hat75, ist durchaus zu fragen, ob er auf diese Wirkung nicht spekuliert und somit die Kelchforderung als gezieltes Mittel zur Verbreiterung seiner Akzeptanz auch beim ‚gemeinen Mann‘ eingesetzt hat. Die Abendmahlsschrift vom Spätjahr 1519 ist jedenfalls der erste Text eines Wittenbergers, in dem ein Aspekt kirchlicher Praxis gegen die kirchenrechtlich geltende Lehre einer ‚Reformation‘ unterzogen wurde.76 Die Anknüpfung an das identitätsbildende SymLehre Wiclifs nach These 1 (ebd.) – interpretierte, den Schluss der 3. These Wiclifs, die Bestreitung der Identität Christi mit dem Element, d. h. die Leugnung der leiblichen Realpräsenz, aber nicht explizit zog, insofern also Melanchthon nicht ‚scharf zuspitzend‘ auslegte. 74   Vgl. WA 59, S.  494,1903 f.; 466,1095 ff.; 509,2080 ff.; vgl. zur Sache auch: Helmar Junghans, Der Laie als Richter im Glaubensstreit der Reformationszeit, in: LuJ 39, 1977, S.  31–54, der allerdings erst gegen Ende des Jahres 1520 den Laien als Richter im Glaubensstreit aufgerufen sieht, bes. S.  49; s. unten III, §  13. 75  Vgl. Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität, wie Anm.  63; Georg von Sachsen berichtet in seinem Brief an Kurfürst Friedrich vom 27.  12. 1519 (s. Anm.  64), dass er gehört habe, dass in „Bemen“ „uber VIm [d. i. 6000] menschen [.  .  .] und[er] beyder gestalt“ mehr kommuniziert hätten als „vor der zceit seyner [sc. Luthers] prediget“ (Gess, Akten, Bd.  1, wie Anm.  44, S.  111,12 f.). Diese als „gar glaublich“ (a.a.O., S.  111,11) eingeführte Nachricht zielte darauf ab, die sich aus Luthers „gros vormessenheit“ (a.a.O., S.  111,14) ergebende Gefährdung der Ordnung zu illustrieren. Glaubwürdig ist sie gleichwohl nicht, einerseits weil Luthers Abendmahlssermon zum Zeitpunkt, an dem Georg diese Nachricht lancierte, in der deutschen Ausgabe eben erst ca. zwei Wochen erschienen war (zu der tschechischen Ausgabe s. Benzing/Claus, Nr.  514; zum Kontext: Bernd Moeller, Luther in Europa. Die Übersetzung seiner Schriften in nichtdeutsche Sprachen 1520–1546, in: Ders., Luther-Rezeption, wie Anm.  55, S.  57–72, hier bes. 65; Rudolf Ricˇan, Tschechische Übersetzungen von Luthers Schriften bis zum Schmalkaldischen Krieg, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517–1967. Festschrift Franz Lau, Berlin 1967, S.  282–301, hier: 282 f. mit der ansprechenden Vermutung, Ulrich Velenus sei der Übersetzer gewesen; s. dazu auch: Antoine Jan Lamping, Ulrichus Velenus [Oldrˇ ich Velensky` ] and his Treatise against the Papacy [SMRT 19], Leiden 1975, S.  60 f.; vgl. über ihn auch: Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548–1551/2 [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  349 f.; Datum der tschechischen Ausgabe: 8.  5. 1520), andererseits, weil es in Böhmen schwerlich der Anregung Luthers bedurfte, um die Kelchforderung publik und populär zu machen. Meines Erachtens ist die Nachricht als nichts anderes als eine ‚Ente‘ zu werten, die darauf abzielte, gegen Luther Stimmung zu machen und die Gefahr eines Aufstandes heraufzubeschwören. 76   Luther setzt die Kenntnis des Decretum Cum in nonnullis (Konstanz, 15.  6. 1415; bestätigt durch Martin V. am 1.  9. 1425, DS38, Nr.  1198–1200, S.  436–438) voraus, vgl. WA 2, S.  742,24 ff., und folgert aus der Tatsache, dass die Verbindlichkeit der communio sub una durch ein Konzil eingeführt wurde, dass sie auch durch ein Generalkonzil wieder rückgängig gemacht werden könne, WA 6, S.  79,7 ff. In seiner Anfang November (WABr 1, S.  548,11–13; 551,11–13) gedruckt vorliegenden lateinischen Antwort an Eck (Ad I. Eccium M. Lutheri epistola super expurgatione Ecciana, WA 2, S.  698–708), einer Schrift also, die kurz vor dem Abendmahlssermon gedruckt worden war, hatte Luther en passant davon gesprochen, bisher oder ‚jetzt‘ (noch) genauso wie in Leipzig über einen sehr christlichen Artikel Hus’ in Sachen des freien Willens geschwiegen zu haben. Diese Bemerkung

6.  Erste Kontakte mit den Anhängern der böhmischen Ketzerei

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bol der Hussiten verband Luther freilich mit einer ausdrücklichen Distanzierung von einer gesetzlichen Forderung nach diesem äußerlichen Zeichen; eine Heilsnotwendigkeit für die Laien, unter beiderlei Gestalt zu kommunizieren, erkannte er nicht an.77 Seine differenzierte Stellungnahme zur Kelchforderung verband Luther im Januar 1520 damit, dass er sich nun auch zu den „drey Partey yn Bemerland“, den „Pigharten“, den „Gruben heynern“, einer Gruppierung der Brüderunität78, und den „von beyder gestalt“79, also den Utraquisten, präziser und differenzierter äußerte. Während er die „Pigharten“ wegen ihrer Leugnung der Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl für „Ketzer“80 hielt und er über die Brüder noch keine genaueren Kenntnisse besaß, galten ihm die Utraquisten lediglich als „Schismatici“81. Wie in seinen frühesten Äußerungen über die Böhmen missbilligte Luther ihren Bruch mit der Einheit der „Romischen Kirchen“82 und ihren Verstoß gegen das Liesetzt meines Erachtens bereits die Lektüre von Hus’ Schrift De Ecclesia voraus, die er am 3.  10. 1519 erhalten hatte (WABr 1, S.  419,24 ff.; s. Samuel Harrison Thomson [Hg.], Magistri Johannis Hus Tractatus de Ecclesia, Cambridge 1956, S.  75 f.). 77   Vgl. WA 2, S.  742,18 ff. (Relativierung des äußeren Zeichens von der geistlichen Begierde nach dem Sakrament her und unter expliziter Anerkennung der Konkomitanzlehre, a.a.O., S.  742,26 f.). In seiner Verklerung vom Januar 1520 distanzierte sich Luther von einer böhmischen Position, die aufgrund von Joh 6,53 die soteriologische Notwendigkeit einer communio sub utraque – ähnlich wie Karlstadt es seit November 1521 tat (Nachweis und Literatur s. Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität, wie Anm.  63) –, lehrte. Dieser von Jakobellus von Mies und Nikolaus von Dresden vertretenen Position war übrigens Jan Hus – ähnlich wie Luther – mit der Auffassung begegnet, dass die Kelchkommunion der Laien erlaubt und nützlich und auf Begehren zu gewähren sei (WA 6, S.  78,6 f.; vgl. WA 6, S.  503,32 f.), dass ihr aber keine Heilsnotwendigkeit zukomme, vgl. Peter Hilsch, Johannes Hus. Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999, S.  254. Ob Karlstadts Position durch hussitisch-pikardische Einflüsse zu erklären ist, scheint eine offene Frage zu sein. Karlstadts frühestes öffentliches Bekenntnis zu Hus’ Artikeln, deren größerer Teil mit der Schrift übereinstimme, stammt – soweit ich sehe – aus dem Oktober 1520, vgl. Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1, 2. unv. Aufl. Nieuwkoop 1968, S.  227 f. Karlstadt bekannte sich also zum ‚Ketzer‘ Hus erst, als er selbst durch die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine zum ‚Ketzer‘ geworden war. In der Auseinandersetzung mit seiner ikonoklastischen Position wurde Karlstadt später von Emser als „pickhardisch“ bezeichnet bzw. mit Wiclif und Hus in Verbindung gebracht, s. Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  14, S.  305,28 f. 78  Vgl. Peschke, Die Böhmischen Brüder im Urteil ihrer Zeit, wie Anm.  4, S.  109; vgl. TRE 7, 1981, S.  3,23 (Grubenheiner = Amositen); eine instruktive Übersicht über die Anschauungen der unterschiedlichen hussitischen Gruppen bieten anhand einschlägiger übersetzter Quellen: Robert Kalivoda/Alexander Kolesnyk (Hg.), Das hussitische Denken im Lichte seiner Quellen [Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens 8], Berlin 1969. 79   WA 6, S.  80,25.30.32. 80   WA 6, S.  80,29. In der Adelsschrift ‚ermäßigt‘ Luther die ‚Ketzerei‘ der böhmischen Pikarden hypothetisch in dem Sinne, dass sie lediglich die Transsubstantiationslehre, die kein Glaubensartikel sei, ablehnten, hingegen die ‚konsubstantianische‘ Vorstellung verträten, „es sey warhafftig brot unnd wein naturlich da, doch drunder warhafftig fleysch und blut Christi“ (WA 6, S.  456,32 f. = LuStA 2, S.  153,4 f.). Er näherte ihre Vorstellung der leiblichen Präsenz Christi in Brot und Wein also derjenigen an, die er selbst in seinem Sermon vom Neuen Testament bzw. in De captivitate Babylonica entfaltet hatte bzw. darlegen sollte. 81   WA 6, S.  80,37. 82   A.a.O., S.  80,1; vgl. 81,16–18: „Dan ob sie [sc. die böhmischen Utraquisten] woll auß dem

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§  2  Häresiologie

besgebot, nahm zugleich aber einen Standpunkt der Äquidistanz gegenüber „Bemen“ und „Romer[n]“83 ein. Er wies die Verketzerung durch die Papstkirche zurück und propagierte ein Modell kirchlicher Koexistenz, das „eynigkeyt“84, ungeachtet divergenter ritueller Traditionen, aufrechterhielt. Dieses Konzept einer römischutraquistischen Ökumene hat Luther dann in der Adelsschrift vom Hochsommer 1520, unmittelbar vor dem Bekanntwerden seiner römischen Verurteilung85, ausführlich dargestellt.86 Möglicherweise bietet dieses am Verhältnis zu den böhmischen Utraquisten entwickelte Modell kirchlicher ‚Einheit‘ in ‚national- bzw. gliedkirchlicher‘ Verschiedenheit und ritueller Besonderheit die Leitperspektive für das „‚germanikanische‘“87 Reformmodell der Schrift An den christlichen Adel.

7.  Luthers Studium und Verbreitung Husschen Gedankenguts Während sich Luther in öffentlichen Äußerungen immer affirmativer zu dem inkriminierenden Ketzeretikett des Hussiten verhielt, beschäftigte er sich zugleich intensiver mit der Lehre des Jan Hus. Gegenüber einem böhmischen Musiker namens Jakob, mit dem Luther bei der Leipziger Disputation bekannt geworden war, hatte er den Wunsch geäußert, Hus aus dessen eigenen Schriften kennenzulernen.88 Durch die Zusendung eines Exemplars von Hus’ De ecclesia durch einen Priester der Prager Utraquisten unmittelbar nach der Leipziger Disputation89 und die eindrücklichen Solidarisierungsgesten, die ihm aus Böhmen zuteil wurden90, dürfte sich Luther darEvangelio macht und freyheyt haben beyder gestalt, ßo seyn sie doch mehr schuldig der eynickeyt, wilch des sacraments bedeutung ist.“ 83   A.a.O., S.  81,10. 84   A.a.O., S.  80,4 ff. 85  Vgl. Bernd Moeller, Klerus und Antiklerikalismus in Luthers Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘ von 1520, in: Ders., Luther-Rezeption, wie Anm.  55, S.  108–120. 86   WA 6, S.  454,17–457,27. Der Vorwurf, Luther erneuere die Ketzereien Hus’ und Wiclifs bzw. wolle Sachsen zu Böhmen machen, begegnet auch bei Alveldt, vgl. Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  14, S.  93,16 ff.; 94,38 f.; 95,15 ff.; 98,14; 104,37. 87   Moeller, Klerus, wie Anm.  85, S.  115. 88   „Ceterum idem Iacobus [sc. ein „organarius“, WABr 1, S.  419,4] te [sc. Luther] admodum desiderare dicebat libros Iohannis de Huss, Bohemorum apostoli, ut quis fuerit ille vir, et quantus, non ex vulgi aura neque ex Constantiensi male consulto Consilio, sed ex ipsius vera animi imagine, id est libris, tandem aestimes ac cognoscas.“ WABr 1, S.  419,19–23 (Wenzel von Roždalowsky, „Probst des Kaiser=Karl=Kollegiums“ [WABr 1, S.  417 Anm.  1] in Prag an Luther 17.  7. 1519; Luther über den kursächsischen Hof zugegangen am 3.  10. 1519). 89   Wenzel von Roždalowsky gibt an, durch genannten Jakob über die Disputation in Leipzig informiert worden zu sein (WABr 1, S.  419,5 ff.); er verbindet die Übersendung von Hus’ De ecclesia mit der Erwartung, dass Luther darin Argumentationshilfen für seine mit Eck disputierten Thesen finden werde, was – s. Anm.  76 – in Bezug auf das liberum arbitrium schon bald ‚aufgegangen‘ ist. Überdies werde Luther sehen, dass in Konstanz ein aufrechter Lehrer des Wortes Gottes zu Unrecht verbrannt worden sei, vgl. S.  419,24–420,35. 90   Vgl. in dem Brief des Johannes Poduška, „Priester an der Teinkirche in Prag“ (WABr 1, S.  417), vom 17.  7. 1519 die Nachricht: „Sunt in Bohemia plurimi fideles Deo et chari, qui te [sc. Luther]

7.  Luthers Studium und Verbreitung Husschen Gedankenguts

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in bestärkt gesehen haben, sein Verhältnis zu Hus eigenständig und unter definitiver Absehung vom Konstanzer Ketzerurteil zu klären. Dass ihm von einem tschechischen Priester unter Verweis auf das Leiden der wahren Nachfolger Christi auf den Kopf zugesagt wurde: „Was Hus einst für Böhmen war, Martinus, das bist du jetzt für Sachsen“91, wird eine Wirkung auf Luther schwerlich verfehlt haben. Ehe sich Luther selbst mit Hus verglich, ist ihm dieser Vergleich von außen zugesprochen worden. Als Luther im Februar 1520 gegenüber Spalatin bekannte, dass er erst jetzt verstanden habe, dass er selbst ganz übereinstimmend mit Hus gelehrt habe und dass auch Staupitz ein unwissender Hussit gewesen sei genauso wie Paulus und Augu­ stin92, war es gleichfalls ein martyriologischer Argumentationszusammenhang, in dem er dies tat. Denn er meinte gegenüber Spalatin mahnen zu müssen, dass Chri­ stus nicht aus Sanftmut und Friedensseligkeit der Welt akkommodiert werde, statt zum Blutzeugnis bereit zu sein.93 Das Stichwort „Martyrium“ war es also, das Luther in der brieflichen Zwiesprache mit Spalatin auf Hus und sein Verhälnis zu diesem brachte.94 Einen Monat später, am 19.  3. 1520, schickte Luther Spalatin ein Exemplar des bei dem Hagenauer Drucker Thomas Anshelm95 erschienenen Drucks von Hus’ De ecclesia mit der Bemerkung, dass Geist und Bildung ihres Verfassers ein wahres Wunder

noctes diesque orationibus adiuvant.“ (WABr 1, S.  418,50 f.). Im vorangehenden Teil des Briefes findet sich allerdings auch ein Hinweis darauf, dass Luther „etiam a nostratibus quibus“ als „haereticus“ (WABr 1, S.  418,38 f.) bezeichnet worden sei. Ob es sich dabei um „böhmische Landsleute“ oder „utraquistische Glaubensgenossen“ (s. S.  418 Anm.  11) handelt, ist jedenfalls keineswegs eindeutig. Warum sollte es nicht auch Utraquisten gegeben haben, die Luther 1519 kritisch sahen? Offenkundig ist gleichwohl, dass Luther in Böhmen schon 1519 erstaunlich intensiv wahrgenommen und diskutiert wurde. 91   „Hoc unicum sciens addo [sc. Wenzel von Roždalowsky], quod olim Johannes Huss in Bohemia fuerat, hoc tu, Martine, es in Saxonia. Quid igitur tibi opus? Vigila et confortare in Domino, deinde cave ab hominibus; neque animo concidas, si te haereticum, si excommunicatum audies, memor subinde, quid Christus passus, quid apostoli, quid omnes etiam hodie patiantur, qui pie volunt vivere in Christo.“ WABr 1, S.  420,38–43. Vgl. Scott H. Hendrix, „We Are All Hussites“? Hus and Luther Revisited, in: ARG 65, 1974, S.  134–161. 92   „Ego imprudens hucusque omnia Iohannis Huss et docui et tenui. Docuit eadem imprudentia et Iohannes Staupitz. Breviter: sumus omnes Hussitae ignorantes. Denique Paulus et Augustinus ad verbum sunt Hussitae. Vide monstra, quaeso, in quae venimus sine duce et doctore Bohemico.“ WABr 2, S.  42,22–26 (Luther an Spalatin, ca. 14.  2. 1520). 93   „Tu [sc. Spalatin] ergo cave, ne speres Christum in terra promoveri cum pace et suavitate, quem vides proprio sanguine pugnasse, et post eum omnes martyres.“ A.a.O., Z.  20–22. 94   Dieser Argumentationszusammenhang ist zu beachten. Clemens These, man könne der Stelle entnehmen, dass Luther „erst jetzt dazu gekommen sei“ Hus’ De ecclesia zu lesen (WABr 2, S.  42 Anm.  8), erscheint mir nicht nur wegen der Bezugnahme auf den freien Willen im November 1519 (s. Anm.  76) unwahrscheinlich, sondern ignoriert auch den Anlass bzw. Assoziationspunkt, der Luther auf Hus zu sprechen kommen lässt. 95  Vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing [BBBW 51], Wiesbaden 2007, S.  321 (zu Hagenau); 923 f. (zu Tübingen); vgl. auch MBW 11, S.  78.

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§  2  Häresiologie

seien.96 Dass die Wittenberger mit diesem ersten in Deutschland97 hergestellten Druck des böhmischen Ketzers in einem direkten Zusammenhang standen, lässt sich meines Wissens nicht eindeutig nachweisen; 98 aber wahrscheinlich ist es doch, und zwar einerseits, weil Luther deutlich früher als seine Zeitgenossen von diesem aufsehenerregenden Druck wusste99, und andererseits, weil er die Auflagenhöhe – 2000 Exemplare – kannte. Der eigentliche Herausgeber des Hagenauer AnshelmDrucks freilich war der Schlettstädter Pfarrer Paul Phrygio100, der auf dem Titelblatt dazu aufforderte, sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, ob die Hussiten in 96

  „Iohannem huß quoque, si voles, lege, lectumque remitte, omnibus non modo placet, Sed miraculo quoque est tum spiritus tum eruditio eius. 2000 Exemplaria edita sunt a Thoma Anshelmo.“ WABr 2, S.  72,9–11 (19.  3. 1520). 97  Vgl. Siegfried Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten Jahrzehnts der Reformation, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften als Massenmedien der Reformationszeit [SMAFN 13], Stuttgart 1981, S.  291–308, hier: 292 f. 98   Thomson hat in seiner Edition von Hus’ De ecclesia (s. Anm.  76, S.  X XI; XXX) die Behauptung aufgestellt: „Early in 1520 he [Luther] persuaded Thomas Anshelmus in Hagenau to print an edition of 2000 copies.“ (S.  X XI). Und S.  X XX heißt es in Bezug auf den Hagenauer Anshelm-Druck: „This is the edition for which Luther was responsible.“ Einen entsprechenden Nachweis führt er allerdings nicht an. Der Nachricht im Brief an Spalatin (19.  3. 1520, s. Anm.  96) ist nur zu entnehmen, dass Luther in einem direkteren Zuammenhang mit dem Herstellungsprozess des Hagenauer Druckes stand, sei es durch Kontakte zum Drucker oder durch Mittelsmänner. Denn sonst wüsste er nichts über die Auflagenhöhe, die die Erwartung optimistischer Absatzzahlen erkennen lässt. 99  Hus’ De ecclesia-Druck aus der Anshelmschen Offizin findet Erwähnung in einem Brief Melanchthons an Johann Heß [27.  4. 1520], MBW.T 1, Nr.  84, S.  193 f. Z.  46 f.; am 24.  4. 1520 schrieb der Augsburger Domherr Bernhard Adelmann an Willibald Pirckheimer in Nürnberg, dass Jakob Spiegel ihm eine Sendung von neuen Büchern aus Schlettstadt angekündigt habe, vgl. Böcking, Bd.  1, S.  336,21; Scheible, Pirckheimer-Briefwechsel, Bd.  4, wie Anm.  53, S.  226,36–38; Otto Clemen, Eine denkwürdige Büchersendung, jetzt in: Ernst Koch (Hg.), Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, Bd.  5, Leipzig 1984, S.  110–113. Zwingli berichtet Vadian am 19. Juni 1520 davon, dass er das Buch mit großer Zustimmung gelesen und das Exemplar, weil es schwer zu bekommen sei, an den Zürcher Stadtschreiber Kaspar Frei weitergegeben habe, s. Z 7, Nr.  145, S.  328,24 ff. Schon am 16.  5. 1520 hatte Valentin Curio den Hus-Druck zu Zwingli gesandt, Z 7, Nr.  139, S.  313,3 ff.; am 6.7. schickte Zwingli das Werk an Myconius, a.a.O., Nr.  146, S.  330,3; Köhler, Luther und die Kirchengeschichte, wie Anm.  14, S.  200 Anm.  1. Melanchthon unterhielt zur Anshelmschen Druckerei seit seinen Tübinger Tagen, als er dort Korrektor gewesen war (vgl. Scheible, Melanchthon, wie Anm.  50, S.  20), Kontakte; vgl. MBW 45; 116; im August 1520 erschien bei Anshelm eine griechische Grammatik Melanchthons, MBW. T 1, S.  24; im März 1519 ging die bei Anshelm gedruckte hebräische Grammatik des Moses Kimhi (Widmung an Kurfürst Friedrich) mit einem von Melanchthon und Anshelm gemeinsam unterschriebenen Brief an Spalatin, MBW. T 1, S.  108 f. 100   De causa Boemica. Paulus Constantius [=Paul Phrygio]. .  .  . [Hagenau, Thomas Anshelm 1520]; VD 16 H 6174; Ex. MF 1908–1910 Nr.  4888; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1654, S.  80; die Identifizierung von Paul Constantius / Constanzer / Phrygio in: WABr 2, S.  273 Anm.  5 ; Clemen, Büchersendung, wie Anm.  99, S.  112; vgl. Grane, Martinus Noster, wie Anm.  50, S.  212. Zu der im August 1520 in [Basel] bei [Adam Petri] erschienenen Ausgabe, der eine andere Handschrift als dem Hagenauer Druck zugrunde lag (vgl. Thomson, ed. De ecclesia, wie Anm.  76, S.  X XIX f.), dem Liber egregius de unitate ecclesiae, vgl. Ex. MF 510–512 Nr.  1326; VD 16 H 6173; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1655, S.  81 (bei Frank Hieronymus, 1488 Petri-Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Basler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke, 2 Bde., Basel 1997, nicht erwähnt). Diese spätere Ausgabe weist im Unterschied zum Anshelm-Druck durchgängig gedruckte Glossen auf, die auf Pellikan (s. u. III, §  13, Anm.  91 ff.) zurückgehen dürften.

8.  Solidarisierung mit Hus im Umkreis der päpstlichen Verurteilung

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Konstanz zu Recht verurteilt worden seien oder nicht.101 Der Zusammenhang dieser erstmaligen Publikation der ipsissima vox Hussens in der frühen Reformationszeit mit der in Leipzig geführten Debatte um die Autorität der Konzilien ist jedenfalls evident. Insofern eröffnete Luther und sein Interesse an Hus einen neuartigen Zugang zur jüngsten abendländischen ‚Ketzergeschichte‘. Acht Monate nachdem Luther diese Erkenntnis der unbewussten Übereinstimmung mit den Hussiten – „sumus omnes Hussitae ignorantes“102 – privatim ausgesprochen hatte, äußerte er sich in entsprechender Weise auch öffentlich. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Bannandrohungsbulle und einer volkssprachlichen Flugschrift Ecks, in der er Luthers in der Adelsschrift geäußerte These eines Geleitbruchs an Hus widerlegte103, etwa Mitte Oktober 1520104, hat Luther dann in seiner Schrift Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen ein solennes Bekenntnis zu Jan Hus publiziert. Jetzt wolle er sein „maul recht auff thun von dem Costnitzer Concilio“ und bekennen, dass er „leyder zu Leyptzck in der disputation nit hatte gelesen Johan. Husz“; 105 sonst hätte er nicht nur etliche sondern „alle artickel, zu Costnitz vordampt“106, verteidigt. Doch diese Artikel halte er „itzt“, nachdem er desselben „Johan. Husz, hoch vorstendigenn, edlesz, Christlichs buchlin, des gleychen in vier hundert jaren nit ist geschrieben, hab geleszen, wilchs auch nu durch gotlich rad in druck auszgangen“107 – also De ecclesia – allesamt für christlich und wahr. Die in Konstanz verurteilten Artikel des Jan Hus seien nicht dessen, sondern „Christi, Pauli, Augustini“108 gewesen. Ach, wollte Gott doch auch ihn, Luther, würdigen, „auch umb solcher artickel willen vorprent, zurissen, zutriben [zu] werden.“109

101  „Vulgo refragari quosdam celeberrimi Constantiensis Concili sententiae, qua Hussitae damnati sunt, constant. Quare visum est mihi [sc. Paulus Constantius] hunc ea de re in lucem edere librum ut videtur a doctis quibusdam scriptum Quo palam fiat universo orbi, qua ex causa Hussitae damnati sunt, & Sanctae Romanae Ecclesiae, celeberrimique Concilii illibata manent auctoritas. Lector animum affer liberum, ronchos, supercilium & rugas ablega ad Haereticorum Inquisitores.“ De causa Boemica, wie Anm.  100, A 1r. Weitere Zusätze etc. aus der Feder Phrygios sind nicht zu identifizieren; vgl. zu Phrygio: Grane, Martinus Noster, wie Anm.  50, passim; BBKL VII, Sp.  559–561; Otto Herding/Dieter Mertens (Hg.), Jakob Wimpfeling, Briefwechsel, Zweiter Teilband, München 1990, S.  849–852; passim (s.v.); Bcor I, S.  90 Anm.  29. 102   WABr 2, S.  42,24; s. o. Anm.  92. 103   Vgl. WA 6, S.  576 ff.; Druck der Schrift Ecks: [Leipzig, M. Landsberg, 1520?]; Ex. MF 449 Nr.  1211; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  850, S.  365; ed. in: Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  14, Nr.  5, S.  127–141; zum historischen Kontext: 136 f. 104   Vgl. WA 6, S.  577; allerdings ist (gegen ebd.) ein klarer Bezug der Stelle WABr 2, S.  195,6 ff. auf Luthers Von den neuen Eckischen Bullen nicht gegeben; gleichwohl wird die Datierung auf Mitte Oktober, d. h. recht bald nach dem Eintreffen der Bulle in Wittenberg (s. WABr 2, Nr.  341, 11.  10. 1520 [mittags], S.  193–196; s. auch Fabisch/Iserloh, Dokumente, 2. Teil, wie Anm.  30, S.  317 f.), zutreffend sein. 105   WA 6, S.  587,19–22. 106   A.a.O., S.  587,22 f. 107   A.a.O., S.  587,23–588,2. 108   A.a.O., S.  588,4. 109   A.a.O., S.  588,7.

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§  2  Häresiologie

8.  Solidarisierung mit Hus im Umkreis der päpstlichen Verurteilung Innerhalb eines guten Jahres hatte sich die zunächst noch tastende ‚Partialkonvergenz‘ mit einzelnen papstkritischen Äußerungen Hussens, die Luther ausschließlich aus den Verwerfungscanones des Konstanzer Konzils bekannt waren, in ein feierliches Bekenntnis zur Nachfolge des Jan Hus als Nachfolge Christi gewandelt. Dieses öffentliche Bekenntnis zu Hus erfolgte allerdings erst, als der römische Prozess definitiv entschieden war. Als Luther selbst rite et recte zum Ketzer verurteilt war und sich entsprechend befreit fühlte110, wurde die öffentliche Solidarisierung mit dem Ketzer Hus eine ‚totale‘, ja wurde Hus zu Luthers ‚Vorläufer‘111. Noch in der Adels110   Zentral ist hier das erste Zeugnis, das wir von Luthers Reaktion auf das Eintreffen der Bannandrohungsbulle, seinen Brief an Spalatin vom 11.  10. 1520 (mittags), besitzen, s. bes. WABr 2, S.  195,20–24: „Gaudeo tamen toto corde mihi pro optima causa inferri mala, neque dignus sum tam sancta vexatione. Iam multo liberior sum, certus tandem factus papam esse Antichristum & satane¸ sedem manifeste inventum. tantum servet deus suos, ne seducantur eius impiissima specie.“ An einer Stelle wie dieser wird meines Erachtens offenkundig, dass für Luther die Erfahrung des römischen Prozesses elementar religiöse Erfahrung war, die mittels der sprachlichen Ausdrucksformen vorreformatorischer ‚Frömmigkeitstheologie‘ formuliert wurde. Freilich vermag ich nicht einzusehen, wie man die Frage nach dem religiös-theologischen ‚Umbruch‘ – von dem Hamm statt der nun verschiedentlich denunzierten ‚reformatorischen Wende‘ Luthers zu sprechen fordert – stellen kann, ohne sein Verhältnis zur Papstkirche bzw. zum Institut des Papsttums und ohne die Erfahrungen des römischen Prozesses konstitutiv in die Analyse einzubeziehen. Letzteres tut Hamm und kommt zum Nachweis eines „reformatorischen Wende- und Werdeprozesses“ (statt der sog. „Wende“!) (S.  117) in den Jahren 1505–1511, vgl. Berndt Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Bultmann/ Leppin/Lindner, Luther und das monastische Erbe, wie Anm.  34, S.  111–151; jetzt auch in: Berndt Hamm, Der frühe Luther, Tübingen 2010, S.  25–64. Meine eigene, von Hamm als „ganz traditionell“ (Naher Zorn, S.  112 Anm.  4) bewertete und offenbar schon allein deshalb abgelehnte Sicht der theo­ logischen Entwicklung Luthers zielt darauf ab, von einer „reformatorischen“ Erkenntnis erst dann und insofern zu sprechen, als sie in das bestehende Kirchenwesen nicht mehr integriert werden konnte und diesen Prozess im Sinne eines Korrelationszusammenhangs von theologischer Erkenntnis und geschichtlicher Erfahrung mit den Widerständen, die Luther begegneten, zu interpretieren, vgl. Thomas Kaufmann, Martin Luther [bsr 2388], München 22010, S.  39 ff.; s. oben §  1, Anm.  78. Durch Hamms Verwendung des Begriffs des „Reformatorischen“ schon zur Bezeichnung von Luthers Theologie vor 1513/4 (!) sehe ich die mit Obermans Plädoyer für eine Unterscheidung zwischen den Initia Lutheri und den Initia Reformationis (Heiko A. Oberman, Headwaters of the Reformation: Initia Lutheri – Initia Reformationis, in: Ders. [Hg.], Luther and the Dawn of Modern Era [SHCT 8], Leiden 1974, S.  40–88; vgl. ders., Reformation: Epoche oder Episode, in: ARG 68, 1977, S.  56–111) eröffneten Unterscheidungshorizonte abermals verschlossen. Wie Volker Leppin Hamms Beitrag in dem zitierten Sammelband einerseits als wissenschaftsgeschichtlich epochale Leistung qualifizieren („Berndt Hamm stellt die bald ein Jahrhundert alte Diskussion um eine ‚Früh‘- oder ‚Spätdatierung‘ von Luthers ‚reformatorischer Wende‘ auf eine neue Grundlage, indem er an die Stelle eines ‚Wende-Konstrukts‘ die Beschreibung einer lang anhaltenden reformatorischen Entwicklung setzt [.  .  .].“, a.a.O., Einleitung, S.  4), andererseits in seinem eigenen Beitrag (Mystisches Erbe auf getrennten Wegen, wie Anm.  34) frank und frei von einer „Wende“ (S.  159) im Zusammenhang eines von ihm sog. „Bekehrungsberichts“ (S.  158; 160) sprechen kann, obschon für Hamm gerade die Rede von einer „alles bestimmenden Wende oder Bekehrung“ (Hamm, Naher Zorn, S.  114) die ‚Hauptsünde‘ des von ihm sog. „Wende-Konstrukts“ darstellt, vermag ich nicht nachzuvollziehen. 111  Unter den öffentlichen Bezugnahmen auf Hus, die Luther zwischen Januar 1520 in der

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schrift, die zu einem Zeitpunkt veröffentlicht wurde, als Luther selbst der Ausgang des römischen Prozesses nicht mehr zweifelhaft, die Bannandrohungsbulle aber noch nicht publik geworden war, Mitte August 1520112, hatte er eine definitive Stellungnahme zu den Konstanzer Artikeln vermieden.113 In Exsurge Domine waren LuVerklerung und Oktober 1520 in Von den neuen Eckischen Bullen tätigte, kommt, wenn ich recht sehe, besonders zweien eine größere Bedeutung zu: In seiner Antwort auf die Lehrverurteilungen durch die Universitäten Köln und Löwen (WA 6, S.  170 ff.; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  321 ff.) stellte sich Luther in eine Reihe zu Unrecht verurteilter Theologen (Ockham, Giovanni Pico della Mirandola, Lorenzo Valla, Johannes Reuchlin, Johannes Rucherath von Wesel, Petrus Ravenna, Faber Stapulensis, Erasmus, Jan Hus und Hieronymus von Prag, WA 6, S.  183,3–185,7). Er kreierte damit das höchst einflussreiche Konzept der ‚Vorreformatoren‘ (s. dazu Friedrich Niewöhner/Günter Frank [Hg.], Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 8], Stuttgart – Bad Cannstatt 2004; vgl. die Hinweise in: Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur [SuR N. F. 29], Tübingen 2006, S.  324 f.), ordnete Hus also in ein prioritär auf die Akzeptanz unter den Humanisten abzielendes Geschichtsbild ein, das ihn selbst als ‚Schlusspunkt‘ einer höchst ansehnlichen Reihe von Opfern der kirchlichen Hierarchie, insbes. des Papstes, erscheinen ließ. 112   Der terminus ante quem des Erscheinens der Adelsschrift ist der 18.  8. 1520, vgl. WABr 2, S.  167,5 f.10 f.; s. auch LuStA 2, S.  91 f. 113   „Ich [sc. Luther] will hie Johannis Husz artickel nit richten, noch sein yrtumb vorfechtenn [d. h. die Meinung vertreten, er habe geirrt], wie wol mein vorstand noch nichts yrrigis bey yhm fundenn hat, unnd ichs mag frolich glaubenn, das die nichts guttis gericht [.  .  .], die [.  .  .] Christlich geleyd und gottis gebot ubirtretten [.  .  .].“ WA 6, S.  454,35–455,1 = LuStA 2, S.  151,9–13. Der 24. Artikel der Adelsschrift bietet ein differenziertes Unionsprogramm mit den Böhmen und führt damit die in der Verklerung vom Januar 1520 eingeschlagene Linie weiter. Luther stellt dar, dass von römischer Seite der Geleitbruch zugegeben werden müsse (WA 6, S.  454,22 ff. = LuStA 2, S.  150,20 ff.) und auch auf Seiten der Römer die größere Verantwortung für die seither eingetretenen Verwerfungen und Konflikte liege. Während er sich im Januar noch eindeutig als den Römern zugehörig fühlte, ist er nun deutlicher auf die Seite der Böhmen gerückt. In jedem Fall, gleich wie man Hus’ Lehre beurteile, sei es unrecht gewesen ihn, – wie überhaupt Ketzer! – zu verbrennen (WA 6, S.  455,11 ff. = LuStA 2, S.  151,23 ff.). Denn Ketzer solle man „mit schrifften, nit mit fewr“ (WA 6, S.  455,21 f. = LuStA 2, S.  151,32 f.) überwinden. Aktuelle Implikationen hatte natürlich auch Luthers Forderung, die theologischen Auseinandersetzungen durch Gelehrte führen zu lassen, die von weltlichen Obrigkeiten nominiert worden seien, nicht durch den Papst (WA 6, S.  455,26 ff. = LuStA 2, S.  151,37 ff.). Interimistisch solle in Böhmen eine ‚autokephale‘ Kirchenstruktur aufgebaut werden und den Hussiten die communio sub utraque sowie die konsubstantianische Präsenzvorstellung zugestanden werden (WA 6, S.  456,16 ff. = LuStA 2, S.  152,26 ff.). Dass Kirchengüter in Böhmen ‚säkularisiert‘ worden seien, solle man hinnehmen, WA 6, S.  457,13 ff. = LuStA 2, S.  153,23 ff. An Böhmen exemplifiziert Luther also ein Reformkonzept, das cum grano salis auch für Deutschland brauchbar wäre. Die Basis dieses Reformprogramms besteht in Luthers ekklesiologischer Konzeption der einen „Christenheit“ in der ganzen Welt, auch bei den von Rom unabhängigen Kirchen, die er in seiner Schrift gegen Alveldt (publiziert Ende Juni 1520) entfaltet hat, s. bes. WA 6, S.  286,31 ff.; vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  328 ff. Sollte Luthers Schrift gegen Alveldt, die ja erst nach der Lektüre von Hus’ De ecclesia entstand, als reformatorische Interpretationsgestalt von dessen Verständnis der Kirche als universitas praedestinatorum (vgl. nur Lamping, Velenus, wie Anm 75, S.  101 ff.) unter dem einen Haupt Christus zu interpretieren sein? (Vgl. etwa WA 7, S.  846,5 ff. 19 ff.; Kotowski betont, dass Luther in Vom Papsttum zu Rom „Hussens Schema von den verschiedenen Bedeutungen des Terminus ecclesia“ zugrundelegt, Norbert Kotowski, Ansätze für einen Vergleich der Ekklesiologie bei Hus und Luther, in: Seibt, Hus, wie Anm.  142, S.  347–365, hier: 361). Zur Ekklesiologie Luthers vor allem im Jahre 1520 vgl. Konrad Hammann, Ecclesia Spiritualis. Luthers Kirchenverständnis in den Kontroversen mit August von Alveldt und Ambrosius Cathari-

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thers Empfehlung, die communio sub utraque durch ein allgemeines Konzil wieder einzuführen, sein Urteil, die Böhmen seien für Schismatiker, nicht aber für Häretiker zu halten, schließlich seine Behauptung, einige der in Konstanz verurteilten Artikel des Jan Hus seien als christlich und wahrhaftig anzuerkennen, als ketzerisch verurteilt worden.114 Nach der Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle nahm Luther also keinerlei Rücksicht mehr. Wie er sich nun ohne jede Einschränkung mit Jan Hus als einem christlichen Lehrer solidarisierte, so verteidigte er die mit den Böhmen in Zusammenhang stehenden Artikel, ja radikalisierte sie. Der willkürliche Entzug des Laienkelches widerspreche der biblischen Einsetzung Christi und sei nicht hinzunehmen115 ; beide Gestalten „sollen“116 allen Christen gereicht werden; die den Laienkelch praktizierenden Griechen und Böhmen seien nicht nur keine Schismatiker, sondern handelten sehr christlich und evangelisch.117 Bisher habe er in dieser Frage „zcu mild unnd sanfft“118 gelehrt. Entgegen früheren Äußerungen findet die Konkomitanzlehre keine Billigung mehr119, da sie den tyrannischen Skandal des Kelchentzugs nur vertusche. Gleichwohl seien die Laien nicht dafür verantwortlich, dass sie nur eine Gestalt bekommen120, denn allein die Begierde genüge vor Gott. Die jährliche Pflichtkommunion sei widerchristlich121 ; man solle auch nicht mehr auf ein Generalkonzil warten, sondern die Wiedereinführung des Laienkelches auf der Ebene der Diözesen zügig umsetzen.122 Denn Konzilien hätten nach Maßgabe der Schrift zu entscheiden nus [FKDG 44], Göttingen 1989. Dass Hus’ Ekklesiologie wesentlich von Wiclif bestimmt ist, kann seit Loserths Buch (Johann Loserth, Hus und Wiclif, München, Berlin 21925) als gesichert gelten. Strittig ist allenfalls, das – vermutlich nicht sehr hoch (s. Alexander Patschovsky, Ekklesiologie bei Jan Hus, in: Hartmut Boockmann/Bernd Moeller/Karl Stackmann [Hg.], Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit [AAWG. PH 2/179], Göttingen 1989, S.  370–399; Abschwächungen Hussens gegenüber Wiclif in Bezug auf die Frage der Gültigkeit der Sakramente unwürdiger Priester arbeitet heraus: Bernhard Töpfer, Lex Christi, Dominium und kirchliche Hierarchie bei Johannes Hus im Vergleich mit John Wyclif, in: Seibt, Hus, wie Anm.  142, S.  159–165; zu Hus’ Ekklesiologie s. auch: František J. Hole­cˇek, Hussens Kirchenverständnis, Seibt, a.a.O. S.  183–191) – zu veranschlagende Ausmaß der Abhängigkeit Hussens. Mit substantieller Kenntnis Wiclifscher Texte ist allerdings 1519/20 bei Luther nicht zu rechnen. Dass zwischen Hus’ Kirchenkritik und Luthers fundamentaler Infragestellung der Sakramentsinstitution erhebliche theologische Unterschiede bestanden, die dem Wittenberger nicht verborgen geblieben sind (vgl. WA 7, S.  135,23–136,19), hat Hendrix, „We Are All Hussites“?, wie Anm.  91, bes. S.  147 ff., überzeugend herausgearbeitet. 114   Vgl. DS38, Nr.  1466 (Art.  16), S.  490; Nr.  1480 (Art.  29), S.  491; vgl. Fabisch/Iserloh, Dokumente, 2. Teil, wie Anm.  30, S.  378; 382. 115   Grund und Ursach (publ. Januar bis März 1521), WA 7, S.  388,15 ff.; vgl. Assertio (publ. Januar 1521), WA 7, S.  122,36 ff. 116   WA 7, S.  390,19; vgl. 396,22. 117   WA 7, S.  123,5; 392,36 ff. 118   WA 7, S.  394,7. 119   WA 7, S.  394,18 ff.; 398,26 f. 120   WA 7, S.  396,3 ff. 121   WA 7, S.  396,28 ff. 122   WA 7, S.  398,12 ff.

9.  Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers

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und Konzilsentscheidungen sollten von der Schrift her korrigiert werden.123 Auch den Jan Hus betreffenden Artikel in Exsurge Domine, in dem ihm vorgeworfen worden war, einige (aliqui)124 Artikel des Jan Hus als wahrhaftig und „gantz Evangelisch“125 bezeichnet zu haben126, radikalisierte Luther in dem Sinne, der sich schon in Von den neuen Eckischen Bullen im Oktober gezeigt hatte: „Alszo sag ich itzt: Nit etlich allein, szonderen alle artickel Joannis husz, zu Costnitz vordampt, seyen gantz Christlich, und bekenne, das der Bapst mit den seynen als ein rechter Endchrist hie gehandelt, das heylig Euangelium mit Johanne husz vordampt und an sein stat des hellischen tracken lere gesetzt hat, das erbiete ich mich zuvorantwortten, wo ich sol, und wilsz mit gottes hulff wol beweysenn und erhaltenn.“127 In Hinblick auf das Papsttum sei er, Luther, „funffmal“128 radikaler als Hus, der lediglich einen bösen, tyrannischen Papst aus der heiligen Christenheit ausschließe, während er, Luther, von Grund auf bestreite, dass das Papsttum „gotlich ordnung“129 entstamme, selbst wenn „heuttigs tags sanct Peter selbs zu Rom sesse“!130 Und in Bezug auf die Dekretalen und das kanonische Recht gehe er eindeutig über Wiclif hinaus, der es nur als „unnottig zu haltenn“131 bezeichnet habe, während er, Luther, es für unchristlich, ja widerchristlich halte und deshalb „mit frolichem mut vorprant habe“132 . Im Selbstvergleich mit den jüngsten Ketzern der abendländischen Kirchengeschichte lässt Luther keinen Zweifel daran, dass er noch viel ‚ketzerischer‘ und in seiner Kritik am römischen Papsttum radikaler sei als sie.

9.  Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers Mit dem Akt der Exkommunikation des Papsttums, den Luther durch die Verbrennung des kanonischen Rechts am 10. Dezember 1520 vollzog und in seinen Schriften Grund und Ursach aller Artikel .  .  . so durch Romische Bulle unrechtlich vordampt seyn und Assertio omnium articulorum literarisch ‚beurkundete‘133, war die strategische Lücke, die zwischen seinen ‚privaten‘ und seinen öffentlichen Äußerungen über Jan 123

  WA 7, S.  428,28 ff.; vgl. 134,8 ff.  DS38, Nr.  1480 (Art.  30), S.  491; Fabisch/Iserloh, Dokumente, 2. Teil, wie Anm.  30, S.  382; Luther übersetzt mit „Etlich“, WA 7, S.  430,21; 431,20. 125   WA 7, S.  431,21. 126   Quelle ist natürlich die Leipziger Disputation (WA 2, S.  279,11–13; WA 59, S.  475,1314 ff.); vgl. auch Heinrich Roos SJ, Die Quellen der Bulle „Exsurge Domine“ (15.  6. 1520), in: Johann Auer/ Hermann Volk (Hg.), Theologie in Geschichte und Gegenwart, FS M. Schmaus, München 1957, S.  909–926, hier: 924. 127   WA 7, S.  431,25–30. 128   WA 7, S.  431,32. 129   WA 7, S.  433,2. 130   WA 7, S.  433,1 f. 131   WA 7, S.  433,8 f. 132   WA 7, S.  433,10 f. 133  Vgl. Kaufmann, Luther, wie Anm.  110, S.  53. 124

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§  2  Häresiologie

Hus seit Februar 1520 bestanden hatte, definitiv geschlossen. Jan Hus war Luthers Vorläufer geworden. In Erzählungen aus seiner Ordenszeit ließ Luther die Öffentlichkeit nun daran teilnehmen, wie er schon lange auf den Weg des hussitischen Kirchenkritikers geraten und sich endlich dem immer vernehmlicher werdenden „mummeln“134 der Husanhänger angeschlossen habe. Sein „Instructor Johan. Greffenstein“135, dessen Namen er jetzt nennen könne, da er tot sei, habe ihn in den Anfängen seiner Erfurter Klosterzeit gelehrt, dass Jan Hus „durchs placet der unge­larten tyrannen hyn gericht“ worden sei, „on unterricht, on beweyszung, on ubirwindung“. In einem Nachwort zu einer Edition von Hus-Briefen in der Übersetzung Johann Agricolas von 1537 sollte Luther für diese Aussage dann niemand Geringeres als Kaiser Maximilian und Erasmus von Rotterdam in Anspruch136 nehmen, ohne dass sich freilich entsprechende Nachweise bisher hätten anführen lassen.137 Und dann erzählte Luther die Geschichte von seinem Ordensgenossen Johannes Zachariae, der vom Papst mit der Goldenen Rose belohnt worden sei, weil er Hus auf dem Konstanzer Konzil mit einem Bibelzitat bezwungen habe. Sein Epitaph hatte Luther im Erfurter Augustinerkloster gesehen, wo es sich noch heute befindet.138 Durch einen Ordensbruder – 1537, nach Staupitzens Tod, wird Luther offenbaren, dass es Johann Staupitz war, der diese Geschichte seinerseits von seinem Amtsvorgänger Andreas Proles kennengelernt hatte139 – wusste Luther, dass Zachariae Hus durch ein 134

  WA 6, S.  591,21 f.   WA 6, S.  591,16 f. Diese Instruktion dürfte zwischen dem 17. Juli 1505 und Luthers Priesterweihe (Frühjahr 1507) anzusetzen sein, also ins Kloster gehören (gegen Ratzeberger, zit. bei Otto Scheel, Dokumente zu Luthers Entwicklung [SQS N. F. 2], Tübingen 21929, Nr.  536, S.  203,14 f., hier auch mit der falschen Namensform: „Johann Greiffen“; zu Greffenstein, Luthers Novizenmeister, s. Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  14, S.  65; 68; vgl. auch WA 30 III, S.  530,10 ff.; 40 II, S.  411,14 ff.; WABr 9, S.  133,40 ff.; WATr 2, Nr.  2288 a/b, S.  408,4–8. 136   WA 50, S.  36,13–18. 137   WA 50, S.  36 Anm.  7. 138   Abb.  13 in: Ulman Weiss, Ein fruchtbar Bethlehem, Berlin 1982 (nach S.  112); zu der Zachariae betreffenden Literatur bzw. entsprechenden Nachweisen s. unten III, §  12, Anm.  30, sowie: Adolar Zumkeller, Der Augustinereremit Johannes Zachariae (†  1428) – eine bedeutende Persönlichkeit aus der Gründerzeit der Erfurter Universität, in: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte – Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S.  97–107. Aus einer Tischrede geht hervor, dass Luther von Staupitz erfahren hatte, dass dieser einst mit Proles im Angesicht eines im Augustinereremitenkloster in Gotha befindlichen Porträts des Johannes Zachariae über diesen gesprochen habe. Proles habe ausgerufen: „Behuth mich Gott, daß ich diese rose nicht trage!“ (WATr 5, Nr.  6420, S.  654,5 f.), denn Zachariae habe Hus „falsa biblia“ (Z.  6) besiegt. Spalatin habe auf Luthers Erzählung hin gesagt: „Den text hat der Teuffel in die bibel bracht! – Respondit Lutherus: Es hat darinne gestanden, wie es auch hinein komen ist! Et ita est damnatus.“ (A.a.O., Z.  10–12). 139   WA 50, S.  36,19 ff. 1520 heißt es nur: „Ich habe horen sagen von Andreas Prolesz“, WA 6, S.  590,18. Diese Formulierung ist natürlich mehrdeutig: Sie könnte heißen, Luther habe es direkt von Proles gehört, was – wie wir wissen – historisch ausgeschlossen ist, da der Generalvikar der Reformkongregation der Augustinereremiten bereits zwei Jahre vor Luthers Klostereintritt verstorben war (†  6.  6. 1503, Kulmbach; DBETh 2, 2005, S.  1073; RGG4, Bd.  6, 2003, Sp.  1689 f.; vgl. über Proles auch: Manfred Schulze, Fürsten und Reformation [SuR N. R. 2], Tübingen 1991, bes. S.  87 ff.; zum Erfurter Klosterkontext s. Josef Pilvousek, Askese, Brüderlichkeit und Wissenschaft: Die Ideale der Erfurter Augustiner-Eremiten und ihre Bemühungen um eine innovative Umset135

9.  Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers

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absichtsvoll falsch zitiertes Bibelwort aus Ez 34,10 zu Fall gebracht habe.140 Und in der Bibliothek seines Erfurter Klosters will er sogar einen Band mit Huspredigten gefunden und gelesen und sich schon als junger Ordensbruder darüber entsetzt haben, dass ein „solcher man verbrand were, der so Christlich und gewaltig die schrifft furen kundte.“141 Nach dem mit dem Bann vollzogenen ‚Bruch‘ mit der römischen zung, in: Bultmann/Leppin/Lindner, Luther, wie Anm.  34, S.  39–56, bes. 44 f.), doch einem zeitgenössischen Leser musste das nicht auffallen. Sie könnte natürlich auch heißen: Mir ist über Proles berichtet worden. Letzteres war der Fall; Luther kannte die Geschichte von Staupitz, den er ja aber nicht ‚belasten‘ wollte, wie er ja auch Greffensteins Namen nur nannte, „weil er todt ist“ (WA 6, S.  591,19). Die Übereinstimmung Staupitzens mit Hus hatte Luther ja schon im Februar 1520 gegenüber Spalatin konstatiert, WABr 2, S.  42,23, s. o. Anm.  92. Diese ‚hussitische‘ Lesart Staupitzens bei Luther findet, soweit ich sehe, in den ‚frömmigkeitstheologischen‘ Korrellierungen ihres Verhältnisses bei Hamm und Leppin (s. den Anm.  110 zitierten Sammelband) keine Berücksichtigung, vgl. aber: Markus Wriedt, Gnade und Erwählung [VIEG 141], Mainz 1991, S.  164 (zur ekklesiologischen Nähe Staupitz’ zu Hus); vgl. S.  222. 140   „Da Johan. Husz zu Costnitz hat offentlich disputirt, ist yhm von Johanne Zacharie der spruch Ezech. xxxiiii. ‚Visitabo ego ipse pastores, et non populus meus‘, furgehalten, hat Johan. Husz vorneynt, es stund nicht drynnen ‚Et non populus meus‘, hat Johan. Zacharie sich auff Husz eygen bibel beruffen, wilch er zuvor in Johan. Husz herberg heymlich besehen hat, und yhn doch nit warnet: da die ist kummen, ists alszo drynnen funden, und ob wol Johan. Husz rieff, sie were falsch, andere bibel hetten nit alszo, den er hat eine angefehr an sich genommen, musts doch nit helffen, und alszo durch ein falsche bibel vordampt werden.“ WA 6, S.  590,24–591,6; vgl. WA 50, S.  36,27– 37,5. Demnach handelt es sich also um Folgendes: Zachariae hatte Ez 34,10 vulg. mit dem textgeschichtlich sekundären Zusatz ‚et non populus meus‘ nach einer hussitischen Bibelausgabe angeführt, wohl als Beweis dafür, dass Hus und seine Anhänger den Text manipulierten. Denn der Skopus des Zusatzes dürfte ja gewesen sein, dass die Hussiten das ‚Volk‘ von einer den Hirten, also den Geistlichen, geltenden göttlichen Heimsuchung bewahrt sähen. Hus scheint gegen die Textversion protestiert zu haben. Aus der Darstellung des Vorgangs in Luthers Nachwort zur 1537er Briefausgabe von Hus geht hervor, dass sich Zachariae vorher in Hus’ Unterkunft davon überzeugt habe, dass der Prager Magister eine Bibel mit dem falschen Zusatz besaß. Er hätte ihm also bewusst eine Falle gestellt. Vgl. dazu auch: Adalbero Kunzelmann, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Teil  2, Würzburg 1970, S.  241 f. [mit der sinnvollen Erklärung, die Rose könne wohl nicht vom Papst, sie müsse vom König stammen]; ders., Teil  5, Würzburg 1974, bes. S.  44 ff.; 343 ff.; Adolar Zumkeller, Die Augustinereremiten in der Auseinandersetzung mit Wiclif und Hus, ihre Beteiligung an den Konzilien von Konstanz und Basel, in: Analecta Augustiniana 28, 1965, S.  5 –56, hier: 26 ff.; ders., Leben, Schrifttum und Lehrrichtung des Erfurter Universitätsprofessors Johannes Zachariae O. S. A. (†  1428) [Cassiacum 34], Würzburg 1984, S.  64–67; Hilsch, Johannes Hus, wie Anm.  77, S.  274. 141   WA 50, S.  37,32 f. In der Überlieferung zur Geschichte der Bibliothek des Erfurter Augustinerklosters und ihres Benutzers Luther scheint sich kein Hinweis auf einen Hus-Band erhalten zu haben, vgl. Jun Matsuura (Hg.), Martin Luther, Erfurter Annotationen 1509–1510/11 [AWA 9], Köln, Wien 2009. Vor allem die martyriologisch stilisierte Festigkeit der Glaubenshaltung dürfte als populäres Moment hussitischer Heiligmäßigkeit präsent gewesen sein. In einem Flugschriftendruck wie dem des Pogius Florentinus, Wie Hieronymus von Prag ein anhänger Johannis Huß durch das Concilium zu Costentz für ein ketzer verurteilt und verprant worden ist .  .  . [Augsburg, Erhard Oeglin Erben 1521]; Hohenemser, Ex. MF 362 Nr.  2882; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3768, S.  273, wird ein zeitgenössischer Briefbericht über die vorbildliche Haltung des Hieronymus, der auf dem Scheiterhaufen das Credo gesungen habe, in deutscher Übersetzung geboten, also für die fromme Haltung eines Märtyrers ‚geworben‘. Zur Frage der Ketzerei der Hussiten („sofert das war ist“ [A2r]) wahrt der Text Distanz; reformatorische Einflüsse lässt er nicht erkennen. Der Bericht des italienischen Humanisten Giovanni Francesco Poggio Bracciolini war zuvor in einer lateinischen Version [1518]

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§  2  Häresiologie

Kirche kreierte Luther also eine ‚Vorgeschichte‘ dieses Bruchs, die dadurch geprägt war, dass er sich als jemanden darstellte, der schon seit längerem in engerer Tuchfühlung mit hussitischen Gesinnungen und Neigungen gestanden habe, die auch in seinem Orden Rückhalt besäßen. Nun soll nicht behauptet werden, dass diese Geschichten einfach nur ‚erfunden‘ worden sind, keineswegs. Aber einen ‚Sinn‘ erhielten sie erst von einem bestimmten Bezugspunkt her, und dieser war mit dem Bann, mit Luthers ‚Verketzerung‘, gegeben. Erst diese retrospektivische Konstruktion der eigenen Vorgeschichte in Gestalt der hussitischen Bewegung, die Luther im Frühjahr 1520 entwarf, bildete dann den historischen Hintergrund für die intensiven Bemühungen protestantischer Autoren, beginnend in den frühen 1520er Jahren und bis zu Matthias Flacius’ monumentaler Husausgabe von 1558 reichend, Quellenschriften zu Leben und Schicksal des böhmischen Reformators zugänglich zu machen.142 Diese Konstruktion schuf die Vorbei [Matthias Schürer] in [Straßburg] und 1521 auf Deutsch bei [Matthes Maler] in [Erfurt] erschienen, Köhler Bibl., Bd.  3, S.  272 f., Nr.  3766 f. 142   Nur einige Hinweise: Am 17.  3. 1524 datierte Martin Reinhardt, Prediger in Jena und Karlstadtvertrauter, einen Druck der Vier Prager Artikel, die er aus dem bei einem Rostocker Kaufmann namens Hans Kaffmeister aufbewahrten Nachlass des vorreformatorischen Multiplikators hussitischen Gedankengutes, Nikolaus Rutze / Rus[s], kannte. Zur Einordnung dieser Version der Vier Artikel vgl. Siegfried Hoyer, Häresien zwischen Hus und Luther, Habil. phil. masch. Leipzig 1966, S.  119 ff.; ders., Nikolaus Rutze und die Verbreitung hussitischer Gedanken im Hanseraum, in: Konrad Fritze u. a. (Hg.), Neue Hansische Studien [Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 17], Berlin/O. 1970, S.  157–170; vgl. zu Rutze auch: Bernd-Ulrich Hergemöller, Pfaffenkriege im spätmittelalterlichen Hanseraum [Städteforschung C/2/I], Bd.  1, Köln, Wien 1988, S.  200; vgl. zu Rutze als von Flacius (vgl. Christina Beatrice Melanie Frank, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus, Diss. phil. Tübingen 1990, S.  195; 205 Anm.  531) verewigten testis veritatis (Catalogus testium veritatis, Basel 1556, S.  1014 f.): Hoyer, Rutze, s. o., S.  157 f.; in Bezug auf die Ablasskritik: Otto Krabbe, Die Universität Rostock, Rostock 1854, ND Aalen 1970, S.  311 ff.; DBETh 2, 2005, S.  1161 f. (Lit.); zu Reinhardts Reise nach Dänemark im Zusammenhang mit Karlstadts Mission s. Siegfried Hoyer, Martin Reinhart und der erste Druck hussitischer Artikel in Deutschland, in: ZfG 18, 1970, S.  1597–1615; ders., Jan Hus und der Hussitismus, wie Anm.  97, S.  299 ff.; ders., Luther und die Häresien des Mittelalters, in: Leo Stern/ Max Steinmetz (Hg.), 450 Jahre Reformation, Berlin 1967, S.  89–101, bes. 89–99; zu Reinhardts Widmungsbrief an die Nürnberger Antonius Tucher, Hieronymus Ebner, Willibald Pirckheimer und den Rat der Reichsstadt [fehlt in Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  5] vgl. den Druck: Antzeygung wie die gefallene Christenheit widerbracht mug werden / in yren ersten stand .  .  . Vor hundert iaren beschrieben .  .  . [Jena, Michel Buchfürer] 1524; Ex. LB Schwerin 15353; Bd.  I V/4, 240; VD 16 Q 32 (Abdruck der Artikel: B 1r–D 2v; Darlegung des Fundberichtes bei Kaffmeister und Verzögerung der Publikation bis zu dessen Tod [A 2v–A 3r]; Nachwort an die Nürnberger mit der Bekräftigung ihres Weges der Reformation D 2v–D 4r). [1525] publizierte Otto Brunfels (vgl. über ihn nur: DBETh 1, 2005, S.  189 f.; Thomas Kaufmann, Nouvelles Sources de la Controverse Eucharistique à Strasbourg en Automne 1524, in: RHPhR 73, 1993, S.  137–153; s. auch unten II, §  8, Anm.  137) eine deutsche Übersetzung der Darstellung des Martyriums des Jan Hus nach Matthias von Janov, die überaus reich bebildert war; Druck: Geistlicher Bluthandel Johannis Husß zu Costentz .  .  . [Straßburg, Johann Schott 1525]; VD 16 G 983; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1242, S.  530 f.; Ex. MF 1184 Nr.  2971. Nach Auskunft der von Brunfels stammenden Vorrede an den Leser liegt dem Druck eine Abschrift von einer Pergamenthandschrift zugrunde, die Ulrich von Hutten neben anderen aus Böhmen zugeschickt worden sei (a 1v). Die Schrift ist durchsetzt mit bildlichen und textlichen Antitypologien, wie sie das ja auch aus hussitischen Traditionen gespeiste Passional Christi et Antichristi (s. dazu

9.  Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers

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Abb.  1  Cranach – Werkstatt (undatiert, nach 1550): Jan Hus unter Rundbogenarchitrav mit Wappen, rechts dem Luthers; Holzschnitt aus elf Blöcken 135,9  cm x 69,5  cm. Das Bild dürfte ursprünglich mit einem analog gestalteten Ganzkörperporträt Luthers korrespondiert haben. Walter L. Strauss, The German Single-leaf Woodcut 1550–1600, New York 1975, Bd.  3, S.  158 f.

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§  2  Häresiologie

Abb.  2  Cranach – Werkstatt, Austeilung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt durch Luther und Hus im Kreis der sächsischen Fürstenfamilie (von rechts nach links hinter dem Altar Johann Friedrich [III.], Johann Wilhelm, Johann Friedrich II., Sibylle von Jülich-Kleve-Berg, Herzogin von Sachsen, Johann Friedrich, ihr Ehemann; im Vordergrund spendet Hus Kurfürst Friedrich dem Weisen die Oblate und Luther Johann dem Beständigen den Kelch. Im Bildhintergrund nimmt Luther Kurfürst Johann Friedrich die Beichte ab. Das Bildzentrum wird von einem auf dem Altar postierten Gnadenbrunnen mit Weinranken bestimmt, in den sich das Blut des gekreuzigten Christus ergießt. Holzschnitt, um 1560; 27,8 x 24,3  cm; Dieter Koepplin/Tilman Falk, Lukas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, Bd.  2, Basel, Stuttgart 21976, S.  513 Nr.  361; Walter L. Strauss, The German Single-leaf Woodcut 1550– 1600, New York 1975, Bd.  3, S.  1393; Datierung auf „nach 1551“ bei: Wolfgang Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana, Regensburg 2007, S.  206.

9.  Hus wird zum ‚Vorläufer‘ Luthers

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aussetzung dafür, den Prager Magister auch in der lutherischen Ikonographie (Abb.  1 und 2) zu nostrifizieren, sei es in Doppelbildnissen mit Luther, sei es in reformatorischen Gruppenporträts.143 Insofern war Hus eine durchaus beispiellose Karriere in Karin Groll, Das „Passional Christi und Antichristi“ von Lucas Cranach d. Ä. [EHS. R. 28/118], Frankfurt/M. 1990, bes. S.  21–28; sowie die Hinweise in: Kaufmann, Ende der Reformation, wie Anm.  75, S.  251 Anm.  221; WA 9, S.  677–715; zu Cranach d. Ä. vgl. nur: Andreas Tacke [Hg.], Lucas Cranach d. Ä. Zum 450. Todesjahr [Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 7], Leipzig 2007; weitere Hinweise in: Gottfried G. Krodel, Dürers Luther-Bücher, hg. von Martin Brecht [SVRG 213], Gütersloh 2012, Anm.  570 ff.); zu weiteren Hus-Editionen Brunfels’, die mit Hutten in Zusammenhang stehen, s. Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus, wie Anm.  97, S.  297 ff. Eine der ersten literarischen Niederschläge des reformatorischen Interesses an Jan Hus findet sich in der Beklagung eines Laien, Hans Schwalb, von 1521, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  63–74, hier bes. 65,6 ff. (Hus als Papstkritiker, Priesterreformer und Prediger in der Nachfolge Christi in Armut und Demut; Schilderung eines Wandgemäldes aus der Bethlehemkapelle in Prag, s. dazu a.a.O., S.  72 Anm.  10). Hier werden auch Žiska und die militanten Taboriten erwähnt (65,24 ff.); im Neu-Karsthans (1521) wird Žiska dann, ähnlich wie bei Hutten schon 1520 (Böcking, Bd.  4, S.  354,29–355,15) zum Vorbild des ‚Pfaffenkrieges‘, s. BDS 1, S.  438,17–439–30. Die Konzilsthematik war schon [1520] in einer anonymen Dialogflugschrift gegen Eck präsent, vgl. Dialogus .  .  . wieder Doctor Ecken Buchlein des Concilii zu costnitz außgehen hat lassen / gemacht durch Chuntzen von Oberndorff [Leipzig, Wolfgang Stöckel 1520]; VD 16 K 2574; WA 6, S.  577; Ex. MF 375 Nr.  1043; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  644, S.  279; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  32, S.  275–278. Die Schrift eines sonst unbekannten Verfassers [pseud.?] nimmt auf Ecks Kritik (s. Anm.  103) an der von Luther in der Adelsschrift geäußerten Behauptung, in Konstanz sei Hus die Geleitzusage gebrochen worden, Bezug, die vor wenigen Tagen erschienen sei (A1v). Den Dialog führen zwei Laien; der eine verteidigt Eck und den Papst, der andere widerlegt Ecks Lutherdarstellung aufgrund eigener Lektüre Lutherscher Schriften. Die durch den Titel evozierte Konzentration auf die Konzilsthematik entspricht dem Inhalt nicht vollständig (vgl. aber A3vf.). Über Drucke hussitischer Schriften in den 1520er Jahren s. Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus, wie Anm.  97; vgl. bes. zu den geschichtstheologischen Aspekten des Lutherschen Bezugs auf Hus: Heiko A. Oberman, Hus und Luther. Der Antichrist und die zweite reformatorische Entdeckung, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen [Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 85], München 1997, S.  319–346; zur Würdigung der Flaciusschen Hus-Ausgabe von 1558 (Neudruck 1715) vgl. nur: Monika Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters [Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19], Stuttgart 2001, S.  131 f. 143   Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei verwiesen auf das undatierte (ca. 1530/40 anzusetzende) Blatt „Luther und Hus als gute Hirten“, in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellungskatalog, Frankfurt/M. 1983, Nr.  311, S.  246 f.; in dieser Weise der tendenziell paritätisch-gleichberechtigten Darstellung auch: „Luther und Hus spenden den sächsischen Fürsten das Abendmahl sub utraque“ [undatiert/ca. 1550], z. B. in: Walter L. Strauss, The German Single Leaf Woodcut 1550–1600, Vol.  3, New York 1975, S.  1393 [s. o. Abb.  2]; auch das großformatige Standporträt des Jan Hus, bestehend aus elf Blöcken, dürfte als Doppelporträt mit Luther konzipiert sein (Abb. in: Strauss, a.a.O., Vol.  1, S.  158 f. [s. o. Abb.  1]; ein Doppelporträt von 1623 in: Harms, s. u., Bd.  2, Nr.  200, S.  354 f.). Einzelporträts Hus’, zumeist mit dem Gans-Schwan-Motivkomplex, bei H. Guldenmundt in Nürnberg verlegt, Abb. in: Hilsch, Hus, wie Anm.  77, S.  129; Nachweise eines Magdeburger Druckes [wohl vor 1548], in: Kaufmann, Ende der Reformation, wie Anm.  75, S.  414 Anm.  892. Die Aufnahme von Hus in reformatorische Gruppenporträts setzt, wie mir scheint, mit dem Flugblatt „Erhalt uns Herr“ (1547/8; s. dazu Kaufmann, a.a.O., S.  412 ff.; Abb.  17, S.  584) ein. Wahrscheinlich ist dieses Gruppenbild durch eine Reihe von Einzelproträts, in denen auch Hus vorkam, vorbereitet, s. Kaufmann, a.a.O., S.  414 Anm.  892. Im „Lutherus triumphans“ von ca. 1568 (vgl. zum Diskussionszusammenhang: Harry Oelke, Konfessionelle Bildpropaganda des späten 16. Jahrhunderts: Die Nas-Fischart-Kontroverse 1568/71, in: ARG 87, 1996,

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§  2  Häresiologie

der protestantischen Erinnerungskultur beschieden. Ihren Höhe- und Zielpunkt fand diese Karriere in einem prophetischen Logion Hussens selbst, in dem dieser in Konstanz auf Luther verwiesen haben soll: „Ihr bratet itzundt ein Huss, das ist / ein Ganss / aber nach Hundert Jahren wird auffstehen labod / das ist / ein Schwan / der da singen wird / und wird von euch nicht gebraten werden.“144 Damit war Luthers Konstruktion seines Vorläufers im Modus der Prophetie ex post bestätigt worden. S.  149–200; weitere Nachweise in: Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm.  111, S.  217 f. Anm.  38; zur Interpretation des Blattes im Kontext der reformatorischen Gruppenbildnisse: HansPeter Hasse, Luther und seine Wittenberger Freunde. Zum Erinnerungsbild einer Gruppe in der Kunst und Publizistik des 16. Jahrhunderts, in: Wartburg-Stiftung Eisenach [Hg.], Wartburg-Jahrbuch Sonderband 1996, Eisenach 1996, S.  84–119, bes. 90 ff.; vgl. zu Hus in der Flugblattpublizistik auch: Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter [AKG 57], Berlin, New York 1992, S.  298 f.; 463. Neben Wiclif und Hieronymus von Prag begegnet Hus dann auf dem Blatt „t’Licht is op den kandelaer gestelt“, vgl. Wolfgang Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd.  2, München 1980, Nr.  123, S.  216 f.; vgl. auch: Dorothea Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: Berndt Hamm/Bernd Moe­l­ler/dies., Reformationstheorien, Göttingen 1995, S.  31–51, hier: 31 f. 144   Zit. nach der Version bei Nicolaus Selnecker, Historica Oratio, Vom Leben und Wandel .  .  . Martini Lutheri, 1576; zit. nach dem von Alfred Eckert hg. Nachdruck, Fürth 1992, S.  12r; vgl. bei Mathesius: Hans Volz, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius [QFRG 12], Leipzig 1930, S.  76 f. mit Anm.  3 ff.; vgl. auch den Ausstellungskatalog „Luther mit dem Schwan – Tod und Verklärung eines großen Mannes“ (Lutherhalle Wittenberg 21.  2.–10.  11. 1996), Berlin 1996 (bes. den einleitenden Beitrag von Volkmar Joestel: Die Gans und der Schwan. Eine Allegorie auf Jan Hus und Martin Luther, S.  9 –12). Die Deutung Hussens als seines „Vorlauffer[s]“ (WADB 11/2, S.  88,15) ist besonders prominent und wirkungsreich entfaltet in Luthers großer Danielvorrede von 1529/30 (zum historischen Kontext s. Martin Brecht, Luther, Bd.  3 : Die Erhaltung der Kirche, Stuttgart 1987, bes. S.  227). Hier zitiert er – neben einem Hieronymus von Prag zuzuschreibenden prophetischen Wort eines 100 Jahre später auftretenden Nachfolgers – das Wort von der Gans und dem Schwan: „Item, Sie werden eine Gans braten (Hus heisst Gans) Es wird ein Schwan nach mir komen, den werden sie nicht braten. Und ist also geschehen. Er ist verbrand, Anno. 1416. So gieng dieser jtziger Hadder an mit dem Ablas, Anno. 1517.“ WADB 11/2, S.  88,16–19. Demnach kann es keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass Luther dem Hus-Logion prophetische Qualität zuerkannte (zur ‚Nachwirkung‘ Hussens als Prophet s. a. Harms, Flugblätter, Bd.  2, wie Anm.  143, Nr.  180, S.  316 f.). Zur Einordnung Hussens als Kulminationspunkt der ‚vorreformatorischen‘ Konfliktgeschichte mit dem Papsttum, die in Luther selbst ihren Höhe- und Wendepunkt besitzt, vgl. WADB 11/2, bes. S.  84,10 ff.; zum Anhaltspunkt in einer der brieflichen Äußerungen Hus’ vgl. WA 30 III, S.  387 Anm.  2; WA 50, S.  29,4–6; Luther wandte das Logion auch 1531 auf sich an, WA 30 III, S.  387,18 ff.; vgl. auch Adolf Hauffen, Husz eine Gans – Luther ein Schwan, in: Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie, Johann von Kelle dargebracht, 2. Teil [Prager deutsche Studien 9], Prag 1908, S.  1–28 (breite Übersicht über die Rezeptionsgeschichte insbes. im späteren Luthertum); vgl. Hilsch, Johannes Hus, wie Anm.  77, S.  288. Zu Hus als Vorläufer in einem Traum Friedrichs des Weisen auf einem Blatt der Centenarfeier von 1617 vgl. Harms, Flugblätter, Bd.  2, wie Anm.  143, Nr.  126, S.  222 f.; Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit, in: ZThK 107, 2010, S.  285–324. Einen gewissen Parallelfall zur Entdeckung Hus’ stellt die Wessels dar. In seiner Vorrede zur Wessel-Ausgabe von 1522 (ed. in: WA 10/2, S.  311– 317; vgl. dazu Hieronymus, 1488, wie Anm.  100, Bd.  1, S.  232) stellt der Wittenberger fest: „Hic si mihi antea fuisset lectus, poterat hostibus meis videri Lutherus omnia ex Vvesselo hausisse, adeo spiritusque utriusque conspirat in unum.“ WA 10/2, S.  317,13–15. Zur Zitation eines auf Hus zurückgehenden Liedes unter dem Heiligenepitheton „S[ankt] Johannes Hus“ vgl. WA 35, S.  142; AWA 4, S.  168.

10. Schlussfolgerungen

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10. Schlussfolgerungen Will man sich an verallgemeinernden Aussagen zum Verhältnis von „Spätmittelalter“ und „Reformation“ im Spiegel der an Luthers Umgang mit Hus gewonnenen Befunde versuchen, so ließe sich Folgendes feststellen: 1.  Die Vorstellung einer von Hus zu Luther laufenden historischen Kontinuität stellt sich als Folge der von Luther zunächst partiell, sodann immer vollständiger angenommenen und ihm zugleich als inkriminierende kontroverstheologische Fremdzuschreibung begegnenden Deutungsperspektive dar. Eine Kontinuitätskon­ struktion von Hus zu Luther gab es mithin, weil Luther und seine Gegner diese Linie aus je spezifischen Motiven heraus zogen. Die Kontakte zu den Böhmen substantialisierten Luthers Kenntnisse über Hus und seine Theologie und begründeten eine entsprechende historisch-apologetische Publizistik in der frühen Reformation. 2.  Die Konstruktion einer Kontinuitätslinie, die von Hus zu ihm führte, baute Luther immer weiter aus. Er begründete sie mit Stimmen prominenter Zeitgenossen wie Kaiser Maximilian, Erasmus, Exponenten seines Ordens, ‚Volkes Stimme‘ und schließlich mit einem prophetischen Logion Hussens selbst. Die Kontinuität zwischen Hus und Luther wurde zu einem integralen und essentiellen Bestandteil der historisch-geschichtstheologischen Selbstdeutung des lutherischen Protestantismus. Für Luther stand außer Frage, dass Hus ein „Vorlauffer“145 sei, der sein eigenes Kommen prophetisch vollmächtig angekündigt hatte. Die Kontinuitätskonstruktion implizierte einen Überbietungsanspruch des Wittenbergers, der sich als Vollender einer seit ca. zwei Jahrhunderten146 dynamisierten Niedergangsgeschichte des Papsttums verstand. 3.  Der Dreh- und Angelpunkt von Luthers Interesse an Hus war das Verhältnis zur Papstkirche. Der erste historische Ansatzpunkt eines Interesses an Hus zeigte sich im Vorfelde der Leipziger Disputation und bezog sich auf die Frage der Autorität der römischen Kirche und ihres Oberhauptes. Im Kontext der mit dem Abschluss des römischen Prozesses verbundenen Klärung seines eigenen Verhältnisses zum römischen Papst im Laufe des Jahres 1520 erreichte auch Luthers Verhältnis zu Hus eine definitive Bestimmtheit. Im Spiegel der Stellung zu Hus bestätigt sich, dass der päpstliche Bann und die Luthersche Exkommunikation des Papsttums den zentralen Erschließungszusammenhang für jede ‚Theorie der Reformation‘ darstellen.

145

  WADB 11/2, S.  88,15; s. Anm.  144; zu Luthers geschichtstheologischer Selbstdeutung und ihrer Wirkung im Luthertum grundlegend: Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 [SuR N. F. 37], Tübingen 2007 (zu Hus etwa S.  88 ff.; 364 ff.). 146   Vgl. die in Luthers Danielvorrede entfaltete Historiographie des Niedergangs des antichristlichen Papsttums, das unter Ludwig von Bayern den bei Daniel angekündigten ersten Stoß erhalten habe, WADB 11/2, S.  80,9 ff.

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§  2  Häresiologie

Theologische Anleihen aus Hus’ De ecclesia halfen Luther bei der Ausbildung einer Ekklesiologie, die seit 1520 auf den Umsturz des kirchlichen Ancien régime abzielte. 4. Einen subkutanen direkten traditionsgeschichtlichen Weg von hussitischer Kirchenkritik zur Reformation hat es wohl nicht gegeben, weder in Bezug auf Luther noch in Hinblick auf andere Protagonisten der reformatorischen Bewegung. Man rezipierte und ‚entdeckte‘, nachdem auf Luther und die Seinen der Schatten des Ketzereivorwurfs zu fallen begonnen hatte.147 Das ‚Wissen‘ über Hus und die mit seinem Namen verbundene Entwicklung, das seit den frühen 1520er Jahren in die Öffentlichkeit gelangte, ging in qualitativer und quantitativer Hinsicht deutlich über das hinaus, was man im 15. Jahrhundert in Deutschland ‚wusste‘. Zumeist waren direkte oder indirekte Kontakte zu den ‚Erben‘ der hussitischen Reformation für die Erweiterung dieses Wissens verantwortlich. Andersartige Wissensüberlieferungen, wie sie Luther etwa im Kontext seines Ordens begegnet sind, entfalteten ihre historiographisch nachvollziehbare Eigendynamik erst, nachdem der Bruch mit der Papstkirche vollzogen war. Die Leipziger Disputation ist ein historischer Knotenpunkt, der die Wittenberger Reformation und die hussitische Bewegung verknüpfte. 5.  Die Einordnung der frühen Wittenberger Reformation in die Tradition der spätmittelalterlichen Ketzergeschichte diente apologetischen Zwecken, denn sie ‚bewies‘ die Legitimität der eigenen Kirchenkritik. Sie bildete den Nukleus für die Ausarbeitung des Konzeptes der testes veritatis und stellte insofern den Ermöglichungsgrund dafür dar, die eigene Gegenwart als Endzeit einer Verfallsgeschichte zu konzipieren.148 Im Entstehungszusammenhang des sich 1520 vollziehenden Bruchs mit Rom konnten nun auch vorreformatorische Quellentexte wie Hus’ Traktat De ecclesia und die in ihm enthaltene wiclifitische Tradition theologische Wirkungen entfalten. 6.  An Luthers Umgang mit Hus wird exemplarisch deutlich, dass der „Kontextuellen Reformation“, der diskursiven Dynamik der kontroverstheologischen Auseinandersetzungen, die mit dem Ablassstreit einsetzten, eine entscheidende Bedeutung dafür zukam, dass Luther 1520 theologisch und kirchenrechtlich stand, wo er stand, nämlich außerhalb der römischen Papstkirche. Im Kontext dieser Kontroversen ist Luther ‚gedrängt‘ worden und zugleich ‚vorwärts geprescht‘; man hat ihm das hussitische Ketzeretikett angeheftet, aber er hat es sich auch selbst zu eigen gemacht. Aus dieser Interferenz erwächst die Dynamik seiner theologischen und publizistischen 147   Dass die nach und nach ‚konstruierten‘ Parallelen zwischen ‚deutscher Reformation‘ und ‚böhmischem Hussitismus‘ veritable Vergleichsarbeiten auf politischer und publizistischer Ebene zeitigten, kann hier nicht weiter ausgeführt werden, vgl. nur: Ferdinand Seibt, Die hussitische Revolution und der deutsche Bauernkrieg, in: Ders., Hussitenstudien [Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 60], München 1987 (21991), S.  217–228. 148   Dass die Reformation an einen breiten Strom verfallsgeschichtlichen Denkens im Mittelalter anknüpfen konnte, lässt sich jetzt eindrücklich an Wolf-Friedrich Schäufeles Studie „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters [VIEG 213], Mainz 2006 (Göttingen 2009) nachvollziehen; instruktive Hinweise zu Quellen der Verfalls­ idee im Hussitismus a.a.O., S.  361 ff.

10. Schlussfolgerungen

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Entwicklung der Jahre 1519/20. Im Laufe der mit dem Ablassstreit einsetzenden Auseinandersetzungen entstand jene ‚reformatorische Öffentlichkeit‘, die sowohl den Luther des Jahres 1520 als auch jenen Prozess, den wir „Kontextuelle Reformation“ nennen, möglich machte. 7.  Die mit dem Herbst 1517 einsetzenden Vorgänge sind als Konsequenzen aus Luthers theologisch-biographischer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte allein nicht mehr angemessen zu verstehen.

§  3  Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium Die reformatorische Bewegung brach an elementaren theologischen und religiöspraktischen Grund- und Lebensfragen auf, und sie entschied sich an solchen. Es waren Grund- und Lebensfragen, zu denen das überkommene Kirchenwesen bisher keine einheitliche oder verbindliche Lösung gesucht oder gefunden hatte. Zu diesen Fragen, die in der Perspektive der Reformatoren das Kirchenwesen und das Verständnis christlicher Existenz im Kern berührten, gehörte das Verhältnis zur Bibel. Dass die Bibel in der Reformationszeit eine so schlechterdings herausragende und einzigartige Rolle übernehmen konnte wie nie zuvor in der Geschichte des Christentums, war allerdings eine Folge dessen, dass sie auch in der mittelalterlichen Kirche wert gehalten und verehrt wurde. Als das alte Grundbuch des christlichen Glaubens schlechthin, als seine ehrwürdigste Urkunde, wurde die Bibel heilig, aber das hieß eben zugleich: auf Abstand gehalten. Eben weil sie ehrwürdig und in ihrer Geltung unumstritten war, ihre Auslegung freilich als anspruchsvoll galt und normativ reguliert, kanalisiert und in der Kirche zur Geltung gebracht werden musste, sollte und durfte sie nicht in jedermanns Hand gelangen, sondern nur erprobten, verlässlichen Autoritäten übertragen und anvertraut sein. Gerade weil die Bibel ehrwürdig war, sollten die – wie man in Aufnahme von Matthäus 7,6 gerne formulierte – ‚Perlen ihrer Geheimnisse nicht vor die laikalen Säue geworfen‘1, sondern von klerikalen Sachwaltern, die sie im Rahmen normativ flankierender Institutions- und Traditionsbindungen auslegten, gehütet und gepflegt werden. Der Kampf um das christenmenschliche Grundrecht auf die Bibellektüre, der in der Reformationszeit gekämpft und auch für die nicht-evangelische Christenheit im Wesentlichen siegreich entschieden wurde, hatte bekanntlich eine lange, die gesamte Ketzergeschichte des Mittelalters begleitende Vorgeschichte. Denn manche der einflussreichen, in die Ketzerei abgedrängten religiösen Bewegungen in der abendländischen Christenheit seit dem Hochmittelalter, die Waldenser, die eng1  Vgl. Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: ZHF 11, 1984, S.  257–354, hier: 290 f.; ders., Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeits­ praxis im späten Mittelalter, in: Ders. (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter [Schriften des Historischen Kollegs 10], München 1992, S.  1–78, hier bes. S.  25 f.

1.  Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel

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lischen Lollarden, die Hussiten, waren in gewissem Sinne Bibelbewegungen gewesen, hatten volkssprachliche Bibelübersetzungen hervorgebracht und waren mit dem Anspruch aufgetreten, das bestehende Kirchentum von der biblischen Überlieferung her kritisieren zu dürfen und reformieren zu müssen. Als ehrwürdiges war die Bibel zugleich ein brandgefährliches Buch. Ein so komplexes Thema wie die „vorreformatorische Laienbibel und das reformatorisches Evangelium“ im Rahmen dieses Buches abzuhandeln, ist ohne thetische Zuspitzungen nicht sinnvoll und ohne Verwegenheit nicht möglich. In diesem Sinne werde ich in drei Schritten vorgehen und drei Anfänge skizzieren. Der erste Anfang ist die Bibel selbst, und zwar die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel (1.). Der zweite Anfang ist Erasmus von Rotterdam (2.), der dritte Luther (3.). Diese drei Anfänge sind stricto sensu als Anfänge zu verstehen. Sie gehen nicht einfach ineinander über, obwohl der zweite Anfang den ersten und der dritte, also Luther, die ersten beiden in gewissem Sinne voraussetzt. Diese Anfänge sind aber nicht im Sinne einer linearen Kausalitätenkette zu verstehen: Luther steht nicht am Ende einer gleichsam mit ‚Notwendigkeit‘ auf ihn zuführenden Entwicklung; Erasmus ist nicht einfach der ‚Vorläufer‘ Luthers; die deutsche Laienbibel ist nicht einfach der Anfang aller Anfänge. Jeder dieser Anfänge ist wirklich Anfang in dem Sinne, dass von ihm Entwicklungen ausgingen, die durch die anderen Anfänge nicht einfach abgebrochen oder absorbiert worden sind, auch wenn sie zum Teil in diese einflossen oder jedenfalls auf sie einwirkten. Den Schluss bilden einige an der volkssprachlichen Bibel entwickelte zusammenfassende Überlegungen zum Verhältnis von Spätmittelalter, Humanismus und Reformation unter dem Gesichtspunkt der Frage nach der ‚Einheit der Reformation‘ (4.).

1.  Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel Am Anfang war die Bibel. Das gemeinprotestantische, insbesondere von Luther inaugurierte, nach dem sola scriptura-Prinzip stilisierte und von den religionskulturellen Errungenschaften der Reformation auf die dunkle Vorzeit zurückblickende Geschichtsbild, nach dem die Bibel bzw. das Evangelium vor der Reformation „unter der banck“2 gelegen habe und in der Reformationszeit überhaupt erst vom Staube 2   Vgl. WABr 2, Nr.  510, S.  563,24; WABr 3, Nr.  956, S.  649,139.147; WA 6, S.  460,18; WA 10 I/2, S.  44,4; 81,10; 120,10; in Bezug auf innerreformatorische Auseinandersetzungen vgl. WA 18, S.  84,8 f.; vgl. auch WA 50, S.  657,10; 658,6; in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht instruktiv: WADB 4, S.  22 (1564). Als charakteristisch für die historiographisch prägende Stilisierung mag etwa Johannes Mathesius gelten, der in der Vorrede zu seiner wirkungsmächtigen Ausgabe der Tischreden Luthers formulierte: „Denn solche Wolthaten hat uns Gott durch D. M. Luthern erzeiget / Das er erstlich die Bibel oder die heilige Schrifft / so zu vorn unter der Banck gelegen / und gar voller Staubs gewesen / wider herfür gezogen / und aus dem Latein / ja ex ipsis fontibus, oder Hebraischen Sprachen / gantz klerlich und verstendlich ins Deutsche gebracht / das sie von jedermenniglich / Jung und Alt / Reich und Arm / Geistlichen und Leien / nu kan gelesen und verstanden werden / Und jtzt

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§  3  Bibeltheologie

befreit und auf den Scheffel gehoben worden sei, ist in dieser Pauschalität natürlich unzutreffend. Die lateinische Bibel war nicht nur das erste, sondern auch eines der meistgedruckten Bücher3 in der Epoche des Frühdrucks, und auch die vorreformatorischen deutschen Bibeldrucke erreichten mit insgesamt 18 Vollbibelausgaben, 14 hoch- und vier niederdeutschen, die zwischen 1466 und 1522 erschienen sind4, eine – zumal im europäischen Horizont geurteilt – bemerkenswert hohe Anzahl. Denn sie überstieg die Menge der in den meisten anderen europäischen Ländern im Druck erschienenen volkssprachlichen Bibelausgaben, sofern es solche überhaupt gab, deutlich. In den romanischen Ländern waren allerdings volkssprachliche Bibeln im Druck erschienen: Zwischen 1472 (?) und 1521 wurden in Frankreich 23 Vollbibeln publiziert.5 In Italien wurden, ausgehend von zwei venezianischen Drucken von von den Gnaden Gottes / ein Hausvater seinem Weibe / Kindern und Gesinde / teglich die h. Schrifft in seinem Hause lesen mag / und sie von Gott und seinem warhafftigen Erkentnis und Gottesdienste unterweisen. Da sonst zuvor unter dem Bapsthumb / die Bibel niemands ist bekandt gewesen / ja die Doctores Theologiae haben sie selbst nicht gelesen gehabt / Wie denn D. M. Luth. offt hat pflegen zu erzelen / das Doct. Andreas Carlstad / acht jar sey Doctor Theologiae gewesen / ehe denn er hab angefangen die Bibel zu lesen.“ Tischreden oder Colloquia Doct. Mart: Luthers / So er in vielen Jaren .  .  . gefüret .  .  ., Eisleben, Urban Gaubisch 1566, ND Leipzig 1967, Vorrede Aurifabers, Vorsatzblatt [6r]; zu Aurifaber Vinariensis vgl.: Heinz Scheible, Art. Aurifaber, in: RGG4, Bd.  1, 1998, Sp.  975; Helmar Junghans, Art. Aurifaber, in: TRE 4, 1979, S.  752–755. Zu der Nachricht über Karlstadt vgl. auch: WATr 2, Nr.  1552, S.  129,9–12 (1532; ohne Angabe der acht Jahre); WATr 3, Nr.  2844b, S.  24,3–5 (1532/3, mit der Angabe: „im achten Jahr“ nach der Doktorpromotion Karl­ stadts [13.  11. 1510, Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, 1905, Nieuwkoop 21968, S.  30], und zwar im Zusammenhang mit dem Beginn seiner Beschäftigung mit Augustin, also wohl 1517); WATr 3, Nr.  4692, S.  434,12–14 (1539, hier im Zusammenhang einer Karlstadt und Luther gemeinsam betreffenden Aussage über die „tenebrae“, die die theologische Ausbildung in Bezug auf die Bibel befallen haben); WATr 5, Nr.  6278, S.  571,5–8 (Parallelüberlieferung zu WATr 3, Nr.  2844b). 3   GW 4, 1930, Nr.  4201–4294 = GW O4201 ff.; Hans Rost, Die Bibel im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der Bibel, Augsburg 1939, S.  367–375. 4   Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition [Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr.  40], Wolfenbüttel 1983, S.  85 (Aufstellung mit Angaben zu Ausstattungsmerkmalen und Exemplarnachweisen in Wolfenbüttel); zu den niederdeutschen Bibeldrucken vor Luther vgl.: Christian Heitzmann, „Ganze Bücher von Geschichten“. Bibeln aus Niedersachsen [Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr.  81], Wolfenbüttel 2003, S.  61–91. Wichtige sprach- und literaturgeschichtliche Einzelstudien zur vorreformatorischen deutschen Bibel bietet: Heimo Reinitzer (Hg.), Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters [VB 9/10], Bern 1991. 5   Erich Bryner, Art. Bibelübersetzungen, III/3: Übersetzungen in romanische Sprachen, 1–6, in: TRE 6, 1980, S.  254–259, hier: 255; Verzeichnis der Drucke in: Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  375 f.; vgl. Anm.  11. Zu mittelalterlichen Bibelübersetzungen unter besonderer Berücksichtigung englischer Übersetzungen instruktiv: Micheline Larès, Les traductions bibliques: l’exemple de la Grande-Bretagne, in: Pierre Riché/Guy Lobrichon (Hg.), Le Moyen Age et la Bible [BiToTe 4], Paris 1984, S.  123–140; zu den frühen Bibeldrucken vgl. auch: Guy Bedouelle, Le tournant de l’imprimerie, in: Ders./Bernard Roussel (Hg.), Le temps des Réformes et la Bible [BiToTe 5], Paris 1989, S.  39–52; zu allen wesentlichen Aspekten der Bibel in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter vgl. die Beiträge von Roussel, in: A.a.O., bes. S.  125–305; Geoffrey Shephard, English versions of the scriptures before Wyclif [CHB II], Cambridge 1969, S.  362–387 und Henry Hargreaves, The Wyclifite versions [CHB II], Cambridge 1969, S.  387–415; zur katho-

1.  Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel

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1471, bis 1517 zwölf Vollbibeln gedruckt6 und in Spanien kam 1478 eine katalanische Vollbibel heraus, von der „nur ein einziges Blatt der Inquisition entgangen ist“7. Überdies waren, angeregt von Jan Hus, für den die Verbreitung der Bibel in der Volkssprache eine Grundforderung seines Reformprogramms darstellte8, seit 1475 ein tschechisches Neues Testament und 1488, 1489 und 1506 Drucke tschechischer Vollbibeln9 erschienen. Sieht man von je einer polnischen (1520–1530?) und einer russischen (1517–1519)10 Vollbibel ab, sind alle übrigen volkssprachlichen Bibeldrucke in anderen europäischen Nationalsprachen erst 1522 oder später erschienen und standen durchweg unter dem mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss der Reformation. Vor der Reformation war Deutschland neben Frankreich das Land, in dem so viele Vollbi­beln in der Volkssprache gedruckt worden sind wie in keinem anderen europäischen Land.11 Wenn man die deutschen Teilbibeldrucke des Psalters und der Evangelien- und Episteltexte der Sonntage, die Postillen und Plenarien, sowie die Evangelienharmonien in die Beobachtung einbezieht12, ist ein eindeutiger lischen Diskussion um die Bibelübersetzung im 16. Jahrhundert vgl. Guy Bedouelle, Le débat catholique sur la traduction de la Bible en langue vulgaire, in: Irena Backus/Francis Higman (Hg.), Théorie et pratique de l’exégèse, Genf 1990, S.  39–59. 6   Bryner, Bibelübersetzungen, wie Anm.  5, S.  257; vgl. Kenelm Forster, Vernacular Scriptures in Italy [CHB II], Cambridge 1969, S.  452–465, hier bes. 453; vgl. ders., Italian Versions [CHB III], Cambridge 1963, S.  110–113; Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  376–378. 7   Basil Hall, Art. Bibelübersetzungen, III/3.7: Übersetzungen ins Spanische und Katalanische, in: TRE 6, 1980, S.  259–261, hier: 260; vgl. Margherita Morreale, Vernacular Scriptures in Spain [CHB II], Cambridge 1969, S.  465–491; Edward M. Wilson, Spanish [CHB III], Cambridge 1963, S.  125–129; vgl. zu dem Druck: Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  378. 8   Zu Hus vgl. nur: Ferdinand Seibt (Hg.), Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen [Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 85], München 1997; Peter Hilsch, Jan Hus. Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999; zum hussitischen Bibliozentrismus im Rahmen der mittelalterlichen Ketzergeschichte s. Robert E. Lerner, Les communautés hérétiques (1150–1500), in: Riché/Lobrichon, Moyen Age, wie Anm.  5, S.  597–614; Robert A. Auty, The Bible in East-Central Europe [CHB III], Cambridge 1963, S.  129–135, bes. S.  129–131. 9   Bryner, Bibelübersetzungen, wie Anm.  5, S.  264; Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  378. 10   Zu den Drucken vgl. Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  378. 11   Aufgrund der Angaben bei Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  375 f. und 418 dürfte die von Bernd Moeller, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  72–85; 307–317, 80, aufgestellte These, „in keinem Land“ seien „so viele Bibeln in der Landessprache erschienen wie in Deutschland“ etwas zu relativieren sein; zu den einzelnen nationalsprachlichen Bibelübersetzungen im Gefolge der Reformation vgl. noch immer die materialreichen Einzelbeiträge in CHB III, 1963. Ein deutlicher Vorrang der deutschen Drucke ist allerdings in Bezug auf die Verbreitung einzelner Bibelteile zu konstatieren: 37 deutschen und 17 niederländischen stehen 16 französische und 264 lateinische Psalterdrucke gegenüber. Noch signifikanter ist der Abstand bei den Episteln und Evangelien (Postillen und Plenarien), wo 75 hoch-, 15 niederdeutsche und 41 niederländische lediglich fünf französischen, aber 67 lateinischen Einzeldrucken gegenüberstehen (Angaben nach Rost, a.a.O., S.  418 f.). Evangelienharmonien scheinen außer in deutschen (fünf) nur in lat. Ausgaben (13) gedruckt worden zu sein, vgl. a.a.O., S.  419. Markante Daten zur Diskussion um die Bibel in der Volkssprache haben zusammengestellt: Guy Bedouelle und Bernhard Roussel, La lecture de la Bible en langue vivante au XVIe siècle: chronologie de quelques textes et faits marquants, in: Backus/Higman, Théorie, wie Anm.  5, S.  61–76. 12   Rost, Bibel, wie Anm.  3, S.  382 f.; 394 f.; 402–406; 411 f.; zu den Plenarien und ihrer wichtigen

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§  3  Bibeltheologie

Vorrang der Druckverbreitung des Bibelwortes in der deutschen Sprache vor der in allen anderen Landessprachen zu konstatieren. Insgesamt zehn der 18 Vollbibeldrucke sind zwischen 1475 und 1490, den Kindheits- und frühen Jugendjahren einiger der späteren Reformatoren, gedruckt worden.13 Wenn für irgendeinen europäischen Sprachbereich die These, die Bibel habe vor der Reformation „unter der banck“ gelegen, nicht oder nur mit Einschränkungen zutrifft, dann ist es der deutsche. Sowenig auch die deutschsprachigen Bibeln vor Luther durch ihre zum größten Teil enge, bisweilen sklavische Bindung an die Vulgata die sprachliche Höhenlage der Lutherbibel erreichten14, und so eindeutig es ist, dass auch die nicht-deutschen volkssprachlichen Versionen von ihrer lateinischen Vorlage nicht loskamen, so unbestreitbar es schließlich ist, dass in der zum Teil veralteten, zum Teil freilich durch Revisionen auch modernisierten15 sprachlichen Gestalt dieser Bibeln eine Rezeptionsgrenze lag, so hoch ist doch der elementare Sachverhalt zu veranschlagen, dass es seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts beträchtliche Anstrengungen um die Druckverbreitung der Bibel in der Volkssprache gegeben hat. Natürlich war die Bibel vor der Reformation kein Volksbuch in dem Sinne, dass es jedermann zugänglich oder gar erschwinglich gewesen wäre. Gerade die ausgesprochen aufwendigen und kostbaren Ausstattungen vieler der vorreformatorischen deutschen Bibeldrucke indizieren, dass ihr Erwerb nicht nur durch eine Grenze der Alphabetisierung, sondern auch durch eine solche der Kaufkraft markiert war und dass der ‚soziale Sitz im Leben‘ dieser Bibeldrucke die höheren Stände gewesen sind. Von der bayerischen Adligen Argula von Grumbach etwa, die sich 1523 als erste Frau publizistisch für die Reformation einsetzen sollte16, wissen wir, dass ihr Vater ihr als sie „zehen jar alt war“17 eine deutsche Bibel gab und „hoch bevalh“, darin zu lesen. Bedeutung für die Rekonstruktion vorreformatorischer deutscher Bibelübersetzungen vgl. knapp: Ansgar Franz, Art. Plenar, in: LexMA 7, 1995, S.  19; Heimo Reinitzer/Olaf Schwencke, Art. Plenarien, in: VL2, Bd.  7, 21989, S.  737–763; Hermann Reifenberg, Art. Plenarium, in: LThK3, Bd.  8, 1999, S.  354; einzelne Beispiele für Plenarien auch in: Reinitzer, Bibelübersetzung, wie Anm.  4. 13   Vgl. dazu: Hans Volz, Martin Luthers deutsche Bibel, Hamburg 1978, S.  20. 14   Zum Text bzw. den Versionen der vorreformatorischen deutschen Bibel vgl. noch immer: William Kurrelmeyer, Die erste deutsche Bibel, Bd.  1–9 [BLVS 238, 243, 246, 249, 251, 254, 258, 259, 266], Tübingen 1904–1915; instruktiv auch: Christine Wulf, Eine volkssprachliche Laienbibel des 15. Jahrhunderts [Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 18], München 1991. 15   Vgl. etwa die Anstrengungen des Augsburger Druckers Günther Zainer, der die 1475 bei ihm erschienene Bibel in einer „mit größtem Fleiß corrigierten“ und an Hand der Vulgata verbesserten Bibelausgabe von „alle[n] fremde[n] teütsch und unverstentliche[n] wort, so in den erstgedruckten [.  .  .] bybeln gewesen“ gereinigten Textgestalt zu veröffentlichen angab, zit. nach Volz, Bibel, wie Anm.  13, S.  21. 16  Vgl. nur: Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften [EHS.T 468], Frankfurt/M. u. a. 1992; Peter Matheson, Argula von Grumbach. A Woman’s Voice in the Reformation, Edinburgh 1995 (Edition der Schriften Argulas in englischer Übersetzung). 17   Argula von Grumbach, Wie eyn Christliche fraw des adels / in Beiern durch jren / in Gotlicher

1.  Die volkssprachliche vorreformatorische Laienbibel

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Auch wenn sie dieser Aufforderung damals, wie sie im Rückblick bedauernd feststellt, „layder nit gevolgt“18 sei, und zwar „auß verfürung der geistlichen genanten / sunderlich observantzer“, die gesagt hätten, „ich verfürt mich“19, so bezeugt dieses Beispiel doch, was aufgrund des Druckbefundes evident ist: Es bestand eine Nachfrage nach der volkssprachlichen Bibel; sie fand Käufer und gewiss auch Leser, und dies obschon oder vielleicht gerade weil die geistlichen Repräsentanten des zeitgenössischen Kirchenwesens keine einheitliche Haltung in dieser frömmigkeitskulturellen Zentralfrage einnahmen. Dass die im Alten Reich niemals flächendeckend, überregional und mit letzter Konsequenz durchgeführten – oder überhaupt durchführbaren – Maßnahmen zur Ächtung oder zum Verbot der deutschsprachigen Bibeln durchaus dazu beigetragen haben mögen, den Attraktionswert dieses Buches zu steigern, ist eine vielleicht nicht ganz abwegige Hypothese. Denn die Argumente, die traditionellerweise gegen die Bibellektüre der Laien ins Feld geführt wurden, waren nicht nur ein Anschlag auf laikales Selbstbewusstsein und stadtbürgerliches Ethos, sondern widersprachen den sich v. a. im 15. Jahrhundert dramatisch wandelnden Bildungsrealitäten. Die immense Zunahme an städtischer und an den Rändern wohl auch über den städtischen Bereich hinausstrahlender laikaler Lesefähigkeit und an religiöser Literaturproduktion und die Ausweitung des Buchmarktes20 und des Lesebedürfnisses der soziologisch zwar inhomogenen, hinsichtlich ihrer Nichtpartizipation am Glaubens- und Heilswissen der Theologen aber kirchenrechtlich distinkten ‚Großgruppe‘ der Laien

schrift / wolgegründten Sendtbrieffe / die hohenschul zu Ingoldstat / umb das sie einen Evangelischen Jüngling / zu wydersprechung des Wort Gottes / betrangt haben / straffet. [Nürnberg, F. Peypus, 1523]; VD 16 G 3683; Halbach, a.a.O., S.  242 Nr.  1; Ex. MF 285 Nr.  819, B 2r; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1431, S.  609; ed. in: Peter Matheson, Argula von Grumbach. Schriften [QFRG 83], Gütersloh 2010, hier: S.  72,18–21. 18  Ebd. 19   Ebd. Argula gab an, zum Zeitpunkt der Abfassung ihrer ersten Flugschrift eine vorreformatorische deutsche Bibel zu besitzen: „So hat man wol Bibeln Teutsch sein / die Martinus [sc. Luther] nit verteuscht hat / hab ir selbs aine / die vor ainundviertzig jaren gedruckt ist / da doch Luther nie gedacht ist gewest.“ A.a.O., B 2v. Dieser 1523 in Argulas Besitz befindliche Bibeldruck, der mit dem bei Koberger, Nürnberg 1483 erschienenen zu identifizieren sein dürfte (s. Halbach, Grumbach, wie Anm.  16, S.  83 mit Anm.  7; S.  195 f. mit Anm.  2), muss allerdings nicht – wie Halbach, a.a.O., S.  195 – selbstverständlich vorauszusetzen scheint, mit jenem identisch sein, den sie als 10jährige von ihrem Vater erhielt; auch, dass dieser ihr die Bibel als „Geschenk“ (so Halbach, ebd.) überlassen habe, sagt Argula nicht. 20   Vgl. nur den von Schreiner hg. Sammelband zur Laienfrömmigkeit, wie Anm.  1; s. auch: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit [Germanistische Symposien, Berichtsbände 5], Stuttgart 1984; Thomas Kock/Rita Schlusemann (Hg.), Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter [Gesellschaft, Kultur und Schrift, Mediävistische Beiträge 5], Frankfurt/M. 1997, darin bes. die Einleitung der Herausgeber S.  9 –11; Christoph Burger, Direkte Zuwendung zu den ‚Laien‘ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Berndt Hamm/Thomas Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis [SuR N. R. 15], Tübingen 2001, S.  84–109.

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§  3  Bibeltheologie

markiert einen kardinalen kultur- und bildungsgeschichtlichen Entwicklungsschub, in dessen Kontext auch die volkssprachlichen Bibeln stehen. Versuche geistlicher Würdenträger wie etwa des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg (22.  3. 1485) 21, die laikale Lektüre heiliger Schriften mit der Begründung, die ‚ungelehrten Männer‘ oder gar das weibliche Geschlecht besäßen den „intellectus“, das Expertenwissen, nicht, um die in ihnen enthaltenen Wahrheiten zu erfassen22, oder entsprechende Argumente der Kölner Theologischen Fakultät gegen volkssprachliche Bibeln (1478/9) 23, die auch in einem anonymen Gutachten vom Ende des 15. Jahrhunderts enthalten sind24, setzen allenthalben die als Bildungs-, Sozial- und Heilsschranke verewigte Fundamentaldifferenz von Klerus und Laien, doctus und indoctus, literatus und illiteratus25 voraus, die weder dem faktischen Bildungsstand vieler städtischer Laien, noch den Bemühungen einzelner städtischer 21

  Ediert in: Carl Mirbt/Kurt Aland (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Bd.  1: Von den Anfängen bis zum Tridentinum, Tübingen 1967, Nr.  781, S.  493 f. 22   „Quis enim dabit idiotis atque indoctis hominibus et femineo sexui, in quorum manus codices sacrorum literarum inciderint, veros excerpere intellectus? Videatur sacri evangelij aut epistolarum paulj textus, nemo sane prudens negabit, multa suppletione et subauditione aliarum scripturarum opus esse, Occurrerunt hec, quia vulgatissima sunt.“ A.a.O, S.  494. Zur Einordnung dieses Mandats in den Kontext der kirchlichen Präventivzensur aus der Frühzeit des Buchdrucks vgl. Bedouelle, Le tournant, wie Anm.  5, S.  45 f.; Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Bd.  1, 1883, ND Aalen 1967, S.  53–58; allgemeine Orientierung vermittelt: Stephan Fitos, Zensur als Mißerfolg. Die Verbreitung indizierter deutscher Druckschriften der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2000. 23  Vgl. Gerhard Römer, Deutsche Bibelübersetzungen vor und nach Martin Luther, in: HdJb 27, 1983, S.  39–57, hier: 46. Das Zensurmandat dürfte in die Anfänge des der Universität Köln – „vielleicht auf städtischen Wunsch“ (Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, Bd.  1: Die alte Universität, Köln, Wien 1988, S.  149) – durch Papst Sixtus IV. übertragenen Zensurprivilegs gehören. Den Anlass für das Zensurprivileg scheinen anonyme Flugschriften gegen den Klerus und seine Steuerimmunität gebildet zu haben, vgl. Robert Scribner, Why was there no Reformation in Cologne?, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London u. a. 1987, S.  217–242, hier: 227. Dass die beiden anonym erschienenen niederdeutschen Kölner Bibeldrucke (Heinrich Quentel / Bartholomäus von Unckel, datiert: um 1478; vgl. Reinitzer, Biblia, wie Anm.  4, S.  70 f. [Lit.]) mit dem Zensurmandat der Kölner Theologischen Fakultät in Zusammenhang stehen, dürfte große Wahrscheinlichkeit besitzen. Die allgemeine bischöfliche Buchzensur, die das V. Lateranum dekretierte (vgl. Mirbt/Aland, Quellen, wie Anm.  21, Nr.  784, S.  497), war nicht speziell gegen volkssprachliche Bibeldrucke gerichtet. 24   Vgl. dazu: Ferdinand Geldner, Ein in einem Sammelband Hartmann Schedels (Clm 901) überliefertes Gutachten über den Druck deutschsprachiger Bibeln, in: Gutenberg-Jahrbuch 1972, S.  86–89; vgl. dazu auch Reinitzer, Biblia, wie Anm.  4, S.  58. 25   Vgl. dazu außer den oben Anm.  1 und Anm.  20 genannten Arbeiten noch immer die klassische Studie von Herbert Grundmann: Litteratus – illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Teil  3 : Bildung und Sprache [SMGH 25,3], Stuttgart 1978, S.  1–66. Allgemeine Orientierung bietet auch: Andre Vauchez, Gottes vergessenes Volk. Laien im Mittelalter, Freiburg 1993. Anregend auch: Gabriela Signori, Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Sigmaringen 2005, S.  38 ff. (zur Wortpräsenz in der Laienkultur); zur weiblichen Laienbildung jenseits der Dichotomie von Klerus und Laien grundlegend: Eva Schlotheuber, Klostereintritt und Bildung [SuR N. R. 24], Tübingen 2004.

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Magistrate, die Geistlichkeit ihrer Zuständigkeit zu unterstellen und dem gewachsenen Bildungsbedürfnis ihrer Bürger adäquate gelehrte Prediger zu installieren26, oder gar den immer breiteren Bemühungen um eine ‚frömmigkeitstheologische‘ Mobilisierung der Laien und eine dem gestiegenen Bildungsstandard entsprechende Klerusreform27, hinreichend Rechnung trug. Dass die Versuche, die Bibel von den Laien fernzuhalten, keineswegs aus einer Haltung der Verachtung gegenüber der Bibel, sondern eher aus einem von klerikalen Standesinteressen mitbestimmten Bedürfnis erwuchsen, sie vor Profanisierung zu schützen, mag man einem kleinen Katalog von Argumenten gegen den Druck volkssprachlicher Bibeln entnehmen, in dem es unter anderem heißt: Gerieten Bibelübersetzungen „in die Hände ungebildeter und neugieriger Laien“ sei dies „um so gefährlicher, weil derartige neugierige und ungebildete Laien es verschmähen, das Wort Gottes aus dem Munde des Priesters zu hören, sondern sich, wenn sie die Übersetzungen in den Händen haben und sich mit anderen über die Auslegung der Heiligen Schrift besprechen, für klüger halten als die Priester. [.  .  .] [.  .  .] die Heilige Schrift ist nicht ohne weiteres verständlich [.  .  .]; die Bedeutung der Worte der Heiligen Schrift ist so groß, daß durch ungewöhnliche oder ungewohnt gebrauchte Ausdrücke eine Haeresie entstehen kann; [.  .  .] die Heilige Schrift ist nicht immer buchstäblich, sondern oft mystisch aufzufassen; [.  .  .] die Heilige Schrift enthält oft in ein und demselben Satze verschiedene oder vier Bedeutungen [.  .  .]; wenn ein Satz der Heiligen Schrift mehrere Bedeutungen enthält, wird der Laie gleich den wahren Sinn erfassen oder wird er in die Grube des Irrtums fallen? [.  .  .] auch die Theologen sind oft nicht einig, in welchem Sinn eine Bibelstelle auszulegen sei.“28 Dass mit solcherart ‚vernünftigen‘ Argumenten ein laikales Bedürfnis nach der Bibel nicht getötet, sondern eher angefacht worden sein mochte, bezeugen außer den 26   Vgl. im Allgemeinen nur: Bernd Moeller, Kleriker als Bürger, in: Ders., Reformation, wie Anm.  11, S.  35–52; 284–294; exemplarisch: Moritz von Campenhausen, Der Klerus der Reichsstadt Esslingen 1321–1531. Das Verhältnis des Rates zu den Geistlichen von der Kapellenordnung bis zur Reformation [Esslinger Studien 19], Esslingen 1999. 27   Vgl. im Spiegel von Einzelstudien zu unterschiedlichen europäischen Ländern den Sammelband: Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and early modern Europe [SMRT 51], Leiden u. a. 1993 (s. dazu auch meine Rezension in: GGA 247, 1995, S.  112–130); vgl. auch Francis Rapp, Die Reform des Weltklerus, in: Marc Venard/Heribert Smolinsky (Hg.), Von der Reform zur Reformation (1450–1530) [Die Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur 7], Freiburg i. Br. 1995, S.  176–206; zur laikalen Adressatenschaft von Frömmigkeitstheologie vgl. nur: Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts [BHTh 65], Tübingen 1982, S.  145 f.; ders., Religiosität im späten Mittelalter, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon [SMHR 54], Tübingen 2011, S.  85 ff. 28   Nach dem Referat bei Geldner, Sammelband, wie Anm.  24, S.  87; vgl. auch Reinitzer, Biblia, wie Anm.  4, S.  58; dass derartige Argumentenkatenen in der volkssprachlichen antireformatorischen Kontroverstheologie nicht einfach fortlebten, sondern die Laien unter Rekurs auf die Schrift von der römisch-katholischen Lehre überzeugt werden sollten, mag man sich etwa an dem Dialog Johannes Dietenbergers Der Laie. Ob der Glaube allein selig macht von 1524 verdeutlichen, ediert in: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), Berlin 1997, S.  545–563, bes. 547,26–549,26.

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Drucken der Teil- und Vollbibeln, die nicht verhindert, allenfalls einmal ‚umgelenkt‘ werden konnten29, auch entsprechende Voten Geistlicher, die sich – vielleicht gespeist aus dem Geiste der Devotio moderna30 oder des Humanismus – zu Advokaten eines christenmenschlichen Grundrechts auf die Bibel machten. Eine solche Stimme ist in der 1517 abgefassten anonymen Vorrede zur erstmals 1515 erschienenen Evangelienpostille des Straßburger Münsterpredigers Geiler von Kaysersberg31, die für „Priester unn Leien nutzlich“32 zu sein beanspruchte, zu vernehmen. Jedermann, so wird hier eingeschärft, müsse vor Gott Rechenschaft able29

  Ein Beispiel dafür stellt in gewissem Sinne der Nürnberger Bibeldruck bei Koberger von 1483 dar, der die wegen der Kölner Zensur aufgelöste Verlagsgemeinschaft von Unckel / Quentel in Bezug auf die Holzschnitte ‚beerbte‘, vgl. Reinitzer, Biblia, wie Anm.  4, S.  69. 30  Vgl. Nikolaus Staubach, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der Devotio moderna, in: Kock/Schlusemann, Laienlektüre, wie Anm.  20, S.  221–289, bes. 234– 237; Thomas Kock, Theorie und Praxis der Laienlektüre im Einflussbereich der Devotio moderna, in: a.a.O., S.  199–220; zu Zerbolts Traktat ‚De libris teutonicalibus‘ vgl. die Edition von Albert Hyma, in: NAKG 17, 1924, S.  42–70, bes. S.  47 f. Unter Rekurs auf kanonistische und patristische Argumente folgert Gerhard u. a.: „Unde patet quod sacra scriptura non sit data singulariter alicui statui sed generaliter omni homini in quocumque statu fuerit.“ A.a.O., S.  48. Vgl. zu dem Traktat auch: Volker Honemann, Der Laie als Leser, in: Schreiner, Laienbildung, wie Anm.  1, S.  241–251 (zur laikalen Bibellektüre bes. 245). 31   Vgl. zu seiner Biographie ausführlich: Uwe Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg (1445– 1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer [BHSt 27], Berlin 1997, bes. S.  66–113; zum Kontext instruktiv: Klaus Manger, Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg [Heidelberger Forschungen 24], Heidelberg 1989, bes. S.  46–57 (zu Geilers Predigten über das Narrenschiff). Umfassend: Rita Voltmer, Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und Straßburg [Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 4], Trier 2005. 32   Euangelia Bas plenarium ußerlesen und davon gezogen in des hochgelerten Doctor Keiserspergs ußlegung der ewangelien und leren. [.  .  .] Priester und Leien nutzlich [.  .  .], Straßburg, Johannes Grüninger 1522; VD 16 G 744; Ex. SUB Göttingen 4 Patr. lat. 2442/71, Vorrede A 1v. Die Zitate im Text beziehen sich auf diesen Druck. In der 1.  Aufl. 1515, Straßburg, Grüninger, VD 16 G 742; Ex. SUB Göttingen 4 Patr. Lat. 2442/69 Rara, findet sich die Vorrede noch nicht. Als Herausgeber der 1.  Aufl. von 1515 gilt der Franziskaner Johannes Pauli, vgl. Israel, Geiler, wie Anm.  31, S.  360 Nr.  31; 136 mit Anm.  41; vgl. über ihn: Robert G. Warnock, Art. Pauli, Johannes, in: VL2, Bd.  7, S.  369–374; Israel, a.a.O., S.  172 Anm.  16. In dem mit einem Druckprivileg des Straßburger Juristen Jakob Ößler erschienenen zweiten Druck des Werkes von 1517, das den Nachdruck für drei Jahre verbot, ist die anonyme Vorrede erstmals enthalten, VD 16 G 743; Ex. BSB München Rar. 865 {digit.}; 2 inc. c.a. 1198(1), A 1v. Da die Abweichungen der Textfassungen von 1517 und 1522 inhaltlich unerheblich sind, zitiere ich oben im Haupttext nach dem jüngeren Druck. In der Vorrede zur Kölner Bibel (um 1478) wurde die herausragende Bedeutung der heiligen Schrift gegenüber allen anderen Büchern betont: „allene dat boeke der hyligher schrifft vndersoeket ende maket bekentelik den schepper ende heillmaker aller creaturen.“ „allene dyt boke der gotlyker schrifften spreket vyt dat testament des lesten wyllen des almechtigen gaedes.“ Als Leser werden „alle mynschen gheleert ende ungelert geystlyck unde wertlyck“ angesprochen, wobei die ungelehrten Vertreter des geistlichen Standes besonders in den Blick genommen werden. Hinsichtlich des Verständnisses bzw. des Gebrauchs der Bibel wurde die Orientierung an der römischen Kirche eingeschärft: „Iodoch alsoe ghebrucken vnde verstaen alsoe dat nemet vnde verstande is de hyllyge Roemsche cristelyke kerke dorch de ghantse werlt verspreydet.“ Zit. nach: Gerhard Ising (Hg.), Die niederdeutschen Bibelfrühdrucke, Bd.  6 : Makkabäer – Apokalypse, bearb. unter Mitwirkung von Charlotte Müller [DTMA 54/6], Berlin 1976, S.  666–668 (oben zit. 666; 666 f.; 667; 668).

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gen, ob er die ihm verliehene Zeit geistlich fruchtbar verwendet habe. Ein wesentliches Mittel einer heilsökonomisch effektiven, sogar mit der mobilen Lebensweise eines Kaufmanns vereinbaren Nutzung der Zeit sei die Bibellektüre: „Darumb ist zu raten einem ieden besinten menschen / das er alwegen gern wöl lesen die heilig geschrifft [.  .  .] / damit er Got seinen schöpffer und herren ler erkennen / dan d[ie] gnad dy der mensch von lesen oder hören lesen der heiligen geschrifft von got erholen mag / der ist kein zal / so fer das er auch darnach thu.“ Den Argumentenkatalogen gegen die laikale Bibellektüre wird ein Katalog mit „[n]ünerlei gnad“ entgegengesetzt, die der Bibelleser oder -hörer erwarten kann, z. B.: „Zu dem ersten so bessert er sein seel / so er etwz behalt das er gelesen hat. Zu dem andern / sein gemüt würt abkert von diser zergenglichen welt. [.  .  .] Zu dem fierden truckt er under sein fleisch / und macht es gehorsam dem geist. Zu dem fünfften / er würt underricht zu leren vil tugent. Zu dem sechsten / die weil er lißt so thut er kein böß / darumb mag er die selbig zeit vor Got wol verantwurten. [.  .  .] Zu dem achten weicht von im alle anfechtung der bösen züfel. [.  .  .] Darumb ist zuwissen das kein sorg noch trübnis so groß ist / lisestu die heilig geschrifft / das wort Gottes / unn das selb trüwlich zu hertzen nimest / du würst getröstet durch die gnad des heiligen geists / doch also das du Got dem herren vertrüwest / dan der klein oder schwach glaub ist on alle hilff und gnad / aber der starck fest glaub fint alwegen hilff und trost mit sampt vil gnaden.“ Auch wenn die ‚frömmigkeitstheologischen‘33 Motive und Zielbestimmungen christlicher Existenz im Spiegel dieses Textes primär auf sittliche Meliorisierung im Horizont des drohenden Gerichtes ausgerichtet sind, spiegelt er ein Verständnis der Bibel als des Wortes Gottes und des wesentlichen Mediums des Gottesverhältnisses jedes Christen, das man gemeinhin für ‚reformatorisch‘ hält. Für diese Vorrede ist ein frühreformatorischer Einfluss mit Sicherheit auszuschließen, hingegen ein Anschluss an Erasmus nicht unwahrscheinlich. Für unseren Zusammenhang verdient Beachtung, dass sich das Interesse an der Bibel mit einem dezidiert ‚vorreformatorischen‘ Predigtwerk wie dem Geilers verbinden konnte, das ganz in den Dienst des Bibelstudiums gestellt wurde. Eine das Bibelwort und die Predigt in ihrer Bedeutung neben oder gar über die Eucharistie stellende Tendenz in der zeitgenössischen Frömmigkeit34, die den Laien durch Lektüre der Bibel „unabhängig von der Priesterschaft 33  Zu Begriff und Konzept der Frömmigkeitstheologie grundlegend sind die Arbeiten von Berndt Hamm, vgl. die Hinweise oben Anm.  27. Vor dem Hintergrund der Lutherschen Rechtfertigungsbotschaft ist etwa folgende Absage an ein ‚sola fide‘ aus dem Jahre 1515, die sich in der von dem Schaffhausener Stadtarzt Johann Adelphus Muling verfassten Vorrede zur Übersetzung der Pater noster-Auslegung Geilers (Straßburg, Mathias Hupfuff 1515; VD 16 G 786; Ex. SUB Göttingen 4 Patr. Lat. 2446/55, hier: A 2r) findet, instruktiv: „Dann es ist kundtlich / das die betrachtung des lydens Christi / nit wenig dienet / zu erkennen und überkommen gnad und tugent / zu erlangen auch ewige seligkeit / wölche doch nyemandt haben noch überkommen mag / on die yebung der Gerechtigkeit unn guther wercke. Wann der glaub allein / ist nit gnug spricht der apostel Paulus / sundern ein todt dinge. So man aber die werck des glaubens hat / so mag eim yeden menschen / ein offner / fryer / warer und volkomner zugang sein / zu Gott [.  .  .].“ 34  Vgl. am Beispiel Ficinos: Cornelis Augustijn, Humanismus [KIG 222] Göttingen 2003, S.  56; in Bezug auf den Basler Prädikanten Ulrich Surgant und den Leipziger Dominikaner Her-

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ihren eigenen Weg zum Heil“35 zu suchen erlaubte, bildet eine wesentliche Voraussetzung der Reformation. Nicht die Reformation, so scheint auch im Lichte solcher Äußerungen evident, brach der Laienbibel die Bahn, sondern umgekehrt: Die Bibel, ihre Präsenz, die zum Teil verhinderten, zum Teil noch unerfüllten oder zum Teil bereits eingelösten religiösen Erwartungen, die an sie geknüpft wurden, besonders in Deutschland, machten die reformatorische Konzentration auf die Bibel plausibel. In dieser Hinsicht also gilt: Am Anfang war die Bibel.

2.  Erasmus und die volkssprachliche Bibel Am Anfang war Erasmus. Dies gilt in einem doppelten Sinn: zum einen in Hinblick auf die Grundlegung einer auf die griechische Ursprache des Neuen Testaments bezogenen Bibelphilologie, zum andern in Bezug auf die argumentativ kraft- und pub­ lizistisch wirkungsvolle Forderung einer volkssprachlichen Laienbibel. Ersteres ist Erasmus’ ureigenste Tat, sein opus proprium gleichsam, letzteres hingegen ein sich weitgehend von Erasmus verselbständigender Vorgang der Rezeptionsgeschichte insbesondere in der Volkssprache, also ein opus alienum. Zuerst zu seinem opus proprium: Der ersten Druckausgabe des Neuen Testaments, die im März 1516 in der Baseler Offizin Johann Frobens erschien, bereits drei Jahre später eine Neuauflage erreichte und den v. a. im Protestantismus bis ins 19. Jahrhundert üblichen textus receptus des griechischen Neuen Testaments bieten sollte.36 Im Jahre 1504 war der damals 38jährige, weitgereiste und durch einen Studienaufenthalt in Oxford bei John Colet auf dem Weg vom ciceronianischen Literaten zum Bi­ mann Rab vgl. die Hinweise in: Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  39 mit Anm.  185; weitere Belege in: Thomas Kaufmann, Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Johanna Haberer/Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation [SMHR], Tübingen, 2012, S.  11–43. 35   Robert W. Scribner, Heterodoxie, Literalität und Buchdruck in der frühen Reformation, in: Ders., Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. von Lyndal Roper [VMPIG 175], Göttingen 2002, S.  265–289, hier: S.  282. 36   August Bludau, Die beiden ersten Erasmus-Ausgaben des Neuen Testaments [BSt(F) VII], Freiburg i.Br. 1902, S.  11–125; Werner Schwarz, Principles and Problems of Biblical Translation. Some Reformation Controversies and their Background, Cambridge 1955, S.  92–166; Barbara Aland/Kurt Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982, S.  13–16; Heinz Holeczek, Humanistische Bibelphilologie als Reformproblem bei Erasmus von Rotterdam, Thomas More und William Tyndale [SHCT 9], Leiden 1975; Cornelis Augustijn, Erasmus. Leben, Werk und Wirkung, München 1984, S.  82–91; in Bezug auf die erasmische Hermeneutik grundlegend: Peter Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus [TSTP 1], Mainz 1991; zu Erasmus’ geistiger Entwicklung noch immer wichtig: Paul Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus. Humanismus und „Devotio moderna“ [SKGR 2], Leipzig 1917 (mit umfassenden Hinweisen bes. zur Bedeutung Vallas für Erasmus). Zur Orientierung grundlegend: Erika Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus [Brill’s Companions to the Christian Tradition 9], Leiden u. a. 2008; dies., The Textual and Hermeneutic Work of Desiderius Erasmus of Rotterdam, in: Sæbø, Hebrew Bible, wie Anm.  50, S.  215–230.

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beltheologen in der Nachfolge des Hieronymus deutlich fortgeschrittene Humanist in der Bibliothek des bei Löwen gelegenen Prämonstratenserklosters Parc auf ein Exemplar der Annotationes ad Novum Testamentum Lorenzo Vallas37 gestoßen. Dieses in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts entstandene, bis dato ungedruckte Werk des umstrittenen Hohenpriesters im Tempel der bonae literae enthielt textkritische Anmerkungen zum Neuen Testament, die sich aus dem Vergleich der seit der Karolingerzeit sukzessive standardisierten, durch die Rezeption der Pariser Universität im 13. Jahrhundert zu einer Art Normtext aufgestiegenen Vulgata38 mit anderen lateinischen Versionen und v. a. griechischen Manuskripten ergeben hatten. Sie waren als Vorarbeiten zu einer lateinischen Neuübersetzung des Neuen Testaments gedacht; dass es zu einer solchen nicht kam, lag daran, dass der Papst, in dessen Diensten Valla damals stand, „ein solches Unternehmen als zu bedenklich verhinderte“39. Durch Vallas Werk, das Erasmus 1505 unter dem Patronat des päpstlichen Protonotars Christopher Fisher veröffentlichte40, erschien Erasmus die unabweisbare Berechtigung, ja Verpflichtung zu einer philologisch verantworteten, auf dem Urtext basierenden Exegese erwiesen. Er berief sich dafür überdies auf den geachtetsten Exegeten des Mittelalters, Nikolaus von Lyra, der seinen Postillae für das Alte Testament hebräische Manuskripte zugrunde gelegt und die von Hieronymus geschaffene Vulgataversion kritisch behandelt hatte; 41 sodann rekurrierte er auf die von Hieronymus verfochtene These, biblische Textkritik und Bibelübersetzung basierten nicht auf Inspiration, sondern auf philologischer Bildung.42 Von besonders bestechender rhetorischer Brillanz war die Umdeutung, die Erasmus in der Vorrede seiner VallaEdition dem geläufigen Bild der Theologie als der Königin der Wissenschaften ange37   Vgl. die wichtige, Vallas sachlich-theologisch begründetes Interesse an der Philologie herausarbeitende Studie von Christopher S.  Celenza, Renaissance humanism and the New Testament: Lorenzo Valla’s annotations to the Vulgate, in: JMRS 24, 1994, S.  33–52; die ursprüngliche Fassung des Werkes liegt ediert vor: Alessandro Perosa (Hg.), Lorenzo Valla, Collatio Novi Testamenti [Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Studie e Testi], Florenz 1970 (zum Verhältnis der beiden Fassungen vgl. die Einleitung des Herausgebers). Eine kompakte Orientierung über Valla bietet: Augustijn, Humanismus, wie Anm.  34, S.  60–62; vgl. auch John Monfasani, Criticism of Biblical Humanists in Quattrocento Italia, in: Rummel, Biblical Humanism, wie Anm.  36, S.  15–38, bes. 21 ff.; zu Erasmus’ Vorrede zu den Annotationes, in denen er die Motive seiner Edition darlegt, vgl.: Allen, Bd.  1, Nr.  182, S.  406–417. 38  Vgl. Jean Châtillon, La Bible dans les Ecoles du XIIe siècle, in: Riché/Lobrichon (Hg.), Moyen Age, wie Anm.  5, S.  163–197; Jaques Veryas, L’exégèse de l’Université, in: a.a.O., S.  199– 232; vgl. auch die knappen Hinweise in: Otto B. Knoch/Klaus Scholtissek, Art. Bibel VII: Bibelübersetzungen b, Lateinische Übersetzungen (Itala, Vulgata), in: LThK3, Bd.  2, 1994, S.  383 f.; Viktor Reichmann, Art. Bibelübersetzungen I,3.3: Zur Geschichte der Vulgata, in: TRE 6, 1980, S.  178–181. 39   Holeczek, Bibelphilologie, wie Anm.  36, S.  81 f. 40   Allen, Bd.  1, Nr.  182; zur subtilen Textstrategie der Vorrede im Einzelnen: Holeczek, Bibelphilologie, wie Anm.  36, S.  89 ff. 41   Allen, Bd.  1, Nr.  182, S.  409, 115–410,130. 42   A.a.O., S.  410,137–411,157.

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deihen ließ: Da sie die Königin sei, so beteuerte er, brauche sie sich nicht zu schämen, die Dienste der ihr ganz und gar untergeordneten Trivialdisziplin Grammatik anzunehmen.43 Während des nächsten Jahrzehnts schuf Erasmus die Grundlagen für das Novum Instrumentum – so der 1519 in „Novum Testamentum“ geänderte Titel der ersten Druckausgabe des Neuen Testaments, die neben einem griechischen Text, basierend zunächst auf vier, später weiteren fünf zum Teil unvollständigen Handschriften, eine eigene lateinische Übersetzung im synoptischen Abdruck neben dem griechischen Text und einen von Auflage zu Auflage weiter anschwellenden Anmerkungsteil mit textkritischen und exegetischen Bemerkungen enthielt. Der Titel der Erstausgabe, Novum Instrumentum, aber auch die vorangestellten Stücke, die Paraclesis ad Lectorem, der Methodus über das theologische Studium und eine Apologia, die auf erste ihm bekanntgewordene und weitere – wie sich zeigen sollte – völlig zurecht erwartete Einwände einging44, unterstrichen den Charakter des Werkes als eines grundlegenden Hilfsbuches zum Bibelstudium. In der Kritik der Traditionalisten, wie sie etwa Erasmus’ Landsmann Marten Dorp aus Löwen vortrug45, führten keineswegs obskurante ‚Antimodernisten‘ und selbstgefällige ‚Dunkelmänner‘ das Wort, sondern besorgte Schultheologen, denen es mit der Geltung der Bibel, und zwar der kirchlich approbierten Vulgata, wirklich ernst war. Dorp etwa berief sich auf Augustins gewichtiges, noch für die Reformatoren nicht leichthin vom Tisch zu wischendes46 Wort, dass es die Autorität der Kirche sei, die die Wahrheit der Schrift verbürge47, und folgerte daraus, dass ein Angriff auf die in der Kirche geltende Vulgata mit der Autorität der Institution die der Schrift erschüttern müsse. Ein Zweifel an der Korrektheit der üblicherweise verwendeten bib­ lischen Textgrundlage werde zwangsläufig in Kirchen- und Dogmenkritik überge-

43   „Ac ne ipsa quidem, opinor [sc. Erasmus], disciplinarum omnium regina theologia ducet indignum admoveri sibi manus, ac debitum obsequium a pedissequa grammatica; quae tametsi nonnullis est dignitate posterior, nullius certe opera magis necessaria.“ A.a.O., S.  410,132–135. 44   Zur Kontroverse mit dem Löwener Theologen Marten Dorp und zu Thomas Morus’ Engagement in diesem Zusammenhang vgl. Holeczek, Bibelphilologie, wie Anm.  36, S.  138 ff.; vgl. auch Bludau, Erasmus-Ausgaben, wie Anm.  36, S.  30 ff.; 45 ff.; Schwarz, Principles, wie Anm.  36, S.  163– 166; vgl. den Faksimile-Nachdruck des Novum Instrumentum, hg. von Heinz Holeczek, Stuttgart 1986 (mit der instruktiven, forschungsgeschichtlich gesättigten Einleitung des Hg., V–XLI [Lit.]). 45   Der Schriftenwechsel zwischen Erasmus und Dorp in dieser Kontroverse ist ediert in: Allen, Bd.  2, Nr.  304, S.  10–16; Nr.  337, S.  90–114; Nr.  347, S.  126–136; Nr.  438, S.  277 f.; vgl. dazu auch Cecilia Asso, Martin Dorp and Edward Lee, in: Rummel, Biblical Humanism, wie Anm.  36, S.  167– 195. 46   Vgl. den instruktiven Aufsatz von Ekkehard Mühlenberg, Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae (Johannes Eck). Vorstellungen von der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip, in: ZThK 97, 2000, S.  183–209, ND in: Ders., Gott in der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zur Kirchengeschichte, hg. von Ute Mennecke und Stefanie Frost [AKG 110], Berlin, New York 2008, S.  120–146. 47   Contra Epist. Manich. Nr. V,6; MPL 42, Sp.  176: „Ego vero Evangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae commoveret auctoritas.“

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hen und die wesentlich auf der Vulgata basierende Schultheologie werde durch die Infragestellung dieser Textbasis fundamentalen Schaden nehmen.48 Diese im September 1514 und im August 1515 formulierten Bedenken, die sich im Lichte der Reformation als überaus hellsichtige Prognose erweisen sollten, trafen die auf eine im Ton moderate, im Geist konstruktive Reform ausgerichtete Intention des Erasmus, die in Christi ethischer Exemplarität ihr Zentrum hatte, natürlich nicht. Und das Novum Instrumentum selbst, 1516 mit einer Dedikation an Papst Leo X., 1519 sogar mit einem das Werk preisenden Approbationsbreve des Papstes49 erschienen, konnte sich zunächst des uneingeschränkten Rückhaltes des Stellvertreters Christi auf Erden sicher sein. Wie es scheint, war es diesem Papst sogar zu danken, dass Erasmus’ griechisches Neues Testament als erstes erscheinen konnte, da man von Rom aus die Verbreitung des bereits seit 1514 in Alcalá gedruckten griechischen Textes des Neuen Testaments in der sogenannten Complutenser Polyglotte, einem unter der Leitung Kardinal Ximénez de Cisneros entstandenen mehrsprachigen bibelwissenschaftlichen Großunternehmen, verhinderte50 bzw. bis zur Rückgabe vatikanischer griechischer Handschriften verschleppte, so dass der griechische Text in dieser Ausgabe erst 1520 erscheinen konnte. Erasmus’ Neues Testament wurde auch ein verlegerischer Erfolg. Von den ersten beiden Auflagen sollen 3300 Exemplare verkauft worden sein; 51 bei den drei weiteren Auflagen, die zu Erasmus’ Lebzeiten 1522, 1527 und 1535 erschienen sind, erhöhte sich der Absatz auf insgesamt ca. 9000 Exemplare.52 Überdies erschienen zwischen 1518 und 1525 im Ganzen 30 Drucke seiner lateinischen Übersetzung; ihre Gesamtauflage wird auf 35–45000 Exemplare geschätzt.53 Die Argumente für oder wider eine lateinische Neuübersetzung des Neuen Testaments bzw. für oder wider eine griechische Textgrundlage bewegten sich im Rahmen der in sich pluralen lateineuropäischen Kirche, die eine lehramtlich verbindliche Position zu dieser Frage – wie zu anderen durch die Reformation in den Vordergrund 48   „[.  .  .] ‚Ego‘; inquit Augustinus ‚Euangelio non crederem, nisi me Ecclesiae compelleret authoritas.‘ Responde iam, Erasme, utram aeditionem probet Ecclesia, Grecamne, qua non utitur sed neque multis iam seculis est usa, non magis quam ipsis hominibus communicaverit, videlicet scismatis, an latinam, quam solam citat, quoties e sacra Scriptura aliquid est definiendum, vel Hieronymo preterito, si quando aliter legat: quod quidem non raro contigit.“ Allen, Bd.  2, Nr.  347, S.  132, 231–133,237 (Dorp an Erasmus 27.  8. 1515); vgl. auch das Referat bei Holeczek, Bibelphilologie, wie Anm.  36, S.  138 ff. 49   Allen, Bd.  3, Nr.  864, S.  387 f.; vgl. den von Holeczek herausgegeben Nachdruck, wie Anm.  44. 50   Vgl. dazu die Einleitung von Gerhard B. Winkler, in: Werner Welzig (Hg.), Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd.  3, Darmstadt 1967, S.  V II–XL, hier: XIV; zu den späteren Polyglotten-Bibeln vgl. Adrian Schenker, The Polyglot Bibles of Antwerp, Paris and London: 1568–1658, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible, Old Testament. The history of its Interpretation, Bd.  2 : From Renaissance to the Enlightenment, Göttingen 2008, S.  774–784. 51  Ed. Welzig, wie Anm.  50, S.  X VII. 52   Heinz Holeczek, Erasmus deutsch, Bd.  1: Die volkssprachliche Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 1519–1536, Stuttgart 1983, S.  48. 53  Ebd.

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§  3  Bibeltheologie

gedrängten Fragen auch – nicht gesucht und erst im Tridentinum – zunächst in der 4. Sessio (8.  4. 1546) mit der Dogmatisierung der Vulgata als Grundlage der Schriftauslegung54 und dann im Index Pauls IV. (1559) 55 bzw. dem Verbot aller nicht approbierten volkssprachlichen Bibelübersetzungen sowie der generellen Genehmigungspflicht der laikalen Bibellektüre im Trienter Index 56 und späteren Indices – gefunden hat. Durch Erasmus freilich – und darin besteht das Bahnbrechende seines später selbst auf den Index gesetzten Werkes57 – wurde die Vulgata eine Bibelübersetzung neben anderen und wurde der ursprachliche Text die Basis, an der sich die Bibelauslegung zu orientieren und auszuweisen hatte. Durch Erasmus wurde die wissenschaftliche Legitimität und Plausibilität neuer, aus der Ursprache gewonnener Übersetzungen erwiesen. Dies führt zu dem zweiten Gesichtspunkt, der dazu berechtigt, in Erasmus einen Anfang zu sehen. Erasmus wurde zum publizistisch einflussreichsten Propagandi­ sten der volkssprachlichen Verbreitung der Bibel. Seit 1515 war Erasmus öffentlich dafür eingetreten, dass auch die „idiotae“ – wie es der erste Psalm fordere – ständig in der lex domini, der Schrift, läsen, da jeder, der Christ sein wolle, sich für die Botschaft Christi interessieren müsse.58 Denn die Schrift könne von allen verstanden werden. Dieser erste Aufruf zur Einführung volkssprachlicher Laienbibeln erschien allerdings, wie alle weiteren derartigen Aufrufe des Humanistenfürsten auch, in der Gelehrtensprache, auf Latein, und war zunächst und v. a. als Appell an die Geistlichen gerichtet, sich ernsthafter als bisher dem Bibelstudium zu widmen. Im Zuge der 54   CT V, S.  91, 35–92, 34; Mirbt/Aland, Quellen, wie Anm.  21, Nr.  844, S.  592 f.; DS38, Nr.  1506– 1508, S.  497 f. 55   Franz Heinrich Reusch, Indices Librorum prohibitorum des 16. Jahrhunderts [BLVS 176], Stuttgart 1886, ND Nieuwkoop 1970, S.  205 f.; vgl. Mirbt/Aland, Quellen, wie Anm.  21, Nr.  841, S.  587. 56   Reusch, Indices, wie Anm.  55, S.  247 f.; zu den Einzelheiten vgl. ders., Index, wie Anm.  22, Bd.  1, S.  332–336; Bd.  2,1, 1885, ND Aalen 1967, S.  851–862. 57   Vgl. Index Pauls IV. (1559), in: Reusch, Indices, wie Anm.  55, S.  185; vgl. ders., Index, wie Anm.  22, Bd.  1, S.  297; wie umstritten die Beurteilung des Erasmus und seines literarischen Werkes in der Index-Kommission war, geht aus einem Bericht des Prager Erzbischofs an den Kaiser vom 3.  2. 1563 hervor: „Der eine und der andere [sc. in der Kommission] sind mit mir [.  .  .] für die Freigebung seiner [sc. des Erasmus’] Werke, weil er sich immer dem Urtheil der Kirche unterworfen, weil Leo X. ihn zur Fortsetzung seiner literarischen Arbeiten aufgefordert hat, weil er als Katholik gestorben ist und gegen die Ketzer oft rühmlich und siegreich gekämpft, weil er die Schriften der Kirchenväter in guten Ausgaben wieder zugänglich gemacht [.  .  .] hat [.  .  .]. Aber die meisten Mitglieder sind anderer Ansicht [.  .  .].“ A.a.O., S.  320; vgl. zum Schicksal des Erasmus in den Indices auch a.a.O., S.  347–355; zu Erasmus’ Schriften als Ziel der Inquisition grundlegend: Silvana Seidel-Menchi, Erasmus als Ketzer. Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts [SMRT 49], Leiden u. a. 1993. 58   Es handelt sich um die Beatus Rhenanus gewidmete Enaratio in Psalmum primum: Beatus vir, die im September 1515 anlässlich einer Neuauflage der Lucubrationes bei Schürer in Straßburg erschien; VD 16 E 2745; vgl. Holeczek, Bibelphilologie, wie Anm.  36, S.  189; zum Inhalt auch: Ders., Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  124 f.; Ed. der Vorrede in: Allen, Bd.  2, Nr.  327, S.  60–62. Dieses Schriftchen war der erste Erasmustext, den der spätere Zürcher Reformator Leo Jud in deutscher Übersetzung publizierte (1520); s. Traudel Himmighöfer, Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung und Bibliographie [VIEG 154], Mainz 1995, S.  46.

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frühreformatorischen Flugschriftenwelle, die in den Jahren 1518/19 einsetzte, im Nachgang des Wormser Reichstages immer kräftiger anschwoll und 1523/24 ihren Höhepunkt erreichte59, war Erasmus einer der meistgelesenen Autoren, und zwar sowohl in lateinischen als auch in deutschen Drucken. Letzteres ist besonders deshalb bemerkenswert, weil Erasmus niemals in der Volkssprache publizierte, vor 1524 überhaupt keine Aktivitäten in Richtung auf eine volkssprachliche Verbreitung seiner Gedanken erkennen ließ und überhaupt größtes Unbehagen dagegen zu empfinden vorgab. Unter den Erasmustexten, die von Anhängern, die sich zumeist der reformatorischen Bewegung zu öffnen begannen, übersetzt wurden, bildeten diejenigen, die seinen auf die Bibel bezogenen Arbeiten gewidmet waren – Teilübersetzungen des Neuen Testaments nach seiner lateinischen Fassung etwa, Annotationes, die Paraphrasen zum Neuen Testament und die programmatischen Vorreden – mit insgesamt über 110 Einzeldrucken60 die wichtigste und erfolgreichste Einzelgruppe. Dies unterscheidet übrigens die deutsche Erasmusrezeption von der in anderen europäischen Ländern, fügt sich allerdings kongenial in unsere Beobachtungen zur herausragenden Bedeutung der volkssprachlichen Bibeln im deutschen Spätmittelalter ein. Besonders erfolgreich unter diesen Drucken war die ursprünglich als Textbeigabe zum Novum Instrumentum erschienene Paraclesis, id est exhortatio ad Christianae philosophiae studium, die es in den Jahren 1520 bis 1522 auf vier verschiedene deutsche Übersetzungen in über einem Dutzend Ausgaben brachte61 und an deren Verbreitung später prominente Reformatoren des Wittenberger Kreises wie Georg Spalatin, Justus Jonas62 und der wichtigste Mitarbeiter Zwinglis in Zürich, Leo Jud, beteiligt waren. In der Paraclesis finden sich eine Reihe ganz bemerkenswerter Aussagen, die als Hintergrund für die Durchsetzungsdynamik des Schriftprinzips in der Refor59   Noch immer grundlegend: Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit [SMAFN 16], Stuttgart 1986, S.  244–281; eine instruktive Übersicht aus primär literaturwissenschaftlicher Perspektive: Johannes Schwitalla, Flugschriften [Grundlagen der Medienkommunikation 7], Tübingen 1999. 60   Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  21; zur Erasmus-Rezeption im Kontext der frühreformatorischen Bewegung grundlegend: Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reformation Movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994; s. auch unten II, §  8. 61   Zu den Einzelheiten: Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  64 ff. Zu den dem Text des NT vorangestellten programmatischen Texten im Einzelnen: Gerhard B. Winkler, Erasmus von Rotterdam und die Einleitungsschriften zum Neuen Testament [RGST 108], Münster 1974, zur Paraclesis s. bes. S.  28–65. 62   Argumente für die Zuschreibung einer anonymen Übersetzung an ihn bei Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  69 ff.; zum biographischen Kontext: Hans-Günther Leder, Vom Humanismus zur Reformation. Der Weg des Justus Jonas auf die Seite Luthers und der Reformation, in: Stadtarchiv Nordhausen u. a. (Hg.), Justus Jonas 1493–1555. Beiträge zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages, Nordhausen 1993, S.  39–54; zu Jonas und Erasmus s. Christian Peters, Zwischen Erasmus und Luther. Jonas und die Krise des Erfurter Humanistenkreises, in: Irene Dingel (Hg.), Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation [LStRLO 11], Leipzig 2009, S.  39–58.

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mationszeit von schlechterdings entscheidender Bedeutung sind. Die auf das Bibelstudium fokussierte erasmianische Christozentrik etwa: Christus „allein (solus) ist vom Himmel als Lehrer herabgekommen; er allein kann Sicheres lehren, da er die ewige Wahrheit oder Weisheit (aeterna sapientia) ist; er allein hat als der einzige Begründer des menschlichen Heils Heilsames gelehrt (solum salutaria docuit unicus humanae salutis auctor) [.  .  .].“63 Christi Weisheit kann aus keinem klareren Quell geschöpft werden als aus den biblischen Schriften: „Ja, je weiter du in ihre Schätze eingedrungen bist, desto mehr wirst du durch ihre Majestät hingerissen.“64 Christus wollte, dass seine Geheimnisse (mysteria) „unter das Volk gebracht werden (evulgari)“. „Ich würde wünschen, dass alle Weiblein das Evangelium lesen, auch dass sie die paulinischen Briefe lesen. Wären doch diese in die Sprachen aller Völker übertragen [.  .  .]. [.  .  .] Wenn doch der Bauer mit der Hand am Pflug etwas davon [sc. der Bibel] vor sich sänge, der Weber etwas davon mit seinem Schiffchen im Takt vor sich summte und der Wanderer mit Erzählungen dieser Art seinen Weg verkürzte.“65 Die bibelhumanistischen Prinzipien des ‚solus Christus‘ und des ‚sola scriptura‘, die von niemanden nachdrücklicher und wirkungsvoller propagiert worden sind als von Erasmus, bilden eine maßgebliche Voraussetzung der Reformation und die wohl entscheidende gemeinsame Basis der in sich höchst vielfältigen, ja polaren reformatorischen Bewegung. Derjenige im Wittenberger Reformatorenkreis66, der sich am frühesten und emphatischsten öffentlich für Erasmus aussprach, ihn den ehrwürdigen Kirchenlehrern Ambrosius und Augustin gleichstellte oder diesen sogar vorzuziehen bekannte67 und sich seine programmatischen Forderungen nach einer Klerus-, Predigt- und Kirchenreform mit Hilfe biblischer Studien und einer Bibellektüre der Laien zu eigen machte68, war Andreas Rudolf Bodenstein genannt Karlstadt. Ein wesentlicher Anlass 63  Ed. Welzig, wie Anm.  50, S.  10 f.; zur erasmischen Christozentrik als Kern seiner hermeneutischen Akkomodationsstheorie vgl. Walter, Theologie, wie Anm.  36, bes. S.  54–72. 64  Ed. Welzig, wie Anm.  50, S.  12 f. 65   A.a.O., S.  14 f. Ähnliche Gedanken finden sich in Erasmus’ Vorrede zum Matthäuskommentar, die 1522 in einer deutschen Übersetzung bei Adam Petri in Basel unter dem Titel Epistel .  .  . das die Evangelisch ler von yederman sol gelesen und verstanden werden (VD 16 E 2921) erschien, vgl. dazu Frank Hieronymus, 1488 Petri Schwabe 1988, Basel 1997, Nr.  62, S.  156–158. Hinter dieser Ausgabe möchte man Hugwald vermuten; s. über ihn: II, §  7, Abschnitt 12–15 und §  8, Anm.  45 ff. 66   Vgl. dazu zuletzt: Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 [VIEG 187], Mainz 2002. 67   „Augustinus, Ambrosius & multi alij legunt, qui operatur, & operari loco illius, & periicere quibus accedit is, qui illis vel par vel superior est, omnium theologorum praecipius princeps Erasmus noster, cuius opera plenissimo obsequio atque beneficio, totum Christianismum demerentur.“ Andreas Bodenstein von Karlstadt, Epistola .  .  . adversus ineptam & ridiculam inventionem Ioannis Eckii argutatoris .  .  . [Leipzig, V. Schumann 1519]; VD 16 B 6153; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1879, S.  179; Ex. MF 105 Nr.  272, C 1r; vgl. zum Kontext: Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, S.  85 ff.; 133 ff.; Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  2, S.  168–172; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  66, S.  229 ff. 68   Vgl. bes. das Kap.  3 von Karlstadts Schrift Verba Dei quanto candore & quam syncere, quanta­ que solicitudine universi debeant addiscere .  .  ., Wittenberg, Melchior Lotter d. J. 1520; VD 16 B 6210;

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dafür war die von Eck im Zusammenhang der Leipziger Disputation getane Äußerung, dass im theologischen Schulbetrieb anders geredet und anderes gesagt werden könne als gegenüber den ungebildeten Laien.69 Karlstadt geißelte diese ganz und gar traditionelle Position Ecks als hochmütige Doppelmoral und verwies demgegenüber auf Christus, die Propheten, Apostel und Kirchenväter, die sich an alle Christen gewiesen gewusst und allen alles gesagt hätten.70 Daraus folgte für ihn, dass den Laien die ganze Schrift nahegebracht71, und, wie er in ausdrücklicher Aufnahme des oben zitierten Passus aus der Paraclesis des Erasmus forderte, in der Volkssprache zugänglich gemacht werden müsse.72 Schon bevor in der Leipziger Disputation im Zuge der von den Wittenbergern vertretenen These einer Irrtumsfähigkeit der Kirchenväter und der Konzilien das Autoritätsproblem massiv aufgebrochen war, hatte Karlstadt in seiner ersten volkssprachlichen Flugschrift73 verkündet, niemand solle ihm verargen, dass er der Meinung sei, „das man die heylige schrifft / yn deutscher tzungen furlecht / dan ich nit finden magk / dz unbillich sey. Auch ist sie allen Christglaubigen gemein / und weer seer fruchtbar / dz sie ygklicher / teglich yn seynem hauß leesz oder hort lesen. [.  .  .] Es ist ein iamer und ellendt / das wyr Christglaubigen sein wollen / und sollen dye schrifft / die unns den glaubenn / abmalt unnd ausztruckt / ym schlaff und trawm handeln / und allein die rinden unn schelven grosz machenn.“74 Mit diesen Äußerungen steht Karlstadt am Anfang der Wittenberger Propaganda zugunsten der volkssprachlichen Bibel. Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1924, S.  196; Ex. MF 1048 Nr.  2650, B 3v–B 4v. Freilich ist der Skopus dieser lateinischen Schrift primär darauf ausgerichtet, die Notwendigkeit biblisch fundierter Predigt- und Lehrtätigkeit der Geistlichen einzuschärfen („secundo [sc. will Karlstadt in seiner Schrift zeigen] scripturam, sanctam non doctos tantum, sed & mulieres & illitteratos docendam.“ [A 4r]); s. auch zur frühen Kanonsdiskussion unten II, §  7, Anm.  19 ff. 69  Vgl. Karlstadt, Verba Dei, wie Anm.  68, A 2v; B 1v; C 3r u. ö.; vgl. auch WABr 1, Nr.  187, S.  423,93–96; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  66, S.  230 mit Anm.  593; zu Karlstadts Verständnis der Laien s. Shinichi Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodensteins von Karlstadt in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005; s. unten III, §  13, Abschnitt 3. 70   Vgl. den antithetischen Stil bei Karlstadt, a.a.O., C 3r: „Quod vobis dico [sc. Christus], omnibus dico, Sermo directa ad apostolos, omnia facit omnibus communia. Eckius autem inquit, Quod Christus Apostolicum collegium docuit, hoc minime dicendum esse omnibus, quopiam inferioribus apostolo. Praeterea, Christus ait. Quae loquor Apostolis, omnia ista exprimant omnibus. Eccius non omnia neque omnibus.“ 71   „Qua adeo manifesta sunt, ut sola praepositione concludent, quod universam scripturam universis fidelium congregationibus, concionatores praedicare debent[.]“ A.a.O., C 4r. 72   A.a.O., D 1r. Der dem Text in Ed. Welzig, wie Anm.  50, S.  14, Abs.  2–16, Z.  4 entsprechende Passus ist folgendermaßen eingeleitet: „ERASMUS inclytus & syncerus scripturarum assertor, divina quoque vir sapientia emisit, quae illis [sc. Eck etc.] opponere volui [sc. Karlstadt] Erasmica, de quibus nunc memini, haec sunt [folgt das Zitat][.]“ A.a.O., D 1r. 73   Andreas Bodenstein von Karlstadt, Auszlegung unnd Lewterung etzlicher heylichenn geschrifften / So den menschen dienstlich und erschießlich seint zu Christlichem leben. .  .  . [Leipzig, M. Lotter d. Ä. 1519]; VD 16 B 6113; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1854, S.  168; Ex. MF 1011 Nr.  2564. Die Schrift ist vor dem 17.  4. 1519 erschienen (Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  67, Anhang Nr.  12). Das Postskriptum, aus dem das folgende Zitat stammt, ist auf den [18.4.] 1519 datiert. 74  Karlstadt, Auszlegung, wie Anm.  73, [F 1v–F 2r].

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Noch zwei Jahre allerdings sollte es dauern, ehe die ersten volkssprachlichen Teilbibelausgaben, zumeist basierend auf Erasmus’ lateinischer Textfassung des Neuen Testaments, erschienen sind.75 Die erste neue deutsche Teilübersetzung des Neuen Testaments, das Matthäus-Evangelium, kam im Frühsommer 152176 heraus und stammte von Luthers Ordensbruder und Freund Johann Lang aus Erfurt.77 Und auch noch weitere Teilübersetzungen einzelner Evangelien und Paulusbriefe strömten 1521/22 auf den Buchmarkt. Dass es sich hierbei um eine im ganzen ephemere Erscheinung handelte, da diese Übersetzungen nach der Veröffentlichung von Luthers Septembertestament 1522 alsbald dem mehr oder weniger vollständigen Vergessen anheimfielen78, sollte nicht dazu veranlassen, die Initialbedeutung dieser nicht unmittelbar von Wittenberg ausgehenden volkssprachlichen Bibelübersetzungsbe­ wegung zu unterschätzen. Denn die deutlich vor Luther einsetzende, insbes. von Erasmus inspirierte Bewegung hin zur deutschen Bibel zeigte sich in besonders auffälliger Weise daran, dass schon lange bevor eine erste neue volkssprachliche Übersetzung des gesamten Neuen Testaments oder gar der ganzen Bibel in Sicht war, eine hermeneutische Leseempfehlung publiziert wurde, die die Bibelleser aus dem Laienstand, aber auch die „docti“ darüber informierte, welche biblischen Bücher denn überhaupt biblisch seien und vor anderen besondere Wertschätzung verdienten. Ihr Verfasser war wiederum Karlstadt79, und im Hintergrund seines Erasmus nahestehenden bibelhermeneutischen Programms, abgefasst im Angesicht der auch ihn treffenden römischen Bannandrohungsbulle, stand der Versuch, eine eindeutig fixierte, unbedingt verbindliche Rechtsnorm der Kirche in Gestalt des biblischen Kanons sicherzustellen. Dazu bestand Anlass, denn kein Geringerer als Luther hatte die Kanonizität des Jakobusbriefes in Zweifel gezogen. Auch diese schwerwiegende innerwittenbergische Dissonanz über die Grundsätze des Schriftverständnisses, die den Keim

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  Vgl. im Ganzen: Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  47 ff.   Datum der Vorrede: 15.  5. 1521, s. Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  51. 77   Vgl. über ihn: Heinz Scheible, Art. Lang, Johann, in: RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  68; DBETh 1, 2005, S.  824; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  66, S.  71 ff.; passim. 78   Vgl. außer Holeczek, Erasmus deutsch, wie Anm.  52, S.  51–57 die in mancher Hinsicht fragwürdigen, aber unter dem Gesichtspunkt der Materialsammlung noch sinnvoll verwendbaren Ausführungen von Wilhelm Walther, Luthers deutsche Bibel, Berlin 1917, S.  86 ff.; ders., Die ersten Konkurrenten des Bibelübersetzers Luther, Berlin 1917. 79   Andreas Bodenstein von Karlstadt, Welche bucher Biblisch seint .  .  . [Wittenberg, Lotter] 1520; VD 16 B 6259; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1967, S.  212; Ex. MF 131 Nr.  351; Datum der Vorrede: 4.  11. 1520; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  67, Anhang Nr.  27. Bereits im August 1520 (Datum des Widmungsbriefes: 18.  8. 1520; a.a.O., Nr.  22) hatte Karlstadt dieses Thema in einer umfänglichen lateinischen Schrift abgehandelt: De Canonicis scripturis libellus, Joh. Rhau–Grunenberg, Wittenberg 1520; VD 16 B 6121; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1870, S.  175; Ex. MF 1360/61 Nr.  3592. Zum Diskussionszusammenhang wichtig: Martin Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Martin Luther und der Kanon der Heiligen Schrift, in: Ulrich Bubenheimer/Stefan Oehmig (Hg.), Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, S.  135– 150; ein Zusammenhang dieser Schrift Karlstadts mit einem volkssprachlichen Neudruck des apokryphen Nikodemusevangeliums dürfte wahrscheinlich sein. 76

3.  Die Anfänge von Luthers Bibelübersetzung

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aller weiteren innerreformatorischen Zerwürfnisse bilden sollte, steht im Hintergrund von Luthers Übersetzungswerk und seines theologischen Programms.

3.  Die Anfänge von Luthers Bibelübersetzung Nun also: Am Anfang war Luther. Nach den bisherigen Ausführungen scheint diese protestantischem Selbstverständnis vertrauteste These besonders fragwürdig zu sein. Und dennoch ist sie uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Denn in der Erkenntnis, dass die Bibel eine Botschaft, ein Zentrum hat, bildet Luther den Anfang eines schlechterdings neuen, in der bisherigen Kirchen- und Christentumsgeschichte analogielosen Zugangs zum Verständnis und zur Auslegung der Heiligen Schrift. Das zunächst einmal Frappierendste an Luther dürfte sein, dass er beinahe sogleich, wenn seine Gestalt in ersten Konturen für den historischen Blick fassbar wird, als Bibelleser dasteht. Seine Kindheit und Schulzeit freilich war noch eine bibelfreie Zeit gewesen. In späteren Rückblicken erinnerte er sich, dass er erstmals im Alter von 20 eine Bibel gesehen80 und in der Erfurter Universitätsbibliothek sogleich in ihr zu lesen begonnen habe81, und zwar im 1. Samuelbuch Kap.  1; durch den Ruf der Glocke, die die Vorlesung ankündigte82, sei er aber an der weiteren Lektüre gehindert worden. Sogleich, so behauptete er im Rückblick weiter, habe ihm das Buch gefallen und den Wunsch entstehen lassen, ein solches Buch selbst einmal zu besitzen. Noch vor seinem Eintritt ins Kloster erwarb Luther eine Postille mit den Evangelientexten des Kirchenjahres.83 Im Erfurter Augustinerkloster wurde Luther dann zum Bibelleser; er habe – wie es gelegentlich heißt – als er über sich selbst verzweifelte (desperans de me ipso) 84, seine Brüder um eine Bibel gebeten und eine in rotes Leder eingeschlagene85 erhalten; er habe sie gelesen, wieder gelesen und nochmals gelesen (incepi legere, relegere et iterum legere) 86, so intensiv, dass er die Bewunderung seines Beicht-

80   „Nam ego [sc. Luther], cum essem viginti annorum, nondum vidi bibliam.“ WATr 3, Nr.  3767, S.  598,10 (22.  2. 1538); vgl. Otto Scheel, Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519) [SQS N.F. 2], Tübingen 21929, Nr.  394, S.  145. Unter besonnener Auswertung der älteren Forschungsliteratur zur Frage „Luther und die Anfänge seines Bibelstudiums“ vgl. Junghans, Luther und die Humani­ sten, wie Anm.  89, S.  172 ff. 81   WATr 5, Nr.  5346, 75,10–13 (Sommer 1540); vgl. Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  439, S.  159 f.; WATr 1, Nr.  116, S.  44,16–20 (November 1531); vgl. Scheel, a.a.O., Nr.  190, S.  73. 82   WATr 5, Nr.  5346, S.  75,11 f. 83  WATr 1, Nr.  116, S.  44,18–20. In einer Tischrede aus dem Jahre 1538 (WATr 3, Nr.  3767, S.  598,11 f.) gibt Luther seinen damaligen Wissensstand in Bezug auf die Bibel folgendermaßen wieder: „Arbitrabar [sc. bevor er eine ‚Vollbibel‘ gesehen habe] nullum esse evangelium aut epistolam, nisi quae in postillis dominicalibus erant scripta.“ 84   WATr 5, Nr.  5346, S.  75,14. 85   WATr 1, Nr.  116, S.  44,23 f.: „Ibi monachi ei [sc. Luther] dederunt bibliam rubro corio tectam.“ 86   WATr 3, Nr.  3767, S.  598,14.

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§  3  Bibeltheologie

vaters und Mentors Johann Staupitz fand87 und durch seine überaus präzise und umfassende Bibelkenntnis beeindruckte.88 Woher diese ‚Neugier‘ auf die Bibel und die Erwartung, in ihr Lösungen für Lebensfragen zu finden, ursprünglich stammt, wissen wir nicht. Sie gehört zum „‚Urgestein‘“89 der von Luther ausgehenden Reformation. Alle anderen geistigen Interessen jedenfalls verschafften dem Mönch und Theologiestudenten Luther nicht von ferne jene Befriedigung, die ihm das Bibelstudium bot. Schon in dieser Frühphase als Bibelleser, in der Luther natürlich mit dem Text der Vulgata arbeitete und lebte, dürfte er als Suchender gelesen haben und immer wieder fündig geworden sein; durch das Bibellesen selbst also empfing er immer neue Anstöße zum neuen Weiterund Wiederlesen. Dass er in der Bibel und nur in der Bibel Antworten auf Lebensfragen zu suchen habe, gehört zu den fundamentalen Grundüberzeugungen schon seiner monastischen Existenz. Damit soll gar nicht bestritten werden, dass Luther auch aus nominalistischer Schul- und mystischer Frömmigkeitsliteratur Anregungen empfing, die seinen weiteren geistigen Weg mitbestimmten. Die Luther von seinen Erfurter Lehrern im Geiste der via moderna nahegebrachte Einsicht, „dass Worte keine unveränderliche Widerspiegelung einer ewigen Grammatik [.  .  .] sondern menschliche Werkzeuge [sind], die es im Sinne einer klaren Kommunikation sorgfältig zu wählen gilt“90, wirkte aber doch auf Bruder Martin als Leser und Ausleger der Bibel ein und erhielt vor allem im Kontext seiner Verstehensbemühungen um die Bibel und einzelne ihrer Aussagen Sinn und Bedeutung. In Staupitz, den Luther rückblickend unter anderem dafür pries, dass er die Geltung der Bibel in den seiner Zuständigkeit unterstehenden Klöstern wiederhergestellt habe91 und der sich nach Luthers Auskunft in seiner biblizistischen Kritik an der scholastischen Theologie mit dem Tübinger Theo­ logen Konrad Summenhart einig wusste92, ist Luther ähnlich wie in dem Erfurter 87   Ebd. Zur Überlieferungsgeschichte der von Luther benutzten Bücher der Bibliothek des Augustinereremitenklosters umfassend: Jun Matsuura (Hg.), Martin Luther. Erfurter Annotationen 1509–1510/11 [AWA 9], Köln, Weimar, Wien 2009, S.  X XI–XLVI. 88   „Eam [sc. die Bibel] adeo familiarem sibi fecit [sc. Luther], ut, quid in uno quoque folio contineretur, nosset et statim, cum sententia aliqua offerretur, primo intuitu, ubi scripta esset, sciret: Eam sic retinuissem, inquit, mire bonus localis biblicus essem; neque mihi tum, inquit, aliud studium placuit quam sacrarum literarum.“ WATr 1, Nr.  116, S.  44,24–28. 89   Heiko A. Oberman, Luther. Menschen zwischen Gott und Teufel, Berlin 21983, S.  181; Helmar Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, bes. S.  172, führt Luthers Interesse an der Bibel auf humanistische Impulse zurück, was mich nicht vollständig überzeugt. 90   Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin – Alte und Neue Welt, Berlin 2003, S.  117. 91   WATr 5, Nr.  5374, S.  99,13 f.; Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  446, S.  161 und vgl. dazu: Junghans, Luther und die Humanisten, wie Anm.  89, S.  50; 171; zu Luther und Staupitz vgl. nur: Markus Wriedt, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther [VIEG 141], Mainz 1991, bes. S.  187 ff.; 229 ff.; Berndt Hamm, Johann Staupitz (ca. 1468– 1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: ARG 92, 2001, S.  6 –42, bes. 31 ff. 92   WATr 5, Nr.  5374, S.  99,13 f.; Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  446, S.  161: „Saepe citavit

3.  Die Anfänge von Luthers Bibelübersetzung

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Nominalisten Jodocus Trutvetter93 Lehrern begegnet, die im Horizont einer zusehends strittigen, problemgeschichtlich in einer „Krise der Ekklesiologie“ und der „kirchlichen Gewalten“94 wurzelnden Verhältnisbestimmung von biblischer Norm und kirchlicher Autorität unter den spätmittelalterlichen Juristen und Theologen, für eine Superiorität der Schrift eintraten. Dass Luther infolge der Entscheidung seiner Ordensoberen, ihn auf die Priesterweihe vorzubereiten, als Lektor zu verwenden und zum Theologiestudium zu bestimmen, allerlei anderes als die Bibel zu lesen hatte, empfand er im Rückblick als schwere Last.95 Von seinem Erfurter Lehrer Bartholomäus Arnoldi von Usingen wurde Luther sogar aufgefordert, die Bibel durch die Brille der Kirchenväter zu lesen, da die Schrift – wie er nach Luthers wohl überpointierter Wiedergabe gesagt haben soll – Anlass allen Aufruhrs sei.96 Darin jedenfalls, dass sich Luther aus eigenem Antrieb weit über das Maß des Geforderten, des Üblichen und des im Rahmen der zeitgenössischen Studienkonzeption ‚Vernünftigen‘ hinaus intensiv mit der Bibel beschäftigt hat, unterscheidet sich sein persönlicher Bildungsweg deutlich von dem seiner Zeitund Altersgenossen. Seine scharfen Urteile über die untergeordnete Stellung, die die Bibel in den vorreformatorischen Universitäten gehabt habe, sind vor allem jener grandiosen Einseitigkeit zuzuschreiben, mit der er sie selbst ins Zentrum seines Lebens, Denkens und Arbeitens gerückt hatte.97 Dass er den ‚Fortschritt‘, den die Re[sc. Staupitz] in lectionibus Doctorem Sumerhand Tubingensem dicentem: Quis liberabit me ab ista rixosa theologia.“ WATr 5, S.  99,16–18; zu Summenharts biblizistisch-antikanonistischer Argumentation im Zusammenhang der Diskussion um den Zehnten vgl. Heiko A. Oberman, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 31989, S.  148 ff. 93   In einem Brief vom 9.  5. 1518 beruft sich Luther Trutvetter gegenüber darauf, die These „solis canonicis libris deberi fidem“ (WABr 1, Nr.  74, S.  171,72 f.; Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  17,9) zuerst von Trutvetter gehört zu haben; vgl. Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S.  44 f.; zu Trutvetter s. nur: Erich Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis Teil  2 : Spätscholastik, Humanismus und Reformation (1461–1521) [EThSt 22], Leipzig 21992, passim; S.  290–292; DBETh 2, 2005, S.  1345; Reinhold Rieger, Art. Trutfetter, J., in: RGG4, Bd.  8, 2005, Sp.  640. 94  Vgl. Hermann Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter [VIEG 86], Mainz 1977, S.  224–293, zit. S.  293; vgl. auch 294–299; Heiko A. Oberman, Spätscholastik und Reformation, Bd.  1: Der Herbst der mittelalterlichen Theo­ logie, Zürich 1965, S.  335 ff. Karlstadts römische Disputation mit Prierias, in der er unter Berufung auf Gerson für eine Superiorität der Schrift gegenüber Papst und Konzilien eingetreten zu sein angab (vgl. Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation [JusEcc 24], Tübingen 1977, S.  67 ff.), stellt ein Beispiel für diese bereits vor der Reformation vitale Normendebatte dar. 95   Vgl. dazu nur: Junghans, Luther und die Humanisten, wie Anm.  89, bes. S.  174 f. 96   „Doctor Vsinger, praeceptor meus [sc. Luther], dixit ad me, cum ita amabam scripturam: Quid est biblia? Oportet doctores veteres legere, qui suxerunt veritatem ex bibliis. Biblia est omnium seditionum occasio.“ WATr 2, Nr.  1240 (vor 14.  12. 1531), S.  6,1–3; Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  205, S.  80; zu von Usingen vgl. nur Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  93, bes. S.  45; Kleineidam, Universitas, wie Anm.  93, S.  298–301; Junghans, Luther und die Humanisten, wie Anm.  89, passim; im Spiegel späterer Auseinandersetzungen: Stephen E. Buckwalter, Die Prie­ sterehe in Flugschriften der frühen Reformation [QFRG 68], Gütersloh 1998, S.  136–203. 97   Charakteristisch ist etwa folgende Wendung: „Olim me monacho contemnebant biblia. [.  .  .]

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formation in Bezug auf das Theologiestudium gebracht habe, vor allem darin sah, dass nun die Bibel in klarer und lesbarer Textfassung ins Zentrum getreten sei98, verwundert nicht. Für Luthers eigene Bibelpraxis ist charakteristisch, dass er die Weise, wie er las, mit Vorliebe durch Prädikate wie „pochen“ im Sinne von anklopfen bzw. ‚anstürmen‘99, mit Gefühlen wie Hass oder Liebe im Verhältnis zu einzelnen Versen100, mit Erlebnissen von Todesangst und Lebensrettung ausdrückte und in Verbindung brachte. Sein Lesen war eminent beteiligtes Lesen, Lesen seiner selbst im Spiegel des Wortes Gottes. Schon das erste Beispiel, das wir von Luthers intensiver exegetischer Arbeit kennen, seine erste Psalmenvorlesung von 1513/14101, war von diesem Bemühen bestimmt, an das Schriftwort ‚anzuklopfen‘ und Gotteswort ‚herauszuklopfen‘. Über sein eigenes Leseverhalten berichtete er im Rückblick: „Ich hab nu etlich jar, alle jar zwier die biblia aufgelesen, und wenn die bibel ein grosser mechtiger baum were und alle wort estlin, so hab ich an alle estlin angeklopfft und gern wollen wissen, was es were und vermocht.“102 Zu Luther als Bibelleser, akademischem Bibelausleger, Prediger und Bibelübersetzer gehörte konstitutiv hinzu, dass er nie fertig wurde, immer neu anfing, immer neu auslegte, immer wieder und immer neu ‚anklopfte‘, an Formulierungen feilte, tiefer einzudringen versuchte, lebenslang Schüler des Wortes blieb, weil ihm die Bibel Leben erschloss, indem sie ihm lebendige Anrede Gottes, aktuelle Predigt, jetzt ergehendes, sich ereignendes Gotteswort wurde. Einen Luther, der mit einem älteren Vorlesungs- und Predigtmanuskript auf Katheder oder Kanzel stieg und früher schon einmal gehaltene Auslegungen vortrug, hat es wohl in keiner Lebensphase gegeben.103 Die fundamentale Überzeugung Luthers, dass in der Bibel das lebendige Scotum, Thomam, Aristotelem esse legendum. Sed ego dilexi biblia [.  .  .].“ WATr 4, Nr.  5008, S.  610,21–25 (Mai/Juni 1540), Hervorhebung von mir, Th. K. 98   „Wer ein ϑεολογος will werden, der hatt erstlich ein grossen vortheil: Er hatt die bibel. Die ist nun so klar, das ers kann lesen an [ohne] omni impedimento.“ WATr 5, Nr.  5511 (1542/3), S.  204,16– 18. 99   „[P]ochen“ im Sinne positiv bewerteten Insistierens auf der Schrift z. B.: WA 6, S.  362,6 (ein „klein muetig gewissen [muss] wider seyne gedancken auff das testament Christi pochen“); ähnlich WA 19, S.  483,26; „wollen wir truczen und pochen, Szo mussen wirs in seiner Barmherczigkeit thwn.“ WA 9, S.  390,30 f.; vgl. auch WA 10 1/1, S.  735 zu 629,13. Zu pulsare: WA 54, S.  186,1; vgl. WA 43, S.  537,15 f.; „meditari et pulsare“: WA 3, S.  21,31 f.; vgl. WA 8, S.  637,35; 653,28. 100   Z. B. WA 40/2, S.  138 f.; Scheel, Dokumente, wie Anm.  80, Nr.  203, S.  79 f. (zu Gal 6,1); WA 40/2, S.  295; Scheel, a.a.O., Nr.  233, S.  90; der klassische Text ist natürlich die Praefatio zur Gesamtausgabe von 1545, WA 54, S.  179–187, bes. 185,17 f.23. 101   Zu Luthers Professur vgl. die wichtigen universitätshistorischen Hinweise Ulrich Köpfs, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602 [LStRLO 5], Leipzig 2002, S.  71–86; zu seiner ersten Psalmenvorlesung vgl. nur: Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S.  61–79; Reinhard Schwarz, Luther, Göttingen 32004, S.  37–40; Texte der Dictata und ausführliche Einleitung in WA 55, 1 u. 2. 102   WATr 2, Nr.  1877 (Frühjahr 1532), S.  244,20–23. 103   Aus der Fülle der Literatur zu Schrift und Wort Gottes bei Luther sei lediglich verwiesen auf:

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Gotteswort enthalten sei, das immer neu Anrede Gottes werden könne, erforderte ein immer neues ‚Anklopfen‘, also eine entsprechende Praxis des Lesens in und des Lebens mit der Bibel. Als Luther sich im Dezember 1521 an die Übersetzung des Neuen Testaments zu machen begann, waren bereits, wie wir sahen, erste, auf Erasmus’ Ausgabe des Neuen Testaments basierende reformatorische Teilübersetzungen insbes. der Evangelien erschienen. Luther selbst hatte zu diesem Zeitpunkt eine knapp zehnjährige Lehrtätigkeit als Bibelprofessor an der Universität Wittenberg und eine etwa 15jährige Erfahrung als intensiver Bibelleser hinter sich. Mit den wissenschaftlichen Innovationen in exegeticis, die durch das Novum Instrumentum und andere humanistische Neu­ erscheinungen, insbesondere Kommentare, gegeben waren, machte er sich, wie es scheint, jeweils bald nach ihrem Erscheinen vertraut; er betrieb seine Exegese also selbstverständlich auf der bibelphilologischen Höhe seiner Zeit. Manche seiner schroffen Äußerungen gegenüber reformatorischen Mitgenossen und späteren Konkurrenten und Gegnern, die zumeist erst in fortgeschrittenen Jahren zu intensiven Bibellesern geworden waren, speisten sich aus dem Bewusstsein, in Hinblick auf die Bibelkenntnis einen uneinholbaren Vorsprung zu besitzen. Der sich selbst vornehmlich als Doktor der Heiligen Schrift104 verstehende Wittenberger Reformator machte sich an die Aufgabe der Bibelübersetzung, die er später selbst wohl für seine wichtigste Einzelleistung gehalten hat105, erst, nachdem er ein rechtskräftig verurteilter Ketzer geworden war. Der radikale Traditionsbruch, den Luthers erstmals im September 1522 erschienenes Neues Testament darstellt, setzt den definitiven Abschluss der causa Lutheri als kirchenrechtlicher Angelegenheit voraus. Als Übersetzer biblischer Texte ins Deutsche hatte Luther bereits einige Erfahrungen gesammelt, etwa durch Teilübersetzungen für seine deutschen Psalmenauslegungen und seine Postille. Der Anstoß für die Bibelübersetzung war gleichwohl, wie es scheint, von außen gekommen. Dass die Erfahrungen der sogenannten „Wittenberger Bewegung“, die während Luthers Abwesenheit auf der Wartburg Einsichten des Wittenberger Kreises in konkrete, sichtbare Veränderungen zu überfühAlbrecht Beutel, Im Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis [HUTh 24], Tübingen 1991 (unveränd. Studienausg. 2006); Kenneth Hagen, Luther’s Approach to scripture as seen in his „Commentaries“ on Galatians 1519–1538, Tübingen 1993; zur Sprache und Bibelübersetzung vgl. nur Herbert Wolf (Hg.), Luthers Deutsch. Sprachliche Leistung und Wirkung [Dokumentation germanistischer Forschung 2], Frankfurt/M. 1996; zur Bibelübersetzung knapp und in Bezug auf Luther instruktiv: Albrecht Beutel, Luthers Bibelübersetzung und die Folgen, in: EvTh 59, 1999, S.  13–24; Siegfried Raeder, The Exegetical and Hermeneutical Work of Martin Luther, in: Sæbø, Hebrew Bible, wie Anm.  50, S.  363–406; Joachim Ringleben, Gott im Wort [HUTh 57], Tübingen 2010, S.  252 ff.; Heinz Blanke, Bibelübersetzung, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen 22010, S.  258–265; Albrecht Beutel, Wort Gottes, in: a.a.O., S.  362–371. 104   Vgl. nur: Bernhard Lohse, Luthers Selbsteinschätzung, in: Ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hg. v. Leif Grane u. a., Göttingen 1988, S.  158– 175. 105   Vgl. nur: WA 30/2, S.  635,11–24; 640,18; 633,24 f.

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ren drängte oder auch die vom Bibelwort gelösten Geistesoffenbarungen einiger Laien, den sogenannten „Zwickauer Propheten“, dabei mitwirkten, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Während eines Zwischenbesuches Anfang Dezember 1521 reifte der Plan einer Übersetzung vornehmlich unter dem Einfluss Melanchthons zur Tat. Neben dem Motiv, der ‚wahren Kirche‘ im wogenden Szenario der Endzeit in Gestalt einer volkssprachlichen Bibel „ein einigendes Band“, „feste[n] Halt“106 und eine normative Grundlage zu geben, spielte Luthers Erinnerung zufolge auch der Umstand eine entscheidende Rolle, dass die auf Erasmus’ Text basierenden Teilübersetzungen, die 1521 ins Kraut schossen, das Neue Testament zerrissen hatten und gerade Paulus, an dem Luther besonders gelegen war, in den Hintergrund zu drängen drohten.107 Was Luther in Bezug auf das Alte Testament, das dann seit 1523 in mehreren Teilausgaben zu erscheinen begann – 1534 lag dann die erste Wittenberger ‚Vollbibel‘108 vor –, mit Rücksicht auf ein zügiges Erscheinen und einen erschwinglichen Kaufpreis akzeptierte, lehnte er für das Neue Testament aus theologischen Gründen rundweg ab: Es sollte von vornherein als buchliche Einheit da sein. Durch Melanchthon und Spalatin mit den notwendigen Hilfsmitteln versorgt, brachte Luther in ca. elf Wochen eine Rohübersetzung zustande, die er nach seiner Rückkehr von der Wartburg, Anfang März 1522, mit dem versierten Gräzisten Melanchthon und anderen Wittenberger Kollegen revidierte und die im September 1522, pünktlich zur Leipziger Buchmesse, gedruckt vorlag. Auch wenn es von seinem Preis her – die Angaben schwanken zwischen ¯12 und 1¯12 Gulden, was sich auf gebundene oder ungebundene, kolorierte oder nicht kolorierte Exemplare beziehen dürfte –109 alles andere als ein für jedermann erschwingliches Volksbuch war, war die Erstauflage von 3000 Exemplaren im Nu verkauft. Fortan dominierte Luthers Neues Testament wie nie ein Buch in der deutschen Sprache vorher, und selbst die auf Betreiben Georgs von Sachsen seit 1527 pub­lizierte altgläubige Konkurrenzausgabe, verfasst von Hieronymus Emser, war über weite Strecken von Luther abhängig; 110 auch der anonyme Verfasser der 106

  Reinitzer, Biblia, wie Anm.  4, S.  109.   „Philippus Melanchthon coegit me ad novi testamenti versionem. Quia vidit hinc inde lacerari. Ille Matthaeum, hic Lucam vertit. Et tamen praecipue propter Paulum faciendum erat. Necessarium enim videbatur Pauli epistolas obscuratas in lucem et dispositionem redigere, quia ibi erat confusio. Erasmus quidem multa scribit verba, non curans theologiam, frangit virulenta verba.“ WA 48, S.  448,2–6; vgl. WATr 1, Nr.  961, S.  487,11 f.; WADB 6, S.  X XXII; vgl. auch WABr 2, S.  413,6 f. Gegen eine nennenswerte indirekte Wirkung der „Zwickauer Propheten“ auf das Übersetzungsprojekt bestehen auch chronologische Bedenken; Luther erfuhr von ihnen, die gegen Ende Dezember in Wittenberg auftauchten, erst im Januar 1522. Zu den Details vgl. Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale [Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 12], Mühlhausen 2010. 108   Vgl. dazu Stefan Füssels im Zusammenhang eines Reprints des Erstdrucks publizierte kundige Abhandlung: Das Buch der Bücher. Die Lutherbibel von 1534. Eine kulturhistorische Einführung, Köln 2002, bes. S.  41–45. 109   Vgl. nur: Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2 : Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S.  60. 110   Vgl. nur: Uwe Köster, Studien zu den katholischen deutschen Bibelübersetzungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert [RGST 134], Münster 1995, S.  17–27; Edition der Vorreden und des Privilegs 107

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ersten ausführlichen Vorrede zur Zürcher Bibel, gedruckt in der Folioausgabe von 1531, verleugnete die Benutzung der bis dahin vorliegenden Teile von Luthers Übersetzung nicht.111 Doch zurück zu der Ausgangsthese: Inwiefern stellt Luthers Übersetzung einen programmatischen Anfang und Neueinsatz in der Geschichte der Auslegung und Aneignung der Heiligen Schrift dar? Leistete er nicht eher eine konsequente, sprachlich zwar einzigartig geschlossene und gelungene, gleichwohl auf den bibelhumani­ stischen Instrumentarien basierende Umsetzung der landauf, landab vernehmbaren Forderung nach der Bibel in der Volkssprache? Ist Luther nicht gerade in Bezug auf die volkssprachliche Bibel eher der Abschluss einer auf ihn zulaufenden Entwicklung als ein neuer Anfang? Die Beantwortung dieser Frage hat zwei Aspekten Rechnung zu tragen: 1. Luthers Stellung zum erasmianischen Bibelhumanismus und 2. Luthers in der Übersetzung des Neuen Testaments erkennbarer Schrifthermeneutik. Ad 1: Zu einem bemerkenswert frühen Zeitpunkt, im Oktober 1516, jenem Jahr also, in dem Erasmus mit Erscheinen des Novum Instrumentum und der Hieronymus-Ausgabe „the climax of his career and the coming to fruition of the plans he had formulated many years before“112 erreicht hatte, fallen die ersten kritischen Bemerkungen Luthers über den unbestritten geachtetsten und verehrtesten Gelehrten, Theologen und reformerischen Hoffnungsträger seiner Zeit.113 Schon damals nämlich nahm Luther grundlegende theologische Differenzen im Verständnis der Erbsünde und der Rechtfertigung wahr, über denen es acht Jahre später zum Bruch zwischen ihm und Erasmus kommen sollte. Luther sah Erasmus noch ganz in den Bahnen des Aristoteles, der lehre, dass wir dadurch gerecht würden, dass wir gerecht handelten.114 Er kritisierte Erasmus’ Bevorzugung des Hieronymus gegenüber Augu­ stin und bat Spalatin auf den Niederländer einzuwirken, dass dieser zu einem angeder Ausgabe von 1528: a.a.O., S.  277–281; zu Emsers Legitimierung des Verbots der Lutherschen Übersetzung des Neuen Testaments vgl. dessen Schrift von 1523, in: Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  28, S.  509–529. Auch in Bezug auf seine ‚radikalen‘ innerreformatorischen Gegner setzte Luther 1525 ihre Abhängigkeit von seiner Bibelübersetzung voraus, vgl. WA 18, S.  82,21 ff.; zu Luthers späterer Kritik an der Prophetenübersetzung Dencks und Hätzers vgl. Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 22013, S.  117 Anm.  130; WADB 11/2, S.  CXIII ff.; WA 30/2, S.  640,28–32. 111  Vgl. Himmighöfer, Zürcher Bibel, wie Anm.  58, S.  375 f.; im ganzen überzeugende Argumente für Leo Jud als Verfasser der Vorrede bietet Himmighöfer, a.a.O., S.  381 ff. 112   John C. Olin, Erasmus and Saint Jerôme, in: Thought 54, 1979, S.  313–321, hier: 315. 113   WABr 1, Nr.  27, S.  70 f.; vgl. Thomas Kaufmann, Luther und Erasmus, in: Beutel, Luther Handbuch, wie Anm.  103, S.  142–152, hier: 143 f. 114   WABr 1, Nr.  27, S.  70,29–31. Als Differenz gegenüber dem aristotelisierenden Christentum des Erasmus markiert Luther gegenüber Spalatin (19.  10. 1516): „Non enim, ut Aristoteles putat, iusta agendo iusti efficimur, nisi simulatorie, sed iusti (ut sic dixerim) fiendo et essendo operamur iusta. Prius necesse est personam mutatam, deinde opera.“ Vgl. auch WABr 1, Nr.  35, S.  90,15–26, bes. Z.  18–20: „[.  .  .] timeo, ne Christum et Gratiam Dei non satis promoveat [sc. Erasmus] [.  .  .]: humana praevalent in eo plus quam divina.“ (1.  3. 1517, Luther an Lang); vgl. auch Nr.  57 (an Spalatin 18.  1. 1518), S.  133,10–134,49; s. auch Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  66, S.  89 ff.; 49; 81 Anm.  143.

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messeneren Paulusverständnis vordringe. An Hieronymus’ und seines Anhängers Erasmus’ Schriftauslegung störte Luther schon 1516, dass diese primär ein historisches Interesse verfolgten und einen wirklichen Zugang zur paulinischen Rechtfertigungslehre, wie sie insbesondere in den antipelagianischen Schriften Augustins dargelegt sei, nicht erreichten.115 Die frühen Differenzen zwischen Luther und dem wohl emphatischsten Erasmusanhänger unter Wittenbergs Theologen, Karlstadt, die über der Geltung des Jakobusbriefes aufbrachen, lassen sich als Variation der rechtfertigungstheologischen Grunddifferenz, die Luther zwischen sich und Erasmus wahrnahm, interpretieren. Während Luther sich öffentlich abschätzig über den Jakobusbrief äußerte116, hielt Karlstadt im Sommersemester 1520 über eben diesen Brief eine Vorlesung. Dabei sah er sich mit Studenten konfrontiert, die den ganzen Jakobusbrief verachteten, seine nicht-apostolische Herkunft bzw. seine Abfassung durch Hieronymus behaupteten und sich als Schüler eines ‚guten Priesters‘ präsentierten, mit dem auch Karlstadt eine alte Freundschaft verband; Karlstadt wollte diese nicht belasten, sah sich gleichwohl genötigt, dem guten Priester in der Sache entschieden zu widersprechen.117 Nach allem, was wir über die Wittenberger Diskussionslage der Jahre 1519/20 wissen, kann meines Erachtens nicht zweifelhaft sein, dass mit dem namentlich nicht genannten ‚alten Freund‘ Luther gemeint war. Für den Theologen und Juristen Karlstadt war das sola scriptura-Prinzip nur auf der Grundlage der rechtlichen Verbindlichkeit und Integrität des Kanons akzeptabel, und die Kanonizität des Jakobusbriefes sicherte er, ganz im Geiste des Kirchenväter-Humanismus des Erasmus, dadurch, dass die Väter den Jakobusbrief als kirchliche Schrift rezipiert hatten – also durch ein Traditionsargument. In Luthers sachkritischem Widerspruch gegen die dem Glaubensverständnis des Paulus diametral entgegengesetzte Rechtfertigung aus Werken, die der Jakobusbrief enthalte (Jak 2, 17–26), sah Karlstadt einen Fundamentalangriff auf die einzige normative Instanz, eben die Schrift. Seine Kanonstheorie lief auf eine rechtlich verbindliche, durch das Traditionszeugnis der Alten Kirche verbriefte Definition und Kodifikation derjenigen Bücher hinaus, die als biblisch anzusehen seien. In Bezug auf das Neue Testament implizierte diese Kanonstheorie 115   WABr 1, Nr.  27, S.  70, 4–32; zum kultur- und theologiegeschichtlichem Schlüsselthema Augustinus und / oder Hieronymus vgl. den wichtigen Aufsatz von Berndt Hamm, Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation, in: Kenneth Hagen (Hg.), Augustine, the Harvest, and Theology (1300–1600), FS Heiko A. Oberman, Leiden 1990, S.  127–235, ND jetzt in: Berndt Hamm, Religiosität, wie Anm.  27, S.  154–243. Spätere Konflikte Luthers mit christlichen Hebraisten haben ähnliche Ursachen; der Wittenberger Reformator wendet sich gegen eine Bibelphilologie, die die soteriologischen Gehalte der Schrift im Interesse des sensus literalis seines Erachtens z. T. unzulässig reduziert, vgl. dazu zuletzt: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, wie Anm.  110. 116   WA 6, S.  570,25; 568,8 ff.; 95,21 ff.; vgl. zum Ganzen: Brecht, Kanon der Heiligen Schrift, wie Anm.  79; Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  2, S.  126 ff. Zu Luthers Wendung „Ich wil schier den Jeckel in den offen werffen“ vgl. WA 39/2, S.  199,24 f. 117   S. unten II, §  7, Anm.  20; vgl. auch Mühlenberg, Scriptura, wie Anm.  46, S.  200–202 (ND S.  137–139).

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eine Restitution der traditionellen Höherbewertung der Evangelien gegenüber den übrigen Teilen des Neuen Testaments, insbesondere gegenüber den Paulusbriefen.118 Dieser innerwittenbergische Konflikt, ausgebrochen über der Frage der Geltung des Jakobusbriefes, dürfte den Nukleus aller weiteren innerreformatorischen Zerwürfnisse bilden und markiert die Scheidelinie zwischen dem bibelhumanistischen solascriptura-Prinzip und der Lutherschen Ausformung dieses Grundsatzes. Ad 2: Luthers Neues Testament stellt einen radikalen Traditionsbruch dar und ist insofern ein revolutionäres Buch. Einige Aspekte seien genannt: An die Stelle der traditionell zweispaltigen Satzeinrichtung trat die volle Seite, eine Innovation, die v. a. um der von Luther beigefügten Randglossen willen nötig geworden war. In diesen Randglossen gab Luther Lese- und Verstehenshilfen, die den Leser auf das sachliche Zentrum eines Textes führen sollten und auch Memorierhilfen boten. Luther veränderte die Anordnung der Vulgata, indem er den Hebräerbrief aus dem Corpus Paulinum heraustrennte, mit dem Jakobus- und dem Judasbrief an den Schluss rückte und diese Schriften zusammen mit der Johannesapokalypse schon im Inhaltsverzeichnis dadurch von den übrigen Schriften des Neuen Testaments absetzte, dass er ihnen eine eigene Zählung verweigerte. Er stellte Vorreden voran, in denen er gerade einmal mit einem Satz auf Hieronymus und dessen klassische Bibelvorreden einging; er diskutierte also den Traditionszeugen kat exochen nicht nur nicht, wie es Karlstadt für unverzichtbar und Erasmus für selbstverständlich gehalten hatte; er ersetzte ihn.119 Die Vorrede auf das Neue Testament als ganzes hatte ihren Skopus in der scharfen Zurückweisung des „Wahns“120, dass es „vier Evangelia und vier Evangelisten“ gäbe und dass das Neue Testament – ähnlich wie Karlstadt es unlängst erneut vorgetragen hatte – in Analogie zum Kanon des Alten Testaments zu verstehen und zu ordnen sei. Nicht um die Evangelien, sondern um das Evangelium, „Gottes Verheißung“, „gute Botschaft“, „gute Märe“, „gute neue Zeitung“, „gut Geschrei“ gehe es. Dieses singularisierte, weil singuläre Evangelium, die Frohbotschaft von der Erlösung, Lebendigund Gerechtmachung, der Friedensstiftung ohne irgendein Verdienst und eigene Würdigkeit, sei der Kern, ja das Neue Testament selbst: „Solch Geschrei und tröstliche Märe heißt auch ein neu Testament, darum, dass, gleichwie ein Testament ist, 118

 Karlstadt, Welche bucher Biblisch seint, wie Anm.  79, bes. B 2v–C 1r.   Emser hatte ein lebhaftes Empfinden für die Radikalität des mit Luthers Vorrede auf das Neue Testament verbundenen Traditionsbruchs: „Das aber dem [sc. dass Luther seinem Gutdünken und Eigensinn in der Übersetzung des Neuen Testaments folgt] also sey, wil ich örstlich beweysen auß seiner [sc. Luthers] unchristlichen vorred, in wölcher er der alten heyligen väter vorreden und dewtung so bald vornicht und spricht, wie diß buch keiner andern vorred bedörff, dan das allein der einfeltig man auß seinem alten whan auff die rechte ban gefurt wird [vgl. WADB 6, S.  2,2–4]. So er doch gleich das widerspil ubet und sich understehet, den gemeinen man auß der alten christlichen ban auff sein pickkardischen [das ist hussitischen; s. o. §  2] falschen whan abzufuren und der kirchen zu entpfrombden [.  .  .].“ Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  28, S.  512,19– 26. 120   Vorrede auf das Neue Testament (WADB 6, S.  2–12). Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Text; auf Einzelnachweise wird verzichtet. 119

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§  3  Bibeltheologie

wenn ein sterbender Mann sein Gut bescheidet nach seinem Tode den benannten Erben auszuteilen: also hat auch Christus befohlen und beschieden, solches Evangelium nach seinem Tode auszurufen in alle Welt, allen, die da glauben, zu eigen gegeben alles sein Gut, das ist, sein Leben [.  .  .].“ Das Ziel dieser Text gewordenen Botschaft sei allein, „solchen Glauben zu stärken“. Evangelium ist deshalb für Luther im präzisen Sinne „Predigt von Christo“; so, wie unterschiedliche Prediger kurze oder lange Reden führten, hätten auch die Schriftsteller des Neuen Testaments in unterschiedlicher Weise geschrieben. Aus dieser Konzentration auf das Evangelium ergab sich für Luther das hermeneutische Sachkriterium für die Behandlung der Frage, „welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind“: das Johannesevangelium nämlich, die Paulusbriefe, besonders der Römerbrief, der 1. Petrusbrief seien „der recht Kern und Mark unter allen Büchern“; die solle der Christ zuerst und am meisten lesen und sich „durch täglich Lesen so gemein mach[en] wie das tägliche Brot“. Von dem ‚was Christum treibet‘ her gewinnt Luther sein theologisches Sachkriterium für die Bestimmung der Apostolizität, das er dem zuletzt von Karlstadt propagierten historisch-traditionsgeschichtlichen Apostolizitätskriterium entgegensetzt: „Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie allesampt Christum predigen und treyben, Auch ist das der recht prufesteyn, alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben odder nit, Sintemal alle schrift Christum zeiget, Ro. 3 [21] und S. Paulus nichts denn Christum wissen will, 1 Kor 2 [2]. Was Christum nicht leret, das ist nicht apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret.“121 Eben dieses Kriterium aber erfüllten der Judas- und der Jakobusbrief nicht. Dieses hermeneutische Prinzip, ausgehend vom theologischen Zentrum des Neuen Testaments, das Luther insbesondere in der Rechtfertigungslehre des Römerbriefes fand, erlaubte ihm, Schale und Kern, lebendiges, glaubensweckendes Wort und tötenden Buchstaben zu unterscheiden. Dieses hermeneutische Sachkriterium bildete das theologische Antriebsmotiv seines Übersetzungswerkes, stand hinter wesentlichen seiner zum Teil zeitgenössisch umstrittenen Übersetzungsentscheidungen und bildete die Basis für die spezifische theologische Kohärenz der Lutherbibel. Luther sprach immer wieder von seiner Bibelübersetzung in Verbindung mit dem Personalpronomen „mein“: „Es ist mein testament und mein dolmetschung, und sol mein bleiben unnd sein“122, so etwa im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) in pointierter Abwehr der plagiatorischen Emser-Ausgabe des Neuen Testaments. Darin dürfte ein wesentlicher Aspekt der Lutherbibel und ihrer Faszinationskraft ausgesprochen sein: Nie zuvor war das Glaubensbuch der Christenheit in persönlicherer, radikal zuspitzenderer, einseitigerer und doch nachvollziehbarer Weise angeeignet worden. Diese mit aller Tradition brechende, subjektive Aneignung ließ die in einer 121

  Vorrede zum Judas- und Jakobusbrief, WADB 7, S.  384,25–30.   WA 30/2, S.  633,24 f.

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4.  Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation

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‚dem Volk aufs Maul schauenden‘ Sprachform abgefasste Lutherbibel zu einem neuen Anfang werden, mit dem Menschen etwas anfangen konnten. An der Flugschriftenpublizistik der 1520er Jahre lässt sich auf Schritt und Tritt nachweisen, wie zügig und nachdrücklich sich Luthers Übersetzung den reformatorischen Publizisten imponierte. Luther wusste um sein Charisma: „Ich kan Psalmen und Propheten außlegen, Das künnen sie nicht. Ich kan dolmetzschen, Das können sie nicht. Ich kan die heiligen schrifft lesen, Das können sie nicht“123, formulierte Luther großsprecherisch – freilich in Analogie zum Selbstruhm des Apostel Paulus in 2 Kor 12 –, um den qualitativen Abstand zwischen sich und seinen altgläubigen Gegnern in Hinblick auf die Bibelkompetenz zu markieren. Und er fuhr, in verblüffender Wendung, fort: „Ich kan biten [beten], Das können sie nicht.“124 Beten kann nur, wer um seine Grenzen weiß. Die Bibelübersetzung war ein Werk, das Luther seiner persönlichen Grenzen innewerden ließ.125 Die Bibel blieb ihm ein ‚Grenzbuch‘, das zu verstehen menschliche Möglichkeiten übersteigt. „Die Heilige Schrift glaube niemand genug geschmeckt zu haben (gustase), wenn er nicht 100 Jahre mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat.“126 Diese Aussage ist so ziemlich das Letzte, was man von einem erwartet, der die Schrift lesen zu können meinte wie beinahe niemand außer und kaum jemand vor ihm. Diese Aussage ist zugleich so ziemlich die letzte, die wir von Luther haben. Was dann noch folgt ist bekannt: „Wir sein pettler.“127 Das letzte Wort hat der Heilige Geist, der auf Hebräisch ‚Amen‘, auf Deutsch aber „Hoc est verum“ sagt.

4.  Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation Wie verhalten sich die drei skizzierten Anfänge zueinander? Die deutsche Bibel war vor der Reformation eine Realität, einerseits in Gestalt vorhandener Druckausgaben, andererseits als programmatisch geforderte, mit hohen Erwartungen verbundene Größe, der nicht zuletzt durch die in deutschen Flugschriften verbreiteten Gedanken des Erasmus ein besonderes Gewicht zugekommen war. In Hinblick auf die Durchsetzungsdynamik der Laienbibel bilden die bibelphilologische Grundlagenarbeit der Humanisten und die volkssprachliche Erasmusrezeption in Deutschland einen Kulminationspunkt der durch den Buchdruck for123

  WA 30/2 S.  635,20–22.   WA 30/2, S.  635,22 f. 125   Vgl. nur: WABr 2, S.  423,48–56 (Luther an Amsdorf 13.  1. 1522). 126   „Scripturas sacras sciat se nemo gustasse satis, nisi centum annis cum prophetis ecclesias gubernaverit.“ WATr 5, Nr.  5677, S.  316,16 f.; zur Interpretation vgl. nur: Martin Brecht, Luther, Bd.  3 : Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, Stuttgart 1987, S.  367 f.; Heiko A. Oberman, Wir sein Pettler. Hoc est verum. Bund und Gnade in der Theologie des Mittelalters und der Reformation, in: Ders., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S.  90–112. 127   WATr 5, S.  318,2. 124

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§  3  Bibeltheologie

cierten Bemühungen um die volkssprachliche Bibel. Nicht zuletzt dieser ‚Werbevorlauf‘ trug dazu bei, dass Luthers Neues Testament auf großes Interesse stieß und ein Erfolg wurde. Die volkssprachliche Bibel selbst, aber auch die Forderung nach ihr, gehörten zu den elementaren Voraussetzungen der Reformation und sind zugleich ein wesentliches Mittel ihrer Durchsetzung geworden. Luther knüpfte an die skizzierten Voraussetzungen und Erwartungen an, aber er ging doch von vornherein über sie hinaus, und zwar aus eben jenen theologischen Gründen, die ihn schon zu einem frühen Zeitpunkt die Differenzen zu den theologischen Implikationen des erasmischen Bibelhumanismus hatten erkennen und deutlich markieren lassen. Für ihn war die Schrift zwar auch die alles entscheidende Norm, an der sich die christliche Lehre und die kirchliche und gesellschaftliche Ordnung zu orientieren hatte. Aber sie war doch mehr und noch anderes als dies: Sie war Evangelium, Gottes eigene, den Christenmenschen jetzt erreichende Anrede, ursprüngliche Botschaft der Liebe und der Gnade am Ende der Zeiten. Die Bibel war für Luther nie nur normatives Instrument, das über die Pflichten eines christlichen Lebens und rechter theologischer Lehre aufklärte; sie war zunächst und v. a. aktuelle Evangeliumspredigt, die ganz von ihrer insbesondere in den paulinischen Schriften entfalteten Sinnmitte, dem, ‚was Christum treibet‘ her, zu verstehen ist. Luthers Schrifthermeneutik entspricht seiner Rechtfertigungstheologie: Am Anfang steht der im Wort kommende Christus, dem der zum empfangenden Hörer werdende Leser gegenübersteht. Die insbesondere in den Vorreden zum Neuen Testament entfaltete Sinnmitte verdeutlicht das für Luther maßgebliche Interesse an der Bibelübersetzung: Er wollte seinen ‚lieben Deutschen‘ das Evangelium bringen. Die Bibel war für ihn nie nur ein Mittel der Kirchenreform; sie war vor allem ein Heilsmittel, ein Sakrament Gottes. Für Luther ist der redende Gott Anfang, Ende und Inbegriff der christlichen Religion: Dass Gott redet, ist das Wunder aller Wunder, das im Evangelium ausgeteilt wird. Die Impulse zur laikalen Bibellektüre und die Anstöße zur humanistischen Bibelphilologie sind im Protestantismus produktiv aufgenommen und weitergeführt worden, während sie im sich tridentinisch erneuernden römischen Katholizismus zunächst abbrachen oder lediglich an seinen Rändern – unterhalb der Ebene des offiziell approbierten Dogmas – fortzuleben vermochten. Insofern entsprechen die drei Anfänge nicht drei historischen Ausgängen: Versuche, die volkssprachliche Bibel­ übersetzung auf der Basis der Vulgata weiterzuführen, verloren nach den reformatorischen Übersetzungen ihre Plausibilität; der Bibelhumanismus fand vornehmlich im Protestantismus eine Heimstatt. Der Protestantismus aber band sich wie keine Kirchenbildung vor ihm an die Bibel als autoritatives und suffizientes Lebens- und Deutungsbuch und hatte so, ungeachtet der Selbstwidersprüche, die seine historische Gestalt begleiteten, das Prinzip seiner permanenten Infragestellung bleibend bei sich: den im Wort kommenden Gott, der am Anfang war und immer wieder neu den Anfang macht.

4.  Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation

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In allgemeinerer reformationsgeschichtlicher Perspektive lassen sich an diese die Bibel betreffenden Beobachtungen einige Schlussfolgerungen anschließen: Die volkssprachliche Bibel und das Bedürfnis nach ihr stellen eine Voraussetzung, aber keine ‚Ursache‘ der Reformation dar. Eine ‚Ursache‘ in dem Sinne, dass die Reformation aus ihrer Vorgeschichte abgeleitet werden könnte, besaß die Reformation ebenso wenig wie andere ereignisgeschichtliche Umbrüche.128 Nicht die Emanzipationstendenzen des Stadtbürgertums und der Territorialstaaten oder des gemeinen Mannes gegenüber klerikaler Bevormundung oder sozialem Unrecht, sondern die Bereitschaft dieser politischen und ständischen Kräfte, ihre Interessen mit den von Luther und seinen frühen Parteigängern ausgehenden Impulsen und mit dem „Worte Gottes“ zu verbinden, ermöglichten die Reformation. Auch all die anderen Aspekte der kirchen-, gesellschafts-, bildungs-, medien- und sozialgeschichtlichen Gesamtlage um 1500, denen völlig zu Recht eine prägende Bedeutung für den Verlauf und die Ausformung der Reformation zugeschrieben wird, stellen keine ‚Ursachen‘, sondern wichtige Voraussetzungen der Reformation dar. So unbefriedigend es für den historiographischen Trieb, geschichtliche Prozesse im Sinne rückwärts gewandter Prophetie in ihrer Notwendigkeit plausibel zu machen, bleiben mag: Das Primum movens der in die Reformation einmündenden Entwicklung war die Bibellektüre eines angefochtenen Theologieprofessors in einem Kloster ‚am Rande der Zivilisation‘129, der in der sich stetig festigenden Gewissheit, am Ende der Zeiten zu stehen, mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit in der Bibel und immer wieder in der Bibel nach einer Lösung für seine Fragen suchte und das, was er fand, das Evangelium, mitzuteilen bestrebt war und – je länger je mehr – in fulminanter Eindrücklichkeit mitzuteilen fähig wurde. Durch Luther ist das alte Wort „Evangelium“ in neuer, theologisch spezifisch gefüllter Weise populär geworden; das Eindringen des Wortes Evangelium bzw. des Adjektivs „evangelisch“ in die deutsche Sprache wurzelt in Luthers ‚Neuentdeckung‘ des Evangeliums und seiner sprachmächtigen Propagierung.130 128

  Vgl. etwa Hartmut Boockmann, Das 15. Jahrhundert und die Reformation, in: Ders., Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze, hg. v. Dieter Neitzert/Uwe Israel/Ernst Schubert, München 2000, S.  65–80; vgl. auch Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  62 ff. Zum Verhältnis von spätmittelalterlichem und reformatorischem Umgang mit der Bibel vgl. auch Berndt Hamm, Wie innovativ war die Reformation? In: Andreas Holzem (Hg.), Normieren – Tradieren – Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, S.  141–155. 129   WATr 2, Nr.  2800b, S.  669,11–13 (Nov. 1532): „Wir sitzen alhie Wittenbergae nur in einem schindeleich [d. i. Schindanger] [.  .  .]. Wittenbergenses sunt in termino civilitatis; si paulo longius progressi fuissent, in mediam barbariam venissent.“ 130   In Bezug auf das von ihnen untersuchte Flugschriftenmaterial, die sogenannten Predigtsummarien, haben Moeller und Stackmann auf den m. E. zentral wichtigen Sachverhalt hingewiesen, dass die „Selbstbezeichnung ‚evangelisch‘“ in der reformatorischen Bewegung, obschon sie „neuartig“ war, „völlig geläufig“ gewesen sei. Bernd Moeller/Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation [AAWG.PH 3, 220], Göttingen 1996, S.  357 (vgl. zu diesem Buch meine Rezension in: GGA 251, Göttingen 1999, S.  229–249). Dass dieser Sachverhalt mit der akzentuierten Verwendung des Begriffs „evangelium“ bzw. des Adjektivs „evangelicus“ in Schriften Luthers (vgl. Belege in: WA 65, S.  267 f.; WA 69, S.  752 f.; i. S. von „die Evangelischen“ vgl. WA 10/3, S.  374,23;

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§  3  Bibeltheologie

Das überkommene Kirchenwesen mit seiner schillernd-frommen Betriebsamkeit, seiner routiniert-selbstverständlichen Kirchlichkeit, seinen heilsökonomisch austarierten Sicherheiten, marktkonformen und sozial tarifierten Angeboten, seiner humanen und zugleich ‚allzu menschlichen‘ Elastizität, aber auch seinen Autoritätsschwächen und Gewissheitsdefiziten war keineswegs in sich ‚kritisch‘ und als solches eine ‚Ursache‘ der Reformation. Es erwies sich erst als kritisch, als das Evangelium, die Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes, die allein geglaubt sein will, einen exzentrischen Standpunkt, einen distanziert-verfremdenden Blick auf das bestehende Kirchenwesen eröffnete und es so einer schonungslosen Betrachtung aussetzte und in die Krise führte. Nicht in einer vermeintlichen Dekadenz des späten Mittelalters, wie die protestantische Historiographie sie konstruierte, sondern in dem mit dem Begriff des Evangeliums entdeckten und zur Sprache gebrachten neuen Verständnis Gottes, des Menschen, seiner Welt und seiner Kirche gründete die Plausibilität der reformatorischen Bewegung für diejenigen, die ihr folgten, sie in ihre lebensweltlichen Kontexte einfügten, in ihr ein Wirken Gottes am Ende der Zeiten sahen und sie in der Perspektive des historischen Rückblicks schließlich ‚machten‘. Das Evangelium als aktuelle Anrede Gottes führte zahlreiche Menschen zu der Überzeugung, dass sie von den kirchlichen Repräsentanten des Christentums bisher betrogen worden, dass sie einer Illusion aufgesessen oder einem obzessiven ‚Trugbild‘ nachgejagt waren. Die Distanz, die das Evangelium zum Bestehenden schuf, eröffnete die Chance, allerlei Unbehagen gegenüber dem, was bisher galt, zum Ausdruck zu bringen und zum Ausbruch zu verhelfen. Ein ‚Trugbild‘ erkennt man erst, wenn es zu entschwinden beginnt, weil seine Macht gebrochen ist. Erst dann kann man die Symbole der gebrochenen Macht stürmen, verachten, ignorieren oder archivieren und neue Ordnungen stiften, wirklich oder vermeintlich ursprüngliche Sinnformationen restituieren, kurz: eine Reformation durchführen. Die Reformation erreichte ihre Plausibilität, indem sie sich jenes Mediums, der Bibel, im Raum der Öffentlichkeit bediente, dessen Heiligkeit und Würdigkeit keinem zurechnungsfähigen Zeitgenossen zu bestreiten in den Sinn kam. Im Unterschied zu den AufbrüWA 16, S.  252,19; WA 18, S.  319,24; WA 21, S.  431,17; WA 22, S.  366,3; WA 23, S.  16,16; WA 28, S.  213,34; 296,16; 763,13; WA 31/2, S.  145 zu 21/22; WA 33, S.  673,41; WA 43, S.  314,13; WA 47, S.  234,6; WA 49, S.  745,20) in einem historisch-genetischen Zusammenhang steht, dürfte schwerlich zu bestreiten sein. Weil sich im Begriff des Evangeliums ein spezifisch ‚neues‘ Verständnis des Christentums semantisch verdichtete und zugleich die ‚alte‘ Wahrheit der Bibel in ihrem Kern vergegenwärtigt wurde, vermochte der Begriff zum ‚Werbeslogan‘ der frühreformatorischen Bewegung zu werden. Der Erfolg des Begriffs sagt über das Verständnis derer, die ihn verwendeten, zunächst noch nichts aus. Die ‚Evangelischen‘ nannten sich so, weil sie im ‚Evangelium‘, wie auch immer sie diesen Begriff im Einzelnen auffassten, den maßgeblichen semantischen Bezugspunkt dessen, was ihre Differenz gegenüber dem bestehenden Kirchenwesen ausmachte, sahen. Dass sich auch die ‚altgläubigen‘ Kontroverstheologen der suggestiven Sogkraft des Begriffs ‚Evangelium‘ nicht zu entziehen vermochten, zeigt sich an ihren Versuchen, ihn im eigenen Sinn zu ‚besetzen‘, vgl. etwa Dietenberger, in: Laube, Flugschriften gegen die Reformation, wie Anm.  28, S.  546,24 f.: „[.  .  .] laßt uns Leyen wie biß her [.  .  .] bleiben bey dem alten glauben und ewangelischer klarheit“; „[.  .  .] weder der geschrifft, noch keiner ewangelischen warheit zuwider [.  .  .].“ A.a.O., S.  547, 32 f.

4.  Die volkssprachliche Bibel und die ‚Einheit‘ der Reformation

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chen, die im Bildungs- und Selbstbewusstsein der Laien, in der wissenschaftlichen Einsicht in die Textgeschichte der Bibel und im religiös-sittlichen Verantwortungsbewusstsein für eine Reform der Kirche gründeten, wurzelt die Reformation Luthers in der Begegnung mit dem als Evangelium zu Gehör gebrachten Bibelwort. Der Bezug auf das Evangelium begründete die historische Einheit der reformatorischen Bewegung und die kontextuelle theologische Vielfalt ihrer religionskulturellen, kirchlichen und doktrinalen Entwürfe.131 Das endzeitliche Evangelium war der Anstoß der Reformation; zu einer geschichtlichen Macht wurde sie durch all das, was sich mit diesem verband.

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  Die kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung zur Reformation hat auf das rezente ‚Epochendilemma‘, in dem sich die deutsche Reformation als ‚Epoche‘ der europäischen Geschichte „zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ (vgl. Thomas A. Brady [Hg.], Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 50], München 2001) gegenwärtig befindet (vgl. dazu meine Problemanalyse und meinen Lösungsvorschlag: Die Reformation als Epoche?, in: VF 47, 2002, S.  49–63), einerseits durch verstärkte Bemühungen, den ‚Umbruchcharakter‘ der Reformation in Gestalt spezifischer thematischtheologischer, institutions-, kultur- und kommunikationsgeschichtlicher Gesichtspunkte zu beschreiben (vgl. bes. Bernd Moeller [Hg.], Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998), reagiert, andererseits Versuche, ‚Einheit und Vielfalt‘ der Reformation (Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995) zu ventilieren und zu präzisieren bzw. die innere Kohärenz, das ‚Reformatorische‘ der Reformation (Volker Leppin, Wie reformatorisch war die Reformation?, in: ZThK 99, 2002, S.  162–176), zu bestimmen, unternommen. Die Problematik dieser Versuche dürfte in formaler Hinsicht darin bestehen, dass der Begriff der ‚Reformation‘ primär oder ausschließlich von theologischen Inhalten her definiert wird. Demgegenüber ist es m. E. entlastend, den Reformationsbegriff partiell zu ‚enttheologisieren‘. Er sollte m. E. exklusiv für die historischen Umsetzungsprozesse, in die Kirchentum und Gesellschaft seit den 1520er Jahren – freilich unter starkem Einfluss ‚reformatorischer Theologie‘ – gerieten, verwendet werden. Nur wenn man den Begriff Reformation in Bezug auf sozial-, institutionen-, rechts-, politik- und kulturgeschichtliche Perspektiven hin kontextualisiert, wird er mit der allgemeinhistorischen Diskussion vermittelbar bleiben; s. auch oben §  1.

§  4  Religionshermeneutik: Spätmittelalterliche und reformatorische Wahrnehmung des Islams 1.  Der Türkendiskurs im 15. und 16. Jahrhundert Fragt man nach dem Verhältnis zwischen dem spätmittelalterlichen und dem reformationszeitlichen Türkendiskurs1, so ist zunächst festzustellen, dass sich die lebhaften Kontinuitäts- und Umbruchdebatten insbesondere in der Kirchengeschichtsschreibung2 selten der ‚Türkenfrage‘ angenommen haben. Dies ist umso erstaunli-

1   Die in diesem Kapitel entwickelten Thesen berühren sich vielfach mit Überlegungen, die ich in monographischer Form dargelegt habe: Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008. Für weiterführende Quellen- und Literaturangaben sei auf das einschlägige Verzeichnis ebd. verwiesen. 2   Vgl. etwa: Berndt Hamm, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: Der Prozess normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, S.  7–82; ders., The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety, Essays, hg. von Robert J. Bast [SHCT 100], Leiden u. a. 2005; ders., Die Emergenz der Reformation, in: Ders./Michael Welker, Die Reformation. Potenziale der Freiheit, Tübingen 2008, S.  1–27; eine gegenüber dem ‚Ereignischarakter‘ der Reformation weniger interessierte Position nimmt ein: Volker Leppin, Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten [SSAW PH 140/4], Stuttgart, Leipzig 2008; vgl. zur Sache auch: Thomas A. Brady unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 50], München 2001; Heinz Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt einer Temps des Réformes? In: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998, S.  13–34 (nachgedruckt in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hg. von Luise Schorn-Schütte und Olaf Mörke [HF 75], Berlin 2002, S.  11–31); Thomas Kaufmann, Die Reformation als Epoche? In: VF 47, 2002, S.  49–63; Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter [Kontroversen um die Geschichte], Darmstadt 2002, S.  17 ff. Dass die im Kontext der deutschen Geschichte nach wie vor zentrale Kategorie der Reformation im Horizont europäischer und globaler Perspektiven der Geschichtswissenschaften in fortschreitendem Maße relativiert und marginalisiert wird (vgl. etwa: Constantin Fasolt, Europäische Geschichte, zweiter Akt: Die Reformation, in: Brady/ Müller-Luckner, s. o., S.  231–250; s. a.: Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann [Hg.], Eigene und fremde frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs [HZ, Beih. 35], München 2003), liegt in der Wahl des ‚Objektivs‘ begründet, nicht aber in einer wie auch immer gearteten ‚Natur der Sache‘. Meine Sicht der Dinge habe ich zuletzt dargestellt in meinem Buch: Geschichte der Reformation, Berlin 22010.

1.  Der Türkendiskurs im 15. und 16. Jahrhundert

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cher, als sich an kaum einem Thema Persistenz und Dynamik, Kontinuität und Innovation, Verbindendes und Trennendes des 15. und 16. Jahrhunderts so deutlich machen lässt, wie an diesem. Auch die sich bis ins erste Drittel des 16. Jahrhunderts stetig steigernde Erfahrung einer äußeren Bedrohung Europas verband beide Zenturien in elementarer Weise.3 Europa, die verbliebene Restheimat der Christen – „Europa id est patria“ formulierte der spätere Papst Pius II. im unmittelbaren historischen Zusammenhang mit dem Untergang Konstantinopels 14534 – verdankt sich in begriffskonjunktureller Hinsicht vor allem dem ideenpolitischen Abwehrkampf gegen die Osmanen. Im Lichte ritueller Praktiken ist der Zusammenhang des 16. mit dem 15. Jahrhundert unübersehbar: Das ursprünglich mit der Ablasspraxis verbundene Läuten der Türkenglocke etwa, 1456 durch Papst Calixt III. eingeführt5 und 1523 reichsrechtlich

3   Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf, Zürich 2004, bes. S.  76 ff.; eine gegenüber der zu stark auf einer primär christlichen Prägung des europäischen Mittelalters fixierten Perspektive instruktive, in ihrer Bemühung um eine paritätische Behandlung der drei großen monotheistischen Religionen mich freilich nicht durchweg überzeugende Darstellung hat vorgelegt: Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300–1400 n. Chr. [Siedler Geschichte Europas], München 2006; zum Verhältnis des Osmanischen Reiches zur christlichen Staatenwelt vgl. vor allem: Géraud Poumarède, Pour en finir avec la Croisade. Mythes et réalités de la lutte contre les Turcs aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 2004; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 [Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen 2], Paderborn, München, Wien, Zürich 2007, S.  201 ff.; Cemal Kafedar, The Ottomans and Europe, in: Thomas A. Brady/Heiko A. Oberman/James D. Tracy (Hg.), Handbook of European History. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, 1400–1600, Bd.  1, Leiden, New York, Köln 1994, S.  589–635. 4   Dieter Mertens, „Europa id est patria, domus propria, sedes nostra .  .  .“ Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: Franz Rainer Erkens (Hg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter [ZHF Beih. 20], Berlin 1997, S.  39– 57; Johannes Helmrath, Pius II. und die Türken, in: Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance [Frühe Neuzeit 54], Tübingen 2000, S.  79–138; ders., Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) – ein Humanist als Vater des Europagedankens? In: Rüdiger Hohls /Iris Schröder/Hannes Siegrist (Hg.), Europa und die Europäer. FS Hartmut Kaelble, Stuttgart 2005, S.  361–369. Die Reflektionen, die der Papst über die Türken und das Gebot der Christenheit, gegen sie zu kämpfen, im Kontext seiner Commentarii rerum memorabilium quae temporibus suis contigerunt (krit. Ed. hg. von Adrian van Heck, Vatikanstadt 1984) anstellte, sind in deutscher Übersetzung jetzt bequem zugänglich in: Enea Sivlio Piccolomini, Commentarii. Ich war Pius II. Memoiren eines Renaissancepapstes, ausgewählt und übersetzt von Günter Stölzl, Augsburg 2008, S.  76 ff. (Buch 2; bes. zum Mantuaner Kongress). 5  Vgl. Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis zur Wahl Pius II., Bd.  1, 12. unveränd. Aufl., Freiburg/B. u. a. 1955, S.  721–723 mit Anm.  1; die Kreuzzugsablässe Calixts III. werden knapp behandelt in: Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt 22000, S.  169–171. Die Form des Geläutes und der Zeitpunkt knüpften an das vielerorts bereits gebräuchliche Ave-Maria-Geläut an, vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde [dtv 4673], München 1995, S.  191. Die Praxis, kniend dreimal das Vaterunser und das Ave-Maria zu beten, belegt Senol Özyurt, Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert [Motive 4], München 1972, S.  32. Als zeitgenössische Bezeichnungen sind Ave-Läuten, Pacem-Läuten, Angelus- und Sal-

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§  4  Religionshermeneutik

verbindlich gemacht6, ging auch in protestantische Kirchenordnungen ein.7 Die Türkenglocke blieb also auch im Protestantismus weithin im Gebrauch, selbst wenn Jakob Andreae in der Tübinger Stiftskirche zeterte: „[.  .  .] ich halt da[ss] dise Türckenglock eben so ein grosse Krafft hab / als zum Wetter- oder Todten Leutten Dann der grösser theil braucht es zu seinem Abgöttischen Gebett [.  .  .] / Der ander theil hat sein Gespött / und gehet also fast alle andacht uber und mit der Glocken auß. Wir müssen aber liebe Freund / neben dieser Türckenglocken ein andere Sturmglocken unsers Hertzens / nämlich ein wahrhafftige Rew“8 erklingen lassen. veläuten bezeugt. Zur allgemeinen Orientierung vgl. Kurt Kramer, Glocken und Geläute in Europa, München 1988; LexMA Bd.  4, Sp.  1499 f. 6   Vgl. zum Mandat des Reichsregiments von 1523: DRTA J. R. 3, S.  58,21–23. Das Mandat sah die mittäglichen „sonder glock geleut“ vor; es ermahnte die Christen zum Gebet, das die Abwendung des Gotteszornes und den militärischen Sieg erreichen sollte. Vgl. zum weiteren Kontext: Klaus Schreiner, Kriege im Namen Gottes, Jesu und Mariä. Heilige Abwehrkämpfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 78], München 2008, S.  151–192. 7   Das seit 1457 eingeführte tägliche Mittagsgeläute galt der Erinnerung an das Gebet zur Hilfe gegen die Türken und findet sich in zahlreichen evangelischen Kirchenordnungen, vgl. Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, ND der 2.  Aufl. Göttingen 1937, Waltrop 1999, S.  226 f.; Ernst Walter Zeeden, Katholische Überlieferungen in den lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform [SMAFN 15], Stuttgart 1985, S.  113–191, hier: 159; vgl. exemplarisch: Osterode (Herzogtum Preußen, 1576), in: Emil Sehling (Hg.), Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts [= EKO], Bd.  4, Leipzig 1911, ND Aalen 1970, S.  151; Danzig (1612), a.a.O., S.  203. Im Rahmen einer mecklenburgischen Visitation von 1542 spielte das „Türkengebet eine große Rolle“, vgl. Sehling, EKO, Bd.  5, Leipzig 1913, ND Aalen 1970, S.  132; vgl. Sehling, EKO, Bd.  1, Leipzig 1902, ND Aalen 1979, S.  395 (Albertinisches Sachsen 1580). Freilich reflektiert diese kursächsische Ordnung Differenzen im Umgang mit der Betglocke: „[.  .  .] weil auch die verordnung mit der betglocken ungleich gehalten, so man das pacem nennet, weil an etlichen orten dieselbige als ein papistische anreizung zur abgötterei geachtet und demnach ein zeitlang unterlassen worden, deswegen sich die leut beklaget, und es aber an im selbst anders nichts denn ein erinnerung und anreizung zum rechten, warhaftigen christlichen gebete, hat [.  .  .] der synodus einhellig geschlossen, das hierinnen bei allen kirchen auch gleichheit gehalten [.  .  .].“ EKO, Bd.  1, S.  430. In der Ordnung der Visitatoren für die Stadt Meissen von 1540 wurde das Pro Pace-Läuten folgendermaßen begründet: „[.  .  .] auf das das volk erinnert werde für einen gemeinen fried der christenheit zu bitten.“ Sehling, EKO, Bd.  2, Leipzig 1904, ND Aalen 1970, S.  52; ähnlich Quedlinburg (1540), a.a.O., S.  263 und Anhalt (1532) a.a.O., S.  540. In Görlitz wurde 1593 verkündet, dass man täglich um 12 Uhr mittags zum Türkengebete läuten und „alles Musizieren und Tanzen einstellen solle. Beim erstmaligen Läuten mit der ‚Türkenglocke‘ [.  .  .] ist der Klöppel gesprungen.“ Sehling, EKO, Bd.  3, Leipzig 1909, ND Aalen 1970, S.  375. Von den Gebeten, die beim Läuten der Türkenglocke in den Häusern gesprochen werden sollten, ließ der Görlitzer Magistrat einen Druck anfertigen. 8   Jakob Andreae, Dreyzehen Predigen vom Türcken: In wölchem gehandelt würdt von seins Regiments Ursprung, Glauben und Religion .  .  ., Tübingen, Morhart 1569; VD 16 S 2614; Ex. MF Bibl. Palat. E 543/544, S.  370; zu Andreäs Türkenpredigten vgl. Siegfried Raeder, Die Türkenpredigten des Jakob Andreä, in: Martin Brecht (Hg.), Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, Tübingen 1977, S.  96–122; Susan R. Boettcher, German Orientalism in the Age of Confessional Consolidation: Jacob Andreae’s Thirteen Sermons on the Turk, 1568, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24/2, 2004, S.  101–115; zum historischen Kontext vgl.

1.  Der Türkendiskurs im 15. und 16. Jahrhundert

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Das Verhältnis des 15. zum 16. Jahrhundert wäre freilich in seiner Komplexität unterbestimmt, ginge man etwa auf der Linie des Andreae-Zitates von einer bloß äußerlichen Kontinuität der Kultpraxis bei innerlicher Umdeutung derselben aus. Keine geringere Instanz lutherischer Rechtgläubigkeit als die Wittenberger Theologische Fakultät trat im früheren 17. Jahrhundert dafür ein, gegen den „Erb- und Erzfeind gemeiner Christenheit“, den Türken, gemeinsam mit den „Papisten“ zu beten, jedenfalls dann, wenn ein derartiges Gebet seitens der Katholiken nicht explizit mit Ablassgnaden und Heiligenanrufungen verbunden werde.9 Im Modus des Gebets gegen den einen großen Feind konnte also eine Gemeinsamkeit mit den Gliedern der römischen Kirche unter bestimmten Bedingungen möglich werden, für die man im konfessionellen Zeitalter nicht leicht Analogien findet. Und auch, dass Luther einen Prophetenspruch des 15. Jahrhunderts, das Logion des Franziskaners Johannes HilKaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  118 f.; zu Andreä vgl. nur Martin Brecht, Art. Andreä, Jakob, in: TRE 2, 1978, S.  672–680; RGG4, Bd.  1, 1998, Sp.  470; DBETh 1, 2005, S.  42 [Lit.] ; zu Andreäs Türkenpredigten zuletzt: Norbert Haag, „Erbfeind der Christenheit“ – Türkenpredigten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Gabriele Haug-Moritz/Ludolf Pelizaeus (Hg.), Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010, S.  127–149, bes. 137 ff. 9   Consilia Theologica Witebergensia / das ist Wittenbergische Geistliche Ratschläge, Frankfurt/M., Johann A. Endter, Wolfgang D. J. E. 1664, Teil  2, Tit VI, Nr.  4 (Ob Lutheraner mit den Papisten in einer Kirche wieder den Türcken beten können?, Wittenberg, 2.  1. 1640, S.  172 f., hier: 172). Einerseits stellte die Wittenberger Fakultät fest, dass ein Gebet gegen die Türken in einem „papistischen“ Gotteshaus nicht problematisch sei, da auch „einige Stelle unn Ort der abgöttischen Baals Tempel ein rechtglaubigen Christen in gewissen nichtes verderben.“ Ebd. Sollte aber der „Babst / oder ein ander Abgöttischer Bischoff“ ein Türkengebet angeordnet haben, „entweder mit solchen fürgeben / daß damit Ablaß der Sünde für Gott sollte erlanget werden: Oder aber selbiges dermassen formiert / daß [.  .  .] auch die werthe Mutter Christi / und andere abgelebte Heiligen in selbigen sollten angeruffen werden: Oder aber [.  .  .] daß bey und unter den Gotteslästerlichen Meßopffer selbiges sollte verrichtet werden: Auf solchen Fall ist [sc. auf die dem Gutachten zugrunde liegende Frage] richtig zu antworten / daß einiger Evangelischer rechtgläubiger Christ / mit unversehrten gewissen solchen Abgöttischen und verdamlichen Geb[e]tte / [n]immermehr bey wohnen / oder darbey sich aufhalten könnte. Ursach dessen ist diese / hie gehet es an die Confession in Glaubens Artickel / hie leuffet der Handel in das Gewissen der Christen Menschen [.  .  .].“ Ebd. Vgl. zum Kontext der konfessionsund religionskulturellen Kohabitation und ihrer Grenzen: Thomas Kaufmann, Religions- und konfessionskulturelle Konflikte in der Nachbarschaft. Einige Beobachtungen zum 16. und 17. Jahrhundert, in: Georg Pfleiderer/Ekkehard W. Stegemann (Hg.), Religion und Respekt. Beiträge zu einem spannungsreichen Verhältnis [Christentum und Kultur V], Zürich 2006, S.  139–172, hier bes. S.  170; zur Gattung der Lehrgutachten lutherischer theologischer Fakultäten vgl.: Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der 2. Hälfte des Reformationsjahrhunderts [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, S.  323–363 [Lit.]; zur Theologischen Fakultät Wittenberg im 16. und 17. Jahrhundert vgl. nur: Kurt Aland, Die Theologische Fakultät Wittenberg und ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Leucorea während des 16. Jahrhunderts, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd.   1, 1952, S.   155–237 (nachgedruckt in: Ders., Kirchengeschichtliche Entwürfe, Gütersloh 1960, S.  283–394); Kenneth G. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1700 [BHTh 127], Tübingen 2004; Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602 [LStRLO 5], Leipzig 2002; im Spiegel programmatischer Texte zur Theologiekonzeption Wittenbergischer Provenienz: Marcel Nieden, Die Erfindung des Theologen [SMHR 28], Tübingen 2006.

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§  4  Religionshermeneutik

ten: „Millesimo Sexcentesimo veniet Turcus // Totam Germaniam devastaturus“10, an die Wand seines Studierzimmers schrieb, sollte gegenüber der Vorstellung einer bloß äußerlichen Kontinuität zwischen dem 16. und dem 15. Jahrhundert zur Zurückhaltung mahnen.

2.  Die reformatorische Entdeckung des vorreformatorischen Erbes Der innere Zusammenhang des 16. mit dem 15. Jahrhundert wird in Hinblick auf die ‚Türkenfrage‘ besonders auf der Ebene der Tradierung, Rezeption und Verbreitung einschlägiger Texte und Wertungsmuster sichtbar. Den Reigen der Neudrucke vorreformatorischer Türkenschriften eröffnete Luther, als er unmittelbar nach der Belagerung Wiens, zu Beginn des Jahres 1530, den Libellus de ritu et moribus turcorum eines „Georgius de Hungaria“ genannten ehemaligen Siebenbürgeners mit einem Vorwort neu herausgab.11 Er begründete die Veröffentlichung dieses um 1480 erstmals in Rom erschienenen Textes12 damit, dass er über die „religio“ und die „mores“ der „mahometistae“ gründlicher und unvoreingenommener berichte als zwei andere 10   WA 48, RN S.  133 f. (zu S.  284), 4d.; vgl. Johannes Ficker, Eine Inschrift Luthers im Lutherhaus, in: ThStKr 107, 1936, S.  65–68; nach einem Zeugnis des späten 16. Jahrhunderts fand sich die Inschrift an der Wand „hinter seiner bibell mit eigner hand geschrieben nicht lang vor seinem absterben. Und ist eine Tafell dafur gemacht, die man weg schieben und seine handschrifft sehen kann.“ Zit. nach WA 48, RN S.  133; dass die Türken im Jahre 1600 die Herren über Deutschland (und, so eine Variante der Textüberlieferung, Italien) sein würden, ist als Logion des in Eisenach inhaftierten Franziskaners Johann Hilten überliefert, vgl. dazu meine Hinweise in: Konfession und Kultur, wie Anm.  9, S.  435 ff. u. ö. (s.v. Hilten); s. auch die Belege in: „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  193 f.; 223–227 f.; 230. 11   WA 30/2, S.  205–208 (Edition des Vorwortes Luthers); ein Abdruck der mit eigenwilligen Interpolationen durchsetzten deutschen Version der Vorrede in Sebastian Francks Übersetzung findet sich als Reprint in: Carl Göllner (Hg.), Chronica und Beschreibung der Türkey. Mit einer Vorrhed D. Martini Lutheri [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 6], Köln, Wien 1983, S.  1–8; zu Francks Übersetzung vgl. Christoph Dejung, Sebastian Franck, Sämtliche Werke, Bd.  1: Frühe Schriften: Kommentar, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, S.  407–412; eine ‚dogmatisch korrekte‘ lutherische Übersetzung der Vorrede wurde von Justus Jonas seiner Übersetzung von Paolo Giovios Turcicarum rerum commentarius (s. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  123 [Anm.  36]) eingefügt: Ursprung des Turkischen Reichs / bis auf den itzingen Solyman / durch D. Paulum Jovium .  .  . verdeutschet durch Justum Jonam [o.O., o. Dr., o. J.]; VD 16 G 2051; Ex. SUB Göttingen 8 H Turc 715(2), U 3r–X 4v; Anfang Januar 1530 kündigte Luther das Erscheinen der lateinischen Ausgabe an, vgl. WABr 5, S.  215,5 ff.; vgl. auch: Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546) [QFRG 80], Gütersloh 2008, S.  324–327; zu Luthers Türkenpublizistik s. auch: Adam S. Francisco, Martin Luther and Islam. A Study in Sixteenth-Century Polemics and Apologetics [History of Christian-Muslim Relations 8], Leiden, Boston 2007. 12  Zu den historischen und textgeschichtlichen Fragen grundlegend: Reinhard Klockow (Hg.), Georgus de Hungaria, Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum. Traktat über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15], Köln, Weimar, Wien 21994; zu dem durch Luther veranlassten Druck (Wittenberg, Johannes Lufft 1530; Ex. SUB Göttingen 8o H Turc 103) vgl. a.a.O., S.  67 Nr.  8.

2.  Die reformatorische Entdeckung des vorreformatorischen Erbes

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ihm damals bekannte Texte: die Confutatio Alcorani des Dominikaners Ricoldo de Montecrucis aus dem späten 13. oder frühen 14. und die Cribratio Alcorani des Nikolaus von Kues aus dem 15. Jahrhundert.13 In der Tat: Georgius vermittelte lebensnahe Einblicke in die Verhältnisse in der Türkei bzw. der türkisch besetzten Gebiete. Denn er war als Jugendlicher 1438 in Mühlbach in türkische Gefangenschaft geraten14, hatte zwei Jahrzehnte bei verschiedenen türkischen Herren als Sklave gelebt, die Landesprache gelernt und wohl tiefere Einblicke in die Lebenswelt der Türken gewonnen als jeder Abendländer vor ihm. Georgius schilderte die Anmut der Gottesdienste, die eindrucksvolle Disziplin der in polygamen Ehen lebenden Frauen, die Riten des Alltags, die gleißende Heiligkeit der praxis pietatis, die Tänze der Derwische, die großartige Architektur der Moscheen, aber auch das Elend der christlichen Sklaven, die wie Vieh gehalten oder als sexuelle Lustobjekte erniedrigt würden.15 Georgius war schließlich die Flucht gelungen; in Rom hatte er mit dem Eintritt in den Dominikanerorden seinen Seelenfrieden gefunden. Im Angesicht einer Invasion der Osmanen in Italien, die zwischen Sommer 1480 und Frühjahr 1481 akut befürchtet wurde, hatte er seine Erinnerungen niedergeschrieben. Ihm, der zeitweilig selbst der Faszination der „türkischen“ Religion erlegen und zu ihr übergetreten war, ging es darum, seinen christlichen Glaubensbrüdern Einblicke in die Faszinationskraft der fremden Religionskultur zu vermitteln. Angesichts der osmanischen Okkupation wollte er sie vor jenem Fall in die Apostasie bewahren, der ihm selbst einst widerfahren war.16 Das Faszinierende an der „tür13   „Hunc libellum [sc. des Georgius von Ungarn] de religione et moribus Turcorum oblatum libenter accepi et non sine consilio, ut mihi videor, sano edere constitui. Hactenus enim cum vehementer cuperem nosse religionem et mores Mahometistarum, nihil offerebatur quam quaedam confutatio Alkorani et item Cribratio Alkorani N.  de Cusa; Alkoranum vero etiam num frustra cupio legere. Videbatur sane tam ille Confutator quam Cribrator pio studio Christianos simpliciores velle a Mahometo absterrere et in Fide Christi retinere. Sed dum nimio student quaeque turpissima et absurdissima ex Alkorano excerpere, quae ad odium faciunt et ad invidiam movere possint vulgum, et bona, quae in eo sunt, vel transeunt non confutata vel occulunt, factum est, ut parum fidei et autoritatis invenerint, quasi vel odio illorum vel impotentia confutandi sua vulgarint.“ WA 30/2, S.  204,2–15; zur Schrift des Ricoldus (und Luthers späterer Ausgabe derselben): Johannes Ehmann (Hg.), Ricoldus de Montecrucis Confutatio Alcorani (1300). Martin Luthers Verlegung des Alcoran (1542). Kommentierte lateinisch-deutsche Textausgabe [CISC 6], Würzburg, Altenberge 1999; eine hervorragende zweisprachige Ausgabe der Schrift des Kuesaners hat besorgt: Ludwig Hagemann (Hg.), Nikolaus von Kues, Sichtung des Korans, Bd.  1–3 [PhB 420a–c], Hamburg 1989–1993; weitere Hinweise auf neuere Literatur zum Islambild des Nikolaus von Kues in: Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  134 Anm.  102. 14   Zu den biographischen Sachverhalten vgl. Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  11 ff. 15  Vgl. Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  180 ff.; 201 ff.; 230 ff.; 280 ff. 16   Einen Hinweis auf einen Glaubensabfall gibt der Siebenbürgener gleich zu Beginn seines Proömiums: „[.  .  .] et in meipso expertus didici [sc. dass die Muslime Christen in der Gefangenschaft zum Islam hinüberziehen], qui cum multo mentis gaudio expectabam mortem pro fide Christi sub­ ire [sc. bei der Verteidigung Mühlbachs]; et tamen [.  .  .] de igne semivivus extractus et vite redditus per successum temporis detentus in manibus eorum veneno errorus eorum quasi infectus de fide Christi non modicum dubitavi et, nisi misericordia dei mihi affuisset et me custodisset, turpiter eam negassem.“ Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  146. Die neu gewonnene Freiheit,

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§  4  Religionshermeneutik

kischen Religion“ freilich, so machte Georgius seinen Lesern immer wieder deutlich, stamme vom Teufel, dem Meister des schönen Scheins.17 Als expers, als jemand, der aufgrund eigener experientia berichtete18, räumte auch Luther ihm größere Glaubwürdigkeit ein als den gelehrten Konfutatoren des Korans, die allein aufgrund von fragwürdigen schriftlichen Quellen oder Gerüchten urteilten.19 Georgius’ Schrift gehört zu den bekanntesten vorreformatorischen Türkenschriften überhaupt. Bis 1514 war sie auch in Urach, Köln und Paris nachgedruckt worden, insgesamt sieben Mal.20 Mit Luthers Ausgabe von 1530 setzte dann eine Verbreitungsgeschichte ein, die alles Frühere in den Schatten stellte. Luthers Edition bildete die Grundlage für eine Übersetzung Sebastian Francks und mehr als ein Dutzend Vollausgaben sowie zahlloser Teildrucke in lateinischen und deutschen „Türckenbüchlein“ aller Art.21 Francks zum Teil sehr eigenwillige Übersetzung22 ist übrigens das erste eindeutige Quellenzeugnis seines Spiritualismus23 und seiner Di­ die er erlangte, als er mit Hilfe eines im Namen des Sultans ausgestellten Freibriefes (littera imperiali auctoritate confecta; vgl. 206 f.) das Land verlassen konnte, machte ihn zu einem „verum etiam illius cruentissime secte diabolica infectione absolutus liber“ (a.a.O., S.  410). Zu Indizien, die für einen zeitweiligen Anschluss Georgius’ an den Derwischorden sprechen, vgl. Klockow, a.a.O., S.  21 f. 17   „Nam tanta est potentia diaboli in eis [sc. den muslimischen Asketen], ut videantur potius diaboli incarnati quam homines.“ Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  272; vgl. 270; 284, wo Georgius das Pauluswort vom Teufel, der sich in einen Engel des Lichts verwandle (2 Kor 11,14), auf die Türken bezieht. Luther ist in dieser Hinsicht ganz von Georgius’ Sicht abhängig, vgl. etwa WA 30/2, S.  186,31 ff.; 187,1 ff.; 205,29 ff. 18   Vgl. Wendungen wie „in meipso expertus“ (Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  146 [s. Anm.  16]); „docentur experientia“ (a.a.O., S.  148); „expertam in me ipso“ (ebd.), sowie die Schlusssentenz, man solle „in rerum humanarum dubiis“ der größeren Erfahrung mehr Glauben schenken („maiori experientie fides“) als denen, die sonst über die Türken berichten (a.a.O., S.  406). 19   WA 30/2, S.  205,4 ff.16 ff. 20   Zu den weiteren Drucken von [1481, Rom] bis 1514 Paris, vgl. Klockow, Georgius de Hungaria, wie Anm.  12, S.  60–66, Nr.  1–7. 21  Grundlegend: Dejung, Kommentar, wie Anm.  11, S.  335–513; Neuedition des Textes in: Sebastian Franck, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd.  1: Frühe Schriften, TextRedaktion Peter Klaus Knauer, Bern 1993, S.  236–327; zu den Drucken vgl. VD 16 G 1377-G 1388; Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  160 f. Anm.  202, sowie die noch immer sehr hilfreiche Bibliographie von Carl Göllner, Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts, 1.  Aufl. Bukarest/Baden-Baden 1961–1968: Bd.  1: MDI-MDL, 1961 [BBAur 19]; Bd.  2 : MDLIMDC, 1968 [BBAur 23]; Bd.  3 : Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert [BBAur 70], Bukarest/Baden-Baden 1979; ND Bd.  1–3, Baden-Baden 1994. 22   Vgl. außer Dejung, Kommentar, wie Anm.  11: Stephen C. Williams, ‚Türkenchronik‘. Ausdeutende Übersetzung: Georgs von Ungarn ‚Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum‘ in der Verdeutschung Sebastian Francks, in: Dietrich Huschenbett/John Margetts (Hg.), Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters [Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7], Würzburg 1991, S.  185–195. 23   Das hat bereits Hegler, der Inaugurator des bekanntlich vor allem durch Ernst Troeltsch breitenwirksam gewordenen Spiritualismuskonzepts (vgl. etwa: Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, neu hg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht [Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe 7], Berlin, New York 2004, oder die von Trutz Rendtorff und Stefan Pautler hg. Schriften zur Bedeutung des Protestantismus

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stanzierung von den sich formierenden reformatorischen Stadt- und Territorialkirchentümern, die er als „Türken“ im Gewande des christlichen Glaubens ansah.24 Keine Schrift des 16. Jahrhunderts hat stärker auf das Türkenbild im Alten Reich eingewirkt als dieser Traktat des Siebenbürgeners in der Verbreitung Luthers und Francks. Mit dem Tractatus des Georgius publizierte Luther eine Schrift, die in theologischer Hinsicht manche Anstößigkeiten traditionell altgläubiger Art, etwa in der Sakramentenlehre, der Heiligenverehrung, in Bezug auf die ‚religiöse Leistungsfrömmigkeit‘ in genere enthielt. Diese Defizite erschienen ihm freilich vergleichsweise harmlos angesichts der Gefahren, die er nach Wien heraufziehen sah. So hatte er in seiner Heerpredigt wider die Türken, die er am Jahresende 1529, etwa zwei Monate nach dem erfolglosen Abbruch der osmanischen Belagerung Wiens, veröffentlicht hatte, formuliert: Seine „lieben deudschen, die vollen Sewe“, wollten nun, da die Gefahr vorüber sei, „yn aller sicherheit zechen und wol leben“; „ha der Türcke ist nu weg und geflohen“ dächten sie, unterschätzten aber gerade so seine wirkliche Bedrohung.25 Die Neuausgabe des Tractatus des Siebenbürgeners wurde deshalb von Luther genutzt, um aus dessen Darstellung polemisches Kapital gegen die Papstkirche zu ziehen. Denn, so behauptete er dreist, die Papisten hätten eben deshalb über Religion und Gottesdienste der Türken so wenig geschrieben, ja, dieses Wissen geheim gehalten und sich ausschließlich auf die negativen und häretischen doktrinalen Aspekte des Korans kapriziert, weil dann, wenn sie sich wirklich mit der religio der Türken auseinandergesetzt hätten, das Papsttum zusammengebrochen wäre.26 Gerade dann nämlich, wenn man die äußerlichen Gebärden, Möncherei, Askese, Beten, ‚Sauersehen‘, Fasten, kurz: den schönen rituellen Schein der „türkischen Religion“ ins Auge fasse, sei die päpstliche der türkischen Religion unendlich unterlegen. Insofern werde die Darstellung, die der Siebenbürgener von diesem äußeren Kult der Türken gebe, zu einer profunden Apologie des Evangeliums (Apologia quadam evanfür die moderne Welt [1906–1913] [Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe 8], Berlin, New York 2001), in seiner grundlegenden Arbeit zu Franck deutlich gesehen: Alfred Hegler, Geist und Schrift bei Sebastian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spritualismus in der Reformationszeit, Freiburg/B. 1892, bes. S.  48–50. 24  Vgl. etwa Franck, in: Göllner, Chronica, wie Anm.  11, S.  89; Werke, Bd.  1, wie Anm.  21, S.  314,3 f. u. ö. 25   WA 30/2, S.  160,17–21. 26   „Ego [sc. Luther] plane credo nullum Papistam, monachum, clerum et eorum fidei sotium, si inter Turcos triduo agerent, in sua fide mansurum. Loquor de iis, qui serio fidem Papae volunt et optimi inter eos sunt. Caetera turba et maior eorum pars, presertim Itali, quia porci sunt de grege Epicuri, nihil prorsus credentis, securi sunt ab omni haeresi et errore fortesque et invicti in sua fide Epicurea tam contra Christum quam contra Mahometum et contra ipsum suum met Papam. [.  .  .] Itaque pro Apologia quadam Evangelii nostri simul hunc librum [sc. des Georgius] edimus. Nunc enim video, quid causae fuerit, quod a Papistis sic occuleretur religio Turcica, Cur solum turpia ipsorum narrarint, Scilicet quod senserunt, id quod res est, si ad disputandum de religione veniatur, totus Papatus cum omnibus suis caderet nec possent fidem suam tueri et fidem Mahometi confutare [.  .  .].“ WA 30/2, S.  206,15–22; 207,3–8.

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§  4  Religionshermeneutik

gelii nostri).27 Denn es liege offen zu Tage, dass die religio Christi etwas völlig anderes sei als Zeremonien und Sitten. An der „türkischen Religion“ als dem denkbar höchsten Steigerungsgrad zeremonialer Orthopraxie wird also für Luther die so ganz andere Beschaffenheit der religio bzw. der fides Christi deutlich. Dem Christen liege nämlich in keiner Weise daran, durch äußere Zeremonien, Sitten und Gesetze (ceremoniae, mores et leges) vor Gott gerecht zu werden; zu Gerechtigkeit und Sündenvergebung trügen Zucht und Ordnung nichts bei.28 Am Gegensatz zur „türkischen Religion“ sind für Luther die katechetischen Elementaria des christlichen Glaubens, insbesondere der zweite Artikel, einzuschärfen. Mit dem Glauben an Christus, den auferstandenen Gottessohn, der um unserer Sünden willen gestorben ist, sei ein jeder Christ gegen Satan gerüstet. In seiner Heerpredigt formulierte Luther in diesem Sinne: „[.  .  .] durch diesen artickel wird unser glaube gesondert von allen andern glauben auff erden, Denn die Jüden haben des nicht, Die Türcken und Sarracener auch nicht, dazu kein Papist noch falscher Christ .  .  . Darum, wo du ynn die Türckey komest, da du keine prediger noch bücher haben kanst, da erzele bey dir selbs, es sey ym bette odder in der erbeit, es sey mit worten odder gedancken, dein Vater unser, den Glauben und die Zehen gebot, und wenn du auff diesen Artikel [sc. den zweiten] kömst, so drucke mit dem daumen auff einen finger odder gib dir sonst etwa ein zeichen mit der hand odder fuß, auff das du diesen artickel dir wol einbildest und mercklich machest [.  .  .].“29 1529 – das Jahr der massivsten militärischen Vorstöße des Türken überhaupt, war eben auch das Abfassungsjahr der Lutherschen Katechismen30 – eine schwerlich nur äußerliche chronologische Koinzidenz!

27   WA 30/2, S.  207,3 f. (zit. oben Anm.  26). Auch für einen Autor wie Karlstadt missachteten die ‚Römer‘, die in der Messe aus Christus ein Opfer machten, diesen schlimmer als die Türken, vgl. Wider die alte und neue papistische Messen, [Basel, Thomas Wolff] 1524; Ex. MF 95 Nr.  256; VD 16 B 6261; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1970, S.  213 f., 3r. 28   „Cum enim in vicino nunc Turcam et suam religionem habeamus, monendi sunt nostri, ne specie religionis illorum et facie morum commoti aut vilitate nostrae fidei ac morum difformitate offensi negent Christum suum et Mohemetum sequantur, Sed discant religionem Christi aliud esse quam caeremonias et mores Atque Fidem Christi prorsus nihil discernere, utrae caeremonie, mores et leges sint meliores aut deteriores, Sed omnes in unam massam confusas dictat ad iustitiam nec esse satis nec eis esse opus.“ WA 30/2, S.  207, 24–31. 29   WA 30/2, S.  186,15–24. 30   Vgl. zum Kontext: Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2 : Ordnung und Abgrenzung der Reformation, Stuttgart 1986, S.  267 ff.; Gerald Strauss, Luther’s House of Learning. Indoctrination of the Young in the German Reformation, Baltimore, London 1978; Robert J. Bast, Honor your Fathers. Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany, 1400–1600 [SMRT 63], Leiden u. a. 1997; Gerhard Bode, Instruction of the Christian Faith by Lutherans after Luther, in: Robert Kolb (Hg.), Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675 [Brill’s Companions to the Christian Tradition 11], Leiden, Boston 2008, S.  159–204; Thomas Kaufmann, Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ZThK 105, 2008, S.  281–314, bes. 294 ff. Zur Abwehr der Juden und Türken als Teil christlicher Katechetik vgl. Christoph Weissmann, Die Katechismen des Johannes Brenz [SuR 21], Berlin, New York 1990, S.  711 f.

3.  Traditionelle Wahrnehmungsmuster

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Luthers Instrumentalisierung des Tractatus des Siebenbürgeners für die antirömische Profilierung seines rechtfertigungstheologischen Verständnisses der religio christiana im Kontext der katechetischen Zurüstung angesichts osmanischer Invasionsängste gehört in den Rahmen einer Publikationsoffensive der Wittenberger Theo­ logen, die unmittelbar nach der Belagerung Wiens einsetzte. Sie war durch die Nachrichten veranlasst, die die Wittenberger nach ihrer Rückkehr vom Marburger Religionsgespräch31 über den franziskanischen Propheten Johannes Hilten erhalten hatten. Auch die von Melanchthon, Jonas und Luther von diesem Zeitpunkt an gemeinsam vertretene Deutung des „kleinen Horns“ aus Daniel 7 auf die Türken wollte man jetzt einer größeren Öffentlichkeit bekanntmachen.32 Denn nun hatte man den Türken in der Schrift und damit zugleich den exegetischen Anhalt für die Gewissheit seines militärischen Sieges über die christianitas gefunden, die durch das prophetische Zeugnis Hiltens zusätzlich bestätigt worden war. Durch Luthers große Vorrede zum Daniel-Buch33 wurde dieses geschichtstheologische Deutungskonzept, das mit einzelnen vorreformatorischen prophetischen Traditionen, insbesondere solchen, die in Lichtenbergers Prognosticatio zusammengestellt waren34, koinzidierte, dem eschatologischen Grundwissen der lutherischen Konfessionskultur35 implementiert.

3.  Traditionelle Wahrnehmungsmuster Neben der am Tractatus des Siebenbürgeners aufweisbaren Umgangsweise mit vorreformatorischen Traditionsbeständen blieben auch andere Wahrnehmungsmuster in Geltung bzw. wurden reaktiviert. Dies gilt etwa für die seit Johannes Damascenus36 31

 Vgl. Gerhard May, Art. Marburger Religionsgespräch, in: TRE 22, 1992, S.  75–79.   Justus Jonas [Philipp Melanchthon], Das siebend Capitel Danielis / von des Türcken Gottes lesterung und schrecklicher morderey mit Unterricht Justi Jonae, Wittenberg, Hans Lufft [1530]; zum Druck: Köhler Bibl., Bd.  2, S.  139 f. Nr.  1789; Ex. MF 481 Nr.  1291; vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  192–194 Anm.  264; instruktiv: Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus [BAKG H. 31], Köln, Wien 1990, S.  11 ff. 33   WADB 11/2, S.  1–181. 34   Johannes Lichtenberger, Prognosticatio super magna illa saturni ac Iovis coniunctione [Köln, Peter Quentel], 1526; VD 16 L 1592; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  304 Nr.  2135; Ex. MF 1642 f. Nr.  4217; deutsche Ausgabe: Wittenberg, Hans Lufft 1527; VD 16 L  1597; Ex. MF 982 f. Nr.  2309; Edition der Vorrede Luthers: WA 23, S.  7–21; vgl. zur Sache: Dietrich Kurze, Johannes Lichtenberger (†  1503). Eine Studie zur Geschichte der Prophetie und Astrologie [HS 379], Lübeck, Hamburg 1960; Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528 [Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26], Tübingen 1990; Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, bes. S.  195 f. 35   Zu meinem Verständnis der Sache, das sich deutlich von der primär theologiegeschichtlichdoxographischen Zugangsweise etwa Kolbs (vgl. Introduction, in: Ders., Lutheran Ecclesiastical Culture, wie Anm.  30, S.  1–14, bes. 5 ff.) unterscheidet, vgl. Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm.  9, bes. S.  14 ff. 36   Jean Damascène, Écrits sur l’Islam, présentation, commentaires et traduction par R. Laymon Le Coz [SC 383], Paris 1992; Reinhold Glei/Adel Theodor Khoury (Hg.), Schriften zum Islam 32

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§  4  Religionshermeneutik

übliche Behandlung des Islams als einer christlichen Häresie. Sie war durch Petrus Venerabilis37, den Kuesaner, Ricoldus, Enea Silvio Piccolomini und viele andere einflussreiche Autoren, auch durch einen Konvertiten-Traktat wie den des Juan An­ drés38, den der Lutheraner Johann Lauterbach in lateinischer Übersetzung publizierte39, perpetuiert worden und hatte in Bernhard von Luxemburgs Catalogus haereticorum von 1522, in dem „Mahometus“ gleich hinter den „Lutherani“ verzeichnet war40, eine kompakte zeitgenössische Ausarbeitung erfahren. Wenn die damnatio des ersten Artikels der Confessio Augustana41 die Mahometisten in einer Reihe mit den antitrinitarischen Irrlehrern42 nennt, steht sie also in einem breiten kirchenge/ Johannes Damaskenos und Theodor Abu¯  -Qurra, Kommentierte griechisch-deutsche Textausgabe [CISC Ser. Graeca 3], Würzburg 1995; vgl. Daniel Sakas, The Arab character of the Christian disputation with Islam. The case of John of Damascus (ca. 655-ca. 749), in: Friedrich Niewöhner/ Bernard Lewis (Hg.), Religionsgespräche im Mittelalter [Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4], Wiesbaden 1992, S.  185–205; Stefan Schreiner, Der Islam als politisches und theologisches Problem der Christen und die Anfänge christlich-antiislamischer Polemik, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber/Duran Terzi (Hg.), Identität durch Abgrenzung? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007, S.  119–138, bes. S.  132 ff. 37  Vgl. Reinhold Glei (Hg.), Petrus Venerabilis: Die Schriften zum Islam [CISC 1], Altenberge 1985; James Kritzeck, Peter the Venerable and Islam, Princeton N. J. 1964; vgl. Maria Rosa Menocal, Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003, S.  245 ff.; zum häresiologischen Diskurs im Zusammenhang mit dem Islam in der westlichen Theo­ logie des 12. Jahrhunderts vgl. John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York, Chichester 2002, S.  135 ff.; José Martinez/Oscar de la Cruz/Candida Ferrero/ Nadia Petrus, Die lateinischen Koran-Übersetzungen in Spanien, in: Matthias Lutz-Bachmann/Alexander Fidora (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt 2004, S.  27–39. 38  Vgl. Hartmut Bobzin, Bemerkungen zu Juan Andrés und seinem Buch Confusion dela secta mahoematice (Valencia 1515), in: Martin Forstner (Hg.), Festgabe für Hans-Rudolf Singer, Frankfurt/M. u. a. 1991, S.  529–548. 39   Johann Lauterbach, De bello contra turcas suscipiendo .  .  . Confusio sectae Mahometanae ab eodem latinitate donata, Leipzig, A. Lamberg 1595; VD 16 L  754; Ex. SUB Göttingen 8 Hist. 629; Göllner, Turcica, Bd.  2, wie Anm.  21, S.  537 Nr.  2043; vgl. zu den Drucken, die 1594 einsetzten, Bobzin, Bemerkungen, wie Anm.  38, S.  532 Anm.  13. 40   Catalogus hereticorum omnium pene, qui ad haec usque tempore passim literarum monumentis proditi sunt, illorum nomina, errores, et tempora .  .  ., Editio secunda, [Köln, Eucharius Cervicornus] 1523; VD 16 B  1986; Ex. SUB Göttingen 8 HEE 794/3, J 7r/v. 41   BSLK, S.  51,5. Der Islam gilt vornehmlich als Inbegriff des Antitrinitarismus, vgl. Wilhelm Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana, Bd.  1: Einleitung und Ordnungsfragen, Gütersloh 21979, S.  66 Anm.  10. 42   Zum Antitrinitarismus der Reformationszeit vgl. nur: Georg Huntston Williams, The Radical Reformation [Sixteenth Century Essays & Studies 15], Kirksville 32000, S.  945 ff.; Robert Dan/Antal Pirnát (Hg.), Antitrinitarism in the Second Half of the 16th Century, Budapest u. a. 1982; Mihály Balázs, Early Transylvanian Antitrinitarism (1566–1571) – from Servet to Palaeologos [Bibl. Diss., Scripta et studia 7], Baden-Baden 1996; Christopher J. Burchill, The Heidelberg Antitrinitarians. Johann Sylvan – Adam Neuser – Matthias Vehe – Jacob Suter – Johann Hasler [Bibl. Diss. 11], Baden-Baden 1989; weitere Hinweise bietet: Jószef Simon, Die Religionsphilosophie Christian Franckens 1552–1610? Atheismus und radikale Reformation im Frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa [Wolfenbütteler Forschungen 117], Wiesbaden 2008; Martin Mulsow/Jan Rohls (Hg.), Socinianism and Arminianism: Antitrinitarians, Calvinists and cultural exchange in seventeenth-century Europe [Brill’s studies in intellectual history 134], Leiden, Boston 2005.

3.  Traditionelle Wahrnehmungsmuster

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schichtlichen Traditionsstrom, der auch sonst in den einschlägigen Turcica des frühneuzeitlichen Protestantismus nachwirkte. Im Unterschied zu dem durch den Siebenbürgener repräsentierten, in der Forschung nicht ganz zu Recht als „ethnographisch“ bezeichneten Wahrnehmungstypus43 bezieht sich die häresiologische Deutungstradition vornehmlich auf historisches Wissen über die Anfänge Mohammeds. Weniger also die aktuelle Religion der osmanischen Supermacht, das heißt die entscheidend durch ihre physisch-militärische Bedrohlichkeit konnotierte „türkische Religion“, als der „Mahometismus“ wurde im Rahmen dieses Wahrnehmungsmu­ sters traktiert. Ein drittes Wahrnehmungsmuster der fremden Religion, das man als hermeneutisch-dogmatisch bezeichnen könnte, hatte in der Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift der Türken und der in ihr enthaltenen Lehren ihr Zentrum. Noch 1530 war Luther dieser Form der Auseinandersetzung mit Skepsis begegnet und hatte in Nikolaus von Kues Cribratio und Ricoldus’ Confutatio nichts anderes als polemische Verzeichnungen gesehen. Weil sie die „bona“, die im Koran enthalten seien, ignorierten, vermöchten sie niemanden zu überzeugen.44 Zwölf Jahre später, nachdem Luther Einblicke in eine Handschrift der lateinischen Koran-Übersetzung des Robert von Ketton zu nehmen Gelegenheit gehabt hatte, war er daran gegangen, Ricoldus’ Schrift eigenhändig, zum Teil auch eigenwillig, zu übersetzen, um damit eben jenes Verfahren, das er zunächst abgelehnt hatte, erneut ins Recht zu setzen.45 Luthers Ricoldus-Übersetzung46 ist als flankierende publizistische Aktion zu Biblianders Koran-Ausgabe von 1543 zu interpretieren. Die Widerstände des Basler Rates gegen den Druck waren schließlich durch Voten Luthers und Melanchthons niedergerungen worden.47 Die Überzeugung der Wittenberger, nichts könne den Vor43

  Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600 [Campus Historische Studien 35], Frankfurt/M., New York 2003. Meine Kritik an Höferts Methodik bezieht sich einerseits auf die von ihr praktizierte ‚Zertrümmerung‘ integraler Quellen, von denen vornehmlich die unter dem Gesichtspunkt der ethnographischen Information interessanten Fragmente in den Blick geraten, andererseits auf die inhärente modernisierungstheoretische Perspektive, die das ‚neue‘ ethnographische vom traditionellen häresiologischen Wahrnehmungsmuster unterscheidet und ersterem allein eine zukunftsweisende Bedeutung zuschreibt. Meines Erachtens sind die skizzierten Wahrnehmungsweisen in vielen Quellen untrennbar miteinander verbunden. 44   S. o. Anm.  13. 45   Vgl. zuletzt Ehmann, Luther, Türken und Islam, wie Anm.  11, S.  75 ff.; 445 ff. „Aber diese Fastnach [1542] hab ich den Alcoran gelesen Latinisch, doch seer ubel vertolmetscht, das ich noch wünschet einen klereren zusehn, so viel aber daraus gemarckt, das dieser Bruder Richard [d. i. Ricoldus de Montecrucis] sein Buch nicht ertichtet, Sonder gleich mit stimmet.“ WA 53, S.  272, 16–18. 46  Vgl. Ehmann, Ricoldus de Montecrucis, wie Anm.  13; Luthers 1542 unter dem Titel Verlegung des Alcoran Bruder Richardi Prediger Ordens erschienene Übersetzung ist ediert in: WA 53, S.  272– 396; vgl. auch Hartmut Bobzin, „Aber itzt .  .  . hab ich den Alcoran gesehn Latinisch .  .  .“ Gedanken Martin Luthers zum Islam, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen, Göttingen 2004, S.  260–276; ders., Koran, wie Anm.  47, S.  95 ff. 47   Die flankierenden Texte Luthers und Melanchthons liegen vor in: CR 5, Nr.  2616 in Verbindung mit Ernst Ludwig Enders, Martin Luthers Briefwechsel, Bd.  14, Leipzig 1912, Nr.  3142a,

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§  4  Religionshermeneutik

marsch der „türkischen Religion“ nachhaltiger behindern als eine Verbreitung des „verflucht, schendlich, verzweifelten buch [.  .  .] voller lugen, fabeln und aller grew­ el“48, hatte sich gegenüber der traditionellen Mentalität, häretische Texte zu vernichten, zu unterdrücken, jedenfalls nicht zu veröffentlichen, durchgesetzt. Für das 16. Jahrhundert bildete die dreibändige Basler Ausgabe, die neben dem Text des Korans auch eine kleine Bibliothek der wichtigsten, im Corpus Toletanum gesammelten sowie aktuellerer Schriften zur Religion Mohammeds enthielt, den maßgeblichen Thesaurus beinahe alles im Okzident verfügbaren Wissens zum Thema. Die von Ricoldus, dem Kuesaner und anderen praktizierte polemisch-apologetische Umgangsweise mit dem Koran, diesem einzelne Lehren und, mit sonstigem historisch-kulturellem Wissen über den Islam bereichert, dogmatische Aussagen zu entnehmen und mit christlichen Lehrsätzen zu konfrontieren, um diese dann nach allen Regeln der philosophischen und theologischen Vernunft zu widerlegen, ist im Protestantismus weitergeführt, aber zugleich auch methodisch sublimiert worden. Die wahrscheinlich konsequenteste Methodisierung der hermeneutisch-dogmatischen Umgangsweise mit dem Koran im Sinne des protestantischen Schriftprinzips stammt von dem württembergischen Theologen Lucas I. Osiander. Sein Bericht / was der Türken Glaub sei / gezogen aus dem türkischen Alcoran von 157049 zog aus Mohammeds Anspruch, die Propheten der jüdisch-christlichen Tradition als Vorläufer anS.  259 f.; MBW 3, Nr.  2973; WA 53, S.  561–572; WABr 10, Nr.  3802 (Luther an den Basler Rat, 27.  10. 1542), S.  161–163; Antwortbrief, dat. 8.  12. 1542, WABr 10, Nr.  3823, S.  217–219; grundlegend, auch zu allen die Basler Koranausgabe betreffenden Sachverhalten: Hartmut Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation [Beiruter Texte und Studien 42], Beirut 1995, S.  159 ff.; zu Bibliander instruktiv: Hans-Martin Kirn, Humanismus, Reformation und Antijudaismus. Der Schweizer Theologe Theodor Bibliander (1504/09–1564), in: Achim Detmers/J. Marius Lange van Ravenswaay (Hg.), Bundeseinheit und Gottesvolk. Reformierter Protestantismus und Judentum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts [Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 9], Wuppertal 2005, S.  39–58; s. unten Anm.  63. 48   WABr 10, S.  162,35 f. Luther setzt rhetorisch geschickt voraus, dass es nicht niedere Konkurrenzmotive zwischen den Basler Druckern sondern ehrenwerte religiöse Gesinnungen gewesen seien, die den Rat dazu bewogen hätten, den Druck zunächst zu verbieten. „Nu kann ich [sc. Luther] wol dencken, das ein erbar rat zu Basel dapffere ursachen haben müssen und vielleicht sorgen, es mochte ergerlich und ferlich sein, der Christenheit solche und dergleichen bucher auszulassen.“ WABr 10, S.  161,14–16. Seinen Einsatz für einen Korandruck in lateinischer Übersetzung begründet Luther folgendermaßen: „Mich hat das bewogen, das man dem Mahmet oder Turcken nichts verdrieslichers thun, noch mehr schaden zu fugen kann (mehr denn mit allen waffen) denn das man yhren alcoran bey den Christen an den tag bringe, darinnen sie sehen mugen, wie gar ein verflucht [.  .  .] buch es sei [.  .  .], welche die Turcken bergen und schmucken zu warzeichen [zum Beweis] ungern sehen, das man den alcoran ynn andere sprache verdolmetscht.“ WABr 10, S.  162,33–38. 49   Lukas Osiander, Bericht / Was der Turcken glaub sey / gezogen auß dem Türckischen Alcoran / sammt desselbigen Widerlegung .  .  ., Tübingen, Ulrich Morhart / W. 1570; VD 16 O 1182; Ex. MF (nach 1530) 1839 f. Nr.  3046; vgl. zu Lukas Osiander (1534–1604), der seit 1569 als Hofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart wirkte, Hermann Fischer, Art. Osiander, Lukas, in: RGG4, Bd.  6, 2003, Sp.  720 f.; DBETh 2, 2005, S.  1013 f.; zu Lukas Osiander in Auseinandersetzungen insbesondere mit Mitgliedern der Societas Jesu vgl. Kai Bremer, Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen Altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert [Frühe Neuzeit 104], Tübingen 2005, passim; s. auch Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm.  9, s. v. im Regi-

3.  Traditionelle Wahrnehmungsmuster

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zuerkennen, die hermeneutisch-apologetische Konsequenz, dass sich der Koran von seinen eigenen Voraussetzungen her an der christlichen Bibel messen lassen müsse. Denn Mohammed selbst habe ja etwa den Pentateuch als „Gottes Wort in seinem Gewissen erkannt und gehalten“; 50 daher seien alle maßgeblichen Lehraussagen des Korans gemäß den Grundsätzen lutherischer Schriftbindung an der Bibel bzw. an den aus der Bibel in den Koran eingegangenen Wahrheiten zu messen. Unter der Voraussetzung, dass die Bibel eine nach dem Anspruch des Korans anerkannte, wiewohl überbotene Offenbarungsurkunde sei, folgte das lehrkomparatistische Verfahren Osianders einer immanenten apologetischen Plausibilität. Von diesem Grundsatz her konnte Osiander, darin über die mittelalterliche Kontroversistik eindeutig hinausgehend, das Fehlen des Rechtfertigungsglaubens im Koran monieren51 und die Auseinandersetzung mit der „türkischen Religion“ an denselben methodischen Standards orientieren, die auch für die innerchristliche Kontroversistik galten. Allein von der Schrift her sei eine sachgerechte – die württembergischen Spezifika lutherischer Christologie wahrende52 – Widerlegung der „türkischen Religion“ möglich. Damit aber sollte die lutherische Auseinandersetzung mit dem Koran der kriteriologischen Uneindeutigkeit der römisch-katholischen Kontroversistik überlegen sein und zugleich vom „Expertenwissen“ der „Ethnographen“, der ehemaligen Sklaven und Reisenden, unabhängig gemacht werden. Die Kenntnis der Bibel und die Fähigkeit zu ihrer Auslegung schuf eo ipso die Gewissheit, dass „Mahomets lehr / in höchsten Stücken / daran unsere Seligkeit gelegen / nicht allein mit der wahren alten Propheten Lehr nicht stimmet / sondern derselben gänzlich zuwider / ja durch ermelte Prophetenschriften gewaltiglich umgestoßen wird [.  .  .].“53 ster; zu Osiander zuletzt: Sivert Angel, The Confessionalist Homiletics of Lucas Osiander (1534– 1604) [SMHR 82], Tübingen 2014. 50  Osiander, Bericht, wie Anm.  49, S.  5. 51   Als Quintessenz der Differenz eines muslimischen und eines christlichen Verständnisses des Glaubens formulierte Osiander: „Dann wann Mahomet von dem Glauben an Gott sagt so meint er anderst nicht / dann daß man glauben soll / daß ein einiger Gott sey / der den frommen des ewig leben und Paradiß / den bösen aber das höllisch Fewr gebe / Wie aber Gott umm Christi willen uns gnädig werde / davon weist und lehret er kein einig Wort. Und wann er schon sagt / man soll Chri­sto glauben / so meinet er doch nichts anders [.  .  .] dann allein / man soll glauben / daß Christus ein fürtrefflicher Prophet sey gewesen [.  .  .].“ Osiander, Bericht, wie Anm.  49, S.  86 f. 52  Osiander, Bericht, wie Anm.  49, S.  54 ff.; vgl. zum Kontext nur: Jörg Baur, Art. Ubiquität, in: TRE 34, 2002, S.  224–241, bes. 237 ff.; ders., Luther und seine klassischen Erben, Tübingen 1993; Hans Christian Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz [BHTh 89], Tübingen 1989; Theodor Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Probleme und Geschichte seiner Begründung, Gütersloh 1969; Walter Sparn, Art. Jesus Christus V, in: TRE 17, 1988, S.  1–16, bes. 4 ff. 53  Osiander, Bericht, wie Anm.  49, S.  14. Die maßgebliche Differenz zwischen der lutherisch-protestantischen Auseinandersetzung mit dem Islam und mit dem Judentum ist m. E. darin zu sehen, dass im Verhältnis zu den Juden für die Legitimität der eigenen Auslegung des Alten Testaments gegen seine jüdische Inanspruchnahme gekämpft wurde (s. in Bezug auf Luther: Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2 2013), während im Verhältnis zum Islam nicht um, sondern mit der und für die Bibel, d. h. für die

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§  4  Religionshermeneutik

4.  Zusammenfassende Schlussfolgerungen Welche allgemeineren Einsichten lassen sich aus diesen knappen Bemerkungen zum Umgang mit der „türkischen Religion“ für eine Verhältnisbestimmung der Türkendiskurse des 16. und des 15. Jahrhunderts gewinnen? 1. Die Reformatoren eigneten sich vorreformatorische Wissens-, Traditionsbestände und Wahrnehmungsmuster der „türkischen Religion“ mit größter Unbefangenheit an, wenn sich diese ihren spezifischen Interessenslagen integrieren ließen. Doktrinale Dissonanzen nahm man um weitergehenderer Ziele willen billigend in Kauf, gleichviel ob es sich um einen „testis veritatis“ wie Jan Hus54 oder um einen dominikanischen Ordenstheologen wie Georgius de Hungaria handelte. 2.  Für die Interpretation der jeweiligen Motive, die zu einer entsprechenden Aneignung führten, ist die Analyse der spezifischen historischen Mikrokontexte der Publikationsinitiativen unerlässlich. Luthers 1518 eher en passant getätigte Absage an einen Kreuzzug gegen die Türken, die durch die Aufnahme in die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine eine beträchtliche Publizität erreicht hatte55, stellte sich im Laufe der 1520er Jahre als politische und sozialpsychologische Hypothek der Reformation dar. Suleimans militärische Erfolgsserie – die Eroberung Belgrads (1521), die Einnahme von Rhodos (1522), schließlich – publizistisch enorm aufgeladen56 – die Schlacht von Mohac´s (1526) – wurden von altgläubiger Seite propagandistisch als Folge dessen ausgeschlachtet, dass Luther angeblich jedem Defensionsrecht gegenüber den Türken eine Absage erteilt hatte. Hinzu kam die in den radikalen Milieus der reformatorischen Bewegung ins Kraut schießende Türkenhoffnung.57 Müntzer hatte auch den Türken einen Zugang zum Glauben zuerkannt und die Initiierung der endzeitlichen „Veränderung“ durch die Osmanen erwartet.58 Sein Erbe Hans

Durchsetzung ihrer magistralen hermeneutischen Bedeutung im Verhältnis zum Koran, gerungen wurde. 54   Vgl. oben I, §  2. Zum Konzept der testes veritatis: Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 [SuR N.R. 37], Tübingen 2007, S.  294 ff. 55   In der im Sommer 1518 im Druck erschienenen Begründung seiner 95 Thesen [Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute] hat Luther in der Erläuterung der 5. Ablassthese angemerkt, dass der Türke eine göttliche Zuchtrute sei, also eine von Gott selbst verhängte Strafe exekutiere, die der Papst nicht vergeben könne (WA 1, S.  535,32 ff.); zur Aufnahme des entsprechenden Satzes in Exsurge Domine vgl. Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 6. völlig neu bearb. Aufl. von Kurt Aland, Bd.  1, Tübingen 1967, Nr.  789, S.  507; DS38, Nr. 1 484, S.  492; vgl. WA 7, S.  140,19 ff.; 443,5 ff. 56   Vgl. nur Göllner, Turcica, Bd.  1, wie Anm.  21, S.  131 ff., Nr.  233 ff. (zur Publizistik des Jahres 1526). 57  Vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  37 ff. 58   Vgl. nur: Günter Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  501,1 ff.; 430,31 ff.; 314,5 f. = ThMA 1, S.  423,19 ff.; ThMa 2, S.  333,5 ff.; ThMA 1, S.  371,3 ff.; vgl. auch Dieter Fauth, Das Türkenbild bei Thomas Müntzer, in: BThZ 11, 1994, S.  2–12; zu Münt-

4.  Zusammenfassende Schlussfolgerungen

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Hut59 und dessen Erbe Augustin Bader60 hatten diese chiliastische Hoffnung über den Bauernkrieg hinaus in die versprengten Kleinstgruppen des apokalyptischen Täufertums Oberdeutschlands gerettet. Das kleine Häuflein der Gerechten werde sich mit den Türken vereinen, die Herrschaft der Gottlosen beenden und das Tausendjährige Reich Christi heraufführen. Noch Johannes Brenz kämpfte in seinem Türkenbüchlein von 153761 gegen einen radikal-pazifistischen Rezeptionsstrang der frühreformatorischen Kritik am Kreuzzug, der insbesondere durch den Täuferführer Michael Sattler62 inauguriert worden war. Durch die Aufnahme und Verbreitung vorreformatorischer Türkenliteratur stellte sich die Wittenberger Reformation also konsequent in den Traditionskontext der lateineuropäischen christianitas, und zwar in doppelter Abgrenzung sowohl gegen die altgläubige als auch gegen die radikal­ reformatorische Herausforderung. 3.  Die Reformatoren haben jene Strategie, eine abgelehnte geistige oder religiöse Überlieferung dadurch zu bekämpfen, dass man ihre zentralen Texte veröffentlichte, nicht erfunden. In der Vorrede zu seiner Koranausgabe legitimierte Bibliander sein Unternehmen63, indem er historisch weit ausgriff: auf altkirchliche Konzilsbeschlüsse, die es Klerikern zur Pflicht gemacht hätten, sich mit Ketzereien zu beschäftigen, um diese zu widerlegen; auf Petrus Venerabilis, der im Zusammenhang seiner Übersendung der Koran-Übersetzung Robert von Kettons an Bernhard von Clairvaux dazu aufgefordert hatte, gegen die mohammedanische Häresie in Kenntnis ihrer heizer vgl. nur Gottfried Seebaß, Art. Müntzer, Thomas, in: TRE 23, 1994, S.  414–436; s. unten I, §  5 Anm.  130 ff. 59  Grundlegend: Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut [QFRG 73], Gütersloh 2002, hier bes. S.  216 ff. 60   Anselm Schubert, Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation [QFRG 81], Gütersloh 2008. 61   Johannes Brenz, Türcken Büchlein. Wie sich Prediger und Leien halten sollen / so der Türck das Deudsche Land uberfallen wurde, Wittenberg, G. Rhau 1537; VD 16 B 7988; Ex. MF (nach 1530) 95 Nr.  198, B 4v: „Das aber etliche dagegen [sc. ein Defensionsrecht gegenüber den Türken] schreien / eim Christen gebühre zu leiden / und sich nicht zu weren / wie die Widerteuffer und viel andere fürgeben / davon acht ich / habt ir aus andern schrifften gnugsam unterricht / wie Christus die Rach verboten / oder nicht verboten habe [.  .  .].“ Dieselbe innerreformatorische Diskussionslage setzt bereits der kursächsische Unterricht der Visitatoren (1528) voraus: „Es schreyen auch etliche Prediger frevelich vom Tuercken / Man sol dem Tuercken nicht widderstehen / Darumb das Rache den Chri­ sten verboten sey, Dis ist ein aufffrürerische rede / welche nicht sol gelitten odder gestattet werden.“ LuStA, S.  447,20–448,2 = WA 26, S.  228,33–35. 62  Vgl. Adolf Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1525–1536), Bd.  2, Berlin 1992, S.  1553,20 ff.; zum rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Sattler und den frühen, gegenüber einem Türkenzug ablehnenden Äußerungen Luthers vgl. WA 30/2, S.  94 Anm.  2 ; Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  59, S.  371; Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  206 Anm.  447; zu Sattler vgl. Hans-Jürgen Goertz, Art. Michael Sattler, in: NDB 22, 2005, S.  446 f.; DBETh 2, 2005, S.  1170; James M. Stayer, Art. Sattler, M., in: MennLex 5 [Lit.]. 63   Machumetis Saracenorum Principis. Eiusque Successorum Vitae, Ac doctrina, Ipseque Alcoran. .  .  . Hic adiunctae sunt Confutationes multorum .  .  ., [Basel, Joh. Oporin] 1543; VD 16 K 2584; Ex. HAB Wolfenbüttel T 624 Helmst 2o(1), a 1v; a 4r; a 5rff. Zu Biblianders Ausgabe wichtig und aufschlussreich: Christian Moser, Theodor Bibliander (1505–1564): Annotierte Bibliographie der gedruckten Werke [ZBRG 27], Zürich 2009, S.  8 –14; 111–165.

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§  4  Religionshermeneutik

ligen Schrift zu schreiben; auf das Vorbild der Humanisten im Umgang mit Quellen der heidnischen Religionsgeschichte und auf Reuchlins Eintreten für den Erhalt des Talmuds zum Zweck einer Refutation des Judentums.64 ‚Neu‘ also war das, was die Reformatoren im Verhältnis zur Irrlehre taten, nicht in qualitativer, sondern eher in quantitativ-entgrenzender Hinsicht. Denn nicht nur die Gelehrten, sondern jeder lesefähige Christenmensch sollte nun grundsätzlich instand gesetzt werden, sein Urteil zu bilden und sich auf einen persönlichen Entscheidungs- und Abwehrkampf gegen die „türkische Religion“ einzustellen. Die zahlreichen Türkenpredigten, die vor allem von Protestanten des späteren 16. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, lieferten basales Grundwissen zur „türkischen Religion“ in der Absicht, angesichts der befürchteten, ja für gewiss gehaltenen osmanischen Eroberung Mitteleuropas die Christen bei ihrem Glauben zu halten. Das reformatorische Theologoumenon des Priestertums aller Gläubigen, das die Dichotomie von clerici und laici aufhob65, stellt die Voraussetzung dieser publizistischen Intensivierung in der Verbreitung religionskulturellen Wissens über die „türkische Religion“ dar. Dass ein Text wie der Tractatus des Georgius de Hungaria nurmehr durch protestantische Druckpressen und besonders in der Volkssprache verbreitet wurde und die von dem cluniazensischen Abt Petrus Venerabilis veranlasste Übersetzung Robert von Kettons auf dem Index der verbotenen Bücher66 landete, war den schließlich konfessionstrennenden Tendenzen im Umgang mit fremdem Wissen geschuldet. Die Durchsetzungsdynamik der Reformation verdankte sich auch dem Umstand, dass es ihr gelungen schien, jenen Zustand zu überwinden, den Luther dadurch charakterisiert sah, daß „pfaffen, münich, leyen unternander feynder worden seyn, dan Türcken und Christenn“67. 4.  Im 15. und 16. Jahrhundert pluralisierten und differenzierten sich die Perspektiven auf die „türkische Religion“. Traditionelle Wahrnehmungsmuster wie das häresiologische starben nicht einfach ab; neuere wie das sogenannte ethnographische traten daneben. Andere wie die hermeneutisch-apologetische Perspektive im Umgang mit dem Koran wurden quelleneditorisch fundamentiert und methodologisch verfeinert. Die Pluralisierung der Perspektiven, das Zugleich von Persistenz und Innovation der Wahrnehmungsmuster, prägte im 16. und 17. Jahrhundert den Umgang mit der „türkischen Religion“ wie auch mit anderen Phänomenen. Die Reformation 64   Vgl. dazu nur: Hans Peterse, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert [VIEG 165], Mainz 1995; Arno Herzig/Julius H. Schoeps in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde (Hg.), Reuchlin und die Juden [Pforzheimer Reuchlinschriften 3], Sigmaringen 1993; Daniela Hocke/Bernd Roeck (Hg.), Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin und seine Zeit [Pforzheimer Reuchlinschriften 8], Stuttgart 2002. 65   Vgl. dazu nur: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, bes. S.  300 ff.; vgl. unten III, §  13; Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther [MThSt 46], Marburg 1997; Timothy J. Wengert, Priesthood, Pastors, Bishops. Public Ministry for the Reformation and today, Minneapolis 2008. 66  Vgl. Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Bd.  1, Bonn 1883, ND Aalen 1967, S.  137 Anm.  3. 67   WA 6, S.  354,11 f.

4.  Zusammenfassende Schlussfolgerungen

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hatte an diesen komplexen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Vorgängen teil, ja trug zur Pluralisierung der Perspektiven nicht zuletzt wegen der ‚Turkisierung‘ des jeweiligen konfessionellen Gegners entscheidend bei.68 Diese ‚Turkisierung‘ setzte in der reformationszeitlichen Publizistik frühzeitig ein und bestimmte die gegenseitigen Wertungsmuster der römisch-katholischen und der lutherischen Seite: Die Lutheraner stellten bei den „Papisten“ eine werkgerechte ‚Scheinheiligkeit‘ fest, die weit hinter den frommen und asketischen Leistungen der Muslime zurückbleibe. Und die Katholiken konstatierten bei den Lutheranern und den anderen Protestanten eine letztlich von dem Wittenberger Mönch inaugurierte sexuelle Hemmungslosigkeit, einen aufrührerischen Ikonoklasmus und eine Bereitschaft zu physischer Militanz, die es sonst nur beim „Türken“ gab. Die Lutheraner schließlich polemisierten gegen bestimmte doktrinale Eigenheiten der Reformierten in Bezug auf die Christologie und die Trinitätslehre, aber auch die Bilderfrage und andere Spezifika als „türkisch“. Angesichts der Intensität dieser wechselseitigen „Turkisierungsstrategien“ muss die Beschwörung des sogenannten „christlichen Abendlandes“ aus der Sicht des Reformationshistorikers als ideenpolitische Chimäre decouvriert werden.69 5.  Der kulturelle Zusammenhang zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert ist vielfältig und unübersehbar70 ; wenn die Epochentitulaturen „Spätmittelalter“ und „Reformation“ dazu führen, diesen Zusammenhang zu verunklaren, bedürfen sie der Kritik oder der Revision. Freilich besteht dieser kulturelle Zusammenhang des 15. und des 16. Jahrhunderts nicht trotz, sondern gerade wegen des Bruches, der mit Luthers Bannung durch die Papstkirche und der diese beantwortenden Exkommunikation der Papstkirche durch Luther gegeben war.71 Denn dieser Bruch nötigte diejenigen, die sich eine Reformation der Kirche im Sinne der Wittenberger zum Ziel gesetzt hatten, dazu, die Überlieferung insbesondere der lateineuropäischen christianitas zu revidieren und dasjenige als Erbe anzueignen, dem man selbst Geltung zuzuerkennen willens war. Insofern wurde die Reformation auch eine entscheidende Instanz zur Vermittlung des Mittelalters an das konfessionelle Zeitalter und die Neuzeit. Dass die historischen Ausmaße jenes Bruches, der seit 1520 durch die okzidentale Christenheit ging, sich in eben jener Zeit auszuwirken begannen, in der die Osmanen 68

  Vgl. dazu Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  1, S.  42 ff.; 174 ff.   Dass der Abendlandsdiskurs insbesondere vor dem Hintergrund seiner neuerlichen Hochkonjunktur nach dem 2. Weltkrieg (vgl. die Hinweise in: Oskar Köhler, Art. Abendland, in: TRE 1, 1977, S.  17–42, hier: 19) der dringenden Selbsthistorisierung bedarf, kann man sich an den Revisionsdebatten der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (vgl. bes. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 [dtv 4597], München 1989, S.  21 ff.) vergegenwärtigen. 70   Vgl. dazu Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm.  9, S.  7 ff.; ders. Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  20 ff. 71  Vgl. Thomas Kaufmann, Martin Luther [bsr 2388], München 22010, S.  53; ders. Geschichte der Reformation, wie Anm.  2, S.  286 ff. 69

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§  4  Religionshermeneutik

Europa bedrohten wie niemals zuvor – im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts – ist alles andere als eine zufällige Synchronie. Ohne die Türken hätte die Reformation schwerlich überlebt. Denn der Druck Suleimans auf die Habsburger nötigte Karl V. und Ferdinand zu Kompromissen mit den protestantischen Reichsfürsten, die im Ergebnis die Reformation politisch sicherten.72 Ohne das Gottesgericht, das man in den militärischen Erfolgen der Osmanen über die christianitas niedergehen sah, hätte wohl auch der reformatorischen Theologie und ihrer grundstürzenden Kritik am bestehenden Kirchenwesen ein wichtiger rezeptionsgeschichtlicher Nährboden gefehlt. Ohne die Erfolge der Türken aber wäre es auch weniger dringlich gewesen, das, was Christsein hieß, jedem Christenmenschen katechisierend nahezubringen und ihn so vor den Versuchungen der „türkischen Religion“ zu schützen. Sollte man also in einem historisch umfassenden, durchaus anspruchsvollen Sinne formulieren: Ohne Türken keine Reformation?73

72  Vgl. nur Stephen A. Fischer-Galati, Ottoman Imperialism and German Protestantism 1521–1555, Cambridge 1959; Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, München 1978; zur Virulenz der Türkenfrage in den politischen Diskursen des Reichs vgl. Alexander Schmidt, Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648) [SMRT 126], Leiden u. a. 2007, S.  251 ff. 73  In der ‚altgläubigen‘ Chronistik spielte der sprichwörtlich verdichtete Umstand, dass der „Türk“ „der Lutherischen Glück“ sei, offenbar eine nicht unwichtige Rolle, vgl. Martin Hille, Providentia Dei, Reich und Kirche. Weltbild und Stimmungsprofil altgläubiger Chronisten [SHKBA 81], Göttingen 2010, S.  287 ff., bes. 294.

§  5  Politiktheorie: Theokratische Konzeptionen in der spätmittelalterlichen Reformliteratur und in der Radikalen Reformation 1.  Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise Die Anwendung des Begriffs der ‚Theokratie‘ auf die sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen der lateineuropäischen christianitas des 15. und 16. Jahrhunderts ist in der einschlägigen Wissenschaftsterminologie nicht sehr üblich und im Ergebnis ambivalent. Wenn der Begriff etwa verwendet wird, um Thomas Müntzers Agitation zugunsten einer „kommunal- oder demokratisch-theokratisch struk­tu­rier­ te[n] Gesellschaft“1 zu bezeichnen oder um die universal-monarchisch konzipierte Täuferherrschaft in Münster zu qualifizieren2 und schließlich gewählt wird, um das stadtrepublikanische Regiment Zürichs in der Sicht und unter dem Einfluss Zwinglis zu beschreiben3, dann verdeutlicht allein dieser Befund, dass politik- und verfassungstheoretisch sehr heterogene, hinsichtlich ihrer politischen Praxis völlig inkom1

  Hans-Jürgen Goertz, Apokalyptik in Thüringen. Thomas Müntzer – Bauernkrieg – Täufer, in: Ders., Radikalität der Reformation [FKDG 93], Göttingen 2007, S.  97–118, hier: 113. 2   Ralf Klötzer, Die Täuferherrschaft von Münster. Stadtreformation und Welterneuerung [RGST 131], Münster 1992, S.  39 u. ö. 3  Vgl. Robert C. Walton, Zwingli’s Theocracy, Toronto 1967, der besonders herausgearbeitet hat, dass der Auseinandersetzung mit seinen frühen, sich radikalisierenden Parteigängern eine entscheidende Bedeutung für die Ausbildung seiner „staatskirchlichen“ Position zukam; demgegen­ über macht Thomas A. Brady, Göttliche Republiken: die Domestizierung der Religion in der deutschen Stadtreformation, in: Peter Blickle/Andreas Lindt/Alfred Schindler (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S.  109–136, der sich freilich in dieser Hinsicht in weitgehender Überstimmung mit der einschlägigen Stadtreformationsforschung befindet (vgl. dazu aber: Moeller, Reichsstadt und Reformation, wie Anm.  8, S.  95, der in Bezug auf Zwingli von „Theokratie“ im Sinne eines „Idealbild[es] des vom Heiligen Geist geleiteten kirchlich-bürgerlichen Gemeinwesens“ spricht; zur Stadtreformationsforschung instruktiv: Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung [EdG 74], München 2005, S.  93 ff.), keinen nennenswerten Gebrauch von dem Begriff „Theokratie“, ja, problematisiert ihn vor dem Hintergrund der lateineuropäischen Distinktion von imperium und sacerdotium (etwa S.  110). Berndt Hamm hat in Bezug auf Zwingli von „seiner Grundkonzeption der Theokratie des freien Gotteswortes und des frei wirkenden Gottesgeistes“ gesprochen und damit die unauflösliche Verbindung von Gotteswort und Politik zum Ausdruck gebracht: „Immer sah er [sc. Zwingli] die Politik des Rates und der evangelischen Eidgenossen nur legitimiert durch Dienstbarkeit gegenüber Gottes Wort.“ Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, S.  9.

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§  5  Politiktheorie

mensumerable Phänomene als ‚theokratisch‘ bezeichnet werden. Auch die Dynamisierung des Begriffs4 im Sinne spezifischer Konfigurationen von Herrschaft und Heil in den monotheistischen Religionen hilft dem Historiker des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit kaum weiter, da der „Rückgriff auf göttlich fundierte Normen, an denen gesellschaftliche und politische Zustände gemessen werden konnten“5, in seiner Epoche allenthalben eine Rolle spielt, ja ubiquitär präsent ist. Ob in Fürstenspiegeln oder Polizei- und Kirchenordnungen, in Landtags- und Ratspredigten, ständeethisch stratifizierter Hausväterliteratur oder theoretischen und konfessorischen Texten zur res publica christiana6 – in irgendeiner Form sei es fundierender, sei es regulierender Argumentation werden in all diesen Gattungen religiöse Normen aktualisiert oder erinnert, ihre unverbrüchliche Geltung behauptet oder postuliert. Nicht zuletzt die mit dem gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Fundamentalvorgang der Konfessionalisierung in Verbindung gebrachte „christianisation“ der christlichen Gesellschaften in einem alle kirchlichen Christentumsformationen gleichermaßen erfassenden Reform- bzw. Reformationsprozess7 ging – 4  Vgl. Jan Assmanns (Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München, Wien 2003, bes. S.  70) Beschreibung der Simultaneität der „Unterscheidung von Herrschaft und Heil“ und ihrer „verschärften Verbindung“. „[.  .  .] auch im Umkreis des frühjüdischen, christlichen, und ganz besonders des islamischen Monotheismus kam es immer wieder zu vergleichbaren Zwangsvereinigungen – im Sinne der Theokratie, des byzantinischen Cäsaropapismus oder der weltlichen Herrschaft geistlicher Führer. Immer wieder, wenn der Monotheismus aufhörte, eine politische Widerstandsbewegung zu sein und sich als herrschende Ordnung etablierte, schlug seine politische Theologie leicht von Staatskritik in Staatslegitimierung um.“ 5   Kai Trampedach/Andreas Pecˇ ar, Theokratie und theokratischer Diskurs, in: Dies. (Hg.), Theokratie und theokratischer Diskurs [Colloquia historica et theologica 1], Tübingen 2013, S.  1–17, hier: 6. Das im Kontext dieses Bandes vertretene Konzept von „Theokratie“ hat Parallelen zu dem von beiden Autoren vorgestellten Interpretament des ‚Biblizismus‘ (vgl. Andreas Pecˇ ar/ Trampedach, Der „Biblizismus“ – eine politische Sprache der Vormoderne? In: Dies. [Hg.], Die Bibel als politisches Argument [HZ, Beih. 43] München 2007, S.  1–18), die jeweils der epochenspezifischen Historisierung bedürfen. 6   Vgl. dazu die Arbeiten von Luise Schorn-Schütte, bes.: Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, S.  86 ff.; dies., Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S.  273–314; dies., Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500–1789 [utb 8414], Paderborn u. a. 2009, S.  282 ff.; 351 ff. 7   Dies ist die Perspektive von Scott H. Hendrix, Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville, London 2004. Dass sich mein eigenes Konzept von ‚Reformation‘ von der extensiven Ausweitung des Begriffs etwa bei Hendrix oder Diarmaid MacCulloch (Die Reformation 1490–1700, München 2008; s. dazu: Thomas Kaufmann, „History is good at confounding and confessing labelers.“ – „Die Geschichte versteht es meisterlich, Schlagwortexperten zu irritieren und zu verwirren.“ Zu Diarmaid MacCullochs „Reformation“, in: ARG 101, 2010, S.  305–320) grundsätzlich unterscheidet, sei hier lediglich angedeutet (Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010); s. auch oben §  1. Zum Interpretationskonzept der das 15. und 16. Jahrhundert verbindenden ‚normativen Zentrierung‘ vgl. Berndt Hamm, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozess normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, S.  7–82; ders., Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Ders., Lazarus Spengler, wie Anm.  10, S.  313–347; ders., The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety, hg. von Robert J.

1.  Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise

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darin dürfte ein Konsens der Forschung bestehen – mit einer forcierten Inanspruchnahme als infallibel gesetzter Normen biblischer oder rechtlicher Art einher, die im Sinne von Andreas Pecˇ ar und Kai Trampedach als ‚theokratisch‘ zu bezeichnen wäre. Der Auf- und Ausbau religiös homogener städtischer oder territorialer corpora christiana „im kleinen“8, der insbesondere für die deutsche Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts charakteristisch sein dürfte, basierte auf religiösen Normen, die in der Regel als fundamental galten, alternative konfessionelle, religiöse oder weltanschauliche Ordnungs- oder Sinnsysteme prinzipiell ausschlossen, die Infragestellung dieser Normen inkriminierten und – etwa als Blasphemie9 – mit aller gebotenen Härte strafrechtlich sanktionierten. Eine Stimme wie die des Nürnberger Kanzleischreibers Georg Frölich (Laetus), der im Kontext einer Toleranzdiskussion des Jahres 1530 die Auffassung vertreten hatte, dass auch eine religiös plurale Gesellschaft lebensfähig sein könne10, war – soweit ich sehe – im Reich außerhalb der gemeinhin Bast [SHCT 110], Leiden u. a. 2004; Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hg.), Normative Zentrierung / Normative Centering [Medieval to Early Modern Culture 2], Frankfurt/M. u. a. 2002. 8   Der Begriff wurde – bezogen auf die deutsche Stadt des Spätmittelalters – in die neuere Diskussion eingeführt von Bernd Moeller (Reichsstadt und Reformation, bearb. Neuausgabe Berlin 1987, S.  15 = Neuausgabe, hg. von Thomas Kaufmann, Tübingen 2010, S.  51; vgl. 89; 114 f. sowie in meiner Einleitung S.  8 ; 32); Horst Rabe hat ihn – wie schon Ernst Wolf (Luthers Erbe? In: Ders., Peregrinatio, Bd.  2, München 1965, S.  52–81, hier: 57) – auf die territorialen Kirchentümer der Reformationszeit bezogen (Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600, München 1991, S.  71); zur wissenschaftsgeschichtlichen Problematik des Begriffs ‚corpus christianum‘ vgl. Thomas Kaufmann, Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ZThK 105, 2008, S.  281–314, hier: 287 ff. [Lit.]. 9   Gerd Schwerhoff, Zeugen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650 [Konflikt und Kultur – Historische Perspektiven 12], Konstanz 2005 (zum wachsenden normativen Engagement in Bezug auf die Blasphemiegesetzgebung im 15. Jahrhundert, insbesondere im städtischen Bereich: S.  132 ff.; zum Konfessionsstaat des 16. Jahrhunderts a.a.O., S.  147 ff.); ders., Blasphemare, dehonestare et maledicere Deum. Über die Verletzung der göttlichen Ehre im Spätmittelalter, in: Klaus Schreiner/ders. (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [Norm und Struktur 5], Köln, Weimar, Wien 1995, S.  252– 278; am Beispiel der Zürcher ‚Theokratie‘ vgl. Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen [VMPIG 177], Göttingen 2002, S.  113 ff.; zur theologisch-konzeptionellen Ebene bes. S.  123 ff. [engl. Übers. Aldershot 2009]. 10   In dem anonymisierten Gutachten heißt es: „Sind doch nu ob hundert jaren im Konigreich Behem Juden und sonst wol dryerlai glauben gewest, und haben dennoch ire konig eusserlich frid erhalten und aufrur von des glauben wegen verhutet. Auch wer die historien seydher christi geburt kundig ist, halt ich, wird bekennen mussen, das gewonlich die kaiser und oberhaiten, die mit dem schwert in des glaubens sachen gehandelt, weyt mer aufrurs und unruwe gehaßt weder die andern, die sich des nit angenomen und die lere des glaubens einem yeden frey gelassen haben.“ Zit. nach der Edition des an Lazarus Spengler gerichteten Schreibens bei Martin Brecht, Ob ein weltlich Obrigkeit Recht habe, in des Glaubens Sachen mit dem Schwert zu handeln. Ein unbekanntes Nürnberger Gutachten zur Frage der Toleranz aus dem Jahre 1530, in: ARG 60, 1969, S.  65–75, hier: 74; ders. u. a. (Hg.), Johannes Brenz, Frühschriften Teil  2, Tübingen 1974, S.  517–528, hier: 525,39– 526–3; abgeglichen mit der Neuedition in: Berndt Hamm/Felix Breitling/Gudrun Litz/Andreas Zecherle (Hg., Bearb.), Lazarus Spengler, Schriften, Bd.  3 : Schriften der Jahre Mai 1529 bis März 1530 [QFRG 84], Gütersloh 2010, hier: S.  389,7–13. Die Zuschreibung des gutachterlichen

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§  5  Politiktheorie

der Radikalen Reformation zugeschriebenen Milieus völlig randständig und hat nur in einer der mir bekannten spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Religionsverfassungen eine Parallele: derjenigen der „nova insula Utopia“11 nämlich. Freilich zielen diese Bemerkungen nicht darauf ab, die Verwendung des Theokratie-Begriffs in Bezug auf das späte Mittelalter und die Reformationszeit grundsätzlich zu desavouieren, sondern ihn epochenspezifisch zu kontextualisieren und zu profilieren. Als ‚theokratisch‘ bezeichne ich deshalb in Bezug auf das 15. und 16. Jahrhundert diejenigen Herrschafts- und Gesellschaftskonzeptionen und politischkulturellen Praktiken, die auf eine widerspruchsfreie Identität von Religion und Politik, göttlichen Normen und gesellschaftlichem Handeln abzielten, mithin die Textes an Frölich ist Berndt Hamm zu danken, vgl. ders., Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation [SuR N. R. 25], Tübingen 2004, S.  271 ff. (hier eine Interpretation des Textes im Rahmen der Nürnberger Diskussion; s. auch Spengler, Schriften, Bd.  3, wie oben, S.  365 ff.). Frölich war konkret für die Duldung von Juden und Täufern und die Tolerierung ‚reformierter‘ Positionen eingetreten, vgl. dazu auch Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011, S.  150 f. 11   De optimo reip. statu, deque nova insula Utopia, libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus, clarissimi dissertissimique viri Thomae Mori inclytae civitatis Londonensis civis & vicecomitis. Basel, Joh. Froben 1516; VD 16 M 1699; kritische Edition: Edward Surtz/J. H. Hexter, The complete works of St. Thomas More, Bd.  4, New Haven/Conn. 1965, S.  220,7–29; dt. Übersetzung in: Klaus J. Heinisch (Übers., Hg.), Der utopische Staat, Reinbek 1982, S.  98. Der mythische Staatsgründer Utopos hatte die definitive Festlegung auf eine Religion abgelehnt, da er sich nicht sicher war, ob Gott nicht vielleicht gerade eine mannigfache und vielfältige Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke. Auf jeden Fall hielt er es für anmaßend und töricht, mit Gewalt und Drohungen zu erzwingen, dass das, was einer für wahr hält, allen so erscheine. Ebd. Eine mit Gewalt durchgesetzte religiöse Wahrheit würde die Religion, selbst wenn sie die wahre wäre, korrumpieren. Lediglich expliziter Atheismus und die Leugnung der Providenz und der Unsterblichkeit der Seele stehen in Utopia unter Strafe. Zur utopischen Literatur des Mittelalters bzw. den literarischen Vorbildern und Mustern und der politikgeschichtlichen Bedeutung des Morus s. Dietmar Herz, Zwei Wahrheiten. Zur Interpretation von Thomas Morus’ Utopia, in: Der Staat 32, 1993, S.  1–28 [Lit.]; zur Geschichte der Rezeption der „Utopia“, freilich vor allem im englischsprachigen Bereich und in der Neuzeit, instruktiv: Jenny Kreyssig, Die Utopia des Thomas Morus. Studien zur Rezeptionsgeschichte und zum Bedeutungskontext [EHS.R 3/374], Frankfurt/M. u. a. 1988; Alfred Doren, Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–25, Leipzig/Berlin 1927, S.  158–205; Otto Gerhard Oexle, Wunschräume und Wunschzeiten. Entstehung und Funktionen des utopischen Denkens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne, in: Jörg Calliess (Hg.), Die Wahrheit des Nirgendwo. Zur Geschichte und Zukunft des utopischen Denkens [Loccumer Protokolle 12/93], Rehberg-Loccum 1994, S.  33–83, der auch aufschlussreiche wissenschaftsgeschichtliche Befunde zum Wandel des Utopiebegriffs vorstellt und die vor-frühneuzeitlichen Wurzeln utopischen Denkens aufzeigt; Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter [Freiburger Mediävistische Vorträge 1], Basel 2008, bes. S.  31 ff.; in literaturwissenschaftlicher Perspektive: Hans Rudolf Velten, Utopien im 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa, in: Werner Röcke/Marina Münkler (Hg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit [Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1], München, Wien 2004, S.  529–571. Für den thematischen Zusammenhang von rationaler Lebensplanung, Reformationsprogrammatik und gesellschaftlichen Entwürfen der Auserwählten sind die unter dem Begriff der Utopie gebündelten Forschungen von Ferdinand Seibt anregend: Utopica. Modelle totaler Sozialplanung, Düsseldorf 1972.

1.  Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise

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Ordnung bzw. die Gerechtigkeit Gottes unmittelbar zu realisieren versuchten und prinzipiell universale Geltung beanspruchten. Prognostisch-astrologische und apokalyptische Denkformen fungierten in Spätmittelalter und Reformation häufig als Stimulans theokratischer Vorstellungen, bildeten aber kein integrales Element derselben. Normative sozialethische Leitkonzepte wie der „gemeine Nutzen“, das „göttliche Recht“ oder die „göttliche Gerechtigkeit“ und Lebensordnungen wie die Ehe spielten in den theokratischen Konzeptionen des 15. und 16. Jahrhundert eine zentrale Rolle; sie bezeugen, dass die theokratischen Vorstellungen mit den allgemeinen sozio-kulturellen Standards der Zeit engstens verbunden waren und die theokratischen Idealbilder einer Gesellschaft Auffassungen, Werte und Normen repräsentierten und verdichteten, deren Geltung als Gemeingut betrachtet werden kann. Den theokratischen Konzeptionen eignet ein Zug zur Vereinheitlichung, Vereinfachung und Entdifferenzierung einer vorfindlichen und negativ beurteilten komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit: Der Spaltung der Gesellschaft in Kleriker und Laien etwa wird mit dem Modell des einen christlichen Standes begegnet, der einem einheitlichen Ethos unterliegt und zu einer einheitlichen ehelichen Lebensform verpflichtet ist; soziale, ständische und ökonomische Hierarchisierungen der Gesellschaft werden durch harmonistisch-egalitäre, häufig ausgeprägt agrarisch strukturierte Gesellschaftsentwürfe konterkariert, in denen handelskapitalistische Praktiken und Wucherei obsolet geworden sind und ein transparentes Münzwesen vor betrügerischen Praktiken schützt; geblütsrechtlich-dynastische Herrschaftselemente sind in der theokratischen Ordnung abgeschafft; sofern politisch-prophetische Herrschaftspositionen nicht charismatisch legitimiert werden, spielen Wahlvorgänge bei der Übertragung eines Amtes, auch dem des Kaisers, eine wichtige Rolle. In der theokratischen Ordnung ist die Würde jedes männlichen Bewohners prinzipiell gleichwertig; sofern ein Wahlkaisertum besteht, hemmen keinerlei Barrieren den vertrauten Umgang etwa des Bauern mit dem Kaiser; sofern eine Geistlichkeit vorgesehen ist, ist sie absetzbar, verfügt also über keinen sakramentalen character indelebilis und ist jeder ständischen Privilegierung enthoben. Den theokratischen Konzepten des späten Mittelalters und der Reformationszeit haftet eine zum Teil militant antiklerikale Tendenz an; die Sittenlosigkeit, der finanzielle Eigennutz, die Überordnung der Kleriker über die weltlichen Stände sind die vornehmsten Kritikpunkte. Als soziale Gruppe von Herrschaftsträgern oder Teilhabern an Herrschaft hat der Klerus in den spätmittelalterlich-reformationszeitlichen theokratischen Konzepten ausgedient; ja, die Theokratie beendet eine als unsittlich, willkürlich und insofern unerträglich erlebte Priesterherrschaft. Auch das kanonische Recht verliert als eigenständiges Rechtssystem seine Bedeutung; das göttliche Recht wirkt unmittelbar über inspirierte Rechtspraktiker und bedarf der Kodifikation in der Regel nicht. Gelehrte juristische Differenzierungskunst, von der man voraussetzt, dass sie bisher ohnehin nur den Starken und Mächtigen zugute kam, verliert in der theokratischen Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit ihre Funktion.

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§  5  Politiktheorie

Die theokratischen Imaginarien des 15. und 16. Jahrhunderts waren auch Gegenentwürfe zu einer immer komplizierter gewordenen Welt, harmonistische Simplifikationen, soziale Tagträume von einem gerechten Hirten, der die eine treue Herde weidet, regressive Eskapismen, die freilich sozialrevolutionäres Potenzial in sich bargen. In Bezug auf das Zustandekommen oder die Beförderung der theokratischen Ordnung kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass weder eine göttliche Initiierung, noch eine menschliche Gestaltung je für sich als hinreichend vorgestellt werden. Es ist das Zusammenspiel der sich sukzessive angleichenden göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit, der concursus von innerlicher Läuterung und äußerlicher Handlung, die imitative Kooperation von Gott und Mensch, die die theokratische Ordnung heraufführen und ihren Bestand verbürgen soll. Den Anfang bildet nicht selten ein freilich vom Gottesgeist inspirierter Bundesschluss einer theokratischen Avantgarde, die an der großen „Veränderung“ – einem Schlüsselbegriff in den Quellen theokratischen Denkens – teilnimmt, sie heraufführt und die neue Ordnung in einigen ihrer Aspekte – etwa der Gütergemeinschaft – schon jetzt zu praktizieren beginnt. Diese ersten motivisch-phänomenologischen Hinweise lassen bereits ein Problem anklingen, mit dem es die Erforschung theokratischer Konzeptionen des 15. und 16. Jahrhunderts entscheidend zu tun hat. Denn Spurenelemente theokratischen Denkens begegnen mannigfach: der ‚gemeine Mann‘, der Adel und Klerus mores lehrt, Gesetze erlässt, Inversionsrituale vollzieht und zum König aufsteigt – auf den Motivfeldern der verkehrten Welt12, aber auch in den Imaginarien der weisen Einfalt und der törichten Gelehrsamkeit in der reformatorischen Dialogliteratur13, im Märchen und sogar als real-existierender Prediger14 ist er gleichermaßen präsent. Die gerechte 12

 Vgl. in Bezug auf den Bundschuh: Claudia Ulbrich, Der Untergrombacher Bundschuh 1502, in: Peter Blickle/Thomas Adam (Hg.), Bundschuh: Untergrombach 1502, das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas, Stuttgart 2004, S.  31–52, hier: 46; vgl. zum Kontext: Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt, Frankfurt/M. 1987, S.  106 ff.; Emmanuel le Roy Ladurie: Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579–1580 [dtv 4498], München 1989, S.  98 ff.; Robert W. Scribner, Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London, Ronceverte 1987, S.  17–47; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  7, S.  359 ff. 13   Vgl. die Hinweise von Albrecht Dröse, Anfänge der Reformation, in: Röcke/Münkler, Literatur, wie Anm.  11, S.  198–241, bes. 219 f.; Ninna Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur, Leiden u. a. 1988; Hans-Joachim Köhler, „Der Bauer wird witzig“. Der Bauer in den Flugschriften der Reformationszeit, in: Peter Blickle (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Zürich 1987, S.  187–218; als Sammlung hilfreich: Rudolf Bentzinger (Hg.), Die Wahrheit muss ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation, Frankfurt/M. 1983; zur Übersicht über das Material: Alejandro Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachgebiet veröffentlichten Dialog-Flugschriften, in: ARG 88, 1997, S.  77–117. 14   Vgl. nur: Eberhard Gothein, Politische und religiöse Volksbewegungen vor der Reformation, in: Ders., Schriften zur Kulturgeschichte der Renaissance, Reformation und Gegenreformation, hg. von Ernst Salin, Bd.  2, München, Leipzig 1924, S.  1–96, hier: 11 ff. (Hans Böheim u. a.); S.  70.72 (ein Müller); vgl. auch: Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeiten-

1.  Terminologische Annäherungen und phänomenologische Hinweise

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Nutzung von Teichen, Wäldern, Flüssen, Jagdgebieten – sie bestimmt das theokratische Denken genauso wie die programmatischen Forderungen der Bauern im Kontext der spätmittelalterlich-reformationszeitlichen Bauernerhebungen. Und die Vision der einen christlichen Gesellschaft, in der „alle Christen“15 geistlichen Standes seien, weil sie „eine tauff, ein Evangelium, eynen glauben haben, unnd seyn gleyche Christen, den[n] die tauff, Evangelium und glauben, die machen allein geistlich und Christen volck“16 – Leitbilder mithin der einen Christenheit auf Erden, die die trennende Todfeindschaft zwischen Klerus und Laien überwindet17 – diese an theokratische Vorstellungen erinnernde Vision Luthers begegnet in seinem reformatorischen Programmtext An den christlichen Adel deutscher Nation, dem eine grundstürzende politische Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse völlig fern lag und der doch auf seine Weise illustriert, dass man es bei Motiven aus theokratischen Ordnungsvorstellungen mit fließenden mentalen, textuellen und politischen Übergängen zu tun hat: Übergängen zwischen Zeit und Endzeit, Gesellschaftsentwurf und Utopie, Wunschbild und revolutionärem Programm, Fiktion und tätiger Wirklichkeit, Gesellschaftskritik und Größenwahn. Der Ort des theokratischen Denkens und Handelns ist die Grenze. Im Folgenden soll von theokratischen Konzeptionen in drei unterschiedlichen ‚Aggregatzuständen‘ die Rede sein: a) Theokratie als theoretische Konzeption, als Gegenentwurf einer bestehenden Gesellschaft (2.); b) Theokratie als Handlungsmodell, als revolutionäre Praxis (3.) und c) Theokratie als verwirklichte Ordnung, als Gestalt eines empirischen Gemeinwesens (4.). Es versteht sich von selbst, dass diese drei ‚Aggregatzustände‘ des Theokratischen nicht strikt gegeneinander abgrenzbar sind, sondern eher im Sinne gewisser Tendenzen verstanden werden sollen: Der erste Aspekt impliziert scharfe Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die in der bevorstehenden theokratischen Ordnung überwunden sein werden. Nicht immer eindeutig ist, ob die theokratische Konzeption als Menetekel einer drohenden Veränderung fungiert, die dann gleichsam mit Notwendigkeit eintreten wird, wenn sich die herrschenden Stände einer gründlichen Reform an Haupt und Gliedern verweigern, oder ob bereits an die Mobilisierung jener Kräfte gedacht wird, die die Veränderung herbeiführen werden. Der Übergang des ersten zum zweiten ‚Aggregatzustand‘ ist also fließend. Ebenso der des zweiten zum dritten: Denn die jetzt beginnende Veränderung im Sinne des Aufbaus einer theokratischen Ordnung verhält sich zu ihrer Verwirklichung, die uns am Beispiel des Münsteraner ‚Täuferreichs‘ beschäftigen soll, insofern und solange wende, Stuttgart 61959, S.  435 ff.; zu Hans Böheim s. Arnold, Niklashausen 1476; wie Anm.  91; ders., Neues, wie Anm.  91. 15   WA 6, S.  407,13. 16   WA 6, S.  407,17–19. 17   Vgl. dazu unten III, §  13.

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§  5  Politiktheorie

uneindeutig, als unklar bleibt, ob und inwiefern die theokratische Praxis besonders qualifizierter, also erwählter Menschen von divinen Impulsen und Initiativen zielleitend unterstützt, das Menschen- also durch Gotteswerk vollendet werde. In allen drei ‚Aggregatzuständen‘ der theokratischen Konzeptionen allerdings ist „Veränderung“, ein etwa für Luther bedrohliches und böses Wort18, positiv konnotiert.

2.  Theokratie als theoretische Konzeption Ohne die komplexe Frage nach Tendenz und Bedeutung der Reformatio Sigismundi, die in der Forschung zwischen von Bezolds Beurteilung als „Trompete des Bauernkriegs“19 und Boockmanns zurückhaltender Einschätzung ihrer Wirkung und der Deutung als Reformschrift der Seelsorge20 oszilliert, in diesem Rahmen aufnehmen 18  Charakteristisch ist etwa Luthers Eröffnung seiner Deutung des Freiberger Mönchskalbs (1523): Gott gebe „durch ein groß unfall und verenderung“ das Zukünftige zu „verstehen“. „Denn der zeichen bißher vil auff einander fallen und gleych alle wellt in einer grossen woge steht. Die on grossen wandel nicht kann abgehn, Datzu das Evangelische Liecht so helle auffgangen, welchem alle mal groß verenderung umb der ungleubigen willen gefolget hatt.“ WA 11, S.  360,6 f.10–13, vgl. auch: WA 24, S.  160,12; WA 33, S.  606,7; WA 45, S.  281,35; WA 13, S.  241,4; WA 38, S.  193,18. Zur in der Regel positiven Bewertung von „Veränderung“ oder „Wandlung“ bei den Repräsentanten der sog. ‚Radikalen Reformation‘ vgl. etwa: Schelle-Wolff, Erwartung, wie Anm.  158, S.  195 ff.; 429 ff.; Seebaß, Müntzer Erbe, wie Anm.  167, S.  342 ff.; Deppermann, Hoffman, wie Anm.  168, S.  226 ff. Thomas Müntzer rekurriert auf die endzeitliche Geistausgießung (Joel 3,1 f.), die neben Dan 2 eine „voranderung der weldt“ beweise. „Er wil sie in den letzten tagen anrichten, das sein nam sol recht gepreiset werden. Er will sie von yrer schande entledigen und will seinen geist uber alles fleisch ausgiessen [.  .  .].“ Franz, Müntzer, wie Anm.  130, S.  255,16–19. Für Müntzer ist die „voranderung der welt itzt vor der thör“ (a.a.O., S.  420,26 f.: Müntzer an Hans Zeiß, 22.  7. 1524 = Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch [Bearb.], Thomas Müntzer Briefwechsel [ThMA 2], Leipzig 2010, S.  314,2 f.), was für ihn auch an dieser Stelle aus Dan 2 hervorgeht. Auf die Differenzen zwischen lutherischem und radikalreformatorischem Umgang mit dem semantischen Feld von „Veränderung“ bzw. mutatio habe ich bereits hingewiesen in meinem Buch: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, S.  38 ff.; vgl. 418 ff.; vgl. auch mein „Türckenbüchlein“, wie Anm.  160, S.  47; 194; 94 f.; 201; 207. 19  Bei Friedrich von Bezold, Die „armen Leute“ und die deutsche Literatur des späteren Mittelalters, in: HZ 41, 1879, S.  1–37, hier: 26; vgl. S.  24, wird der Verfasser der Reformatio Sigismundi als „der erste förmliche Prophet des Bauernkrieges“ bezeichnet. Bezold beruft sich für seine These auf die Überlieferungsgeschichte des Textes, die erst im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht habe (a.a.O., S.  27). Gerade darin widerspricht ihm Boockmann aufgrund seiner Analyse der Benutzungsspuren. Vgl. dazu auch Arnold, Niklashausen 1476, wie Anm.  91, S.  111; Boockmann, Wirkungen, wie Anm.  20, S.  112 (bzw. 514). Der Aufsatz von Bezold erschien noch einmal in seinem Sammelband: Aus Mittelalter und Renaissance, München, Berlin 1918 (S.  49–81, die obigen Zitate hier: 72; 70). 20   Hartmut Boockmann, Über den Zusammenhang von Reichsreform und Kirchenreform, in: Ivan Hlavácˇ  ek/Alexander Patschovsky (Hg.), Reform von Kirche und Reich, Konstanz 1996, S.  203–214; ders., Zu den Wirkungen der „Reform Kaiser Sigmunds“, in: Bernd Moeller/Hans Patze/Karl Stackmann (Hg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit [AAWG 137], Göttingen 1983, S.  112–135 (auch in: DA 35, 1979, S.  514–541); ders., Art. Reformatio Sigismundi, in: TRE 28, 1997, S.  384–386; Lothar Graf zu Dohna, Reformatio Sigismundi. Beiträge zum Verständnis einer Reformschrift des fünfzehnten Jahrhunderts

2.  Theokratie als theoretische Konzeption

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zu können, ist die hier mit dem Auftreten eines kleinen, geweihten Priesterkönigs verbundene Einrichtung eines neuen theokratischen Staatswesens für unseren Zusammenhang dennoch unmittelbar einschlägig. Unter Aufnahme der apokryphen apokalyptischen Esratradition (4 Esra 16,53) 21 eines „cleine[n] geweichte[n] [.  .  .] [,] der wirt regiren und straffen das volck und wirt reysen von einem mere zu dem andernn“22, kündigt der vermeintliche Verfasser, Kaiser Sigismund, an, dass eine ihm am Auferstehungstag 140323 zuteilgewordene Offenbarung „eins neuen stats“24 durch den kommenden Priesterkönig im Jahre 1439 heraufgeführt werde. Vermutlich muss man die im engen historischen Umkreis des Endes des gescheiterten Basler Konzils entstandene Reformschrift so verstehen, dass der erwartete Umsturz der politischen und kirchlichen Ordnung vermittels einer endzeitlichen Heilandsgestalt zum entscheidenden Durchbruch jener Reformmaßnahmen werden sollte, die den maßgeblichen Inhalt der Schrift bildeten. Die Macht des allweisen und allgerechten Kaisers werde endlich die Fürsten überstrahlen; das einfache Volk, Ritter und Reichsstände werden an seiner Herrschaft teilhaben; das Ordenswesen wird stark eingeschränkt sein und die sich vor allem der Seelsorge widmenden Weltgeistlichen, für die der Zölibat nicht mehr gelten soll, werden durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt [VMPIG 4], Göttingen 1960; Tilman Struve, Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der „Reformatio Sigismundi“ und ihrer Überlieferung, in: ZGO 126, 1978, S.  73–129; ders., Utopie und gesellschaftliche Wirklichkeit. Zur Bedeutung des Friedenskaisers im späten Mittelalter, in: HZ 225, 1977, S.  65–95, bes. 82 ff. Von der Reformatio Sigismundi sind 17 Handschriften und acht Drucke bekannt (Claudia Märtl, Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts, in: Hlavácˇ  ek/Patschovsky, Reform von Kirche und Reich, s. o., S.  91–108, hier: 107; Boockmann, Wirkungen, s. o.). Selbst wenn man Boockmanns Skepsis, ob diese Schrift die „‚Volksmassen‘“ (Wirkungen, S.  134, bzw. 540) erreicht habe, teilt, wird man nicht umhin können, die Chance der Präsenz ihrer Gedanken im Kreise des in der Volkssprache lesefähigen städtischen Bürgertums relativ hoch zu veranschlagen. Zur Interpretation der Reformatio Sigismundi vor dem Hintergrund der amtskirchlichen Bemühungen des 14. und 15. Jahrhunderts, den Einfluss laikalen Prophetismus’ zurückzudrängen, vgl. Carl Pfaff, Klerus und Laien im Spiegel der ‚Reformatio Sigismundi‘, in: Lutz/Tremp, Pfaffen, wie Anm.  86, S.  191–207. Für die im Folgenden behandelten Texte kommt Boockmanns Feststellung (Zusammenhang, s. o., S.  210) grundsätzliche Bedeutung zu: „Sobald jedoch nicht nur über den Landfrieden und die Reichssteuer nachgedacht wurde, sondern grundsätzlichere Überlegungen angestellt wurden, stand etwas anderes als das kanonistisch-theologische Rüstzeug nicht zur Verfügung.“ 21  Vgl. Koller, Reformation, wie Anm.  22, S.  326 Anm.  1; 4 Esra 15 f. ist wohl eine christliche Prophetie aus dem späten 3. oder frühen 4. Jahrhundert, vgl. Andreas Lehnardt, Art. Esra V, Fünftes und sechstes Esrabuch, in: RGG4, Bd.  2, 1999, Sp.  1588. 22   Heinrich Koller, Reformation Kaiser Sigmunds [MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters 6], Stuttgart 1964, S.  326,11–13; zur geistlichen Bedeutung des „Kleinen“ s. Dohna, Reformatio, wie Anm.  20, S.  154 ff.; zum Priesterkönig 161 f. 23   Koller, a.a.O., S.  332,10 f. 24   A.a.O., S.  330,18; zur Frage der politischen Motive, die zu einer Verbindung von Visionen und Utopien mit Sigismund führten, vgl. Martin Kintzinger, Westbindungen im spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds [Mittelalter-Forschungen 2], Stuttgart 2000, S.  363–365; eine in­ struktive Analyse der relativ stabilen Verhältnisse im Reich zur Zeit Sigmunds bietet: Sabine Wefers, Das politische System Kaiser Sigmunds [VIEG 138], Stuttgart 1989.

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§  5  Politiktheorie

verdienen. Unter dem Priesterkönig, dessen Name „Friderich von Lantnewen“25 sein wird, findet die jesuanische Weissagung des einen Hirten, der die eine Herde weiden wird (Joh 10,16), ihre Erfüllung.26 Der Übergang vom jetzigen, massiv reformbe­ dürftigen, zum „ander stat und [.  .  .] ordenung, dye dem cristenlichen stat zügehört“27, erfolgt, so scheint es, nicht ohne revolutionäre Aktivitäten. Die Fürsten und Herren, Ritter und Reichsstädte, sollen, wenn sie von einem Aufstand des ‚gemeinen Mannes‘ hören, hinzutreten und sich daran beteiligen, „alle ungleich sachen“28, die den Kummer in der Welt verursachten, abzutun, und sich bei Erscheinen des Reichsbanners in der Hand Friedrichs als Streiter Gottes und der Gerechtigkeit verdingen.29

25   Koller, Reformation, wie Anm.  22, S.  332,17; Koller, Untersuchungen 3, wie Anm.  29, S.  152; vgl. zum größeren Zusammenhang: Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung [Mittelalter-Forschungen 3], Stuttgart 2000, S.  260 ff.; Struve, Utopie, wie Anm.  20. Die Erwartung eines endzeitlichen Heilskaisers mit dem Namen Friedrich wirkt übrigens in der reformatorischen Literatur, gelegentlich unter Anwendung auf den sächsischen Kurfürsten gleichen Namens, fort. Bei Michael Stiefel etwa heißt es: „[.  .  .] es soll ein Keyser werden unnd sein namm Friderich, under welchem das heylig grab soll gewunnen werden. [.  .  .] Es ist ein furst in Sachsen, genant hertzog Friderich. der selbig ist keiser worden uß wölung der Kurfürsten, wiewohl er es wider hat übergeben. [.  .  .] Was ist dieses grab anderst dann die heylig gschrifft [.  .  .]?“ Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  273. Luther hat die Legende um Kaiser Friedrich, der das Heilige Grab befreie, oft als Kind gehört, s. WA 8, S.  561,36 ff.; 475,33 ff. Die allegorische Auslegung des Heiligen Grabes auf die Bibel (s. u. §  8, Abb.  19) und des Kaisers auf den Kurfüsten, der eigentlich in Frankfurt habe zum Kaiser gewählt werden sollen (s. dazu nur: Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise – Kurfürst von Sachsen 1463–1525, Göttingen 1984, S.  213 ff.), ist bereits bei Luther durchgeführt. 26   Möhring, Weltkaiser, wie Anm.  25, S.  262 mit Hinweis auf die weitere Verbreitung des Motivs in mittelalterlichen Weissagungen. Zum pastor angelicus vgl. Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969, S.  401–415. Joachim von Fiore deutete Joh 10,16 auf die endzeitliche Vereinigung der Kirche mit den Juden, in deren „testamentum“ sie eingetreten sei, Francesco Santi (Hg.), Ioachim Abbas Florensis, Tractatus super Quatuor Evangelia [Fonti per la Storia dell’Italia Medievale, Antiquitates 17], Rom 2002, S.  45,4–6. Im dritten Weltalter wird es nach Joachim zu einer Vereinigung von Christen, Juden und Heiden und einer solchen von das Filioque leugnenden Griechen und Lateinern kommen, die Menschheit also zu einem „populus“, einer „plebs“ unter einem Hirten werden, Kurt-Victor Selge (Hg.), Joachim von Fiore, Psalterium decem cordarum [MGH. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 20], Hannover 2009, S.  300,16–301,9. Brady weist darauf hin, dass Gattinara im Jahre 1519 Joh 10,16 anführte, um die Herrschaft Karls V. zu deuten, vgl. Brady, Republiken, wie Anm.  3, S.  109 f.; zum Oberrheiner a.a.O., S.  116. 27   Koller, Reformation, wie Anm.  22, S.  330,20 f. 28   A.a.O., S.  330,12 f. Dass es sich bei der Verwirklichung der Ordnung um Reformation der schriftmäßig vorgegebenen ‚alten‘ Ordnung handelt, hat Dohna, Reformatio, wie Anm.  20, S.  59 f. besonders betont; zur Gewaltfrage s. auch 57 f.; 169 ff., s. a. Pfaff, Klerus, wie Anm.  20, S.  196 f. 29   Koller, a.a.O., S.  330,12 ff. „Wenn yr innen werdet des, das würdig verkunt zeichen von got, das mit des reiches zeichen auffgestossen wirt, reyttet nü zü got und der gerechtigkeyt!“ Koller, a.a.O., S.  330,16 f.; vgl. zu dem Zeichen, dem persönlichen Wappen des Priesterkönigs, a.a.O., S.  340,9 ff.; 332,18 ff. und Heinrich Koller, Untersuchungen zur Reformatio Sigismundi 3, in: DA 15, 1959, S.  137–162, hier: 152 f. (drei goldene Löwenköpfe auf blauem Grund in einem Rosenkranz).

2.  Theokratie als theoretische Konzeption

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Sigismund war durch eine Himmelsstimme aufgefordert worden, dem ihm nachfolgenden Priesterkönig den Weg zu bereiten.30 Niemand werde wider den Heilskaiser sein; „er bringet dye ordenung gots zü krafft“31, so dass ihm die Herren und Städte beistehen werden, das Unrecht weichen, also eine widerspruchsfreie göttliche Ordnung, eine Theokratie, aufgerichtet wird. Die Stabilität der nunmehr aufgestellten göttlichen Ordnung gründet in der besonderen religiösen Qualifikation des Erwählten: Er ist – wie einst Jesus – mannigfach versucht, hat mannigfachen Kummer erlitten und ihn durchweg in Geduld ertragen; sein Opfer ist Gott angenehm.32 Einheit des Reiches und Dienst an den Armen, der Rechtfertigung schafft, sind die nun angemessenen Weisen, Gott die Ehre zu geben.33 Im Namen des Heilskaisers, Friedrich, liege beschlossen, dass er allen Landen und Auen den Frieden bringt.34 Der Gehorsam, den der Friedenskaiser finde, werde ausstrahlen und die Heidenschaft gewinnen.35 Dass der anonyme Weltgeistliche, der als Verfasser hinter der Reformatio Sigismundi stand, unmittelbar an die Ausführungen zu der in nächster Zukunft eintretenden Theokratie36 Hinweise über den Aufbau eines gerechten Münzwesens37 anschloss, dürfte der standeskulturell nivellierenden und politisch integrierenden und stabilisierenden Wirkung der einheitlichen Geldwährung38 im theokratischen Friedensreich entsprechen und zugleich unterstreichen, dass dieses als definitiv weltliche Ordnung gedacht war. Im buchli der hundert capiteln mit XXXX statuten, jener unter dem schillernden Titel des Oberrheinischen Revolutionärs39 bekannten, in ihrer Zeit freilich wohl annähernd wirkungslosen Reformschrift des späten 15. bzw. frühen 16. Jahrhunderts, die vor allem wegen der Vielfalt ihrer Ideen, auch der Diffusität ihrer Hoffnungen, der Skurrilität ihrer Ängste und Traumbilder, einen bemerkenswerten Einblick in die Gedankenwelt eines dem kaiserlichen Hof zeitweilig nahestehenden elsässischen Rechtsexperten40 bietet, hat die theokratische Ordnung des besitzlosen, allein dem 30

  Koller, Reformation, wie Anm.  22, S.  332,15 f.; 334,9 f.   Koller, a.a.O., S.  334,2. 32   Koller, a.a.O., S.  334,3–6. 33   Koller, a.a.O., S.  338,12–15. 34   Koller, a.a.O., S.  342,11 ff. 35   Koller, a.a.O., S.  344,8–10. 36   „Den argen stet dye helle offen, aber den getrewen cristen der hymel. Man soll eygentlich mercken, wann wir ein lant in dye gehorsam bringenn, wir haben gewonnen in der heydenschafft; des geschickt, dye wartten sein; es ist dye zeyt komen, das eß gescheen soll.“ Koller, a.a.O., S.  344,7–10. 37   A.a.O., S.  344,11–348,12. 38  Vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, wieder abgedruckt in: Ders., Philosophische Kultur, Frankfurt/M. 2008, S.  253–751, bes. 383 ff. Als historischer Hintergrund der imaginierten Münzpolitik hat das ausgebaute und differenzierte Geldwesen vor allem des 15. Jahrhunderts zu gelten, vgl. dazu Jacques LeGoff, Geld im Mittelalter, Stuttgart 2011, bes. S.  157 ff.; 187 ff. 39   Die Schrift liegt jetzt in einer hervorragenden Edition von Klaus H. Lauterbach vor: Der Oberrheinische Revolutionär. Das buchli der hundert capiteln mit XXXX statuten [MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters 7], Hannover 2009 (dort auch die wichtigste Literatur; im Folgenden zit. als OR). 40   Vgl. die Zusammenstellung der zweifelsfrei erhebbaren Hinweise auf den Verfasser in OR 31

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§  5  Politiktheorie

Gemeinnutz dienenden41 „kleine[n] man[nes]“, Friedrich, der sich „mit wenig folcks“ erheben, „das gantz erterich under sich bringen“ und „inn der gantzen welt ein glouben, ein hirten und ein regenten machen“42 werde, klarere Konturen erhalten. Unter Aufnahme der in der prognostischen Literatur – unter anderem bei Albumasar, Lichtenberger und Grünpeck – verbreiteten Ankündigung einer „erbarmllich zerrüttung der gantzen Christenhait / aller löblichen gewonhaiten / ordnungen unnd gesetzen / das ellende aller stende / die manigfeltikait plagen / die verenderung der zeit [adversorum temporum arumnos]“43, die in bestimmten stellaren KonjunktiS.  13–19, und ausführlich zu seiner methodisch vorbildlich durchgeführten Zuschreibung an den kaiserlichen Sekretär von Geudertheim: Klaus H. Lauterbach, Der „Oberrheinische Revolutionär“ und Mathias Wurm von Geudertheim. Neue Untersuchungen zur Verfasserfrage, in: DA 45, 1989, S.  109–172. 41   OR S.  312,6 ff.; 377,16 ff.; 512,23 ff. u. ö. 42   OR S.  125,13–15; vgl. 375,10 ff.; 370,18. Das Motiv des einen Hirten etc. (Joh 10,16) durchzieht die Schrift, vgl. etwa 77,1 f.; 85,29 ff.; 86,20 ff.; 91,20 ff.; 98,13 ff.; 365,1. 43   Joseph Grünpeck, Ein Spigel der natürlichen, himmlischen und prophetischen Sehungen, Augsburg, Johann Schönsperger d. J. [1522?]; VD 16 G 3643; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  601, Nr.  1413; Ex. MF 748 Nr.  1912, b 1v–b 2r; lat. Version: Joseph Grünpeck, Speculum naturalis coelestis et propheticae visionis: omnium calamitatum tribulationum et anxietatum: quae super omnes status .  .  ., Nürnberg, Georg Stuchs 1508; VD 16 G 3641; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  600 f., Nr.  1412; Ex. MF 1216 Nr.  3068, hier: a 5v. Das Kapitel trägt die Überschrift „Von der verenderung aller stende der Christenheit“ (de mutatione status christianae rei publicae) (a 4r|a 3v). In Bezug auf geistliche und weltliche Herrschaft kündet Grünpeck an, dass es zu ihrer „verachtung unn verschehung kommen [werde]. dz der niderest unn verachtest mensch nicht achten wirdt seine schuhe. an des obersten gewalts er sey gaistlich oder weltlich höchst zier zeseybern.“ (a 2v–3r). Unter den ‚Zuchtruten‘, die Gott sendet, spielen die Türken eine Rolle (a 6r); die Kirche wird der Ausgangspunkt „aller unfal“ (b 1v) sein. Die „frommen flechten menschen [homines probi simplices, Speculum, a 6v] / unnd aines mittelmessigen verstandes“ werden „vil künfftige dinng auß den haymlichen göttlichen offenbarungen sagen mügen“ (Spigel, b 3v); alle „menschliche unnd göttliche ordnungen“ werden „zerrüttet werden“ (b 4r). Die „verenderung aller undern dingen“ (c 2v; Speculum, b 3r: [regnorum mutationes: principatuum descrecentiam] hängen mit astronomischen Sachverhalten engstens zusammen. Die propethischen Quellen des AT dienen der Verifikation; sie beziehen sich „uff die gegenwürtig und all künfftig zeiten / als offft der weingarten anfacht zu dornen oder böß fruchtt zu bringen“ (d 1v). Grünpecks Werk mündet in einen Appell zur Reformation: Die Leser sollen „[.  .  .] durch euch selbst anfahen / ewer und des gantzen himmlischen heres feynd / die bösen sytten und gewonhayten [.  .  .] und der gaystlichen personen / dieberey / rauberey / mörderey / den aygen nutz [.  .  .] mitt den waffen einer löblichen Reformation / verenderung / auffsetzung unn verkerung aller ding zum besten [zu] erlegen und [zu] vertilgen [.]“ e [5]r. Nach der Durchsetzung der Tugend „wirt nicht allein das reych / sunder die gantze Christenhaitt von den widerwertigkaiten erledigett / und im zeitlichen als hoch als im gaystlichen erhebt / dennocht mögt ihr durch den weg komen an die ende / do alle die den gemainen nutz betrachten unn gemerckt haben / mit Cristo leben und herschen in dem höchsten thron der hymel ymmer und ewigklichen Amen.“ e [5]r/v. Auch für Grünpeck bildet die Aufrichtung einer widerspruchsfreien ‚theokratischen‘ Ordnung also das Ziel der Geschichte. Diese Endzeiterwartung unterscheidet sich signifikant von der in einer anonymen Flugschrift dargelegten Zukunftsvision, die den Menschen bis 1524 große Unbill und denen, die bis 1530 überlebten, glückliche Zeiten ankündigt: „Ganz sälig wirdt werden der mensch der erleben wirdt das iar Tausent fünff­ hundert und dreyssig. Noch viel säliger wirdt der / der überlebt Tausent fünff hundert und fünfunddreyssig jar. Dann zu den selbigen zeyten wirdt die Christenlich kirch wider Reformiert werden auff das allerschönest / und wirt ein glückselige zeytt / und wird viel jar lang weren / auch wirt gar ain hayliger Bapst und ein güetiger Kayser Regieren.“ Ain Prophezey Item heymligkayt alter

2.  Theokratie als theoretische Konzeption

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onen ihre Ursache habe, lehrt der durch den Erzengel Michael inspirierte ‚Oberrheinische Revolutionär‘, dass bald „hanssen mit dem karst“44 aufgeweckt und „verandrung und dar zu blut vergiessen und grosse hitz“45 eintreten werden. Der Umbruch hin zu der theokratischen Ordnung des Friedenskaisers, in der der König schließlich durch Wahl bestätigt wird, 32 Könige unter sich haben, Witwen und Waisen schirmen, das Recht handhaben, eine gute, aufrichtige, das heißt nicht manipulierte Münze einrichten und den Ackermann in Frieden bei seinem Pflug lassen wird46, tritt – so scheint es – durch ein Zusammenspiel himmlisch-astraler und geschichtlicher Faktoren der „Veränderung“47 ein. Einem revolutionären Aufstand des gemeinen Mannes, für den der Oberrheiner aufgrund des Versagens der reformunwilligen Obrigkeiten prinzipiell Verständnis aufbringt, redet er nicht das Wort, denn der würde die brüderliche Liebe in Christus, das Fundament aller Gerechtigkeit und die Grundlage des gemeinen Nutzens, zerstören.48 Die theokratische Ordnung Kaiser Friedrichs wird 1000 Jahre währen. Entgegen der seit Augustin49 dominierenden kirchengeschichtlichen Deutung von Apk 20 bezieht er das 1000jährige Reich also auf die Zukunft.50 Das Reich werde universal sein; in ihm werde die „heilige dudesche sproch“51, nach dem Oberrheiner die Sprache Adams, also die Ursprache der Menschheit52, gesprochen werden. Die Deutschen werden das ganze Erdreich gewinnen und sich „under tenig“53 machen. Die Herrschaft des Kaisers werde sich über „das gantz erdrich“54 erstrecken; er werde mit vielen Völkern eine Heerfahrt machen und Jerusalem zurückgewinnen; alle Könige verborgner geschrifft von zerstörung der grossen künigreich .  .  . unn blut vergiessung. [Augsburg, Erhard Oeglin E., um 1522]; VD 16 P 5062; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3801, S.  286 f.; Ex. MF 1240 Nr.  3140, A [3]v. Vgl. zur Sache auch: Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528 [Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26], Tübingen 1990, S.  55–145 (zu Lichtenberger und Grünpeck); zu den Reformvorschlägen bei Grünpeck s. auch Helga Robinson-Hammerstein, The Battle of the Booklets. Prognostic Tradition and Proclamation of the Word in early sixteenth-century Germany, in: Paola Zambelli (Hg.), ‚Astrologi hallucinati‘. Stars and the End of the world in Luther’s Time, Berlin, New York 1986, S.  129–151; Will-Erich Peuckert, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther, Bd.  1, Hamburg 1948, ND Darmstadt 1966, S.  106 ff. 44   OR S.  360,20. 45   OR S.  362,5 f.; vgl. 402,24 ff.; 430,4 ff. 46   OR S.  375,10–29, vgl. 386,3 ff. 47   Vgl. OR S.  110,10 f.; 125,16; 360,9. Einerseits ist z. B. der Planet Mars die Ursache von „vil ver­ anderung“ (426,14), andererseits ist der Heilskaiser „schuldig [.  .  .] das bos abzetun und in ein gutz wesen [zu] verenderen“, S.  512,16. Zur Semantik der ‚Veränderung‘ s. oben Anm.  18 und 43. 48  Vgl. Klaus H. Lauterbach, Der „Oberrheinische Revolutionär“ – der Theoretiker aufständischer Bauern? In: Blickle/Adam, Bundschuh, wie Anm.  12, S.  140–179, hier: 151 f. 49   De civ. Dei 20,6–9; s. auch Georg Günter Blum, Art. Chiliasmus 2, in: TRE 7, 1981, S.  729– 733, bes. 732; Hermann Häring, Eschatologie, in: Volker H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, S.  540–547. 50   OR S.  97,11–98,2. 51   OR S.  98,11. 52   OR S.  135,17; vgl. 79,10; 127,14 ff. 53   OR S.  260,10. 54   OR S.  314,6.

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§  5  Politiktheorie

stimmten ihm bei.55 Wenn er seinen Stab nach Frankreich, Spanien oder England sendet, so geht man dem Stab entgegen, als ob es der König selber wäre56, d. h. eine Differenz zwischen seinem ganz der Gerechtigkeit dienenden Herrschaftswillen und ihrer Durchsetzung wird es in seinem Reich nicht geben. Die mit einem gelben Kreuzeszeichen geschmückte Bruder- bzw. Ritterschaft der treuen Vorkämpfer, die heilige Avantgarde des heiligen Reiches, die selbst besitzlos sei wie der Kaiser und vom Gemeineigentum ernährt werde57, in keuscher, frommer Ehe lebend58, verkündige das Evangelium und taufe die Heiden.59 Durch die Abschaffung ungerechter Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse und durch die Aufrichtung eines brüderlichen, gottgemäßen Lebens werden Heiden und Juden zur Gottesfurcht bekehrt und dem allein seligmachenden Christusglauben zugeführt.60 Beraten werde der Kaiser von einem Konsistorium aus Weisen fortgeschrittenen Alters.61 Ansonsten setze er Richter ein, die die beklagenswerterweise in Abgang gekommene Sendgerichtsbarkeit wiederherstellten.62 Der Kaiser selbst sei eine Art Priester, jedenfalls ein heiliger Mann63, der in den Wissenschaften erfahren sei, ein Astronom64, der das einfache Volk, die Witwen und Waisen, mit Fürsorge65 begleite, ja von der Gottesliebe als Handlungsmaxime bestimmt sei. „Ein keisser soll all sin hoffnung setzen in die liebe gottes, wan er dar zu erwelt uff erden ist uff dem regierden stul sins gewaltz, wie gott in sim tron [.  .  .]. [.  .  .]. Ein keisser soll richten in der liebe gots, das recht gen und nemmen in der worheit urteilen, umb der gerechtigkeit [willen] stritten: so ist er glichen gott.“66 Wo der Kaiser wirklich Kaiser sei, d. h. in der Klarheit wandele, eins mit Gott sei, einen irdischen Widerschein des himmlischen Gottes repräsentiere und sich gegenüber Armen wie Reichen in Gerechtigkeit übe, verdiene er als „irdischer gott“67 bezeichnet zu werden. Der Kaiser sei in seinem Herzen68, d. h. ohne skriptu-

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  OR S.  371,7 ff.   OR S.  375,14 ff. 57   OR S.  391,12 f.; vgl. 94,5–9; 210,16 f. u. ö.; vgl. Pfaff, Klerus, wie Anm.  20, S.  193. 58   Vgl. zur Bruderschaft des gelben Kreuzes OR S.  74,19; 75,13; 77,8; 246,25; 360,22 f.; 363,19; 370,9; 374,10; 391,25; 551,10; 597,17 u. ö. 59   OR S.  374,12 ff. 60   OR S.  386,3 ff.; 387,12 ff.; 388,4 ff. 61   OR S.  385,17 ff. 62   OR S.  370,3 ff.; zur Sendgerichtsbarkeit vgl. bes.  296,19 ff.; 336,12 ff.; 372,14 ff.; 394,4 ff. Zur Sache instruktiv: Klaus H. Lauterbach, Sendgericht, Missat und Feme im Werk des sogenannten „Oberrheinischen Revolutionärs“. Mit einem Anhang über den „Todfall“ als Abgabe zum Loskauf Gefangener, in: ZSRG Germ. Abt. 118, 2001, S.  185–221. 63   OR S.  370,9 ff. 64   OR S.  378,16 ff. 65   OR S.  380,23 ff. 66   OR S.  540,5–10. 67   OR S.  103,11; a.a.O., Anm.  147 weist Lauterbach einschlägige Belege der Rechtstradition nach, die die These, der ‚imperator‘ oder ‚princeps‘ sei quasi Deus in terris, vertraten, vgl. OR S.  383,23 ff. 68   OR S.  383,27. In eines Kaisers Herzen „sund alle recht ston verzeichnet, und het macht zu regieren uff erden wie gott im hymel.“ OR S.  594,12 f. 56

2.  Theokratie als theoretische Konzeption

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rale Vermittlung der gleichwohl geachteten Rechtskodifikationen, unmittelbar und so rechtskundig, dass er der Expertise der gelehrten Juristen nicht bedürfe. Die auf Weisung des Erzengels Michael zu berufende „gschelschafft“69 der mit einem gelben Kreuz Bezeichneten, die „ein festen cristelichen gluben [.  .  .] machen“70 und Christi Wort von dem einen Hirten, dem einen Schafstall und dem einen die ganze Welt erfüllenden Glauben verwirklichen solle, bestehe aus „frumen eeluten, die ir ee trwlich hielten und ouch biede weren eelich gboren“71. Die Ehe bleibt in der chiliastisch-theokratischen Weltordnung die schlechterdings verbindliche Lebensform, denn sie ist für den Oberrheiner die Quelle aller Heiligkeit72 ; alles Gute stamme aus der Ehe; 73 uneheliche Kinder solle man verhungern lassen.74 Die „unee“75, d. h. das Konkubinat der Priester, sei zutiefst verabscheuungswürdig und mit drakonischen Strafen zu belegen. Ein Priester, der das Zölibat gebrochen habe und die Messe lese, solle verbrannt werden.76 Den Laien ist es aufgrund der donatistischen Amtsauffassung des Oberrheiners verboten, an ihren Messen teilzunehmen.77 In der Theokratie Kaiser Friedrichs setzt das weltliche Oberhaupt den Papst ein, sind die auf die Seite des Türken führenden Machenschaften78 des geistlichen Hauptes der Christen – der Oberrheiner hat Papst Alexander VI. vor Augen und war über dessen Skandale bestens informiert79 – überwunden. Unerträgliche Ausbeutungsinstrumente der Papstkirche wie die Jubeljahre, der Ablass, die Fiskalisierung der Sterbesakramente, das Vikariatswesen80 etc. pp. wird es bald, wenn die Ordnung Gottes und die brüderliche Liebe Christi aufgerichtet sind, nicht mehr geben. Die Enteignung der Geistlichen81, die den gemeinen Mann ausbeuten, Deutschland aussaugen und verführen82 und bisher das alte deutsche Recht, das auf Gemeineigentum 69

  OR S.  73,13; Michael ist der 1. Hauptmann der Bruderschaft, OR S.  392,3 ff.   OR S.  73,16. 71   OR S.  73,14 f. 72   OR S.  114,17 ff.; 116,9 ff.; 131,9 ff. 73   OR S.  283,7 f. 74   OR S.  589,19; 247,23 ff.; vgl. 122,1 ff. (uneheliche Kinder bringen Unglück über ein Gemeinwesen). 75   OR S.  93,23; 478,7; 290,16; Gleichsetzung von Zölibatsbruch und Blasphemie: OR S.  501,5. 76   OR S.  94,1 ff.; vgl. 195,3 ff. 77  OR S.  281,16 f.; 282,1 ff.; vgl. 224,1–3; vgl. zum Donatismus: Klaus H. Lauterbach, Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe und Reformgedanken an der Wende zum sechzehnten Jahrhundert [Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 33], Freiburg, München 1985, S.  190 f. (unter starker Betonung wiclifitischer Einflüsse); s. auch S.  72 ff. 78   OR S.  74,11 f. 79   Vgl. OR S.  208,12; 209,4; 214,5 ff.; 218,10; 314,21; 330,14; 365,7; 431,17 ff.; 535,13; 542,1 ff.; 548,9 (jeweils mit gründlichen Nachweisen der angesprochenen Sachverhalte). Zu Alexander VI. vgl. die höchst lesenswerte Biografie von Volker Reinhardt, Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia 1431–1503 [bsr 1748], München 2007. Zum Recht des Kaisers, Päpste einzusetzen, das der Oberrheiner mit einschlägigen Rechtstraditionen legitimiert, vgl. OR S.  511,18 ff. 80   Vgl. nur OR S.  314,13 ff.; 538,16 ff.; 540,20 ff.; 541,21 ff.; 542,1 ff. 81   OR S.  305,5 ff.; 231,5 ff. 82   OR S.  126,5 f.; 173,1 ff.; 288,4 ff. (Kirchenreform des Kaisers zugunsten der Armen); 380,23 ff.; 386,3 ff.; 374,19 ff. 70

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basierte83, unterdrückten, wird in der theokratischen Gesellschaft als Gottesgerechtigkeit verwirklicht. Mönche sollen sich von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren und dürfen für niemanden mehr Fürbitte leisten.84 Die Zahl der Geistlichen ist dra­ stisch zu vermindern85 ; in der geradezu an das reformatorische Priestertum aller Glaubenden und Getauften86 erinnernden Behauptung, jeder fromme Ehemann könne öffentlich die Messe lesen, da „ein yeder cristenmendsch ist gecrisent mit dem touf und in der firm“87, dringt der Oberrheiner zu einer visionären Egalisierung von Klerus und Laien vor88, die es fraglich erscheinen lässt, ob dem Klerus in der theokratischen Ordnung noch eine zentrale, über funktionale Aufgaben hinausgehende Rolle als Heilsmittler zukommen wird. Ebenso wie für den Verfasser der Reformatio Sigismundi ist für den sogenannten ‚Oberrheinischen Revolutionär‘ das ideale Gemeinwesen, in dem die Gerechtigkeit Gottes hergestellt wird, ein universaler Raum der Verwirklichung einer ethischen imitatio Christi durch die Laien. Unter der machtvollen Herrschaft des Friedenskaisers soll die korrupte, tendenziell geradezu antichristliche papstkirchliche Hierokratie beseitigt werden. Für Vorstellungen einer Priesterherrschaft war in den theokratischen Konzeptionen der kirchen- und reichsreformerischen Schriftsteller des späten Mittelalters kein Raum. Im Gegenteil: Die theokratischen Imaginarien sind Gegenbilder zu einer Gesellschaft, die unter den faktischen Beschwernissen klerikaler Herrschaft und unter der beanspruchten Suprematie eines intellektuell und sittlich verlotterten Pfaffentums unsäglich litt. Den Theokratien des späten Mittelalters und der Reformation eignet ein antiklerikaler89 Kern. 83

  OR S.  117,8 ff.   OR S.  382,14 ff. 85   OR S.  430,4 ff. 86   S. unten III, §  13; vgl. Lauterbach, Geschichtsverständnis, wie Anm.  77, S.  191. Zum spätmittelalterlichen Diskussionszusammenhang des vielschichtigen Verhältnisses von Klerus und Laien instruktiv ist der Sammelband: Eckhart Conrad Lutz/Ernst Tremp (Hg.), Pfaffen und Laien – ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996 [Scrinium Friburgense 10], Freiburg i. Ue. 1999. 87   OR S.  282,15 f.; zur Darstellung des die Messe zelebrierenden Priesters bei Grünpeck, Speculum, wie Anm.  43, a 3v; der die Messe zelebrierende Bauer und der pflügende Priester bzw. Gelehrte stehen symbolisch für die „mutatio status christianae republicae“ (ebd.; Kasus von mir geändert, Th. K.; vgl. dazu Bezold, Die „armen Leute“, wie Anm.  19, S.  23), die unmittelbar bevorsteht. Zum Verhältnis der Vorstellungen des Oberrheiners zum allgemeinen Priestertum vgl. die differenzierten Äußerungen Lauterbachs, Geschichtsverständnis, wie Anm.  77, S.  190 f. 88   Diese Position ist insofern nicht konsequent ausgearbeitet, als der anonyme Verfasser auch weiterhin auf das Konzept der freilich einzulösenden sittlichen Vorbildfunktion der Priester (vgl. etwa: OR S.  291,13 ff. [Der Priester soll Wegweiser des christlichen Lebens und Exempel sein; er soll mit göttlichem „wortt“ speisen.]) abhebt. 89   Zur inzwischen abgeflauten Diskussion zum ‚Antiklerikalismus‘ sei lediglich verwiesen auf: Hans-Jürgen Goertz, Antiklerikalismus und Reformation [Kleine Reihe V&R 1571], Göttingen 1995; ders., Radikalität der Reformation, wie Anm.  1; weitgehend ohne expliziten Rekurs auf das Antiklerikalismuskonzept: Lutz/Tremp, Pfaffen, wie Anm.  86, passim; Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman, Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe [SMRT 51], Leiden u. a. 1993 (und dazu meine Rezension in: GGA 247, 1995, S.  112–130). 84

3.  Theokratie als Handlungsmodell

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3.  Theokratie als Handlungsmodell Für die anonymen Reformtheoretiker, die hinter der Reformatio Sigismundi und dem buchli der hundert capiteln mit XXXX statuten standen, war die theokratische Ordnung zwar nahegekommen, aber doch noch eine Angelegenheit der Zukunft. Die Hinweise auf drohende Aufstände des gemeinen Mannes dienten nicht der Legitimation revolutionären Aufruhrs, sondern waren eher ein Menetekel, das sich an die Adresse der herrschenden Stände richtete und diese zu radikaler Umkehr aufforderte. Bei dem handlungsorientierten, gar revolutionären Umgang mit der theokratischen Thematik, der im Folgenden in den Blick genommen werden soll, stellte sich dies anders dar. Theokratische Vorstellungen, Leitbilder, Imaginarien einer besseren, gerechteren, gottgemäßeren Welt wurden etwa im Kontext vorreformatorischer Aufstände, im Rahmen des Bauernkrieges oder im Zusammenhang der sogenannten Radikalen Reformation90 in einer Form weitergeführt und transformiert, die die künftig erwartete „Veränderung“ schon jetzt zu realisieren begann und den politisch und gegebenenfalls auch militärisch agierenden „gemeinen Mann“ als Schlüsselfigur dieser Vorgänge exponierte. Je realistischer und ‚handfester‘ sich die Konkretionen der gottgemäßen Ordnung darstellten, desto unschärfer wurde freilich der universalistische Horizont. Wenn der Hirte und Spielmann Hans Böheim von Niklashausen, der seit Ostern 1476 aufgrund einer Erscheinung Mariens eine sozialrevolutionäre Massenwallfahrt auslöste91, die Erwartung aussprach, dass es im Taubertale mehr und größere Gnade geben werde als in Rom oder an irgendeinem anderen Ort der Welt, sodass, wer das Taubertal betrete, vollkommene Gnade erlange, und, wenn er sterbe, sofort in den Himmel fahre92, dann stand diese partikularistische religiöse Regional90   Zum Konzept der „radical reformation“ vgl. George Houston Williams, The Radical Reformation [Sixteenth Century Essays and Studies 15], Kirksville 32000; vgl. zu dem Konzept auch die kritisch-analytischen Bemerkungen von: Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit [EdG 20], München 1993, S.  62 f.; sowie: Günter Vogler, Gab es eine radikale Reformation?, in: WZ(L).GS 14, 1965, S.  495–500. 91   Klaus Arnold, Niklashausen 1476. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Be­ wegung des Hans Behem und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes [Saecula Spiritalia 3], Baden-Baden 1980; ders., Neues zu Niklashausen 1476, in: Rainer Postel/Franklin Kopitzsch (Hg.), Reformation und Revolution. FS Rainer Wohlfeil zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1989, S.  69–89 (Einführung und Edition eines lateinischen Spruchgedichts zu Hans Böheim). 92   „Item wie so groß vollkommen Gnade im Taubertalle und meher sein soll dan zu Rome oder an einichen Ende. Item welchs Mensch den [das] Taubertall begrifft [betritt], der erlange nach all vollkommeliche Gnade, und wan er sterbe, so fare er von Stond uf zu Himmel.“ Günther Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges [Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2], Darmstadt 1963, S.  66; vgl. Arnold, Niklashausen 1476, wie Anm.  91, S.  92 f., der die Differenzen gegenüber Waldensern und Hussiten überzeugend herausarbeitet; in Bezug auf die Kritik am Fegefeuer sieht das allerdings anders aus, s. a.a.O., S.  106 f. Zur Vermutung rezeptionsgeschichtlicher Zusammenhänge zwischen vorreformatorischem Waldensertum und laikaler Radikalität in Zwickau (1521/2) in Bezug auf das Fegefeuer vgl. Kaufmann, Müntzer, „Zwickauer Propheten“, wie Anm.  166, S.  25; 47; 116; 119 f.

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hoffnung durchaus in Spannung zu dem allgemeinen Anspruch des Laienpredigers, „den Zorn Gottes widder menschlich Geslecht und sunderlich widder die Priesterschaft“93 zu verkünden. Forderungen wie die nach Gemeinbesitz an Fischen und Wild, Klagen über die Pfründen der Pfaffen, die Ankündigung einer gleichen Verteilung aller weltlichen Güter, scharfe Polemik gegen Papst und Kaiser gleichermaßen, auch die dunkle Ankündigung einer baldigen Ermordung des Klerus94 haben allesamt Parallelen in der zeitgenössischen Reformliteratur, scheinen sich aber bei Böheim nach Lage der Quellen nicht in einen umfassenden theokratischen Gesellschaftsentwurf einordnen zu lassen. Allerdings dürfte in dem Aufbruch der Wallfahrtsbewegung – etwa in der Gewährung von Unterkunft für Teilnehmende oder dem gemeinschaftsstiftenden Liedgesang95 – ein wesentlicher Aspekt der göttlichen Ordnung, die Gütergemeinschaft, schon jetzt real geworden sein. Sofern sich im Kontext der Bundschuhbewegung96 programmatische Forderungen und politische Konzeptionen rekonstruieren lassen, wird man auch ihnen eine Nähe zu theokratischen Ideen aus dem Zusammenhang der Reformliteratur des 15. Jahrhunderts nicht absprechen können. Die mit dem ‚Berufsrevolutionär‘ Joß Fritz97 engstens verbundene Aufstandsbewegung agierte, so scheint es, im Namen der „göttlichen Gerechtigkeit“98, hatte sich die Forderung einer Restitution von gemeinen Nutzungsrechten aus Jagd und Fischerei auf die Fahnen geschrieben99 und praktizierte einen religiösen Initiationsakt nach dem Beitritt eines Neulings durch Schwur, bei dem durch fünf Vaterunser und Ave Maria im Gedenken an die fünf Wunden Christi kniend darum gebetet werden sollte, „daß Gott ihrem Vorhaben zur Gerechtigkeit den guten Erfolg verleihe“100. Auch die Symbolik des Banners der Schwurgenossen, das den Gekreuzigten, die beiden Patrone Maria und Johannes, die Zeichen des Papstes und des Kaisers als der einzigen Mächte, denen man sich

93   Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  66. Nach Lage der Quellen sollte freilich nicht der Anspruch erhoben werden, Selbstverständnis und Handlungsintention des Hans Böheim erheben zu können, sondern lediglich den Inhalt seiner Lehren nach dem Referat eines Kundschafters (s. Franz, a.a.O., S.  66 f.) zu analysieren. Vgl. die umsichtige Analyse zum Programm des Propheten: Arnold, Nik­ lashausen 1476, wie Anm.  91, S.  79 ff., bes. 93 ff.; 102 ff. 94   Franz, a.a.O., S.  66 f.; Arnold, Niklashausen 1476, wie Anm.  91, S.  109 f. (Gütergemeinschaft, mit Parallelen zu den chiliastischen Taboriten). 95   Vgl. dazu Gothein, Volksbewegungen, wie Anm.  14, S.  12; vgl. Arnold, Niklashausen 1476, wie Anm.  91, S.  101 f. 96  Grundlegend: Albert Rosenkranz, Der Bundschuh, 2 Bde., Heidelberg 1927, bes. Bd.  1, S.  411 ff.; Bd.  2, S.  183; 190 ff.; 245; 257; 308; einzelne Quellenstücke auch in: Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  70 ff.; zuletzt: Blickle/Adam, Bundschuh, wie Anm.  12. 97   Ulbrich, Untergrombacher Bundschuh, wie Anm.  12; Rolf Köhn, Der Bundschuh von 1517 – Kein Aufstandsversuch des gemeinen Mannes auf dem Lande?, in: Blickle/Adam, Bundschuh, wie Anm.  12, S.  122–139. 98   Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  76 (aus den Annales Hiersaugenses des Trithemius). 99   Franz, a.a.O., S.  76; vgl. 77. 100   A.a.O., S.  73.

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unterzuordnen bereit war101, sowie den Bundschuh mit goldenem Riemen zeigte102, die Erwartung einer umfassenden Ausweitung des Aufstandes103 und die völlige Austilgung aller Herrschaft und Obrigkeit (principatum et dominium)104 überhaupt, also dezidiert universalistische Ziele oder Hoffnungen, legen es nahe, die vorreformatorischen Bauernaufstände als antiklerikale105 Bewegungen zum Aufbau einer theokratischen Ordnung zu interpretieren. Die an den Schweizer Eidgenossen orientierten106 Freiheitsvorstellungen der Aufständischen waren allerdings politisch offenbar wenig ausgearbeitet. Denn erst, wenn man die elsässischen Städte Weißenburg und Hagenau erobert habe – so erfährt man im Kontext der Erhebung von 1517 – wolle man „zu den Schwytzern in die Eidgnoßschaft geschicht haben, Rat und Hilf bi inen zu suchen, damit sie ir Fornemen dester tapferer anfahen und vollenden möchten.“107 In den Programmschriften des Bauernkrieges schließlich lässt sich unter dem Einfluss der reformatorischen Bewegung eine Verdichtung normativer theokratischer Argumente nachweisen. In der Vorrede zu den Zwölf Artikeln wird betont, dass „daz evangelion zu hören und dem gemeß zu leben“108 die Grundlage der bäuerlichen Forderungen bilde. Die widerspruchsfreie Verwirklichung des Evangeliums bzw. des

101   „Und ist dis, ir Meinung gewesen, daz sie furterhin keinen Herren me wolten haben und gehorsam sin, dan allein dem Keiser und dem Bapst.“ A.a.O., S.  77. „Item das man hinfure, usgescheiden einem römischen Keiser und der Kirchen, nichts mehr geben, auch keiner Oberheit gewertig und gehorsam sein solte.“ A.a.O., S.  81. Als zeitgenössischer Hintergrund hat die Intensivierung des Nationalitätsdiskurses in der Regierungszeit Kaiser Maximilians zu gelten, s. dazu nur: Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2006, S.  383–412. 102  Vgl. Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  73 in Verbindung mit 78. Bei der Anwerbung neuer Bundesgenossen wurde zum Ausdruck gebracht, dass ihr „Ding“ „götlich“ und „erlich“ (a.a.O., S.  77) sei. Als Kampfruf fungierte gelegentlich auch: „Sanct Jorg“ (80). Zur Symbolik der Fahnen und ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion der Einflüsse auf Joß Fritz und seine agitatorischen Strategien vgl. Ulrich Steinmann, Die Bundschuhfahne des Joß Fritz, in: Deutsches Archiv für Volkskunde 6, 1960, S.  243–284. 103   Nach dem Bericht des bischöflichen Landschreibers Georg Brenz hofften sie, „es solten alle Burger und Buher zu inen slahen“ (Franz, a.a.O., S.  70). Alle „Bauern, Bürger und Städter“ würden „sich aus Liebe zur Freiheit“ ihrer Gemeinschaft freiwillig und ohne Zwang anschließen“ (a.a.O., S.  75). 104   A.a.O., S.  74; 75. 105   Vgl. etwa das ‚Wortzeichen‘ der Verschwörung von Untergrombach 1502: „Wir mögen vor den Pfaffen nicht genesen!“ (Franz, a.a.O., S.  73). Außer der Verweigerung von Abgaben an weltliche Herren (außer dem Kaiser bzw. dem Papst, s. Anm.  101) sind die Enteignungen der Geistlichkeit (a.a.O., S.  74 f.; 77) zentral. Der Angabe freilich, jeder Priester solle nur eine Pfründe haben (a.a.O., S.  77), kann man entnehmen, dass der geistliche Stand als solcher nicht abgeschafft werden sollte. 106   Franz, a.a.O., S.  73: „[.  .  .] iugum omne servitutis violenter excuterent [sc. die Bundschuher] et sibi omnimodam libertatem more Helvetiorum armis vendicarent.“ Vgl. a.a.O., S.  75. 107   Franz, a.a.O., S.  81. 108   Adolf Laube/Hans Werner Seiffert (Leitung), Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin 1975, S.  26,19.

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§  5  Politiktheorie

Wortes Gottes oder der Schrift „zur leer und leben“109 in „brüderlicher lieb“110 bildete den Maßstab der gesellschafts- und kirchenreformatorischen Forderungen des einflussreichsten Artikelkataloges des Bauernkrieges. Auch das Proömium der Bundesordnung schwor die normativen Bezugsgrößen, zu denen sich die Bundesgenossen verpflichtet hatten, ein: „Dem almechtigen got zu einem ewigen lob und eere, zu anruffung des heiligen ewangelion unnd götlichem wort, auch zu bystand der gerechtigkait und götlichem rechten ist der christlichen veraynigung unnd pündtnus angefangen und nyemandt, er sey gaistlich oder weltlich, zu vertrucken und, sovil das heilig ewangelium und das götlich recht außweyßt, jnnhalt unnd antzaigt, zu nachtayl und in sonderhait zur merung bruderlicher liebe.“111 Und im Artikelbrief vom Mai 1525 hieß es, man wolle zu „den göttlichen rechten und dem heiligen ewangely“112 zurückkehren, damit „gemeiner christenlicher nutz unnd brüderliche lieb widerumb uffgericht“113 und Gottes Gebot „von brüderlicher liebhabung“114 verwirklicht werde. Die modellhafte Vereinigung mit den Schwurgenossen, die sich die Verpflichtung der gottgemäßen Ordnung im Sinne des Gleichheitsgedankens zum Ziel setzten, implizierte freilich den Abbruch aller sozialen und ökonomischen Beziehungen zu denen, die sich der Gemeinschaft verweigerten.115 Möglicherweise ging der unbekannte Verfasser116 davon aus, dass die angestrebte christliche Gesellschaftsordnung, in der die Differenz zwischen göttlichem Gesetz und realer Gestaltung aufgehoben sein würde, bereits in der Zeit der Urkirche bestanden hatte. Die Überwindung der sozialen und ökonomischen Misere des gemeinen Mannes durch die christliche Vereinigung, die eine wahrhaft christlich-brüderliche Gesellschaft heraufführe, soll durch die der Bibel entnommenen normativen Kriterien der Nächstenliebe und des ‚gemei109

  Laube/Seiffert, a.a.O., S.  26,28; zu den normativen biblischen Konzepten, die im Kontext der bäuerlichen Reformation aktiviert wurden, vgl. nur: Peter Blickle, Die Revolution von 1525, 3. erw. Aufl. München 1993, S.  140–149; unter freilich wohl überakzentuierter Rückbindung an die ‚göttliche Gerechtigkeit‘ bei Zwingli: Ders., Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, Studienausgabe, München 1987, S.  154–158. 110   Laube/Seiffert, a.a.O., S.  29,11; vgl. 29,24.27; 30,26. 111   Zit. nach der zweiten Druckfassung, ed. in: Gottfried Seebaß, Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Studien zu drei zentralen Dokumenten des südwestdeutschen Bauernkrieges [AHAW Phil. hist. Kl. Jg. 1988,1], Heidelberg 1988, S.  77,15–78,6; vgl. auch Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  108, S.  32,2–7. 112   Seebaß, Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  34,2 f.; zu den normativen Konzepten „altes“ und „göttliches Recht“ in der frühreformatorischen Flugschriftenliteratur vgl. Susanne Ritter, Die kirchenkritischen Tendenzen in den deutschsprachigen Flugschriften der frühen Reformationszeit, Diss. phil. Tübingen 1970, S.  225 ff. 113   Seebaß, Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  35,9 f. 114   A.a.O., S.  35,10 f. 115   A.a.O., S.  36,19 ff.; zum Konzept des ‚weltlichen Banns‘, der über die der Gemeinschaft Fernbleibenden verhängt werden sollte, vgl. Seebaß’ instruktive Hinweise a.a.O., S.  149 ff.; vgl. Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  233,1 ff. 116   Seebaß geht davon aus, dass Hubmaier als Verfasser des Artikelbriefes wahrscheinlich ist; Müntzerische Forderungen hingegen könnten besonders in den Schlösserartikel eingegangen sein, vgl. a.a.O., S.  24 ff.

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nen Nutzens‘ gewährleistet werden.117 Im Verfassungsentwurf118 schließlich war vorgesehen, dass sich das Volk „einer jeden landschaft“119 zu einem Bund zusammenschlösse, um das „Schinden, Schaben, Stöcken, Blöken, Zwingen, Tringen und ander Tyrannei“ der „weltlichen Herren“120 nach Gottes Willen zu beenden und eine „Ordnung“ „nach dem Worte Gottes“121 aufzurichten. Handlungssubjekt der Aufrichtung der theokratischen Ordnung sei die „Gemein“122, die gemäß der Bußordnung des Matthäusevangeliums (Mt 18,15–18) die Obrigkeit dreimal zum Eintritt in die bruderschaftliche Vereinigung auffordern solle. Verweigere sich diese, dann habe die „Gemein“ der jeweiligen Landschaft die Obrigkeit zu entmachten und das Schwert „einem anderen [zu] geben“123. Nach einem nicht ganz klaren124 Wahlverfahren, bei dem die Gemeinde aber wohl als eigentlicher Akteur vorgestellt ist und aus ihren Reihen, unter Einschluss der gleichberechtigten Adeligen, auswählt, werden die jeweiligen obrigkeitlichen Amtsträger legitimiert. Sollte es Beschwernisse bezüglich der Amtsführung geben, wird der Amtsträger gemäß dem dreimaligen Bußappell nach Mt 18,15–18 ermahnt und im Falle anhaltender Unbotmäßigkeit abgesetzt.125 Zu einer Austilgung der „blutdurstigen Tyrannen“126, wie es in unübersehbarer sprachlicher Nähe zu Thomas Müntzer heißt127, solle es aber erst dann kommen, wenn sie ihre verlorene Herrschaft zurückzugewinnen und die eingeführte göttliche Ordnung – ein Schlüsselbegriff Thomas Müntzers128 – abzuschaffen versuchten. 117

  Vgl. bes. Seebaß, a.a.O., S.  44 ff.; 150 ff.   Der Text desselben ist nicht erhalten, sein Inhalt aber durch die Wiedergabe des im Besitz Hubmaiers befindlichen Manuskriptes in Johann Fabris Schrift Ursach, warumb der Widerteuffer Patron .  .  . Balthasar Hubmaier zu Wien .  .  . verbrant sei, 1528, in Teilen verbürgt; ed. danach in: Franz, Quellen, wie Anm.  92, Nr.  67, S.  231–234; vgl. im Ganzen: Seebaß, Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  160 ff.; vgl. auch Blickle, Revolution, wie Anm.  109, S.  226–228. 119   Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  232,7. 120   Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  232,9. 121   A.a.O., S.  232,14. Der Passus basiert auf der apokalyptischen ‚Ansage‘, dass die „Zeit schon komen“ sei, dass Gott die genannten Erscheinungen der „Tyrannei“ „nicht mehr leiden wölle“, a.a.O., S.  232,8–11. 122   A.a.O., S.  232,16. 123   A.a.O., S.  232,19. 124   Vgl. dazu Seebaß, Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  168 f. 125   Fabris wohl vornehmlich in eigenen Wendungen formulierte Wiedergabe des entsprechenden Passus des Verfassungsentwurfes lautete: „Und leert also wie man König, Fürsten, Herzogen und Landshern setzen solle. Nemlich so das Volk bei einander ist, das sie zusamen geloben das Wort Gottes zu halten, und under zwelfen, so man von den Bauern fürschlecht, soll einer erwelet werden, und soll daran der Adel nicht angesehen werden. Und so derselbige nachvolgende auch ungeschickt würde und von einer Landschaft zum dritten Mal gestraft, mag derselbig auch abgesetzt werden, und sollen die Landschaft hiezu einander verbinden, ihr Leib, Eher, Gut und Blut zusamen zu strecken und vorgissen.“ Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  232,22–30. 126   Franz, a.a.O., S.  232,35 f. 127   Sie ist etwa von Walter Elliger (Thomas Müntzer, Göttingen 31976, S.  660 ff.) und Seebaß (Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  165 ff.) meines Erachtens mit durchschlagenden Argumenten gezeigt worden. 128   Vgl. bes. Dieter Fauth, Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990, 118

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§  5  Politiktheorie

Auch die im Verfassungsentwurf enthaltene Vorstellung, dass den Obrigkeiten nach Dan 7,27 f. das Schwert entzogen werden solle129, hat eine Parallele in Müntzers Fürstenpredigt vom Juli 1524, in der es heißt, dass den „thewren veter[n]“, den Für­ sten, dann, wenn sie das ihnen gegebene Schwert nicht benützten, um „die gotlosen zu vertilgen“, „das schwerten genommen“ 130 werde. Die für die konzeptionell wenig greifbare theokratische Ordnungskonzeption Müntzers wichtige apokalyptische Dimension131, die für die übrige Publizistik des Bauernkrieges keineswegs zentral genannt werden kann, spiegelt sich in dem Verfassungsentwurf.132 S.  89–123, der den mystischen und antiken Hintergründen der Müntzerschen ordo-Lehre nachgeht; mystische Hintergründe betont vor allem: Hans-Jürgen Goertz, Innere und äußere Ordnung in der Theologie Thomas Müntzers [SHCT 2], Leiden 1967, bes. S.  39 ff.; vgl auch Wolfgang Rochler, Ordnungsbegriff und Gottesgedanke bei Thomas Müntzer. Ein Beitrag zur Frage „Müntzer und die Mystik“, in: ZKG 85, 1974, S.  369–382; Campi, Foedus, wie Anm.  134, S.  170; Warncke, Wörterbuch, wie Anm.  136, S.  357 (s. v. Ordnung, Verzeichnung sämtlicher Belege); zur mich nicht ganz überzeugenden Ableitung des Müntzerschen Ordnungskonzepts aus der Rhetorik Quintil­ lians, die die Ausbildung hermeneutischer Strukturbegriffe ermöglicht habe, vgl. Ulrich Bu­ benheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung [SMRT 46], Leiden 1989, bes. S.  210–212; vgl. knapp auch: Gottfried Seebaß, Art. Müntzer, Thomas, in: TRE 23, 1994, S.  414–436, hier: 422 ff. 129   Franz, Quellen, wie Anm.  92, S.  232,19. 130   Günther Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  261,15–18 = ThMA 1, S.  319,18–20; zur Fürstenpredigt vgl. nur: Elliger, Müntzer, wie Anm.  127, S.  443 ff.; Günter Vogler, Thomas Müntzer, Berlin 1989, S.  160 ff.; Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär, München 1989, S.  100 ff. Einem Brief an den Schösser Zeiß (22.  7. 1524) ist meines Erachtens zu entnehmen, dass Müntzer davon ausging, dass die Herrschaftsgewalt „in kurzer zeyt dem gemeinen volk gegeben“ (Franz, a.a.O., S.  417,25 = ThMA 2, wie Anm.  18, S.  302,7 f.; vgl. 205,8; Franz, a.a.O., S.  505,2–4 = ThMA 1, S.  427,26 f.) werde. Vgl. zu Müntzers gedanklicher Entwicklung, die ihn dazu führte, den ‚gemeinen Mann‘ als Träger der endzeitlichen Herrschaft zu interpretieren: Eike Wolgast, Der gemeine Mann bei Thomas Müntzer – und danach [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 7], Mühlhausen 2006. 131  Zur Apokalyptik Müntzers vgl. außer Goertz, Apokalyptik, wie Anm.   1: Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten [BHTh 55], Tübingen 1977; Gottfried Seebaß, Reich Gottes und Apokalyptik bei Thomas Müntzer, in: Ders., Die Reformation und ihre Außenseiter, Göttingen 1997, S.  165–185; Hans-Jürgen Goertz, Ende der Welt und Beginn der Neuzeit. Modernes Zeitverständnis im „apokalyptischen Saeculum“, Thomas Müntzer und Martin Luther [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 3], Mühlhausen 2002, bes. S.  13 ff.; von einem engen, an der Johannesoffenbarung orientierten Begriff der Apo­ kalyptik her kritisch gegenüber der Rede von Müntzer als Apokalyptiker, freilich demgegenüber das revolutionär-aktionistische prophetische Selbstverständnis Müntzers betonend: Emmet McLaughlin, Apocalyptism and Thomas Müntzer, in: ARG 30, 2004, S.  98–131; vgl. zur politischen Ideenwelt und zum ‚Gesellschaftsentwurf‘ Müntzers: Kee Rynn Kim, Das Reich Gottes in der Theologie Thomas Müntzers [EHS.R 23/508], Frankfurt/M. u. a. 1994, bes. S.  138–167; Peter Nitzschke, Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen, Stuttgart, Weimar 1995, S.  102–123 (Betonung des durch Müntzers Außenseitertum und die theologisch-spekulative Fundierung seiner politischen Überzeugungen beförderten, rückwärts, „ins Mittelalter“ [S.  122], gewandten Charakters seiner politischen Theologie); Uwe Arndt (Theologie als Weltordnung. Zur Frage des Gesellschaftsentwurfs in der Theologie Thomas Müntzers [EHS.R 31/329], Frankfurt/M. u. a. 1997, bes. S.  176–179) vertritt die These, dass Müntzer aufgrund seines dualistischen theologischen Ansatzes außerstande gewesen sei, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln; vgl. zur Sache auch: Blickle, Revolution, wie Anm.  109, S.  228–232; Tobias Quilisch, Das

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Die für die Endzeit angekündigte „voranderung der weldt“133 wird für Müntzer in Geisterfahrungen der Auserwählten konkret und manifestiert sich schließlich in dem in Mühlhausen gegründeten „ewigen Bund“134, dessen Zeichen, die Regenbogenfahne135, den noachitischen Bund und die Restitution der nach der Sintflut eingetretenen, in den Kämpfen der Gegenwart wiederhergestellten Ordnung Gottes symbolisiert. Die von der Gemeinde her konzipierte Ordnung, die Müntzer vor Augen stand und die im Ringen der Auserwählten gegen die Gottlosen durchgesetzt werden sollte bzw. in der Praxis der Gütergemeinschaft schon jetzt anhob, basierte darauf, dass „das volk [.  .  .] frey“ und „Got [.  .  .] alleyn der Herr daruber sein“136 werde. In dem 132

Widerstandsrecht und die Idee des religiösen Bundes bei Thomas Müntzer [Beiträge zur politischen Wissenschaft 113], Berlin 1999, S.  213–220 (zum Bundesgedanken als Teil der Widerstandskonzeption Müntzers). Eine konzise Analyse der neueren Müntzerforschung bietet: Hans-Jürgen Goertz, Müntzerforschung nach der Wende, in: ThLZ 128, 2003, Sp.  972–987. 132   Vgl. Anm.  121. 133   Franz, Müntzer, wie Anm.  130, S.  255,16 = ThMA 1, S.  314,4. 134  Vgl. Elliger, Müntzer, wie Anm.  127, S.  725; 769; Günter Vogler, Ein Aufstand in Mühlhausen im September 1524. Versuch einer Revision und Rekonstruktion, in: Ders., Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 4], Mühlhausen 2003, S.  89–104; Sven Tode, Stadt im Bauernkrieg 1525. Strukturanalytische Untersuchung zur Stadt im Raum anhand der Beispiele Erfurt, Mühlhausen/Thür., Langensalza und Thamsbrück, Frankfurt/M. u. a. 1994, S.  143 ff.; 181 ff.; vgl. Walther Peter Fuchs (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd.  2, Jena 1942, ND Aalen 1964, Nr.  1128, S.  47–49, sowie in: Werner Lenk (Hg.), Dokumente aus dem deutschen Bauernkrieg. Beschwerden, Programme, theoretische Schriften, Leipzig 1974, S.  155–158. Freilich lassen die „Elf Artikel“ keine apokalyptische Tönung erkennen; aus der Perspektive der Mühlhäuser Geschichte stellen sie sich sehr anders dar, als wenn man sie in den Horizont der Theologie Müntzers rückt. Manches deutet darauf hin, dass der Einfluss Müntzers in Mühlhausen in der älteren Forschung überbetont worden ist. Zur Sache auch: Tom Scott, Thomas Müntzer. Theology and Revolution in the German Reformation, Houndmills / London 1989, S.  127–180; Thomas T. Müller, Bauernkrieg nach dem Bauernkrieg. Die Verwüstung der Mühlhäuser Dörfer Dörna, Hollenbach und Lengefeld durch Eichsfelder Adel und Klerus, Duderstadt 2001, S.  21 ff.; zur Zusammensetzung des Bundes: Eckhart Leisering, Die Mitglieder des Ewigen Bundes Gottes in Mühlhausen, in: Mühlhäuser Beiträge 11, 1988, S.  5 –18. Zum in Allstedt gegründeten, für Mühlhausen nicht unwichtigen Bund Müntzers grundlegend: Siegfried Bräuer, Thomas Müntzer und der Allstedter Bund, in: Ders., Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation, hg. von Hans-Jürgen Goertz und Eike Wolgast, Leipzig 2000, S.  91–121; um eine theologische Profilierung der Müntzerschen Bundestheologie vor ihrem mystischen Hintergrund hat sich bemüht: Emidio Campi, „Foedus Christianitatis Causa Adversos Impios“. Zur Bedeutung des Bundes bei Thomas Müntzer, in: Italo Michaele Battafarano/Hildegard Eilert (Hg.), Begrifflichkeit und Bildlichkeit der Reformation [IRIS Forschungen zur europäischen Kultur 5], Bern u. a. 1992, S.  167–195, bes. 170 ff.; zu Müntzer im Bauernkrieg vgl. verschiedene Beiträge in: Günter Vogler (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald [Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft 69], Stuttgart 2008; vgl. auch unten II, §  10, Anm.  223. 135  Vgl. Rainer Wohlfeil, Regenbogenfahne und Regenbogen, in: Vogler, Bauernkrieg, wie Anm.  134, S.  313–328. 136   Franz, Müntzer, wie Anm.  130, S.  343,13 f. = ThMA 1, S.  398,23; zur Semantik des ‚Volkes‘ bei Müntzer instruktiv: Ingo Warncke, Wörterbuch zu Thomas Müntzers deutschen Schriften und Briefen [Lexicographica Ser. Mai. 50], Tübingen 1993, S.  270 f. Das explizite Bekenntnis Müntzers zum Grundsatz „Omnia sunt communia“ (Franz, a.a.O., S.  548,15 = ThMA 3, S.  271,1 f.) findet sich in seinem unter der Folter abgegebenen Geständnis, bei dessen Interpretation bekanntlich Vorsicht

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§  5  Politiktheorie

gesellschaftlichen Ziel einer brüderlichen, die Gerechtigkeit Gottes widerspruchsfrei abbildenden, egalitären, demokratisch oder kommunalistisch verfassten theokratischen Ordnung stimmten die weithin unapokalyptischen Bauern und der apokalyptische Prediger Thomas Müntzer überein. Im Wirken Müntzers und der aufständischen Bauern waren theokratische Vorstellungen zu einem entscheidenden Faktor sozialrevolutionärer Praxis geworden. Fragt man nach den Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen es in der Frühzeit der Reformation zu einer sozialrevolutionären Praxis theokratischer Vorstellungen kam, dürfte nicht nur der Blick auf die vorreformatorische Reformliteratur und die bäuerlichen Aufstandsbewegungen von Interesse sein. Auch die Berücksichtigung einiger frühreformatorischer Flugschriften, in denen bündische Vergemeinschaftungen „christlicher Vereinigungen“ eine zentrale Rolle spielten, scheint ergiebig zu sein.137 Von dem für zeitgenössische Leser kaum als Fiktion durchsichtigen Zusammenschluss der XV Bundesgenossen etwa, die sich nacheinander in je einer zunächst anonym erschienenen Flugschrift zu zentralen Fragen der Kirchenund Gesellschaftsreform äußerten und als Akteure der gestaltenden Veränderung des Bestehenden präsentierten, wurde eine „newe ordnung weltlich standts“138 und geboten ist; vgl. vor allem aus quellen- und überlieferungskritischer Perspektive: Siegfried Bräuer, Die Überliefung von Thomas Müntzers Gefangenschaftsaussagen, in: LuJ 73, 2006, S.  41–86; forschungsgeschichtlich gut orientiert, gegenüber Müntzers Ordnungsvorstellungen aber nicht gänzlich überzeugend und in der Absage an eine historische Verortung der Gütergemeinschaft bei Müntzer vielleicht doch zu apodiktisch: Friedemann Stengel, Omnia sunt communia. Gütergemeinschaft bei Thomas Müntzer, in: ARG 102, 2011, S.  133–174. 137   Als Beispiele verweise ich lediglich auf einen vier Einzelschriften umfassenden Flugschriftenzyklus eines angeblichen adligen Bundes, den ich unten II, §  10, hier: Abschnitt 6., analysiert habe, auf den Bundesschluss im Neu-Karsthans (vgl. den Abdruck der ‚Bundesartikel‘ in: BDS 1, S.  442, 26–444,35) oder auf Schriften aus dem Kontext der Ritterschaftsbewegung, etwa: Ritterschaft brüderliche vereinigung .  .  . zu Landau (ed. in: Karl Schottenloher [Hg.], Flugschriften der Ritterschaftsbewegung des Jahres 1523 [RGST 53], Münster 1929, S.  29–37). Sollte die im Kontext der Ritterschaftsbewegung zu belegende Formel „in dem namen der heiligen unzertheylten Dreifaltigkeyt“ (Schottenloher, Flugschriften, a.a.O., S.  30,8 f.; 36,19 f.), die sich auch in einer Überlieferung der Bundesordnung (vgl. Seebaß, Artikelbrief, wie Anm.  111, S.  77,8–10; vgl. Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  108, S.  567) findet, auf rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen bäuerlichen und adeligen Verbrüderungen bzw. Bundesschlüssen hindeuten? Vgl. zum bundestheologischen Kontext: Hans J. Hillerbrand, Bundesbegriff und Bundestheologie bei Thomas Müntzer und den frühen Täufern, in: Vogler, Wegscheiden, wie Anm.  223, S.  85–98. 138   Titel des 11. Bundesgenossen, zit. nach: Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  121; zu den XV Bundesgenossen vgl. nur unten II, §  10, Abschnitt 5.; Christian Peters, Johann Eberlin von Günzburg ca. 1465–1533. Franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformator [QFRG 60], Gütersloh 1994, S.  33 ff.; zu den Wolfaria-Stücken auch: Günther Heger, Johann Eberlin von Günzburg und seine Vorstellungen über eine Reform in Reich und Kirche [Schriften zur Rechtsgeschichte 35], Berlin 1985, bes. S.  21 ff.; 47 ff. Zum utopischen Potential der Wolfaria-Stücke und zum Basler Kontext: Günter Vogler, Von Eberlin zu Stiblinus. Utopisches Denken zwischen 1521 und 1555, in: Siegfried Hoyer (Hg.), Reform – Reformation – Revolution, Leipzig 1980, S.  143–150; Siegfried Hoyer, Utopia deutsch. Zu den Gleichheitsvorstellungen im Basler Humanistenkreis, in: JGF 5, 1981, S.  237–254 (zur deutschen Übersetzung der Utopia und zu Fragen der Gütergemeinschaft in Basler Quellen der frühen 1520er Jahre).

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ein die „reformierung geystlichen stand[s]“139 betreffendes Statut verbreitet. Diese beiden Flugschriften stellten sich als Veröffentlichung normativer Texte aus einem Land namens „Wolfaria“ dar: die Reform des geistlichen Wesens als „statut, satzung und ordnung“ der „houptleüt und ringk männer“140, die des weltlichen Standes als Entwurf; denn in dem außerhalb Europas gelegenen „Wolfaria“ würden die politischen und sozialen Verhältnisse nur aufgrund der Zustimmung des Volkes verändert und gestaltet.141 Das kommunalistisch geordnete Gemeinwesen Wolfarias, dessen Fiktionalität den Zeitgenossen, die mit Reisebeschreibungen ferner Länder vertraut waren, allenfalls aufgrund des Namens dieses Landes durchsichtig gewesen sein dürfte, weist in einigen Elementen deutliche Übereinstimmungen mit spätmittelalterlichen Reformschriften und bäuerlichen Forderungen auf. Die agrarisch strukturierte, autarke Gesellschaft Wolfarias, in der die „fuckerey“142 abgeschafft und Luxusimporte von Weinen und Tuchen143 verboten sind, basiert auf der Autonomie einzelner, aus je 200 Höfen gebildeter Vogteien, die von gewählten Amtspersonen geleitet werden.144 An der Spitze des Gemeinwesens steht ein in Abstimmung mit den Fürsten regierender König.145 Keine der Amtspersonen erhält für die Wahrnehmung ihres Amtes „etwas sunders“; „[d]och soll man sie von eim gemeinen nutz besolden nach grösze ir arbeit.“146 Ein dynastisches Prinzip ist ausgeschlossen; 147 der normative Leitwert, an dem sich das gesellschaftliche Leben in Wolfaria orientiert, ist der „gemeine Nutzen“148. Wild, Geflügel, Fische und Holz sind Gemeingut; 149 der Bettel ist abgeschafft, die Nahrungspreise werden gemeinschaftlich kontrolliert, Luxus ist verpönt, doch auch klerikale Ernährungsrestriktionen, etwa durch Fasten, gibt es nicht.150 Hinsichtlich der Kleidung, des Münzwesens, der medizinischen Versorgung, des Ehelebens, der allgemeinen Schulpflicht, bei der die 139

  Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  107.   A.a.O., S.  108. 141   „Ich elffter bundts gnoß will euch fürhalten was Psitacus [sc. der Reisende, der diese Schriftstücke aus Wolfaria mitgebracht hat] sagt, das die regenten betracht haben in Wolfaria ein ordnung zu machen in weltlichem stand, wie wol sie solchis noch nit beschlossen haben, alein aber angeschlagen, dann sie bedörffen nit im selben land kein ordnung machen für gemeine stat und dorff, man sol vorhin solich ordnung umbfüren in alle vogtyen und das volck fragen ob es im gefall, dannocht will ich eüch iren anschlag nit verhalten.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  122; vgl. am Schluss den Hinweis, diese Ordnung sei „nach bestätigung unser landtschafft“ (a.a.O., S.  131) in Geltung gesetzt. 142   Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  124. 143   A.a.O., S.  125. 144   A.a.O., S.  122 f. 145   „Under allen fürsten sol einer uß in genant werden küng, der auch nicht vermög on rat und hylff der fürsten.“ A.a.O., S.  123. Der Fürst oder Herzog steht einem Verband von je zehn Städten vor, die jeweils von einem Grafen geleitet werden, a.a.O., S.  122. 146   A.a.O., S.  123. 147   „Kain obgemelt ampt sol geerbt werden [.  .  .].“ A.a.O., S.  123. 148   A.a.O., S.  123. 149   A.a.O., S.  125. 150  Ebd. 140

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§  5  Politiktheorie

drei alten Sprachen eine besondere Rolle spielen, der Abschaffung des kanonischen Rechtes und der völligen Entmachtung der Juristen etc. herrschen in Wolfaria strikt egalitäre Verhältnisse, die sogar die Pflicht der Männer, „by grosser pein lang bärt [zu] tragen“151, einschließt. Heiden und Juden wird in Wolfaria Toleranz entgegengebracht, doch öffentliche Ämter sollen ihnen nicht übertragen werden.152 Die Verehrung eines „waren Got[tes]“153 gilt als selbstverständliche Grundlage des Gemeinwesens; die Geistlichen, deren Zahl begrenzt ist, wirken ausschließlich als Gemeindepfarrer, nicht mehr als Mönche; sie sollen verheiratet sein154, repräsentieren also einen bürgerlichen Berufsstand. Ähnlich wie in der Reformatio Sigismundi und beim ‚Oberrheinischen Revolutionär‘ bildet die Ehe also die schlechterdings fundamentale Basis der Gesellschaft. Deshalb soll es in Wolfaria bereits zehn Wochen nach dem Tod eines Ehepartners zur Neuvermählung kommen.155 151

  A.a.O., S.  127; vgl. zu dieser vielleicht nicht nur unter die „‚Kuriositäten‘“ (so Peters, Eberlin, wie Anm.  138, S.  38) zu zählenden Bestimmung die interessanten Hinweise in der Anti-MüntzerPolemik: In der [Johann Agricola] zugeschriebenen Dialogflugschrift Ein nutzlicher Dialogus odder gesprechbuchlein zwischen einem Müntzerischen Schwermer und einem Evangelischen frumen Bawern von 1525 (ed. in: Ludwig Fischer, Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer [dtv WR 4270], München, Tübingen 1976, S.  79–95. 181–200 [Kommentar]) spricht der ‚fromme evangelische Bauer‘ den „Schwärmer“ folgendermaßen an: „Du hast ja ein gesaltzens angesicht [sc. eine Leidensmiene, S.  182 z. St.] und einen langen barth / ich hallt du seist auch einer von den fluchtigen schwermern [.  .  .].“ S.  80,9 f. Und in der bis vor kurzem recht einvernehmlich Melanchthon zugeschriebenen Historie Thome Muntzers (ed. Fischer, S.  27–42.135–155 [Kommentar]; zur Verfasserfrage s. Heinz Scheible, Die Verfasserfrage der „Historie Thome Muntzer“, in: Ulman Weiss [Hg.], Flugschriften der Reformationszeit, Tübingen 2001, S.  201–213; ND in: Heinz Scheible, Aufsätze zu Melanchthon [SMHR 49], Tübingen 2010, S.  328–341; vgl. Günter Vogler, Thomas Müntzer in einer Bildergeschichte [SVRG 211], Gütersloh 2010, S.  29–35) wird als Summarium der Lehre Müntzers angegeben: „[.  .  .] anfengklich must man ablassen von offenlichten lastern / als eebruch / todtschlag / gotslesterung / und der gleichen / dabey must man den leib casteyen unnd martern / mit fasten / mit schlechter kleydung / wenig reden / sawr sehen / den bart nicht abschneiden / Der gleichen kindische zucht nennet er [sc. Müntzer] todtung des fleischs und creutz [.  .  .].“ A.a.O., S.  30,10–15. Der Bart wurde zu einer Art Schibboleth des Radikalen, vgl. die Beispiele a.a.O., S.  52,34; 55,34; 90,9. Vor diesem Hintergrund scheint mir erwägenswert, die Bärte in Wolfaria als symbolisch bedeutsamen kulturellen Hinweis zu interpretieren, d. h. im Sinne eines asketischen, an alttestamentlichen Geboten orientierten Ethos zu deuten. In der Mitte des 16. Jahrhunderts urteilte man im Luthertum übrigens anders über die Barttracht, vgl. die Hinweise in: Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548–1551/2 [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  267 f. Anm.  290, worin wahrscheinlich ein definitiver Bruch mit der für Priester obligatorischen Rasur des Gesichtes (vgl. Philipp Hofmeister, Der Streit um des Priesters Bart, in: ZKG 72, 1943/4, S.  72–94, bes. 85–88) zu sehen ist. Sollte dem mit einem Bart von der Wartburg zurückkehrenden Luther (vgl. nur Martin Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image [dtv 3904], München 1984, S.  50 f.; s. unten II, §  8, Anm.  86; §  8, Abb.  7) eine in Bezug auf die Transformation des ‚Habitus‘ des Gelehrten und Theologen wichtige Bedeutung zukommen? 152   „Ob mißgloübig wellen under unß wonen, soll man inen nicht laidts thun, sunder früntlich halten wie unsere burger, doch soll man sie zu keiner burgerlichen eer brauchen oder ampt, sie sollen auch unsere gesetz und glouben nit schmähen.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  130 f. Interessant hingegen sind die Bestimmungen bezüglich der ‚altgläubigen‘ Rituale, a.a.O., S.  130. 153   A.a.O., S.  108. 154   A.a.O., S.  110 ff. 155   A.a.O., S.  113.

3.  Theokratie als Handlungsmodell

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Die Ordnung des Religionswesens basiert auf einer Setzung der politischen Verantwortungsträger Wolfarias156, d. h. zwischen weltlicher und geistlicher Ordnung besteht ein eindeutiges Verhältnis der Subordination. In Wolfaria ist eine widerspruchsfreie Identität zwischen einer als real vorgestellten gesellschaftlichen Ordnung und dem normativen Konzept des „gemeinen Nutzens“ verwirklicht. Interessanterweise leitet sich diese Ordnung – ähnlich wie in Utopia – nicht aus dem Willen eines göttlichen Gesetzgebers oder aus einer spezifischen Offenbarung ab, sondern verdankt sich dem kommunalistisch-demokratischen Konsens der Glieder dieses Gemeinwesens.157 Unbeschadet mannigfacher inhaltlicher Parallelen zu den bereits behandelten theokratischen Konzepten dürfte es deshalb fraglich sein, ob Wolfaria als Theokratie anzusprechen ist. Doch als Leitbild, an dem reformatorische Akteure ihr Handeln orientieren konnten, mag der Gesellschaftsentwurf der XV Bundesgenossen Eberlins von Günzburg von einer gewissen Bedeutung gewesen sein. Der entscheidende Unterschied zwischen Wolfaria und der idealen Gesellschaftsordnung in der zumeist dem Nürnberger Buchdrucker Hans Hergot zugeschriebenen Flugschrift Von der neuen Wandlung158 von 1527 besteht wohl darin, dass hier Gott als Initiator jener nach joachimitischer Tradition im Zeichen des Heiligen Geistes erfolgenden „new wandlung, ynn welcher wird niemand sprechen. Das ist meyn“159, in Anspruch genommen wird. Diese grundstürzende Veränderung, die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse völlig auf den Kopf stellen wird, leitet Gott selbst ein, indem er wegen des im Bauernkrieg vergossenen Blutes des ‚gemeinen Mannes‘ den Türken auferweckt und so einen gewaltigen Kampf vieler einleitet.160 Ähnlich wie in Wolfaria wird es in der Gesellschaft der „neuen Wandlung“ eine auf Gütergemeinschaft und dem Prinzip des gemeinen Nutzens161 basierende Ordnung geben, in der ein Wahlkö156

  A.a.O., S.  108.   Die Räte in Wolfaria werden aus „edelleüt“ und „baurßleüt“ (a.a.O., S.  123) gebildet. Die Annahme des Satzungsentwurfs von Wolfaria erfolgt durch die „landtschafft“, a.a.O., S.  131. 158   Ed. in: Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  108, S.  547–557; 642 f.; zu dieser Schrift umfassend: Carola Schelle-Wolff, Zwischen Erwartung und Aufruhr. Die Flugschrift „Von der newen wandlung eynes Christlichen Lebens“ und der Nürnberger Drucker Hans Hergot [EHS.R 1/1549], Frankfurt/M. u. a. 1996. Blickle hat in Von der neuen Wandlung „[k]ommunistische, gemeindlich-demokratische und republikanisch-theokratische Elemente“ (Blickle, Revolution, wie Anm.  109, S.  232; vgl. 232–236) wahrgenommen. 159   Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  108, S.  547,12 f. 160   „[.  .  .] Gott hat fur das blut der bawrn das sie yhm geschencket haben aufferweckt den Turcken mit allen unglewbigen widder sie, do gehet erst der recht streyt daher als man vor awgen sicht, ya nicht den Turcken alleyn, sunder unsern aller heyligsten vater den bapst und die höchsten priester alle mit eynander ynn uneynigkeyt, unnd eyn ytzlicher begertt des andern bluts.“ Laube/Seiffert, a.a.O., S.  556,18–22; zur ‚Türkenhoffnung‘ bei den ‚Radikalen‘ der Reformation vgl. Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008, S.  47–54; 191–207. 161  Vgl. Laube/Seiffert, a.a.O., S.  547,9. Die „furderung der ehre Gottes und des gemeynen nutzens“ hat als zentrales Anliegen des auf Frieden und Einigkeit (a.a.O., S.  555,35 ff.) abzielenden Gesellschaftsentwurfs zu gelten, vgl. 549,34 ff.; zum Hintergrund: Hans-Dieter Plümper, Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts [Göppinger Akademische Beiträge 62], Göppingen 1972, S.  23–37; Schubert, Kommunismus, wie Anm.  177; James M. Stayer, The German 157

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§  5  Politiktheorie

nig als weiser und gerechter Hirte die biblische Verheißung (Joh 10,16) erfüllt: „Eyn hiert und eynerley schaffstal“162 wird als Umschrift – neben dem Namen Jesu – auf den neu eingeführten Münzen des universalen Reiches zu lesen sein.163 So friedlich und harmonisch die theokratische Ordnung am Ende sein wird, so bedrohlich stellt sich ihre Durchsetzung für die Schriftgelehrten, die Fürsten und Herren, die ‚großen Hansen‘ dar: Denn Gott wird sich nicht schlagen lassen, „wie man den bawrn than hat. Wenn Gott will selber mit euch fechten [.  .  .], wer unschuldig ist, darff sich nicht furchtenn. Wer sich aber schuldig weys, fliehe zu Gott unnd bit yhn umb gnad, ist grosse zeyt, denn er wil das unkraut ausrotten.“164 Nach den Erfahrungen der Machtlosigkeit im Zuge des Bauernkrieges wird Gott hier selbst zum wichtigsten Akteur bei der Aufrichtung einer heiligen und gerechten Ordnung. Wesentliche Elemente der theokratischen Gesellschaftskonzeption der „Neuen Wandlung“ wurden bei dem Erben des Hutschen Täufertums, Augustin Bader, fortgeführt: Auch er konzipierte das endzeitliche Reich Christi als agrarische Gesellschaft, in der es nur einen Stand gäbe, geistliche Funktionsträger integriert wären und zwischen Wahlkönig und gemeinem Mann vertrauliche Unmittelbarkeit bestünde.165 Die widerspruchsfreie Identität des einheitlichen, universalen Reiches mit der göttlichen Ordnung wird bei Bader – ähnlich der heilsgeschichtlichen Rolle des Türken bei Müntzer, den Zwickauer Propheten166, Hut und der „Neuen WandPeasants’ War and Anabaptist Community of Goods [McGill-Queen’s Studies in the History of Religion 6], Montreal u. a. 1991, bes. S.  56 ff.; Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment der Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute [bsr 289], München 1984, darin bes. die Beiträge von James M. Stayer, Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens. Gütergemeinschaft im Täufertum, S.  21–49, und: Marion Kobelt-Groch, Christliche Gemeinschaft als programmatisches Experiment. „Tiroler Landesordnung“ und „Neue Wandlung“, S.  50–70; vgl. auch Robert W. Scribner, Konkrete Utopien. Die Täufer und der vormoderne Kommunismus, in: Ders., Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. von Lyndal Roper [VMPIG 175], Göttingen 2002, S.  224–264, bes. 235 ff.; Günter List, Chiliastische Utopie und radikale Reformation [Humanistische Bibliothek 1/14], München 1973, S.  91, der wie Hoyer, Utopia deutsch, wie Anm.  138, S.  243, die Hergot-Schrift in Abhängigkeit von Morus’ Utopia sieht; s. auch Siegfried Hoyer, Zu den gesellschaftlichen Hintergründen der Hinrichtung Hans Hergots (1527). Die Schrift, ‚Von der newen Wandlung eynes christlichen Lebens‘, in: ZfG 27, 1979, S.  125–139; auch Blickle sieht den ersten Teil der Schrift als Utopie, Revolution, wie Anm.  109, S.  233 f. 162   Laube/Seiffert, a.a.O., S.  551,38. 163   Vgl. zur Geltung eines Pfennigs mit Jesu Namen und der Angabe der „fluer“ (a.a.O., S.  550,3), in der die universal gültige Münze geschlagen wurde, vgl. S.  550,2 ff.; zu der aus Gold und Erz geschlagenen Münze a.a.O., S.  551,35 ff. 164   A.a.O., S.  557,15–19. 165  Vgl. Anselm Schubert, Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation [QFRG 81], Gütersloh 2008, S.  239 ff.; vgl. auch Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  160, S.  53 f.; 206. 166   Zu der Frage, ob in dem Bericht von dem im Januar 1522 in Wittenberg auftretenden Propheten, von dem die „Zeitung aus Wittenberg“ berichtet, Erinnerungsgut an Müntzer und einen Wittenbergaufenthalt desselben eingeflossen sein könnte, vgl. jetzt meine ausführliche Analyse in: Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine

3.  Theokratie als Handlungsmodell

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lung“167 – durch ein militärisch-politisches Strafgericht über die Gottlosen eingeleitet. Das gemeinsame Ziel all dieser Gesellschaftskonzeptionen, bei denen im Einzelnen schwer zu entscheiden ist, ob an ein diesseitig-irdisches oder an ein Reich des Geistes gedacht wurde168, besteht in der universalistischen Erfüllung der Verheißung aus Joh 10,16 und in der Aufrichtung einer Ordnung, in der Gott „sol herschen uber all ding, nichts außgenomen“169. Auf dem Weg zu diesem Ziel zerschlägt Gott die bestehenden Herrschaftsverhältnisse mittels des Türken und leitet durch seine Getreuen und Auserwählten den Übergang zu einer seiner Gerechtigkeit entsprechenden Ordnung ein. Hinsichtlich der geschichtlichen Akteure freilich, die jenes theokratische Zwischenreich auf den Weg bringen werden, differierten die Vorstellungen unter den Radikalen der Reformation. Waren es für Müntzer die Mitglieder des „Ewigen Bundes“ von Mühlhausen, so knüpfte sein Bundesgenosse und Frankenhäuser Kampfgefährte Hans Römer im Zeichen eines 1528 akut erwarteten apokalyptischen Weltendes daran an und schmiedete einen Plan zur Eroberung Erfurts und zur Aufrichtung einer täuferisch-theokratischen Herrschaft, von der alle ausgeschlossen werden sollten, die den Beitritt zum Täufertum verweigerten. Mit Hilfe militanter Kumpane, die Römer in der Stadt und in den umliegenden Dörfern gesammelt hatte, plante der quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010, S.  75–86. 167   Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  160, S.  53 f.; zu Ähnlichkeiten zwischen Hut und der Neuen Wandlung s. auch Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut [QFRG 73], Gütersloh 2002, S.  360 ff. 168   Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  167, hat in Bezug auf Huts Erwartung des Tausendjährigen Reiches betont, dass ihm „ein kräftig diesseitiger irdischer Zug“ (S.  359) eignete; Goertz hat in Bezug auf Müntzer und Hut gegenüber der Rekonstruktion einer chiliastischen Lehre zur Zurückhaltung gemahnt (Apokalyptik, wie Anm.  1, S.  115; vgl. 107). Wenn Schubert, Täufertum, wie Anm.  165, S.  243 Anm.  235, die These vertritt, dass der Umstand, dass Bader keine Aussagen über das Münzwesen trifft, ein Indiz dafür sei, dass man es bei ihm mit „einem rein geistlichen Reich“ (ebd.) zu tun habe, leuchtet mir nicht recht ein, wie sich dies zu den irdischen Reichsinsignien und zu der dynastischen Vorstellung des Baderschen Königtums (Schubert, a.a.O., S.  285 ff.) verhält. Einschlägig ist freilich die Differenz hinsichtlich der Sakramente: In der Neuen Wandlung wird es weiterhin Sakramente geben, die von karthäusisch lebenden Gotteshausernährern verwaltet werden (Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  108, S.  548,35 ff.; 549,23 ff.; vgl. dazu SchelleWolff, Erwartung, wie Anm.  158, S.  242 ff.), während es in Baders Urgicht nur heißt, nach der Eroberung der Welt durch die Türken und der Zerschlagung der weltlichen Herrschaften würden „oberkaiten, deßgleichen alle eüsserliche ceremonien, als sacrament, tawff, unnd annders, abgethon“ (Adolf Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich [1526–1535], Bd.  2, Berlin 1992, S.  985,31 f.). Dieser Zustand der äußeren türkischen Herrschaft werde dreieinhalb Jahre währen, dann werde „der gaist mer herschen, weder das flaisch“ (a.a.O., S.  985,35). Die dann einsetzende Veränderung werde sukzessive von Türken, Juden und Heiden angenommen. Auch bei Hoffman ist eine dreieinhalbjährige Herrschaft des Türken über die mit dem Antichristen verbündeten Fürsten vorgesehen, dann werde die „verendrung / diser vergencklichen [Welt] in das ewige“ einsetzen, zit. nach Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979, S.  225. 169   Laube, Flugschriften vom Bauernkrieg, wie Anm.  168, Bd.  2, S.  984,16 f.

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§  5  Politiktheorie

Kürschner, am Neujahrstag 1528 mit einer Schutztruppe von 40 Getreuen in Erfurt einzuziehen und vor der Stiftskirche St. Mariae zu predigen. Währenddessen sollten Komplizen in Wohnhäusern der Geistlichen auf dem Petersberg Feuer legen; Römer wollte dann in seiner Predigt die Geistlichkeit für diese Tat verantwortlich machen. Unter dem Schutz des erwarteten Tumultes sollten weitere bewaffnete Anhänger Römers in die Stadt eindringen, alle Geistlichen und die Obrigkeiten mit Feuer und Schwert vertilgen und einen ewigen Rat einsetzen.170 Möglicherweise sollte von Erfurt aus jene der Wiederkunft Christi vorausgehende Vernichtung der Gottlosen einsetzen, die nach der Meinung anderer vom Türken bewerkstelligt würde. Melchior Hoffman wurde darin zum direkten „Wegbereiter“171 der Münsteraner Theokratie172, dass er unter dem Einfluss der Straßburger Propheten und der Schriften Hans Dencks173 zur Konzeption eines Zwischenreiches vor der Parusie Christi gelangt war. Straßburg, so verkündete der Kürschner Hoffman, sei die von Gott erwählte Stadt, die er „über alle städt im ganzen erdreich“174 erhoben habe. Sie werde Gottes vollkommene Wahrheit, das „paner der gerechtigkeit“175, das ihr von ihm als Propheten verkündet sei, aufrichten. Die von Gott erwählte Stadt werde, unterstützt von den übrigen Reichsstädten, im Kampf gegen den Kaiser obsiegen; dann strömten apostolische Sendboten in alle Welt aus; die Pfaffen und die Gottlosen würden ausgerottet und eine Theokratie entstehen, deren königlicher Herrscher als „Präfiguration des Christos Pantokrator [.  .  .] die Erde zum Empfang des Gottessohnes“176 vorbereite. Zu Beginn der 1530er Jahre waren also jene Ideen im Schwange, die eine Realisierung der Theokratie im westfälischen Münster möglich machen sollten. 170   Vgl. die Hinweise bei Ulman Weiß, Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Weimar 1988, S.  223; die wichtigsten Dokumente sind greifbar in: Paul Wappler, Die Täuferbewegung in Thüringen 1526–1584, Jena 1913, bes. Beilage 47, S.  362–374, sowie 43–48; zum Eintrag Römers im „Ewigen Bund“ von Mühlhausen s. Leisering, Mitglieder, wie Anm.  134, S.  13: „Er ist wahrscheinlich identisch mit dem bekannten Täuferführer.“ Zu Römer s. MennLex. 5, hier: Art. Römer, Hans von Ulman Weiß; Gerhard Zschäbitz, Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem großen Bauernkrieg [LÜAMA R. B. 1], Berlin 1958, S.  67–73; James M. Stayer, Swiss-South German Anabaptism, 1526–1540, in: John D. Roth/ders. (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700 [Brill’s Companions to the Christian Tradition 6], Leiden u. a. 2007, S.  83–117, hier: 85 ff. (zu Müntzers Erbe bei Hut und Römer). 171   Deppermann, Hoffman, wie Anm.  168, S.  226. 172   Ralf Klötzer hat mehrfach (zuletzt: Herrschaft und Kommunikation. Propheten, König und Stadtgemeinde im täuferischen Münster 1534/35, in: Anselm Schubert/Astrid von Schlachta/Michael Driedger [Hg.], Grenzen des Täufertums [SVRG 209], Göttingen 2009, S.  326–345) gegen die traditionelle Rede vom „Täuferreich“ (a.a.O., S.  329 ff.) argumentiert. So berechtigt es ist, die dynamisch-prozesshaften Momente der politischen und gesellschaftlichen Vorgänge in Mün­ ster in den Vordergrund zu stellen, die nach Klötzer besser unter dem Begriff der „Herrschaft“ subsumiert werden, so wichtig scheint es mir auch zu sein, die diese Herrschaft begleitenden Raumvorstellungen, die dem Begriff des „Reiches“ implizit sind, mit zu bedenken. 173   Deppermann, Hoffman, wie Anm.  168, S.  226. 174   Zit. nach Deppermann, Hoffman, wie Anm.  168, S.  227. 175  Ebd. 176   Deppermann, a.a.O., S.  229.

4.  Die verwirklichte Ordnung Gottes in Münster

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4.  Die verwirklichte Ordnung Gottes in Münster Eine umfassende verlaufsgeschichtliche Darstellung der Münsteraner Täuferherrschaft in diesem Rahmen zu bieten, ist weder möglich, noch vom Forschungsstand her nötig.177 Folgende Sachverhalte können als gesichert gelten: Der seit 1529 als Kaplan an St. Mauritius in Münster tätige Bernhard Rothmann trat seit Februar 1532 profiliert als reformatorischer Prediger hervor. Unter seinem Einfluss gelang es evangelisch gesinnten Kräften der Bürgerschaft innerhalb weniger Monate, alle Pfarrkirchen der Stadt mit reformatorischen Predigern zu besetzen. In einem Vertrag zwischen dem Stadtherrn, Bischof Franz von Waldeck, und dem Rat wurde im Februar 1533 geregelt, dass der Dom und die Klosterkirchen beim ‚alten‘ Glauben blieben, die Pfarrkirchen hingegen evangelisch werden sollten. Unter den Predigern, die zum Teil als ‚exules Christi‘ von außen kamen, setzte, wohl wesentlich forciert durch Rothmann, eine theologische Radikalisierung ein, die auf ein ‚spiritualistisches‘ Abendmahlsverständnis und eine Bestreitung der Kindertaufe hinauslief. Die evangelisch gesinnte Bürgerschaft spaltete sich nun; der Rat suspendierte die Prediger und ließ allein Rothmann ein begrenztes Predigtrecht. Im Herbst 1533 formierte sich eine „prototäuferische“178 Gruppierung, die vom Rat unterdrückt wurde. Seit Beginn des Jahres 1534 wurde in der westfälischen Bischofsstadt der Einfluss des niederländischen Täuferpropheten Jan Matthijs, der von Melchior Hoffman geprägt war – 177

  An einschlägigen Arbeiten seien lediglich genannt: Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2 ; Hans von Schubert, Der Kommunismus der Wiedertäufer in Münster und seine Quellen [SHAW 11/1919], Heidelberg 1919; Plümper, Gütergemeinschaft, wie Anm.  161, S.  159–200; List, Utopie, wie Anm.  161, S.  198–231; Karl-Heinz Kirchhoff, Die Täufer in Münster 1534/35. Untersuchungen zum Umfang und zur Sozialstruktur der Bewegung [Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens 22], Münster 1973 (zur Sozialstruktur bes. S.  78–89); ders., Utopia 1534/5. Entstehung und Untergang der „Gemeinde Christi“ der sogenannten Wiedertäufer, in: Geschichte Original – am Beispiel der Stadt Münster 3, Münster 1982 (mit interessant erschlossenen Originaldokumenten, unter starker Betonung des Charakters Münsters als „neuem Jerusalem“ dargestellt); Wilhelm de Bakker/Michael Driedger/James Stayer, Bernhard Rothmann and the Reformation in Münster, 1530–35, Kitcheter, Ontario 2009; Stadtmuseum Münster (Hg.), Das Königreich der Täufer. Reformation und Herrschaft der Täufer in Münster. Ausstellung Münster 2000/1, Münster 2000; Hubertus Lutterbach, Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt [Geschichte des Bistums Münster 3], Münster 2006; vgl. auch Seibt, Utopica, wie Anm.  11, S.  182 ff.; in Bezug auf die publizistische Dimension wichtig: Günter Vogler, Das Täuferreich zu Münster im Spiegel der Flugschriften, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit [SMFN 13], Stuttgart 1981, S.  309–354; in dezidiert theokratische Perspektive rückt das Münsteraner ‚Täuferreich‘ die Studie von Claus Bernet, The Concept of the New Jerusalem among Early Anabaptists in Münster 1534/35. An Interpretation of Political, Social and Religious Rule, in: ARG 102, 2011, S.  175–194 (wobei Bernets Vorstellung, die Vorgänge in Münster folgten einer Art theologischem Masterplan, m. E. weder der Konstruktivität der Quellen, noch der offenen und ‚improvisierten‘ Situativität der Vorgänge selbst gerecht werden dürfte); zur Resonanz auf Münster im Rheinland, in Straßburg und auf der Ebene des Reiches grundlegend: Sigrun Haude, In the Shadow of the „Savage Wolves“: Anabaptist Münster and the German Reformation During the 1530s [Studies in Central European Histories], Boston, Leiden, Köln 2000. 178   Klötzer, Herrschaft, wie Anm.  172, S.  330.

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freilich gegen dessen Lehre die Praxis der Erwachsenentaufe wieder aufgenommen hatte –, zunächst durch Emissäre, seit Januar 1534 dann durch seinen Getreuen Jan van Leiden, ab Februar des Jahres schließlich durch seine eigene Gegenwart wirksam. Der sich verstärkende äußere Druck des Landesherrn ließ einen militärischen Konflikt immer wahrscheinlicher werden, sodass Katholiken und dem Täufertum kritisch gegenüberstehende Evangelische die Stadt nun in Scharen verließen. Zugleich setzte ein Zustrom niederländischer Melchioriten ein. Im Februar 1534 begann die Belagerung Münsters. Im Zuge der regulären Ratswahl übernahm am 23.2. ein täuferischer Rat das Regiment, der wenige Tage später die Bekenntnistaufe als Grundordnung des Gemeinwesens einführte. Diejenigen, die die Bekenntnistaufe verweigerten, hatten die Stadt zu verlassen. Nach dem Tod des Propheten Matthijs, der, vom unerschütterlichen Glauben an einen kontingenten göttlichen Eingriff erfüllt, an seine eigene Unversehrbarkeit geglaubt hatte und bei einem waghalsigen Kommando von den Belagerern vor den Mauern der Stadt ermordet worden war, führte Jan van Leiden (Abb.  1), sein bisheriger Vertreter, eine neue Herrschaftsordnung ein: Ein durch den Propheten ernannter Kreis von zwölf Ältesten löste nun den 24-köpfigen Rat ab. Im Juli 1534 wurde gegen erhebliche Widerstände die Ehepflicht, die polygame Verhältnisse zur Folge hatte, eingeführt. Im September 1534 erfolgte die Inthronisation Leidens als König und die Errichtung eines Hofstaates. Versuche der Münsteraner Täufer, benachbarte Städte oder niederländische Glaubensgenossen zur militärischen Unterstützung zu bewegen, schlugen fehl. Nach einer bedrückenden Belagerung durch eine Koalition aus katholischen und evangelischen Reichsfürsten, die insgesamt 16 Monate währte, fiel die Stadt am 25.  6. 1535 in die Hand ihrer Feinde, die eine abschreckende Siegerjustiz exekutierten. Soweit zum ereignisgeschichtlichen Rahmen, nun zu den Zielen und den Mitteln ihrer Verwirklichung. In Münster wurde eine „Theokratie als [.  .  .] Selbstorganisation der Gemeinde, wo kirchliche und politische Identität sich decken“179, zu realisieren versucht. Selbständige politische Ordnungsvorstellungen außerhalb oder neben den religiösen hatten ihre Berechtigung verloren. Dabei wurde die Ausgrenzung der Ungläubigen oder Blasphemiker180 und die Schaffung einer sichtbaren Gemeinschaft 179

  Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  41.   Bereits im März 1533 war die Trennung einer Heiligkeitsgemeinschaft von den unwürdigen Christen ein programmatisches Element der von Rothmann verfassten – nur in einer lateinischen Teilübersetzung überlieferten – Kirchenordnung, in der es unter anderem heißt: „Principio omnes manifeste impii et in Deum blasphemi christiano anathemate ferientur, quo in malitia sua obstinati post secundam aut tertiam admonitionem [vgl. Mt 18] non resipiscentes per ministros verbi excommunicabuntur atque ita a christianorum coetu publico segregabuntur, ut, qui christiani esse velint, nihil commercii et consuetudinis cum illis habeant.“ Robert Stupperich, Die Schriften Bernhard Rothmanns [Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens 32/1], Mün­ ster 1970, S.  128; vgl. a.a.O., S.  191 (Aug. 1533), wo Rothmann darlegt, dass die Sakramente Taufe und Abendmahl dazu dienten, dass „christus Jesus nicht alleyne in syner gemeyne inwendich, dan oick [.  .  .] vithwendich wil bekant syn und synen hilligen namen voer der welt van den synen bekannt vnd geprijset hebben.“ 180

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Abb.  1  Heinrich Aldegrever, Jan van Leiden, Kupferstich; 1536; 31,8 x 23,1  cm. Das Porträt zeigt den „Konick der Wederdoper tho Monster“ (Inschrift oben). Die lateinisch-griechische Bildunterschrift formuliert in der 1. Person: „Das war mein Gesicht, das meine Kleidung, als ich das Szepter trug. Ich, der König der Wiedertäufer, aber nur kurze Zeit.“ Es schließt sich Aldegrevers Fertigungsvermerk an: „Heinrich Aldegrever aus Soest fertigte dies im Jahre 1536. Gottes Macht ist meine Stärke.“ Das Königswappen oben links, das der Täuferkönig auch als Amulett an einer Kette trägt, symbolisiert den Reichsapfel und die beiden Schwerter der geistlichen und der weltlichen Universalgewalt; es ist auch in der weiteren literarischen und ikonographischen Überlieferung zum Münsteraner „Täuferreich“ bezeugt (vgl. Stadtmuseum Münster [Hg.], Das Königreich der Täufer. Reformation und Herrschaft der Täufer in Mün­ ster, Münster 2000, Bd.  1, S.  164 f. Nr.  61; s. unten Anm.  207); Sabine Haag/Christine Lange/Christof Metzger/Karl Schütz (Hg.), Dürer Cranach Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500, München 2011, S.  238–240 Nr.  154.

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der Heiligen und Reinen mittels der Verpflichtung zur Bekenntnistaufe forciert. In der städtischen Gemeinde der Getauften, die den Heilswillen Gottes verwirklichte, sollte sich die neue Gesellschaft der Theokratie abbilden. In der Initialphase der Täuferherrschaft, als Gerrit Boekbinder und Jan van Leiden, im Januar 1534 aus den Niederlanden kommend, binnen acht Tagen 1400 Personen getauft hatten181 und auch wohlhabende Bürger der Stadt nach dem Vorbild der Urgemeinde begannen, ihren Besitz an Arme abzugeben182, ist mit einem hohen Maß an apokalyptisch stimulierter ‚Freiwilligkeit‘ zu rechnen: Es war der wohl unerwartete, für die Beteiligten selbst überraschende Erfolg der täuferischen Mission, der der Idee eines göttlichen Erwählungshandelns eine bestechende Plausibilität verlieh. Vor der Ratswahl und der Einführung der allgemeinen Taufverpflichtung hatte die durch Zustrom aus den Niederlanden stetig gewachsene täuferische Kommunität offenbar eine strikte Segregation gegenüber ihrer ‚unheiligen‘ Umwelt vollzogen und den eigenen Zusammenhalt durch ritualisierte Umgangsformen stabilisiert.183 Mit der Einführung der Bekenntnistaufe als verbindlicher bürgerlicher Ordnung wurde die Konzeption der reinen und geheiligten Gottesstadt, des ‚neuen Jerusalems‘, zum dominierenden Leitbild des Gemeinwesens.184 Die Taufe ersetzte den Bürgereid; die Ausweisung der nicht-taufwilligen Bürger diente auch der Stabilisierung im Inneren, denn Gegner der revolutionären Veränderung mussten bei den sich abzeichnenden Verteidigungsaufgaben als Unsicherheitsfaktoren empfunden werden. Die Aufrichtung der theokratischen Ordnung in der westfälischen Stadt folgte also keineswegs einer vorgegebenen Agenda, sondern ergab sich aus den je konkreten Handlungsspielräumen und Erfordernissen eines äußerlich bedrohten Gemeinwesens. Die Abschaffung des Privateigentums, die Pflicht, Geld und Wertsachen abzugeben, die Kommunalisierung von Lebensmittelvorräten, die Vernichtung von Besitzurkunden und die Etablierung einer Armenversorgung185 sind allerdings als diakonale oder sozialpolitische Umsetzungen egalitärer Normen der Gotteskindschaft zu interpretieren. 181  Nach C. A. Cornelius, Berichte der Augenzeugen über das Münsterische Wiedertäuferreich [Die Geschichtsquellen des Bistums Münster 2], Münster 1853, ND Münster 1965, S.  417; vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  60. 182   Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  60. 183   „So hadden die wiederdoepers ein loese under einanderen von mans und von frawen, und wolden so hilligh sein und wolde die anderen burgers und frawen nit ansprecken, et wer vader oder moder, niemants en wolden sie ansprecken. Want sich die mans tho moete qwemen up der straten, so deden sie sick de hant und kuesten sick fur den munt und sachten ‚lieve bruder, Godes frede sei mit iw.‘ Antwort der ander ‚Amen.‘ So hedden die frowen lude, die sick hedden gedoept, ock ein eigen loess under einanderen. Dieselben widderdoeperin plagen tho gain sonder hoevet doich [Kopftuch] und giengen in einer muschen [Mütze] und dieselve musche hadde einen overschlagh boven up dat hoevet. Dieselve musche was oer loese, dair kante man sie bei, die wiederdoeperschen. Diese selbe wiederdoepers und wiederdoeperschen, die wolden sick holden wie brueders und suesters, so grote liefde wolden sie under einanderen hebben.“ Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  12 f. 184  Vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  68 ff.; 77 f. 185  Vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  78 ff.

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Diejenigen Bürgerinnen und Bürger Münsters, die sich erst unter dem Druck des Taufmandates hatten taufen lassen, wurden zu einem öffentlichen Bußakt auf dem Domplatz genötigt: „Do moesten sie gain liggen up ir angesicht und bidden den Vader, dat sie mochten in die stat bliven, und dat sie mochten tho gnaden khomen. Die propheten und predicanten sachten, Got en wolde nicht unreines in der stat Monster hebben, got wolde ein hillick volck hebben, die seinen namen preisen salden. So hebben dieselve ein stunt gelegen up der erden und hebben geschriet und hebben gebeden, und weren al ougen blick in wachten, dat die propheten und predicanten mit den anderen widderdoepers hedden tho in in gefallen und hedden sie doet geschlagen.“186 Danach fand der Bußakt eine mehr als dreistündige dramatische Fortsetzung in der Lambertikirche; eigentümliche Gebets-, Tanz- und Umarmungsrituale187 begleiteten ekstatische Gebetsrufe um göttliche Vergebung und visionäre Gesichte188 und kulminierten schließlich in der durch den Propheten Jan van Leiden überbrachten Versöhnungsbotschaft: „Lieven broeders, ick sol iuw verkundigen von Goddes wegen, dat gy gnade von Got hebben und solt bei uns bliven und sein ein hillich volck.“189 Die Zugehörigkeit zum heiligen Volk wurde schließlich dadurch bestätigt und befestigt, dass jedem Mitglied des Gemeinwesens ein Erkennungszeichen in Gestalt einer Münze (Abb.  2) ausgehändigt und der Name des Empfängers in einer Liste verzeichnet wurde.190 Die Inschriften der Münzen lauteten: „D. W. W. F.“ für „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14), ein maßgebliches dictum probans der monophysitischen, die Verwandlung des göttlichen Wortes gegen die orthodoxe Zwei-Naturen-Lehre verfechtenden Christologie Melchior Hoffmans; 191 „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph 4,5); 192 und die Sprüche „Wat Got wil an uns“ und – nach Pro186

  Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  24.   „So hebben sich frowen und mans in den armen tho hope gehat und hebben sick cruitzewies umbher befangen, und hebben gedantzen, und moisten den Vader so anbedden.“ Ebd. 188   A.a.O., S.  25. 189  Ebd. 190   „Und sie [sc. die Täufer] hebben teken laten schlain, so groet als ein heller. Dar stunt up mit vehr buchstaven ‚dat wort wirt fliesch.‘ Dat solve teken gaven sie mans und frowen und allen, die in der stat weren, in S.  Lamberts kercke, und schreven dair ein ieder in bei seinem namen. Up datselve teken negeden sie ein dat kesken up und hiengen dat in den hals. In vehr wecken dairna gaven sie ander tecken, ock mit den vehr buickstaben ‚dat wort wurde fleisch‘, und dieselbe waren so groet als ein half rader witpennigh [ein halber Radealbus, 20  mm Durchmesser, s. Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, Nr.  36, S.  99]. Dieselve teicken gaf Johan von Leiden in Knipperdollings huis. Die hengen sie ock in den hals.“ Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  27 f. Abb. des einzigen erhaltenen Exemplars der ersten Münze (Silber) in: Stadtmuseum Münster, a.a.O., S.  99; vgl. 155; 181; 188; s. Abb.  2. 191  Vgl. Deppermann, Hoffman, wie Anm.  168, S.  197 ff.; zum Zusammenhang des Zeichens der Münsteraner Täufer mit Hoffmans Christologie vgl. a.a.O., S.  201. 192  S. Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, S.  99. Möglicherweise ist der entscheidende Aspekt dieser Umschrift – im Unterschied zur Umschrift der Münze in der „Neuen Wandlung“, die Joh 10,16 „Eyn hiert und eynerley schaffstal“ (Laube/Seiffert, Flugschriften, wie Anm.  168, S.  551,38; Schubert, Täufertum, wie Anm.  165, S.  242 Anm.  229) aufnimmt, darin zu sehen, dass der Taufe nach den Phasen ihrer Aussetzung in den späten 1520er Jahren nunmehr wieder eine zentrale Rolle zuerkannt wurde. Jan van Leiden selbst hatte die Taufe im November 187

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Abb.  2 a) Medaillienartiges Erkennungzeichen der Täufer; Münster 1534, Durchmesser 2,85  cm; Silber, Dresden, Münzkabinett Inv. Nr.  4182. Vorderseite mit der Inschrift (Mitte) „D. W. W. F.“ (= Das Wort ward Fleisch); Umschrift: „Ein Her Ein Glovbe Ein Doepe“. Rückseite Mitte: „Wat Got Will an vns“; Umschrift: „Es sint vil Anschleg an eins Mans Hertz A D R D H B S“ (= Aber die Rede des Herrn bleibt stehen). Das Zeichen wurde wohl nach Empfang der Taufe ausgegeben und diente der Unterscheidung von den Ungetauften. Stadtmuseum Münster (Hg.), Das Königreich der Täufer. Reformation und Herrschaft der Täufer in Münster, Münster 2000, Bd.  1, S.  99 Nr.  36.

b)  Halbtaler der Täufer Münster (April bis August 1534); Durchmesser 3,5  cm, Silber, Stadtmuseum Münster Inv. Nr. MZ-WT- 00028. Vorderseite Mitte: „Ein Her Ei Gelo: Ein Doep / tho Mvnster“; Umschrift: „Et Si Dat Imadt: Vpt: Nie: Gebare: Werde“; Fortsetzung auf der Rückseite: „So : Mach : He : Gades : Rike : Nicht: Schei“ (= Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, sonst kann er Gottes Reich nicht sehen, Joh 3,3); Rückseite Mitte: „Dat : Wort : Is Fleis : Gworde: Vn : Wa: Vn: Vns: 1534“ (= Das Wort ist Fleisch geworden und wohnet unter uns 1534); Stadtmuseum Münster, a.a.O., S.  155 Nr.  56.

c)  Taler aus der Zeit der Herrschaft Jan van Leidens (September 1534 bis Juli 1535); Durchmesser 4,65  cm, Silber, Stadtmuseum Münster Inv. Nr. MZ-WT-00031. Inschrift Vorderseite (Rand): „We Nicht Gebore is uth de Wate vn Geist Mach“; (Fortsetzung Mitte): „Nicht in Gaen“; (Fortsetzung Rückseite Rand): „Int Rike Godes“. Vorderseite Mitte: „Dat Wort is Fleisch Geworden un Wanet in uns“; Rückseite Rand: „Ein Godt Ein Gelove“; „Ein Konnick Uprecht Ove Al“; Rückseite Mitte: „Ein Doepe Ein Godt Ein Doepe 1534 Tho Mvn­ster“; Stadtmuseum Münster, a.a.O., S.  181 Nr.  71.

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verbia 19,21 –: „Es sint vil Anschleg in eins Mans hertz ADRDHBS [aber die Rede des Herrn bleibt stehen]“193. Die Schriftworte brachten die mittels des Taufrituals entscheidend dynamisierte Unifizierung der Erwählungsgemeinschaft zum Ausdruck, die in ihrer eigenen Wandlung zur sichtbaren Heilsgemeinde der Reinen die endzeitliche Vollendung gleichsam prototypisch verwirklichte. Mit der Etablierung der Taufe als Grundordnung des Münsteraner Gemeinwesens war der Wille Gottes zur alleinigen gesellschaftlichen Norm erhoben und die vor allem durch die charismatischen Qualitäten seiner Propheten vermittelte Gegenwart des Herrn zu einer irdischen, historischen Realität geworden. Nicht zuletzt die spiritualisierende Abendmahlstheologie der Münsteraner Täufer, für die sich die Gegenwart Christi als Gemeinschaftserfahrung seines ekklesialen Leibes konkretisierte und der Geist Gottes die communio der Erwählten verpflichtend begründete, ist als ein wichtiges Instrument der vollständigen Fusionierung von täuferischer Christen- und Bürgergemeinde zu identifizieren. In einer krisenhaften Situation, als ein geplanter Exodus des neuen Israels in die Welt zur Ausbreitung der Täuferherrschaft kurzerhand abgebrochen werden musste, da göttliche Zeichen ausgeblieben waren194, feierte die Stadtgemeinde am 13.  10. 1534 auf dem Domhof das Abendmahl: Der König und der Hofstaat brachen „kleine runde keekesken“195 und teilten „einen drunk weins“196 aus und suchten – wie die anschließende theologische Deutung der Abendmahlsfeier durch die Prädikanten einschärfte – die „Leidensbereitschaft füreinander“197 zu fördern. Die rituelle Aktualisierung der Einheit des Gottesvolkes diente auch dazu, eine konkrete Krise der prophetischen Legitimation des Gemeinwesens zu überwinden.198 Nach der Inszenierung eines Entsendungsrituals199 durch den Propheten Dusentschuer, der die Ausbreitung der in Münster begon1533 von Jan Matthijs empfangen. Nach dem Bekenntnis Jan van Leidens bestand ein eindeutiges Wissen darum, dass sich Jan Matthijs in Bezug auf die Praxis der Wiedertaufe „in ongelichen verstande“ (Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  370) mit Hoffman und Melchior Rinck (vgl. Hans-Jürgen Goertz, Art. Rinck, Melchior, in: RGG4, Bd.  7, 2004, S.  524 f. [Lit.]; Erich Geldbach, Art. Rinck, Melchior, in: MennLex 5) befand, vgl. auch Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  58. 193   Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, S.  99. 194  Vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  111 f. 195   Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  110. 196   A.a.O., S.  111. 197   So die – freilich über die eigentliche Berichterstattung Gresbecks hinausgehende – Interpretation Klötzers, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  112. Bei Gresbeck wird lediglich notiert, die Prädikanten hätten nach der Austeilung des Mahles durch den Hofstaat „gepredigt, wat das avenmael in sich hedde.“ Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  111. 198   Im Anschluss an die Predigt der Prädikanten über das Abendmahl erklärte der König der auf dem Domplatz versammelten Gemeinde: „Got heddey innen afgesat“, und er „wer gein konnigk lenger“, da er Gott „vertornet“ habe (ebd.). Daraufhin verkündete der „hinckende prophet“ (ebd.) Johann Dusentschuer, dass er eine „oppenbarunge hedde von got“ (ebd.), dass die Ausbreitung der Revolution nicht durch den Auszug der gesamten Gemeinde, sondern durch eine Entsendung der Prädikanten in vier Nachbarstädte erreicht werden sollte, s. auch Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  112 ff. 199   Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  111 f.

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nenen Theokratie durch die Entsendung der Prädikanten in vier benachbarte Ortschaften als göttliche Offenbarung verkündete, erfolgte die prophetische Relegitimation des sich zuvor als von Gott abgesetzt erklärenden Königs: „Bruder Johan von Leiden, Got entbuet dy, dat du vortan solt regieren und sals ein konnich bliven, als du fur biss gewest, und sals die ungerechtigkkeit straiffen.“200 Die Aufrichtung der theokratischen Ordnung im Inneren wurde durch den militärischen Druck von außen begünstigt. Die Wehrorganisation förderte die soziale Egalisierung; die Regierung der 12, denen der Prophet Jan van Leiden ein Schwert übergab, zielte darauf ab, die Reinheit der Gemeinde zu verwirklichen und deren Heiligung durch rigide, an biblischen Geboten orientierte Strafmaßnahmen zu befördern.201 Zugleich erfolgte die Propagierung der in Münster aufgerichteten theokratischen Herrschaft an die Außenwelt – durch Flugblätter und Münzen, die den universalen Anspruch unterstrichen.202 Die Aufrichtung einer Heiratspflicht, die auf Jan van Leiden zurückging, aber noch zur Zeit der Herrschaft der 12 Ältesten erfolgt war203, diente primär der Disziplinierung der zahlenmäßig weit überschüssigen Frauen und erfolgte nach Maßgabe alt- und neutestamentlicher Begründungen.204 Die Etablierung des Königtums, die Jan van Leiden aufgrund einer ihm zuteil gewordenen Offenbarung betrieben hatte und die angeblich unabhängig von ihm durch den Propheten Dusentschuer proklamiert wurde205, eröffnete einen universalistischen Handlungshorizont206, der wohl in nichts deutlicher zum Ausdruck kam als in 200

  A.a.O., S.  112.   Vgl. dazu Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  90 ff. 202   Klötzer, a.a.O., S.  92 ff.; vgl. Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, Nr.  56, S.  155. 203  Vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  97 ff.; vgl. zur Polygamie-Thematik: James M. Stayer, Vielweiberei als „innerweltliche Askese“. Neue Eheauffassungen in der Reformationszeit, in: MGB 37, 1980, S.  24–41; gleichfalls die innerweltlich-asketische Dimension der patriarchalisch-sexualitätsfeindlichen Normen der Täufer betonend: Matthias Hennig, Askese und Ausschweifung. Zum Verständnis der Vielweiberei im Täuferreich zu Münster 1543/35, in: MGB 40, 1983, S.  25–45; zum Hintergrund in rechtshistorischer Perspektive wichtig: Paul Mikat, Die Polygamiefrage in der frühen Neuzeit [RWAdWG 294], Opladen 1988; in Bezug auf die Münsteraner Täuferherrschaft dürfte es mühelos möglich sein, die ideenpolitische Wirkung alttestamentlicher Vorstellungen aufzuweisen. Gegenüber dem einseitig modernisierungstheoretischen Ansatz, in dem Eric Nelson (The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Cambridge/Mass., London 2010, S.  88 ff. [zum ‚hebraism‘ als Quelle moderner politischer Ideen]) biblische Traditionsbestände sieht, dürfte dies ein Korrektiv sein. 204  Vgl. Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  60 ff.; Jan van Leiden erhob offenbar den Anspruch, dass es in Hinblick auf die Ehefrage niemanden gegeben habe, der „van der apostolen tit bis an her [.  .  .] die beter erkentenis der wairheit gehat heb dan hy“ (a.a.O., S.  375); vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  98 Anm.  358. 205   Klötzer, a.a.O., S.  104; Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  278 f.; 428; 372; 406. 206   Die These einer Universalität des Täuferreichs ist nachdrücklich von Klötzer vertreten worden, vgl. Täuferherrschaft, a.a.O., passim. Ernst Laubach hat in einem profunden Überblick über die Deutungsgeschichte des Münsteraner Täuferreichs demgegenüber die Auffassung vertreten, dass die Münsteraner Täuferherrschaft auf die westfälische Stadt begrenzt gewesen sei: Das Täuferreich zu Münster in seiner Wirkung auf die Nachwelt, in: Westfälische Zeitschrift 141, 1991, S.  123– 150, bes. 149. 201

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dem Königswappen: Zwei den Reichsapfel durchbohrende Schwerter207 symbolisieren die in der Hand des Täuferkönigs vereinigte weltliche und geistliche Gewalt; 208 göttliche und menschliche Sphäre verbinden sich und manifestieren den Anspruch, dass in Jan van Leidens Königtum schon jetzt die herrliche Zukunft Gottes angebrochen ist. Durch neue Münzprägungen wurde das Königtum als jene Führungsmacht inszeniert, die das 1000-jährige Reich des Geistes, des einen Gottes und der einen Taufe, heraufführen und repräsentieren werde.209 Die Bezeichnung des Münsteraner Domhügels als Berg Zion, die Umbenennungen der Hauptstraßen und Tore der Stadt210, das Siegel mit der Inschrift „Der konig in dem newen tempel“211, sein Recht, die Namen der neugeborenen Kinder in alphabetischer Reihung212 zu vergeben – all diese symbolischen Herrschafts- und Kommunikationsakte scheinen den Anspruch zu unterstreichen, dass Münster das neue Jerusalem sei, der Sitz des neuen Davids, der heilsgeschichtliche Ort, an dem der Wille und die heilige Ordnung Gottes nunmehr realisiert und erfahrbar gegenwärtig waren. Die apokalyptische Hoffnung auf geschichtswendende, rettende Eingriffe Gottes, die das täuferische Projekt der ‚großen Veränderung‘ begleitete, trug zeitweilig entscheidend dazu bei, den Durchhaltewillen der Belagerten aufrechtzuerhalten und den Glauben an die Gewissheit des bald

207   Das Wappen ist mehrfach bezeugt: auf dem Kupferstich Aldegrevers (Stadtmuseum Mün­ ster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, Nr.  104, S.  235; s. oben Abb.  1), auf einer Zeichnung Aldegrevers (a.a.O. Nr.  60, S.  163) ; auf je einem Einblattdruck Hans Guldenmundts (a.a.O. Nr.  105, S.  237 und Nr.  106, S.  238); auf einer Federzeichnung [von 1536?], a.a.O. Nr.  62, S.  167; in halbierter Form auf einem Flugblatt der „Königin“ Gertrud von Haarlem, a.a.O., Nr.  63, S.  169; auf van Leidens Siegel, a.a.O., S.  178; vgl. 183; auf einem Titelholzschnitt (a.a.O., Nr.  85, S.  205), auf einer Medaille des Täuferkönigs, a.a.O., Nr.  107, S.  239; schließlich auf einer Tuschezeichnung von 1534 (a.a.O., Nr.  61, S.  165). 208   Van Leidens Auftritte mit zwei Knaben, derer einer eine Bibel, der andere ein Schwert trug, rechts und links neben ihm stehend (vgl. Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  92), dürfte nicht nur die Bestrafung aller „unrechtigkeit“ (ebd.) bedeuten, sondern auch die untrennbare Verbindung von geistlicher und weltlicher Gewalt veranschaulicht haben. 209   Gegenüber den früheren Prägungen ist besonders der Satz „Ein konnigk uprecht ove al“ (Ein König aufrecht über allen) neu, vgl. Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, Nr.  71, S.  181; vgl. 188 f. Ob man das Textstück „Int Rike Godes“ zwingend als Abschluss des auf der Vorderseite gebotenen Zitates aus Joh 3,5 lesen muss (so im Katalog Stadtmuseum Münster, a. a.O., S.  181) oder nicht doch mit dem Königsspruch zusammennehmen kann, vermag ich nicht zu entscheiden. Wäre Letzteres möglich, dann wäre wohl gemeint: Ins Reich Gottes führt der eine universale König. Die Botschaft der Rückseite mit den Schriftzitaten Joh 1,14 (s. oben Anm.  191) und Joh 3,5 f. scheint mir die Ansage der Präsenz des verwandelten Menschen Christus in der durch Taufe und Geist wiedergeborenen, vom König repräsentierten Gemeinde der Auserwählten zu sein. Dass Joh 1,14 statt „unter uns“ „in uns“ zitiert wird, ist verdichteter Ausdruck der Christuspräsenz in Münster. 210  Vgl. Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  103; 110; 154 ff.; vgl. Klötzer, Täuferherrschaft, wie Anm.  2, S.  110. 211   Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, S.  183. 212   Vgl. dazu Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, S.  234; 162; 180.

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kommenden Tages Christi und des Anbruches seines 1000-jährigen Reiches213 zu stabilisieren. Der „einich gerechter konnick“, der „aver alle up erden herrschen sal“214, war ein „konigh over Nige Israel und aver die gantze welt“215 und stand in unmittelbarer Nähe zu Gott.216 In Jan van Leiden war real geworden, was Reformer des 15., Bauern des frühen 16. Jahrhunderts und einige der Täufer und Radikalen der beginnenden Reformationszeit ersonnen, erträumt, erhofft oder erkämpft hatten. Nicht nur des neuen Königs Kleider waren aus den abgelegten, alten „kirchenkleideren“217 geschneidert – auch die Elemente seiner mentalen und symbolischen Welt, seiner theokratischen Herrschaft, kamen von weither und reichten bis in die Traumwelten der Märchen hinab, wo der kleine Mann seine Wünsche im Königtum spiegelt oder gar selbst zum König wird.218 Wohnstatt „in uns“219, geschichtliche Gestalt, aber nahmen sie erst an, weil und nachdem die Reformation die lateineuropäische Welt erschüttert hatte.220 213   „Wante die predicanten mackeden dem gemeinen volck wiess, dat Got solde uth dem himmel khomen, und solde sie verloesen. Wer dat sacke, dat sie Got nicht verloeste, so wolden sie seggen, datter gein Got in dem himmel were. Und sachten, Christus sol uth dem himmel khomen und solde M iair mit innen up erden gain, und solde mit seinem volcke regeren, und solde eine nie werlt anrichten.“ Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  82. 214   Cornelius, Berichte, wie Anm.  181, S.  277. 215   A.a.O., S.  82; zur davidischen Identitätskonstruktion s. a.a.O., S.  372. 216   „negst Got“, a.a.O., S.  82. 217   Vgl. die Beschreibung Heinrich Bullingers in: Der Wiedertöufferen ursprung: „An sinem [Jan van Leiden] lyb hat er tragen sammet, carmesin, dammast, syden und gantze guldine stuck genommen und gemacht uß den kirchenkleideren.“ Zit. nach Robert Stupperich, Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer [Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 32/3], Münster 1983, S.  257. 218   „Der K.[König] verkörpert die Spitze der Sozialutopie, die das Märchen ausdrückt, um die Träume des armen Mannes von Reichtum, Glück und Herrlichkeit zu erfüllen. Auf den K. wird das märchenhafte Wunschdenken einfacher Volksschichten projiziert.“ Lutz Röhrich, Art. König, Königin, in: Enzyklopädie des Märchens, hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Bd.  8, Berlin, New York 1996, Sp.  134–148, hier: 144. 219   Vgl. die Variation des Verses Joh 1,14 auf dem Taler unter der Königsherrschaft Jan van Leidens, Stadtmuseum Münster, Königreich, Bd.  1, wie Anm.  177, S.  181; s. oben Anm.  209. 220   Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf die aktuellere Diskussion zum Verhältnis des späten Mittelalters zur Reformation (vgl. zuletzt die sich im Ganzen wechselseitig bestätigenden Beiträge von Volker Leppin, Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten [SHAW PH 140/4], Stuttgart / Leipzig 2008, und: Berndt Hamm, Die Emergenz der Reformation, in: Ders./Michael Welker, Die Reformation. Potenziale der Freiheit, Tübingen 2008, S.  1–28) eingehen zu können, scheint mir doch in Bezug auf die hier analysierten theokratischen Konzeptionen eine allgemeine Bemerkung zur angesprochenen Frage sachgerecht: Im Zuge der Reformation erlangten geistige Traditionsbestände mittelalterlicher oder antiker Provenienz in bestimmten Zusammenhängen eine neuartige Brisanz und Aktualität. Das kann man zum Beispiel an volkssprachlichen Bibelübersetzungen (s. oben I, §  3), an Traditionen des Türkendiskurses (s. oben I, §  4) und v. a. m. (s. meine Geschichte der Reformation, wie Anm.  7, Kap.  1) aufweisen. Die im Gefolge des gleichnamigen Tübinger SFB „Kontinuität und Umbruch“ geläufig gewordene Verhältnisbestimmung von „Mittelalter“ und „Reformation“, die letztlich wohl auch indirekt das „Umbruch“-Paradigma (vgl. Bernd Moeller [Hg.], Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998) generiert hat, erzeugt meines Erachtens insofern Missverständnisse, als der Begriff der Kontinuität – nicht anders als der der Emergenz, s.

5. Schlussfolgerungen

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5. Schlussfolgerungen Zusammenfassend lässt sich feststellen: 1.  Die Frage nach theokratischen Konzeptionen in Spätmittelalter und Reformation bildet einen interessanten, von der bisherigen Forschung noch nicht hinreichend genutzten Fokus: In Reformmodellen unterschiedlicher Provenienz und Konsistenz, in bäuerlichen Gravamina und Forderungskatalogen und in frühreformatorischen Gesellschaftsmodellen spielten theokratische Vorstellungen eine prominente Rolle. Die Diversität der literarischen Gattungen und diskursiven Kontexte deutet darauf hin, dass theokratische Vorstellungen recht weit verbreitet waren und von Gelehrten und Laien, Klerikern und ‚gemeinem Mann‘ gleichermaßen genutzt werden konnten. 2.  Im späten Mittelalter und in der frühen Reformationszeit begegnen theokratische Konzepte ausschließlich als regulatives Idealbild einer widerspruchsfreien, am ‚gemeinen Nutzen‘ orientierten zukünftigen Gesellschaft, die in aller Regel als irHamm – ein ‚Fortbestehen‘ zu bezeichnen scheint, das Reformation und Mittelalter verbindet. Wenn ich den Begriff und die Sache recht verstehe, wohnt ihnen im Kern eine essentialistische Behauptung inne: Sachverhalt „xy“ besteht im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation in dieser oder jener Weise fort. Die Gedankenfigur impliziert natürlich nicht, dass „xy“ unverändert bleibt; sie ist – so Leppins Begriff der „Transformation“ – mit der Vorstellung gar einschneidender Veränderungen vermittelbar, setzt aber doch voraus, dass „xy“ auch als transformatum dasselbe bleibt. Gegenüber diesem essentialistischen Ansatz verstehe ich meine Überlegungen zum Verhältnis von Spätmittelalter und Reformation – wenn man so sagen will – aktualistisch und kontextbzw. akteursorientiert. Das heißt: Ich interessiere mich für konkrete rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge und personelle und diskursive Konstellationen, in denen vorreformatorisches Traditionsgut als Ressource reformatorischer Aneignungen wirksam geworden ist. Dass die jeweiligen Aneignungen nicht einfach diesen oder jenen Sachverhalt „xy“ fortsetzten und transformierten, sondern gewissermaßen ‚neu‘ erzeugten und im Rahmen jenes Prozesses spezifisch gestalteten und konfigurierten, kann man sich auch an den theokratischen Konzeptionen vergegenwärtigen: Im Kontext der zeitgenössischen Diskussionslagen aktualisierten Autoren wie Müntzer, Hoffman oder Hut und Akteure wie Römer oder Jan van Leiden, was ihnen an Erfahrungs-, Deutungs- und Orientierungswissen und soziokulturellen ‚Selbstverständlichkeiten‘ heterogenster Provenienz zugeflossen war. Und sie verarbeiteten es zu je spezifischen Konzeptionen. Im Unterschied zu der primär theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich ausgerichteten Kontinuitäts- und Transformationsper­ spektive Hamms und Leppins, die von einem theologischen „Kern“ (Leppin, a.a.O., S.  45) oder einer theologisch identifizierbaren „Wurzel“ (Hamm, Von der spätmittelalterlichen Reformation, wie Anm.  7, S.  7–82, hier: 77 f.) ausgeht, hebe ich darauf ab, dass eine als Umgestaltungsprozess des bestehenden Kirchen- und Rechtswesens (vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  7, bes. S.  22; s. auch oben §  1) verstandene „Reformation“ nicht nach einem letztlich kausativen Modell von ‚Kern und Schale‘ oder ‚Wurzel und Entfaltung‘ darzustellen ist, sondern dass von einem gleichursprünglichen Ineinander religiöser Ideen und theologisch-exegetischer Einsichten einerseits und soziokulturellen Kontexten andererseits auszugehen ist. Dieser Ansatz impliziert, dass bestimmte theologische Ideen und frömmigkeitsgeschichtliche Phänomene in historischer Perspektive nie anders als im Modus sozio-kultureller Aneignungen darzustellen sind. Dass sich der „Schüler“ (Leppin, a.a.O., S.  7 Anm.  7) Bernd Moellers, als den mich Leppin durchaus zu Recht bezeichnet, in dieser Hinsicht nicht nur in Differenz zu seinem Lehrer, sondern wohl auch zu nicht unwesentlichen Teilen der Zunft zu befinden scheint, mag auf sich beruhen.

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§  5  Politiktheorie

dische Herrschaft gedacht, aber nur selten mit chiliastischen Vorstellungen verbunden war. 3. Theokratische Herrschaft war zumeist undynastischer Art; sie beruhte auf Wahlakten oder prophetischer Legitimation. Der königliche oder kaiserliche Herrscher stand in einem Dienstverhältnis zu den Armen und Schwachen, denen er Nähe gewährte. Seine Herrschaft zielte auf die Aufrichtung der göttlichen Gerechtigkeit oder die Restitution eines alten Gottesrechtes ab. Gewaltmittel bediente er sich nur, um die Ordnung Gottes durchzusetzen oder zu schützen. Ungeachtet seiner herausragenden Stellung als zumeist universal gedachtem Weltherrscher war sein Verhältnis zum Volk bzw. zu seinen Mitregenten nicht hierarchisch geprägt. Seine Autorität beruhte auf exzeptionellen geistigen, moralischen oder auch charismatischen Begabungen. 4. Theokratischen Konzeptionen eignete in Spätmittelalter und Reformation durchweg ein universalistischer Zug, der auch bei dem – wenn ich recht sehe – in der deutschen Geschichte der ‚Vormoderne‘ singulären Versuch221 der Münsteraner Täufer, eine heilige, widerspruchsfreie Ordnung Gottes zu errichten, eine wichtige Rolle spielte. Bei der Etablierung einer theokratischen Praxis fiel der Bekenntnistaufe als Ritus der Integrationsstiftung und der Segregation von einer Sphäre der ‚Unheiligen‘ eine entscheidende initiale Bedeutung zu. 5. Hinsichtlich der imaginierten oder faktisch tätigen Akteure theokratischer Praxis lässt sich ein relativ breites Spektrum ausmachen: Bünde einzelner Personen oder getaufter Auserwählter traten als ‚pressure groups‘ in Erscheinung; Gott selbst handelte direkt durch kontingente Eingriffe in Geschichte und Natur oder vermittels der Türken oder sonstiger Mächte und Gewalten oder durch einen von seinem Geist inspirierten König und seine Propheten. Die ‚Gemeinde‘ oder der ‚gemeine Mann‘ als solche wurden allerdings erst aufgrund ihnen äußerlicher Impulse zu theokratischen Akteuren. Apokalyptischen Vorstellungen kam in Bezug auf die Dynamisierungsprozesse, die zur Aufrichtung einer Theokratie führten, eine zum Teil erhebliche Bedeutung zu. Doch theokratische Konzeptionen konnten durchaus auch ohne apokalyptische Gehalte auftreten. 221   Interessanterweise wurde die „Herrgotts Kanzlei“ Magdeburgs von Seiten altgläubiger Polemiker mit dem Münsteraner ‚Täuferreich‘ in vergleichende Beziehung gesetzt (vgl. die Hinweise in: Kaufmann, Ende der Reformation, wie Anm.  151, S.  127; 146; 296; 457; 490; Nathan Rein, The Chancery of God. Protestant Print, Polemic and Propaganda against the Empire, Magdeburg 1546– 1551 [St. Andrews Studies in Reformation History], Aldershot 2008, S.  41; 51; 146 ff.; 167 f.; 188; 223; zu Magdeburg zuletzt: Anja Moritz, Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548–1551/2 [SMHR 47], Tübingen 2009). Dies war zum einen aufgrund einer vergleichbaren äußeren Bedrohungssituation plausibel, zum anderen aber wegen der internen Verdichtung der ‚explosiven‘, apokalyptisch aufgeheizten Religiosität und nicht zuletzt wegen gewisser Parallelen hinsichtlich einer publizistischen ‚Mobilmachung‘ und der reichsweiten, ja internationalen Aufmerksamkeit, die die beiden aus religiösen Gründen belagerten Städte erreichten. So sehr die Magdeburger Geistlichkeit auch auf eine entschiedene, bußförmige ‚Verchristlichung‘ der Stadtgesellschaft drängte und sie als ‚heiligen‘ Rest mental zu stabilisieren suchte, sowenig spielten freilich theokratische Konzeptionen als solche eine Rolle.

5. Schlussfolgerungen

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6.  Leitprinzipien aller spätmittelalterlich-reformationszeitlichen theokratischen Konzeptionen, die für dieses Kapitel gesichtet werden konnten, waren der ‚gemeine Nutzen‘, das Gemeineigentum und die göttliche Gerechtigkeit. In der widerspruchsfreien göttlichen Ordnung der Theokratie wurde soziale bzw. ständische Ungleichheit aufgehoben oder nivelliert, jedenfalls ihrer erniedrigenden Momente beraubt. Eine dominierende Rolle des klerikalen Standes war nicht vorgesehen; verheiratete, gebildete, ‚entklerikalisierte‘ geistliche Amtsträger fügten sich in eine mit den Laien gemeinsame Ordnungswelt ein.222 7.  Theokratische Konzeptionen in Spätmittelalter und Reformationszeit oszillierten zwischen menschlich-politischer und göttlich-supranaturaler Inauguration, Initiation und Legitimation. Sie waren ein Fokus ‚alternativen‘223 Denkens und eine Ressource sozialer Hoffnungsbilder eines gerechten, widerspruchsfreien, egalitären Miteinanders, in dem ständische, kulturelle, ethnische und nationale, sogar religiöse Differenzen und Barrieren abgeschafft, nivelliert oder ihrer gemeinschaftszersetzenden Dynamik entkleidet wurden. Theokratische Konzeptionen kreierten Bilder einer besseren Welt; sie im Rahmen einer politischen Ideengeschichte des späten Mittelalters und der Reformation224 zu berücksichtigen, ist angemessen, ja geboten.

222   Insofern setzten sich in den theokratischen Konzepten die ‚realen‘ Entklerikalisierungstendenzen im Sinne des Rückganges an immatrikulierten clerici, die im Kontext des zeitgenössischen Universitätswesens beobachtet wurden, fort; vgl. dazu Rainer Christoph Schwinges, Pfaffen und Laien in der deutschen Universität des späten Mittelalters, in: Lutz/Tremp, Pfaffen, wie Anm.  86, S.  235–249. Denn die Universität war definitiv der Ort, an dem laikales Bildungsstreben – ungeachtet aller ‚amtskirchlichen‘ Vorbehalte gegen gebildete Laien (vgl. Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: ZHF 11, 1984, S.  257–354) – gefördert und kultiviert wurde. In Bezug auf die Vorstellung einer nichthierarchischen Beziehung zwischen Geistlichen und Laien präludierten die Universitäten und die theokratischen Konzepte Vorgänge der frühen Reformation. 223  Anregend: Günter Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994. 224  Vgl. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, Bd.  2 : The Age of Reformation, Cambridge u. a. 1978, ND 1980, S.  34 ff.; 65 ff., der Texte wie Eberlins XV Bundesgenossen oder Reformschriften des 15. Jahrhunderts in ihrer politiktheoretischen Bedeutung prinzipiell erkannt hat. Hinsichtlich der historischen Kontextualisierung der jeweiligen Positionen wird man aber wohl über Skinner erheblich hinauszugehen haben.

II. Kommunikationsdynamiken

§  6  Ausgangsszenario: Luthers 95 Thesen in ihrem historischen Zusammenhang 1.  Einleitende Hinweise Bei den folgenden Ausführungen1 geht es um einen, wenn man so will, synthetisierenden Blick auf die 95 Thesen in ihrer Zeit, d. h. in ihrem engsten und ihrem weiteren historischen Zusammenhang. Diese konsequent historisch-kontextuelle Behandlung des Themas scheint auch vor dem Hintergrund der historischen Erwartungen und Belastungen, die auf dem Jubiläumsdatum ruhen, angemessen, ja vielleicht geboten zu sein. Es sind fünf gleichsam ineinander spielende, methodisch gleichwohl zu unterscheidende kontextuelle Dimensionen, in die die 95 Thesen im Folgenden hineingestellt werden sollen, und zwar die erinnerungskulturelle, die ablassgeschichtliche, die territorialpolitische, die medienhistorische und die biographisch-theologiegeschichtliche. Ob von einer Priorität einer dieser kontextuellen Dimensionen des Themas auszugehen ist, der ein Vorrang gegenüber den anderen zuzuerkennen wäre, mag die weitere Diskussion erweisen. Im Unterschied zu einer starken Tradition innerhalb der Kirchengeschichte und der sogenannten Lutherforschung, wird in diesem Kapitel jedenfalls nicht per se von der unbedingten Priorität einer biographisch-theologiegeschichtlichen Interpretationsperspektive ausgegangen. 1

  Da ich den Ablassstreit unlängst dargestellt (in: Thomas Kaufmann, Die Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  182–225. 732–737) und in diesem Zusammenhang auch die wichtigste Literatur verzeichnet habe (a.a.O., S.  869–876), beschränken sich meine Hinweise in den Anmerkungen auf die notwendigen Nachweise; ich verzichte also auf eine weitergehende Literaturdiskussion und behalte eine ursprüngliche Vortragsfassung (Ratzeburg, 7.  10. 2010; Bad Urach 12.  3. 2012) im Wesentlichen bei. Unter den Neuerscheinungen verdient in Bezug auf Luthers frühe theologische Entwicklung besondere Beachtung: Berndt Hamm, Der frühe Luther, Tübingen 2010 (darin besonders das 4. Kapitel: Die 95 Thesen – ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, S.  90–114). Im Unterschied zu Hamms Ansatz, der die 95 Thesen einer spezifischen Phase der theologischen Entwicklung des Wittenberger Augustinereremiten zwischen dem Abschluss der Römerbriefvorlesung und der erst später ausgeformten „Theologie des äußeren Heilswortes“ (S.  114; im Anschluss an Oswald Bayers grundlegendes Werk: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie [FKDG 24], Göttingen 1971, ND Darmstadt 1989) einordnet, die dadurch gekennzeichnet gewesen sei, dass „das Verhältnis von Rechtfertigung und Glaube aus den Koordinaten einer von Reue, Demut und Verzweiflung bestimmten Bußtheologie herausgelöst“ (ebd.) wurde, berühre ich diese komplexen Fragen der theologischen Entwicklung Luthers nur ganz am Rande (s. unten Abschnitt 6.).

2.  Der erinnerungskulturelle Kontext

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2.  Der erinnerungskulturelle Kontext Zunächst in aller Kürze zur ersten, der erinnerungskulturellen Dimension: Es wäre hermeneutisch naiv und insofern inakzeptabel, über Luthers 95 Thesen zu handeln, ohne sich die Schwere des Gewichtes deutlich zu machen, die ihrem wirklichen oder vermeintlichen Inaugurations- und Memorialdatum, dem 31. Oktober, im Laufe der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte zugewachsen ist.2 Es wäre allerdings genauso inakzeptabel, aus den wirkungsgeschichtlichen Konsequenzen auf die initiale Bedeutsamkeit der Ursache zu schließen. Dass Luthers 95 Thesen und ihre öffentliche Rezeption am Beginn jenes schon im späteren 16. Jahrhundert als „Reformation“ bezeichneten Ereigniszusammenhanges standen, stellt eine in der Luther- und Reformationsmemoria des 16. Jahrhunderts3 sehr breit belegte, letztlich an Luther selbst anknüpfende Wertungstradition dar. Sie war in der Regel allerdings nicht mit der Erinnerung an eine bestimmte Art ihres Bekanntwerdens, also etwa einen Thesenanschlag, verbunden, wohl aber mit dem auch durch einzelne Äußerungen Luthers selbst exponierten Datum des 31. Oktober 1517.4 Im Kontext der durch die Universität Wittenberg in Analogie zum Universitätsjubiläum von 16025 initiierten, erst aufgrund der inneren Spannungen des deutschen Protestantismus und der konfessionellen Konfliktlagen zu einem Großereignis aufgewerteten Centenarfeier von 16176 wurde das Ereignis eines Thesenanschlages zum memorialkulturellen Kristallisationspunkt. Man verstand die Hammerschläge nun als machtvolle antirömische Kampfansage des Reformators, der von Anfang an gewusst habe, was er tat, und der mutig und unbeirrt auf seinem am 31. Oktober 1517 begonnenen Weg fortgeschritten sei. Durch den mit erheblichen territorialen Vari2

  Vgl. zuletzt: Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der frühen Neuzeit. Bemerkungen zum 16. bis 18. Jahrhundert, in: ZThK 107, 2010, S.  285–324. 3   Vgl. nur: Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 [SuR N. R. 37], Tübingen 2007, bes. S.  100 ff. 4   Vgl. etwa WABr 4, Nr.  1164, S.  274 f. (Luther an Amsdorf, 1.  11. 1527), hier die Datierung: „Wittembergae die Omnium Sanctorum, anno decimo indulgentiarum conculcatarum, quarum memoriae hac hora bibimus utrinque consolati, 1527“, S.  275,25–27; vgl. auch WATr 2, Nr.  245 a/b, S.  467,27 f.30 f.; WATr 3, Nr.  3722, S.  564,14–16. Auch in einem Text wie dem sogenannten großen Selbstzeugnis von 1545 wird dem beginnenden Ablassstreit von Luther eine prominente Bedeutung eingeräumt, vgl. WA 54, S.  180,5–20. 5   Winfried Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: Ders. u. a. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus [Geschichte: Forschung und Wissenschaft 3], Mün­ ster 2004, S.  1–75; Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830 [Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 14], Leipzig 2005, bes. S.  11. 6   Außer den in Anm.  2 und 5 genannten Arbeiten noch immer grundlegend: Hans-Jürgen Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläums 1617 [VIEG 88], Wiesbaden 1978; aus distanziert analysierender sozialwissenschaftlicher Perspektive: Herfried Münckler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S.  181 ff.

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§  6  Ausgangsszenario

anten erst im Laufe des 18. Jahrhunderts definitiv und flächendeckend etablierten jährlichen Reformationstag7 gerieten die 95 Thesen in einen erinnerungskulturellen Zusammenhang, in dem sie als eine Art Magna Charta des von der römischen pia fraus befreiten evangelisch-lutherischen Christentums erschienen, deren Verfasser zum Gründungsvater dieser Kirche avancierte. Sedimente dieses wirkungsreichen Meisternarrativs lassen sich bis heute in der Memorialkultur des zeitgenössischen Luthertums nachweisen. Dass der Wittenberger Bettelmönch mit diesem Dokument einstmals versucht hatte, seine, die römische Papstkirche, die er liebte, zu retten, geriet somit recht selten oder gar nicht in den Blick und hätte auch einer vornehmlich auf die eigene Identitätsbehauptung fixierten Konfessionskultur8 wenig entsprochen. Die Wirkungsmacht dieser Reformationsmemoria, als deren vorerst letzte Steigerungsstufe das vor uns liegende Jubiläum zu werten ist9, hat das historische Verständnis der 95 Thesen mythopolitisch belastet. Nolens volens rührt der Umgang mit den 95 Thesen an einen Identitätskern evangelischen Christentums; dies dürfte als Indiz einer noch unabgeschlossenen oder per se unabschließbaren historisch-theologischen Selbstaufklärung zu werten sein.10 Dass man sich als Kirchenhistoriker über jegliche Sentimentalität im Umgang mit dem Thema hinwegzusetzen hat, mag einigen hartgesottenen Identitätspropagandisten bereits als Fahnenflucht erscheinen. Der Hiatus zwischen einem kirchlich-öffentlichen Bewusstsein und der wissen7

  Vgl. außer Kaufmann, Reformationsgedenken, wie Anm.  2, S.  317 ff.: Flügel, Konfession, wie Anm.  5, S.  82 ff.; zum 18. Jahrhundert grundlegend: Harm Cordes, Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten [FKDG 90], Göttingen 2006. 8   Zu Begriff und Konzept der „lutherischen Konfessionskultur“ vgl. Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur [BHTh 104], Tübingen 1998; ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts [SuR N. R. 29], Tübingen 2006; andere, stärker theologiegeschichtliche Akzente in: Robert Kolb (Hg.), Lutheran Ecclesiastical Culture 1550–1675 [Brill’s Companions to the Christian Tradition 11], Leiden, Boston 2008. 9   Vgl. die von dem Beauftragten des Rates der EKD für die „Lutherdekade“, bis 2011 Stephan Dorgerloh, herausgegebene Broschüre: Luther 2017–500 Reformation. Jahrbuch 2008, sowie die einschlägigen Internetangebote unter www.luther2017.de; vgl. die Thesenreihe „Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017“, erstellt vom Wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum 2017, sowie den Band: Ratlos vor dem Reformationsjubiläum (BThZ 28, 2011, Heft 1); vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.  265, 14.11. 2011, S.  7 (wie §  1, Anm.  83). Thomas Kaufmann, Herausforderungen angesichts des Reformationsjubiläums, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Perspektiven 2017. Ein Lesebuch, Hannover 2012, S.  70–75. 10   Vor über einem halben Jahrhundert hat Hanns Rückert, eher en passant, als Selbstverständlichkeit formuliert, dass das „Verständnis der Reformation [.  .  .] immer ein Exponent“ des „eigenen Selbstverständnisses“ der „evangelische[n] Kirche und Theologie“ sei, in: Die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation (1955), wieder abgedruckt in: Ders., Vorträge und Aufsätze zur hi­ storischen Theologie, Tübingen 1972, S.  52–70, hier: 62. In einem deskriptiven Sinne dürfte der Satz heutigentages ebenso unzutreffend sein, wie er in einem normativen Sinne wohl unerschwinglich ist. Dies ändert allerdings nichts daran, dass es den berufenen Sprechern evangelischen Christentums und protestantischer Theologie gut anstünde, in eine konstruktive Debatte über die notwendigerweise pluralen Verständnisse der Reformation einzutreten.

3.  Der ablassgeschichtliche Kontext

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schaftlichen Reformationsforschung scheint in Bezug auf die 95 Thesen besonders groß zu sein.

3.  Der ablassgeschichtliche Kontext In Bezug auf den zweiten, den ablassgeschichtlichen Kontext der 95 Thesen, sind die unmittelbaren Auswirkungen der Erinnerungsgeschichte evident. Denn zumeist galt als selbstverständlich, dass die 95 Thesen entscheidend dafür verantwortlich gewesen seien, dass das Ablassinstitut rasch und umfassend kollabiert sei. Schließlich waren sie doch der Text, mit dem Luther seine Reformation begonnen hatte; schon die Anheftung an den Kirchentüren, den ‚schwarzen Brettern‘, wurde ja lange Zeit als symbolischer Protest- und Demonstrationsakt verstanden. Doch an diesem Punkt sind, wenn ich recht sehe, durch die neuere Forschung erhebliche Korrekturen erforderlich geworden.11 Aufgrund der Untersuchungen Winterhagers12 kann zudem als erwiesen gelten, dass Luther nicht nur an eine gelehrte, sondern auch an eine populäre Ablasskritik anknüpfte bzw. diese voraussetzte. In den anderthalb Jahrzehnten vor 1517 war diese Ablasskritik immer breiter und vernehmlicher geworden. Wenn Luther im Mai 1518 an seinen Ordinarius schrieb, dass viele (plurimi) Gelehrte und Ungelehrte allenthalben (passim) über die Ablasslehre erregt seien13, dann spiegelt sich darin eine entsprechende Stimmung wider. In den Resolutiones erwähnte er, dass das Laienvolk wegen des Ablasses in den Tavernen zum Spott und zum Hohn gegen die Kirche gereizt werde.14 In der 90. Ablassthese rekurrierte er auf die „peinlichen Einwände der Laien“ (scrupulosissima laicorum argumenta15) als Grund dafür, warum er sich selbst veranlasst sehe, dem Glaubwürdigkeitsverlust der von ihm geliebten Kirche zu begegnen.16 In der 81.–89. These schließlich lieh Luther diesen

11   Zu dieser unlängst auch von einem gewissen Medieninteresse begleiteten Diskussion vgl. zuletzt den instruktiven Sammelband: Joachim Ott/Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion [Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9], Leipzig 2008 (vgl. dazu meine Rez. in: ARGL 38, 2009, S.  26 f.). 12   Wilhelm-Ernst Winterhager, Ablasskritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: ARG 90, 1999, S.  6 –71. 13   „Cum nuper circum nostras regiones, optime praesul, audivi ce¸ pissent nova et inaudita de apostolicis indulgentiis dogmata, Ita ut tam docti quam indocti plurimi passim admirarentur et moventur, fui ego a multis tum familiaribus tum ignotis facie rogatus multis literis et colloquiis, quid mihi de ista verborum novitate (ne dicam licentia) videretur.“ Luther an Hieronymus Scultetus [13.  2. 1518], WABr 1, Nr.  58, S.  138,4–8. 14   „[.  .  .] ideo istas positiones omnes coegit me ponere, quod viderem alios falsis opinionibus infici, alios per tabernas videre et sanctum sacerdotium Ecclesiae manifesto ludibrio habere, occasione tam effusae licentiae praedicandarum veniarum. Nam erat vulgus laicorum ampliore occasione in odia sacerdotum excitandum, quod iam a multis annis propter avaritiam et pessimos mores nobis offensum [.  .  .] honorat sacerdotium.“ WA 1, S.  625,29–35; vgl. WA 2, S.  29,26 ff. 15   WA 1, S.  238,9–11. 16   Vgl. WA 1, S.  625,25–28; 626,3–6.

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§  6  Ausgangsszenario

Stimmen sein Wort.17 Aufgrund unmittelbarer Kontakte zum ‚gemeinen Mann‘ oder ingeniösen Einfühlungsvermögens in dessen Mentalität stellte er Fragen wie die folgenden: „Warum räumt der Papst das Fegefeuer nicht aus heiligster Liebe und um der Not der Seelen willen leer, also aus dem allertriftigsten Grunde, wenn er doch unzählige Seelen erlöst um des unseligen Geldes willen, das für den Bau der Peters­ kirche gegeben wird, also aus dem allerunwichtigsten Grunde?“ (Th. 82)18 Solche Fragen machten es den gutwilligen Gelehrten (Th. 81), also auch Luther selbst, schwer, das Ablasswesen zu verteidigen. Sodann stieß der Ablass, wie auch der ‚gemeine‘ Mann erkenne, mit anderen Praktiken der römischen Kirche zusammen: Warum sollten Totenmessen gelesen werden, wenn doch die Ablässe für die Verstorbenen dasselbe Ziel erreichten? (Th. 83)19 Warum setzten die Päpste, wenn es ihnen wirklich um das Heil der Seelen und nicht um den Mammon gehe, die Ablässe ihrer Vorgänger außer Kraft? (Th. 89) 20 Dieser die laikalen Einwände aufnehmende Fragenkatalog innerhalb der 95 Thesen dokumentiert, dass der Wittenberger Augustinereremit die breite Stimmung einer populären Ablasskritik voraussetzte und in seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Ablass verarbeitete. Die gegen den Ablass gerichtete Stimmungslage, die Luther vorfand und an die er anknüpfte, ist eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg von Luthers Ablasskritik geworden. Die Krise des Ablasses am Vorabend der Reformation lässt sich auch an den bescheidenen Ertragsbilanzen der letzten größeren Kampagnen vor 1517 konkretisieren21 : In Städten wie Speyer oder Frankfurt schnurrten die erzielten Erträge auf z. T. unter 10% früherer Unternehmungen zusammen. War bei einer der großen PeraudiAktionen22 in Speyer im Jahre 1502 ein Betrag von 3000  fl. eingespielt worden, kamen 1517 gerade einmal 200  fl. zusammen. In Frankfurt wurden 1488 2078  fl., 1502 1050  fl., 1517 aber nurmehr 304  fl. eingenommen. Nach den großen Erfolgen, die Per­ audi bei den drei reichsweiten Türkenkreuzzugsablässen zwischen 1486 und 1503 erzielt hatte23 und die auch bei einer Ablasskampagne zur Unterstützung des Deut17

  WA 1, S.  237,19–238,11.   Nach WA 1, S.  237,22–25. 19   WA 1, S.  237,26–28. 20   WA 1, S.  238,6–8. 21   Vgl. zum Folgenden die Nachweise für die einzelnen Angaben bei Winterhager, Ablasskritik, wie Anm.  12, S.  17 ff. 22   Zu den von Kardinal Raimund Peraudi organisierten Ablasskampagnen vgl. Bernd Moeller, Die letzten Ablasskampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablass in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  53–72. 295–307; zum ablassgeschichtlichen Zusammenhang auch weiterhin instruktiv: Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt 2 2000; zu den bußtheologischen Aporien der Ablasslehre des späten Mittelalters am Beispiel der Summa Angelica exemplarisch: Martin Ohst, Pflichtbeichte [BHTh 89], Tübingen 1995, S.  269 ff. 23   Zu den Kreuzzugsablässen vgl. Paulus, Geschichte, wie Anm.  22, S.  166 ff.; einige weitere Hinweise auch in: Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008, S.  219–221. Zum Einsatz des Johannes Paltz im Zusammenhang der Türkenablässe Peraudis vgl. Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts [BHTh 65], Tübingen 1982, S.  84 ff.; Nor18

3.  Der ablassgeschichtliche Kontext

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schen Ordens im Kampf um Livland (1507–1510) 24 noch in etwa anhielten, war die Bereitschaft der Bevölkerung, einen Ablass zu erwerben, bei den sich anschließenden Kampagnen vor 1517 immer deutlicher eingebrochen.25 Das Sammlungsmotiv des die Reformation schließlich auslösenden Petersablasses26 war überdies denkbar unpopulär; die in maximilianeischer Zeit ins Kraut schießenden, vom Wiener Hof geschürten antirömischen Gesinnungen und Stimmungen trugen das Ihre dazu bei.27 Als man dem Deutschordensmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach 1516 in Rom eine Ablasskampagne zugunsten von St. Peter anbot – die Hälfte der Einkünfte wurde ihm zugesichert, die andere sollte an den Papst fallen – lehnte er dies bezeichnenderweise mit der Begründung ab, dass „das volck wenig andacht oder zunegunge“28 zu einer Ablassspende für Rom aufbringe. Desinteresse, Verdrossenheit, auch offene Feindschaft im Umgang mit den Plenar­ ablässen zeichneten sich also vor 1517 deutlich ab. Es wurde immer fraglicher, ob sich der Aufwand der Ablassbetreiber angesichts der Erträge noch lohnte. Die marktschreierischen Attitüden eines Tetzel – er und sein Team kosteten monatlich 300  fl.29, etwa das Dreifache des Jahresgehaltes eines oberdeutschen Stadtpfarrers –, die sich dehnenden Aufenthaltszeiten des Ablasstrosses am einzelnen Ort, auch das Vordringen in immer kleinere Ortschaften – all dies fügt sich in das Gesamtbild einer durch Inflationierung des Heilsangebots forciert fortschreitenden Krise des Ablasses ein. Auch die immer kompakter werdenden Konkurrenzangebote zu den Plenarablässen der Kampagnen, die Wallfahrten und die Heiltumsschauen30, die hinsichtlich ihrer man Housley, Indulgences for Crusading, 1417–1517, in: Robert N.  Swanson (Hg.), Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe [Brill’s Companions to the Christian Tradition 5], Leiden, Boston 2006, S.  277–307. 24  Vgl. Leonid Arbusow, Die Beziehungen des Deutschen Ordens zum Ablasshandel seit dem 15. Jahrhundert, Göttingen 1909 (dasselbe auch in: Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 20, 1910, S.  367–457). 25  Einschlägiges Datenmaterial über die Ertragsquoten bei Winterhager, Ablasskritik, wie Anm.  12, bes. S.  29–32. 26  Vgl. Walther Köhler, Dokumente zum Ablassstreit von 1517 [SAKDQS 2/3], Tübingen 2 1934, bes. Nr.  31, S.  104–124 (Instructio summaria); Nr.  29, S.  83–94 (Ablassbulle Leos X. von 1515); Neuedition der Dokumente mit gehaltvollen Einleitungen in: Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 1. Teil [CCath 41], Münster 1988, S.  202 ff. 27   Vgl. etwa: Peter Schmid, Der päpstliche Legat Raimund Peraudi und die Reichsversammlungen der Jahre 1501–1503. Zum Prozeß der Entfremdung zwischen Reich und Rom in der Regierungszeit König Maximilians I., in: Erich Meuthen (Hg.), Reichstage und Kirche [SHKBAW 42], Göttingen 1991, S.  65–88. 28   Zit. nach Winterhager, Ablasskritik, wie Anm.  12, S.  41; vgl. Arbusow, Ablasshandel (1909), wie Anm.  24, S.  77–79. 29   Fabisch/Iserloh, Dokumente, wie Anm.  26, S.  307 (Schreiben Erzbischof Albrechts an die Räte in Halle, 13.  12. 1517). 30   Vgl. allgemein: Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 61959, S.  133 ff.; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  1, S.  73 ff.; Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum: Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum [AKG 75], Berlin, New York 2000, S.  611 ff. (zu den Heiltumsweisungen und Ablässen im Gefolge des ersten Jubiläums 1300).

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§  6  Ausgangsszenario

Heilseffizienz annähernd vergleichbar, wenn auch mit eigener frommer Mobilität verbunden waren und nur zu bestimmten Festen (etwa der Portiuncula-Ablass an der Wittenberger Schlosskirche an Allerheiligen) gewährt wurden, dürften zum Niedergang des Ablasshandels wesentlich beigetragen haben. Alles spricht also dafür, dass das vor über einem Jahrhundert gefällte Urteil Aloys Schultes zutreffend ist: „um 1514–1518“ sei der „Reinertrag“ aus dem Ablasshandel „so gering“ geworden, dass er sich nicht mehr lohnte.31 In ablassgeschichtlicher Hinsicht also trat Luther zu einem Zeitpunkt auf den Plan, als der in der zeitgenössischen Frömmigkeitskultur ubiquitär präsente Ablass immer offenkundiger problematisch geworden war. Das vor dem Hintergrund einer traditionell protestantischen Negativsicht auf das verfallene und verkommene Mittelalter wissenschaftsgeschichtlich berechtigte Bild, das Bernd Moeller vor über vier Jahrzehnten von der innerlich stabilen Kirchenfrömmigkeit des späten Mittelalters gezeichnet hat32, wird man heute also differenzieren müssen. Wenn der Würzburger Domprediger Johann Reyss 1515 dem Glauben an die Kraft der Ablässe die Mahnung zu wahrer Buße und rechtem Ethos entgegensetzte33 oder Johann Staupitz in seinen Nürnberger Predigten in der Adventszeit 1516 die irreführende Agitation der Ablasskommissare brandmarkte und einer internalisierenden Frömmigkeit als Heilsweg das Wort redete34, so zeigte dies auch an, dass eine stadtbürgerlich-laikale Frömmigkeitskultur einem äußerlichen exercitium pietatis wie dem Ablass gegenüber auf Distanz zu gehen gelernt hatte. Und auch der – freilich auf Latein vorgetragene – Spott des Erasmus, enthalten im Encomium Moriae (Lob der Torheit) von 1511, nötigt zur Differenzierung der These einer weithin ungebrochenen „kirchenfrommen“ Stabilität: Schlimmer noch als diejenigen, die die Heiligen mit merkwürdigen Riten ehrten, seien nach Erasmus die Ablassfreunde. „Die bauen auf vermeintlichen Ablaß ihrer Sünden und fühlen sich dabei schon im Himmel; die Dauer des Fegfeuers berechnen sie mit der Uhr auf Jahrzehnt, Jahr, Monat, Tag und Stunde genau, wie nach der Rechentabelle, fehlerlos. [.  .  .] Ein Kaufmann etwa, ein Soldat, ein Richter wirft da von seinem großen Raub einen Pfennig hin und glaubt nun, mit einem Male den ganzen 31

  Aloys Schulte, Die Fugger in Rom 1495–1523, Bd.  1, Leipzig 1904, S.  185 f.   Bernd Moeller, Frömmigkeit in Deutschland um 1500 (1965), zuletzt in: Ders., Reformation, wie Anm.  22, S.  73–85. 301–317; aus der Fülle neuerer Literatur zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit sei lediglich verwiesen auf den von Berndt Hamm und Volker Leppin herausgegebenen Band: „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther [SuR N. R. 36], Tübingen 2007; Gabriela Signori, Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005; vgl. auch meinen Beitrag: Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Johanna Haberer/Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation [SMHR 70], Tübingen 2012, S.  11–43. 33   Winterhager, Ablasskritik, wie Anm.  12, S.  42. 34   Johann von Staupitz, Sämtliche Schriften, hg. von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel, Bd.  2, Berlin 1979, S.  254 f.; zu Staupitz’ Auseinandersetzung mit dem Ablass vgl. auch Franz Posset, The Front-Runner of Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz [St. Andrews Studies in Reformation History], Aldershot 2003, S.  211–220. 32

3.  Der ablassgeschichtliche Kontext

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Sündenpfuhl seines Lebens ausgefegt, glaubt, jeden Meineid, jedes Laster, jeden Streit, jeden Totschlag, jeden Wortbruch, jeden Betrug, jeden Verrat gleichsam vertraglich wiedergutgemacht [zu haben], und zwar so gründlich, daß er gleich eine neue Serie von Sünden anfangen dürfe.“35 Die Virulenz gelehrter, aber auch populärer Ablasskritik vorauszusetzen, bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch Menschen gegeben hätte, die ihre Existenz und ihre Heilserwartungen mit vollem Herzen auf die Ablässe gegründet hätten.36 Dies setzt ja auch Luthers Ablasskritik voraus. Aber es dürften um 1517 deutlich weniger Menschen gewesen sein als noch ca. anderthalb Jahrzehnte zuvor. Das stetig perfektionierte, die Verstorbenen einbeziehende geistliche „Rundum-sorglos-Paket“ der Plenarablässe war jedenfalls schon vor Luthers Ablasskritik in einem rapiden Niedergang begriffen. Nach einer Überlieferung des albertinischen Rates Caesar Pflug soll der Merseburger Bischof Adolf von Anhalt kurz nach der Veröffentlichung der 95 Thesen geäußert haben: „Es gefil aber s. g. [dem Bischof vom Merseburg] auch wol, das die arme leute, die also zulifen und die gnade [sc. den Ablass] suchten, vor dem betrig Tetzels vorwarnt wurden und die conclusiones, die der Augustinermönch zu Wittenberg gemacht, an vil ortern angslagen wurden; das wurde grosen abbruch der gnaden thuen.“37 Dieses Urteil eines Bischofs macht m. E. schlagend deutlich, dass es Skepsis gegen die Praktiken der Ablasspropagandisten auch unter den hohen kirchlichen Amtsträgern gab und dass keineswegs von vornherein ausgemacht war, dass Luthers 35   Zitiert nach der Übersetzung von Alfred Hartmann, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd.  2, Darmstadt 1975, S.  95. 36   Ein instruktives Beispiel für eine Frömmigkeit, die im Zuge der frühen Reformation aus der Ablassverehrung in glühende Ablassfeindschaft umschlug, wurde in einem Dialog zwischen einem Vater und seinem in Wittenberg studierenden Sohn literarisch inszeniert. Nachdem der Sohn den Vater von der Wertlosigkeit des Ablasses überzeugt hatte, berichtet jener folgendes: „Vatt. Du lieber sun, ich weiß auch noch wol, das vor vier jharenn der deufelciall mit einem Craudinal hie was. die verkaufften ablas und brieff für die bösen heingen [cj. heinzen? so Clemen, s. u., S.  48 Anm.  11] und erlaubten buttern zu essen, und gaben ja ein umb sechs groschen unnd thewerer, und ich armer man hett kaum sechs groschenn in meinem hauß und gab sie hien auß, ich meinet, ich hett es woll außgericht und wer selyg, wen ich eynen hett, ich was schon Christi, er wolt dan mein nit. kemen sie mir mer für meine thür und schünden mir armen man mein geldt ab, ich wolt in ablaß geben mitt einem guten trumscheytt, dasman sie in alttenn schüsselkörben heym must tragen. wolan, ich habs verdint.“ Der Sohn beruhigt den Vater daraufhin und rät von Gewalttätigkeiten ab, fragt dann aber: „hastu aber die brieff noch?“ Als der Vater dies bestätigt, fordert der Sohn dazu auf, sie zu verbrennen. „Vatt. da recht!“ Ein Dialogus oder Gespräch zwischen einem Vater und Sohn die Lehre Martini Luthers .  .  . belangend (1523), ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  21–50, hier: 32 f. Nur weil der Erwerb des Ablasses einstmals mit religiöser Inbrunst verbunden war, kann die Vernichtung der Ablassbriefe als religiöse Katharsis dargestellt werden. Insofern bestätigt der zitierte Passus im Modus einer literarischen Erzählung, dass an den Ablass Heilserwartungen zu knüpfen alles andere als abwegig war. 37   Caesar Pflug an Herzog Georg von Sachsen, 27.  11. 1517, zitiert nach der Edition in: Felician Gess (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, 1. Band: 1517–1524, Leipzig 1904, ND [Mitteldeutsche Forschungen, Sonderreihe 6/1], Köln, Wien 1985, Nr.  24, S.  28 f., hier: 29.

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§  6  Ausgangsszenario

Ablasskritik zur Verketzerung durch Rom werde führen müssen. Von der spätmittelalterlichen Ablassgeschichte her stellen sich Luthers 95 Thesen als eine Art Höheund Schlusspunkt der vorangegangenen Ablasskritik dar. Noch ein weiterer, die Mediengeschichte berührender Sachverhalt sei nur kurz erwähnt. Die neuere druckgeschichtliche Forschung geht davon aus, dass die Ablasskampagnen einen wesentlichen Beitrag zum Ausbau des Druckwesens geliefert haben.38 Werbematerialien, Instruktionen, die Ablassbriefe (Confessionale) – all diese Texte mussten reproduziert werden und trugen zum Ausbau der typographischen Infrastruktur bei. Zugleich verbanden die Ablasskampagnen die Regionen und Länder, in denen sie vertrieben wurden, in kommunikativer und informationeller Hinsicht. Auf diese Weise trug die mediale Weiterentwicklung des Ablasses dazu bei, dass die Mittel, mit denen er dann in der Reformation bekämpft werden konnte, die Publizistik und die Öffentlichkeit, kräftig gefördert wurden.

4.  Der territorialgeschichtliche Kontext Nun einige Bemerkungen zum territorialgeschichtlichen Kontext: In einem undatierten, wahrscheinlich auf Anfang November 1517 anzusetzenden Brief an Spalatin berichtete Luther davon, dass es viele (multi) Leute gäbe, die behaupteten, er habe seine 95 Thesen auf Geheiß (iussu) oder zum Vorteil (favore) des sächsischen Kurfürsten veröffentlicht. Um diesen Stimmen keinen Vorschub zu leisten, wolle er nicht, dass die Thesen in die Hand des Kurfürsten oder irgendeines Hofbeamten gelangten, sondern zunächst von denen wahrgenommen würden, die gemeint seien.39 38

  Vgl. nur: Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, unv. Nachdruck der 1. Auflage Frankfurt/M. 1991, 1994, S.  230 ff.; weitere Hinweise in: Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  23, S.  219 f. Anm.  514; Hartmut Boockmann, Über Ablaß-“Medien“, in: GWU 34, 1983, S.  709–721; Kühne, Ostensio, wie Anm.  30, S.  874 ff.; Falk Eisermann, Der Ablaß als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert. Mit einer Auswahlbibliographie, in: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hg.), Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit – Tradition and Innovation in an Age of Change [Medieval to Early Modern Culture – Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 1], Frankfurt/M., Berlin 2001, S.  99– 128 (überarbeitete englische Version: The Indulgence as a Media Event: Developments in Communication through Broadsides in the Fifteenth Century, in: Swanson, Notes, wie Anm.  23, S.  309– 330); ders., Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert, in: Berndt Hamm/Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [SMHR 58], Tübingen 2011, S.  121–143. Die Multimedialität der Peraudischen Kampagnen wird aufgrund zeitgenössischer Quellen anschaulich geschildert von Andreas Röpcke, Geld und Gewissen – Raimund Peraudi und die Ablaßverkündigung in Norddeutschland am Ausgang des Mittelalters, in: Bremisches Jahrbuch 71, 1992, S.  43–80 und: Thomas Vogtherr, Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßprediger in Braunschweig (1488 und 1503), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77, 1996, S.  151–180; vgl. auch Housley, Indulgences, wie Anm.  23, S.  292 ff. 39   „Propositiones nostras [sc. die 95 Thesen] nolui [sc. Luther] in Principis Illustrissimi aut alicuius aulici sui prius venire manus quam eas percepissent ii, qui sese in illis notari crederent, ne

4.  Der territorialgeschichtliche Kontext

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Aufgrund dieser Äußerung kann man es m. E. für wahrscheinlich halten, dass Luther die 95 Thesen selbst in den Druck gegeben hat; angesichts dessen, dass ein Wittenberger Urdruck bekanntlich bisher nicht nachgewiesen werden konnte und deshalb in seiner Existenz gelegentlich bestritten wurde und wird40, belegt die Stelle zum einen, dass Luther ein vitales Interesse an ihrer Verbreitung in gelehrten Kreisen besessen hat. Zum anderen ist bemerkenswert, dass Luther nicht den Verdacht auf sich ziehen wollte, seine Kritik am Ablass diene den Interessen des Kurfürsten von Sachsen. Implizit bedeutet das natürlich auch, dass Luther eine gegenüber dem kursächsischen Hof unabhängige Position anstrebte und jedenfalls nicht so verstanden werden wollte, als ob die 95 Thesen nur gegen den vom Erzbischof von Mainz und Magdeburg vertriebenen Petersablass, nicht aber gegen das Ablasswesen als solches gerichtet seien. Der Wittenberger Bettelmönch in kursächsischen Diensten hatte, im Unterschied zu manchen anderen seiner eng mit Spalatin abgestimmten Aktivitäten, im Falle der 95 Thesen auf eigene Faust gehandelt und weder mit dem Hof, noch mit sonst einem Kollegen kooperiert; er wollte jedenfalls nicht als Promulgator kursächsischer oder gemeinwettinisch-antibrandenburgischer Interessen missverstanden werden. Denn die wettinischen Herzöge hatten ja den Vertrieb des Petersablasses in ihren Territorien verboten. Dies war einerseits wegen der traditionellen wettinisch-brandenburgischen Konkurrenz der Dynastien geschehen, die nach dem Verlust des Magdeburger Erzstuhles an die Hohenzollern – sie trugen nun zwei Kurfürstenhüte –, in ein neues und dramatisches Stadium getreten war.41 Es war andererseits natürlich dem üblichen fiskalischen Protektionismus des Territorialfürsten geschuldet, der jedem Finanzabfluss aus seinem Land mit Skepsis begegnete bzw. diesen zu verhindern trachtete. Schließlich gab es ja auch innerhalb der Grenzen der wettinischen Länder, nicht zuletzt in Wittenberg, beachtliche Gnaden zu erwerben.42 Dass Luthers eigenmächtiges Vorgehen bei der Veröffentlichung seiner Ablasskritik engstens mit seinem territorialpolitischen Kontext zusammenhing, läßt sich auch einer späteren Erinnerung entnehmen. In seiner Schrift Wider Hans Worst (1541) berichtete er Folgendes: „Als nu viel Volcks von Wittenberg lieff dem Ablas nach gen Jütterbock und Zerbest ec., Und ich (so war mich mein HERR Christus erlöset hat) forte crederent eas vel iussu vel favore Principis in Episcopum Magdeburgensem a me fuisse editas, sicut iam audio a multis eorum somniari.“ WABr 1, Nr.  50, S.  118,9–13 (Luther an Spalatin, ca. Anfang November 1517). 40   Vgl. dazu Martin Treu, Urkunde und Reflexion. Wiederentdeckung eines Belegs von Luthers Thesenanschlag, in: Ott/ders., Luthers Thesenanschlag, wie Anm.  11, S.  59–67, bes. 65 f. (zur Möglichkeit eines Leipziger Urdrucks der 95 Thesen aufgrund eines angeblichen handschriftlichen Eintrags Luthers auf dem Berliner Exemplar [Abb. a.a.O., S.  65 Abb.  2]; vgl. dazu auch Bernd Moel­ler, Thesenanschläge, in: Ott/Treu, a.a.O., S.  9 –31, hier: 30 Anm.  113). 41  Vgl. Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525, Göttingen 1984, S.  190; 248; Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  21 f. 42  Instruktiv: Helmar Junghans, Wittenberg als Lutherstadt, Berlin 21982, S.  48–51.

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§  6  Ausgangsszenario

nicht wuste, was der Ablas were, wie es denn kein Mensch nicht wuste, fieng ich seuberlich an zu predigen, man köndte wol bessers thun, das gewisser were, weder Ablas lösen. Solche predigt hatte ich auch zuvor gethan hie auffm Schlosse, wider das Ablas, Und bey Hertzog Fridrich damit schlechte gnade verdienet, Denn er sein Stifft auch seer lieb hatte.“43 Die Textstelle ist in Bezug auf den territorialpolitischen Kontext der Ablassfrage in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zum einen benennt sie einen Punkt, in dem des Kurfürsten und Luthers Interessen sowohl konvergierten als auch divergierten: Den Petersablass, den sich Einwohner Kursachsens von außerhalb ihrer Territorialgrenzen auf anhaltinischem bzw. erzstiftischem Gebiet beschafften, führte zu einem Geldabfluss aus Kursachsen, aber auch zu einem potentiellen Attraktionsverlust des mit großem Aufwand ausgebauten Wittenberger Reliquienschatzes in der Schlosskirche. Zum anderen wird aus der Textstelle unmissverständlich klar, dass Luther aufgrund früherer, sicher über Spalatin vermittelter Informationen aus dem Umkreis des Kurfürsten bekannt geworden war, dass dieser Luthers Kritik am Ablass nicht schätzte. Es war, so scheint es, die Unklarheit, welche Haltung Kurfürst Friedrich gegenüber einer breiteren Ablasskritik seines Theologieprofessors Luther einnehmen würde, die wesentlich mit dafür verantwortlich war, dass und wie dieser am 31.  10. 1517 agierte.

5.  Der medienhistorische Kontext Nun zum medienhistorischen Kontext der 95 Thesen. Es wurde ja bereits angedeutet, dass es wahrscheinlich ist, dass Luther in der zunächst „[b]ey den Augustinern“44 gelegenen, für die Gelehrten der Universität tätigen Offizin Johannes Rhau-Grunenbergs einen Druck der 95 Thesen in einer für die akademischen Disputationsdrucke üblichen kleineren Auflagehöhe anfertigen ließ. Den Briefen an Erzbischof Albrecht von Brandenburg und an den brandenburgischen Bischof Hermann Schulz – letzte43

  WA 51, S.  539,4–10; zur Frage von ablasskritischen Äußerungen vor den 95 Thesen wichtig: Helmar Junghans, Martin Luther, kirchliche Magnaten und Thesenanschlag. Zur Vorgeschichte von Luthers Widmungsbrief zu den Resolutiones disputationem de indulgentiarum virtute an Papst Leo X., in: Ott/Treu, Luthers Thesenanschlag, wie Anm.  11, S.  33–47; Martin Brecht, Martin Luther. Bd.  1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S.  181–187; David Ba­g­ chi, Luther’s Ninety-Five Theses and the Contemporary Criticism of Indulgences, in: Swanson, Notes, wie Anm.  23, S.  331–355. Dass die beichtväterliche Verantwortung Luthers erst später durch Friedrich Myconius als handlungsleitendes Motiv seiner Ablasskritik profiliert ausgearbeitet wurde, hat Lothar Vogel, Zwischen Universität und Seelsorge. Martin Luthers Beweggründe im Ablassstreit, in: ZKG 118, 2007, S.  187–212, wahrscheinlich gemacht. 44  Kolophon des Rhau-Grunenbergschen Druckes der Sieben Bußpsalmen, erste Bearbeitung 1517, WA 1, S.  155 (Druck A); Benzing/Claus, Nr.  74; vgl. auch WA 1, S.  153 (A): Vorrede der ersten, unvollständigen Ausgabe der Theologia deutsch (Benzing/Claus, Nr.  69). Allerdings scheint RhauGrunenberg nach Frühjahr 1517 in einem neu erworbenen Haus nahe des Neuen Kollegiums gedruckt zu haben (Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51], Wiesbaden 2007, S.  292). Das ändert allerdings nichts daran, dass er Luthers erster Drucker war.

5.  Der medienhistorische Kontext

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rer ist nicht überliefert –, die er am 31.10. verfasste, fügte er die Thesen wohl bei.45 Es ist kaum vorstellbar, dass er sie im Falle mehrmaliger Übersendung jedes Mal abgeschrieben haben sollte. Die Wahl der Publikationsform, der Einblattdruck, entsprach der in den Wittenberger Statuten vorgesehenen Form.46 Sie in „valvis templorum“47, an den Kirchentüren, bekannt zu machen, hätte dem statutarisch vorgesehenen, also üblichen Vorgehen entsprochen. Es gibt m. E. keinen zwingenden Grund, warum dies nicht auch im Falle der 95 Thesen der Fall gewesen sein sollte, freilich als Publikationsform, der jeder spektakuläre Charakter fehlte. Deshalb ist es auch bedeutungslos, dass Luther einen Thesenanschlag niemals erwähnt. Hier gilt einmal mehr: normalia non in actis. Ungleich wichtiger als die Frage des Thesenanschlages ist allerdings, mit welcher Art von Thesen wir es hier nach der Typologie der akademischen Disputationsthesen zu tun haben. Die 95 Thesen fügen sich in die von den Statuten vorgesehenen Disputationstypen nämlich nicht ein.48 Es handelt sich bei ihnen weder um Thesen für die feierlichen disputationes quodlibeticae, die von jedem Magister bzw. Doktor der Theologischen Fakultät einmal im Jahr über ein frei gewähltes Thema abzuhalten waren. Noch waren sie für die während des Semesters am Freitagvormittag vorgesehenen Zirkulardisputationen bestimmt, die in einem geschlossenen Kreis aktiver Teilnehmer aus Studenten und Magistern erörtert werden sollten. Schließlich handelt es sich auch nicht um pro gradu- oder Promotionsdisputationen, die im Zusam45

  WABr 1, Nr.  48, S.  108–115, hier: 112,66–68 (Hinweis auf die Disputationsthesen). Dass dem Brief an den brandenburgischen Bischof Schulz (Scultetus) wie dem an Albrecht die 95 Thesen beigefügt waren, ist allerdings – soweit ich sehe (vgl. auch die von Clemen zusammengestellten Hinweise auf diesen Brief: WA 1, S.  113 f.) – nicht bezeugt, aber vielleicht aufgrund der Annahme, sie seien gleichlautend oder einander zumindest sehr ähnlich gewesen (WA 1, S.  114), recht wahrscheinlich. 46   Dazu differenziert: Moeller, Thesenanschläge, wie Anm.  40. 47   So in der Rörerschen Notiz, zuerst veröffentlicht in: WA 48, RN S.  116 [zu WA 48, S.  236]; vgl. Treu, Urkunde, wie Anm.  40, S.  59 ff. Laut Satzung der Wittenberger Universität vom 1.  10. 1508 gehört zu den Aufgaben der Pedelle: „[.  .  .] festa, disputationes, promociones, in scholis publicare et ecclesiarum valvis intimare [.  .  .].“ Walter Friedensburg (Bearb.), Urkundenbuch der Universität Wittenberg Teil  1 (1502–1611) [Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N. R. 3], Magdeburg 1926, Nr.  22, S.  30. Eine offizielle Nachricht des Rektors der Universität, ein straffällig gewordener, aber nicht auffindbarer Student solle sich binnen 14 Tagen stellen, wurde gleichfalls „per edictum publicum in valvis parochialis ecclesie Wittembergensis“, also an der Pfarrkirche, angeschlagen, a.a.O., Nr.  29, S.  61. Auch die von Melanchthon verfasste Intimatio, der Verbrennung des kanonischen Rechts und scholastischer Bücher am 10.  12. 1520 beizuwohnen, wurde „in aede parochiali affixa“ (WA 7, S.  183,2). 48   Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  47, Nr.  22, S.  34–38; instruktiv dazu: Ulrich Köpf, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602 [LStRLO 5], Leipzig 2002, S.  71–86, bes. 74–76; Ernst Wolf, Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung der Disputationen an der Wittenberger Universität im 16. Jahrhundert, in: Ders., Peregrinatio, Bd.  2 : Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, S.  38–51, hat bereits festgestellt, dass Luther „die Disputation um den Ablass selbst kaum in einen statutengemäßen Disputationsgang eingeordnet hat, sondern ähnlich wie später etwa die Leipziger Disputation als eine Veranstaltung außergewöhnlicher Art gedacht hat.“ A.a.O., S.  39.

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§  6  Ausgangsszenario

menhang mit dem Erwerb eines akademischen Grades abgehalten wurden. Sodann war an den 95 Thesen merkwürdig, dass sie ohne einen bestimmten Disputationstermin bekannt gemacht wurden und dass sie sich neben der akademischen Öffentlichkeit Wittenbergs an nicht ortsansässige Adressaten wandten, die gebeten wurden, in schriftlicher Form (literis) zu ihnen Stellung zu nehmen.49 Dass Luther bei ihrer Veröffentlichung tatsächlich an die Durchführung einer konkreten Disputationsveranstaltung gedacht haben sollte, scheint keineswegs zwingend. Diese ‚irregulären‘ Momente, die sich an den 95 Thesen erheben lassen – also, dass sie sich nicht in die Typologie der üblichen Universitätsdisputationen einfügen, dass sie ohne Terminangabe veröffentlicht wurden und dass sie auch auf eine außerwittenbergische gelehrte Öffentlichkeit bezogen waren – haben sie, und das ist sicher kein Zufall, mit den 151 Thesen gemein, die der Archidiakon am Allerheiligenstift und Fakultätskollege Luthers Andreas Bodenstein von Karlstadt am Sonntag Misericordias Domini (26.4. 1517) veröffentlichte.50 Die Parallelen gehen noch weiter: Karlstadt ließ seine Thesen am Vortag der großen jährlichen Reliquienausstellung in der Stiftskirche erscheinen (in seinem Fall ist sogar ein Anschlag an der Kirchentür bezeugt) 51, Luther veröffentlichte seine Thesen am Vortag von Allerheiligen. Im Falle des Kirchenfestes im Frühjahr waren für die Schau von 17443 Reliquienpartikeln je 100 Tage und eine Quadragene – 40 Tage verschärfter Bußzeit – zur Verkürzung der zeitlichen

49

  Vgl. in der Inscriptio: „Quare petit [sc. Luther], ut qui non possunt verbis presentes nobiscum disceptare agant id literis absentes.“ WA 1, S.  233,5–8. 50   Zu den überlieferungsgeschichtlichen Fragen vgl. nur die Hinweise von Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1, Leipzig 1905, ND Nieuwkoop 21968, S.  75 ff.; 463 f. Die Thesen sind im Druck zuerst 1520/1, zusammen mit anderen Wittenberger Thesen, nachgewiesen, vgl. Benzing/Claus, S.  85 f.; Alejandro Zorzin, Karlstadt als reformatorischer Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, Nr.  29; ed. in: Ernst Kähler, Karlstadt und Augustin [Hallesche Monographien 19], Halle 1952, S.  11*-36*. Zur theologischen Programmatik dieser 151 Thesen s. a. Shin­ichi Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodenstein von Karlstadts in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005, S.  43 ff. Nach der handschriftlichen Überlieferung [Berlin SB Cod. Ms. theol. lat. Oct. 91, B. 56r–60r] könnte es sich bei den 151 Thesen vom 26.  4. 1517 allerdings auch um Promotionsthesen aus Anlass des theologischen „Bakkalaureats“ Bartholomäus Bernhardis von Feldkirch gehandelt haben, was sich allerdings nach meiner noch vorläufigen Kenntnis des Sachverhalts weder durch die druckgeschichtliche Überlieferung, noch durch das Liber Decanorum (Carl Eduard Förstemann [Hg.], Liber Decanorum Facultatis Theologiae Academiae Vitebergensis, Leipzig 1838; Faksimile, hg. von Johannes Ficker, Halle 1923) bestätigen lässt. Die Nachricht ist auch deshalb zweifelhaft, weil Bernhardi am 25.  9. 1516 im Rahmen einer Disputation, die zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Luther und Karlstadt geführt hatte, zum Sententiar promoviert wurde (WA 1, S.  142–151; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  43, S.  165–167; Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516– 1522 [VIEG 187], Mainz 2002, S.  78 ff.), also bereits die höchste Graduierungsstufe unterhalb des theologischen Doktorats erreicht hatte. 51   Karlstadt an Spalatin (28.  4. 1517): „Quas nuper Dominica Misericordia Domini, dicque sancta ostensionis venerabilium reliquiarum, conclusiones centum quinquaginta duas [sic] publice affixi, tuae quoque R. D mittere pollicebar [.  .  .].“ Johann Gottfried Olearius, Scrinium antiquarium, Jena, Arnstadt 21698, Ep. Nr.  6, S.  8. Die Aussage dürfte wohl implizieren, dass auch Karlstadts 151 Thesen in einem – nicht mehr nachweibaren – [Wittenberger] Urdruck erschienen waren.

5.  Der medienhistorische Kontext

179

Sündenstrafen zu erwerben. Im Falle des Allerheiligenfestes ging es um den Erwerb des Ad-instar-Ablasses52 der Portiunculakapelle von Assisi, einen Plenar­ablass. Diese Parallelen zwischen Karlstadts die augustinische Gnadentheologie gegen die Scholastiker verfechtenden 151 und Luthers Ablassthesen dürften kaum zufällig sein. Sie sind aber schwerlich im Sinne einer konzertierten Aktion zu interpretieren, es sei denn man bestritte die Glaubwürdigkeit von Luthers Auskunft, dass er seinen Vorstoß in der Ablassfrage mit niemandem abgesprochen habe.53 Die Parallelen sind zum einen sicher der größeren Öffentlichkeit und gesteigerten Aufmerksamkeit zuzuschreiben, die an den genannten Tagen wegen der Anwesenheit von Besuchern zu erreichen war. Sie sind zum anderen wohl auch dem Umstand geschuldet, dass der Ablass in einem besonders offenkundigen Gegensatz zu den gnadentheologischen Einsichten stand, die Luther und seit 1516 auch einzelne Wittenberger Kollegen gewonnen hatten und die sie auch nach außen hin immer deutlicher vernehmbar machen wollten. Dass im Falle der Karlstadtschen wie der Lutherschen Thesen Anstrengungen gemacht wurden, um sie auch andernorts bekannt zu machen, könnte es nahe legen, dass die Wittenberger vielleicht eine große, überregional ausstrahlende theologische Disputationsveranstaltung erstrebten, wie sie einst Giovanni Pico della Mirandola bei der Abfassung seiner 900 Thesen vorgeschwebt hatte54 und wie sie dann, den Rahmen des traditionellen Disputationswesens bereits kräftig sprengend, im Sommer 1519 in Leipzig durchgeführt werden sollte.55 Die entscheidende medien- bzw. publikationsstrategische Differenz zwischen Luthers und Karlstadts Vorgehen bestand allerdings darin, dass Luther seine Thesen an die zuständigen kirchenleitenden Instanzen sandte und damit die historisch wichtigste Wirkung dieses Dokuments provozierte, nämlich die Einleitung des römischen Prozesses durch Erzbischof Albrecht.56 Luthers Brief an den Erzbischof duldete keinen Zweifel, dass die bisherige Praxis des Petersablasses, die ihm vor allem aufgrund der Instructio summaria, der Ablassbulle und einiger Nachrichten über Tetzels Predigttätigkeit bekannt geworden war, umgehend beendet werden müsse.57 Ließ die literarische Form der Disputationsthesen noch die rhetorische Rückzugsmöglichkeit einer prinzipiell offenen Situation – der Ablass könne für eine unsichere und diskussionsbedürftige Angelegenheit zu halten sein, aber der Disputant werde ja vielleicht 52

 Vgl. Paulus, Geschichte, wie Anm.  22, S.  131 ff.; passim.   WABr 1, Nr.  110, S.  245,358 f. (Luther an Friedrich von Sachsen, 21.  11. 1518). 54   Giovanni Pico della Mirandola, Conclusiones sive theses DCCCC, hg. von Bohdan Kieszkowski [THR 131], Genf 1973; zum historisch-biographischen Kontext instruktiv die Einleitung von August Buck in der von ihm hg. Ausgabe: G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen [PhB 427], Hamburg 1990, S.  V II ff. 55   Vgl. zur Leipziger Disputation zuletzt: Anselm Schubert, Libertas Disputandi: Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105, 2008, S.  411–442; s. oben I, §  2, Anm.  34. 56  Vgl. Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  26, bes. S.  293 ff.; 303 ff.; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  43, bes. S.  232 ff.; WABr 1, S.  114 f. 57   WABr 1, S.  111,15 ff. 53

180

§  6  Ausgangsszenario

auch eines Besseren belehrt –, so legte der Brief an den Primas Germaniae unmissverständlich dar: Der Ablass gefährdet das Heil der Seelen, und diejenigen Kirchenführer, die seinen Vertrieb zulassen, machen sich vor Gott schuldig.58 Die Verbindung der disputatorisch-akademischen und der brieflichen Textform, mit der Luther „aus dem Winkel trat“59 und eine unvorhersehbare Erschütterung des bestehenden Kirchen- und Gesellschaftsgefüges auslösen sollte, dürfte vor dem Hintergrund der Beobachtungen zum territorialpolitischen Kontext zu interpretieren sein: Indem Luther die Thesen veröffentlichte, ließ er auch gegenüber dem kursächsischen Hof keinen Zweifel daran, dass er das bestehende Ablasswesen für inakzeptabel hielt; indem er aber eine akademische Textform wählte, rückte seine Position prinzipiell in den Horizont des Diskursiv-Vorläufigen. Indem er die Thesen ohne Abstimmung mit dem Hof veröffentlichte, konnte er zugleich den Verdacht, er wolle kursächsischen Interessen dienen, abwehren. Dadurch dass und wie er an den Erzbischof schrieb, verdeutlichte er aber unmissverständlich, dass es in Sachen Ablass eigentlich nichts mehr zu diskutieren gab. Die Einleitung eines Ketzerverfahrens entsprach der positionellen Entschiedenheit, mit der der Wittenberger Augustinermönch in seinem Brief aufgetreten war.

6.  Der biographische Kontext Erst vor dem Hintergrund der genannten Kontextbezüge wird m. E. verständlich, dass und inwiefern der 31.10. 1517 einen biographischen Wendepunkt Luthers markiert. Luther selbst ist ja auch in späteren Rückblicken bewusst geblieben, dass er an diesem Tag einen „Schritt“ getan hat60, der aus den Handlungslogiken seines Standes herausführte. Der „Schritt“ aber bestand in der medialen Kombination von Thesendruck und Brief. Als besorgter Priester und Theologieprofessor an Kirchenobere zu schreiben und sich kritisch über den Ablass zu äußern, wäre ebenso wenig aus dem Rahmen einer möglichen Handlungslogik herausgefallen, wie als Professor über den Ablass zu disputieren oder ihn von der Kanzel herab im Namen des Glaubens und der sittlichen Werke der Nächstenliebe zu kritisieren. Doch durch die Kombination der akademischen mit der brieflich-ratgeberischen Handlungslogik, der Ankündigung einer Erörterung und der unmissverständlichen Forderung nach einer Been­ 58   „[.  .  .] cum tamen omnium Episcoporum hoc sit officium primum & solum, ut populus Evangelium discat & charitatem Christi.“ WABr 1, S.  111,39–41. 59   Luther bezeichnet sich in seiner Widmungsvorrede zu den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) gegenüber Staupitz als jemanden, „qui semper anguli amator“ (WA 1, S.  526,34) gewesen sei, sich aber durch die dramatische Verführung der Seelen der Gläubigen zum Hervortreten auf die Bühne, auf der er bisher das Treiben anderer illustrer Geister beobachtet und belächelt habe, genötigt sehe. Ähnlich gegenüber Bischof Hieronymus Schulz (Scultetus) von Brandenburg (13.  2. 1518): „Quae [sc. Unwissen und Dreistigkeit im Zusammenhang mit dem Ablass] nisi tanta esset, nullus me praeter quam angulus meus cognovisset.“ WABr 1, S.  140,77. 60   Vgl. nur WA 54, S.  180,12–21; 185,5–8; WATR 4, Nr.  4707 (16.  7. 1539), S.  440,18 f.

6.  Der biographische Kontext

181

digung des Ablasshandels, erzeugte Luther von vornherein jenen Handlungsdruck auf die kirchliche Hierarchie, der die weitere Dynamik einer unvorhersehbaren Entwicklung freisetzen konnte. Luthers Brief an Erzbischof Albrecht ist bekanntlich das erste Dokument, das mit seiner neuen Namensform „Martinus Luther“ überliefert ist.61 Der Wechsel von seinem Geburtsnamen „Luder“ zu „Luther“, der in einigen Briefen reflektiert wird, war dadurch veranlasst, dass Luther das griechische Wort für Freiheit, eleutheria, in seinem Namen aufgespürt hatte. Die neue Namensform sollte seinem Selbstverständnis als von Gott befreitem Knecht Christi Ausdruck verleihen. Mögen an dieser Stelle Unsicherheiten bleiben, so besitzt es aber doch eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit, diesen Namenswechsel mit den Vorgängen des 31.10. selbst in eine direkte Verbindung zu bringen. Wenn es glaubhaft ist, dass sich Luther zu dem „Schritt“, den er am 31.10. tat, durchringen musste, dann ist es auch plausibel, dass er es als immense Befreiung oder Erleichterung empfand, als er sich schließlich durchgerungen hatte bzw. ihm – wie er es selbst sah – von Gott jene innere Freiheit geschenkt worden war, in der er als Befreiter beherzt und seinem Amtsgewissen gemäß agieren konnte. Insofern spiegelt sich in dem veränderten Namen eine von Luther selbst konstruierte oder gar empfundene biographische „Wende“. Möglicherweise machte der des Griechischen wenig kundige Luther bei seinem Rekurs auf die Namensform „Eleutherius“ eine Anleihe bei dem Verfasserpseudonym des Ulrich von Hutten zugeschriebenen Triumphus Capnionis, das „Eleutherius Bizen“ lautete.62 Jedenfalls begannen sich im Sommer und Herbst 1517 seine Verbindungen zu den humanistischen Kommunikationsnetzen zu intensivieren.63 Aufgrund der Disputatio contra scholasticam theologiam von Anfang September 151764 hatte ihn Willibald Pirckheimer umgehend – freilich als „Martinus Lueder“ – auf den letzten Platz einer Namensliste mit den vielversprechendsten Theologen der Gegenwart gesetzt.65 Manches spricht schließlich dafür, die 95 Thesen und die Disputation über die scholastische Theologie in einem engen inneren Zusammenhang zu sehen. Der in Jahren herangereifte gewissenhafte Exeget der Gerechtigkeit Gottes, der in seinen Vorlesungen den unendlichen Hiatus zwischen Gott und Mensch betonte und das 61   WABr 1, S.  112,69; zu Luthers Namenswechsel grundlegend: Bernd Moeller/Karl Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen [NAWG Phil.hist. Kl. 7], Göttingen 1981, S.  169–203; Moeller, Thesenanschläge, wie Anm.  40, S.  31. 62   Ioannis Reuchlin viri clarissimi Encomion .  .  . ab Eleutherio Bizeno decantatum [Hagenau, Thomas Anshelm 1518]; VD 16 H 5415; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1712, S.  105; zu dem Pseudonym „Eleutherius Byzenos“ s. unten II, §  8, Anm.  92. 63   Vgl. nur: Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reform movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994, S.  9 ff. 64   WA 1, S.  221–228; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  43, S.  170–172; zur Interpretation in systematischer Perspektive: Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles [ThB 105], Berlin, New York 2001, bes. S.  378 ff. 65  Vgl. Helga Scheible (Bearb.)/Dieter Wuttke (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  3, München 1989, Nr.  464, S.  162,570; s. unten II, §  8, Anm.  37.

182

§  6  Ausgangsszenario

scharfe Urteil über den zu jedem Akt der Kooperation mit der göttlichen Gnade unfähigen, gefallenen Menschen mit dem Glauben an die sich bedingungslos schenkende Barmherzigkeit Gottes verbunden hatte, trat in diesen beiden Disputationen bewusst vor das Forum einer größeren gelehrten Öffentlichkeit. Die vernichtende Kritik an der Gnaden- und Rechtfertigungskonzeption der Scholastik und die scharfe Attacke gegen die Frömmigkeitspraxis des Ablasses, in der das scholastisch ausgearbeitete Missverständnis der menschlichen Kooperation religiös verdichtet und rechtsförmig institutionalisiert wurde, erweisen sich im Kontext von Luthers theologischer Entwicklung als zwei Seiten derselben Medaille. Beide Thesenreihen haben einen programmatischen Charakter und sind öffentlichkeitsorientiert; beiden eignet ein eminent autoritätskritischer Impetus. Im Falle der Disputation gegen die scholastische Theologie ist es freilich die Autorität der Scholastiker und des Aristoteles, die bekämpft wird; im Falle der 95 Thesen ist es die Autorität der kirchlichen Hierarchie und des kanonischen Rechtsgefüges. Beide Disputationen auch aufgrund der chronologischen Nähe in einem engen biographischen Zusammenhang zu sehen, dürfte also sachgemäß sein. Dieser biographisch-theologiegeschichtliche Kontext sollte mit in den Blick genommen werden, wenn man den theologischen Gehalt der 95 Thesen zu erheben versucht. Dazu nur einige wenige, abschließende Bemerkungen: Bei der Interpretation der 95 Thesen verdient Beachtung, dass sie mit einem Jesuswort einsetzen, das ein quer zur sakramentalen Beichtbuße stehendes Verständnis von poenitentia bietet.66 Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass die beiden Schlussthesen darauf abzielen, dass ein jeder Christ seinem Herrn in Kreuz, Tod und Hölle nachfolgen solle, um durch viele Trübsale, nicht aber durch den Ablass, in den Himmel einzugehen.67 Die im Namen Christi ergehenden Thesen entfalteten also eine am Kreuz orientierte Ethik der Nachfolge, die durch die Anrede Christi in These 1 gleichsam performativ ins Werk gesetzt bzw. erschlossen wurde. Die als Totalbestimmung der christlichen Existenz verstandene Buße wurde von Luther durchaus im Einklang mit den Standards monastischer Lebensführung als „mortificatio carnis“68 gedeutet und für die Christenheit als ganze verbindlich gemacht. Insofern enthielten die 95 Thesen impli66   WA 1, S.  233,10 f.; zu dem Versuch, das Verständnis der Buße als ganzheitlicher Bestimmung des Menschen in Luthers Ablassthesen vor dem Hintergrund seiner Taulerrezeption zu verstehen, vgl. Volker Leppin, „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: ARG 93, 2002, S.  7–25. An der Interpretation überzeugt mich allerdings nicht, dass Leppin die 95 Thesen primär als Zeugnis für Luthers theologische Entwicklung würdigt, sie jedoch nicht in ihrem historischen Kontext einer spezifischen kirchenpolitischen und medialen Konfliktkonstellation betrachtet, auch ihrem literarisch-gattungsmäßigen Charakter wenig Rechnung trägt. Leppins These eines gewissen Einflusses Taulerscher oder sonstiger mystischer Texte auf die theologische Entwicklung Luthers soll damit allerdings nicht widersprochen sein. 67   WA 1, S.  238,18–21. 68   WA 1, S.  233,14 f.; zum monastischen Kontext der theologischen Entwicklung Luthers vgl. bes. Hamm, Der frühe Luther, wie Anm.  1, bes. S.  25 ff., sowie einzelne Beiträge in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe [SMHR 39],

6.  Der biographische Kontext

183

zit jene Nivellierung der beiden „genera“ der Christen, des Klerus und der Laien, die dann 1520 zum konzeptionellen Kristallisationspunkt des kirchlichen Neubaus eines ‚evangelischen‘ Christentums werden sollte.69 Mit dieser Beobachtung korrespondiert, dass Luther die Macht der kirchlichen Hierarchie, insbesondere des Papstes, radikal restringierte, prinzipiell auf den Bereich der Kompensation zeitlicher Sündenstrafen der Lebenden eingrenzte und theo­ logisch durch den Supremat der göttlichen Vergebung vermittels der priesterlichen Absolution70 relativierte. Eine rechtliche Prärogative des Papstes oder eines Bischofs, die über die priesterliche Absolutionsgewalt hinausgehe, lehnte Luther bereits in den 95 Thesen ab. Zugleich schärfte er eine radikale Disjunktion zwischen der allein Gott vorbehaltenen postmortalen Sphäre und den Verfügungsmöglichkeiten der kirchlich-sakramentalen Heilszuwendung ein. Damit ging eine internalisierende Deutung der Hölle, des Fegefeuers und des Himmels einher; sie wurden also vom Standpunkt des religiösen Subjektes aus gedeutet und gewichtet.71 In den 95 Thesen sucht man einige der zentralen Begriffe der Theologie Luthers, wie sie sich in den Jahren 1513–1516 konfiguriert hatte, vergebens. Dies betrifft etwa den Begriff des Glaubens, der Rechtfertigung, auch den der zum Heil führenden Sündenvergebung. Zu erklären ist dies wohl primär wegen des Themas Ablass; denn die Frage nach der rechten Buße bzw. der wahren Reue ist – wie Hamm formuliert hat – auf der „‚horizontale[n]‘ Ebene“ angesiedelt, die die „schmerzliche Erschütterung jeder eingebildeten Sicherheit, der guten Werke und der Christusnachfolge in Kreuz, Leiden und bitteren Drangsalen“72 thematisiert. Indem Luther bestritt, dass dem Ablass irgendeine Bedeutung in Bezug auf das Jenseits zuzuerkennen sei, eröffnete er den theologischen Raum für eine Neubestimmung des Gottesverhältnisses im Sinne der Rechtfertigungstheologie, wie er sie vor allem in seiner Römerbriefvorlesung vorgetragen hatte. Thesen wie die 36. und die 37. weisen auf diesen ‚vertikalen‘ Sinnhintergrund hin: „Jeder Christ, der wahre Reue empfindet (vere compunctus), hat vollkommenen Nachlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbriefe.“73 Und: „Jeder wahre Christ, ob lebend oder tot, hat Anteil (participationem) an den Gütern Tübingen 2007, und in: Athina Lexutt/Volker Mantey/Volkmar Ortmann (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus [SMHR 43], Tübingen 2008. 69   Vgl. dazu unten III, §  15; vgl. auch Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  1, S.  300 ff. 70  WA 1, S.  233,23 f.; zur zeitgenössischen scholastischen Ablasslehre: Bernhard Alfred R. Felmberg, Die Ablasstheologie Kardinal Cajetans (1469–1534) [SMRT 66], Leiden, Boston, Köln 1998. 71  Eine in diese Richtung weisende, systematisch zugespitzte Interpretation bietet Ulrich Barth, Die Geburt religiöser Autonomie. Luthers Ablassthesen 1517, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S.  53–95. 72   Berndt Hamm, Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt. Das Freiheitspotential der 95 Thesen vom 31. Oktober 1517, in: Ders./Michael Welker, Die Reformation. Potenziale der Freiheit, Tübingen 2008, S.  29–66, hier: 60. 73   WA 1, S.  235,7 f.: „Quilibet christianus vere compunctus habet remissionem plenariam a pena et culpa etiam sine literis veniarum sibi debitam.“

184

§  6  Ausgangsszenario

Christi und der Kirche; Gott gewährt ihm dies auch ohne Ablassbriefe.“74 Sie implizieren die gänzliche Passivität des Menschen beim Empfang der Gnade und sind insofern präzis gegen die Vorstellung einer werkgerechten cooperatio und einer Logik des „do ut des“ im Verhältnis zu Gott gerichtet. Eine positive Entfaltung des Modus der participatio an den bona Christi, etwa im Sinne des Glaubens, enthalten die Thesen allerdings nicht. Die 95 Thesen stellen also eine spezifische, auf die Ablassthematik zugespitzte Anwendungsgestalt der Lutherschen Rechtfertigungslehre dar, bieten aber keine Explikation dieser selbst. Sie zielten darauf ab, die Werke der Nächstenliebe, das Gebet und andere fromme Praktiken gegenüber dem der christlichen Soziabilität abträglichen Ablass aufzuwerten, aber sie begründeten nicht, wie der Christ liebesfähig und fromm wird. Sie schärften die Superiorität des biblischen Gotteswortes und des Evangeliums ein, aber sie explizierten nicht, inwiefern der Christ aus dem Wort lebt bzw. durch das Wort zum Glauben kommt. In einer These wie der 62. freilich – „Der wahre Schatz der Kirche ist das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“75 – blitzte die vertikale theologische Fundierung auf, die der horizontalen Dimension des Christentums zugrundeliegt und von der her Luther seine bußtheologischen Konsequenzen formulierte. In Bezug auf den biographisch-theologiegeschichtlichen Kontext der 95 Thesen wird man deshalb sagen können, dass sie die Substanz jener Theologie enthielten, die sich der Bibelexeget in den vergangenen fünf Jahren erarbeitet hatte.

7. Schlussbemerkungen Abschließend sei rekapituliert: Die unterschiedlichen kontextuellen Dimensionen, innerhalb derer man die 95 Thesen zu interpretieren hat, spielten ineinander und waren je auf ihre Weise dafür verantwortlich, dass der mit diesen Thesen und ihrer Versendung beginnende Ablassstreit zum Anfang der Reformation wurde. Der eigentliche Anfang dieses Anfangs, der den unter dem Glaubwürdigkeitsverlust seiner Kirche und den damit verbundenen Gefahren für die Gläubigen leidenden Wittenberger Theologieprofessor letztlich dazu bewog, aus dem „Winkel“ herauszutreten, ist unseren Kontextualisierungsbemühungen allerdings eigentümlich entzogen. Dieser Anfang des Anfangs war eine Regung des Gewissens, die Luther den Mut und die Freiheit verlieh, die Lüge als Lüge zu entlarven und für die erkannte Wahrheit, ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen, um ihrer selbst willen einzutreten.

74   WA 1, S.  235,9–11: „Quilibet verus christianus, sive vivus sive mortuus, habet participationem omnium bonorum Christi et Ecclesie etiam sine literis verniarum a deo sibi datam.“ 75  WA 1, S.  236,22 f.: „Verus thesaurus ecclesie est sacrosanctum evangelium glorie et gratie dei.“

§  7  Aktionale Aneignungen: Die studentische Reformation 1. Rahmenbedingungen Dass die Mobilität der Studenten als wesentlicher Dynamisierungsfaktor der frühreformatorischen Bewegung zu gelten hat, stellt einen für das Gesamtbild der reformatorischen Entwicklungen noch keineswegs hinreichend beachteten Sachverhalt dar. Dies liegt nicht nur an traditionellen kirchen-, theologie-, sozial- oder politikgeschichtlichen Perspektiven auf die Reformation, die der Erforschung einzelner Akteure und Akteursgruppen und ihrer eher uneindeutigen Wirkungen, Zugehörigkeiten und Strategien wenig günstig waren und sind. Es ist auch eine Folge der eher sporadischen, flüchtigen, häufig indirekten und nicht selten kritischen Quellenspuren, die die Studenten in den reformationsgeschichtlichen Überlieferungen hinterlassen haben. Auch die indikatorische Funktion der in der Vormoderne bekanntlich selten vollständigen Immatrikulationsziffern hält sich in Grenzen, lässt aber doch folgende Aussagen zu: Seit 1518/19 sind unter den mitteldeutschen Universitäten Erfurt, Leipzig und Wittenberg Frequenzverschiebungen zugunsten der kursächsischen Landesuniversität zu verzeichnen. In den Jahren 1519 und 1520 war die Universität Luthers, Karlstadts und Melanchthons mit 458 bzw. 579 Immatrikulationen die frequentierteste Hohe Schule im Reich. Die Rückgänge der Immatrikulationsziffern in Erfurt und Leipzig hielten sich allerdings bis 1520 in relativ engen Grenzen bzw. setzten erst – einem allgemeinen Trend, der auch Wittenberg erfasste, folgend – im Jahre 1521 massiv ein.1 Demnach waren in dem Jahr 1520, als die Universität Wittenberg die 1



1

1517 1518 1519 1520 1521 1522

Erfurt 313 346 298 310 120 72

Leipzig 382 354 298 417 339 285

Rostock 192 161 143 130 116 137

Ingolstadt 243 246 316 176 69 150

Tübingen 102 88 70 78 147 166

Wittenberg 242 273 458 579 245 285

Nach: Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart [ASGW.PH 24/2], Leipzig 1904, S.  288. Die Zunahme der Studenten setzte in Witten-

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§  7  Aktionale Aneignungen

höchste Studentenzahl ihrer frühesten Geschichte (bis 1542) zu verzeichnen hatte, auch in Erfurt und Leipzig mehr Studenten immatrikuliert als in den Vorjahren; der Wittenberger Studentenboom des Jahres 1520 speiste sich also nicht nur aus Wechslern aus den mitteldeutschen Konkurrenzorten, sondern auch aus einem kurzfristigen Anstieg der Gesamtzahl der Studenten im Reich sowie aus dem Zuzug Interessierter aus Süd- und Norddeutschland. Doch bereits 1521 war dieser Trend wieder beendet; für mehr als ein Jahrzehnt brachen die Studentenzahlen reichsweit ein; auch Wittenberg fiel auf ein Niveau, das noch unter den vorreformatorischen Verhältnissen lag. Die studentische Mobilität in der Frühzeit der Reformation deutet im Spiegel der Frequenzziffern der Jahre 1520/21 zwei in engster historischer Nähe zueinander stehende gegensätzliche Trends an: einerseits eine deutliche Hinwendung zum akademischen Wirkungsort des verurteilten Ketzers, andererseits eine fundamentale und eruptiv eintretende, freilich mittelfristig, für ca. ein Jahrzehnt anhaltende Krise des akademischen Betriebes überhaupt. Dass gerade in diesem Zeitrahmen der Jahre 1520/21 die meisten Nachrichten über studentische Aktionen zugunsten einer Veränderung oder Beseitigung des kirchlichen Ancien régime begegnen, nimmt nicht Wunder. Manches spricht dafür, dass es neben der Aura der berühmt werdenden Wittenberger Theologieprofessoren – allen voran die Luthers – gerade die turbulenten studentischen Protestformen gewesen sind, die manche Kommilitonen zunächst an die Leucorea lockten, dann aber auch zum Abgang veranlassten. berg wohl bereits vor der Leipziger Disputation ein. Am 22. 5.1519 schrieb Luther an Spalatin: „Confluit multus Studentium numerus & eorum insignium.“ WABr 1, Nr.  179, S.  404,15. Ende Mai berichtete Luther Spalatin von einem Schwund der Studenten an der Uni in Leipzig, die diesen Trend angeblich durch eine Berufung des Erasmus brechen wollte, WABr 2, S.  111,7 f. (31.  5. 1520). Zu Studenten und Universitäten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vgl. nur: Peter Moraw, Der Lebensweg der Studenten, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd.  1, Das Mittelalter, München 1993, S.  227–254; einzelne studentische Biographien im Spiegel persönlicher Gesuche an den Heiligen Stuhl in: Arnold Esch, Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst, München 2010, S.  52 ff.; grundlegendes sozialstatistisches Material in: Rainer C. Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert [VIEG 123], Stuttgart 1986 (zu Wachstumswellen und Konjunkturen im 14. und 15. Jahrhundert vgl. bes. S.  185 ff.); zur allgemeinen Orientierung vgl. Peter Baumgart, Universitäten im konfessionellen Zeitalter [RGST 149], Münster 2006, bes. Kap. I.2: Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts, S.  31–60; zur Universität Wittenberg vgl. speziell: Heinz Scheible, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg, in: Ders., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hg. v. Gerhard May und Rolf Decot [VIEG. B 41], Mainz 1996, S.  353–369; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  42, bes. S.  219 ff.; Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602 [LStRLO 5], Leipzig 2002; Walter Ludwig (Hg.), Die Musen im Reformationszeitalter [Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 1], Leipzig 2001; Heiner Lück, Art. Wittenberg, Universität, in: TRE 36, 2004, S.  232–242; das vorliegende Kapitel verstehe ich als einen Beitrag zu der von mir angeregten „écologie historique des agents du savoir théologique“, vgl. Thomas Kaufmann, Théologie, université, société. Quelques remarques sur le premier protestantisme du point de vue de l’histoire de l’Église, in: Philippe Büttgen/Christophe Duhamelle (Hg.), Religion ou confession? Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe–XVIIIe siècles), Paris 2010, S.  461–484, bes. 483 f.

2.  Die Anfänge reformatorischer Aktionen der Studenten

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2.  Die Anfänge reformatorischer Aktionen der Studenten Das meines Wissens früheste Zeugnis für eine aufsehenerregende studentische Aktion in Wittenberg fällt in die Frühzeit des Ablassstreites, in den März 1518. Auf dem Wittenberger Marktplatz wurden von einem angeblich von Tetzel geschickten Buchführer aus Halle die gedruckten Exemplare jener 106 Thesen2 feilgeboten, die der Ablassprediger zusammen mit dem Theologieprofessor Konrad Wimpina wohl bereits ca. zwei Monate zuvor, am 20.1.3, an der Universität Frankfurt/Oder disputiert hatte. Studenten brachten die Druckerzeugnisse an sich und sollen die erstaunlich große Menge von 800 Exemplaren verbrannt, d. h. gemäß der durch Apg 19,19 legitimierten, seit Jahrhunderten erprobten symbolischen Praxis der Liquidierung von Irrlehre4 ein Ketzerurteil an ihnen vollstreckt haben.5 Wie es scheint handelte es sich dabei nicht einfach nur um einen spontanen Gewaltakt, sondern um eine Veranstaltung, zu der durch eine Bekanntmachung auf den Marktplatz zur zweiten Stunde 2   Einleitung und Edition in: Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 1. Teil: Die Gutachten des Prierias und weitere Schrifen gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518) [CCath 41], Münster, Wien 1988, S.  310–337. Von dem Einblattdruck von [1518] hat sich lediglich ein Exemplar [SB München Sign. Einbl. VII, 31] erhalten, abgebildet a.a.O., S.  316. 3   Dieses Datum ist durch eine sekundäre Quellennachricht (zit. Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  2, S.  310, Anm.  6) überliefert. Allerdings heißt es von der dort erwähnten Disputation, dass sie aus Anlass eines in Frankfurt/O. abgehaltenen, von 300 Brüdern besuchten Mönchskonvents [wohl der Dominikaner] stattgefunden habe. Dem Thesendruck selbst kann man dies nicht entnehmen, im Gegenteil: Hier wird – übrigens wie im Falle von Karlstadts 151 Thesen von Misericordias Domini (26.  4. 1517) und Luthers 95 Thesen von Allerheiligen (vgl. dazu: Bernd Moeller, Thesenanschläge, in : Joachim Ott/Martin Treu [Hg.], Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion [Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9], Leipzig 2008, S.  9 – 32; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  188 f.; s. oben II, §  6, Anm.  50) – von der Angabe eines Disputationstermins und des Disputationstypus abgesehen und lediglich mitgeteilt, dass Tetzel „subscriptas positiones sustinebit in florentissimo studio Franckfordensi eis Oderam“ (Fabisch/Iserloh, S.  321). Da Disputationsthesen, die im Kontext von Ordenskonventen verwendet wurden, wohl in aller Regel nicht gedruckt wurden (vgl. dagegen aber das Beispiel der Wittenberger Franziskanerdisputation: Gerhard Hammer, Militia Franciscana seu militia Christi, Teil  1 und 2, in: ARG 69, 1978, S.  51–81; ARG 70, 1979, S.  59–105; WA 59, S.  606–697), scheint es mir keineswegs zwingend zu sein, dass die 106 Thesen Gegenstand dieser Ordensdisputation waren. Zu den Dominikanern und ihrem Kampf gegen die frühe Reformation vgl. Klaus-Bernward Springer, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit [QGDOD N. F. 8], Berlin 1999, hier bes. S.  42. 4   Thomas Werner, Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter [VMPIG 225], Göttingen 2007, S.  144 ff. (zu Apg 19,19); 64 f.; s. auch Holger Flachmann, Martin Luther und das Buch [SuR N. R. 8], Tübingen 1996, S.  202 ff. Die Wittenberger Verbrennung des 10.  12. 1520 erfolgte explizit unter Rekurs auf das ‚apostolische Institut‘ der Bücherverbrennung nach Apg 19,19, vgl. Melanchthons Intimatio, WA 7, S.  183,5. 5   Die Nachrichten und Einzelheiten zu dem Vorgang finden sich: WABr 1, S.  155,24 ff. (21.  3. 1518, Luther an Johannes Lang, der ein Exemplar der Thesen, das er dem Freunde in Erfurt schickte, vor den Flammen gerettet hatte [S.  155,39 f.], sowie WABr 1, S.  170,59 ff.; WABr 1, S.  277). Clemens Angabe, die Verbrennung der Wimpina-Tetzel-Thesen sei „durch Erfurter Studenten“ erfolgt, scheint mir ein Versehen zu sein. Luther setzt voraus, dass die Nachricht von der „conflagratione Positionum Tetzellinarum“ „ad vos“ (WABr 1, S.  155,24 f.) gelange, d. h. wohl über studentische Kanäle nach Erfurt komme.

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geladen worden war und die als ‚Geißelung‘ und ‚Beisetzung‘ der Thesen Tetzels inszeniert wurde.6 Einige Studenten hatten den Thesendruck sogar vorher gekauft; die Übergriffe ergaben sich also wohl erst allmählich. Die symbolische Hinrichtung der Tetzelschen Thesen präludierte jenen ‚Rechtsakt‘ des 10.  12. 1520, den man dann im Unterschied zu dieser ersten studentischen reformatorischen Textverbrennung in Wittenberg7 gleichsam als offizielle Veranstaltung der Universität, von der der Landesherr in Kenntnis gesetzt wurde, durchführte.8 Auch wenn Luther später den Vorwurf seines Erfurter Lehrers Jodocus Trutvetter, er sei für die „concrematio“9 der Tetzelschen Thesen verantwortlich, entschieden zurückwies und sich zudem in einer Predigt öffentlich von der Aktion distanzierte10, brachte er für die Studenten, die der scholastischen Studien überdrüssig und vom Eifer für die Heilige Schrift und ihren Wittenberger Lehrer getrieben seien, im Ganzen durchaus Verständnis auf.11 Das dem Verkäufer der Druckware allerdings entstandene Unrecht missfiel ihm freilich, ebenso wie den übrigen Verantwortlichen in Stadt und Universität.12 Dass die frühe Ausbreitung und Rezeption der Wittenberger Theologie von der emphatischen Zustimmung ihrer Studenten und der Solidarität der ganzen Universität getragen und begleitet wurde, ja vielleicht auch ein neuartig intensiviertes Beziehungsverhältnis zwischen den noch jungen Professoren Luther und Karlstadt und ihren studentischen Hörern bestand, zeigte sich bei dem pompösen, symbolisch verdichteten Einzug der Kursachsen aus Anlass der Leipziger Disputation besonders deutlich. Während Eck allein mit einem Diener anreiste, kamen die Wittenberger 6   Luther berichtet an Lang: „Studentes [.  .  .], cum rescissent advenisse virum ab Hallis, missum a Tetzel, autore Positionum, statim adeunt, et hominem terrentes, quod talia huc auderet afferre, aliquot quidam emerunt, alii vero rapuerunt, et reliquas omnes ferme 800 (praemissa intimatione et convocatione, si quis vellet adesse conflagrationi et funeri Positionum Tetzellinarum, veniret ad forum, hora secunda) combussuerunt [.  .  .].“ WABr 1, S.  155,26–33. 7   Luther betont, dass die Aktion „inscio Principe, Senatu, Rectore, denique omnibus nobis“ (WABr 1, S.  155,33 f.) stattgefunden habe. 8   Vgl. WABr 2, Nr.  361, S.  234 (Luther an Spalatin, 10.  12. 1520); zu Luthers nachträglicher Freude über die Tat: WABr 2, Nr.  366, S.  245,17–19 (Luther an Staupitz, 14.  1. 1521); vgl. zur kirchengeschichtlichen Bedeutung des 10.  12. 1520: Heinrich Boehmer, Luther und der 10. Dezember 1520, zuletzt in: Ders., Studien zur Kirchengeschichte, hg. von Heinrich Bornkamm und Hans Hofmann [ThB 52], München 1974, S.  77–123; Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S.  403 ff.; Reinhard Schwarz, Luther [utb 1926], Göttingen 32004, S.  117–121; Thomas Kaufmann, Martin Luther [bsr 2388], München 22010, S.  53 f. 9   WABr 1, Nr.  74, S.  169–171 (9.  5. 1518, Luther an Trutvetter), hier: 170,59 f.; Kasus von mir geändert, Th. K. Die Befürchtung, für die studentische Aktion verantwortlich gemacht zu werden, hatte Luther schon im März: „Sum extra noxam, sed timeo, quod totum mihi imputabitur.“ WABr 1, S.  155,35 f. 10   WA 1, S.  277,19 f. Die Ermahnung soll in einer Fastenpredigt, die Luther am Freitag nach Lätare [19.  3. 1518] hielt (WA 1, S.  273), erfolgt sein, d. h. zwei Tage vor Luthers Brief an Lang, WABr 1, Nr.  64 (s. oben Anm.  5). 11   „Studentes, ut sunt mire pertaesi sophistici huius antiqui studii, cupidissimi vero sacrae Bibliae, forte et mei favoris studio [.  .  .].“ WABr 1, S.  155,26–28. 12   WABr 1, S.  155,34 f.

2.  Die Anfänge reformatorischer Aktionen der Studenten

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Theologieprofessoren Luther und Karlstadt in Begleitung von Kollegen und dem damaligen Rektor der Universität, Herzog Barnim von Pommern, sowie ca. 200 Studenten, von denen einige als bewaffnete Eskorte neben den Wagen einhergingen. Um die Ungleichheit hinsichtlich der Entourage auszugleichen, organisierte der Dres­ dener Hoftheologe Hieronymus Emser bei Ecks erstem öffentlichen Auftritt ein Ehrengeleit aus jungen Magistern der Leipziger Universität.13 Während ihres Aufenthaltes in Leipzig sollen die Wittenberger Studenten gelegentlich für Unruhe gesorgt haben; Eck beschwerte sich nachträglich bei Kurfürst Friedrich, dass sie „die Degen gefaust haben, da wir disputierten“; in der Nacht „schrieen“ sie „tretzlich“14 vor Ecks Quartier, so dass der Leipziger Rat Wachen aufstellen musste. Die starke Präsenz Wittenberger Studenten bei der Disputation dürfte jedenfalls die Stimmung angeheizt und vielleicht mit dazu beigetragen haben, dass die bald auch durch eine breit einsetzende Publizistik beförderte öffentliche Wahrnehmung des Leipziger Spektakels aus einem gelehrten Theologenstreit eine breite Bewegung werden ließ.15 Mit den ersten offenen Konflikten zwischen Adepten der Wittenberger Universität und klerikalen Repräsentanten des kirchlichen Herkommens, wie sie etwa 1519 durch die Agitation von Franz Günther und Thomas Müntzer in Jüterbog ausbrachen16, setzte ein lokaler Durchsetzungskampf um die reformatorischen Ideen ein, der sich in den folgenden Jahren an zahllosen Orten in ähnlicher Weise wiederholen 13

  Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  8, S.  296; Sebastian Fröschl berichtet (1566), dass die Wittenberger Studenten neben dem Wagen ihrer Professoren „mit Spießen und Hellebarden“ einhergingen, „und begleiteten also ihre Herren“. Um in den Herbergen, in denen die Studenten untergebracht waren, Frieden zu halten, wurden Diener mit Hellebarden aufgestellt (W2, Bd.  15, Sp.  1205 f.). Unter den „jungen Magistris“, die Emser im Namen des Rektors darum bat, Eck beim Einzug ins Schloss zu begleiten und bei ihm zu stehen, befand sich auch der im Wintersemester 1518/9 zum Magister promovierte Fröschl selbst, a.a.O., Sp.  1206; vgl. über ihn nur MBW 12, S.  99 f. Dem Umstand, dass sich Eck in Leipzig in Begleitung von Dienern des Rates bewegte, mit denen er beispielsweise ausritt (W2, Bd.  15, Sp.  1275), wird man wohl entnehmen können, dass von den Wittenberger Studenten Gefahren für seine leibliche Unversehrtheit ausgingen. Zur Inszenierung akademischer Rituale wie der Disputation vgl. bezogen auf das spätere 16. Jahrhundert und die frühe Neuzeit: Füssel, Gelehrtenkultur, wie Anm.  92, S.  149 ff.; zur Leipziger Disputation s. auch Anselm Schubert, Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105, 2008, S.  411–442. 14   WABr 1, Nr.  192/2 (Eck an Kurfürst Friedrich, 8.  11. 1519), hier: S.  492,476–478; vgl. die Hinweise in Ecks rasch nach der Disputation veröffentlichter Expurgatio adversus criminationes .  .  . Lutheri, in der er angibt, dass Herzog Georg ihn durch eine Schutztruppe aus bewaffneten Männern Tag und Nacht vor der Gewalt der Lutheraner geschützt habe („[.  .  .] armatis viris, non modo die, sed etiam in nocte, defendit, ne qua violentia a Lutteranis mihi inferretur.“ WABr 1, S.  442,10 f.). Zu Beginn und während der Disputation seien 76 bewaffnete Wächter anwesend gewesen; nachdem Wittenberger Studenten Drohbriefe an den Leipziger Rat gesandt hatten, wurden in den Nachbarhäusern von Ecks Quartier 34 Bewaffnete stationiert, vgl. WABr 1, S.  442 f. Anm.  9. 15  Vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, S.  243 ff. 16  Vgl. nur: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, S.  249 ff.; Bubenheimer, Müntzer, wie Anm.  42, S.  186 ff.; Abdruck der wichtigsten Quellen in: Wieland Held/Siegfried Hoyer (Bearb.), Quellen zu Thomas Müntzer [ThMA 3], Leipzig 2004, Nr.  5 f., S.  39–54. Luther rechtfertigte Müntzers scharfe antiklerikale Angriffe auf die Prälaten; sie ergäben sich zwingend

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§  7  Aktionale Aneignungen

sollte. Eine wohl geradezu typische Szene dieser Art ist aus der der Universität Wittenberg inkorporierten kursächsischen Propstei Schlieben überliefert, wo ein Wittenberger Student die Predigt des Gemeindepfarrers mit den Worten unterbrach: „her lucht und legt dy heylg geschrifft falsch uß; da ist er ingefengnis gesetzt worden und hat sich herbotten, mit dem pfarer zu disputieren, da hat der student recht behalten und den pfarrer uber wunden.“17 In einigen Zusammenhängen wird man sich fragen können, ob die studentischen Hörer der Wittenberger Vorlesungen nicht auch auf die Meinungen ihrer Professoren und deren Verhältnis zueinander Einfluss nahmen bzw. zurückwirkten. Im Bezug auf die zuerst im Sommer 1520 sichtbar werdenden Spannungen zwischen Luther und Karlstadt, die sich zunächst auf kanonstheologische Fragen bezogen, dürfte dies evident sein. In seiner auf den August 1520, den Zeitpunkt des Erscheinens von Luthers Adelsschrift18, datierten großen Abhandlung über die kanonischen Schriften19 erwähnte Karlstadt, dass von einem ‚blinden Priester‘, mit dem ihn einstmals eine Freundschaft verbunden habe, verführte ‚discipuli‘ ihn wegen seiner im Sommersemester 1520 gehaltenen Vorlesung über den Jakobusbrief angegriffen hätten. Sie plapperten die Torheiten des namentlich nicht genannten Kollegen, hinter dem Luther erkennbar ist, bedenkenlos nach und behaupteten einfach, der Jakobusbrief sei nicht von einem Apostel, sondern von Hieronymus verfasst.20 Ob Luthers aus der Bibel, vgl. WABr 1, S.  392,107 ff. (Nr.  174; 15.  5. 1519, Luther an den Franziskanerkonvent in Jüterbog); vgl. Held/Hoyer, a.a.O., S.  54. 17   Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, Leipzig 21911, S.  211; über den Schliebener Pfarrer bzw. Propst Moritz Motte s. a.a.O., S.  390–394. 18   Vgl. die Hinweise von Karlheinz Blaschke, in: LuStA 2, S.  89–95; terminus ante quem des Erscheinens der Adelsschrift ist der 18.  8. 1520, als die Meinung des Hofes über sie bekannt wurde und die erste Auflage von 4000 Exemplaren bereits verkauft war, WABr 2, S.  167,5 ff. 19  Andreas Karlstadt, De canonicis scripturis libellus, Wittenberg, Johann Rhau-Grunenberg 1520; VD 16 B 6121; Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, Nr.  22 A; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1870, S.  175; vgl. zur Sache: Martin Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Martin Luther und der Kanon der Heiligen Schrift, in: Ulrich Bubenheimer/ Stefan Oehmig (Hg.), Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, S.  135–150; zum historisch-biographischen Kontext auch: Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1, Nieuwkoop 21968, S.  197 ff.; Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation [Jus Eccl 24], Tübingen 1977, bes. S.  156 ff.; zur Kanonsdiskussion in der Reformation vgl. auch: Ekkehard Mühlenberg, „Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae“ (Johannes Eck). Vorstellung von der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip, zuletzt in: Ders., Gott in der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zur Kirchengeschichte, hg. von Ute Mennecke und Stefanie Frost [AKG 110], Berlin, New York 2008, S.  120–146; Karl August Credner, Zur Geschichte des Kanons, Halle 1847, bes. S.  294 ff. (Einleitung zum Abdruck der Karlstadtschen Kanonsschrift); s. auch oben I, §  3, Anm.  79. 20   „[R]eiiciuntur autem dicta Iacobi quia ipse forsan, eum explanandum susceperam, itaque cum interpraete sermo veteribus admodum acceptus, commutatur. discipulis caeco praeceptorum amore raptis, totam Iacobi epistolam contemnentibus qui existimant iure lacerandum quod fortasse nonnullarum procacitas dilacerat. Pervenerunt plerique (sibi sua persuasione magni) in eam insaniam, ut epistolam illam Hieronymo inscriberent, in eam dementiam (nimio praeceptorum

3.  Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21

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Polemik gegen Karlstadt dazu geführt hatte, dass die zunächst sehr stattliche Teilnehmerzahl21 in dessen Kolleg zurückging, was ihn sicher angefochten hätte, lässt sich nicht feststellen. Klar aber ist, dass die Studenten als Akteure, als Vorlesungsteilnehmer und als Diskutanten, auf die erste Kontroverse, die innerhalb des Wittenberger Kreises aufgebrochen war, Einfluss genommen haben.

3.  Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21 Dass die studentischen Aktions- und Protestformen in Wittenberg in den Jahren 1520/21 eine Tendenz zu wachsender Provokations- und Gewaltbereitschaft erkennen ließen, bildet ein wichtiges Moment der weiteren reformatorischen Entwicklung. Die intellektuellen Protagonisten der reformatorischen Bewegung an der Leucorea honore) ducti magnus videri vult, qui dixit eam epistolam Hieronymi non Iacobi fuisse, qua tamen facetia homo ridiculus (quamquam gravitatem simulat) imprudens ostendit, quam accurate Hieronymi gustaverit stylum, quot denique lineas in eo traxerit. Nenias illius boni sacerdotis, veteris amicitię nostrę discidia, aliquamdiu sum passus, neque iam amicitiam bene conservatam ledere conabar, neque carissimis alioqui atque eruditissimis quicquam (quod eos male habeat) vel obflare cupio. Verum non possum non diluere frivola illius pręsbiteri argumenta, quibus eruditam Iacobi epistolam obruit, odio fortasse mei incensus, allegat phrasim clemens ille dominus rumpar si uspiam Iacobi Apostoli stylum quantum ad orationis pertinet structuram, legit demus autem esse Iacobi, sed non Apostoli. licuit ideo illi auditores fastidiis Iacobinae Epistolae inflammare? Atque ab auditorio subtrahere? Iam ego discipulos alloquar, Cur quaeso in Iacobi epistola fastiditis addiscere, quod in Evangelicis, quod in Apostolicis, quod in Mosaicis, quod in propheticis libris non audetis fastidire?“ De canonicis scripturis, wie Anm.  19, H 2r/v; Credner, Geschichte, wie Anm.  19, S.  273– 274. Die Aussage über den unapostolischen Stil des Jakobusbriefes dürfte sich auf die Resolutiones Lutherianae beziehen, in denen Luther die Thesen der Leipziger Disputation kurz nach deren Ende kommentiert hatte (Druck Ende August), vgl. WA 2, S.  425,10–13. Nicht deutlich entscheidbar ist, ob der Kuttenträger („Cucullus“, De canonicis scripturis, D 4r), der Karlstadt anbellte, auch Luther war oder vielleicht ein Disputant, der im Rahmen einer Promotionsdisputation für den Zisterzienser Heinrich Greiff von Zinna (De fide infusa et acquisita, 3.  2. 1520; Brecht, Kanon, wie Anm.  19, S.  141) auftrat; vgl. zu der Disputation WA 6, S.  95,20–96,5; die Resolutiones zu den Promotionsthesen sollen als „Niederschlag der Disputation“ (WA 39/2, S.  X II, Nr.  13) entstanden sein. Karlstadt dürfte in der Disputation, wenn er sich denn eingeschaltet hätte, darauf bestanden haben, dass man die in Jak 2,20 enthaltene Aussage über die fides („fides sine operibus mortua est“) bei einer biblisch fundierten Bestimmung der fides nicht übergehen dürfe, s. De canonicis scripturis, wie Anm.  19, D 4r. In der Anfang Oktober 1520 erschienenen Schrift De captivitate Babylonica hat Luther dann die apostolische Dignität des Jakobusbriefs im Kontext des Abschnitts über die letzte Ölung grundsätzlich in Frage gestellt, WA 6, S.  568,9 ff. = LuStA 2, S.  253,19 ff. Kurz zuvor hatte Latomus die Autorität des Jakobusbriefs verfochten, vgl. den Nachweis in LuStA 2, S.  253 Anm.  600; in seiner Schrift gegen Alveldt (Juni 1520) zitierte Luther Jak 2,10 als autoritatives Diktum, WA 6, S.  288,6 ff. Einem Hinweis wie dem, dass Melanchthon und Luther bei der Einfahrt nach Leipzig an Karlstadt, dessen Wagen verunglückte und seinen Insassen in den „Koth“ (W2, Bd.  15, Sp.  1205) beförderte, vorüberfuhren, sodass die Leute sagten: „Dieser wird obliegen (meinten D. Martin Luther seligen), und der andere wird unterliegen, Doctor Carlstadt“, wird man vielleicht doch entnehmen können, dass beider Kollegen Verhältnis auch schon im Sommer 1519 nicht ‚unbelastet‘ war. 21   Am 8.  5. 1520 berichtete Karlstadt an Spalatin: „Nunc quoque, ut coepi pergere in Epistulam Jacobi, plures habeo auditores, quam infirmitas mea cupiat.“ Zit. nach der Edition des Briefes in: Barge, Karlstadt, wie Anm.  19, Bd.  2, S.  545 Anhang 8.

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§  7  Aktionale Aneignungen

sympathisierten zumeist mit den kirchenpolitischen Vorstellungen ihrer Studenten, distanzierten sich in der Regel aber von den Formen, in denen diese zum Ausdruck gebracht wurden. Diese Konstellation zeigte sich zum Beispiel am 10.  12. 1520, dem Tag der Verbrennung des kanonischen Rechts und der Bannandrohungsbulle, die aufgrund einer Bekanntmachung Melanchthons in Gegenwart der ausdrücklich zum Erscheinen aufgeforderten „pia ac studiosa iuventus“22 stattfand. Nach der auf 9.00 Uhr angesetzten, offenbar recht knappen Zeremonie, die mit Luthers durch den Verbrennungsakt des kanonischen Rechts und anderer Schriften symbolisch bekräftigter Exkommunkation des Papstes mittels eines Bibelwortes – „weil du das Heilige [oder den Heiligen] Gottes verderbt hast, verderbe dich heute das ewige Feuer“ (nach Ps 21,10) 23 – bereits wieder zu Ende war, zog der ganze Tross der graduierten Universitätsangehörigen von der Kreuzkapelle außerhalb des Elstertors zurück in die Stadt – zweifellos, um nun das übliche Tagesgeschäft eines gewöhnlichen Wochentages – es war ein Montag – aufzunehmen bzw. fortzusetzen. Dass die ja eigens geladenen Studenten nicht mit in die Stadt zurückzogen, also auch nicht in die Vorlesungen gingen, sondern sich weitere Aktionen ausdachten und den Tag mehr oder weniger spontan, eigenwillig und eigenständig gestalteten, verdeutlicht wohl, dass sie mit der ihnen offiziell zugedachten Rolle der stillen Zuschauer eines zwar „pium ac religiosum“, aber auch reichlich kurzen, formalen und unter inszenatorischen Gesichts-

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 Zit. nach der Edition der an der Pfarrkirche zu Wittenberg angehefteten Intimatio Melanchthons, WA 7, S.  183,7 f. Die anonym erschienenen Acta (ed. in: WA 7, S.  184–186; vgl. dazu: Otto Clemen, Die Acta exustionis antichristianorum Decretalium in deutscher Übersetzung, in: Ders., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, hg. v. Ernst Koch, Bd.  6, Leipzig 1985, S.  101– 109) notieren eingangs zutreffend, dass die Studenten ausdrücklich geladen waren: „Convocata est affixis schedulis omnis scholastica iuventus Vuittenbergae, fore ut decretales Antichristi concremarentur in horam nonam.“ WA 7, S.  184, 2–4. Außer zwei lateinischen Ausgaben (WA 7, S.  184; VD 16 E 4739 f.; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1081 f., S.  460; Ex. MF 1802 Nr.  4609; MF 1257 Nr.  3216) kam ein Einblattdruck mit dem Titel Wie etliche bücher durch Doctor Martinum Luter verbrant sind worden (Abb.  1) mit einer deutschen Übersetzung der Acta bei [Thomas Anshelm, Hagenau], heraus, vgl. Clemen, a.a.O., S.  314 (bei Josef Benzig, Bibliographie Haguenovienne [BBAur 50], Baden-Baden 1973 nicht verzeichnet); vgl. Hermann Barge, Die Ausbreitung. Die Entwicklung der Buchdruckerkunst vom Jahre 1500 bis zur Gegenwart, in: Gustav Adolf E. Bogeng (Hg.), Geschichte der Buchdruckerkunst, Bd.  2, Berlin 1941, S.  35–66, hier: 38. Das Blatt hat sich nach Verbrennung des einzigen bekannten Exemplars (LB Karlsruhe DK 51) im Jahre 1942 nurmehr in einer aus dem Nachlass Otto Clemens durch Hans Volz der LB Karlsruhe zur Verfügung gestellten Reproduktion (Sign. 66 B 402) erhalten. Der Einblattdruck ist ein instruktives Beispiel dafür, dass man mit einer ‚populären‘ Mediatisierung von zunächst dezidiert akademischen Vorgängen zu rechnen hat, von denen aufgrund kontingenter überlieferungsgeschichtlicher Umstände sonst nichts bekannt ist. Ein Einblattdruck wie dieser war selbstverständlich auch für Aushänge an öffentlichen Orten geeignet. 23  Vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, S.  288; WA 7, S.  184,9: „‚Quia‘, inquit [sc. Luther], ‚tu [sc. der Papst] conturbasti sanctum domini, Ideoque te conturbet ignis aeternus.‘ Quo facto rediit in urbem E. D. M. [sc. der evangelische Doktor Martin] maxima tum doctorum tum Magistrorum aliquorum litterarum cantidatorum caterva comitatus.“ WA 7, S.  184,9–11. Zur Frage des Wortlautes von Luthers Bannformel s. auch Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  8, S.  404; zu den Ereignissen des 10.  12. 1520 jetzt aufschlussreich: Anselm Schubert, Das Lachen der Ketzer, in: ZThK 108, 2011, S.  405–430.

3.  Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21

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Abb. 1  Wie etliche bücher durch Doctor Martinum Luter verbrant sind worden. Einblattdruck [Hagenau, Thomas Anshelm 1521]; Kopie aus dem Nachlass Otto Clemens LB Karlsruhe DK 51; s. o. Anm.  22. Der Text bietet eine deutsche Übersetzung der Acta exustionis antichristianorum Decreta­lium. Einblattdrucke dieser Art haben sich sehr selten erhalten.

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§  7  Aktionale Aneignungen

punkten ‚unspektakulären‘ „spectaculum“24 nicht ganz einverstanden waren. Dass sich die Professoren zu den Vorgängen in Distanz hielten, mochte auch mit den erst fünf Monate zurückliegenden Tumulten (s. unten Abschnitt 5.) und der Furcht vor Eskalationen zusammengehangen haben. Unter den mehreren hundert Studenten, die auf der „walstat“25 zurückblieben und das Feuer umstanden, brachen nun verschiedene Aktivitäten aus: einige sangen mit höchster Stimme das ‚Te deum laudamus‘, also den in den Morgenmessen an Sonnund Feiertagen und bei Prozessionen anstelle des Gloria üblichen sogenannten am­ brosianischen Lobgesang.26 Dies wird man wohl so zu interpretieren haben, dass sie die Bannung des Papstes, der sie soeben beigewohnt hatten, als Machterweis des erlösenden Gottes deuteten, den sie für diese Tat priesen. Andere zelebrierten in affektierter Weise ein Leichenbegängnis auf die Dekretalen. Ein Beobachter nennt das Schauspiel „frivola“; bis zum wohl gegen zwölf Uhr mittags eingenommenen Mahl ging es so fort.27 Wie es scheint, drangen in die zunächst förmlich-feierliche Veranstaltung immer ausgelassenere Formen ein; doch so weit, dass die Studenten ihr Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme zurückgestellt hätten, gingen sie nicht. Am Nachmittag setzte man die Aktionen allerdings noch weiter fort, und zwar mit einer ‚karnevalesken‘ Aktion, bei der Studenten einen bäuerlichen Karren mit Kommilitonen füllten, die in der Art der akademischen ‚Neophyten‘, der Beanen oder Grünschnäbel, ausstaffiert wurden.28 Mit Worten und Gesten, die große Heiter24

  WA 7, S.  183,8; vgl. auch Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, S.  349 f.   Johannes Kessler, Sabbata, hg. v. Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1902, S.  72,17. 26   Vgl. den informativen Artikel von Don E. Saliers, Ambrosianischer Lobgesang (Te Deum), in: RGG4, Bd.  1, 1998, Sp.  392 f. 27   „Remanserunt tamen aliquot studentium centenarii ignem circumsistentes, Alii voce sublatissima cantantes ‚Te deum laudamus‘, Alii exequias decretalium manibus celebrabant. Sed quis poterit frivola haec omnia recensere? His omnibus finitis Itum est ad prandium.“ WA 7, S.  184,11– 185,3. Die deutsche Übersetzung auf dem Flugblatt (s. Anm.  22; Abb.  1; Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  106) gibt das „circumsistentes“ mit „by dem feur blyben / in geringß wyß“ [d. i. indem sie es umringten] wieder. Das „frivola“ übersetzt der deutsche Text mit „die torechten ding“. 28   Wenn ich recht sehe, zielte die Verkleidung der auf dem Wagen sitzenden „candidati literarum personati“ (dt. Übers.: „vermutze gelerten“, Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  103; 106 [Clemen: cj. „Verputzte“, aber wohl eher vermuschte = vermischte, d. h. Theologie und Philosophie ‚vermischende‘ Gelehrte ]) darauf ab, die vermeintlichen Gelehrten als ungebildete Toren im Sinne der Beanen zu entlarven. Das mehrstufige Depositionsritual (s. Barbara Stollberg-Rilinger/Matthias Puhle/Jutta Götzmann/Gerd Althoff [Hg.], Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800–1800, Darmstadt 2008, Nr. I.80, S.  126 f.; Hans-Werner Pahl/Ingrid Schmidt-Harzbach, Die Universität. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, München, Luzern 1981, S.  32 f.) zielte demgegenüber eher auf einen ‚Reinigungsakt‘ ab, der in der studentischen Aktion des 10.  12. 1520 so nicht vorkam. Zur symbolischen Praxis der Deposition vgl. auch Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: ZHF 32, 2005, S.  605–648, bes. S.  611 ff. In der Darstellung der Stadt und der Universität Wittenberg aus der Feder des Magisters Andreas Meinhardi von 1507 findet sich im 13. Kapitel eine detaillierte Darstellung des Depositionsritus, auch seiner abstoßend-brutalen Aspekte. Der apotropäische Züge tragende Ritus wird vor allem als ‚Entweltlichung‘ propagiert, da der Studierende sich von den weltlichen und vergänglichen Dingen lösen müsse („Studere volentem 25

3.  Polarisierungs- und Radikalisierungsstrukturen 1520/21

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keit auslösten, führte ein Fuhrmann die Pferde, die den Karren zogen. Auf ihm wurde eine Ablassbulle als Segel entrollt. Ein Hornbläser stand auf dem Wagen und spießte die Bulle mit einem Fechtschwert auf. Offenbar war auch ein als Papst verkleideter Student mit von der Partie; seine Tiara – also der Papst in effigie – wurde verbrannt.29 In den Aktionen und Inszenierungen der Studenten flossen Elemente kirchlichliturgischer, ‚karnevalesker‘ und akademisch-studentenkultureller Provenienz ineinander. Ein anonymer Beobachter, der eine Schilderung der Ereignisse in den Druck gab, notierte ausdrücklich, dass Luther, Melanchthon und Karlstadt bei dem, was am Nachmittag geschah, nicht anwesend waren30 – sicher in der Absicht, sie von einer Verantwortung für die Vorgänge zu entlasten. Nachdem der Karren im Vorhof des Magisters Balthasar Fabricius aus Vacha 31 zugerichtet worden war, fuhr er auf den Universitätsplatz, wo eine große Menge neugierigen Volks herbeilief.32 Nun wurden ‚päpstliche‘ und ‚eckische‘ Schriften aufgeladen; auch eine große Menge Gelehrter lief hinterher. In den Fenstern und Türen hingen und standen die Bürger und beobachteten das Treiben „mit gunst und frolockung“33. Bei der studentischen Bücherverbrennung nun lief man, „wie manß an dem osterabent zuthun pflegt um hec mundana [sc. v. a. das weibliche Geschlecht] et transitoria missum facere oportet.“ Edgard C. Reincke, The Dialogus of Andreas Meinhardi, ed. and translated into English, UMI Microfiches, 1976, S.  154; deutsche Übersetzung: Martin Treu [Hg., Übers.], Andreas Meinhardi, Über die hochberühmte und herrliche Stadt Wittenberg [ub 1145], Leipzig 1986, S.  182; mit Kürzungen: Johannes Haußleiter, Die Universität Wittenberg vor dem Eintritt Luthers. Nach der Schilderung des Mag. Andreas Meinhardi vom Jahre 1507, Leipzig 1903, S.  72 [lat.]). Der eigentliche Depositionsakt durch einen Magister wird nach der Schilderung Meinhardis als quasi-sakramentaler Vorgang, ja als Beichtkontrafaktur inszeniert; die Absolution („[.  .  .] illum [sc. den Beanen] habere absolutum“, Haußleiter, a.a.O., S.  81; Reincke, a.a.O., S.  59; Treu, a.a.O., S.  195); die confessio des Beanen (ebd.), beginnend mit einer Anrufung Gottes, mündet in einer verpflichtenden professio, Gott, der Kirche und dem Rektor gehorsam zu sein und fleißig zu studieren, a.a.O., Treu, S.  196; Reincke, a.a.O., S.  160. 29   Vgl. die Nachricht aus einem Brieffragment des brandenburgischen Bischofs Hieronymus Scultetus, die in den Papieren Aleanders überliefert ist [ca. Mitte Dezember 1520], ed. von Walter Friedensburg, Die Verbrennung der Bannbulle durch Luther (1520 Dezb. 10). Ein zeitgenössischer Bericht, in: QFIAB 1, 1898, S.  320 f.: „Ad haec [sc. der Verbrennung kanonischer Rechtstexte und scholastischer Bücher] quendam ad similitudinem Sanmi Domini Nostri vestierint, quem, ut fertur, simul ad ignem adduxerint, qui arreptam coronam tradiderit flammae et sic se subduxerit aufugertique ocyter.“ Vgl. WABr 2, S.  269 Anm.  19. Zur Interpretation der Aktion im Kontext der aktuell erschienenen humanistischen Publikationen gegen das kirchliche Ancien régime, den Eccius dedolatus und den Hoogstratus ovans, vgl. Schubert, Das Lachen, wie Anm.  23. 30   „Spectaculo huic pomeridiano non interfuit D. M. L. neque Philip. Melan. neque Carolstadius.“ WA 7, S.  185,19 f.; vgl. zu Luther auch: a.a.O., S.  186,4 f.; Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  315; 319. 31  Vgl. Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  226; 270; WA 7, S.  185 Anm.  1; WABr 1, S.  547 Anm.  13; Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  103; vielleicht identisch mit dem WABr 3, Nr.  775, S.  344,5 f. erwähnten Balthasar Fabricius, den Luther 1524 als Prediger zum Abt von Saalfeld schickte? 32   WA 7, S.  185,21 ff.; Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  107. 33   Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  107.

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das füer“34 herum und sang das Lied ‚O du armer Judas’35, vermutlich wegen der darin enthaltenen Ansage einer Höllenpein für den Verrat an Christus, die, wie Judas, so nun auch dem Papst und seinen theologischen Verteidigern widerfahre. Ein weiterer Teil der Studenten stimmte das Requiem für das Leichenbegängnis der Bulle an.36 Der Fuhrmann predigte unter johlendem Beifall der Menge über die Bulle und über Bücher von Luthers Gegnern Ochsenfart37 und Eck; alles kulminierte schließlich in einer Verbrennung auch der letzten Feindesschriften. Danach ging jeder nach Hause. In einer ernsten Ansprache, die er am nächsten Tag in seiner Vorlesung hielt, ermahnte Luther seine Studenten, dass es um des Seelenheils willen erforderlich sei, dem Reich des Papstes zu widerstreben.38 Nach der Wertung eines Anonymus erschien Luther seinen Studenten als Engel des lebendigen Gottes, gesandt, die Schafe Christi mit seinem Wort zu weiden.39 Eine Kritik an der Aktion des Vortages war darin schwerlich zu sehen. Als die Studenten zwei Monate später erneut einen wohl an das traditionelle Faschingsbrauchtum anschließenden ‚karnevalesken‘ Umzug durch die Stadt veranstalteten und ein lateinisches Spottgedicht dazu veröffentlichten40, die Papstkirche und ihre höchsten Repräsentanten schonungslos verballhornend, äußerte Luther in einem Brief an Spalatin, dass dies gegenüber dem Feinde Christi, der mit Christus und den höchsten Regenten seinen Spott treibe, angemessen sei.41 Nie mehr wieder sollten sich studentische Aktionen solchen Rückhalts bei den Wittenberger Professoren erfreuen, wie in jenen dramatischen Monaten zwischen der Veröffentlichung der päpstlichen Bannandrohungsbulle und dem Wormser Reichstag, als der gemeinsame Kampf gegen den endzeitlichen Feind in Rom alle internen Differenzen überlagerte.

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 Ebd.  Vgl. Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd.  2, Leipzig 1867, S.  468 f., Nr.  616–618; vgl. Markus Jenny, Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge [AWA 4], Köln, Wien 1985, S.  123 f.; 313. 36   WA 7, S.  185,35–38; Clemen, Acta exustionis, wie Anm.  22, S.  107. 37   WA 7, S.  185,40; zu Hieronymus Dungersheims zunächst nicht gedruckter brieflicher Auseinandersetzung mit Luther vgl. Theobald Freudenberger, Hieronymus Dungersheim von Ochsenfurt am Main 1465–1540 [RGST 126], Münster 1988, S.  120–168. Freudenberger vermutet (a.a.O., S.  169 f.), dass handschriftlich verbreitete Exemplare von Dungersheims erst 1530/1 gedrucktem Dialogus ad Martinum Lutherum Gegenstand des studentischen Spottes waren. Antireformatorische Druckschriften waren von ihm noch nicht erschienen. 38   „[.  .  .] ‚Nisi‘, inquit [sc. Luther], ‚toto corde dissentiatis a regno papali, non potestis assequi vestrarum animarum salutem‘, Adeoque diversum esse regnum papae a regno Christi et vita Chri­ stiana [.  .  .], Caveat igitur sibi quisquis animae suae consultum velit, se Assentiendo papastris Chri­ stum neget [.  .  .].“ WA 7, S.  186,8–12. 39   WA 7, S.  186,28 f. 40   Teiledition: WABr 2, S.  269; vollständiger Text in: Otto Clemen, Über die Verbrennung der Bannbulle durch Luther, in: Ders., Kleine Schriften, Bd.  3, wie Anm.  22, S.  164–173, hier: 170–173. 41   „Dignus enim est hostis Christi hoc ludibrio, qui summos reges, imo Christum ludificatur.“ WABr 2, S.  266,33 f.; Luther an Spalatin 17.  2. 1521. 35

4.  Bildungskonzeptionelle Zusammenhänge

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4.  Bildungskonzeptionelle Zusammenhänge Um das Agieren der Wittenberger Studenten in den Jahren 1520/21 angemessen einzuordnen, ist es erforderlich, die von den Professoren ausgehende Kritik am bisherigen Ausbildungswesen in den Blick zu nehmen. Seit 1518 war es in Wittenberg unter dem maßgeblichen Einfluss Luthers zu tiefgreifenden Eingriffen in die Struktur und Organisation des bisherigen Lehrbetriebs gekommen, die man gemeinhin als ‚humanistisch‘ zu bezeichnen pflegt: In der artes-Fakultät wurden Vorlesungen über die antiken Schriftsteller bzw. über Hieronymus gehalten42 und Professuren für Griechisch und Hebräisch eingerichtet; in der Theologischen Fakultät wurde die Beschäftigung mit den Scholastikern weitestgehend aufgegeben. Doch in der Adelsschrift des Sommers 1520 legte Luther noch weitreichendere bildungs- und studienkonzeptionelle Überlegungen vor, die in Bezug auf das Agieren einzelner Studenten und Studentengruppen wohl kaum wirkungslos geblieben sind: Luther unterzog das gesamte Universitätswesen einer grundstürzenden Kritik; dabei wandte er das Beispiel der Polemik der Makkabäer gegen die ‚Überfremdung‘ der Ausbildung des jüdischen Nachwuchses durch den Bau einer heidnischen Kampfbahn (Gymnasium) 43 unter dem Hohenpriester Jason auf die Deformation der Universitäten durch das Papsttum an.44 Sittliche Bindungslosigkeit („ein frey leben“) 45, Geringschätzung der Bibel und des christlichen Glaubens und eine Dominanz des blinden „heydnische[n] Meyster[s]“46 Aristoteles gegenüber Christus herrschten nun vor. Der Großteil der traditionellerweise in der artistischen Fakultät behandelten Schriften des Aristoteles – die Physica, die Metaphysica, De Anima und die Ethica – sowie alle anderen Texte und Lehrinhalte, „die von naturlichen dingen sich rumen“47, sollten deshalb abgeschafft werden. Gegenläufig zu humanistischen Bemü42   Zu Johannes Rhagius Aesticampianus vgl. MBW 11, S.  39; zu seinem Wirken im Wittenberg der Studienreform vgl. Heinz Kathe, Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817 [Mitteldeutsche Forschungen 117], Köln, Weimar, Wien 2002, S.  55 f.; zu Aesticampianus’ auch Luther wegen der Abwendung von Plinius und Hinwendung zu einem Kirchenlehrer überraschender Hieronymusvorlesung (WABr 1, S.  407,7 f.) vgl. Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung [SMRT 46], Leiden 1989, S.  153 ff.; 276 ff.; ders., Thomas Müntzers Nachschrift einer Wittenberger Hieronymusvorlesung, in: ZKG 99, 1988, S.  214–237; ders., Müntzers Wittenberger Studienzeit, in: ZKG 99, 1988, S.  168–213; zur Wittenberger Universitätsreform seit 1518 vgl. auch: Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  8, S.  264 ff.; Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, S.  34 ff.; Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 [VIEG 187], Mainz 2002, S.  237 ff.; Heinz Scheible, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform, zuletzt in: Ders., Aufsätze zu Melanchthon [SMHR 49], Tübingen 2010, S.  125–151, hier bes. 131 ff.; Marcel Nieden, Die Erfindung des Theologen [SuR N. R. 28], Tübingen 2006, S.  42 ff. 43   2 Makk 4,9.12; vgl. WA 6, S.  457,32 f. = LuStA 2, S.  154,12 f. 44   „Ist doch allis was das bapstum hat eingesetzt und ordiniert, nur gericht auff sund und yr­ thum zumehrenn.“ WA 6, S.  457,29–31 = LuStA 2, S.  154,9 f. 45   WA 6, S.  457,77 = LuStA 2, S.  154,13. 46   WA 6, S.  457,34 = LuStA 2, S.  154,14. 47   WA 6, S.  457,37 f. = LuStA 2, S.  154,17 f.

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hungen um ein erneuertes Verständnis der aristotelischen Philosophie auf der Grundlage des griechischen Textes48 vertrat Luther im Sommer 1520 also eine radikal-eskapistische Position, die allein die Bibel als Dreh- und Angelpunkt der Erkenntnis „von naturlichen und geistlichen dingen“49 anerkannte. Selbst ein Töpfer habe „mehr kunst [.  .  .] von naturlichen dingen“50 als sich in den Lehrbüchern des traditionellen Schulbetriebes finde. Die Verwerfung der maßgeblichen philosophischen Autorität der lateineuropäischen Bildungsgeschichte, Aristo­ teles, konnte schroffer kaum sein: „Es thut mir [sc.Luther] wehe in meinem hertzen, das der vordampter, hochmutiger, schalckhafftiger heide mit seinen falschen worten soviel der besten Christen vorfuret und narret hat: Got hat uns also mit yhm plagt umb unser sund willen.“51 Auch wenn Luthers Umgang mit Aristoteles in Bezug auf sein Gesamtwerk im Ganzen differenzierter zu beurteilen sein mag52, so dominiert in der unter publizistischen Gesichtspunkten besonders einflussreichen Adelsschrift die schroffe Absage, die in inhaltlicher Hinsicht mit der Lehre von der Sterblichkeit der Seele und der der Gnade Gottes widerstreitenden Ethik des Stagiriten begründet wird. In Bezug auf Logik, Rhetorik und Poetik war der Wittenberger Augustinereremit allerdings auch weiterhin bereit, komprimierte Lehrkompendien aus Aristoteles zu akzeptieren.53 Daneben sah Luther in der artistischen Fakultät die drei alten Sprachen, die Mathematik und die „historien“54 vor, verzichtete aber auf weitergehende Anweisungen. Zur Reform der Medizinischen Fakultät äußerte er sich nicht; 55 in Bezug auf die juristische Ausbildung ist die sicher wichtigste Reformmaßnahme, dass das kanonische Recht drangegeben56 und das weltliche Recht – gleichviel ob 48   Vgl. zu Melanchthons und anderer Plan, zusammen mit Reuchlin, Pirckheimer, Simler, Capito und Oekolampad eine gereinigte Aristotelesausgabe anzufertigen, Heinz Scheible, Melanch­ thon. Eine Biographie, wie Anm.  42, S.  25; MBW 17; MBW.T 1, S.  64,9–65,15 (Nachwort zu Melanchthons griechischer Grammatik, Frühjahr 1518); Scheible, Reuchlins Einfluss auf Melanchthon, in: Ders., Melanchthon und die Reformation, hg. von Gerhard May und Rolf Decot [VIEG.B 41], Mainz 1996, S.  71–97, hier: 74. 49   WA 6, S.  457,38 f. = LuStA 2, S.  154,18 f. 50   WA 6, S.  458,3 = LuStA 2, S.  154,21 f. 51   WA 6, S.  458,4–6 = LuStA 2, S.  154,22–25. 52   Vgl. bes. Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles [ThB 105], Berlin, New York 2001; Philippe Büttgen, Luther et la philosophie, Paris 2011, bes. S.  53 ff.; 70 ff.; 98 ff. 53   WA 6, S.  458,26 ff. = LuStA 2, S.  155,5 ff. 54   WA 6, S.  458,34 = LuStA 2, S.  155,13. 55   WA 6, S.  459,1 = LuStA 2, S.  155,20. 56   WA 6, S.  459,1 ff. = LuStA 2, S.  155,20 ff. Luther argumentiert gegen das kanonische Recht, einerseits wegen der von ihm als skandalös empfundenen Äußerung Bonifatius’ VIII., der Papst berge alle Rechte im Schrein seines Herzens (vgl. die Nachweise in LuStA 2, S.  155 Anm.  484 f.), also weil sich das Papsttum über das kanonische Recht stelle, andererseits empirisch-politisch, zeige sich doch am Osmanischen Reich, dass ein gutes weltliches Regiment sich nicht zweier Rechtstraditionen, einer geistlichen und einer weltlichen, verdanke, sondern allein dem Koran. Die Meinung, es sei „keyn feyner weltlich regiment yrgend [.  .  .] dan bey dem Turcken“ (WA 6, S.  459,24 f. = LuStA 2, S.  156,12 f.), berührt sich in gewisser Weise mit Machiavellis Darstellung der Herrschaft der türkischen Sultane, deren Macht sich vor allem auf die Stärke des Militärs gründe. Die Herrschaft der

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römisches oder gemeines Landrecht57 – auf ein unverzichtbares Minimum reduziert werden sollte. In Bezug auf die Lehrform der theologischen Fakultäten forderte Luther die völlige Umkehrung des bislang üblichen58 chronologischen und sachlich-hierarchischen Verhältnisses des Bibel- und des Sentenzenstudiums: Die graduierten Theologen, die man „lerer der heyligen schrifft“59 nenne, sollten die Bibel und nichts anderes lehren. Doch er ging noch einen folgenreichen Schritt weiter und polemisierte dagegen, dass es an der zeitgenössischen Universität „der hochmutige[n], auffgeblaszne[n] titel zuviel“60 gäbe und kein Mensch sich von sich aus rühmen könne ein „lerer der heyligen schrifft“ zu sein, was freilich dann zu dulden wäre, „wen das werck den namen be­ stetiget“.61 Doch jetzt, da die „sententias allein“62 herrschten und mehr heidnische und menschliche Dünkel als gewisse Lehren der Bibel an den Universitäten traktiert würden, sieht Luther nurmehr einen Ausweg: das demütige Gebet zu Gott, „das uns der selb Doctores Theologie gebe“63. Die weiteren Ausführungen in der Adelsschrift waren mit einer akademisch konzipierten Form der Theologie nicht mehr verbunden, sondern propagierten eine allein durch den Heiligen Geist legitimierte, dem allgemeinen Priestertum der Glaubenden korrespondierende Gestalt des theologischen Doktorates, die auf nichts anderes als auf einen vollständigen Bruch mit dem überkommenen Graduierungs- und Autorisierungssystem der Universität hinauslaufen musste: „Doctores des Kunst, der Ertzney, der Rechten, der Sententias mugen der bapst, keyszer und universiteten machen, aber sey nur gewisz, eynen Doctorn der heyligen schrifft wirt dir niemandt machen, denn allein der heylig geyst vom hymel, wie Christus sagt Johann. VI. ‚Sie mussen alle von Got selber geleret sein‘.“64 Der Heilige Geist aber berufe seine Doktoren unter Sultane sei von allen anderen Staatswesen unterschieden und am ehesten der der Päpste ähnlich, da sie weder ererbte, noch neu erworbene Herrschaft sei, sondern von denen verliehen werde, die die Macht haben, vgl. Il Principe Kap.  9 ; in der Übersetzung von Rudolf Zorn, Der Fürst [Kröner Taschenausgabe Bd.  235], Stuttgart 61978, S.  85 f. Zu den besonderen Vorzügen des türkischen Sultans zählt nach Machiavelli auch, dass er die Feldzüge persönlich anführt (vgl. Discorsi I,30; Übersetzung: Rudolf Zorn, Niccolo Machiavelli, Discorsi [Kröner Taschenausgabe Bd.  377], Stuttgart 2 1977, S.  86 f.). Zur Interpretation der reformpolitischen Vorstellungen der Adelsschrift im Sinne einer Eingriffsermächtigung der weltlichen Gewalt in die kirchlichen Belange vgl. Volker Man­ they, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund [SuR N. R. 26], Tübingen 2005, S.  200–204. 57   WA 6, S.  459,36 ff. = LuStA 2, S.  156,22 f. 58   Vgl. etwa: Schwarz, Luther, wie Anm.  8, S.  28 ff.; in Bezug auf Erfurt: Otto Scheel, Martin Luther, Bd.  2, Tübingen 1917, S.  67–74; am Beispiel der Theologischen Fakultät von Paris: James K. Farge, Orthodoxy and Reform in early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543 [SMRT 32], Leiden 1985, S.  16 ff. 59   WA 6, S.  460,20 f. = LuStA 2, S.  157,10. 60   WA 6, S.  460,22 f. = LuStA 2, S.  157,12 f. 61   WA 6, S.  460,23–25 = LuStA 2, S.  157,13 f. 62   WA 6, S.  460,25 = LuStA 2, S.  157,15. 63   WA 6, S.  460,28 = LuStA 2, S.  157,18. 64   WA 6, S.  460,28–32 = LuStA 2, S.  157,18–22.

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§  7  Aktionale Aneignungen

völliger Absehung aller dispositionellen Voraussetzungen, gleichviel ob es sich um solche der Bildung, des Alters, des Standes oder des Geschlechtes handle.65 Damit hatte Luther im Kontext der Ausführungen zur Universitätsreform, die er im Rahmen seiner wirkungsreichsten reformpolitischen Schrift vortrug, das theologische Graduierungssystem, ja im Grunde die gelehrte Bildung akademischer Theologen als solche radikal infrage gestellt.66 Allerdings forderte er, dass jeder Christ beiderlei Geschlechts im Alter von neun bis zehn Jahren „das gantz heylig Evangelium“ „wissen“67 sollte; er setzte also vielleicht doch voraus, dass die exzeptionelle Geistesbegabung erwählter Doktoren der Theologie zu einer elementaren biblischen Bildung hinzutrat. Die pneumatologische und die institutionell-pädagogische Begründung theologischer ‚Kompetenz‘ stehen jedenfalls in der Adelsschrift unvermittelt nebeneinander. Nur dann, wenn die Bibel das alles bestimmende Zentrum des Studiums bilde, könne man seine Kinder überhaupt an der Universität studieren lassen. Implizit warb die Adelsschrift natürlich auch für die Leucorea. Zugleich lieferte sie aber auch Argumente zugunsten einer geistgewirkten Unmittelbarkeit, die jeder gelehrten Bildung im traditionellen Sinne die Berechtigung absprach. In Bezug auf die Orientierung der zeitgenössischen Studenten dürften die von der Adelsschrift, der vorerst wichtigsten bildungskonzeptionellen Äußerung eines Wittenberger Reformators, ausgegangenen Wirkungen disparat gewesen sein.

65   „Nu fragt der heylig geyst nit nach rodt, brawn paretten, odder was des prangen ist, auch nit, ob einer jung odder alt, ley odder pfaff, munch odder weltlich, Junpfraw odder ehlich sey, Ja er redt vortzeitten durch ein Eselyn widder den Propheten, der drauff reyt.“ WA 6, S.  460,33–36 = LuStA 2, S.  157,22–26; s. unten III, §  13, Anm.  41 ff. 66   Die zitierten Äußerungen bzw. der ganze Passus WA 6, S.  460,20–40 = LuStA 2, S.  157,10–29 stellen in ihrer Radikalität einen logischen Bruch gegenüber den vorangehenden und den nachfolgenden Textpassagen des Artikels 25 der Adelsschrift dar. Denn in diesen geht es um geeignete Reformmaßnahmen, z. B. bibelzentrierte Leseordnungen, innerhalb bestehender bzw. neu zu schaffender (Mädchenschulen, WA 6, S.  461,11 ff. = LuStA 2, S.  147,40 ff.) universitärer bzw. schulischer Bildungsinstitutionen, während das pneumatologische Konzept des theologischen Doktorats als Moment der antiklerikalen Pneumatologie des Wittenbergers (s. Berndt Hamm, Pneumatologischer Antiklerikalismus – zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung, in: Ders., Lazarus Spengler [1479–1534] [SuR N. R. 25], Tübingen 2004, S.  118–170, bes. 129 ff.) in einer unvermittelbaren Spannung zu jeder Lehr- und Lernbarkeit steht; vgl. auch unten III, §  13. Man sollte überdies im Blick behalten, dass Luthers Begriff von Theologie im Kern der Lehr- und Lernbarkeit entzogen ist; vgl. zu Luthers Begriff der Theologie: Oswald Bayer, Theologie [HST 1], Gütersloh 1994, S.  35 ff.; Dietrich Korsch, Theologische Prinzipienfragen, in: Al­ brecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen 32017, S.  398–408, bes. 404 ff.; zu Luthers bildungsreformerischen Impulsen insbes. nach den krisenhaften Vorgängen der frühen 1520er Jahre s. auch Markus Wriedt, Bildung, in: Beutel, a.a.O., S.  231–235; ders., Erneuerung der Frömmigkeit durch Ausbildung: zur theologischen Begründung der evangelischen Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: Martin Arnold/Rolf Decot (Hg.), Frömmigkeit und Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert [VIEG.B 54], Mainz 2002, S.  59–71. 67   WA 6, S.  461,20 = LuStA 2, S.  158,9.

5.  Studentische Tumulte in Wittenberg

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5.  Studentische Tumulte in Wittenberg Im Jahr 1520, in der Phase der höchsten studentischen Frequenzziffern im frühreformatorischen Wittenberg und der Abfassungs- und Publikationszeit der Adelsschrift, kam es nicht nur zu Unterbringungsproblemen68, sondern auch zu ernsthaften Belastungen des sozialen Friedens in der kleinen Universitätsstadt, die sich in einigen tumultuarischen Szenen Ausdruck verschafften; sie provozierten obrigkeitliches Ordnungshandeln und dürften auch hinter Luthers Klage, zur Zeit studierten zu viele und zu ungeeignete Leute69, gestanden haben. Zwischen den offenbar zahlreichen Gehilfen der Cranachschen Betriebe und Wittenberger Studenten brachen seit Februar 1520 mehrfach gewaltsame Konflikte aus. Kurfürst Friedrich setzte daraufhin zwei Kommissare, Wolfgang Reisenpusch – Präzeptor zu Lichtenberg – und Christoph Groß – Amtmann zu Belzig – ein, die gegenüber der Stadt und der Universität Wittenberg dafür eintreten sollten, dass des „leichtfertigen unzuchtigs wesens mit erregung etlicher aufleuft, aufstossung der burgerheuser und dergleichen“70 ein Ende gemacht werde. 68   Darauf deuten die vom Landesherrn veranlassten Registrierungen der studentischen Unterkünfte in Wittenberg hin, vgl. Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, S.  100 f. Nr.  83. Die Quartiernot führte offenbar dazu, dass Studenten auch wieder abzogen. Am 1.  5. 1520 schrieb Luther an Spalatin: „Affluit quotidie studentum numerus, sed non capit omnes civitatis angustia, multique coguntur retrocedere.“ WABr 2, Nr.  284, S.  96,8 f. Und vier Tage später ließ Luther Spalatin wissen: „Deus bone, quantum confluit, quantum adhuc promittitur literis multorum confluxurum ad nos hominum!“ WABr 2, Nr.  284, S.  98,15–17 (5.  5. 1520). Ende Mai beriet er sich mit Spalatin, ob er wegen der offenbar chaotischen Preisentwicklung und der Lebensmittelknappheit in Wittenberg den Kurfürsten zum Einschreiten drängen solle (WABr 2, S.  111,23 ff.), was er dann auch zeitnah getan hat, WABr 2, S.  120,16 f. Wittenberg dürfte um 1520 ca. 2100 bis 2300 Einwohner (ohne Studenten) besessen haben, vgl. die Angaben bei Helmar Junghans, Wittenberg als Lutherstadt, Berlin 21982, S.  73–75; Edith Eschenhagen, Wittenberger Studien. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Wittenberg in der Reformationszeit, in: LuJ 9, 1927, S.  9 –118, bes. 40; Karlheinz Blaschke, Wittenberg vor 1547. Vom Landstädtchen zur Weltgeltung, in: Stefan Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg. Stadt Universität Reformation, Weimar 1995, S.  29–38, hier: 35: „2000–2500“ Einwohner. 69   Luther setzte voraus, dass zu seiner Zeit zu viele, ja „yderman“ (WA 6, S.  461,37 = LuStA 2, S.  158,26), auf die Universität geschickt würde – „unnd ein yder wil einen doctor haben“ (S.  461,38 = 158,27). Deshalb sollten die weltlichen Obrigkeiten die Zugangszahlen begrenzen und nur die Geschicktesten senden. Luther monierte im Jahr der höchsten studentischen Immatrikulationen in Wittenberg, 1520, ausdrücklich, dass man sich im Moment nur für die „menige“ (WA 6, S.  461,38 = LuStA 2, S.  158,27) der Studenten, also die Frequenzziffern, interessiere. Sofern die Heilige Schrift an den Universitäten nicht „regiret“ (WA 6, S.  462,2 = LuStA 2, S.  158,30), sollte man die Kinder besser nicht hinschicken. Bei Luther sollen 1520 400, bei Melanchthon – wegen der artistischen Veranstaltungen – sogar 600 Studenten in den Vorlesungen gewesen sein, vgl. Walter Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle/S.  1917, S.  151. 70   Brief von Reisenpusch und Groß im kurfürstlichen Auftrag an Stadt und Universität Wittenberg, 14.  2. 1520, ed. in: Walter Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil  1 (1502–1611) [Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N. R. 3], Magdeburg 1926, Nr.  78, S.  94 f., hier: 95; grundlegend zu den Wittenberger Studentenunruhen von 1520: Ulrich Bubenheimer, Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 1520–1522 und die frührefor-

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§  7  Aktionale Aneignungen

Als dazu geeignetes Mittel erschienen dem Landesherrn „Artigkel der ordenung zu underhaltung fridsamer wesenhait in unser stat Witenberg“71, die freilich nicht einfach ‚erlassen‘, sondern erst aufgrund von Beratungen der Kommissare mit Rat und Universität in Geltung gesetzt werden konnten. Auf den Wunsch der Doktoren und ihrer Diener, von dem allgemeinen Verbot des Waffentragens ausgenommen zu werden, scheint der Kurfürst nicht eingegangen zu sein.72 Es galt, dass kein Student, Handwerksgeselle, Einwohner, Bürger oder „burger diener“ „kein wehre [.  .  .], die sich zu belaidigung oder beschedigung des leibs ziehen möchte“73, öffentlich oder heimlich tragen dürfe. Der Rektor hatte dies den „Studenten und gliedmassen unser universitet“74, der Bürgermeister und der Rat hatten es ihren Einwohnern zur Kenntnis zu geben. Zuwiderhandlungen sollten mit drei Gulden Strafe oder mindestens acht Tagen Gefängnis geahndet werden; 75 im Wiederholungsfall drohte die befristete Relegation bzw. Ausweisung aus der Stadt. Außerdem wurde eine Sperrstunde verhängt: im Sommer war nach 10 und im Winter nach 9 Uhr abends „kain zeche“76 mehr erlaubt. Wer sich nach dieser Zeit „ahn redlich ursach und entschuldigung“77 auf der Straße aufhielt, sollte bis zum Morgen in Gewahrsam genommen werden. Mit der reformatorischen Bewegung hatten diese nur bedingt erfolgreichen Disziplinierungsmaßnahmen freilich nur insofern zu tun, als sie eine Folge der außerordentlichen Sogwirkung waren, die von dem Lehrpersonal dieser Universität seit dem Ausbruch des Ablassstreites ausging und zahlreiche Studenten anlockte. Die Disziplinierungsmaßnahmen, für die etwa Luther Verständnis aufbrachte78, waren wohl matorischen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments, in: ZSRG Kan. Abt. 71, 1985, S.  147– 214, bes. 151–156; zu Luthers Reaktion auf die Konflikte: A.a.O., S.  156–161. 71   Edition der in Beratungen mit dem Rat und der Universität Wittenberg ausgehandelten, gegenüber der ursprünglichen Version [dat. Lochau 14.  2. 1520] modifizierten Fassung in: Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  80, S.  96–99; zu typischen Konflikten zwischen Stadt und Universität s. auch Füssel, Gelehrtenkultur, wie Anm.  92, S.  278 ff. 72   Dies dürfte sich aus der Zustimmung des Kurfürsten (18.  2. 1520; Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  81, S.  99) vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Anfrage von Reisenpusch und Groß (17.  2. 1520, a.a.O., Nr.  79, S.  95 f.) ergeben. Explizit ist dieses Recht der Doktoren nämlich in die Ordnung gar nicht aufgenommen worden. Nicht freilich galt die Ordnung für den in Wittenberg studierenden Herzog Barnim XI. von Pommern, Art.  16, a.a.O., S.  99. 73   Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  80, S.  96–99, hier: 96; vgl. Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, wie Anm.  42, S.  60. 74   Ebd. Die Ausnahmen galten für die Ratspersonen selbst, die geschworenen Rats- bzw. Gerichtsdiener und die Universitätspedelle, Art.  2, a.a.O., S.  96. Pedelle und Ratsdiener etc. sollten Übertretungen des Waffenverbots gegenüber Rat und Rektor melden. 75   A.a.O., Art.  4 f., S.  97. Die Strafgelder flossen je zu einem Sechstel dem Universitätspedell, dem städtischen Gerichtsdiener, dem Rektor und dem Bürgermeister, der Universitäts- und der Ratskasse zu, ebd. 76   A.a.O., Art.  11, S.  98. 77   A.a.O., Art.  12, S.  98. 78   Vgl. WABr 2, Nr.  312, Luther an Spalatin, 14.  7. 1520, bes. S.  142,6 ff.; zum Teil tödlich verlaufene Konflikte zwischen Studenten und Bürgern begegnen in den Wittenberger Urkunden seit 1509, vgl. Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  29, S.  61; Nr.  33, S.  62; Nr.  41, S.  65 f.; Nr.  49 f., S.  71 f.; Nr.  76, S.  93 f.

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primär eine Folge dessen, dass zu viele Menschen in zu kurzer Zeit auf zu wenig Raum zusammengeströmt waren; aber möglicherweise waren sie auch eine Konsequenz daraus, dass der berühmteste Professor der Leucorea und seine schillernde Gefolgschaft neben ‚seriösen‘ Kommilitonen Personen mit zweifelhaften Gesinnungen und Motiven anlockten. Worum es bei den Händeln zwischen den Malergesellen und den Studenten der Sache nach eigentlich ging, war, so scheint es, auch Luther nicht klar. Er sah den Teufel am Werk, der durch die von einigen wenigen unwürdigen Leuten auf beiden Seiten angeheizten Unruhen die Bürgerschaft und die Stadt Wittenberg desavouieren wollte. In einer Predigt trat er den Krawallen öffentlich entgegen, wurde aber von beiden Seiten kritisiert. Freilich hielt er es für selbstverständlich, dass an jedem größeren Körper gelegentlich Schwären und Eiter aufträten; 79 es gelte allerdings, Wege zu finden, um die Ausbreitung dieses ‚Infektes‘ der Zwietracht zu verhindern. Zu massiveren Störungen des öffentlichen Lebens kam es dann im Sommer des Jahres.80 Die Malergesellen, so scheint es, hatten der Verordnung aus dem Februar zum Trotz ihre Waffen behalten. Die Studenten fühlten sich dadurch provoziert, erreichten mit ihrer Klage bei den städtischen Organen aber nichts. Da wir von einem der maßgeblich beteiligten Studenten wissen, dass er adliger Abkunft war, kann man natürlich auch eine ständisch-symbolische Dimension des Waffenverbotes vermuten: Musste es nicht eine tiefe Demütigung für einen adligen Studenten bedeuten, durch die akademische Judikatur ‚entwaffnet‘ zu werden und mit ansehen zu müssen, dass diese Anordnung gegenüber den Malergesellen seitens der städtischen Administration nicht durchgesetzt wurde?! Jedenfalls rotteten sich die Studenten, wohl mehrere Hundert an der Zahl, am Mittag des 13. Juli bewaffnet auf dem Kirchhof des Franziskanerklosters zusammen und demonstrierten vor dem kurfürstlichen Schloss, in das sie einzudringen versuchten. Den Anlass dazu hatten offenbar städtische Diener gegeben, die einen wohl ‚unauffälligen‘ adligen Studenten am Vortag auf dem Friedhof der Parochie schwer am Kopf verletzt, ihn seines Barettes beraubt, seines Standes wegen verschmäht und wie tot liegen gelassen hatten.81 79   WABr 2, Nr.  257, Luther an Spalatin, 24.  2. 1520, S.  49,29–39; vgl. Bubenheimer, Luthers Stellung, wie Anm.  70, S.  156 ff. 80  Vgl. Friedensburg, Geschichte, wie Anm.  69, S.  150 f.; WABr 2, S.  143 Anm.  3 ; Karl Eduard Förstemann, Der Studenten=Auflauf zu Wittenberg im J. 1520, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet hist.-antiquarischer Forschungen 8/2 (1850), S.  51–71 (Quellenauszüge und Regesten nach ThStA Weimar Reg. O Nr.  460 [früher Reg.O.Litt.PPP 162]). 81   Alfred Kleeberg, Georg Spalatins Chronik für die Jahre 1513–1520, Borna-Leipzig 1919, S.  32: „Die S. Margarethae [13. Juli] [.  .  .] ad DCCC scholastici Wittenbergae coacti convenerunt primo in cimeterio minorum, deinde in collegio, ut rumor circumferebat [..].“ Vgl. WABr 2, S.  143 Anm.  3. Demnach hatten der Stadtrichter Kaspar Teuschel und städtische Wächter den nach Hause kommenden Studenten Alexander von Stutternheim (vgl. Carolus Eduardus Förstemann [Hg.], Album Academiae Vitenbergensis ab A. CH. MDII usque ad A. MDLX, Lipsiae 1841, Bd.  1, S.  24 [imm. 2.  1. 1514]) angegriffen und zugerichtet („qui [Teuschel und die Wächter] pridie [sc. am 12.7.] domum redeuntem Alexandrum de Stutternheym quamvis adulescentem quietum et inermem in cimiterio παροχιας capillis correptum pulsassent graviter“, so nach Spalatins Chronik,

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Daraufhin versammelten sich auch Bürger der Stadt unter Waffen, um das Schloss zu verteidigen. Luther schrieb am folgenden Tag, dem 14.  7., erregt an Spalatin und forderte diesen dazu auf, den Kurfürsten dazu zu veranlassen, einen scharfen Brief an den Rektor der Universität, den Mediziner Peter Burchard82, zu richten, der sich seines Erachtens zu einseitig hinter die aufrührerisch agierenden Studenten gestellt habe. Er empörte sich, dass die kurfürstlichen Anweisungen hinsichtlich des Waffenverbots und der Sperrstunde offenbar mit stillschweigender Billigung führender Mitglieder der Universität missachtet würden, fürchtete um das Studium ernsthaft bemühter Kommilitonen und sah in alledem so deutlich das Wirken des Teufels, dass er die Beratungen des akademischen Konzils umgehend verließ.83 Wenn Melanchthon wohl am selben Tag wie Luther Spalatin wissen ließ, die Lage sei ruhig, aber es sei ihm klar, dass auch aufbauschende Berichte geschrieben würden84, dann

Kleeberg, a.a.O., S.  32. Spalatins Informationen rührten von einem seitens der Studenten an den Kurfürsten gerichteten Beschwerdeschreiben vom 14.  7. 1520, vgl. Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  84, S.  101; Förstemann, Studenten=Auflauf, wie Anm.  80, S.  51–53, hier: 53; vgl. 57 f. Am Vortage hatte freilich ein Student – „so es Stutterheym nichts selbs gethan, einen Wächter mit einer Bleikugel auf den kopf eine große Grube ins Hirnhaupt geschlagen.“ A.a.O., S.  57 [Bericht des Schossers zu Wittenberg Gregor Burger]. S.  52 heißt es: „Es sind aber [..] etliche von Bürgern [.  .  .] furderlich Lucas Moler mit etlichen seynen gesellen, welche Ire gewehre, wy bedacht wirt, zu hoen [Hohn] gemeynem adel, sinth es In verboten, nicht zw enttrewmen geßonnen.“ Als Beweismittel des studentischen Aufruhrs fungierte ein Zettel, den von Dolzig an den Kurfürsten schickte. Er enthielt die Aufforderung, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lektionsgebäude zu treffen, wenn man Klagen „widder die schurganten [Gerichtsdiener], malher oder burger“ (zit. nach Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, S.  102 f. Anm.  4) vorzubringen habe. Als für den Anschlag des Zettels („intimation“, Friedensburg, a.a.O., Nr.  88, S.  104) verantwortlich galt Balthasar von Promnitz (vgl. a.a.O., S.  101), der seit dem 11.  7. 1519 in Wittenberg immatrikuliert war (Förstemann, Album, a.a.O., S.  83). Die studentische Darlegung der Vorgänge gegenüber Kurfürst Friedrich wurde von ihm überbracht. 82  Vgl. Friedensburg, Geschichte, wie Anm.  69, S.  137 f.; MBW 11, S.  243; zu seinem gegenüber Luther und den mit auf die Bannandrohungsbulle gesetzten Fakultätskollegen Dölsch und Karlstadt loyalen Verhalten im Oktober 1520 vgl. Armin Kohnle, Reichstag und Reformation [QFRG 72], Gütersloh 2001, S.  55–57. Auch Cranach war gegenüber Burchard verärgert, vgl. Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, S.  102; vgl. über ihn auch: Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  322 ff. 83   WABr 2, S.  142,6–143,23; vgl. Bubenheimer, Luthers Stellung, wie Anm.  70, S.  154 f. In einem Votum des Mediziners Thomas Eshaus (Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  277; WABr 2, S.  143 f. Anm.  5 ; MBW 11, S.  418 f.), der der gegenüber der „seditio“ der Studenten kritischen Einschätzung Petrus Lupinus’ (WABr 1, S.  68 Anm.  11; 175 Anm.  5 ; Friedensburg, Geschichte, wie Anm.  69, S.  68) widersprochen hatte, wurde Luther des Teufels inne: „ut ego statim surgerem & abirem, Satanam videns huic praeesse concilio.“ WABr 2, S.  143,15 f. Die Erregung Luthers hat im Kern damit zu tun, dass der durch das Wort Gottes gegen Wittenberg aufgebrachte Teufel nun nach Mitteln und Wegen suchte, seiner, Luthers ‚Sache‘, der ‚Sache des Evangeliums‘, zu schaden: „Scio Satanę esse negocium, qui, cum nusquam possit nocere verbo dei apud nos redeunti, hac arte saltem ei infamiam quęrit.“ WABr 2, S.  143,21–23. Auf Anfrage Spalatins deutete Luther eine Himmelerscheinung ex post als Vorankündigung des Aufruhrs vom 13.7., WABr 2, Nr.  313, 17.  7. 1520 (Luther an Spalatin), S.  144,4 ff. Dem Treiben des Teufels entspreche es eben, aus einer an sich kleinen eine große und gefährliche Sache zu machen, a.a.O., S.  144,14 ff. 84   „Res hic tranquillae sunt, multa scio ad te [sc. Spalatin] scribi duriora quam pro re.“ MBW. T

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deutet das wohl auf eine sehr unterschiedliche Einschätzung der Situation durch ihn und den Kollegen hin. Am 15.  7. ist Luther wohl in einer Predigt gegen die studentischen Aktionen aufgetreten.85 Bei einigen studentischen Hörern löste das Aggressionen aus: Ein schwarzbärtiger Student, der mit einem Kamelhaarrock bekleidet war und sich im Haus Hans von Jenas „auf der wusten hoffstad“ aufhielt, sei mit drei anderen aus Leipzig gekommen und habe bedrohliche Andeutungen darüber gemacht, was sie vorhätten. Nach Luthers Predigt soll er geäußert haben: „wirth der monch solcher predigt meher thuen, welt ehr einen stein nhemen und den monch in der kirchen uff den kopf ader platten schlahen.“86 Und ein weiterer Student, wohl aus dieser Clique, habe sogar Luthers Tötung angedroht.87 Insofern mag es möglich gewesen sein, dass sich mit den seit längerem schwelenden Konflikten zwischen den Studenten und den Malergesellen, aber auch sonstigen Bürgern Wittenbergs in der dramatischen Phase des Juli 1520 auch andere, durchaus disparate Motive verbanden. Sogar mit Brandstiftung soll gedroht worden sein.88 Am 16.  7. rückte dann schließlich der kurfürstliche Rat Hans von Dolzig89 mit einer Schar Fußvolks an und besetzte die Stadttore und Ausfallstraßen Wittenbergs; die Studenten unterwarfen sich. Vier sollen in ein Kloster geflohen, weitere vier entwichen sein.90 Von Dolzig stellte nun fest, die Studenten seien „ganz in stil“; „in summa, es geraicht dohin, das loß gefelt auf 12 oder 13 personen, die solchen mutwillen erwecken.“91 Eine Gruppe von zwölf Studenten wurde daraufhin zu einem Ausschuss zusammengeführt; sie mussten Fragen über die Ursachen der Versammlung, die 1, Nr.  100, S.  221,18 [14.  7. 1520]. Auch Amsdorf stand übrigens auf Seiten der Studenten, was Luther missfiel, WABr 2, S.  163,5 f. 85   Tags zuvor hatte er diese Predigt Spalatin gegenüber folgendermaßen angekündigt: „Cras & in Concione operam dabo, siquid compescere queam, deo propitio.“ WABr 2, S.  143,18 f. Drei Tage später berichtete Luther, dass er, obschon er keiner Partei zugehöre, scharf gegen die studentische seditio gepredigt habe und ihm deshalb Feindschaft entgegengeschlagen sei: „Deus bone, quantam mihi invidiam concitavi.“ WABr 2, S.  144,10 f. 86   So Thomas Feuerleins, eines Rats- und Bauherrn, Zeugenaussage über Bedrohungen aus studentischen Kreisen gegen Luther, in: Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  87, S.  103; Förstemann, Studenden=Auflauf, wie Anm.  80, S.  62. Ob dieser Student mit jenem bei Hans von Jena wohnenden Peter Maul (imm. 29.5. 1519, aus Schleiz, Förstemann, Album, wie Anm.  81, S.  82), der „auch im Frauenhaus Gewalt getrieben, auch den Ofen eingestoßen“ (Förstemann, Studenten=Auflauf, a.a.O., S.  67), identisch ist, vermag ich nicht zu entscheiden. 87   „item ein ander, den er nicht eigentlicher kan anzeigen, hat gesageth: wurde eher [sc. Luther] dieses predigen nicht abgehen, so wollten sie es mit im bald ein ende machen.“ Förstemann, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  87, S.  103. 88   Dies ergibt sich aus dem Fragenkatalog, der von den zwölf studentischen Mitgliedern des am 16.7. gebildeten Ausschusses vorgelegt wurde, Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  88, S.  104; vgl. auch die Aussage des Otto Zculstorff, in: Förstemann, Studenten=Auflauf, wie Anm.  80, S.  63; vgl. 64 f.; 67 (Drohung mit Brandstiftung). 89   Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  364–372; MBW 11, S.  360. 90   Vgl. den Bericht von Dolzigs gegenüber Friedrich von Sachsen vom 16.  7., in: Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  86, S.  101–103, hier: 102. 91  Ebd.

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§  7  Aktionale Aneignungen

Personen, die Waffen getragen hatten, denjenigen, der die Versammlung zusammengetrommelt habe usw. beantworten und wurden nach dem Verhör gleichsam symbolisch für die Studentenschaft als ganze mit Relegation binnen Monatsfrist bestraft.92 Den Studenten wurde durch eine Neuregelung des Beschwerderechtes gegenüber dem Rektor der Universität auferlegt, Klagen inskünftig nicht mehr „haufend“93, also in großer, gegebenenfalls machtvoll wirkender Zusammenballung, sondern in Dreier- oder Vierergruppen vorzutragen. Ansonsten versuchte die Universität weitere Untersuchungen niederzuschlagen, da dies dem Image schade und die eigentlich Schuldigen offenbar rechtzeitig entwichen waren.94 Auch wenn sich der Kurfürst darauf nicht einließ95, verlief die Sache aber wohl einigermaßen folgenlos. Für Luther jedoch, der in äußerster Angespanntheit auf Nachrichten vom Ausgang des römischen Prozesses wartete, war an dem an sich harmlosen Vorgang bedrohlich deutlich geworden, dass der Teufel ihn nun im Inneren, im vertrauten Lebenskreis Wittenbergs, anzugreifen begann.96 An den Haltungen und Positionierungen der Stadt, der Universität, einzelner ihrer Angehörigen und Luthers, die im Zuge der Konflikte zwischen Studenten und Malergesellen erkennbar werden, verdient vor allem Beachtung, dass der Wittenberger Reformator eindeutiger als alle anderen Akteure auf die regulierende und disziplinierende Macht des Landesherrn setzte. Konstellationen und Positionisierungen, wie sie sich im Frühjahr 1522, im Kontext der sog. Wittenberger Bewegung97, wiederholen sollten, zeichneten sich also bereits im Sommer 1520 erstmals deutlich ab. 92   Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass die zwölf Personen sich „zum ausschuß“ „gebrauchen“ ließen (Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  88, S.  104), also ohne Ausgangsverdacht gegen sie rekrutiert wurden. Ihre Befragung zielte auch nicht darauf ab, Indizien für ihre eigene Schuld zu finden. Das Urteil, sie sollten „in Monatsfrist Wittenberg verlassen, gleich als ob sie freiwillig verzögen“ (a.a.O., Nr.  90, S.  105), spricht meines Erachtens gleichfalls für eine Art ‚symbolischer‘ Bestrafung. Vgl. zur akademischen Judikatur allgemein: Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis [Symbolische Kommunikation in der Vormoderne], Darmstadt 2006, S.  50 ff.; passim; an Rostocker Beispielen: Thomas Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung [QFRG 66], Gütersloh 1997, S.  366 ff. 93   Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  91, S.  105 f. 94   Schreiben der Universität an Kurfürst Friedrich, 27.  7. 1520, Friedensburg, Urkundenbuch, wie Anm.  70, Nr.  92, S.  106. 95   Antwortschreiben Kurfürst Friedrichs an die Universität, 30.  7. 1520, a.a.O., Nr.  93, S.  106. 96   „Ego belle video Satanam, qui cum Romae et apud exteros nihil videat sese promovere, hoc malum [sc. die studentische seditio] invenit, ut intus et pessime noceat. Res fuit principio parva, sed ecce, quanto magis tractatur, tanto acrius corripit et acuit corda, quod proprie diabolici ingenii est, ut, unde putes mederi, inde morbum ille augeat.“ WABr 2, S.  144,14–17. Knapp zwei Wochen später heißt es gegenüber Lang, schon beinahe formelhaft ‚abgeklärt‘: „Satan tentavit nuper seditionem apud nos movere, & Christo regnante non pręvaluit.“ WABr 2, Nr.  317, S.  151,15 f. (29.  7. 1520). Auch in weiteren Erinnerungen an die Sache bleibt Luther bei seiner kritischen Beurteilung des Verhaltens der Studenten, vgl. WABr 2, Nr.  324, 5.  8. 1520 an Spalatin, S.  163,4 ff. Aus Zeugenaussagen verschiedener Bürger geht hervor, dass Teile der Studenten den Einsatz von Waffen geplant hatten: „eins Theils“ haben „geschworen und ein Theil nicht“, Förstemann, Studenten=Auflauf, wie Anm.  80, S.  63. Die Verschwörer waren demnach wohl die Gewaltbereiten. 97   Zu meiner Sicht der Sache und zur älteren Literatur vgl. meine Geschichte der Reformation,

6.  Studentische Rezeptionen Wittenberger Theologie

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6.  Studentische Rezeptionen Wittenberger Theologie Die von Wittenberg ausgehenden reformatorischen Ideen wurden bekanntlich nirgends früher aufgenommen und weitergetragen als von den Humanisten98 und den studentischen und monastischen Milieus der Universitätsstädte.99 Kreise junger Scholaren, die sich um die gemeinsame Lektüre exegetischer und reformatorischer Schriften bildeten, mögen mancherorts den Keim handlungsfähiger Vergemeinschaftungen gebildet haben. An einem Beispiel wie dem des in Ingolstadt subversiv im Sinne der Wittenberger Lehre agierenden ehemaligen Wittenberger Studenten wie Anm.  3, S.  379 ff.; instruktiv unter der älteren Literatur vor allem: Bubenheimer, Luthers Stellung, wie Anm.  70. 98  Wegweisend: Bernd Moeller, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  98–110. 318–320; Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reform Movement 1518– 1521 [VIEG 155], Mainz 1994; s. auch unten II, §  8. 99   Ich beschränke mich auf einige spärliche Hinweise in Bezug auf die Bildungsgeschichten einzelner Personen und ihre Orte: Basel, z. B.: Bernd Moeller, Johannes Zwick und die Reformation in Konstanz [QFRG 28], Gütersloh 1961, S.  41 ff.; zu Hugwald s. unten in diesem Kapitel Abschnitt 12.–15.; Tübingen, z. B.: Heiko A. Oberman, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 3 1989, bes. S.  196 ff.; Heidelberg etwa: Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491–1551), 2. erw. und überarb. Aufl. Münster 2009, S.  36 ff. (s. unten II, §  9); zu monastischen Milieus, die sich dem Humanismus öffneten, vgl. Harald Müller, Habit und Habitus [SuR N. R. 32], Tübingen 2009; aus Leipzig ist für Anfang 1521 ein Verhör wittenbergisch gesinnter Studenten vor dem Rektor, den Ordinarien der Universität und den Räten Herzog Georgs, wohl im Zusammenhang mit illegalem reformatorischen Buchbesitz, bezeugt, vgl. Karlstadt an Spalatin 9.  2. 1521, in: Johann Gottfried Olearius, Scrinium antiquarium, Jena und Arnstadt 21698, S.  76 f., hier: 77; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  242; zum Kontext instruktiv: Felician Geß, Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen [Mitteldeutsche Forschungen Sonderreihe 6/1], Köln, Wien 1985, Bd.  1, Nr.  192. 194 ff., S.  154 ff. (Parallelität in Bezug auf die Verhaftung des Druckers Valentin Schumann, allerdings ohne Erwähnung von Studenten). Zu Schumanns Verhaftung wegen des Drucks einer Schrift gegen Emser vgl. Helmut Claus, Valentin Schumann und Josef Klug in Wittenberg. Eine Spurensuche, in: Hartmut Kühne u. a. (Hg.), Thomas Müntzer – Zeitgenossen – Nachwelt, FS Siegfried Bräuer [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 14], Mühlhausen 2010, S.  121–141, hier: 123 mit Anm.  6 ; MBW 127; MBW.T 1, S.  262,15 f. Als monastisches Zentrum, in dem reformatorische Schriften in vertrautem Kreise gelesen, diskutiert und weitergegeben wurden, ist auch der Konvent in Belbuck bzw. der Kreis in Treptow, in dem Bugenhagen biblische Schriften auslegte, zu nennen. Dass die Übergänge von diesem zur reformatorischen Lehrtätigkeit Bugenhagens fließend gewesen sein dürften, hat Leder zu Recht betont, vgl. bes.: Hans-Günter Leder, Das biblische Lektorat und die „reformatorische Wende“ – Bugenhagen in Treptow (1518–1521), in: Ders., Johannes Bugenhagen Pomeranus – Nachgelassene Studien zur Biographie, hg. von Irmfried Garbe und Volker Gummelt [GThF 15], Frankfurt/M. 2008, S.  11– 58, bes. 11 ff. Im Falle Heinrich Bullingers war es das Milieu der Kölner Montanaburse, das ihm ein bemerkenswert intensives Einlesen in humanistische und frühreformatorische Literatur im Kreis einiger sodales ermöglichte, vgl. das eng Bullingers Diarium folgende Referat Fritz Büssers, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, Bd.  1, Zürich 2004, S.  17 ff.; sowie zum anfangs stärker reformationsaffinen Milieu der Thomisten in der Kölner Montanaburse: Götz-Rüdiger Tewes, Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts [Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 13], Köln 1993, S.  784 ff. (zu Bullinger, der in der Montanaburse Vorlesungen über Erasmus und den Römerbrief hielt und in der Kölner Dominikanerbibliothek reformatorische Schriften Luthers und Melanchthons studierte bes. a.a.O., S.  785 f.).

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§  7  Aktionale Aneignungen

Arsatius Seehofer, dem ein Ketzerprozess gemacht wurde, zeigt sich exemplarisch, dass man bei der Strafverfolgung auch behördlicherseits die sozialen und kommunikativen Netzwerke verdächtiger Personen mit untersuchte und also von Gemeinschaftsaktivitäten bei Erwerb, Pflege und Weitergabe reformatorischer Überzeugungen unter den Studenten ausging; 100 außerdem wird an diesem ‚Fall‘ anschaulich, dass gerade diejenigen Studenten, die Wittenberg wieder verließen, als Agitatoren an anderen Orten gegebenenfalls eine wichtige Rolle spielen konnten.101 Die Mehrzahl einschlägiger Informationen zu diesen Fragen dürften freilich niemals überlieferungsrelevant geworden sein. Unspektakuläre wechselseitige studentische Beeinflussung am ‚Quellort‘ Wittenberg oder sonst irgendwo, auch der Austausch reformatorischen Buchbesitzes wurde natürlich aktenkundig nur, wenn es zu behördlichen Verfolgungsmaßnahmen kam. Im Kontext der Exekution der Bannandrohungsbulle drängte Eck auf schrankenlose Verfolgung studentischen Buchbesitzes reformatorischen Inhalts; sollten junge Studenten, die geistliche Lehen inne-

100   Zum ‚Fall‘ Seehofer vgl. nur: Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften [EHS.R 23/468], Frankfurt/M. u. a., S.  37 ff.; Peter Matheson (Hg.), Argula von Grumbach. Schriften [QFRG 83], Gütersloh 2010, S.  36 f.; 156 ff. 101   Allerdings darf man die Bedeutung der Wittenberger Universitätsabsolventen für die Inaugurations- und Durchsetzungsprozesse der frühen städtischen Reformationen auch nicht überschätzen. Denn es ist offenkundig, dass unter den personellen Trägern reformatorischer Verkündigung in den ober- wie in den niederdeutschen Städten nur ausnahmsweise ehemalige Wittenberger Studenten begegnen, vgl. etwa die biografischen Übersichten zu den städtischen Predigern bei Bernd Moeller/Karl Stackmann, Städtische Predigten in der Frühzeit der Reformation [AAWG Phil.-hist. Kl. 3, 220], Göttingen 1996, S.  23–196. Ein wesentlicher äußerer Grund dürfte darin zu sehen sein, dass die städtischen Prediger der frühen Reformation in der Regel einerseits relativ junge, andererseits zumeist bereits anerkannte, ‚etablierte‘ Personen waren, also keine beruflichen ‚Neulinge‘, vgl. Thomas Kaufmann, Reformatoren [Kleine Reihe V&R 4004], Göttingen 1998, S.  11 ff. Ganz ‚frisch‘ ausgebildete Theologen wie etwa Franz Günther aus Nordhausen (Ernst Koch, Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen am Harz [Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung 21], Nordhausen 2010, S.  40) sollten in ihrer reformationsgeschichtlichen Gesamtbedeutung nicht überschätzt werden. In summarischen Zusammenstellungen über die Anfänge reformatorischer Predigt in späteren chronistischen Werken (pars pro toto sei etwa verwiesen auf: Sabine Pettke [Hg.], Nikolaus Gryse. Historia von Lehre, Leben und Tod Joachim Slüters [Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg, Reihe C, 1], Rostock 1997, bes. S.  35 f. [Liste der jeweils ersten Prediger in den wichtigsten norddeutschen Städten]; zur lutherischen historischen Literatur vgl. Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung [SuR N. R. 37], Tübingen 2007, S.  270 ff.; zum reformatorisch-humanistischen Geschichtsverständnis s. auch: Susanne Rau, Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln [Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 9], Hamburg, München 2002, S.  93–115) wird unter anderem auf die persönliche ‚Verwurzelung‘ der entsprechenden Prediger in ‚ihrer‘ Stadt abgehoben, wohingegen eine akademische ‚Nobilitierung‘ durch Wittenberg erst ein späteres Phänomen darstellt. In der älteren lutherischen Historiografie war es gelegentlich üblich, in biografischen ‚Lücken‘ ein Wittenbergstudium unterzubringen, so etwa in Bezug auf den Rostocker Reformator Joachim Slüter bei Otto Krabbe, Die Universität Rostock im 15. und 16. Jahrhundert, ND der Ausg. Rostock 1854 Aalen 1970, S.  366; zu Slüter vgl. die Literatur in: DBETh 2, 2005, S.  1260.

7.  Das Erfurter „Pfaffenstürmen“

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hatten, des Besitzes auch nur eines der verdammten Büchlein überführt werden, sollten sie ihre Pfründe verlieren.102

7.  Das Erfurter „Pfaffenstürmen“ Es dürfte kein Zufall sein, dass die ersten studentischen Aktionen zugunsten Luthers und der Reformation in Erfurt in einem engen Zusammenhang mit der Promulgation und Verbreitung der Bannandrohungsbulle standen. Denn durch dieses Dokument waren auch seine „adherentes [.  .  .] receptatores et fautores“103 in den Sanktionierungszusammenhang der Ketzerei hineingestellt, und Eck hatte ja auch gezielt die Universitäten angeschrieben und dazu aufgefordert, die verurteilten Artikel inskünftig weder in Schriften noch in Vorlesungen und Disputationen zuzulassen.104 102   Am 30.  10. 1520 bat Eck Herzog Georg von Sachsen, auf die Universität Leipzig im Sinne der Exekution der Bannandrohungsbulle einzuwirken. Insbesonders solle dafür gesorgt werden, folgende Anweisungen zu beachten: „[.  .  .] die bull in gmeiner versamlung vorlegen, verbieten, die verdampten artikel nit zu halten, zu lernen etc., die verdampten buechlin alle dem rector zu iberantwurten, das die in collegiis und bursis von iren schuler die all aufhieben, und in sonderhait gut teutsch sagte, das den iungen, die gaistlich lehen hetten, darmit nit ander auf sy wachten, ob sy der verdampten büechlin ains behielten, darmit sy umb ir pfründ kämen.“ Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, Nr.  181, S.  143 f.; Vinzent Pfnür, Johannes Eck, Briefwechsel, http://lw7srv15.uni-muenster.de /mnkg/pfnuer/Eck-Briefe.html, Nr.  117; vgl. zum Kontext: Christoph Volkmar, Reform statt Reformation [SuR N. R. 41], Tübingen 2007, S.  468 ff., bes. 469 mit Anm.  97. Die einzelnen Universitäten gingen mit der lutherischen Lehre und ihren Anhängern unterschiedlich um; einige Beispiele: In Ingolstadt etwa mussten seit Herbst 1522 alle der lutherischen Häresie verdächtigen Studenten beim Rektor angezeigt werden (vgl. Kolde, Arsacius Seehofer, wie Anm.  161, S.  52); an einer durch ihr Lehrurteil profiliert antireformatorisch hervorgetretenen Universität wie Köln war seit 1519/20 ein öffentliches Eintreten für die Lehre Luthers unmöglich (vgl. Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, Bd.  1: Die alte Universität, Köln, Wien 1988, S.  263 ff.), während in Heidelberg seitens des regierenden Kurfürsten Ludwig 1523 eine Prüfung der Lehre Luthers veranlasst wurde, die zum allmählichen Eindringen derselben in die Universität beitrug (vgl. Johann Friedrich Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg, Mannheim 1862–64, ND Hildesheim 1980, S.  388 ff.). In Rostock erkannte man zwar klar, dass die Reformation für den Einbruch der Studentenzahlen verantwortlich war (Kaufmann, Universität, wie Anm.  92, S.  70), praktizierte aber meines Wissens keine gezielten Maßnahmen gegen studentische Reformationsanhänger – sofern es diese dort überhaupt gegeben haben mag. Zu den allgemeinen bildungshistorischen Folgen der Reformation vgl. auch Notker Hammerstein, Die historische und bildungsgeschichtliche Physio­ gnomie des konfessionellen Zeitalters, in: Ders. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd.  1, 15. bis 17. Jahrhundert, München 1996, S.  57–101, bes. 61 ff. 103   Leo X., Exsurge Domine, zit. nach der Edition in: Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 2. Teil [CCath 42], Münster 1991, S.  364–411, hier: 398. 104   Vgl. Ecks Schreiben an die Universität Wittenberg vom 3.  10. 1520, in: EA var. arg. 4, S.  305 f.; vgl. Pfnür, Eck-Briefwechsel, wie Anm.  102, Nr.  108; zu den Anweisungen Ecks an die Universitäten Wien, Ingolstadt (Pfnür, a.a.O., Nr.  111, 113) und Freiburg vgl. Paul Kalkoff, Die Bulle „Exsurge“. Ihre Vollziehung durch die Bischöfe von Eichstädt, Augsburg, Regensburg und Wien, in: ZKG 37, 1917, S.  89–174, hier: 91 ff.; ders., Die Vollziehung der Bulle „Exsurge“, insonderheit im Bistum Würzburg, in: ZKG 39, 1919, S.  1–44, bes. 8 ff.; ders., Humanismus und Reformation in Erfurt (1500–1530), Halle/S.  1926, S.  55; zum Kontext auch: Fabisch/Iserloh, Dokumente, 2. Teil, wie Anm.  103, S.  334 ff.; WABr 2, Nr.  341, S.  193–196; Pfnür, a.a.O., Nr.  105 ff.

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§  7  Aktionale Aneignungen

Bereits vor dem eigentlichen Bekanntwerden der Bulle war es im August 1520105 zur heimlichen Veröffentlichung einer anonymen, in ihrer deutschen Übersetzung des Frühjahrs 1521 publizistisch dann bemerkenswert erfolgreichen Intimatio106 gekommen, die sich als offizielle Solidaritätserklärung der Magister, Baccalaurei und Theo­ logieprofessoren Erfurts107 mit Luther präsentierte. Hinter ihr standen entweder Studenten oder einzelne proreformatorisch gesinnte akademische Lehrer, wohl etwa Justus Jonas; 108 allerdings kann als gesichert gelten, dass man sich zum Zwecke der 105   Zur Datierung des Vorgangs einschlägig: Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis 2 [EThSt 22], 2. erw. Aufl. Leipzig 1992, S.  246; Ulman Weiss, Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Weimar 1988, S.  119 f. 106   Edition des lat. Textes der Intimatio Erphurdiana pro Martino Luther, in: Kalkoff, Humanismus, wie Anm.  104, S.  92–94; vgl. zu der dt. Übersetzung des Ulmer Geistlichen Wolfgang Ruß die Angaben in VD 16 E 3745–3750; ZV 15098; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1065–1068, S.  453 f. und bei Kalkoff, a.a.O., S.  76 ff. (zu Ruß auch die Angaben S.  76 Anm.  1; Riederer, s. u., S.  13 Anm.  o [nach W1, Bd.  23, S.  5]; Köhler Bibl, Bd.  3, Nr.  3975–3980, S.  361–363); wie es scheint war besagter Wolfgang Ruß als Magister „extra facultatem“ bei der Leipziger Disputation anwesend, vgl. Otto Clemen, Ein gleichzeitiger Bericht über die Leipziger Disputation 1519, in: Ders., Kleine Schriften zur Reformations­geschichte, Bd.  5, hg. von Ernst Koch, Leipzig 1984, S.  506. Die Zuschreibung des lateinischen Urdrucks an die Offizin [Johann Schöffers] in [Mainz] geht auf Riederer zurück (Johann Bartholomäus Riederer, Eine überaus seltene Reformationsurkunde Intimatio Erphurdiana pro Martino Luther ans Licht gebracht .  .  ., Altdorf, Lorenz Schüpfel 1761, S.  9) und wurde von Eduard Böcking (Bd.  5, S.  336; zweisprachige Edition a.a.O., S.  337–340) übernommen. Böcking äußerte auch die Vermutung, dass eine handschriftliche Version der Intimatio, die am 22.  8. 1520 am Collegium Maius in Erfurt ausgehängt worden war (Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  274), von Crotus Rubeanus an Hutten gesandt worden sei und von diesem dann in den Druck gegeben wurde. Kalkoff, a.a.O., S.  60 hat aufgrund stilistischer Gesichtspunkte für Jonas als Verfasser plädiert, vgl. auch den Widerspruch von Nikolaus Paulus (Die Erfurter theologische Fakultät gegenüber der Bulle „Exsurge“, in: HistJB 47, 1927, S.  733 f.) gegen Kalkoffs These (Die Erfurter theologische Fakultät gegenüber der Bulle „Exsurge“, in: HistJB 47, 1927, S.  353–358, bes. 356). In der neueren Literatur zu Jonas (Helmar Junghans, Justus Jonas und die Erfurter Humanisten, in: Dingel, Justus Jonas, wie Anm.  108, S.  15–37; Peters, Zwischen Erasmus, wie Anm.  108) wird diese Zuschreibung der Intimatio an ihn nicht diskutiert. 107   „Nos vero, almae universitatis magistri [et] baccalaurei, theologicae veritatis professores [.  .  .] profitemur [.  .  .] Martinum [.  .  .] bene et prorsus christiane hucusque scripsisse.“ Kalkoff, a.a.O., S.  92 f. In der deutschen Übersetzung Ruß’ wird bereits im Selbstverständnis der vermeintlichen Professoren der Universität Erfurt tendenziös im Sinne eines allein an der Bibel orientierten Begriffs von Theologie formuliert: „Wir aber der heyligen Euangelischen und götlichen geschrifft leer erkenner / und aussprecher / der hochberüempten Universitet Erdtfurt [.  .  .] beschließlich ordentlich erkennen [.  .  .] den vil genanten Martinum / recht und christenlich bißher geschriben haben.“ Intimation der berüempten Universitet Erdtfurt / in Martinum Luther. Durch Wolff Rusen ver­teütschet [Augsburg, Johann Schönsperger d. J. 1521]; VD 16 E 3478; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1066, S.  445; Ex. MF 741 Nr.  1898, A 2r; zum Verhältnis von lateinischer und deutscher Version s. auch Riederer, Reformationsurkunde, wie Anm.  106, S.  18–21. 108   Jonas war durch Luther gleichsam frühzeitig im Juni 1520 über den Ausgang des römischen Prozesses in Kenntnis gesetzt worden und erhielt durch Johann Lang weitere, vor allem auf Eck bezogene Informationen, vgl. WABr 2, Nr.  302, S.  127 (Luther an Jonas, 21.  6. 1520); zu den frühen Kontakten zwischen Luther und Jonas vgl. Christian Peters, Zwischen Erasmus und Luther. Ju­ stus Jonas und die Krise des Erfurter Humanistenkreises, in: Irene Dingel (Hg.), Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation [LStRLO 11], Leipzig 2009, S.  39–58, hier bes. 45 f.

7.  Das Erfurter „Pfaffenstürmen“

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nächtlichen Anbringung der Intimatio an der Tür des Großen Kollegs studentischer Helfer – vermutlich aus der schlesischen Bursa pauperum – bediente.109 Die Intimatio Erphurdiana richtete sich an alle glühenden Anhänger der evangelischen Wahrheit110 und forderte sie mit massiven rhetorischen Mitteln dazu auf, beherzt für das Wort Gottes ein-, den Feinden Luthers mit Händen und Füßen entgegenzutreten und das Symbol seiner gottlosen Exkommunikation, die Bannandrohungsbulle, in kleinste Stückchen zu zerreißen.111 Die Erfurter Studenten machten den Kampf gegen die Bulle und die Feinde Luthers fortan zu ihrer Sache. Dem im Zuge seiner Promulgationskampagne auf Erfurt zureisenden päpstlichen Nuntius Johannes Eck sollen bewaffnete Studenten aufgelauert und ihn am Betreten der Stadt gehindert haben.112 Als im Oktober durch den Erfurter Drucker Johannes Knappe113 neue Exemplare der Bannandrohungsbulle produziert und zum Kauf ausgestellt wurden, zerfetzten Studenten sie und warfen sie mit den lateinischen Worten ins Wasser: ‚Es ist eine Bulle, sie soll im Wasser schwimmen!‘ (Bulla est, in aqua natet.)114 Der Spruch spielte mit der Doppelsinnigkeit des Wortes ‚bulla‘ (= Wasserblase 109   Zu den diesbezüglichen Recherchen der universitären Untersuchungsbehörden in Erfurt, die sich dann vor allem auf den baccalaureus Antonius Spet aus Breslau fokussierten, diesem aber nichts nachweisen konnten, vgl. aufgrund der Dekanatsakten der artistischen Fakultät: Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  247 mit Anm.  11. 110   „Ad universos et singulos sacraesanctae Christianae ac evangelicae doctrinae fautores [et] amatores, almae nostrae universitatis Erphurdiensis gremiales, exhortatio.“ Zit. nach Kalkoff, Humanismus, wie Anm.  104, S.  92. In Ruß’ Übersetzung ist das Possessivpronomen fortgelassen und das Adjektiv „gremialis“ im Singular auf die exhortatio, statt auf die amatores etc. bezogen worden, vgl. Intimation der hochberüempten Universitet Erdtfurt .  .  ., wie Anm.  107, [A] 2v. 111   „Consurgite! Agite animosius in verbo Christi defendendo pugiles! Resistite, reclamate immo manibus pedibusque rabidissimis illius Martini praedicti obtrectatoribus. [.  .  .] Quamprimum tyrannica illa et plusquam diabolica excommunicatio papistica [.  .  .] valvis nostris affixa fuerit [.  .  .] nostrae exhortationis memores [.  .  .] has ipsas daemonisticas excommunicationes in minimas particulas dilacerantes discerpite [.  .  .].“ Kalkoff, Humanismus, wie Anm.  104, S.  93. 112   WABr 2, S.  207 Anm.  2. Luthers Aussage erweckt aber den Anschein, Eck habe Erfurt doch erreicht: „Petitus [Eck] est ibidem [sc. in Erfurt] ab aliquot studiosis accinctis, sed non comparuit. Dicitur lacrymis impetrasse Bullam et legationem suam, ne vacuus et inglorius rediret.“ WABr 2, Nr.  348, S.  206,7–9 (Luther an den sächsischen Kämmerer Johann von Gräfendorf, 30.  10. 1520). Die Universität hatte hinsichtlich der ihr von Eck mit der Aufforderung zur Veröffentlichung zugesandten Bulle erklärt, dass dies illegitim sei, weil es ohne Wissen des Erzbischofs erfolge, vgl. Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  120; WABr 2, S.  206,7. 113  Vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51], Wiesbaden 2007, S.  202 f. Dieser Druck der Bulle firmierte unter dem fingierten Kolophon: „Impressum Romae per Jacobum Mazochium [sc. dem Urdruck] / De Mandato. S. D. N.  Pape“, vgl. Fabisch/Iserloh, Dokumente, 2. Teil, wie Anm.  103, S.  339 Nr.  2.2.2; VD 16 K 271. Knappes Offizin lag am Fuße des Erfurter Domberges. Sollten die Exemplare aus der Druckwerkstatt entfernt worden sein, hätte man einige Meter bis zur Gera zurücklegen müssen. Vielleicht wurden sie auch an einem Markttag feilgeboten; es ist jedenfalls davon auszugehen, dass nur ein geringerer Teil der Produktion vernichtet wurde. 114   WABr 2, S.  206,9–11: „Bulla Erfordiae excusa venumque exposita, a studiosis discerpta et in aquam proiecta, dicentibus: ‚Bulla est, in aqua natet.‘“ Das Wortspiel (bulla = Bulle und Wasserblase) auch bei Hugwald, Est tibi lector .  .  ., wie Anm.  247, A 7v. Nach Luthers Darstellung sind die Drucke der Bulle also gemäß dem Appell der Intimatio, ausgehängte Exemplare in kleine Stücke zu

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§  7  Aktionale Aneignungen

oder Bulle); ob dies auf einen vorab gefassten Plan oder auf die Eigendynamik der Situation hindeuten könnte, wird man offenlassen müssen. Trotz des Drängens des Buchdruckers auf Ersetzung des Schadens scheinen die Studenten ungeschoren davon gekommen zu sein, da der Rat eine religionspolitische Festlegung in die eine oder andere Richtung vermied.115 An den ersten militanten Übergriffen auf das Eigentum von Klerikern, zu denen es in der frühen Reformation kam, waren Studenten gleichfalls führend beteiligt. Bei diesen sogenannten Erfurter Pfaffenstürmen, die Anfang Mai und in der zweiten Juniwoche 1521 in den Kurien der Stiftsherren in der Domimmunität tobten, waren Studenten neben städtischen Handwerksknechten, kleinen Adligen und Bauern maßgeblich aktiv.116 Die Empörung soll dadurch veranlasst gewesen sein, dass drei Kanoniker, die sich an einem Umtrunk der Universität für den zu seinem Wormser Verhör reisenden Ketzer Luther beteiligt hatten117, mit dem Bann belegt und ihrer Stellen verwiesen worden waren.118 Die Studenten verlangten nun, dass diese Kirzerreißen (s. Anm.  111), zerteilt worden, ehe man sie ins Wasser warf. Diese Korrespondenz von Appell und Tat deutet vielleicht darauf hin, dass hinter beiden Vorgängen dieselben Personen standen. In der zeitgenössischen Dichtung des Jahres 1521 wurden die studentischen Aktionen gegen die Bannandrohungsbulle in Wittenberg und in Erfurt mit „uri“ (verbrennen) und „urinari“ (untertauchen) bedacht: „Urinari inter distinguere novit et uri, | Res certe, quam non noverat ipsa prius. | Uuittenberga dat hoc, Erphordia contulit illud, | Utraque, si redeat, plura docere volet.“ Clemen, Über die Verbrennung, wie Anm.  40, S.  171 f. 115   Luther wusste zu berichten: „Accusati a bibliopola et damni resarciendi acti, nihil passi sunt, dissimulante Consulatu haec omnia.“ WABr 2, S.  206,11–207,12; zu den zeitgenössischen Bemühungen des Erfurter Rates, das Domkapitel unter seine Botmäßigkeit zu zwingen, vgl. Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, bes. S.  122 und Kontext. Über das Dissimulieren des Erfurter Rates klagt Luther auch im Zusammenhang des sog. Pfaffensturms des Juni 1521, vgl. WABr 2, Nr.  406, S.  331,2; Nr.  410, S.  337,20. Der anonyme Verfasser des Ain neu gedicht (s. Anm.  120) betont, dass der Rat mit den Vorgängen nichts zu tun habe, Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1318,16 f. 116   Vgl. zum Folgenden: Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  124 ff.; Moeller/Stackmann, Städtische Predigten, wie Anm.  101, S.  51; Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  71 f. Anm.  4 ; Bd.  2, S.  1316 ff.; Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S.  13 f., sowie unten den Quellenanhang zu diesem Kapitel. Am 4.  6. 1521 richtete Johann Lang einen Brief an den Rektor Martin von der Marthen (s. Anm.  352), den Eobanus Hessus noch im selben Monat in den Druck gab: Johannis Langi Erfurdensis ad Excellentiss. D. Martinum Margaritanum .  .  . [Erfurt], Matthes Maler 1521; VD 16 L 309; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2141, S.  286 f.; Ex. MF 1193 Nr.  2993. Der Brief enthielt die dringende Mahnung, der Unterdrückung des Wortes Gottes entgegenzutreten (A 2v–3r), polemisierte gegen die Scholastik und die bisherigen Studieninhalte (B 1v; A 3v) und die Vermischung von Theologie und Philosophie im bisherigen Studienbetrieb. Die studienkonzeptionellen Vorstellungen erinnern deutlich an Luthers Adelsschrift (s. bes. B 1v; B 2rf.). Auch wenn sich Lang für die lernwilligen, frommen Studenten einsetzte, bot der Brief keinen Aufruf zu Militanz gegenüber dem klerikalen Establishment. „Doleo [Lang] per Christum dum video quosdam esse tam amantes tumultuum ac seditionum, quae per incustoditi oris virulentiam, quam contra studiosos ac pios indiscriminatim evomunt, concitare mirum in modum conantur.“ (B 3r). Der Text spiegelt die Polarisierung in den frühen Junitagen des Jahres 1521, dürfte aber kaum direkt zur Verschärfung beigetragen haben. Vgl. auch Max Paul Bertram, Doktor Johann Lang, Erfurts Kirchenreformator, in: Alfred Kurz (Hg.), Erfurter Lutherbuch 1917, Erfurt 1917, S.  125–176, 153 ff.; zu Lang s. auch DBETh 1, 2005, S.  824 (Lit.). 117   Vgl. zu Luthers Erfurtaufenthalt im Frühjahr 1521 die Hinweise unten II, §  8, Anm.  61 ff. 118  Vgl. Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  124 f.; WABr 2, S.  339 Anm.  9.

7.  Das Erfurter „Pfaffenstürmen“

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chenstrafen aufgehoben würden und drohten – zusammen mit dem Rektor der Universität, Crotus Rubeanus119, – an, dass es andernfalls zu Gewalttätigkeiten kommen werde. Allerdings bleiben bei der Interpretation der Vorgänge erhebliche Unsicherheiten, sowohl was die Verlaufssequenz, als auch was die Motive der Studenten angeht. Denn zwischen den Ausschreitungen des 1./2.5. und des 12./13.  6. 1521 lagen mehr als fünf Wochen; und die Bannung Nikolaus Rottendörfers und Magister Johannes Dracos – der dritte inkriminierte Stiftsherr Justus Jonas war mit Luther nach Worms gereist – scheidet als Handlungsmotiv der „Pfaffenstürmer“ wohl deshalb aus, weil sie bereits aufgehoben worden war, ehe es zu den größten Übergriffen kam. Möglicherweise muss man mit einer Eigendynamik der Vorgänge rechnen, die schließlich auch die Behausung Dracos nicht schonte und kaum mehr auf eine engere Abstimmung zwischen proreformatorisch gesinnten Professoren und ihren Studenten hindeutet. Eine spezifisch reformatorische Intention der studentischen Agitation und ihrer physischen Gewalt gegen das Eigentum der Stiftsherren ist schwerlich greifbar, was aber auch der Quellenlage geschuldet ist.120 119  Vgl. über ihn nur: Gerlinde Huber-Rebenich, Art. Crotus Rubeanus, in: Franz-Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd.  1, Berlin, New York 2008, Sp.  505–510. 120   Bislang maßgeblich sind die Darstellungen von Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  124–132; Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  258–266; Ulman Weiss, Das Pfaffenstürmen 1521, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3, 1979, S.  233–279; Rudolf Weinhold, „Wer weiß wers recht verstanden hat!“ Das Erfurter Pfaffenstürmen im Spiegel zweier zeitgenössischer Lieder, in: Hermann Strobach (Hg.), Der arm man 1525. Volkskundliche Studien [Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 59], Berlin 1975, S.  219–236; Robert W. Scribner, Civic Unity and the Reformation in Erfurt, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London, Roncevert 1987, S.  185–216, bes. 195 ff.; Carl Beyer/ Johannes Biereye, Geschichte der Stadt Erfurt von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Bd.  1, Erfurt 1935, S.  361 ff.; Karl Schottenloher, Erfurter und Wittenberger Berichte aus den Frühjahren der Reformation nach Tegernseer Überlieferungen, in: ARG.E 5, 1929, S.  71–91, hier: 79–84; zu Draconites s. Moeller/Stackmann, Städtische Predigten, wie Anm.  101, S.  50 ff.; DBETh 2, 2005, S.  320 f. Unter den archivalischen Überlieferungen verdienen die – freilich tendenzkritisch zu lesenden – Akten der erzbischöflichen Administration, die sich ex post durch Berichte ihrer Beamten einen Überblick über die Vorgänge zu verschaffen versuchte, besondere Beachtung (Staatsarchiv Magdeburg Reg A 37 b I. II. XIV. 2, Bl. 54rff). Die beiden wichtigsten Aktenstücke werden unten im Anhang abgedruckt. In dem Bericht des kurmainzischen Sieglers heißt es zur Reaktion auf die Nachricht des Verweises des Stiftsherrn Draconites / Drach: „Als solichs [sc. die Demission] der Rector unnd andere In der universitet [.  .  .] erfaren / haben / sie [.  .  .] zum zweittenmaill libellos famosos zugeschrieben [.  .  .] / und begerdt Magistrum Dracone [.  .  .] zwleyden / mit angeheffter troe / wo das nit geschee / das sie beforchten es mochte der kirchen und priestern zuschaden reichen / Welchs derselb dechant unnd Capittell zw horchen gefürdt / beschedigunge besorget [.  .  .] unnd gewilliget haben das derselb magister Draco widderumb bey Inen [54v] zw chore unnd Capittell gehen mocht [.  .  .].“ Dem Text ist also im Grunde kein Hinweis auf einen motivationalen Zusammenhang zwischen der Demission Drachs, ihrer Aufhebung und dem Beginn der Übergriffe zu entnehmen. Das Temporaladverb „darnach“ im Folgesatz (s. Anhang) bietet nicht mehr als einen Hinweis auf die zeitliche Abfolge. Der unmittelbare ‚Auslöser‘ vor allem des zweiten „Pfaffensturms“ in der Nacht vom 12. auf den 13.6. ist im Grunde unklar. In Bezug auf die späteren literarischen Verarbeitungen (s. vor allem Weinhold, a.a.O.) sind sehr komplexe Aussageintentionen in Rechnung zu stellen. In Ain neu Gedicht, wie die Gaystlichait zu Ertfurdt .  .  . gesturmbt ist worden (in: Laube, Flug-

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§  7  Aktionale Aneignungen

Die Verwüstungen scheinen sich gegen Glasfenster, Öfen, Bücher, Handschriften und Mosaiktische, also „lauter Statussymbole sozial Privilegierter“121, gerichtet zu haben. Sie gelten als Auftakt entsprechender ‚antiklerikaler‘ Aktionen in der Reformationszeit und sind vor allem wegen der in ihnen greifbar werdenden Verbindung zwischen studentischen Akteuren und ‚gemeinem Mann‘ von besonderer historischer Bedeutung. Die in der Person des „Studens“, des studierenden Sohnes des „Karsthans“, zu Jahresbeginn 1521 gleichsam literarisch imaginierte122 enge Verbindung von Studenten und ‚gemeinem Mann‘, ist, soweit ich sehe, erstmals im Frühjahr 1521 in Erfurt in Form einer wirklichen Kampf- und Aktionsgemeinschaft in Szene gesetzt worden; im Wirken der sogenannten ‚Zwickauer Propheten‘123 stößt schriften, Bd.  1, S.  1316–1320) gehen etwa in der normativen Orientierung am Gemeinnutz (a.a.O., S.  1317,33.42) verwurzelte Polemik gegen den Eigennutz der Geistlichkeit, das Bekenntnis, dass nicht alle Priester verfallen sind (a.a.O., S.  1319,23 ff.), ein gewisses Verständnis für die Studenten (a.a.O., S.  1318,18 ff.) und schärfste Kritik an den Bösewichtern vor allem aus dem Bauernstand (a.a.O., S.  1320,7), die für die Eskalation verantwortlich gemacht werden, nebeneinander her. Über gewisse Kenntnisse der Vorgänge verfügt der Verfasser des Gedichtes, das in [Augsburg] bei [Mel­ chior Ramminger] erschien (Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  1320) durchaus. Aus den Akten der erzbischöflichen Administration geht hinsichtlich der sozialen Basis der Aktionen hervor, dass zu den Studenten „bauweren zugelauffen“, so dass der „hauff“ beträchtlich anwuchs; außerdem werden „handwergksknechte / etlicher Burger Szone unnd burger zu Erffurdt“ und „etliche von Adell uff dem lande“ (s. u. Anhang Stück b), schließlich „Bachanten / unnd Schützen In den Schulen zu Erffurdt / auch gebaur von den dorffen“ erwähnt. Dass die Aktionen also deutlich über die Universität bzw. die Attacken gegen die gelehrte Geistlichkeit hinaus zielten, wird, soweit ich sehe, in irgendeiner Form von allen Quellen, wenn zumeist auch sehr kritisch, mitgeteilt. Zu Hinweisen auf die Erfurter Vorgänge aus Briefen Luthers s. Anm.  124. Wie sich das „Pfaffenstürmen“ von 1521 zu den bewaffneten vorreformatorischen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgern bzw. einer Gruppe von ‚Schwurgenossen‘ etwa im Jahre [1506] (nicht erwähnt bei Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  175–178), von denen Eobanus Hessus berichtete (De Pugna Studentium Erphordiensium cum quibusdam coniuratis nebulonibus .  .  ., Erfurt, Wolfgang Stürmer 1506; VD 16 E 1343; Abb. des Titelblattes bei Weinhold, a.a.O., nach S.  236) verhielt, wäre zu untersuchen interessant. 121   Weiss, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  126; sozialkritische Töne gegen klerikale luxuria und Sittenlosigkeit klingen auch in den Flugschriften des Laien Hans Schwalb an, Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  64,19 ff.; 64,35 ff.; 66,17 ff.; 67,3 ff.; vgl. auch Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1316, 29 ff.; 1317,12 ff.; Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, wie Anm.  130, S.  374,363 ff.; 375,420 ff. (Priester Johann Koch, der ein ‚Kreuz‘ von mehr als 100 beschlafenen Frauen durch Erfurt geschlagen habe!) Nach einer späten Erinnerung des Dresdener Superintendenten Daniel Greiser, der zum fraglichen Zeitraum Erfurter Student gewesen war (zit. bei Weinhold, Pfaffenstürmen, wie Anm.  120, S.  219), wurde generell verwüstet, so dass die ‚Statussymbole‘ wie „vermosirte [gemaserte] Tische“ (ebd.) auch, aber nicht primär, betroffen waren. 122  Zum Karsthans-Dialog und seinem Straßburger Entstehungskontext s. unten II, §  10, Exkurs. Der Studens des Karsthans-Dialogs tritt als Vermittler zwischen der gelehrten und der Lebenswelt seines Vaters Karsthans auf (vgl. in der Ausgabe von Rudolf Bentzinger, Die Wahrheit muss ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation, Frankfurt/M. 1983, S.  86 f.); als solcher warnt der Student vor den Gefahren, die durch eine Infragestellung der Gelehrten und ihres Habitus drohen (z. B. a.a.O., S.  88; 94). Obschon Studens den gesunden Menschenverstand seines Vaters schätzt, sieht er sich ständig genötigt, ihn wegen mangelnder Vorsicht (a.a.O., S.  101; 104 f.; 108) zu kritisieren. Er ist dem äußerlichen Ruhm gelehrter Selbstinszenierung – z. B. in Gestalt akademischer Graduierungen – noch recht stark verfallen, z. B. a.a.O., S.  88; 101 f.; 113. 123   Dazu zuletzt: Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische

7.  Das Erfurter „Pfaffenstürmen“

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man im Herbst des Jahres auf eine weitere Manifestation dieser bemerkenswerten, Stände- und Bildungsgrenzen überschreitenden Konstellation. Luther nahm die Nachrichten über die Gewalttätigkeiten in Erfurt kritisch auf, äußerte Unbehagen gegenüber der Haltung des Rates und seines Freundes Johann Lang, zeigte allerdings auch Verständnis dafür, den ‚impii‘ im Priesterrock Einhalt gebieten zu müssen. Dass Luther die Zustimmung gewaltbereiter Leute fand, bewies ihm, dass er und die Seinen vor Gott noch nicht würdig genug seien und der Satan seine Hand im Spiel hatte.124 Für den auf der Wartburg festgesetzten Wittenberger Augustinermönch erfüllte sich in den Nachrichten aus der thüringischen Metropole ein vermeintlich prophetisches Wort: „Erfordia Praga“125. In einer unter dem Pseudonym eines Laien namens Hans Schwalb veröffentlichten, hussitische Bezüge herstellenden Flugschrift Erfurter Provenienz polemisierte ein gelehrter Verfasser gegen die sprichwörtlich „verkertten glerten“126, denn sie seien zu nichts anderem nutze, als Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010. 124   So in dem ersten der von der Wartburg aus an Melanchthon gerichteten Briefe [12.5.] 1521, nach der Datierung MBW 139; MBW.T 1, S.  285,58–67 = WABr 2, Nr.  406, S.  331 f. „Vehementer enim me [sc. Luther] offendit ista gratia hominum in nos, ex qua liquido videmus nondum esse nos dignos coram Deo verbi sui ministros, et Satanam in nostra studia ludere et ridere.“ MBW.T 1, S.  285,62–64 = WABr 2, S.  332,5–7. Aus seinem Brief an Spalatin geht hervor, dass erste nächtliche Tumulte in Erfurt zu der Zeit ausbrachen, als Luther auf der Rückreise vom Wormser Reichstag in Eisenach war (1./2.  5. 1521, vgl. WABr 2, S.  339 Anm.  9 ; 337,15 f.). Luther hatte von einem Zusammenschluss der akademischen und der Jugend aus der Handwerkerschaft gehört („artificum iuventus cum iuventute literata conspirare dicitur“, WABr 2, S.  337,20 f.). In einem fingierten Brief an Spalatin übte Luther scharfe Kritik an den Erfurter Vorgängen; der Satan versuche durch den Tumult die Sache des Evangeliums zu desavouieren, WABr 2, Nr.  422 (nach dem 15.  7. 1521), S.  367,15–18. 125   WABr 2, S.  337,22; vgl. 340 Anm.  11; Kalkoff, Humanismus, wie Anm.  104, S.  18 f., führt die Wendung „Erfordia Praga“ auf den Zuzug von Prager Universitätsangehörigen der deutschen Nation aus der böhmischen Universität im Jahre 1409 zurück; vgl. dazu Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis Teil  1: 1392–1460 [EThSt 14], Leipzig 1964, S.  57 ff. Die aller Wahrscheinlichkeit nach aus Erfurt stammende pseudonyme Flugschrift Beklagung eines Laien genant Hans Schwalb (Erstdruck abermals [s. Anm.  120 zu Ain neu Gedicht]: [Augsburg, Melchior Ramminger] 1521; ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  63–74) weist einen deutlichen Bezug zu Prag auf: Sie erwähnt ein antithetisches Bildmotiv aus der Prager Bethlehemskapelle, das den auf einem Esel reitenden Chri­ stus mit der auf Pferden reitenden Klerisei, geführt von Papst und Kardinälen, konfrontiert, vgl. a.a.O., S.  65,7–15; zum möglichen hussitischen Einfluss auf Cranachs Passional Christi et Antichristi vom Frühjahr 1521 (WA 9, S.  677–715; WABr 2, S.  347,23) vgl. nur: Karin Groll, Das „Passional Christi und Antichristi“ von Lucas Cranach d. Ä. [EHS.R 28/118], Frankfurt/M. 1990, S.  21–28; Victor Svec, Bildagitation. Antipäpstliche Bildpolemik der böhmischen Reformation im Göttinger Hussitenkodex [Art in Science – Science in Art  3], Braunschweig 1994, bes. S.  123; 160 Anm.  30. 126   Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  63,37; vgl. zu dem Sprichwort unten Anm.  315. Der Verfasser rechnet sich sowohl dem Bauern- (a.a.O., Bd.  1, S.  64,3), als auch dem Handwerkerstand (a.a.O., S.  69,22; 65,37) zu. Zu Überlegungen, den Erfurter Magister Kaspar Schalbe hinter dem Pseudonym zu vermuten, vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  70 f. Der hier nicht zu führende Nachweis eines gelehrten Bildungshintergrundes des Verfassers (gegen Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  342 f.) wäre nicht nur über die gelegentliche Verwendung der Vulgata, sondern auch über die Nähe zu historischem Wissen (etwa Laube, Flugschriften, Bd. 1, 65,3 ff.16 ff.; 68,29 ff.) zu erbringen; zu Kaspar Schalbe vgl. auch die Hinweise WA 18, S.  218 Anm.  4 ; WABr 3, S.  36 f. Anm.  1.

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§  7  Aktionale Aneignungen

Menschen durch Zwangsgewalt zum Glauben zu zwingen.127 Da die Gelehrten und Geistlichen vollständig versagten, sei es, so betonte Hans Schwalb, nun den Laien aufgegeben, sich untereinander zu belehren: „Auch sag ich, daz ain yeglicher mag leeren ain andern, unnd uns ist allen geboten bey unser sel hail, das ainer den anndern sol guts leeren, dann wan unser faist beüch, iunckherren, thum pfaffen predigetten, uns die warhait sagten, so dörfft es kain baur thun als ich bin, so wartet ich meyner arbeitt.“128 Im Notmandat laikaler Glaubensverkündigung formulierte ein Erfurter Intellektueller also in engstem historischen Zusammenhang mit den „Pfaffenstürmen“129 eine Handlungsstrategie, die es dem ‚gemeinen Mann‘ ermöglichen sollte, unabhängig von der korrupten Klerisei einen Zugang zu den Quellen des rettenden Glaubens zu finden. Die ersten Zeugnisse für Kampf- und Aktionsgemeinschaften aus Studenten, Bauern und wohl vorwiegend jungen Handwerkern130 fallen etwa in dieselbe Zeit, in der 127   „Was dürffen wir armen hantwercksleut oder bauleüt [cj. Bauersleute?] söllicher unutzer leüt als schuller, schreyber, baccalarien, magistri, doctores, wann sy nyemant nutz söllen sin, dann das man ain mit feür sollt bekeren zum glauben?“ Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  65,37–40. 128   Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  66,6–10. 129  Vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  64,3 ff. 130   Nach der Erinnerung Greisers (s. Anm.  121) hätten sich v. a. „Tagelöhner und Weinhacker / so den mehrer theil Francken waren“ (Weinhold, Pfaffenstürmen, wie Anm.  120, S.  219), also wohl Wanderarbeiter, an den Übergriffen beteiligt. Aufgrund des Gedichts Ain neu Gedicht (wie Anm.  120) könnte allerdings die Vermutung naheliegen, dass die mit Plünderungen verbundenen Eingriffe von Erfurter Bürgern und Bauern der umliegenden Dörfer vielleicht bei den Ausschreitungen Anfang Mai, oder um den 12.6. herum, erst nach Beendigung der nächtlichen Pfaffenstürme der Studenten stattfanden: „Wie wol das rechte volck von dan | gelauffen, frü diß griffen an | loß buben, bauren allerlay, | die machten erst ain new geschray.“ Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1320,5– 8. Die nächtlichen Attacken auf insgesamt ca. sechzig Wohnungen von Priestern (a.a.O., S.  1319,43), die einen Schaden von ca. 5000 Gulden verursacht haben sollen (a.a.O., S.  1319,41; etwas niedrigere Angaben s. Anhang), wurden von mehreren („vier, fünff, sechs, siben und meer“, S.  1319,2; nach Schmaltz [s. u.] waren es „drei rotten“, Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, s. u., S.  371,207) studentischen Haufen, die jeweils eine eigene „Loßung“ (Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  1319,3; vgl. Liliencron, a.a.O., S.  369,59 [Losung: „Jupiter“]; 371,186.193.205; 372,14 u. ö.) hatten, durchgeführt. Man bewegte sich also zunächst wohl so durch die Stadt und auf die Behausungen der Geistlichen zu, dass die ‚Zusammenrottung‘ nicht sogleich erkennbar wurde. Der kulturelle ‚Sitz im Leben‘ solcher Losungen dürften das militärische oder räuberische Bandenwesen, vielleicht auch studentische Spiele, gewesen sein. Die studentischen Rotten steuerten wohl gezielt die Häuser einzelner Geistlicher an; es dürfte sich demnach durchaus um ein strategisches Vorgehen im Sinne der Vollstreckung eines Strafurteils über bestimmte Kleriker gehandelt haben, nicht einfach um ‚Chaos‘ oder ‚Tumult‘. Die Gesamtzahl der beteiligten Studenten schätzt der im Ganzen gut informierte, aus der Nähe berichtende Anonymus auf ca. 400: „Studenten volck ist mutig gsind, | man sagt sye seind hye geweßen geschwind. | Doch wayß ichs nit, er war noch meer, | vierhundert machen ein eben hör [regelrechtes Heer]. | Niemants ich nemlich deüten wil, | ich wayß auch nit, wer erst im spil | geweßen ist, es ist wol war, | sy waren nicht all an ainer schar. |“ Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1318,18– 25. Als die Studenten in einige der Priesterwohnungen eindrangen, seien Huren zum Vorschein gekommen, S.  1319,11 ff. Im Spiegel des Gedichts stellt sich die Aktion der Bürger und Bauern als zweiter und selbstständiger Vorgang dar. In dem von Gothart Schmaltz (vgl. die knappen biografischen Hinweise in: Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis ins 16. Jahrhundert, Bd.  3, Leipzig 1867, ND Hildesheim 1966, S.  365) verfassten, in zeitgenössischen Chroniken handschriftlich verbreiteten Lied Das pfaffensturmen zu Erfurt (Liliencron,

8.  Wittenberger Aktionen im Jahre 1521

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die ersten literarischen Aneignungen des allgemeinen Priestertums der Glaubenden bekannt wurden und auch Luther feststellte, dass Deutschland viele Karsthanse habe131 – ins Frühjahr 1521.

8.  Wittenberger Aktionen im Jahre 1521 Die Erfurter „Pfaffenstürme“ stellen so etwas wie ein Menetekel auf die studenti­ schen Kampf- und Protestformen dar, die zwischen Herbst 1521 und Frühjahr 1522, also im Kontext der sogenannten Wittenberger Bewegung132, verstärkt auch an der Leucorea aufgetreten sind. Gelegentlich tauchte der Verdacht auf, dass sich unter den Unruhestiftern in Wittenberg „studentenn von Erffurth“ befänden, „dye an yn selbst entporisch seyn“133, d. h. wohl sich auch hinsichtlich ihrer reformatorischen Gesinnung zweifelhaft und nicht gemäß den akademischen Rechtsordnungen verhielten. Ansonsten waren Wittenberger Studenten in die tastend-experimentellen Vorgänge der gottesdienstlichen Reformen involviert und wurden als Teilnehmer bei den ersten Abendmahlsfeiern unter beiderlei Gestalt erwähnt.134 Da es sich hier um rituVolkslieder, Bd.  3, Nr.  353, S.  369–376) werden die Vorgänge in der zweiten Juniwoche und den folgenden Tagen aufgrund eigener Anschauung geschildert und überwiegend zustimmend reflektiert. Der „rumor“ habe sich zwischen „studenten und pafffen“ (a.a.O., S.  369,8 f.) ergeben. Neben physischer Gewalt auch gegen Personen, insbesondere die Geistlichen, wird die Zerstörung von Büchern des Domdechanten Johannes Weidemann (vgl. Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, passim, bes. S.  262: „In die bücher goßen sie [sc. die Studenten] bier /| zurißen irer drei oder vier“ [a.a.O., S.  370,65 f.; vgl. 373,317]) berichtet; außerdem soffen die Studenten den Weinkeller leer, ebd. Z.  68; vgl. 370,109 ff.; 374,383 ff. u. ö. Auch bei Schmaltz stellt es sich so dar, dass die Studenten in der Nacht agierten und so gut wie gar nichts entwendeten (S.  370,73 f.), das „volk“ aber erst „auf den morgen fru“ (S.  370,75) dazu kam. Im Einzelfall trat ihnen auch ein Geistlicher couragiert entgegen, wodurch es ihm gelang, die Meute von Übergriffen abzuhalten: „Magister Cappel erbot sich: | ‚was wollt ir gesellen? hie bin ich | ein armer pfaffe, hort mich eben, | ich wil euch ein gulden geben!‘ | In dem so liefen sie fortan | und haben im gar nichts gethan. |“ A.a.O., S.  374,403–408. Auf dem Tisch eines Priesters fand sich „martinianisches“ Schrifttum; so wurde auch er verschont, a.a.O., S.  374,415 f. Gelegentlich werden „knappen, schneider, bauren“ (a.a.O., S.  375,468) als Handelnde genannt; ansonsten dominiert eindeutig der Anteil der Studenten. 131   Im Mai 1521 sah Luther die reformatorische Bewegung bereits in einer solchen Stärke, dass es dem Papst nicht möglich sein werde, sie zu unterdrücken. Dabei spielte die Mobilisierung des Volkes eine wichtige Rolle: „Deus suscitat spiritus multorum atque ideo et vulgi corda, ut mihi verisimile non sit, posse rem istam vi compesci, aut si compensci coeperit, decuplo maior erit. Habet Germania valde multos Karsthansen.“ Luther an Melanchthon, 26.  5. 1521, WABr 2, Nr.  413, S.  348,62–65 = MBW.T 1, Nr.  141, S.  290,62–64. 132   Vgl. zuletzt: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, S.  379 ff. 133  Christian Beyer an Kurfürst Friedrich am 6.  12.  1521, zit. nach: Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  79. Der Skopus von Beyers Einschätzung geht dahin, dass er es günstiger fände, wenn diese Studenten der städtischen, nicht der universitären Rechtshoheit unterstünden. 134   Das von Melanchthon am 29.  9. 1521 gefeierte Abendmahl unter beiderlei Gestalt gilt als erste entsprechende Sakramentsfeier in Wittenberg, vgl. etwa Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, wie Anm.  42, S.  68; Neuser kombiniert den Bericht des Studenten Sebastian Helmann an Johannes

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§  7  Aktionale Aneignungen

elle Traditionsbrüche handelte, die gegen das geltende Kirchenrecht standen, wird man denen, die daran teilnahmen, ein entsprechendes Maß an Entschiedenheit, an Willen zur konfessorischen Partizipation, zuzuerkennen haben. Früher als alle anderen Gemeindeglieder hatten die Wittenberger Studenten also auch an den liturgischen Veränderungen teil; dies mag das Bewusstsein einiger beflügelt haben, eine reformatorische Avantgarde zu bilden. Zu Konflikten kam es Anfang Oktober 1521, als Studenten einen „Sanct anthonius bothenn“135, der in der üblichen Weise mit werbendem Klingeln in den Pfarreien seine jährliche Almosensammlung durchführte136, verfolgten und bei seiner Herberge zunächst mit „kothe“, vor der Universität dann mit Dreck und Steinen bewarfen. Sodann störten sie seine Predigt und stießen einen Wasserkübel um, dessen Inhalt er weihen wollte. Schließlich brachten sie „etzliche spotliche intimacion“ an den KirHeß (8.  10. 1521, in: Müller, Bewegung, wie Anm.  17, Nr.  4, hier: S.  17) mit dem Schreiben Wittenberger Stiftsherren an den Kurfürsten (Nr.  25; hier: S.  62), sodass er zu der Aussage gelangt: „Am 29. September folgte eine evangelische Abendmahlsfeier für Melanchthon und seine Schüler, die ‚ein sonderlicher Priester‘ in der Stadtkirche hielt.“ Wilhelm H. Neuser, Die Abendmahlslehre Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1519–1530) [BGLRK 26], Neukirchen 1968, S.  128. Diese Quellenkombination halte ich für problematisch, da nicht eindeutig ist, ob jeweils dieselbe Feier gemeint ist (Melanchthon wird von den Stiftsherrn nicht erwähnt; auch der Ort ist nach deren Bericht nicht eindeutig, nach Helmann aber war es die Pfarrkirche; überdies erwähnt nur Helmann ein Datum; die Stiftsherrn stellen zusammen, was sie aus zweiter Hand zusammentragen konnten, Helmann war Augenzeuge). Bei Helmann heißt es: „Phlippus Melanchton cum omnibus suis discipulis in parrochia in die Michaelis sub utraque specie communicavit, et iam fiet in omnibus.“ (Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  17). Der Stelle lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass ein geweihter Priester in den Vorgang involviert gewesen wäre. (Worauf sich Scheibles Vermutung gründet, dass bei dieser und folgenden Abendmahlsfeiern unter beiderlei Gestalt die „Kommunikanten ordnungsgemäß angemeldet“ gewesen seien, „gebeichtet“ und „vor der Kommunion nichts gegessen“ [a.a.O., S.  68] hätten, entzieht sich meiner Kenntnis.) Melanchthon vertrat in seinen in diesen Teilen im September 1521 im Druck vorliegenden Loci communes die Überzeugung, dass es prinzipiell allen Christen erlaubt sei, zu lehren, zu taufen und den Tisch des Herrn zu segnen. („Neque sic discretae horum [sc. der altkirchlichen Amtspersonen] functiones erant, ut diacono piaculare esset docere, baptizare, aut benedicere mensae. Immo haec omnibus christianis licent.“ MSA 2/1, S.  157,5–8; zu den Verbindungen zu Luthers in der Adelsschrift ausformuliertem Allgemeinen Priestertum der Glaubenden vgl. die Hinweise von Horst Georg Pöhlmann [Hg., Übers.], Philipp Melanchthon. Loci communes 1521 lateinisch-deutsch, Gütersloh 1993, S.  361 f. Anm.  1153/1158). Soweit ich sehe, kann man nicht ausschließen, dass das erste evangelische Gemeindeabendmahl unter beiderlei Gestalt ohne Beteiligung eines geweihten Priesters stattgefunden hat und als Realisierungsform des Allgemeinen Priestertums zu deuten ist. Bei der Abendmahlsfeier, die die Stiftsherrn erwähnen, hat „ein sonderlicher priester etlichen studenten“ (Müller, a.a.O., S.  62) das Sakrament unter beiderlei Gestalt gespendet, bei ‚Melanchthons Feier‘ ging es um die Teilnahme aller seiner Schüler (s. o.). 135   Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  19–21 (Gregor Brück an Kurfürst Friedrich, 8.  10. 1521; die Zitate oben im Haupttext sind diesem Brief entnommen). Neusers Vermutung (Abendmahlslehre, wie Anm.  134, S.  119 f.), die Aggressionen der Studenten erklärten sich durch einen besonders engen Zusammenhang ihrer Aktion mit dem Ablasswesen, entbehrt, soweit ich sehe, jeder Grundlage. Vgl. zur Sache auch Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  207,7; 209,17 ff. (Bericht über communio sub utraque und Antoniusboten narrativ zu einer cronique scandaleuse verschränkt). 136  Vgl. Adalbert Mischlewski, Artikel Antoniusorden, Antoniter, in: LexMA Bd.  1, 1999/2002, Sp.  734 f., hier: 734.

8.  Wittenberger Aktionen im Jahre 1521

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chentüren an, deren Inhalt allerdings nicht bekannt ist.137 Schon im Zusammenhang mit dieser Aktion wurde ruchbar, dass die Studenten die mit reichen Ablassgnaden verbundene Heiltumsschau an Allerheiligen (1.11.) zu stören gedachten138, wozu es allerdings schließlich nicht kam, da man nach Rücksprache mit dem Kurfürsten auf alle auf den Ablass bezogenen rituellen Elemente verzichtete. Anfang Dezember häuften sich dann – in engem Konnex mit der sich radikalisierenden Diskussion um die Messreform – Übergriffe auf Priester im Zusammenhang der Messzelebration in der Pfarrkirche, an denen Studenten beteiligt waren. Studenten sollen es gewesen sein, die im morgendlichen Schutz der Finsternis Steine auf Priester geworfen und, als die Messe losgehen sollte, bloße Messer unter ihren Röcken hervorgeholt hatten, mit denen sie die Zelebranten vom Altar vertrieben und Messbücher an sich brachten.139 Am 4.12. kam es dann zu einem Angriff auf das Franziskanerkloster: Die Studenten hefteten Zettel polemischen Inhalts an die Tür der Klosterkirche140 ; insgesamt 14 von ihnen verspotteten die Mönche, griffen sie 137   Luther nahm am 11.  11. 1521 gegenüber Spalatin zu der ihm nicht sympathischen Aktion der Studenten gegen die Antoniusboten differenziert Stellung. Einerseits gefalle ihm das nicht („[.  .  .] Iuveniles isti motus non placeant, qui Antonii legatum male acceperunt.“ WABr 2, S.  402,20 f.), andererseits wehrte er sich dagegen, solche Dinge überzubewerten. Denn die Gegenseite tue ja so, als ob nur die Wittenberger mal über die Stränge schlügen. Das Evangelium werde durch das Fehlverhalten einzelner nicht zugrunde gehen: „Non ruet ideo Evangelium, si aliqui nostrorum peccant in modestiam.“ WABr 2, S.  402,26–403,27. 138   „Man ßagt, wo man die fenlenn vor der kirchen auff aller heiligen ausstecken wurde, ßo handt das studenten volck fur, die selbigen mit koth zcubewerfenn und eyn feur daemit zu machen.“ (Brück an Friedrich von Sachsen, 8.  10. 1521; Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  20 f.). Offenbar handelte es sich um rote Fähnlein, die auf weiße Stangen gezogen wurden und – analog den Fahnen mit päpstlichem Wappen im Kontext der Ablasskampagnen [s. ein Bildbeispiel in: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  3, Abb.  7, S.  214; VD 16 O 527] – auf das exzeptionelle Heilsangebot aufmerksam machen sollten. Am 10.  10. 1521 hatten Justus Jonas als Stiftpropst und andere Stiftsherrn gegenüber dem Kurfürsten dafür geworben, Allerheiligen „ane bepstliche zcaichen, Als do sindt Bullen tragen, weiße strebe zuhaben, fannen auszustecken“ (Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  25 f.), zu begehen. Kurfürst Friedrich stimmte dem Vorschlag zu (12.  10. 1521, a.a.O., S.  30); der Stiftspropst predigte freilich gegen den Ablass. Allerheiligen 1521 wurde also „ane bebstliche pompen, den ablas ungerurt“ (4.  11. 1521, Bericht einiger Stiftsherrn an Friedrich von Sachsen, Müller, a.a.O., S.  63) begangen. 139   Bericht des Rates der Stadt Wittenberg an den Kurfürsten, 3.  12. 1521; Müller, Bewegung, wie Anm.  17, Nr.  32, S.  73 f. Eine Nebenabsicht der Darstellung des Rates bestand sicher darin, die Verantwortung der unter der Rechtshoheit der Universität stehenden Akteure gegenüber der der Wittenberger Bürger zu erhöhen. Zu den entsprechenden Konsequenzen des Landesherrn in Schreiben an Beyer, die Universität und den Rat s. a.a.O., Nr.  33–35, S.  74–77; vgl. Nr.  53, S.  117–119. In einem Untersuchungsbericht kursächsischer Beamter wird der Angriff auf die Priester „jungen, mutwilligen und unvorstendigen martinianern“ (10.  12. 1521; Müller, a.a.O., S.  120) zugeschrieben. 140   Der Rat hatte den Zettel eingezogen und an den Kurfürsten gesandt; sein Inhalt ist nicht bekannt, vgl. Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  77 mit Anm.  3. Der Kurfürst sandte den Zettel dann zurück nach Wittenberg und ließ ihn dem Rektor vorlegen (a.a.O., Nr.  38, S.  80). Nach der „Zeitung aus Wittenberg“ sind mehrere „briffe“ an die Kirchentür angeschlagen worden (Müller, a.a.O., S.  153). Außerdem soll im Franziskanerkloster ein „altar, von Holtzwerck gemacht, vast gar eingerissen“ (a.a.O., S.  152 f.) worden sein.

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§  7  Aktionale Aneignungen

„mit Schymplichen worthen“141 an und verhinderten, dass Messen abgehalten werden konnten. Ein von den Studenten offenbar vorab angekündigter nächtlicher Klo­ stersturm konnte dadurch verhindert werden, dass der Rat aufgrund der Vorwarnung Wachpersonal dorthin abkommandiert hatte.142 In der Christnacht wurden in der Pfarrkirche Lampen zerhauen, ein Priester bedroht und lästerliche Lieder angestimmt. Als dann Wächter kamen, gingen die Störenfriede auf den Kirchhof und behinderten den Chorgesang, indem sie wie „hunde und wolffe“143 heulten. Danach zogen sie zur Stiftskirche weiter, wo sie von der Empore herab „allen pfaffen die pe­ stilentz und hellisch flamme“144 wünschten. Dass es sich bei den Randalierern aber um Studenten gehandelt hat, ist nicht bezeugt.145 Auch wenn nach Auskunft eines zeitgenössischen Beobachters Grund zu der Annahme bestand, dass sowohl die „Studenten“ als auch der „gemeyn man“ den Kurfürsten „fürchten“146, so hinderte sie dies nicht daran, den Stiftsherrn „und andern pfaffen“147 gelegentlich die Fenster einzuschmeißen. Wirklichen Rückhalt oder größeren Anhang gewannen die radikal-antiklerikalen Agitatoren aus dem kleinen Kreis der sogenannten „Zwickauer Propheten“, die hier um die Jahreswende 1521/2 auftraten, unter Wittenbergs Studenten nicht.148 Von weiteren spektakulären studentischen Aktionen ist, soweit ich sehe, nichts mehr be-

141

  Müller, a.a.O., S.  77.   Müller, a.a.O., S.  78. 143  29.  12. 1521, Bericht von Stiftskanonikern an Kurfürst Friedrich; Müller, a.a.O., Nr.  61, S.  131–134, hier: 133. 144   A.a.O., S.  134. 145   Die Tendenz des Berichts der Stiftskanoniker (s. Anm.  143) geht dahin, die Ausschreitungen in einen Zusammenhang mit der Predigttätigkeit u. a. Zwillings und Karlstadts bzw. der reformatorisch gesinnten Geistlichkeit zu stellen. Diese Prediger hätten nämlich „alle ire predigen do hyn gericht, Das gemeyn volck widder die priesterschafft mit hessigen gemut zu reitzen, Unenikeit und zcwispaldikeit zuerwecken.“ Müller, a.a.O., S.  131 f. 146   „Zeitung aus Wittenberg“, Müller, a.a.O., S.  153. 147  Ebd. 148   Melanchthon war von einem der ‚Zwickauer‘ nach Auskunft der im Ganzen sehr gut informierten „Zeitung“ Ambrosius Wilkens (vgl. dazu Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  123, S.  75 ff.) „seer entsetzt“ und hatte den Studenten geboten, „ym nicht [zu] vexiren“ (Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  160). Ob es sich bei dem Prediger, vom dem auch der Capito nahestehende Felix Ulscenius berichtete (Müller, a.a.O., Nr.  62 f., S.  135 f.; englischsprachiges Regest in: Erika Rummel [Hg., Übers.], The Correspondence of Wolfgang Capito, Bd.  1: 1507–1523, Toronto, Buffalo, London 2005, S.  187 f.), um Markus Thomae gen. Stübner oder um Thomas Müntzer gehandelt hat? Vgl. dazu Kaufmann, a.a.O., S.  80 ff. Aus Ulscenius’ Bericht geht hervor, dass in den Kreisen der Studenten Zweifel an der ‚Berufung‘ dieser mit prophetischem Anspruch auftretenden Agitatoren geäußert worden waren (Müller, a.a.O., S.  136: „Retulit Philippus [Melanchthon] ei [Müntzer oder Stübner?], qui adhuc nobiscum est, studiosos nostros se mirari de suae vocationis iactatione, respondit: Impii derident, pii vero admirabuntur.“ Auch die offen vertretene Gewaltoption stieß auf Ablehnung, a.a.O., S.  136. Dass aus dem fragilen Kreis der „Zwickauer Propheten“ für ihr Anliegen unter jungen Akademikern auch außerhalb Wittenbergs mit Erfolg geworben wurde, ist durch Luther am Beispiel Gerhard Westerburgs bezeugt (WABr 2, Nr.  483, S.  515,8–13; Luther an Spalatin 5.  5. 1522); s. zur Frage, ob dies durch Stübner geschah: Kaufmann, a.a.O., S.  35 Anm.  106. 142

9.  Studienverhältnisse an der Leucorea im Spiegel studentischer Äußerungen

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kannt. Viele Studenten verließen die Stadt149, unter ihnen auch einige gebürtige Nürnberger, die zusammen mit dem Wittenberger Augustinerprior Konrad Helt150 nach Hause zogen.151 Einige von ihnen besaßen „gute lehen“, die in einem Falle jährlich 80, in einem anderen gar 100 Gulden einbrachten.152 Wenn sie nach Hause kämen, wollten sie allerdings „frey resignieren und sich yres vaterlichen erbes ader handarbeit, was eyn itzlicher konte, halten und erneren, dann es were eytel teufelsgespenste mit den pfaffen und yren lehen.“153 Studenten, die sich fraglos und selbstverständlich in das kirchliche Ancien régime eingefügt hätten, gingen aus der frühreformatorischen Leucorea wohl nur noch selten hervor – sei es, weil sie bereits mit kirchenkritischen Gesinnungen erfüllt gewesen waren, als sie dorthin zogen, sei es, weil das hiesige Studium sie verändert hatte. Lassen sich anhand einzelner Zeugnisse darüber weitere Aufschlüsse gewinnen?

9.  Studienverhältnisse an der Leucorea im Spiegel studentischer Äußerungen Trägt man verschiedene Aussagen Wittenberger Studenten der frühen 1520er Jahre zusammen, so ergibt sich hinsichtlich ihres Studierens etwa folgendes Bild: Gelegentlich war die Begeisterung über die Vorlesungen Melanchthons oder die Predigten Luthers so groß, dass ein Student bedauern konnte, nicht früher hierher gekommen zu sein, da sein Wittenberger Studium praktisch einen Neubeginn seiner gelehrten Bemühungen, ja seiner Existenz darstelle.154 Als Grund, sich – etwa aus Basel kommend – zum Studium in die wenig Ablenkung bietende kursächsische Kleinstadt zu begeben, konnte der mit einem Studienfreund und St. Gallener Landsmann anreisende Johannes Kessler angeben: „von studierens wegen hilger Geschrift“155, aber

149   Am 24.  1. 1522 schrieb Ulscenius an Capito: „Plures studiosorum abeunt.“ Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  173; Rummel, Correspondence, Bd.  1, wie Anm.  148, S.  190. Hinsichtlich der Immatrikulationsziffern ist freilich zwischen 1521 und 1522 kein signifikanter Einbruch zu verzeichnen, s. oben Anm.  1. 150   Vgl. WABr 15, S.  110 s. v. Helt. 151  Vgl. Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  275,3 ff.; Müller, Bewegung, wie Anm.  17, Nr.  98, S.  206. 152   Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  275,9; Müller, ebd. 153   Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  275,11–13; Müller, ebd. 154   „Porro autem non recte fecisti, quod Philippum nostrum, dum esset Lipsiae, non accessisti. Est enim homo supra incredibilem eruditionem longe humanissimus, cottidiana paene mihi consuetudo cum illo intercedit; perveni et in familiariatem. Ob Lutherum, cuius me christianissimas conciones audire in summa meae felicitatis parte numero, Wittenberga tam mihi placet, ut serius mihi hic advenisse, vehementer doleam.“ Johann Hornburgius aus Rothenburg ob der Tauber aus Wittenberg an Andreas Althamer in Leipzig, zit. nach Johann Arnold Ballenstadius, Andreae Althameri vita, Wolfenbüttel 1740, S.  73, Epistola Nr.  14; vgl. Friedensburg, Geschichte, wie Anm.  69, S.  152; Theodor Kolde, Andreas Althamer, Erlangen 1895, ND Nieuwkoop 1967, S.  6 ff. 155   Johannes Kessler, Sabbata, wie Anm.  25, S.  76,38.

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§  7  Aktionale Aneignungen

auch Luthers „wegen“156, denn der habe „das priesterthumb sampt der mäß als einen ungegründten Gottesdienst“157 umstoßen wollen, aber gerade dadurch existenzielle Zukunftsfragen evoziert, die man nun durch ein Studium bei ihm klären wolle: „Diewil wir dann von jugend uf von unseren älteren darzu gezogen und verordnet, das wir priester werden sollen, wend wir gern hören, was er [sc. Luther] uns für ein underricht geben werde und mit was fug er sollich fürnemmen welle zu wegen bringen.“158 Wittenberg wurde also auch angesteuert, weil man dort Lösungen für die von diesem Ort ausgehende Krise des geistlichen Amtes zu finden erhoffte. Hinsichtlich des konkreten Studienangebotes kann als gesichert gelten, dass die gegenüber Aristoteles kritische Universitätsreform159, die seit 1518 in Gang gekommen war, tatsächlich in Geltung stand: Die Wittenberger Professoren empfahlen vor allem anderen, die biblischen Sprachen zu lernen.160 Neben Bugenhagen und Karlstadt, die gelegentlich als Exegeten und Disputanten erwähnt wurden161, kam vor 156

  A.a.O., S.  77,36.   A.a.O., S.  77,36 f. 158   A.a.O., S.  77,37–40. 159   Scheible, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform, wie Anm.  42; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  43, S.  139 ff. 160   In dem Gespräch mit Luther, das Kessler im ‚Schwarzen Bären‘ in Jena führte – nicht wissend, dass der geheimnisvolle Ritter der soeben von der Wartburg zurückkehrende Reformator war –, wies dieser in folgender Weise auf die besonderen Studienmöglichkeiten an der Leucorea hin: „Philippus Melanchton aber ist da [sc. in Wittenberg], leret die griechischen sprach, so och ander die hebraisch leren; welche baid er uns in trüwen raten welt zu studieren, dann sy halige geschrift zu verston bevor notwendig sind.“ A.a.O., S.  77,31–34. In Bezug auf Kesslers eigenes Verständnis des Studiums ist die Prävalenz der biblischen Sprachen unübersehbar, vgl. a.a.O., S.  84,27 ff.; eine Explikation der inhaltlichen Bedeutung der alten Sprachen anhand des Diktums Mt 16,18 bietet Kessler, a.a.O., S.  85,15 ff. 161   Kessler erwähnt, bei Karlstadt eine Vorlesung über den Propheten Jeremia gehört zu haben (a.a.O., S.  81,3 f.), von der eine fragmentarische Mitschrift Bugenhagens existiert (vgl. Volker Gummelt, Bugenhagens Handschrift von Karlstadts Jeremiavorlesung aus dem Jahre 1522, in: ARG 85, 1995, S.  56–66). Auf den Studenten Albert Burer hat Karlstadt im Zusammenhang der Disputation über die Messe vom 17.  10. 1521 (vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  316 ff.; zum Text: Exkurs 5, Nr.  18, S.  484–490) einen großen Eindruck gemacht. „Eam concionem [sc. über die Messe bei den Augustinereremiten] statim postridie S. Galli [sc. 17.10.] gravis ac seria sequuta est disputatio, praeside A. B. Carolstadio. Qui vir, quantum ex ea disputatione coniicere licuit, altum sapit in theologia.“ Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder (Hg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Leipzig 1886, ND Hildesheim 1966, S.  294 (Burer an Rhenanus, 19.  10. 1521). Im Umgang mit dem System der akademischen Graduierungen lässt der Wittenberger Student Arsacius Seehofer Karlstadtsche Einflüsse erkennen, vgl. Theodor Kolde, Arsacius Seehofer und Argula von Grumbach, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 11, 1904/05, S.  49–77; 97–124; 149–188, hier: 50 f.; 71–74, bes. 73 (Brief Seehofers aus Wittenberg, 4.  1. 1522); s. unten Anm.  164. In den Berichten, die Ulscenius an Capito sandte, spielte Karlstadt als Disputator, der eine Abstimmung der Reformmaßnahmen mit dem Magistrat anstrebte, eine Rolle, vgl. Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  13; 47. Kessler würdigte die Anfänge von Bugenhagens Lehrtätigkeit in Wittenberg sehr ausführlich. Anfangs hätten Luther und Melanchthon ihn unterstützt, dann habe der Pommer begonnen „sinen landslüten studenten den psalter Davids in siner herbarg umb ain zimliche belonung zu ercleren“ (Kessler, Sabbata, wie Anm.  25, S.  92,43 f.; vgl. Bugenhagens eigene Darstellung in der Vorrede seines Psalmenkommentars, im Faksimile bequem greifbar in: Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, S.  369 f.). Dann forderten Luther und Melanchthon ihn dazu auf, die Psalmenvorlesung vor der 157

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allem Melanchthon als Schriftausleger schon in den frühen 1520er Jahren eine schlechterdings herausragende Bedeutung zu.162 In der Sicht des Konstanzer Patriziers Thomas Blarer, der seit 1521 in Wittenberg studierte, bildete der enge sachliche und persönliche Zusammenhalt zwischen Luther und Melanchthon die maßgebliche personelle Basis für die Attraktions- und Ausstrahlungskraft der Wittenberger Universität.163 Aus den Stimmen derer, die 1521/22 in Wittenberg studierten, ergibt sich der Eindruck, dass Melanchthon Karlstadt den Rang als theologischer Dozent und Exeget offenbar abgelaufen hatte. In der Vielfalt der Motive, die Wittenberger Studenten für ihre Alma mater einnahmen – etwa der Mut ihrer Professoren im Kampf gegen die Papstkirche, die altsprachlich-humanistische Fundierung, die Prädominanz der biblischen Exegese und „ganzen universitet“ (Kessler, a.a.O., S.  93,3) zu halten. Es folgten Vorlesungen zu Eph und Hebr, später Jes, die Kessler – letztere bis Kap 40 – hörte; zusätzlich las Bugenhagen noch im Franziskanerkloster über Dtn, 1/2 Sam; 1/2 Kg und trug bereits seine später berühmte Passionsharmonie vor. Bugenhagen hatte eine Magd des aus St. Gallen stammenden Hieronymus Schurf geheiratet und war bis zur Übernahme des Wittenberger Pfarramtes auf wohl freiwillig gewährte Hörergelder angewiesen (Kessler, a.a.O., S.  93,19 ff.); vgl. zum biografischen Kontext: Hans-Günter Leder, Auf dem Weg zum reformatorischen Selbstverständnis – Bugenhagen in Wittenberg (März bis August 1521), in: Ders., Johannes Bugenhagen Pomeranus, wie Anm.  99, S.  59–85; ders., Die Berufung Johannes Bugenhagens in das Wittenberger Stadtpfarramt, zuletzt in: Ders., Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie, hg. von Volker Gummelt [GThF 4], Frankfurt/M. u. a. 2002, S.  183–214. 162   Kessler und sein Kommilitone waren von Luther besonders auf Melanchthon hingewiesen worden (s. Anm.  160); eine ausführliche Darlegung vor allem seiner Lehrtätigkeit findet sich in den Sabbata (wie Anm.  25, S.  91,32–92,30). Kessler hörte bei Melanchthon Joh, Prov und Gen. Für Thomas Blarer war Melanchthon, sicher begünstigt durch die alte Freundschaft seines Bruders Ambrosius mit Magister Philippus (vgl. nur: MBW 11, S.  165 f.; 167), neben Luther der maßgebliche akademische Bezugspunkt in Wittenberg (vgl. Traugott Schieß [Hg.], Briefwechsel der Brüder Am­ brosius und Thomas Blarer 1509–1548, Bd.  1, 1509 bis Juni 1538, Freiburg/B. 1908, Nr.  28, S.  30 [4.  1. 1521]; Nr.  30, S.  33 f. [15.  2. 1521]; Nr.  31, S.  34 [15.  2. 1521: Lobpreis der innigen Zusammenarbeit zwischen Luther und Melanchthon]; Nr.  34, S.  38 f. [21.  6. 1521]). Auch für A. Seehofer, der in der Zeit von Luthers Wartburgaufenthalt in Wittenberg studierte, ist Melanchthon als Ausleger des Röm und der Korintherbriefe zum wichtigsten reformatorischen Lehrer geworden, vgl. Kolde, Seehofer, wie Anm.  161, S.  50. Selbst als Luther da war, sollen bei Melanchthon mehr Hörer gewesen sein als bei diesem, s. oben Anm.  69; vgl. in biografischer Hinsicht auch: Scheible, Melanchthon als akademischer Lehrer, in: Ders., Aufsätze, wie Anm.  42, S.  75–90; ders., Melanchthon. Eine Biographie, wie Anm.  42, S.  32 ff. Auf Burer machten Melanchthons Johannesvorlesung, seine Genesiskommentierung, natürlich die Loci, aber auch eine gräzistische Vorlesung den stärksten Eindruck, vgl. Horawitz/Hartfelder, Briefwechsel, wie Anm.  161, S.  304; zum Lob der Loci s. auch Thomas Blarer, in: Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, a.a.O., S.  34: „scripsit [sc. Melanchthon], locos communes velut methodum aut summam theologię, qui meo certe iudicio digni sunt, qui omnibus omnium comentariis vel per mille annos nunc vulgatis anteferantur.“ Zu Melanchthon und Bugenhagen als Dozenten vgl. auch Ulscenius an Capito (30.  11. 1521), in: Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  72; vgl. 13; 48; vgl. Rummel, Correspondance, Bd.  1, wie Anm.  148, S.  179; 193; 200. 163   „Praeterea Melanchthon suus [sc. Luther] velut collega est in Christo. Utrisque commune studium, eadem utrisque constantia, omnium negotiorum, omnium doctrinarum communio. Idem sentiunt, idem loquuntur, idem docent; creberrime enim, imo semper conversantur, atque utinam audires [sc. der Adressat Johann von Botzheim] Melanchthonem, qua auctoritate explodat gentilium philosophiam [.  .  .].“ Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, wie Anm.  162, S.  34; vgl. auch 30.

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§  7  Aktionale Aneignungen

die Überwindung der Scholastik – spielte gelegentlich auch die theologische Sinnmitte, das Evangelium von der Sündenvergebung sola fide, eine wichtige Rolle.164 Die Studenten stimmten also in die Polemik gegen die ‚sophistische‘ Lehre, dass der Mensch aufgrund eigener Werke gerechtfertigt werden könne, ein165, schlossen sich Luthers Absage an einen freien Willen in Bezug auf das Heil an und zogen daraus die Konsequenz, dass der göttlichen Vorsehung bei der menschlichen Erlösung eine zentrale Bedeutung zukomme166 und dass die Messe als gegenüber Gott verdienstliche Handlung abzuschaffen sei.167 Mancher Student mochte rasch merken, dass Erasmus in Wittenberg wenig galt; man hielt ihn für einen Kriecher, der in theologischer Hinsicht weit hinter Luther zurückstand und Plato mehr als Christus huldige.168 Für sensible Kommilitonen waren die Bruchlinien zwischen dem großen Niederländer und Luther lange erkennbar, bevor sie eine breitere Öffentlichkeit beschäftigten. Dass Wittenberg ein besonderer Ort war und die Studenten in ihrem Habitus beeinflusste, nahmen naturgemäß vor allem Neuankömmlinge wahr. Der aus Basel anreisende Burer stellte im Juni 1521 mit Freude fest, dass die Studenten hier unbewaffnet seien und einander wie Brüder begegneten. Trotz der vielen Nationen herr-

164   Bei Seehofer heißt es in Bezug auf das Evangelium: „cuius tota praedicatio est nobis remitti peccata gratis, sine ullo operum nostrorum respectu, omnemque nostram salutem esse ex deo, id quoque passim attestatur tota scriptura, psalmus 32. da nobis auxilium domine, Quoniam vana salus hominis, hoc idem dicit paulus. Justus ex fide vivit. Item Roma 3. Justitia dei per fidem Jesu Christi, revelata est non operum hypocrisis, quam homines pro iustitia reputent, sed talis iustitia revelata est, quam deus pro iustitia reputat, nempe ea quae per fidem constat. [.  .  .] Idcirco id pro thesi habeas [sc. der unbekannte Empfänger des Briefes] fidem esse iustitiam nostram [.  .  .].“ Kolde, Seehofer, wie Anm.  161, S.  72. 165   „Et quid erroris in ecclesia exortum est, sophisticis nebulonibus attribuendum, impii illi homines suis operibus iustificari hominem asservat.“ Seehofer an einen unbekannten Geistlichen [?], 1.  4. 1522; Kolde, a.a.O., S.  75. 166   So Seehofer, der bei seinem Adressaten Skepsis gegenüber Luthers Absage an ein liberum arbitrium voraussetzt und dieser mit der Behauptung begegnet: „Quandoquidem omnia, quae eveniunt necessario iuxta divinam praedestinationem eveniunt. Testatur id pau. Rom. 11.“ Kolde, a.a.O., S.  74. 167   Vgl. Seehofer, in: Kolde, a.a.O., S.  75, der die wesentlichen Aussagen zur Messe den Schriften des zum Zeitpunkt seines Studiums abwesenden Luther entnahm, insbes. folgende: „instituta est [sc. das Abendmahl] a Christo ad certificandam fidem nostram, ut is qui participat, de ea certus sit hoc pignore Deum sibi bene velle.“ Vgl. WA 6, S.  354,18–362–12; 513,14 ff. u. ö. Seehofers persönlicher Kontakt zu Luther beschränkte sich offenbar auf dessen Zwischenbesuch Anfang Dezember, a.a.O., S.  75; vgl. Brecht, Luther, Bd.  2, wie Anm.  116, S.  22 f.; 54. Weitgehende Zustimmung zu den gottesdienstlichen Änderungen spricht aus Ulscenius’ Briefen an Capito, vgl. Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  14 f.; 47; 136. 168   „Quo maioris istic [sc. in Basel] fit in re theologica, tanto minoris hic [sc. in Wittenberg] fit: enimvero quibusdam adulator esse censetur, opinor non aliam ob rem, quam quod modestius rem omnem egerit, quam fecerit Martinus. Aiunt Erasmum nondum eum spiritum nactum esse, quem habeat Lutherus. [.  .  .] In Enchiridio militis christiani eum Platonem magis imitari dictitant quam Christum. In eodem locos aliquot deprehendisse se iactitant quidem, qui faciant ad haeresim Pelagianam.“ Horawitz/Hartfelder, Briefwechsel, wie Anm.  161, S.  281.

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sche große Eintracht und sachliche Konzentration auf das Studium der Bibel.169 Und auch Thomas Blarer, der vorher in Freiburg studiert hatte, fiel auf, dass niemand in Wittenberg ohne Heilige Schrift herumlief.170 Die Identifikation mit dem Studienort lässt ihn als neues Bethlehem erscheinen, in dem Christus gleichsam wiedergeboren wurde; 171 in Wittenberg werde man wie nirgends sonst vom Heiligen Geist berührt.172 Sogar erste Ansätze eines ‚Lokalkultes‘ werden erkennbar: Kessler erinnert sich mit Freude, die Stätte gesehen zu haben, an der ca. 15 Monate vor seiner Ankunft die Bannandrohungsbulle verbrannt worden war.173 Die Studenten trugen nicht unwesentlich dazu bei, den Ruhm der Leucorea nach außen zu tragen und dadurch zu mehren; für die Professoren vor Ort waren gerade diejenigen, die von weither kamen, unerlässliche Informanten und willkommene Kommunikatoren, die den Kontakt mit bestehenden Netzwerken beleben oder Nachrichten aus anderen Weltengegenden übermitteln konnten. Nicht zuletzt durch die engen Beziehungen zu den jungen Studenten mochte sich die Gewissheit einstellen, dass der Jugend auch in religiöser Hinsicht die Zukunft gehörte.174 Die Wittenberger Studenten der frühen 1520er Jahre waren in besonderem Maße von der Professionalitätskrise des geistlichen Amtes betroffen, zu der es infolge des Wirkens Luthers und seiner Kollegen gekommen war. Der Eintritt in ein traditionelles Priesteramt bzw. die Übernahme einer geistlichen Pfründe175 kam für viele 169   „Sunt hic studentes supra sesquimille, quos videas propemodum omnes biblia secum circumquaque gestare. Inermes omnes incedunt, inter omnes ut inter fratres in Christo congregatos convenit. Nulla hic dissidia, quod tamen mirari quis possit, inter tot tamque varias variarum nationum gentes. Sunt hic Saxones, Prussi, Poloni, Bohoemi, Suevi, Elvetii, Franci orientales, Duringi, Missi et e multis aliis regionibus homines: attamen (ut dixi) belle inter omnes convenit.“ Horawitz/Hartfelder, Briefwechsel, wie Anm.  161, S.  281. 170   „[.  .  .] nullus prope sit Vittenbergę, qui non biblia secum in manu circumferat [.  .  .].“ Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, wie Anm.  162, S.  30. 171   Seehofer gibt als Ortangabe: „[.  .  .] ex Wittenberga vel Bethlehem, ubi Christus iterum erupit in lucem.“ Kolde, Seehofer, wie Anm.  161, S.  74. 172   „Foelicem vero me [Thomas Blarer], optime frater [sc. Ambrosius Blarer], qui aspirante divino numine eo loci [Wittenberg] perductus sum, quo, ni fallor, solo per hoc tempus licet esse vere sapientes de re christiana.“ Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, wie Anm.  162, S.  30. Für Ulscenius ist Wittenberg ein exemplarischer Ort christlicher Liebestätigkeit; der gemeine Kasten gilt ihm als „factum apostolicum“. „Fervet hodie in Vvittembergensium cordibus dei et proximi dileccio ardentiss[imo] adeo, ut pro veritate quidvis pati summe gaudeant.“ (30.  11. 1521), Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  72; Rummel, Correspondence, Bd.  1, wie Anm.  148, S.  179. 173   Vgl. Kessler, Sabbata, wie Anm.  25, S.  72,17: „Die walstat [sc. der Verbrennung des kanoni­ schen Rechts] hab ich gesechen.“ 174   Luther soll unter dem Inkognito eines Ritters bei der Begegnung mit Johannes Kessler und dessen schweizerischem Landsmann geäußert haben, „er sije der hoffnung, das die evanglische warhait mer frucht by unseren kindern und nachkommen bringen werde, die nit von den papsteschen irthumb vergift, sunder itzund uf lutere warhait und Gottes wort gepflanz(t) werden, dann an den elteren, in welchen die irthumb ingewurzet, das die nit licht mögen ußgerüt werden.“ Kessler, Sabbata, wie Anm.  25, S.  78,8–12. 175   Vgl. in Bezug auf Kessler oben Haupttext bei Anm.  158. Von dem Nürnberger Patriziersohn Hieronymus Baumgartner wird berichtet, dass ihm die Propstei an St. Sebald mit einem angeblichen Jahreseinkommen von 1500 Gulden übertragen werden sollte; „deßhalb das er kein geschwir­

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nicht mehr ohne weiteres in Betracht, und eine berufliche Zukunft im Sinne eines reformatorischen Pfarramtes zeichnete sich noch nicht ab. Dass begabte Theologen wie Kessler, der durch reformatorische Lektionen über den Römerbrief sogar zur Etablierung der kirchlichen Veränderungen in seiner Heimatstadt St. Gallen beigetragen hatte, schließlich ein Handwerk erlernten176, dürfte keineswegs ungewöhnlich gewesen sein.177 Denn auch Karlstadt vertrat im Januar 1522 öffentlich die Auffassung, es sei besser, „die schuler zu iren eltern tzuschicken, dan sie leren in der betteley vil uber buberey und ungeschicklikeit, dan tugent und laher. Eß ist vil besser, sie leren yrer eltern handwerk, dann das sie nach brot lauffen“178. Und von dem Schulmeister der Wittenberger Knabenschule, M. Georg Mohr179, wurde – allerdings Jahrzehnte später – berichtet, er habe öffentlich die Meinung vertreten, „man sol nicht studieren / auch keine Schule / wider Particular für die jugent / noch Universitet für die andern / als die erwachsen und erzogen werden halten / auch niemand promoviren weder Baccalaureos noch Magistros noch Doctores in alles Facultheten / Denn solches hett Christus selber verboten / Matth. 23. [V. 8] mit diesen worten. Ir solt euch nicht Rabbi noch Meister nennen lassen etc.“180 ter prister werden wolte, nachdem er bereit dazu erwelet, nit angenommen, sondern wieder abgeschrieben.“ Ernst Fabian, Zwei gleichzeitige Berichte von Zwickauern über die Wittenberger Unruhen 1521 und 1522, in: Mitteilungen des Altertumsvereins für Zwickau und Umgebung 1, 1914, S.  25–30, hier: 29; vgl. zur Resignation von Pfründen durch ehemalige Wittenberger Studenten auch die Nachricht bei Müller, Bewegung, wie Anm.  17, Nr.  98, S.  206; Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, Nr.  302, S.  275,9–13: „[.  .  .] es were eytel teufelsgespenste mit den pfaffen und yren lehen.“ A.a.O., Z.  12 f. 176   Vgl. Kessler, Sabbata, wie Anm.  25, S.  X. 177  Die zusammen mit Konrad Helt nach Nürnberg zurückziehende Studentengruppe (s. o. Anm.  150 f.) hatte Kommilitonen in ihren Reihen, die heimkehrten, um „sich yres vaterlichen erbes ader Handtarbeit, was eyn itzlicher konde, [zu] halten und erneren.“ Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  206; Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  275,11 f. Von dem Wittenberger Professor der Rhetorik [?] Philipp Gluenspieß ist die allerdings wohl sehr zweifelhafte (vgl. Clemen, Kleine Schriften, wie Anm.  106, Bd.  3, S.  7 f.; Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  422 f. Anm.  233; MBW 12, S.  155 f.) Nachricht bezeugt, dass er 1522 ins Bäckerhandwerk wechselte; allerdings ist er am 15.  8. 1523 in Wittenberg als Messpriester nachgewiesen, MBW 12, S.  156. 178   Andreas Bodenstein gen. Karlstadt, Von Abtuung der Bilder, ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1026,5–8; zum Kontext vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  386 ff.; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, S.  93 ff.; 145 ff. In der von Karlstadt beeinflussten Ordnung der Stadt Wittenberg vom 24.  1. 1522 war vorgesehen, dass stadtfremden Schülern der Schulbesuch nur gestattet werden sollte, wenn ihre Unterhaltskosten gedeckt waren (LuStA 2, S.  526,19–21). Andererseits war intendiert, begabte Knaben armer Leute, „die zu der schul und studia geschickt seind und doch armut halben darbey nit kuenden bleyben“ (LuStA 2, S.  529,8–10), aus kommunalen Mitteln zu unterstützen, unbegabte aber „zu handtwercken oder zu arbeyt“ (a.a.O., S.  529,13) anzuhalten. 179   Er stammte aus Rodach bei Coburg, war im Sommer 1512 in Leipzig, am 6.  2. 1517 in Wittenberg (Förstemann, Album, wie Anm.  81, S.  646) immatrikuliert und bald darauf zum Baccalaureus, am 24.  1. 1521 dann zum Magister artium promoviert worden, vgl. Clemen, Georg Mohr, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte, Bd.  2, wie Anm.  236, S.  25–44; Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  304; Clemen, Kleine Schriften, wie Anm.  106, Bd.  1, S.  490 ff.; Bd.  4, S.  79; 90; Bd.  5, S.  639; 693; zu Mohr als Prediger und Spender des Abendmahls unter beiderlei Gestalt s. Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  72. 180   So nach einem Rückblick, den der seit 1522 zeitweilig, seit 1523 (vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1,

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Neben Mohr habe in diesem Sinne Gabriel Zwilling von der Kanzel und „Doctor Carlstad in seinen Lectionibus“ geredet, „das also zur selben zeit [sc. 1521/2] viel feiner Ingenia von hinnen sind hinweg gezogen / das studiren verlassen [.  .  .].“181 Von dem Wittenberger Studenten Arsatius Seehofer wurde Mt 23,8 zur selben Zeit, im Januar 1522, verwendet, um seine Verweigerung gegenüber dem Anliegen seiner Eltern, er solle den Magistergrad erwerben, zu begründen: Christen blähten sich nicht auf, sondern folgten ihrem Herrn in Demut und Selbstverleugnung nach, also auf dem Weg des Kreuzes. Der Weg der Nachfolge und die Karrierevorstellungen seiner Eltern schienen dem jungen Mann unvereinbar.182 Von Karlstadt ist meines Wissens das Diktum Mt 23,8 erstmals am 3.  2. 1523 nachweislich verwendet worden, als er aus Anlass der Doktorpromotion der beiden Augustiner Johannes Westermann und Gottschalck Grop183 die – nach einem späteren Eintrag Luthers, der bei diesem Akt wie Anm.  19, S.  422 Anm.  232; 426 f. zum Quellenwert Fröschels) dauerhaft als Prediger und Pfarrer in Wittenberg tätige Sebastian Fröschel in der Vorrede zu seinem Werk Vom Priesterthumb der rechten / warhafftigen / Christlichen Kirchen .  .  ., Wittenberg, Peter Seitz 1565; VD 16 F 3095; Ex. SB München 4 Hom. 84: Beibd. 1 {digit.}, v [a] 4v, lieferte. 181  Fröschel, Vom Priesterthumb, wie Anm.  180, v [a] 4v. Diese Nachricht Fröschels korrespondiert mit Ulscenius’ Eindruck: „Plures studiosorum abeunt.“ (24.  1. 1522, zit. nach Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  173; s. o. Anm.  149), aber auch mit der bei Luther über den Eisenacher Amtmann Johannes Oswald von Kurfürst Friedrich mitgeteilten Information: „Es zügen auch darüber [sc. wegen der Wittenberger Bewegung] viel studenten hinweg.“ (Ca. 24.  2. 1522; WABr 2, S.  450,23); vgl. auch: Heinrich Boehmer, Aus alten Handschriften von Luther und über Luther, in: NKZ 25, 1914, S.  397–412, hier: 402 f.; Ernst Thiele, Denkwürdigkeiten aus dem Leben Johann Agricolas von Eisleben, in: ThStKr 80, 1907, S.  246–270, hier: 254 f. Die Bedeutung der Nachricht von den schwindenden Studentenzahlen dürfte für die Frage nach den Motiven für Luthers Rückkehr von der Wartburg nicht zu unterschätzen sein. 182   Am 4.  1. 1522 schrieb Seehofer an einen unbekannten Freund, bei dem er Kenntnisse bezüglich seines familiären Konfliktes voraussetzte: „Demum non ignoras quibus modis parentes mei efflictim cupiant me ad gradum magisterii, sed hoc aequum esse non possum persuaderi. Christiani non est declinare in sua consilia et alta afflare, exigit enim Christus ut vivamus in humilitate et simplicitate cordis, ait enim Mathei 23 ubi mere Pharisaeos adarguit superbiae: Nolite vocari Rabbi, unus est enim magister vester, nempe Christus, omnes autem vos fratres estis, item qui maior est vestrum erit minister vester, et qui se exaltavit, humiliabitur, et qui se humiliavit, exaltatur. [Mt 23,8.11 f.] Math. 16. Quod dicit abnegat se ipsum [Mt 16,24], satis indicat, nihil in humanis viribus sani et boni et quod quidem virium naturae repugnare Deo. Natura omnes efferimur animo. Filius Dei praebuit nobis exemplum, vixit enim omni humilitate et paupertate, sancti quoque eius fuerunt omnium despectissimi et omnibus ludibrio habiti. Quapropter doce eos quam ridicula res sit, non enim possumus sequi vestigia eius nisi per crucem et afflictiones.“ Kolde, Seehofer, wie Anm.  161, S.  73. Um Weihnachten 1522 herum ist Seehofer schließlich doch in Ingolstadt zum Magister promoviert worden, und zwar unter Abschwörung „der luthrischen leer“ (Kolde, a.a.O., S.  53), was ihm, da er weiter im Sinne der in Wittenberg angeeigneten doctrina unter seinen Kommilitonen wirkte, zum Verhängnis wurde; vgl. außer Kolde die in Anm.  100 genannten Arbeiten. Aufgrund des Allgemeinen Priestertums scheint für Seehofer ein spezifisches klerikales Amt zeitweilig obsolet geworden zu sein: „[O]mnibus ius est interpellandi apud Deum, missas celebrandi; nos ipsos offerimus Deo, Petrus ait omnes reges in Christo et sacerdotes [1 Petr 2,9].“ A.a.O., S.  73. 183   WABr 3, S.  3 Anm.  6 f.; 16,5; Carl Eduard Förstemann (Hg.), Liber Decanorum, Facultatis Academiae Vitebergensis, Leipzig 1838, S.  28; vgl. 27 [3.  1. 1522 disp. Westermann]; vgl. die die Bewegtheit der Szenerie spiegelnde Handschrift: Liber Decanorum. Das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät zu Wittenberg. Im Lichtdruck nachgebildet, 1. Teil, Halle 1918, Bl.  34v; Ernst Lud-

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selbst geschwiegen hatte – gottlosen Worte gesprochen haben soll: ‚Ich begehe wissentlich Unrecht, indem ich wegen zweier Gulden promoviere.‘ Und Karlstadt habe dazu Mt 23 aufgeboten: Niemand auf Erden solle Vater oder Magister genannt werden, sondern es gäbe nur einen Lehrer und Vater im Himmel. Für Luther war dies Beweis genug, von welchem Geist seine Theologie bestimmt sei.184 Auch wenn Karlstadt also noch bis Anfang 1523 äußerlich den Anforderungen seines akademischen Amtes genügte und zuletzt im Wintersemester 1522/3 eine Vorlesung über Sacharja hielt185, innerlich freilich seit Luthers Rückkehr von der Wartburg isoliert, angefoch-

wig Enders, Dr. Martin Luther’s Briefwechsel, Vierter Band, Calw und Stuttgart 1891, S.  64 Anm.  1; zum Kontext auch: Scheible, Aristoteles, wie Anm.  212, S.  131. Auch in einem Brief des am 18.  11. 1522 zum Sententiarius formatus (in Förstemann, Liber Decanorum, a.a.O., nicht erwähnt) promovierten Nikolaus Almannus an den General der Augustinereremiten Gabriel Venetus in Rom (3.  11. 1522) spielt der Verzicht auf die gelehrte Karriere unter Rekurs auf Mt 23 eine Rolle: „Verum ubi in eam quae hic revixit evangelicam introspexi doctrinam, nos videlicet non debere vocari magistri super terram, eas ambitiones, seu potius abusus, e mente fere extirpavi.“ Carlos Alonso Vañes (Hg.), Gabrielis Veneti O. S. A. Registrum generalatus, Bd.  2, Rom 2010, Nr.  1279, S.  435. (Den Hinweis auf diese Stelle und die Korrektur des Datums verdanke ich Herrn Kollegen Hans Schneider [Marburg]). 184   Luthers Eintrag lautet: „Et ego testor hac mea manu, me in eodem actu affuisse et etiam has sacrilegas voces ex ore eius blasphemo audisse (sed quibus tunc palam reclamare non licuit): Ego prudens facio impie, quod propter ii. flor. promoveo. Et contendebat ex Matth. 23. neminem esse vocandum patrem aut Magistrum in terra, sed unum esse Magistrum et patrum in caelis etc. Ex quibus intelligitur, quo spiritu ceperit suam Theologiam. Mart. Luther m. propria.“ Förstemann, Liber Decanorum, wie Anm.  183, S.  28; vgl. WATr 1, Nr.  159, S.  76,10–13; WATr 5, Nr.  6226, S.  550,9– 12; WATr 5, Nr.  6207, S.  539,6–19 ist noch die zusätzliche Information zu entnehmen, dass Karlstadt auf der „cathedra theologiae“, dem Lehrstuhl, auf dem wohl die theologischen Doktoren bzw. ­Dekane als Promotoren zu sitzen pflegten, eine Inschrift mit dem Vers Mt 23,8 angebracht hatte. Als Luther diese Inschrift auf der Cathedra fand, schrieb es zum Verständnis des Verses, gegen Karlstadt gewandt, darunten: „nolite vocari rabbi, id est, nolite effingere nova dogmata, bringet nichtes neues herfur, last es bey dem bleiben, quae ego Christus docui, et hoc mandavi vobis, ut tradatis aliis.“ WATr 5, S.  539,16–19. Nach Karlstadts Eintrag im Dekanatsbuch (Förstemann, Liber Decanorum, wie a.a.O., S.  28) erklärte er als Promotor und amtierender Dekan einerseits, dass die Promotion rite et recte vollzogen sei, andererseits, dass er sich inskünftig nicht mehr an irgendeiner Art von Graduierung beteiligen werde und dass er die beiden Gulden nicht für sich behalten habe (zit. Förstemann, Liber Decanorum, a.a.O., S.  28: „is tum palam testabatur post hoc se ne ullam in quemvis gradum subverturum.“) In der späteren Tischredenüberlieferung wurde der Eindruck erweckt, Karlstadt habe sich an der Promotion geradezu zynisch bereichert („Dies Profitlin und Genießlin nehme ich dieweil mit an.“ WATr 5, S.  539,31). In Luthers Gesprächen mit Karlstadt in Jena und Orlamünde (WA 15, S.  334–347) war der Konflikt um die Wittenberger Promotion indirekt prägend, und zwar einerseits insofern Luther Karlstadt ostentativ als „Herr Doktor“ anredete, andererseits indem er gegenüber der Orlamünder Gemeinde, die ihn in einem Brief als „bruder“ (WA 15, S.  343,2 f.) angesprochen und zugleich für verworfen (S.  343,16) erklärt hatte, auf seinem akademischen „titel“ (S.  345,12) bestanden und sein „rotzypffelich banneth’“ (S.  342,8), das Standessymbol seines Doktorates (s. unten III, §  12, Anm.  25 ff.), auf dem Kopf behalten hatte. Die Kritik daran, dass Luther an den Promotionen festhielt, wirkte von Karlstadt aus ins deviante Milieu, vgl. nur Ickelshamer, in: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535), Bd.  1, Berlin 1992, S.  78,39 ff. 185  Vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, wie Anm.  19, S.  3 ff., Anlage 16, S.  566–568 (Nachschrift Stefan Roth; interessanterweise behandelt Karlstadt den Text des Sach in Gestalt von Loci communes).

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ten, ja verbittert war186 und auf berufliche Alternativen sann, wird es nicht unberechtigt sein, die fundamentale Infragestellung der gelehrten Bildung und des Systems der akademischen Graduierungen, die 1522/3 in Wittenberg greifbar wird, auch mit seinem Wirken in einen Zusammenhang zu bringen.187 Die frühreformatorische Krise der Universität war sicher durch eine Fülle an Faktoren bedingt; einer davon war wohl auch Karlstadts theologisches Verständnis der Laien, das ihn – nicht zuletzt in Anknüpfung an mystische Traditionen – dazu veranlasst hatte, einen prinzipiellen noetischen Vorrang des ‚unverbildeten‘, ‚einfachen‘ Christen gegenüber dem Gelehrten zu propagieren.188 Insofern besteht kein zwingender Grund189, der folgenden Darstellung des Verhaltens Karlstadts aus der Feder 186   Ein wesentlicher Grund war die gegen ihn verhängte Zensur, für die Karlstadt vor allem Luther selbst verantwortlich machte, vgl. WA 15, S.  337,29–338,2, sowie – vor allem in Bezug auf die Invokavitpredigten – Karlstadts bittere Erfahrung mit Luthers machtvollem Agieren auf der Kanzel: „so weyß ich [sc. Karlstadt], wie ir [sc. Luther] das volck an euch gehenckt.“ S.  337,6 f. Zur Wittenberger Zensur 1522/3 vgl. Hans-Peter Hasse, Bücherzensur an der Universität Wittenberg im 16. Jahrhundert, in: Oehmig, 700 Jahre Wittenberg, wie Anm.  68, S.  187–212. 187   Barge (Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  420 ff.) stellt meines Erachtens Karlstadts distanziertes Verhältnis gegenüber dem akademischen Lehrbetrieb zu apologetisch dar. Unbeschadet der offenkundigen polemischen Tendenz dürfte einer Nachricht eines Augenzeugen wie der folgenden ein ‚authentischer Kern‘ innewohnen: „Es hies einer M. Philippus Stumpf von Eberbach [Förstemann, Album, wie Anm.  81, S.  112a [1522]] / der war etwa mein [sc. Erasmus Alber, immatrikuliert 19.  6. 1520, vgl. Förstemann, Album, a.a.O., S.  95b] guter gesel in der Universitet zu Meintz. [Alber immatrikulierte sich dort am 31.  8. 1516, Verzeichnis der Studierenden der alten Universität Mainz , Wiesbaden 1979, S.  5] Der kam gen Wittenberg / und lase Quintilianum / den selben feinen menschen füret der Teüffel auch zum Carlstad / von dem lernet er so vil / das er sagt / Ego valefeci Musis. Darnach fiel er immer von einer schwermerey auff die ander / biß er endlich dahin kam, das er sagt / wer weis ob die heilige schrift von Gott sey? [.  .  .] Sihe / war dem Carlstad disser discipel nicht wol geraten? Es wurden vil feiner gesellen durch Carlstad uberred / das sie nicht mehr studieren wolten. [.  .  .] Die verachtung der sprachen unnd guter künst ist nicht auß Gott / Carlstad verwarff die sprachen unnd gute künste / drumb ist er nicht von Gott.“ Erasmus Alberus, Widder die verfluchte lere der Carlstader / und alle fürnemste Heubter der Sacramentirer / Rottengeyster / Widderteuffer .  .  ., Neubrandenburg, Gebrüder Anthonius und Walther Brenner 1556; VD 16 A 1562; Ex. MF (nach 1530) 642–644 Nr.  1222, X 3r/v; zu Alber vgl. nur: DBETh 1, 2005, S.  19; MBW 11, S.  49; Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548–1551/2 [BHTh 123], Tübingen 2003, passim. 188   Vgl. zu Karlstadts Konzept des Laien bes. Shinichi Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodensteins von Karlstadt in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, S.  209 ff.; sowie unten III, §  13; zu Karlstadt und der Mystik grundlegend: Hans-Peter Hasse, Karlstadt und Tauler [QFRG 58], Gütersloh 1993; zuletzt: Volker Leppin, Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Christoph Bultmann/ders./ Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe [SMHR 39], Tübingen 2007, S.  153–169. Die entscheidende, meines Erachtens durch die theologiegeschichtliche Frage nach den mystischen Wurzeln etwa Karlstadts noch nicht in Angriff genommene Aufgabe besteht darin, die Verbindung zwischen mystischer Terminologie und den theologischen Gehalten bei den sogen. ‚Radikalen‘ als konzeptionelle Alternative zur Wittenberger Rechtfertigungstheologie zu identifizieren und entsprechend präzis chronologisch zu kontextualisieren. 189   In meines Erachtens methodisch selbstwidersprüchlicher Weise gesteht Barge (Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  19, S.  417 mit Anm.  222) der von mir im Folgenden im Haupttext zitierten Passage aus Fröschel Authentizität zu, obwohl er dessen Vorrede zu Vom Priesterthumb (wie Anm.  180) grundsätzlich misstraut (a.a.O., Bd.  1, S.  421 f. mit Anm.  232).

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eines Kritikers nicht ein erhebliches Maß an Glaubwürdigkeit zuzuerkennen: „Doctor Carlstad der war alhie [sc. in Wittenberg] zu den Bürgern in jre Heuser gangen / und sie gefraget / wie sie den / oder jenen Spruch / in diesem / oder jenem Propheten verstünden / Und wenn sich die einfeltigen Bürger seines fragens verwunderten / und zu im sprachen / Herr Doctor wie kompt jr damit her / das jr gelerte und Doctores der heiligen Schrifft / uns arme / albere / ungelerte leyen also fraget / das wir euch solches sagen sollen / ir solts uns billich sagen / Da hat jnen Doct. Carlstad geantwortet / das jnen Gott solches verborgen hab / Wie denn der HErr Christus selber spricht / Matth. am 11. [V. 25] und Luce 10. [V. 21] Jhesus frewet sich im Geist und sprach / Ich preise dich Vater / und HErr Himels und der erden / das du solches verborgen hast den weisen und klugen / und hasts offenbaret / den unwürdigen [.  .  .].“190 Im Februar 1522 trat Karlstadt mit einer volkssprachlichen Auslegung des Propheten Maleachi an die Öffentlichkeit, in der er betonte, dass der erwählte Bote Gottes ein schlichter Mann oder Bauer gewesen sei und dass allein der in uns redende Geist den Sinn der Schrift erschließe.191 Ob er mit seinem laientheologischen Prophetismus Impulse aufnahm, die in diesen Wochen und Monaten von Thomas Müntzer und den sogenannten „Zwickauer Propheten“ ausgingen, wird man kaum eindeutig entscheiden können.192 Unstrittig aber dürfte sein, dass Karlstadt seit 1522 kaum noch ernsthaft dazu beitrug, Studenten die Fortsetzung eines akademischen Bildungsweges als sinnvolle Lebensentscheidung plausibel zu machen. Seit Jahresende 1522 kann als gesichert gelten, dass er eine Übersiedlung aufs Land, vermutlich nach Wörlitz, betrieb.193 In zwei Flugschriften aus dem Frühjahr 190

 Fröschel, Vom Priesterthumb, wie Anm.  180, b 1r.   Andreas Karlstadt, Predig oder homilien uber den propheten Malachiam genannt [18.  2. 1522], Wittenberg, Nickel Schirlentz [1522]; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, Nr.  49; VD 16 B 6181; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1900, S.  186 f.; Ex. MF 64 Nr.  166, A 2r/v: „Ich [sc. Karlstadt] acht dz der mensch (den got Malachias nent) etwa eyn schlecht unberuffen man gewest ist. Wie Amos / oder ein bawr / scheffer oder hirt [.  .  .]. [.  .  .] Glaicher weyß Christus einfeltige ungelerte fyscher / und unnamhafftige leuthe [.  .  .] erwelt unn beruffen unn yen nhomen hat geben [.  .  .].“ Alle einfachen Christen bzw. „haußveter“ (A 3r) sollen sich als Nachfolger der Apostel, d. h. als Boten Gottes („hebraisch Malachim“, ebd.), verstehen. „Christus stümet mit seinem vater und Got / unn spricht klerlich / dz der geist Gotis. Yn den boten Gotis rede / und sie seind nit die reden. Alßo schreihet der geist gottis yn uns sagend Abba vater.“ A.a.O., B 2r. 192  Vgl. Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  123, bes. S.  57 ff.; 100 ff.; 111 f.; passim; vgl. Günther Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  387,3 f. (bzw. jetzt in der neuen Edition: Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch [Hg.], Thomas Müntzer, Briefwechsel [ThMA Bd.  2], Leipzig 2010, Nr.  54, S.  152,11) die wohl Müntzers Distanzierung von den „Zwickauern“ spiegelnde Aussage: „Mihi [sc. Karlstadt] vehementer placet, quod aliqua apud Cigneos gesta displicent [sc. den Wittenbergern?].“ Karlstadt an Müntzer, 21.  12. 1522. Luther rechnete Karlstadt unter die „newen propheten“ (WA 15, S.  339,27), worauf Karlstadt in Jena erwiderte: „Wo sy recht und warheit haben; wo sy unrecht sein, do stehe der teuffel bey.“ WA 15, S.  339,17 f. Sein Verhältnis zu Müntzer und den sogenannten „Zwickauer Propheten“ war in jedem Fall ein differenziertes, allerdings über einen Gesinnungsgenossen wie Westerburg, der der ‚Gruppe‘ zugehörte, zeitweilig wohl auch durchaus enges. 193   Das meines Wissens früheste Zeugnis dafür ist der Brief an Müntzer vom 21.  12. 1522 (s. Anm.  192), in dem es heißt: „Deducam te in novum meum hospitium, quod in rure comparavi.“ 191

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1523 nannte er sich auf dem Titelblatt ostentativ „ein neuer laie“194. Man erzählte sich wohl, dass er unter den Bauern „neber“, also „nachbar Endres“195 genannt wurde und, da er „der jüngste Bawr war“, „vor dem Tisch stehen [.  .  .] und bier auff tragen und einschencken“196 musste. Die ständische, vestimentäre197 und lebensräumliche bzw. -weltliche Konversion Professor Karlstadts durchkreuzte die Erwartungshorizonte mancher Zeitgenossen und irritierte wohl auch einige Studenten. Seit Luthers Rückkehr nach Wittenberg traten Nachrichten von studentischen Aktivisten, die über den üblichen Rahmen der Universität hinausgingen, in den Hintergrund; nicht mehr dem reformatorisch-provokativen Experiment, sondern der sachlich-konzentrierten Arbeit in Hörsaal und Stube gehörte die Zukunft.

10.  Studentische Reformation im Spiegel volkssprachlicher Flugschriftenpublizistik Im Frühjahr 1523 erschien eine anonyme Flugschrift, die im Wesentlichen aus dem Brief eines schwäbischen Studenten an seine Mutter bestand (Abb.  2).198 Der Student Franz, Müntzer, wie Anm.  192, S.  387,12; Bräuer/Kobuch, Müntzer, Briefwechsel, wie Anm.  192, S.  153,3 f.; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, wie Anm.  19, S.  14 Anm.  26. Offenbar hatte sich zu diesem Zeitpunkt Karlstadts Wittenberger Adresse geändert; er wies Müntzer darauf hin, dass er nun bei einem Bürger namens Simon Fleischer (Franz, a.a.O., S.  387,8; Bräuer/Kobuch, a.a.O., S.  152,15; er war Bäcker in der Jüdengasse in Wittenberg, ebd. Anm.  14) anzutreffen sei. Wohnte seine Frau, Anna von Mochau, zu diesem Zeitpunkt noch in Seegrehna? Am 29.  7. 1523 adressierte Müntzer einen Brief an den Bauern Karlstadt in Wörlitz („Carolstadio in Worlitz agricole“, Franz, a.a.O., S.  393,1; Bräuer/Kobuch, S.  188,1; vgl. ebd. Anm.  3). Im Sacharjakolleg war die Hinwendung zur bäuerlichen Existenz offenbar angeklungen, vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, wie Anm.  19, S.  4 ; 567. 194   So in: Von Mannigfaltigkeit des einfältigen, einigen Willen Gottes .  .  . (13.  3. 1523); VD 16 B 6251 f.; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, Nr.  53; Was gesagt ist: Sich gelassen .  .  . (20.  4. 1523); VD 16 B 6256 f.; Zorzin, a.a.O., Nr.  54. 195   So bei Fröschel, Vom Priesterthumb, wie Anm.  180, b 2r, der sich immerhin für seine Schilderung auf die Aussagen von Wittenberger Bürgern beruft (a.a.O., b 1v). 196  Fröschel, Vom Priesterthumb, wie Anm.  180, b 2r. 197   Vgl. unten III, §  12, Anm.  25 ff.; im Dezember 1521 ist von dem Prediger Jakob Seidler im albertinischen Döbeln bezeugt, dass er „stetigs in eynem grauen reytrock mit eynem langen messer, das reicht ym auf die erde“, einherging; „wan er aber predigen wil, so lehent yme der organist eynen langen rock.“ Geß, Akten, Bd.  1, wie Anm.  99, S.  220. Auch in Bezug auf die Veränderung der Kleidung ist Karlstadts Verhalten in einem breiteren Kontext zu sehen. Seidler war übrigens aufgrund des Lobes von „zweyen stüdenten von Wittenwergk“ (a.a.O., S.  223) als Prediger durch die Gemeinde angenommen worden. Anfang Januar wurde er auf Veranlassung Herzog Georgs inhaftiert, vgl. Ernst Wülcker/Hans Virck (Hg.), Hans von der Planitz. Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg 1521–1523, Leipzig 1899, ND Hildesheim 1979, S.  59,10. 198   Ain Sendbrief von aym Jungen Studenten zu Wittenberg an seine Öltern im Land zu Schwaben .  .  . [Augsburg, Melchior Ramminger] 1523; Ex. MF 67 Nr.  176; VD 16 S 5719; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  4187, S.  457; Ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  9 –18. Zur Frage der möglichen Lokalisierung der Familie in Ulm vgl. Clemen, a.a.O., S.  5 –7. Klar ist allerdings nur, dass der Student den Brief der Mutter durch einen Ulmer Kaufmann erhalten hatte (Sendbrief, A 2r = Clemen, a.a.O., S.  10) und dass er selbst möglicherweise einer vom Handel lebenden Familie entstammte, was seine Ankündigung, „gen Leipsyg auff den marckt“ (A [6]r = Clemen, a.a.O., S.  18) zu ziehen, um dort

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§  7  Aktionale Aneignungen

Abb.  2  Ain Sendbrief von aym Jungen Studentten zu Wittemberg an seine öltern im land zu Schwaben von wegen der Lutherischen leer zu geschriben. [Augsburg, Melchior Ramminger] 1523; VD 16 S 5719; Titelblatt mit Zierleisten, Holzschnitt; florales Rankenwerk mit mythologischen Motiven rechts und links; Hirschjagd mit Fanggitter unten; mit Windrädern spielende Putten oben; Pfingstwunder (Apg 2,3 f.) als Symbol endzeitlicher Geistausgießung über die Laien in der Mitte.

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war mit Zustimmung seiner Eltern nach Leipzig gezogen, hatte sich dann aber – wie es in dem Proömium eines Ungenannten heißt – nach Wittenberg begeben, weil „auff der selbigen schul der recht lauter brunn der göttlichen warhait baß durchgraben und ersucht, auch rayner auß dem grund herfür gestrichen wirtt, dann in andern schulen.“199 Die Mutter hatte daraufhin in einem Brief an ihren Sohn ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht, dass Wittenberg wegen des Ketzers Luther überfallen und belagert werde200, und auch der Vater hatte geschrieben und gegen die ‚neue Lehre‘ darauf bestanden, dass er „auch ainn gutter Christ sey, den glawben inn Gott hab, und wysß gleych wol, was er thun soll ec.“201 Der Sohn hatte daraufhin diesen Brief „ettlichen hochgeleerten hayliger geschrifft fürgehaltten unnd leesen lassen“, die ihm die Auskunft gaben, der Vater „sey ain irriger man, noch ligendt inn der verfürischen gfencknus, das nodt sey, das man gott fleüssyg, für in unnd annder vyl bitten thu“202 . Ein wächsernes Bildlein mit einem agnus dei, das die Mutter mitgeschickt hatte, um ihren Sohn vor Unbill und Gefahren zu schützen, hatte der Student zwar als Zeichen der mütterlichen Liebe anerkannt, dann allerdings benutzt, um den Brief damit zu versiegeln.203 Denn ein Christ solle sein Vertrauen und seine Hoffnung allein auf Christus setzen; „der wirt mich wol vor geschützt unnd der gleichen gefarlichait behüten, nit allein vor menschen, besunder auch vor teüffel, so ich allein glauben kann.“204 Der in die Öffentlichkeit gezogene religiös-kulturelle Konflikt mit den Eltern diente dem ungenannten Wittenberger Studenten dazu, über elementare Lehraussagen der Wittenberger Theologie zu informieren: Gott wolle nach Maßgabe der Schrift nicht, dass wir „mit guten werckenn den hymmel verdienen sollendt“, sondern er will uns den „umb sunst, on allen unnsern verdienst geben, allain das wir in jn vertrawen unnd glawbent, uns durch sein götlich gnad seelig zu machen.“205 Chri­ stus habe durch seinen Tod das Himmelreich erkauft; Gott begehre allein unseren Glauben.206 Der Ort der Bewährung eines christlichen Ethos sei der Beruf; 207 nur das Geschäfte zu machen, erklären könnte. Ob der Student oder eine dritte Person, von der das Proömium stammen könnte, für den [Augsburger] Druck verantwortlich waren, ist unklar. Auch die Möglichkeit, dass es sich um einen fingierten ‚Fall‘ handelt, ist meines Erachtens nicht auszuschließen. 199   Sendbrief, wie Anm.  198, A 1v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  9. 200   Sendbrief, wie Anm.  198, A 2r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  10; hierauf nimmt auch der Schluss Bezug, wo der Student mitteilt, die sächsischen Bauern schössen aufeinander nur mit „pyer kandel unnd mit knack würsten“. A [6]r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  17. 201   Sendbrief, wie Anm.  198, A [5]r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  16. 202   Sendbrief, wie Anm.  198, A [5]r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  16. 203   Sendbrief, wie Anm.  198, A 1v; A [5]v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  9 ; 16 f. 204   Sendbrief, wie Anm.  198, A [5]v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  16 f. 205   Sendbrief, wie Anm.  198, A 3r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  12. 206   Sendbrief, wie Anm.  198, A 3r/v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  12 f. 207   „Dann so wir zu äcker gond, oder sunnst im schwaysß getrüwhych arbaitent, auch mit kindern seegen, wüschen und weschen oder was arbait es ist ec., Die seind vil unnd Tausendt mal besser, Dann so ain münnich oder Nunn Sibentzig Jar inn aym kloster gestecktt ist.“ Sendbrief, wie Anm.  198, A 3v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  13.

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§  7  Aktionale Aneignungen

sei ein ‚gutes Werk‘, aus dem für unsere Nächsten, „de[n] armenn“208, den Bedürftigen, den wahren „hailigen“209, Nutzen erwachse: „gee ainer nuu in seines nachpauw­ ren hauwß / Sech, was im feel unnd annlyg, helff im, radtt im unnd diene im. Dysß hayßt dye geschryfft die hailygenn haymgesucht unnd geerdt. ec.“210 Die Mutter solle sich keine Sorgen machen, einsehen, dass „wir allein durch den glauwben, vertrauwen und zuversyhct zu Gott [.  .  .] auß lautter Genad und Barmhertzigkait Gottes selig werdennt“211, sich mit dem von Luther übersetzten Neuen Testament212 beschäftigen und den Vater dazu bringen, dass „er mich lenger zu Wittenberg ließ“213. Im Spiegel eines publizistischen Dokuments wie dem Sendbrief eines jungen Studenten konnte es keinen besseren Ort für die Orientierung in den elementaren religiösen und ethischen Lebensfragen und zur Aufzucht verantwortungsvoller junger Mitbürger geben als die Universität Wittenberg. Aufrührerische Eskapaden waren von einem frommen Studenten, wie jenem, der hier sprach, nicht zu befürchten. Auch in dem Dialog .  .  . zwischen einem Vater und Sohn die Lehre Martin Luthers .  .  . belangend214 ging es darum, wie ein nach Hause zurückkehrender Wittenberger Student die neu gewonnenen religiös-theologischen Einsichten gegenüber seinem familiären Herkunftsmilieu kommunizierte. An dem Dialog fällt auf, dass einerseits dem Allgemeinen Priestertum eine rezeptionstheoretische Schlüsselrolle beim Zugang zur Wittenberger Theologie zugeschrieben wird215, andererseits die integrations208

  Sendbrief, wie Anm.  198, A 4r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  13.   Sendbrief, wie Anm.  198, A 4r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  14. 210   Sendbrief, wie Anm.  198, A 4v = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  15. 211   Sendbrief, wie Anm.  198, A [5]r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  15. 212   Sendbrief, wie Anm.  198, A [6]r = Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  17. 213  Ebd. 214   Ein Dialogus ader Gespräch zwischen einem Vater und Sohn, die Lehre Martini Luthers belangende, Erfurt, Michael Buchfürer [1523]; VD 16 D 1331; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  701, S.  303; ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  25–47; zum bibliografischen bzw. publizistischen Kontext vgl. auch: Alejandro Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachgebiet veröffentlichten Dialogflugschriften, in: ARG 88, 1997, S.  77–117, hier: 107 Nr.  79. 215   „Son. du [sc. Vater] tregst ungezweiffelt woll wissen, den leyen behagett es [sc. die neue Lehre aus Wittenberg] eins teyls wol, Aber den pfaffen und geystlichen [.  .  .], die ire beuch mit dem blut und schweiß der armen schefflin in guten tagen gefült haben, gefellet es eins teils, besundern den reichen Thumhern und Epten ec. nit wol [.  .  .].“ Auf den Einwand des Vaters, er solle sich vor den Geistlichen in Acht nehmen, legt der Sohn sein Bekenntnis zum Allgemeinen Priestertum ab: „O ho, lieber vater, ich bin auch ein pryester und geweihet. Also sagt Christus Math. 5 [V. 13]: Ir seyt das saltz der erden ec. Er sagt nit, die pfaffen sein es [.  .  .]. [.  .  .] Du hast gehört, das wir alle pfaffen sein. Nun weil du nit wilt, so hör: waren die Apostel auch pfaffen, zu denen es Christus ir meyster sagt, und auch zu uns? sagt doch petrus 1. Petri 2 [V. 9]: Ir seit ein königlich priesterthumb, vernim: durch den glauben in Jesum. das sagt er yn allen Christgleubigen menschen.“ Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  25 f.; vgl. 35. Ein vergleichbarer Dialog (fehlt in Zorzins Bibliografie, wie Anm.  214) zwischen Vater und Sohn, der in zwei Ausgaben 1522/3 nachgewiesen ist, kam in Straßburg unter dem Pseudonym Stephan von Büllheim heraus: Ein brüderliche Warnung an Meister Mathis .  .  . [Straßburg, Knobloch d. Ä. 1522/3]; VD 16 B 9137; Edition und Druckbeschreibung von Marc Lienhard, Mentalité populaire, gens d’église et mouvement évangélique à Strasburg en 1522–1523, in: Marijn de Kroon/ders. (Hg.), Horizons Européens de la Réforme en Alsace [Société Savante d’Alsace et des Régions de l’Est, Collection Grandes Publications 17], Straßburg 1980, 209

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und ordnungsstiftenden Tendenzen und sittlich förderlichen Momente, die von Luther und der „Christlichen stadt Wittenberg“216 ausgehen, betont werden. Die Rechtfertigung sola fide bildet das religiöse Zentrum dessen, was der in der Bibellektüre versierte Wittenberger Student in seinen angestammten Lebenskreis hineinträgt.217 Als der Vater von der Wahrheit der reformatorischen Botschaft überzeugt ist, seine Ablassbriefe, die er sich früher vom Munde abgespart hatte, verbrennt218, „gut Martinisch“219 sein will, aber auch vor Gewaltfantasien gegenüber der Klerisei, die ihn betrogen habe, nicht zurückschreckt220, besticht der Sohn durch Besonnenheit und Gewaltverzicht: „nit Martinisch ader Petrisch“, sondern „Cristlich“221 solle man sein; dem Ablassbetrüger solle der Vater vergeben „als einem Bruder, diweil wir doch alle brüder sein und ein Vatter haben im hiemel“222 ; und selbst bei Eck, der Luther verkauft habe wie weiland Judas Christus223 und dem der Vater verständlicherweise mit einem „Knüttel“ „ablas und lon uff die platten“224 geben will, bleibt der Sohn maßvoll und gewaltfrei: „Mit schlagen brengt man keynen zum glauben und zum wort gottis. es habens die apostel und Christus nit gethan. doctor Martinus schreibt auch, das der endechrist an [= ohne] schwert sol uberwunden werden.“225

S.  37–62, hier: 40–55; vgl. auch: Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  103. Ein wesentlicher Differenzpunkt der hier behandelten Dialoge besteht darin, dass der Sohn in dem in der [Buchfürerschen] Offizin erschienenen Dialog der besonnen Agierende ist; im [Straßburger] Dialog überzeugt er den Vater von der moralischen Minderwertigkeit des Klerus (Lienhard, a.a.O., S.  45 f.; 47; 49), im Erfurter Dialog bildet das antiklerikale Credo des Vaters den Anknüpfungspunkt für die religiöse Überzeugungsarbeit, die materialiter viel stärker rechtfertigungstheologisch zentriert ist als bei der BüllheimSchrift. 216   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  25; vgl. 36 f.: „Vatt[er]. Du hast vor Wittenberg ein Cristlich stat genannt. Es sagen aber etlich leut und abgünstiger Martini, das in noch geschehen wird wie Sodoma und Gomorra [.  .  .]. Sun. [.  .  .] Es wurt aber der stat nit geschehen, dan da würt das wort Christi gepredigt und gelernt mit seyner hilff.“ Vgl. zur Armenfürsorge a.a.O., S.  44. 217   Vgl. nur den Satz des Sohnes: „Das ist gewis war, der glaub macht alleyn selig, wie Pau. zun Röm. am 5. [V. 1] und Gal. am 2. [V. 16]. [.  .  .] Alßa stet Math. am 17. [V. 5]: das ist mein geliebter sun, den höret! Da sagt got nit: höret den münchen ader den humanisten [.  .  .].“ Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  29. Der Sohn empfiehlt dem Vater, eine von Luther übersetzte Bibel zu kaufen, a.a.O., S.  34; 41. 218   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  32 f. 219   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  30. 220   „Kemen sie [sc. Ablassverkäufer] mir mer für mein thür und schünden mir armen man mein geldt ab, ich wolt in ablaß geben mitt einem guten trumscheytt, dasman sie in alttenn schüsselkörben heym must tragen.“ Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  33; vgl. 39. 221   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  30. 222   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  33. 223   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  39. 224  Ebd. 225   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  39. Der Vater kann dies aus seinem lebensweltlichen Kontext, der Landwirtschaft, bestätigen: „solchs hab ich auch an meinen knechten erfunden: je mer man jn flucht, ye weniger sie ein dinck thun.“ Ebd.

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§  7  Aktionale Aneignungen

Die Kompromissbereitschaft des tendenziell antiklerikalen Textes226 endet allerdings, wenn es gilt, den Laien durch die Predigt den Zugang zum Heil zu sichern. Weigern sich die Pfaffen zu predigen, „so müssen bald die bawerenn auff trethen und predigen“227, meint der Vater. Und der Wittenberger Student bestätigt dies: „wöllen die pfaffen des nitt thun, so müssen wir selbst predigen ec. dan got sandt nit grosse hern und bischoff aus, sein wort zu predigen. Hastu doch gehört, das wir priester seyn und absolvirn mügen. kann doch got gleich so wol in einem armenn pflughaltter sein Evangelium außbreitten als in münchen und pfaffen.“228 Auf der Basis des Allgemeinen Priestertums ergibt sich im literarischen Horizont eines dialogischen Imaginariums die enge, handlungsorientierte und konfliktfreie Verbindung zwischen der Lebenswelt des ‚gemeinen Mannes‘ und einem Wittenberger Studenten, für die sich in der Realität nur wenige Beispiele finden lassen. Was im Sendbrief des Wittenberger Studenten an seine Mutter als Möglichkeit erscheint, ist im Dialog von Vater und Sohn Wirklichkeit geworden: die werbende Agitation eines an der Leucorea ausgebildeten jungen Mannes zugunsten des reformatorischen Evangeliums in einer universitätsfernen Lebenswelt. Damit war eine neue Aufgabenstellung für die reformatorisch ausgerichtete Universität definiert und die studentische Reformation definitiv zu einem Moment der Reformation als solcher geworden.229

226   „ich erkenne, daß dye pfaffen itzunder nit mer den auff iren nutz predigen, es gehe der selen, wie es wil, sie verstehen und lesen die schrifft nit [.  .  .].“ Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  26 f.; vgl. 40 u. ö. 227   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  35. 228   Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  35 f. 229   Die neuartige Funktion der Wittenberger Universität, eine reformatorisch ausgebildete geistliche Führungselite von Pastoren zu rekrutieren, führte sukzessive dazu, dass sich auch entsprechende Personen, die eine Stellung suchten, im Umkreis der Universität Wittenberg aufhielten und prominente Theologen wie besonders Luther und Melanchthon, die auch von potentiellen Anstellungsträgern kontaktiert wurden, um entsprechende Vermittlungsleistungen baten. Diese exzeptionelle Rolle als ‚Jobbörse‘, die Wittenberg dann für das frühneuzeitliche Universitätswesen des Luthertums übernehmen sollte (vgl. exemplarisch: Kaufmann, Universität, wie Anm.  92), begann sich bereits in den 1520er Jahren abzuzeichnen, als auch ‚gestandene‘ Personen für kürzere oder längere Zeit hierher kamen oder kommen wollten, deren eigentliche ‚Studienzeit‘ bereits seit längerem zurücklag, so etwa Bugenhagen (s. oben Anm.  161), Johann Fritzhans (vgl. Moeller/Stackmann, Predigten, wie Anm.  101, S.  75 f.), Paul Speratus (a.a.O., S.  155 f.), Johann Drach (a.a.O., S.  51), Eberlin von Günzburg (vgl. Christian Peters, Johann Eberlin von Günzburg [QFRG 60], Gütersloh 1994, S.  52 ff.), Gottschalck Kruse (vgl. Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformation [QFRG 79], Gütersloh 2007, S.  215 f.), Wilhelm Nesen (vgl. Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, wie Anm.  42, S.  74), oder – um nur zwei zu nennen, die dies planten, aber schließlich aus unerwarteten Gründen nicht realisieren konnten: Ambrosius Blarer (vgl. Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, wie Anm.  162, Nr.  41, S.  47–49; 50) und Martin Bucer (vgl. Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit [1491–1551], 2. erw. und überarb. Aufl. Münster 2009, S.  53; BDS 1, S.  71; 180,31 f.).

11.  Studenten als Akteure der reformatorischen Buchproduktion

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11.  Studenten als Akteure der reformatorischen Buchproduktion Dass Studenten als Akteure in der reformatorischen Buchproduktion – als Textlieferanten, Autoren, Zwischenträger, Herausgeber, Korrektoren oder Lektoren – tätig geworden sind, dürfte aufs Ganze gesehen häufiger der Fall gewesen sein, als es sich tatsächlich belegen lässt. Immerhin wissen wir freilich, dass die Valetpredigt Heinrich von Kettenbachs, die er in Ulm zu halten gehindert worden war, durch Vermittlung eines „erbern studenten“230, dem er sie geschenkt hatte, in den Druck gelangt sein soll, dass der Augsburger Drucker Silvan Otmar231 eine von ihm im Erstdruck veröffentlichte Predigt Luthers von einem Wittenberger Studenten erhalten hatte232, dass eine Vorlesung Bugenhagens aufgrund unautorisierter studentischer Hörer­ mitschriften in Nürnberg erschien233 oder dass ein privater Trostbrief Luthers an einen österreichischen Adeligen namens Bartholomäus von Starhemberg mutmaßlich durch einen „Wittenberger Studenten“234 der typografischen Reproduktion zugeführt worden war. Dass einzelne Studenten etwa in Wittenberg die dortige Buchproduktion sensibel verfolgten, Korrespondenzpartner darüber informierten und auch die Zusendung entsprechender Neuerscheinungen veranlassten bzw. betrieben235, versteht sich von 230   Ein Sermon bruoder Heinrichs von Kettenbach zu der löblichen Stadt Ulm .  .  ., Titelblatt; drei Ausgaben, Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  104 f.; VD 16 K 826–828; bibliografische Aufnahmen des Druckes [Bamberg, Georg Erlinger 1523]: VD 16 K 827, in: Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2032, S.  241; Ex. MF 16 Nr.  68; zu Kettenbachs Biografie vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  227–243; DBETh 1, 2005, S.  758 f.; RGG4, Bd.  4, 2001, Sp.  942; BBKL 3, 1992, Sp.  1425–1427. Die von Karl Schottenloher differenziert begründete These, bei „Heinrich von Kettenbach“ und „Johann Locher von München“ (vgl. etwa: Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2229–2237, S.  322–326) handle es sich um Pseudonyme eines ehemaligen Mönchs namens [Johann] Rot[/t] (Der Münchner Buchdrucker Hans Schobser 1500–1530, München 1925, S.  109–142), hat – soweit ich sehe – in der weiteren Forschung keine angemessene Beachtung gefunden. Angesichts der publizistischen Bedeutung der unter den genannten Namen verbreiteten Schriften (zu Kettenbach s. auch: Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, S.  24; 59; 61) bzw. der prominenten Anklage gegen die sozialen Bedrückungen in Lochers zweitem Karsthans-Sendbrief (vgl. Adolf Laube/Hans Werner Seiffert [Hg.], Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin 1975, S.  99–108; 580 f.) von 1524 besteht hier weiterer Klärungsbedarf. 231  Vgl. Reske, Buchdrucker, wie Anm.  113, S.  32 f. 232   Susanne bei der Wieden, Luthers Predigten des Jahres 1522 [AWA 7], Köln, Weimar, Wien 1999, S.  423. 233   Das galt von dem Paulusbriefkommentar, der im Frühjahr 1524 bei Johannes Petreius in Nürnberg gedruckt wurde, vgl. VD 16 B 9233; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  137, S.  385. 234  So bei der Wieden, Predigten, wie Anm.  232, S.  430 Anm.  79 zu „Vinzenz Wernstdorffer“, über den O. Brenner und O. Reichert, die Editoren des Textes (in: WA 18, S.  1–7, hier: 1 f.), allerdings nichts in Erfahrung gebracht haben. In der Wittenberger Matrikel findet sich der Familienname häufiger, ein „Bartholomäus“ aber nicht, vgl. Förstemann, Album, wie Anm.  81. Der entsprechende Druck kam bei M. Ramminger in Augsburg heraus, vgl. Benzing/Claus, Nr.  1993; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2655, S.  487. 235   Vgl. etwa Ulscenius an Capito 16.  11. 1521, in: Müller, Bewegung, wie Anm.  17, S.  70; vgl. Rummel, Correspondence, Bd.  1, wie Anm.  148, S.  178; 30.  11. 1521, in: Müller, a.a.O., S.  71 f.; Burer an B. Rhenanus, in: Horawitz/Hartfelder, Briefwechsel, wie Anm.  161, S.  281 (30.  6. 1521); S.  295 (19.  10. 1521); S.  304 (27.  3. 1522); Thomas Blarer, in: Schieß, Briefwechsel, Bd.  1, wie

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§  7  Aktionale Aneignungen

selbst. Hinsichtlich der Intensität seines editorischen und publizistischen Engagements stellt freilich Ulrich Hugwald, der erste namentlich bekannte reformatorische Publizist schweizerischer Herkunft, eine Ausnahmeerscheinung unter den Studenten der frühen Reformationszeit dar.

12.  Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise In Hinblick auf seine Biografie236 ist für unseren Zusammenhang Folgendes von Interesse: Wohl 1496 in Wilen bei Bischofszell im Thurgau geboren, hatte sich Ulrich Hugwald im Sommersemester 1519 an der Universität Basel immatrikuliert („Udalrichus Húgewaldus de Wyle in Durgaúe“); 237 von dem lateinischen Zunahmen „MuAnm.  162, S.  33 f. Auch Hugwalds Briefe an Vadian sind mit Informationen vor allem über den Basler Büchermarkt durchsetzt und gelegentlich mit der Zusendung entsprechender Drucke verbunden, vgl. nur: Emil Arbenz (Hg.), Die Vadianische Briefsammlung der Stiftsbibliothek St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 27], St. Gallen 1897, S.  245 [Übersendung eines Druckexemplars von Melanchthons Loci]; 246 f. [Holbeins Hercules Germanicus, s. unten II, §  8 Anm.  101 ff.]; 248; 252 / 255 [Luthers Übersetzung des NT]; S.  259 / 263 [Wessel-Ausgabe, s. unten Anm.  251]; 262 [Hutten-Erasmus – Kontroverse]. Bei einzelnen Druckern – etwa Andreas Cratander (vgl. Reske, Buchdrucker, wie Anm.  113, S.  67) und Valentin Curio (a.a.O., S.  69) in Basel oder Johannes Petreius in Nürnberg (a.a.O., S.  667) – lässt sich ein ‚Einstieg‘ in das Druckgewerbe über ein Studium nachweisen. Dieser ‚Karrieretypus‘ unterscheidet sich von den Rekrutierungsprozessen des Handwerks insofern, als die Verbindung zum Buch in diesen Fällen wohl zunächst über ein inhaltliches Interesse generiert wurde. 236  Als wichtigste Arbeiten sind zu nennen: J[ohann] G[eorg] Kreis, Das Leben und die Schriften des Thurgauers Ulrich Hugwald, genannt Mutius, in: Thurgauische Beiträge zur Vaterländischen Geschichte 41, 1901, S.  140–169; 42, 1902, S.  4 –75; Otto Clemen, Der Wiedertäufer U. Hugwald, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte aus Büchern und Handschriften der Zwickauer Ratsschulbibliothek, Bd.  2, Berlin 1902, S.  45–85; weitere Hinweise auch unten III, §  13, bes. Anm.  93; Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  257 Anm.  136 [Lit.]; sowie: Frank Hieronymus, 1488 Petri Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Basler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke, Zwei Halbbde., Basel 1997, passim; ders., Historisches Lexikon der Schweiz, s. v. Hugwald (http.//www. hls-dhs-drs.ch/textes/d/D38471.php); MennLex 2, 1937, S.  363 f. Sofern in Bezug auf die einzelnen Fakten seiner Biografie in der einschlägigen Literatur Übereinstimmung besteht, wird auf Einzelnachweise im Folgenden verzichtet. Die UB Basel verfügt über eine Reihe von Briefen Hugwalds an Bonifacius (aus den 1530er Jahren) und Basilius (aus den 1550er Jahren) Amerbach, die in den einschlägigen Bänden der Amerbachkorrespondenz ediert sind (ab Bd.  5). Auch in den letzten Halbbänden der Amerbachkorrespondenz (11/1; 11/2, Basel 2010) sind Hugwaldbriefe enthalten. Außerdem befinden sich in der UB Basel Briefe des Sohnes Simon Oswald Hugwald, später Stadtarzt von Luzern, und der Frau Ulrich Hugwalds namens Rosina (verh. mit Hugwald seit ca. 1525). Das Heiratsvorhaben, an deren Ende die wohl nicht recht glückliche (Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  242) Verbindung mit Rosina stand, durchzieht Hugwalds Korrespondenz mit Vadian, den er als Ehevermittler in Anspruch nahm. Zu einer Hugwald zugeschriebenen Disputation über den Timotheus-Brief, die in die frühen 1540er Jahre gehören dürfte (UB Basel Ki. Ar. MScr. 23a, Nr.  73, fol.  184 f.), s. unten Anm.  255; 329. 237   Hans Georg Wackernagel (Hg.), Die Matrikeln der Universität Basel, Bd.  1: 1460–1529, Basel 1951, S.  340, Nr.  10; Bd.  2 : 1532/3–1600/01, Basel 1956, S.  68, Nr.  27 (Simon Oswald Hugwald, der Sohn Ulrichs [geb. 1537]: Nachweis seiner Verzeichnung im Basler Taufregister).

12.  Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise

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tius“, der als Latinisierung eines Familiennamens „Mutz“ oder „Mutzen“ gedeutet wird238, scheint Hugwald erst in einer späteren Lebensphase, eindeutig zuerst 1539 bei der Veröffentlichung eines Geschichtswerkes über die Ursprünge der Germanen239, öffentlichen Gebrauch gemacht zu haben.240 Ob der ‚reife‘ Hugwald dadurch unmöglich machen wollte, seine neue Identität als Schulmann und artistischer Lehrer mit der Erinnerung an seine frühere Publizistik und an seine seit ca. 1524 eingetretene radikal reformatorisch-täuferische Orientierung zu verbinden, ist ungewiss. Dies gilt auch für die Frage, ob er mit den Adepten der Bischofszeller Stiftsschule Ludwig Hätzer (um 1500 bis 1529) 241 und Theodor Bibliander (Buchmann [1505– 1564]) 242 persönlich bekannt war; in Bezug auf den Erstgenannten, der zwischen 1517/18 und 1520 in Basel studierte243, ist dies allerdings sehr wahrscheinlich. Ob Hugwald vor oder gegebenenfalls nach seiner Basler Immatrikulation beinahe alle Teile Deutschlands zum Zweck des Studium durchreist hat, wie er gelegentlich mitteilt, ist nicht eindeutig zu entscheiden.244 Sicher allerdings ist, dass er 1520 mit einem 238

  So bei Kreis, Leben, wie Anm.  236, 41, 1901, S.  166; vgl. 164 (Beispiele in Schönenberg).  Vgl. dazu den knappen, aber instruktiven Katalogbeitrag von Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Bd.  1, Nr.  131, S.  340 f.; K. E. Hermann Müller, Die Chronik des Baseler Professors Huldreich Mutius, Prenzlau 1882 (zu den eher spärlichen persönlichen Akzenten, in denen Mutius über die von ihm kompilierten Quellen hinausgeht, s. besonders S.  27–37). 240   So schon Kreis, Leben, wie Anm.  236, 41, 1901, S.  166. Der in der Literatur immer wieder erwähnte theologische Matrikeleintrag (fol.  43, zit. bei Rudolf Themmen, Die Geschichte der Universität Basel 1532–1632, Basel 1889, S.  352; danach bei Kreis, a.a.O., S.  165; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, S.  331) dürfte nicht hinter das Jahr 1539 zurückgehen. „Mutius Hugvaldus“ begegnet bereits als Unterschrift in einem Brief an Vadian [ca. erste Jahreshälfte 1523], Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  256. 241  Vgl. J. F. Gerhard Goeters, Ludwig Hätzer (ca. 1500 bis 1529). Spiritualist und Antitrinitarier [QFRG 25], Gütersloh 1957, S.  10 f. mit Hinweisen auf weitere prominentere Adepten der renommierten Schule am Chorherrenstift St. Pelagius (s. dazu: Albert Scheiwiler, Geschichte des Chorstiftes St. Pelagius im Mittelalter, Frauenfeld 1918, S.  98 f.; zu Hätzer zuletzt: Alejandro Zorzin, Art. Hätzer, Ludwig, in: MennLex 5 [Lit.]). Was Hätzer und Hugwald überdies verbindet, ist der für beide nachweisbare Kontakt zu dem Basler Theologieprofessor (bis 1520) Wolfgang F. Capito (vgl. zu Hugwald: Dialogus, wie Anm.  244, A 2v; zu Hätzer, der sich, anknüpfend an ihre Basler Bekanntschaft, gegen Ende 1526 / Anfang 1527 ca. einen Monat lang in Capitos Haus in Straßburg aufhielt, vgl. Goeters, a.a.O., S.  87 ff. 242  Vgl. über ihn zuletzt: Christine Christ-von Wedel (Hg.), Theodor Bibliander (1505– 1564): Ein Thurgauer im gelehrten Zürich der Reformationszeit, Zürich 2005 (zu Bischofszell und der Stiftsschule St. Pelagius, S.  20–23 [der Schulmeister war im 16. Jahrhundert ein Laie, a.a.O., S.  20]); Christian Moser, Theodor Bibliander (1505–1564): Annotierte Bibliographie der gedruckten Werke [ZBRG 27], Zürich 2009. 243   Goeters, Hätzer, wie Anm.  241, S.  11–14; Wackernagel, Matrikeln, Bd.  1, wie Anm.  237, S.  336. 244   Um seiner besonderen Wertschätzung der schweizerischen Heimat Ausdruck zu verleihen, formulierte Hugwald in einer im Sommer 1520 publizierten Schrift: „Omnis enim humanitas ex toto mundo ad vos [sc. die Schweizer] confugisse videtur, & si usque terrarum scintilla pietatis superest in montibus apud vos est. Ego ex mente loquor, testor deum, qui omnium corda novit. Ubi ubi ego unquam fui, peragravi autem omnes fere Germaniae partes studiorum gratia (Germania autem omnibus nationibus, sine controversia, humanitatis, probitatis, antiquae simplicitatis laudem praeripit) Helvetia ad illas est, quod aureum illud seculum ad lapideum nostrum.“ Udalrichi Hugvaldi adulescentis Dialogus, Studiorum suorum prooemium, et militiae initium. [Basel, A. Petri] 239

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§  7  Aktionale Aneignungen

Kommilitonen zu Studienzwecken nach Sachsen unterwegs war, dort einen Überfall erlitt und seiner gesamten Habe verlustig ging.245 Dass sich die beiden studentischen 1520; VD 16 H 5859; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  6151, S.  79; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, S.  331; Ex. MF 930 Nr.  2314, S.  15 [aus Hugwalds Epistola ad Helveticos, dat. auf den 29.  7. 1520, S.  15]. Ob Hugwalds Bekanntschaft mit Vadian, den er als seinen Lehrer (Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  247; 260; 266) anredet bzw. als dessen Schüler er sich bezeichnet (a.a.O., S.  246; 250; 259; 263 [discipulus]; auch als ‚Sklave‘ [mancipium, S.  249], aber auch als ‚Bruder [in Christo]‘ a.a.O., S.  259; 263), etwa von einer frühen Wiener Studienzeit herrührt, oder erst in Vadians neuerliche St. Gallener Zeit (Rückkehr aus Wien gemeinsam mit Konrad Grebel im Juni 1518, vgl. Werner Näf, Vadian und seine Stadt St. Gallen, St. Gallen 1957, Bd.  2, S.  57 ff.) zu datieren ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Konrad Grebel schenkte Vadian übrigens von Zürich aus ein Exemplar von Hugwalds Dialogus, vgl. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  266 mit Anm.  180. Hugwalds Dialogus war mit einem seinen christlichen Geist preisenden Gruß eines „Io. Bruningus Rhetus“ (A 1v; vgl. Wackernagel, Matrikeln, wie Anm.  237, S.  305, Nr.  26 [?]) versehen. 245   Dieser Bericht ist in den Kontext von antirömischer Polemik gestellt; die römische Kirche raubte dem Menschen die irdische Habe, könne Hugwald aber nicht an seinem Engagement für geistige Zwecke und moralische Inhalte hindern: „Quare me nec Chimerae spiritus igneae, nec, si resurgat, Centimanus gigas, divellet unquam ab animi mei proposito, hoc est, a veritate, a studio & charitate in patriam. Nec ullo modo, quod ad me privatim attinet, a Christo discedam, animae salutem deserens. Superiori anno cum ego & alius quidam, tum mihi in itinere comes, & in literarum studiis commilito. Saxoniam petituri, indissemus in latrones, dataque esset nobis optio, vel omnia ultro linguere, vel vitam, maluit ille, repugnando, sine ulla spe vincendi, vitam perdere quam pecuniam eis dare, ego praeferens pecuniae vitam malui omnia, pecuniam, libros, vestimenta, amittere quam vitam: Quanta nunc esset insania latronibus illis vitam potius dare quam corpus?“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam Udalrici Hugvaldi epistola [Basel, A. Petri]; VD 16 H 5858; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1650, S.  79; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  129, S.  338 f.; Ex. MF 50 Nr.  139, B 2v. Der von Hugwald abgefasste Brief an die Zürcher ist „Ex Schonenberga. Anno MD.XXI.“ [C 2r] datiert; der Vorrede des Adam Petri-Mitarbeiters und späteren Nürnberger Druckers Johannes Peterus (Petreius / Petri; vgl. Reske, Buchdrucker, wie Anm.  113, S.  667 f.) ist zu entnehmen, dass Hugwald ihm aus Anlass einer Reise in die [thurgauische] Heimat Bücher und Manuskripte zur Aufbewahrung übergeben hatte, unter denen er den Brief an die Zürcher entdeckte und als publikationswürdig einstufte. Auch Hugwalds Vorrede zum im März 1521 erschienenen ersten Basler Petri-Druck der Lutherschen Operationes in Psalmos ist „Ex Schonenberga“ und aufs Jahr 1521 datiert (vgl. Gerhard Hammer, D. Martin Luthers Operationes in Psalmos 1519–1521 Teil  I [AWA 1], Köln, Wien 1991, S.  581,19 f.). Sollte Petreius’ Information zutreffend sein, müsste sich Hugwald 1521 mehrfach zwischen dem bei Bischofszell gelegenen Schönenberg bzw. Schönberg und Basel hin- und herbewegt haben. Denn die im heimatlichen Schön[en]berg 1521 abgefasste Epistola an die Zürcher müsste ja eben dort bereits geschrieben worden sein, ehe sie Hugwald mitsamt seinem sonstigen Besitz an Petreius übergab, um erneut nach Schönberg zurückzukehren. Auch im September 1520 hielt sich Hugwald angeblich in Schön[en]berg auf, vgl. Tres epistolae, wie Anm.  247, A 4r; ein weiterer Brief, a.a.O., A [6]v ist „Ex Schoneberga, Anno M. D. XXI.“ datiert. Da Hugwalds Brief an die Zürcher eine explizite Parteinahme für Luther enthält (Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, A 4v) – genauso wie seine kämpferische Vorrede zu den Operationes in Psalmos –, scheint es mir kaum vorstellbar, dass eine solche für einen namentlich gekennzeichneten Autor eminent gefährdende Publikation von einem befreundeten ‚Kollegen‘ in der Offizin Adam Petris ohne Zustimmung des Autors, also Hugwalds, erfolgt sein sollte. Die Vorrede Johannes Petreius’ dürfte – ähnlich dem nicht namentlich gekennzeichneten Nachwort Adam Petris im Dialogus, wie Anm.  244, S.  77 f. – die Funktion gehabt haben, Hugwald bei seiner kühnen Tat einer namentlich gekennzeichneten literarischen Parteinahme für Luther Unterstützung zuteil werden zu lassen. Am 30. Juni 1520 wurde Johannes Petri übrigens in einem Brief Burers an Rhenanus erwähnt; danach kehrte er mit neuerschienenen „libelli“ aus Wittenberg nach Basel zurück (Horawitz/Hartfelder, Briefwechsel, wie Anm.  161, S.  281). Wie Burer sah sich auch Hugwald als Schüler Rhenans, dem er

12.  Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise

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Reisenden, die auch buchgewerbliche Interessen verfolgt haben dürften, nach Wittenberg zu begeben beabsichtigten und es vielleicht sogar erreichten, besitzt natürlich eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Nach dieser Reise ist als nächstes Datum in Hugwalds Biografie gesichert, dass er Ende Juli 1520 einen Brief an die Schweizer schrieb, der als Vorrede seiner im September 1520 bei [Adam Petri] in Basel gedruckten Erstlingsschrift, dem ‚Vorspiel seiner Bemühungen und dem Auftakt seines Kampfes‘ (Studiorum suorum prooemium, et militiae initium) 246, einem Dialog, vorangestellt war. Bis Juni 1522 erschienen bei Petri vier weitere Schriften Hugwalds; 247 außerdem ist er als Herausgeber von Exemplare einer Schrift dedizierte, vgl. Hammer, a.a.O., S.  265. In ähnlichen Zusammenhängen wie Johannes Petreius, d. h. als Akquisitor neuer, insbesondere für Basler Nachdrucke geeigneter Texte, wird man sich wohl auch Hugwald vorzustellen haben. Bei der Beurteilung der ‚Authentizität‘ der Orts- und Zeitangaben der Hugwaldtexte darf man nicht – wie in der bisherigen Forschung geschehen – außer Acht lassen, dass sämtliche Drucke Hugwalds ohne Hinweis auf die Petrische Offizin und den Verlagsort Basel erschienen sind. Aleander, der den Basler Druck der Operationes in Psalmos am 29.  3. 1521 kannte (vgl. Paul Kalkoff, Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstag 1521, Halle/S. 21897, S.  143 mit Anm.  1; Hammer, AWA 1, a.a.O., S.  243; 263), hob hervor, dass der „von Schönberg“ niederen Standes und nicht von Adel sei und haderte über dessen anti-römische Hasstiraden. 246   Vgl. den Titel des Dialogus, wie Anm.  244, A 1r; zur Datierung der Epistola s. Anm.  244; Dialogus, S.  77 der Erscheinungszeitpunkt: „Excudebatur A. D. XX. Mense Septembri.“ 247   Zunächst, vermutlich im Frühjahr 1521: Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245; sodann, wie der Brief Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, von Johannes Petreus hg., eine kleine Sammlung von drei Briefen, gleichfalls 1521: Tres eruditae Udalrici Hugvaldi epistolae, quarum ultimam legant qui hodie Euangelistas persequuntur, & caveant, ac lacessitus ad arma redeant .  .  . [Basel, A. Petri 1521]; VD 16 H 5862; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1653, S.  80; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  130, S.  339 f.; Ex. MF 806 Nr.  2026. Nach dem Vorwort des Johannes Peterus erfolgte die Herausgabe dieser drei Privatbriefe nur wenige Tage nach der Publikation des Briefes an die Zürcher Kirche (wie Anm.  245), der von guten und gelehrten Männern viel Zustimmung erfahren habe (A 1v). Bei den drei Adressaten der Briefe handelt es sich um Hieronymus Artholphus (A 2r–A 4r) aus Graubünden, der in Basel seit 1509/10 immatrikuliert war (vgl. Wackernagel, Matrikeln, wie Anm.  237, Bd.  1, S.  298, Nr.  8 [imm. WS 1509/10; 1513 M.A.; seit 1519 Schulmeister an der Münsterschule]) und „um 1520“ (Z 7, S.  216 Anm.  1; Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  69) eine Burse mit 20 Studenten leitete und vielleicht Hugwalds „Hausvater und Lehrer gewesen sein könnte“ (Hieronymus, 1488, a.a.O., S.  340), einen Freund namens M. Georgius Cradolphus (A 4r–A [6]r), einem wohl aus dem bei Schönenberg im Thurgau gelegenen Ort „Kradolf“ (Kreis, Hugwald, wie Anm.  236, 41, 1901, S.  164) stammenden Mann, der sich in Paris aufhielt und dort für die Ausbreitung der Lutherschen Ideen eintrat (A [5]v; s. Anm.  253), und Hugwalds Freund Ulrich Zinck, über den nichts Genaueres bekannt zu sein scheint (Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  263 Anm.  166; Clemen, a.a.O., S.  71). Die chronologische Abfolge der beiden letzten Schriften Hugwalds aus dem Jahr 1522 ist nicht eindeutig, da eine von Hugwald selbst herausgegebene Epistola keinen näheren Datierungshinweis enthält: Ad omnes qui Christum, seu regnum dei, ex animo quaerunt, Ulrichi Hugvaldi epistola. Anno M. D. XXII. [Basel, A. Petri] 1522; VD 16 H 5857; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1649, S.  78 f.; Hieronymus, a.a.O., Nr.  128, S.  337 f.; Ex. MF 509 Nr.  1325. Ich halte es für wahrscheinlich, dass dieser Brief vor folgendem auf Juni 1522 datierten Druck erschienen ist: Est tibi lector brevissimo compendio per Ulrichum Hugvaldum, unde hominum perditio, in quoque sit eorum salus. Quid verum, quidque mendax in religione nostra sit. Quod ego, si per quorundam virulentas linguas & per autorem liceret, divinarum literarum magnae partis αποκάλυψιν vocarem. [Basel, A. Petri] 1522; VD 16 H 5860; Köhler Bibl. Bd.  2, Nr.  1652, S.  79 f.; Druckerzuschreibung von mir, Th. K.; vgl. auch: Hieronymus, a.a.O., S.  338: „Ohne Angabe von Druckort und Drucker (der in diesem Fall zwar noch nicht eruiert werden

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§  7  Aktionale Aneignungen

Schriften Luthers248, Melanchthons249, Marcus Terentius Varos, Marcus Porcius Catos250 und Wessel Gansforts251 mit eigenen Beiträgen hervorgetreten. konnte, aber vom Druckmaterial her durchaus Petri sein könnte).“ Abdruck der Thesen als Beilage 2, in: Clemen, a.a.O., S.  77–85. Die Schrift ist mit einem Vorwort eines „Coccinius Doggius Theologus“ (A 1v) versehen (A 1v–A 2v), der mit dem aus Toggenburg stammenden Ulrich Köchli (immatrikuliert Basel 12.  10. 1521; Wackernagel, a.a.O., S.  348, Nr.  25) aus Lichtensteig zu identifizieren sein dürfte. 248   Außer den Operationes in Psalmos (umfassend: Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  257 ff.; passim; Edition der Vorrede a.a.O., S.  571–582; vgl. Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  98, S.  265–268; zur zweiten Ausgabe Petris: Nr.  99, S.  268–274) hat Hugwald 1521 Luthers Schrift gegen Ambrosius Catharinus im Juli [1521] (Benzing/Claus, Nr.  882; VD 16 L 3705; WA 7, S.  702 C; Hammer, AWA 1, S.  258; Hieronymus, a.a.O., Nr.  101, S.  274 f.; vgl. auch unten III, §  13, Anm.  99) mit einem Vorwort an einen Andreas Binder und einem an Johannes Petri gerichteten Nachwort Binders, aus dem hervorgeht, dass er einen an ihn gerichteten Brief Hugwalds zu dem Vorwort umgearbeitet hat (vgl. zu den Texten die Edition bzw. die Hinweise in Böcking, Bd.  4, S.  691 f.; Bd.  5, S.  511 f.), und die Tesseradecas consolatoria (Benzing/Claus, Nr.  596; WA 6, S.  101 E; Hieronymus, a.a.O., Nr.  127a, S.  333 f.; Hammer, a.a.O., S.  258) mit einer Widmungsvorrede an den Einsiedelner Klosterpfleger Diebold von Geroldseck publiziert. 249   Adversus furiosum Parisiensium theologastrorum decretum, Philippi Melanchthonis pro Luthero Apologia [Basel, A. Petri 1521]; WA 8, S.  261 C; VD 16 M 2432; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3255, S.  42; lat. Textedition: MSA 1, S.  141–162; dt.: WA 8, S.  295–312; Ex. MF 55 Nr.  154, C 4v–[C 6r] (Nachwort von Hugwald); zum historischen Kontext vgl. Johannes Schilling, Determinatio secunda almae facultatis Theologiae Parisiensis super apologiam Philippi Melanchthonis pro Luthero scriptam, 1521, in: Gerhard Hammer/Karl-Heinz zur Mühlen (Hg.), Lutheriana [AWA 5], Köln, Wien 1984, S.  351–375, bes. 351 f. In seinem Nachwort geißelte Hugwald die theologischen Gegner der Wittenberger scharf. In ihnen würden die Prophezeiungen der Schrift bezüglich der falschen Lehrer wahr. Ansonsten prangerte er die Verderbnis des Altarsakraments wegen des Kelchentzugs [C 4v] an. „Quid de caeteris sacramentis sit nescio, ubi est eorum fructus, fides?“ [C 5r]. Der Leser wird zu erkennen aufgefordert, dass die Sophisten die Christenheit von Christus wegführten; sie hätten die pietas christiana „in Idolatriam“ geändert (ebd.). Christus habe uns „sola fide“ (C 5v) vom Gesetz befreit, wie Hugwald mit einer Kette rechtfertigungstheologisch einschlägiger Bibelzitate beweist. Instruktiv ist Hugwalds Rekurs auf Tauler (s. auch Anm.  254) zur Explikation der Rechtfertigungslehre mittels leidender Nachfolge – ein Ansatz, der an Müntzer und Karlstadt erinnert: „Hic tibi [sc. der Leser] fortiter cum desparatione est pugnandum. Ibi enim sunt piorum illae pugnae, de quibus tam multa Taulerus.“ (C 5v). Eine Internalisierungstendenz wird in folgender Aussage erkennbar: „sic oportet primo arborem bonam esse & tunc simulatque deus virtutem in interiori nostro homine per spiritum suum corroboraverit, & Christum suum in nos per fidem posuerit, fructum feremus [.  .  .].“ [C 6r]. Nachdrücklich insistiert Hugwald auch auf den guten Früchten als notwendiger Folge des Glaubens: „Bona opera necessario fidem sequuntur, quod & testatur in Evangelio Christo. Quare suadeo, ut certam per bona opera facias vocationem tuam [.  .  .].“ Ebd. 250   M. Terentii Varronis, in omni literarum genere principis. III. de libri. M. Catonis .  .  . Lib. I. de rebus rusticis .  .  . Basileae apud Adamum Petri. Anno M. D. XXI. Octobri mense; VD 16 C 1579; VD 16 V 411; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  127, S.  333. Die mit „UL. HVG.“ gekennzeichnete Vorrede Hugwalds an die Leser ist a 2r–a 3v abgedruckt; Ex. SUB München A. lat. b 2057 {digit.}. Dieser Druck war es, auf den Myconius Zwingli hinwies (Z 7, S.  501,12 f.; dort nicht identifiziert), wahrnehmend, dass Hugwald sich gegen Erasmus wandte. Dies mag sich vielleicht auf die Kritik an christlichen Büchern über die Bibel hinaus oder auf das Bekenntnis zum Landleben beziehen, ist aber ansonsten nicht evident. 251   Farrago rerum Theologicarum uberima, doctissimo viro Vvesselo Groningensi autore, Basel, A. Petri, September 1522; VD 16 J 599; auch die Ausgabe A. Petri, Jan. 1523 (VD 16 J 601) besorgte Hugwald, vgl. zu den Einzelheiten: WA 10/2, S.  311–317; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  75 f., S.  231–233; Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  259; zur Wessel Gansfort-Rezeption in

12.  Ulrich Hugwald – ein studentischer Reformator: biographische Hinweise

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Auch in den kommenden beiden Jahren hat Hugwald seine Arbeit für die Petrische Druckerei fortgesetzt, auch wenn wohl seit Sommer 1522, also etwa dem Zeitpunkt der letzten eigenen Publikationen Hugwalds, Pläne bestanden, diese Tätigkeit einzustellen.252 In einzelnen Briefen trat er noch 1523 und 1524 als Mitarbeiter des Buchgewerbes in Erscheinung.253 Dass Hugwald auch mit Drucken beschäftigt war, in denen er keine heute noch erkennbaren Spuren hinterlassen zu haben scheint, versteht sich von selbst.254 der Reformation grundlegend: F[okke] Akkerman/G[erda] C. Huisman/A[rie] J[ohan] Vanderjagt (Hg.), Wessel Gansfort (1419–1489) [Brill’s Studies in Intellectual History 40], Leiden u. a. 1993, darin zur Basler Ausgabe besonders den Beitrag von Cornelis Augustijn: Wessel Gansfort’s rise to celebrity, S.  3 –22, bes. 14 ff. Luthers Vorrede (WA 10/2, S.  316 f.), in der er Wessel als ‚Vorläufer‘ seiner selbst entdeckte, wurde erstmals in der ersten Basler Ausgabe gedruckt. 252   In einem undatierten Brief an Vadian, den ich wegen des Bezuges zu der erst im September 1522 (s. vorige Anm.) erschienenen Wessel-Ausgabe mit Clemen (vgl. WA 10/2, S.  314; gegen Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  258) auf „Sommer 1522“ zu datieren für angemessen halte (s. unten Anm.  329), deutet Hugwald an, dass er im Herbst aus der Arbeit in der Petrischen Offizin auszuscheiden gedenke, dieses Ziel aber offenbar nicht mit Nachdruck verfolgte: „Hoc etiam significandum visum est: vereor ne me non possim ante autumnum ex hac extricare officina. Et ut verum fatear, non magnopere cupio.“ Arbenz, a.a.O., S.  259; vgl. zu weiteren Plänen, aufzuhören, weil Petri seinen Betrieb verkleinern wolle, a.a.O., S.  265. Dieser verzögerte Ausstieg war vor allem wegen der Heirats- und Landsiedelungspläne Hugwalds, in die Vadian involviert war, von besonderem Interesse, s. unten Anm.  257; 321. 253   Luthers Übersetzung des NT, Petri-Druck Dezember 1522, Arbenz, a.a.O., S.  252; Folio-Ausgabe desselben vom März 1523, a.a.O., S.  255; Kommentar Vadians bei Petri: a.a.O., S.  262. Den im März 1524 erschienenen Druck von Bugenhagens lateinischem Psalmenkommentar (VD 16 B 3137; Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  134, S.  355–359) und den im Frühjahr 1524 bei dem inzwischen in Nürnberg selbstständig gewordenen ehemaligen Mitarbeiter der Basler Offizin Adam Petris, Johannes Petreius, gedruckten Bugenhagenschen Pauluskommentar (s. oben, Anm.  233) hatte Hugwald an Jacques Lefèvre d’Étaples geschickt, der den ‚frater charissimus‘ daraufhin über Guil­ laume Farel grüßen ließ, vgl. A[imé] L[ouis] Herminjard, Correspondance des Réformateurs dans les pays de langue française, Tome 1, 1512–1526, Genf, Paris 1866, ND Nieuwkoop 1965, Nr.  103 (Lefèvre an Farel, 6.  7. 1524), S.  219–231, hier: 222 f.; vgl. 227 (Grüße an Hugwald, Oekolampad und Pellikan). Ihnen gilt der besondere Dank des großen französischen Humanisten: „Quam consolationem Spiritus ex literis tuis [sc. Farel], OEcolampadii, Pelycani, Hugaldi, et ex Germanicis libris concepi [Lefèvre] dicere haudquaquam possim, quia plane redolent Christianismum.“ A.a.O., S.  220; erste Grüße Lefèvres an Hugwald schon am 20.  4. 1524, vgl. Herminjard, a.a.O., Nr.  98, S.  209; vgl. auch Hammer, AWA 1, wie Amm.  245, S.  266 Anm.  179; Clemen, Hugwald, wie Anm. 235, S.  74; BAO 1, Nr.  203, S.  289–293, bes. 291 (Grüße von Lefèvre an Hugwald, Oktober 1524). 254   Zur von Hans-Georg Hofacker („Vom alten und nüen Gott, Glauben und Leer“. Untersuchungen zum Geschichtsverständnis und Epochenbewußtsein einer anonymen reformatorischen Flugschrift, in: Josef Nolte/Hella Tompert/Christof Windhorst [Hg.], Kontinuität und Umbruch [Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 2], Stuttgart 1978, S.  145–177, bes. 174 ff.) geäußerten These, Hugwald sei der Verfasser der genannten Flugschrift, s. unten III, §  13, Anm.  93. Dass Hugwald in seinem Nachwort zu Melanchthons Apologia (s. Anm.  249; vgl. Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, S.  334) auf Tauler verweist, könnte darauf hindeuten, dass er auf die beiden 1521 und 1522 für den Verleger Johann Rynman (vgl. Henrik Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption [QFRG 75], Gütersloh 2003, S.  38–41) hergestellten Taulerdrucke Petris (vgl. Hieronymus, 1488, wie Anm.  236, Nr.  56 f., S.  138–145) Einfluss genommen hat und etwa als Verfasser einer redaktionellen Zwischenbemerkung zur Nichtauthentizität einiger Predigten (abgedruckt bei Hieronymus, a.a.O., S.  142 [fol. CCXLIIv linke Spalte]) und einiger Glossen (a.a.O., S.  145) zu erwägen wäre.

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§  7  Aktionale Aneignungen

Ob Hugwald neben oder nach seiner Mitarbeit bei Petri als ‚Privatlehrer‘ wirkte, ist nicht ganz sicher zu entscheiden, aber doch wahrscheinlich.255 Am 10. Mai 1524 wurde er als „Ulrich Hugwald von Wil uss dem Turgouw, der trucker“ in Basel aktenkundig, weil er an diesem Tag gegen Urfehde aus dem Gefängnis freikam; dort hatte er gesessen, weil er „etwas fantasy an die kilchthur geslagen“256, sich also einer besonders bei Studenten beliebten Protestform bedient hatte. Eindeutig ist sodann, dass Hugwald in einer sich seit 1524/5 anschließenden Lebensphase seinen seit längerem propagierten Wechsel zur Ehe, zum einfachen Landleben und zu körperlicher Berufsarbeit vollzog. Ob dieser Lebensentschluss ursächlich mit seiner Hinwendung zum Täufertum verbunden war, wie es der späteren Historiografie erschien257, oder älteren Planungen und Lebensentwürfen Hugwalds folgte, dürfte in Ermangelung einschlägiger Quellenzeugnisse schwer zu entscheiden sein. Jedenfalls hat Hugwald dann als Kübler Behältnisse aus Tannen und Fichten hergestellt, sich später aber der Landwirtschaft zugewandt258, ohne freilich die Verbindung zur Stadt Basel völlig aufzugeben.

13.  Hugwalds radikalreformatorische Phase Durch Thomas Müntzers Bekenntnis vom 16. Mai 1525259 und einen Brief Johannes Oekolampads an Willibald Pirckheimer vom 21.  9. 1525260 ist gesichert, dass Hugwald 255   Gegenüber Vadian gibt Hugwald im Sommer 1522 (s. Anm.  252) zu erkennen, dass es „boni viri“ gäbe, die glaubten, „eorum pueros me posse aptos facere sacris concionibus vel certe foro.“ Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  259. Die Disputationen Hugwalds (vgl. Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 5r [hier erwähnt Hugwald eine nach Paris gesandte; vgl. auch: Est tibi lector, wie Anm.  247, sowie die Thesen zu Timotheus (wie Anm.  236; s. unten Anm.  329) deuten auf eine ‚semi-universitäre‘ theologische Lehrtätigkeit Hugwalds hin; s. dazu unten Anm.  329. 256   Emil Dürr, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd.  1: 1519 bis Juni 1525, Basel 1921, Nr.  223, S.  126; „fantasy“ bedeutet soviel wie „Trugbild“ oder „Gaukelei“, DWb 13, Sp.  1822. 257   In dem Werk Athenae Rauricae sive Catalogus Professorum Academiae Basiliensis ab a. 1460 ad a. 1778, Basel 1778, S.  265 f. findet sich eine in der Forschung in der Regel sehr positiv aufgenommene (vgl. bes. Kreis, Hugwald, wie Anm.  236, 41, 1901, S.  141 f.; Zitation des einschlägigen Passus in Böcking, Bd.  5, S.  512), älteres Material verarbeitende Kurzbiografie Hugwald-Mutius’, in der es zu dieser Lebensphase heißt: „Reformatae doctrinae favens atque adhaerens incidit in Anabaptistarum consortium, quorum fanaticis opinionibus seductus, longum vale literis dicere, et in sudore vultus pane vero vesci constituit; artem proin vasorum et abiete et pium conficiendorum didicit; ab ista vero arte post ad agriculturam transiit.“ Ebd. 258   S. Anm.  257. 1526 soll Hugwald der „Spinnwetternzunft, zu der die Holzarbeiter gehörten“ (Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  267), beigetreten sein und in ihren Reihen 1531 am Zweiten Kappeler Krieg teilgenommen haben. 259   Ed. in Franz, Müntzer, Schriften und Briefe, wie Anm.  192, S.  543–549, hier: 544,11–19; Wieland Held/Siegfried Hoyer (Hg.), Quellen zu Thomas Müntzer [ThMA 3], Leipzig 2004, Nr.  175, S.  265–272, hier: 266,8–14; zum Kontext: Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen 31975, S.  630 ff.; Siegfried Bräuer, Die Überlieferung von Thomas Müntzers Gefangenschaftsaussagen, in: LuJ 73, 2006, S.  41–86. 260   Ed. in: BAO 1, Nr.  278, S.  389 f.; Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, Nr.  125, S.  192 f.; Hel-

13.  Hugwalds radikalreformatorische Phase

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mit dem Allstedter bzw. Mühlhausener Prediger während seiner Reise nach Süddeutschland (Jahreswende 1524/5) in Kontakt stand und ihm auch nach dessen Rückkehr nach Mitteldeutschland Briefe schrieb.261 Müntzer war als „exul“262 zu Oekolampad gekommen, der ihn nach einem ersten, noch oberflächlichen Gespräch zum Essen eingeladen hat, zu dem dieser dann gemeinsam mit Hugwald erschien.263 Hugwald war demnach Müntzers primärer Kontaktmann in Basel; gemeinsam mit Oekolampad soll er veranlasst haben, dass Müntzer „zcum volgk“264 predigte. Die Gruppe um Konrad Grebel und Felix Mantz, die schon einen brieflichen Kontakt zu Müntzer zu initiieren bemüht gewesen war265, suchte nun die persönliche Begegnung266 mit dem sächsischen Dissidenten; dass Hugwald in diese Zusammenhänge nicht involviert gewesen sein sollte, ist kaum vorstellbar, zumal seine Bekanntschaft mit Grebel wahrscheinlich sein dürfte. Dieselbe Gruppe hatte ja auch bei Gerhard Westerburgs Versuch, im September oder Oktober 1524 Sakramentsschriften seines Schwagers Karlstadt in Basel drucken zu lassen267, mitgewirkt. Westerburg ga Scheible, Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  6, München 2004, Nr.  972, S.  13–15, hier: 14,13 ff. 261  Oekolampad gibt an, Müntzer über Hugwald brieflich gegrüßt zu haben (Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, S.  193,1 f.), will sich aber nicht daran erinnern, ihm selbst geschrieben zu haben (a.a.O., S.  192,14–193,1). Müntzer weist auf „brive“ hin, die von Hugwald und Oekolampad stammten und sich in seinem „sagke zu Molhawsen“ (a.a.O., S.  266,14) befänden. 262   Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, S.  192,5. Bei der ersten Begegnung wurde Müntzer von einem ziemlich alten Bauern („vetulo quodam rustica“, a.a.O., S.  194,1) begleitet. In Oekolampads zweitem Bericht über Müntzers Besuch gegenüber Pirckheimer (BAO 2, Nr.  465, S.  21; Elliger, Müntzer, wie Anm.  259, S.  632 ff.; Held/Hoyer, a.a.O., Nr.  126, S.  194; Scheible, Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  6, wie Anm.  260, Nr.  1037, S.  161–169, bes. 164,39 ff.; 167,144 ff. [22.  6. 1526]) wird Hugwalds Beteiligung nicht mehr erwähnt und damit Oekolampads Begegnung mit Müntzer als flüchtiger dargestellt, als sie im Spiegel des Briefes vom September 1525 (s. Anm.  260) und Müntzers Bekenntnis (s. Anm.  259) gewesen sein kann. 263   Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, S.  192,9. 264   Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, S.  266,12; zu Müntzers im Bekenntnis angedeuteter Abfassung von Artikeln für die süddeutschen Bauern vgl. Gottfried Seebaß, Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Studien zu drei zentralen Dokumenten des südwestdeutschen Bauernkriegs [AHAW Phil. hist. Kl. 1988/1], Heidelberg 1988, bes. S.  162 ff.; s. auch oben I, §  5, Abschnitt 3. 265   Franz, Müntzer, Schriften und Briefe, wie Anm.  192, Nr.  69, S.  437–447; Leonhard von Muralt/Walter Schmid (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz. Erster Band: Zürich, Zürich 21978, Nr.  14, S.  13–21; vgl. Siegfried Bräuer, „Sind beyde diese Briefe an Müntzer abgeschickt worden?“ Zur Überlieferung der Briefe des Grebel-Kreises an Thomas Müntzer vom 5. September 1524, in: MGB 55, 1998, S.  7–24; ThMA 2, Nr.  103, 1 + 2, S.  347–366; s. auch Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  85. 266   Vgl. zu dem im Kern historisch zuverlässigen Bericht Bullingers, im Auszug in: Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, Nr.  127, S.  195; Heinold Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer: Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie des 16. Jahrhunderts [Schriftenreihe des Mennonitischen Geschichtsvereins 7], Weierhof / Pfalz 1959, bes. S.  84; 90; 92 ff. 267   Vgl. dazu: Dürr, Aktensammlung, Bd.  1, wie Anm.  256, Nr.  307 f., S.  174–176; Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  88 f.; Alejandro Zorzin, Karlstadts „Dialogus vom Tauff der Kinder“ in einem anonymen Wormser Druck aus dem Jahre 1527, in: ARG 79, 1988, S.  27–58, bes. 38 ff.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  215, S.  181 ff.; einige neue und präzisierende

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§  7  Aktionale Aneignungen

hatte in Basel „acht tag uff Adam Petri gewarttet“268, denn dieser war für ihn offenbar die naheliegendste Adresse, um sein Vorhaben auszuführen. Doch da Petri von einer Reise nach Leipzig nicht rechtzeitig zurückgekehrt war, hatte er sich an die Drucker Johannes Bebel und Thomas Wolff gewandt, die dann schließlich auch die insgesamt sieben Karlstadtschriften269 seiner den Abendmahlsstreit auslösenden pub­ lizistischen Kampagne herstellten. Sollte neben mutmaßlichen älteren Kontakten Karlstadts zu Petri270 auch der – frühere – Lektor Hugwald ein Grund dafür gewesen sein, dass Westerburg zunächst ihn aufsuchen wollte? Hugwalds Zugehörigkeit zur sich formierenden, in Basel seit August 1525271 nachgewiesenen Gruppe der Täufer ging mit einer Entfremdung von den Repräsentanten der kirchlichen Reformation einher. Oekolampad stellte im September 1525 fest, Hugwald sei nun ein völlig anderer Mensch geworden und ‚wiedergetauft‘, sodass sein Verhältnis zu ihm sehr belastet sei.272 Zu einer sukzessiven Rückkehr Hugwalds in die bürgerlich-akademische Lebenswelt Basels kam es erst im Laufe der 1530er Jahre, vielleicht auch infolge des Eintritts Karlstadts in Kirche und Universität273 der Rheinmetropole. Seit 1535 ist Hugwald dann als Lehrer, seit 1540 als Rektor der Lateinschule auf Burg bezeugt; in rascher Folge wurde der Mitvierziger nun zum Baccalaureus (2.  11. 1540) und zum Magister artium (1.  1. 1541) promoviert und in die Artistenfakultät als Professor aufgenommen (1.  5. 1541), um hier noch drei Jahrzehnte, bis zu seinem Tod (24.  1. 1571), mit wechselnden Lehraufgaben zu dozieren.274

Hinweise bietet: Amy Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy, Oxford 2011, S.  143–147; 201–205. 268   Dürr, a.a.O., S.  175,38. 269   Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, Anhang Bibliographie Nr.  65–71. WA 18, S.  37 ff.; Burnett, Karlstadt, wie Anm.  267, S.  55 ff. 270   Zu Petris Drucken Karlstadtscher Schriften vgl. unten III, §  13, Anm.  8 ; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  19, Nr.  7d; 24; 27; 36; 39; 43; 45a; 51. 271   Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  45 f.; BAO 1, Nr.  269, S.  380–382; Paul Burckhardt, Die Basler Täufer. Ein Beitrag zur Schweizerischen Reformationsgeschichte, Basel 1898, S.  12–15; zum Kontext s. Snyder, Swiss Anabaptism, wie Anm.  318, S.  66; 70; Emil Dürr, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd.  2, Basel 1933, S.  33 f.; 39 f. Hugwald gehörte der Gemeinde von vier Männern und fünf Frauen, die im August 1525 festgenommen wurden, an; Hugwald wird im Unterschied zu anderen Personen das Recht zuerkannt, in Basel zu bleiben, aber angekündigt, im „Wiederholungsfalle“ (BAO 1, S.  381 Anm.  2) enthauptet oder ertränkt zu werden. Er wird mit der Berufsangabe „corrector“ (a.a.O., S.  33) angeführt. 272   „Hugvaldus interim plane alius homo factus est, rebaptizatus, ut aiunt; unde cum eo iam male convenit mihi.“ (21.  9. 1525 an Pirckheimer, Held/Hoyer, Quellen, wie Anm.  259, S.  193,4 f.; BAO 1, S.  390; vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  6, wie Anm.  260, S.  14,32–34). 273   Zu Karlstadt in Basel vgl. nur: Barge, Karlstadt, Bd.  2, wie Anm.  19, S.  455 ff.; Bubenheimer, Consonantia Theologiae, wie Anm.  19, S.  254 ff. 274  Vgl. Wackernagel, Matrikeln, Bd.  1, wie Anm.  237, S.  340, Nr.  10; Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  267 f.; Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  74 f.

14.  Hugwald als reformatorischer Publizist

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14.  Hugwald als reformatorischer Publizist Als Ulrich Hugwald im Sommer 1520 mit seinem literarischen Erstlingswerk, einem Dialogus, vor die Öffentlichkeit trat, war ein namentlich gekennzeichnetes Eintreten für die ‚wiedergeborene, wahre apostolische Lehre‘275 außerhalb des Wittenberger Kreises kaum verbreitet. Keiner der späteren Stadtreformatoren hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem literarischen Bekenntnis zu Luther von sich reden gemacht; anonyme und pseudonyme Publikationen bildeten noch die wichtigsten Parteinahmen für den sächsischen David, der den römischen Goliath gereizt hatte.276 Sich noch vor dem Bekanntwerden des Ausgangs des römischen Prozesses kämpferisch dafür einzusetzen, dass die Schweizer die verschlagenen Italiener ihre Waffen spüren lassen sollten277 und daran zu appellieren, die Bekenner des Evangeliums mit militärischen Mitteln zu schützen, wenn Friedrich von Sachsen dazu nicht mehr imstande sein würde278, war im Horizont der zeitgenössischen Publizistik ungewöhnlich, ja verwegen. Das ‚Menschlein‘ (humuncio) 279, das hier mit schärfsten rhetorischen Geschützen gegen die verkommene Klerisei auffuhr280 und als Sachwalter des gemeinen Nutzens281 auftrat, speiste sein vitales Selbstbewusstsein und seinen Mut aus der Entschiedenheit seiner religiösen Überzeugung. Sie implizierte für Hugwald, all dem, 275   Auf den Einwand, was er als ‚puer‘ mit seinem Schreiben denn erreichen wolle, bekennt Hugwald in der Vorrede an die Schweizer: „Conatus Christo et posteritati satis erit, immo stultum est credere illam summam malitiam diutius stare posse, renata vera apostolica doctrina, & res nugatoribus iam rediit ad triarios [.  .  .].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  8. 276   Vgl. dazu unten II, §  10; zu Capitos anonymer Publizistik zugunsten Luthers s. unten II, §  8, Anhang. Capito, der wichtigste Exponent reformatorischer Entwicklungen in Basel zwischen 1518 und 1520, war zum Zeitpunkt des Erscheinens von Hugwalds Dialogus, im September 1520 (s. Anm.  244), seit ca. vier Monaten (28.  4. 1520 als Datum der Übersiedlung nach Mainz bei Beate Stierle, Capito als Humanist [QFRG 42], Gütersloh 1974, S.  192) nicht mehr in Basel. In seiner Anrede an die Schweizer bezog sich Hugwald darauf, dass der Basler Senat „nuper“ (Dialogus, S.  4) Capito mit Zustimmung angehört habe, was ihn darin bestärke, dass nur Müßiggänger und Otterngezücht gegen die Wahrheit angingen, während in Bezug auf doctrina und Sitten untadlige Männer wie der Basler Bischof Christoph von Utenheim (Dialogus, S.  5) für sie einträten. 277   „[.  .  .] solum ab Italorum fraude, & veneno, mihi timerem, ni fortitudo vestra Helvetiae duces gravissimi eis nota, & arma totius experta essent.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  14. 278   An früherer Stelle des Dialogus (S.  54 f.) fordert „Udalricus“ zur Unterstützung des tapferen sächsischen Herzogs auf. Am Schluss bekennt „Helveticus“: „Et si ille Saxoniae dux Fridericus suos cum veritate non postest defendere, mihi mittat, ego defendam: quin et magnanimo duci et fortissimo principi ob talem animum vel armis meis [.  .  .] vel alio officio gratias reprehendere magnopere cupio.“ S.  77. 279   Dialogus, wie Anm.  244, S.  4 ; ansonsten favorisiert Hugwald die Selbstbezeichnung als „puer“, vgl. nur a.a.O., S.  8 ; 14; zur Selbstbezeichnung als „homuncio“ auch: Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 4v; als „infantulus“: Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  576,19; 581,14; Varronis .  .  . de rebus rusticis, wie Anm.  250, a 3r. „Sed quid ego puer Lutherum defendere conor?“ fragt er in der Vorrede zu den Operationes in Psalmos, ed. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  576,8. 280  Vgl. Dialogus, wie Anm.  244, S.  24; 26 f.; 32; 37; 42; 45 f.; 50; 61; 70. 281   „Quid est igitur quod timeam, qui nullo privato affectu motus communi hominum utilitati consulere conabor, praesertim si iustitia vestra [sc. der Schweizer] omnibus gentibus, quibus cum

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§  7  Aktionale Aneignungen

was bei Menschen Wert besitze, zu entsagen und sich allein auf den himmlischen Weg zu Christus zu begeben.282 Seinem Leib sage er: „Die Erde ist deine Mutter, die Würmer deine Schwestern!“ Von Christus, seinem Gott, sei ihm befohlen, das Bekenntnis zu ihm, zum Evangelium, öffentlich zu machen, koste es auch sein irdisches Leben.283 Während die gelehrten Männer dieses Zeitalters den geistigen Kampf vermieden und durch Reichtümer und Annehmlichkeiten korrumpiert seien284, dankte Hugwald Gott dafür, dass er nicht mit Besitz beladen sei, der ihn nur zur Erde herabzöge285, und dass er die in seiner Biografie vorgesehene Option, ein nutzloser Opferpriester zu werden286, verworfen habe. Hugwald leitete aus seiner marginalen gesellschaftlichen Stellung als eine Art Hausknecht287, die der Student vielleicht nach seinem Austritt aus einer Burse und vobis res fuit spectata, & fortitudo vestra nullae nationi non experta, mihi & veritati non defutura est.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  6. 282   „[E]go malo per rectam viam ire ad patriam caelestem, quam cum illis perversis hominibus per dulcia, ut ipsis videntur, devia, in quibus ubi ad finem perveniunt, diabolis et igni esca sunt, si in illa via latrones carnifices Antichristi me hoc corpore onere levabunt, citius perveniam ad Chri­ stum, ad quem cupio, nec tribulatio, angustia, persecutio, nec periculum, gladius, ignis, me Christi ab evangelio separabit [.  .  .].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  6. 283   „[.  .  .] dixi corpori meo, terra mater tua, sorores tuae vermes, mihi praeceptum est a deo Christo meo, quod dico in tenebris vobis, dicite in lumine, & quod in aurae auditis, praedicate super tecta, & nolite timere quod corpus occidunt [vgl. Lk 12,3 f.].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  8. Vgl. Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, C 1r; Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 2r; Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  255; Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  581,14 f. 284   „Sed docti huius seculi viri non aptant animos armis, quod rem intelligunt, & perversis opinionibus corrupti partem promissis capiuntur [.  .  .], serviunt divitibus, mendatiis, diabolo, a quibus nihil pro praemio, nisi perpetuam mortem expectent.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  6 f. 285   „[.  .  .] ego gaudeo & deo gratias agere debeo, quod non oneratus fui divitiis, quae me ad terram trahere potuissent, & si adhuc esset, deponerem [.  .  .].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  7. 286   „Porro neque vitiligatorum quosque me ociosorum invidia facere calumniari potest quan­ doquidem, ego etiam ociosus, inutilis sacrificulus fieri possum.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  6. Im September 1520, also gleichzeitig mit dem Erscheinen des Dialogus (s. Anm.  244), hatte Hugwald von seinem Heimatort Schön[en]berg aus an seinen Bursenleiter Hieronymus Artholphus (wie Anm.  247) geschrieben und dessen Empfehlung, in den Priester- oder Mönchsstand einzutreten, eine Absage erteilt, nicht zuletzt, weil er nirgendwo ein Kloster finden könne, in dem sich seine Bewohner von ihrer Hände Arbeit ernährten, das also nicht dem korrupten System geistlicher Ausbeutung unterliege: „Hortaris [sc. Artolphus] me [sc. Hugwald] ad sacerdotium, sed ita ut concedas atque adeo laudes mihi coenobium, quod esset huic vitae rationi aptum, non frequens, in quo possim in Christo, & literarum studiis, & in rebus rusticis philosophari. Sed die obsecro, mi Hieronyme, ubi tale coenobium potest inveniri, quale me cupere dixi: Ubi sint fratres congregati in Christo, qui ab otio abhorreant, & victum manibus quaerant, quod tempus super est orationibus, & sanctis scripturarum studiis impendant, qui liberi sint, non Romanensibus traditionibus capti & oppressi: Qualia patrum antiqua monasteria fuerunt, gymnasia, scilicet, Christianae libertatis exercendae?“ Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 3v. Hugwalds Äußerung ist ein instruktives Beispiel dafür, dass der „Ernst der monastischen Existenzweise“ ein integrales Moment frühreformatorischer Lebens- und Gesellschaftsentwürfe gewesen ist, vgl. dazu Bernd Moeller, Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, zuletzt in: Ders., Luther-Rezeption, Göttingen 2001, S.  141–155, zit. 155. 287   Hugwald sagt von sich: „in servilitate sum, in qua ligna focis paranda, ut uno verbo plurima dicam, omnia quae rei domesticae usus postulat, curanda sunt, idque in domo numquam sine con-

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vor seiner Tätigkeit bei Petri ausgeübt hatte, seine Befähigung und Berechtigung ab, nur die Dinge zu sagen, die vor aller Augen lägen288, die sich die eigennützigen Gelehrten namhaft zu machen aber nicht getrauten. In Hugwalds literarischer Ambitionslosigkeit289, in seiner sozialen Randständigkeit, in seiner Existenz als nicht-graduierter Student, der sich um die symbolischen Kapitalien des akademischen Estab­ lishments nichts scherte290, realisierte sich seine besondere Nähe zu Christus, der fortan den einzigen Inhalt seines Studiums291 bilden sollte. Bei den gelehrten und exponierten Geistlichen hatte Hugwald die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass sie die Berufung auf die Bibel mit dem Hinweis darauf für unberechtigt erklärten, dass auch die Ketzer dies täten.292 Der Theologie zollte Hugwald höchsten Respekt; vivarum, mulierum, sacrificulorum tumultu, herique morosi nutus diligentissime observandi.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  13. Die beschriebene Tätigkeit deutet auf eine Stellung als eine Art Faktotum in einem Wirtshaus hin. Der Dialogus ist die meines Wissens früheste Quelle für eine Verbindung Hugwalds zur Petrischen Offizin. Das Nachwort des Druckers (Dialogus, S.  77 f.), das von Adam Petri, vielleicht auch von Johannes Petreius, stammen könnte, bringt uneingeschränkte Wertschätzung für Hugwald zum Ausdruck. Möglicherweise begründete sein Dialogus ein näheres Verhältnis zur Offizin. 288   „Quare a me nemo alia expectet, quam quae adeo aperta sunt, ut vel caecis appareant, quia in cantu praeter caeteros exclamare conatur, non in illo exercitatus & doctus, si ridiculum facere non ignoro.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  13. 289   Gerade weil er keine Sorgfalt (diligentia) auf die Abfassung des libellus verwandt habe, sei er über den Verdacht, damit seinen Ruhm mehren zu wollen, erhaben. Dialogus, wie Anm.  244, S.  5. Eine treffliche Charakterisierung des rastlosen, unendlich wortreichen, blendend-pathetischen Stils des zweifellos rhetorisch hoch begabten Hugwald bietet Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  54 f.; aufgenommen bei Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  259. 290   „[. . .] ut vere Christiani doctores Christum praeceptorem suum in veritate & iustitia, humilitate, bonitate: sic illi suos deos in mendaciis, avaritia, fastu, malitia, omnibus moribus secuti sunt: & doctoribus, & dominis, vel, ut verius dixi, diis eorum titulus satis fuit: nam personis & titulis. id est fumo & fontibus sine aqua stultus populus credidit. Qui non titulo, nomini, non professioni, non arbori honorem & fidem deberi putat, sed vitae, moribus & sapientiae, & fructui: sapit & me cum facit, & Iove indicat aequo. [.  .  .] Ita difficilius [sc. als die philologische Textemendation der Humanisten] est Christianam ecclesiam ad verum Christianismum revocare, quam olim sit apostolis excitata & a gentilitate conversa.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  9. 291   Am Schluss des Dialogus sichert der Helvetius Ulrich die Unterstützung für die um Christi willen nötige Muße zu: „Tuum studium sit unicus Christus, & perge quo coepisti Udalrice: literato otio, tuo quod satis est ministrabo: nec enim magis optas.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  77. Der ‚Schweizer‘ als Personifikation des von Hugwald angesprochenen Vaterlandes erkennt aber den von ihm propagierten Lebensstil – Handarbeit und otium, das der Erkenntnis Christi dienen soll (s. auch Anm.  286) – an und gelobt, ihn zu unterstützen. 292   „Namque doctores illi & praelati [.  .  .] clare fatentur, omnes haereticos evangelium, & alias apostolicas literas tanquam arcem & profugium habere. Et mihi iactanti nuper evangelium doctorum illorum facile princeps dixit. Hoc fuit omnium haereticorum elipeus. O veritas, o Iesu, quasi non fortissimus, tutissimus, atque unicus Christiano homini clipeus sit evangelium.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  10. Die von Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  57 Anm.  2 geäußerte Vermutung, der ‚Fürst der Gelehrten‘, von dem Hugwald hier berichte, sei Erasmus gewesen, halte ich für unwahrscheinlich, da Erasmus in der mutmaßlichen Basler Studienzeit Hugwalds, 1519/20, gar nicht in der Stadt war. Zur ‚theologischen Unklarheit‘ hinsichtlich der Normativität der Schrift im Verhältnis zur Lehrautorität der Kirche in den vorreformatorischen Debatten vgl. nur: Hermann Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter [VIEG 86], Wiesbaden 1977, S.  225 ff.; s. oben I, §  3.

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§  7  Aktionale Aneignungen

auch der des scholastischen Lehrbetriebs293 erteilte er keine platte Absage, nahm aber an der Vermischung der göttlichen Lehre mit menschlichen Fabeln Anstoß. Allein eine konsequent an der Bibel orientierte Theologie, nicht die doktrinärer Theologen, verbürge die Überlegenheit des Menschen über andere Kreaturen.294 Aus den 1521, etwa ein halbes Jahr nach seinem Dialogus von Johannes Peterus veröffentlichten Briefen Hugwalds ergibt sich, dass er trotz seines zwischenzeitlichen Rückzugs in seinen stillen Studierwinkel, wohl in der thurgauischen Heimat 295, Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt war, die auch seine Martyriumsbereitschaft steigerten.296 Ein Konflikt mit zwei ‚diabolischen Legaten und römischen Räubern‘ scheint für Hugwald bedrohlich geworden zu sein; 297 er hatte sich offenbar argumentativ dagegen gewappnet, dass einer der Legaten gegenüber seinen Landsleuten mit Lügen gegen ihn aufgetreten war298, sich aber dann doch zum Rückzug genötigt gesehen. Einer Begebenheit, die er selbst erzählt, kann jedenfalls entnommen werden, dass er dem Kontakt mit hohen Repräsentanten der römischen Kirche nicht aus dem Weg ging; ein bekannter „curtisanus“299 hatte sich im Gespräch mit Hugwald darüber beklagt, dass der amtierende Papst Leo X. nachlässig und träge sei. Lebte Papst Julius noch, dann könnte Luther seine Ketzerei nicht so ungestört ausbreiten. Hugwald freilich erschien diese von näheren Kenntnissen der Schriften Luthers völlig unberührte, gewaltbereite Ignoranz als Bestätigung alt- und neutestamentlicher Drohworte, die den Feinden des Herrn galten.300 Er selbst rechnete mit lebensgefährlichen Maßnahmen gegen seine Person: Scheiterhaufen, Tribunal, Vergiftung, und das nur, weil er aussprach, was alle Gelehrten und Guten in ihrem Herzen bewegten, aber nur der apostolische Nuntius Luther zu propagieren gewagt hatte.301 So unklar 293  „Ne quis autem credat me Theologiam Scholastica exercitatione non dignam existimare [.  .  .].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  10; schärfere Polemik gegen die scholastische Theologie dann in: Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 1v. 294   „[.  .  .] unica theologiae cognitione homo caeteris praestat, nec hic superciliosi magistri eximii & doctrinales doctores sibi placeant. Ego enim loquor de theologia, non de nugis, & anilibus fabulis [.  .  .].“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  11. 295   Vorrede Peterus’ zu: Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 1v. 296  Vgl. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  578,20 ff.; Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  255; Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 2r; Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 4vf. (ein Vergleich mit Luther). 297   „Hoc animo duos legatos diabolicos Romanenses latrones attigi. Sed ecce adversarij mei hoc occasionem me accusandi ambobus manibus arripiunt: me in viros principes, sanctimissimi legatos, maledicum esse, eosque patriae inimicos facere clamantes, iam iam ad supplicium rapturi.“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 2r. 298   Vorrede Peterus’, in: Tres eruditae epistolae, wie Anm.  247, A 1v; vgl. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  262 f. 299   Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  577,2 ff. 300  Ebd. 301   „Sediciosus, [.  .  .] maledictus, a speciosis illis iniquitatum operariis vocor, minuantur ignem impiissimi homines, Ad tribunalia trahor, non audeo domo pedem efferre, nec in ipsa domo tutus, insidiatur enim mihi Italicum venenum. [.  .  .] Ut autem fateor nihil tam grave mihi accidere posse, maiora me coram deo meritum: Ita accusatoribus & calumniatoribus meis coram non improborum hominum iudicio respondere facile possim. Quid enim feci? quod docti omnes, bonique omnes

15.  Zum Dialogus Hugwalds

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im Einzelnen ist, welche Unbill Hugwald wegen seines frühen öffentlich-publizistischen Eintretens für die Reformation tatsächlich widerfuhr, so deutlich ist allerdings, dass er bereits vorher kleine rhetorische Scharmützel mit Repräsentanten des kirchlichen Ancien régime geführt hatte und deshalb auch in seiner Heimat desavouiert worden war.302

15. Zum Dialogus Hugwalds Diesem Umstand dürfte auch Hugwalds Erstlingsschrift, ein Dialog zwischen ihm als „Udalricus“ und je einem Repräsentanten seiner Familie (Hugwaldus) und seiner näheren regionalen (Durgeus) und politischen (Helveticus) Heimat, ihre literarische Form verdanken. Nachdem Udalricus in einem langen Selbstgespräch – unter Aufnahme prophetischer Wendungen – scharf gegen die römische Kirche polemisiert, auf eine am Maßstab der primitiva ecclesia303 orientierte Restitution gedrungen und der Klerisei ein unmissverständliches Gericht angedroht 304 hatte, schaltete sich der Familienangehörige ein, der ihn damit konfrontierte, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen der Familie enttäuscht und sich den tödlichen Gefahren ausgesetzt habe, denen Hus erlegen sei.305 Doch „Ulrich“ insistierte darauf, dass ihn weder die Liebe zu Freunden, noch zum Vaterland von Christus abbringen könne und dass er die in ihn gesteckten Karriereerwartungen, ein Müßiggänger, Hurer und Pfaffe zu werden, mitnichten erfüllen wolle.306 Der „Hugwald“ des Dialogs erwiderte nun, dass ‚unsere hochwürdigen Herren‘ seit langem vorausgesagt hätten, dass er der Ketzerei verfallen tacito in corde, magno dolore premunt, illud ego evomere incoepi. Et cum Apostolico illo nuncio Martino Luthero [.  .  .] clamare coepi [.  .  .].“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 4v. 302  Im Dialogus berichtet Hugwald von einem Priester in Wyl namens Johannes Meier, der ihn in der Öffentlichkeit, bei Freunden und Verwandten, angeschwärzt habe: „[.  .  .] est enim hic apud nos Vuilae unus sacrificulus superciliosus, nugator, loquaculus, [.  .  .], homunculus, non dignus de quo mulieres, ut dici solet, loquantur: qui me vix Vuilam ingressum frivolis mendaciis, & inconditis ineptisque nugis, publice apud populum, in patria apud amicos, parentes me praesente coepit: sensit enim me mendaciis hostem mendacissimus: ne autem alius tibi suspectus sit, Ioannes Meierus est illi nomen [.  .  .].“ Wie Anm.  244, S.  66; vgl. auch Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  577,1 ff., wo Hugwald ein Gespräch wiedergibt, das er mit einem „Curtisanen“ führte, der Luthers Vernichtung durch einen Papst wie Julius II. forderte und Leos X. ‚Milde‘ beklagte. 303   Dialogus, wie Anm.  244, S.  30. 304   Militant antiklerikale Äußerungen in: Dialogus, wie Anm.  244, S.  24; 26 f.; 32; 37; 42; 45 f.; 50; 61; 70; Polemik gegen einen im Überfluss lebenden Prälaten, a.a.O., S.  73 ff. 305   „Hug[valdus]. Proch nos miseros, hactenus familia nostra si non nobilis, at optimae famae & tranquilla fuit: & tu a quo tantum expectavit, dolori ipsi, dedecori autem non solum illi non patriae tunc Helvetiae, sed totae Germaniae eris, qui tantum audes admodum puer: quid post aliquot annos futurum est? peior, perversior eris illo haeretico Ioanne Hus qui Constantiae combustus est.“ Dialogus, wie Anm.  244, S.  53. 306   „Hoc scio me a Christo Iesu, a veritate nullum, nec in amicos, nec in patriam affectum abducturum, quem expectasti, otiosum, fornicatorem, sacrificulum [.  .  .].“ A.a.O., S.  53.

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§  7  Aktionale Aneignungen

werde; er sei noch schlimmer als ein Prediger, der neulich in Hugwalds Heimat aufgetreten sei und die Festtage bestritten und erklärt habe, die Priester seien nicht die Nachfolger der Apostel; außerdem habe er verkündigt, dass eine neue Kirche erforderlich sei, um zum Heil zu gelangen.307 Der Dialog machte an Hugwalds Person exemplarisch deutlich, dass das Bekenntnis zur Reformation einen Abbruch projektierter Karrierewege und einen schwerwiegenden Konflikt des Studenten mit seinem familiären Umkreis, der bestimmte Erwartungen in ihn gesetzt hatte, bedeuten musste. Im Spiegel seines neuen Studienziels, das allein Christus sein solle308, erschienen die bisherigen akademischen Orientierungen wertlos. Auch der „Thurgauer“ Dialogpartner warnte Ulrich vor einem ungestümen Vorgehen; doch er schien von der Verkündigung eines reformatorischen Predigers beeindruckt, der gegen die vielen Festtage, gegen die müßiggängerischen Priester, gegen einen seelenlosen Ritualismus geeifert hatte, da dieser uns Christus nicht näherbringe als Juden und Türken.309 Und ihm imponierte die Vision einer christlichen Gesellschaft, die er von dem Prediger gehört hatte und die er nun seinerseits vor den Augen seines Gesprächspartners entwarf: Nach der Beseitigung des Krieges werden alle unter einem Hirten stehen; 310 in jeder Region und Gemeinde baue man aus dem Kirchengut Armenhäuser; von überschüssigen Erträgen werden Unterstützungen für Bauern im Winter gewährt. Bettel solle nur aufgrund obrigkeitlicher Zulassung in äußersten Ausnahme- und Notfällen möglich sein; eine „optima, humanissima, vere Christiana res publica“311 rückte, so schien es, in den Horizont des Möglichen, obschon der Prediger dieser Ideen von einer durch sittenlose Priester aufgehetzten Menge bedroht worden war. Der „Helveticus“, der am Schluss des Dialogs auftrat, teilte Ulrichs und des „Thurgauers“ Wut auf eine korrupte Klerisei, die die Bauern mit Füßen träte und unsäglich prasse.312 Er bekannte seine Bereitschaft, der evangelischen Wahrheit eine Heimat zu bieten und ihren Anhängern auch unter Einsatz von Waffengewalt Hilfe zu-

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  A.a.O., S.  53 f.   A.a.O., S.  77; s. oben Anm.  292. 309   „[.  .  .] visitare sacram aedem, ceremonias videre, multum orare, sacrificulum aliquem indoctum nugatorem audire, & nec tantillum magis ad Christum accedere quam Iudaei Thurcaeres [.  .  .].“ A.a.O., S.  56. 310   Vgl. dazu oben I, §  5. 311   Dialogus, wie Anm.  244, S.  59. 312   „Agricolae coguntur terrae culturam adhibere, si volunt ut fructum eis det: illi [sc. die Pfaffen] non modo agricolas negligunt, sed etiam conculcant: nam quando eis fruges in aestu & frigore, siti & fame [.  .  .] non eis famem & sitim illis levant, sed contumelia eos afficiunt [.  .  .] aqua potus rusticis inquiunt: eosque lapides, truncos, stipes, plumbeos, knebel, klotz, knoll, vocant.“ A.a.O., S.  70. Eine scharf antiklerikale Gesprächssequenz zwischen einem lauteren, am Evangelium orientierten Christen und einem wollüstigen und geldgierigen, jeder Verantwortung gegenüber den Armen abholden, gewissenlosen Pfaffen bildet den Abschluss des Dialogs zwischen Udalricus und Helvetius, a.a.O., S.  73–76; vgl. auch Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  63–65. 308

16.  Der studentische Reformator und der ‚gemeine Mann‘

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kommen zu lassen, die der ehrwürdige Kurfürst von Sachsen nicht schützen könne.313 Auf der Ebene des Dialogs war das glühende Bekenntnis zu Christus mit der flammenden Liebe zur schweizerischen patria aufs engste verschmolzen. Der Student Hugwald, dessen Lebenspläne durch die reformatorische Bewegung in den Strudel der Veränderung geraten waren, schuf im Modus einer literarischen Fiktion die Vision einer antirömischen deutsch-schweizerischen Kampfes- und Schicksalsgemeinschaft314, die eine neue res publica christiana errichten werde.

16.  Der studentische Reformator und der ‚gemeine Mann‘ Hugwalds emphatische Parteinahme für die Armen und die Bauern, die mit einer polemischen Distanzierung vom klerikalen Establishment und vom Gelehrtenstand einherging, veranlasste ihn zur affirmativen Aufnahme des volkstümlichen Sprichworts „Die Gelehrten, die Verkehrten“315 und auch dazu, eine Lebensform zu praktizieren, die das Studium der sacrae literae bzw. Christi mit der Arbeit der eigenen Hände verband und ihn von jedem Argwohn der persönlichen Bereicherung befreite.316 Hugwald dürfte der erste reformatorische Schriftsteller gewesen sein, der in dieser Weise auch für das Landleben warb und die akademischen Graduierungen verdammte. Wenn man in der unmittelbaren Verschränkung bestimmter theologisch-doktrinaler Einsichten und lebenspraktisch-habitueller Konsequenzen den Nukleus radikal-reformatorischer Entwicklungen sieht317, war Hugwald schon 1520/ 21 ‚radikal‘. 313

  Dialogus, wie Anm.  244, S.  77; vgl. 54; 69. „Fateor mihi spem esse veritatem in Helveciis locum invenire.“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, C 1r. 314   Hugwald entwickelt ein differenziertes Bild der „Germani“, in das – außer Elementen der taciteischen Germania (vgl. z. B. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  571,11 ff.; s. unten II, §  8, Anm.  49 f.; Dialogus, wie Anm.  244, S.  15) – auch die ‚Verderbnis des germanischen Blutes‘ (Hammer, a.a.O., S.  572,6 f.; Dialogus, S.  14), bedingt unter anderem durch monströse scholastische Studien (Hammer, a.a.O., S.  572,8 ff.), eingeflossen ist. Die „Germani“ sind der Tapferkeit der waffenbewehrten Schweizer bedürftig (Dialogus, S.  14 f.). 315   „Hinc de suis doctis, quos hactenus habuit, vere dixit vulgus nostrum: ‚Die gelerten, die verkerten‘. Iam vero bonae bonos, apostolicae literae apostolicos faciunt.“ Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  572,10–12; weitere Belege für die Verwendung des Sprichwortes in der Reformationszeit finden sich unten III, §  12, Anm.  22; s. auch unten II, §  8, Anm.  51. 316   „[S]emper aut meditabor in sacris literis, aut manibus laborabo, ut sic mutuis animi & corporis studiis, animas & corpora pascam. ne quis calumniari possit me mihi privati aliquid quaerere.“ Ad omnes, wie Anm.  247, A 2r. 317   Vgl. dazu unten III, §  12. Der Hugwald nahestehende Johannes Peterus stellt in seiner Vorrede zu dem von ihm herausgegebenen Brief Hugwalds an Zürich prononciert heraus, dass man in dem Dokument ein lebendiges Bild seines Geistes finde: „ut enim sentit, ita loquitur, ut loquitur ita vivit [.  .  .].“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 1v. Hans-Jürgen Goertz hat in neuerer Zeit immer wieder betont, dass Radikalität als gemeinsamer Grundzug der durchaus vielfältigen reformatorischen Prozesse zu gelten hat, die in den frühen 1520er Jahren ‚die Reformation‘ bildeten (vgl. etwa: Radikalität der Reformation [FKDG 93], Göttingen 2007; zuletzt: Ders., Radi-

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§  7  Aktionale Aneignungen

Die in späteren Jahren erkennbare Verbindung mit Thomas Müntzer lässt sich aufgrund der Quellenlage, anders als bei den Zürcher Täufern318, im Falle Hugwalds nicht mit Frustrationen über die Erfahrungen mit den magistralen Reformationen in einen genuinen Zusammenhang bringen. Die Idee, seinen Lebensunterhalt mit seiner Arbeit, als Landmann, zu verdienen, ist bereits in Hugwalds frühesten bekannten Texten nachweisbar; 319 1521 warb Peterus öffentlich dafür, dass seine schweizerische Heimat Hugwald ein Landgut schenken möge, von dem er sich ernähren und zugleich seinen Studien leben könne.320 In der Korrespondenz mit Vadian wurde das Thema dann seit 1522 immer wieder erörtert; es werden einzelne Objekte erwogen; der St. Gallener Arzt wird um Unterstützung für das Projekt gebeten, vor allem aber um Mithilfe bei der Suche nach einer geeigneten Ehefrau, die mitziehen solle, da Hugwald nicht zur Enthaltsamkeit tauge.321 Hugwalds Hang zum einfachen Landleben, bei dem er durchaus im Sinne der Ausbreitung des Evangeliums tätig zu werden hoffte322, hing wohl entscheidend damit zusammen, dass er die ungelehrten Leute auch in der Urzeit der Kirche als wichtigste Sachwalter der christlichen Verkündigung ansah.323 Um eine neue, selige Krea­ tur in Christo zu werden – so behauptete Hugwald im Vorwort seiner Ausgabe zwei-

kale – an der Peripherie oder im Zentrum der Reformation? In: Kühne u. a., Thomas Müntzer. Zeitgenossen. Nachwelt, wie Anm.  99, S.  23–37). Diese Beobachtung halte ich im Grundsatz für zutreffend, denke allerdings, dass man im Verhältnis von ‚doctrina‘ und ihren lebenspraktischen Konsequenzen schon 1521/2 deutliche, auch von den Zeitgenossen wahrgenommene Trennlinien zwischen tendenziell ‚Radikalen‘ und ‚Nicht-Radikalen‘ ziehen kann. 318   Vgl. dazu nur: C. Arnold Snyder, Swiss Anabaptism: The Beginnings, 1523–1525, in: John D. Roth/James M. Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism 1521–1700 [Brill’s Companions to the Christian Tradition 6], Leiden 2006, S.  45–81; Andrea Strübind, Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz, Berlin 2003; C. Arnold Snyder, The Birth and Evolution of Swiss Anabaptism (1520–1530), in: MQR 80, 2006, S.  501–645; Urs B. Leu/Christian Scheidegger (Hg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, bes. S.  18 ff.; als Reprint wieder zugänglich das klassische Werk von Fritz Blanke: Brüder in Christo. Die Geschichte der ältesten Täufergemeinde (Zollikon 1525), ND Winterthur 2003. 319   Für September 1520 in: Tres eruditae Epistolae, wie Anm.  247, A 3v. 320   „Dignus est cui [sc. Hugwald] helvecia, patria ipsius, det rus aliquid (nam aliud nihil optat) in quo labore victum quaerat, & se in sanctis studiis exerceat, atque in Christo oblectet.“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 1v. 321  Vgl. Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  249 f.; 253 f.; 255; 260 f.; 263. 322   Folgender Passus wirkt ein wenig so, als ob er sich als eine Art ‚Seelsorger‘ einer Landgemeinde gesehen hat: „[.  .  .] in domino confido me vocari, qui sentio me sic affectum, ut cupiam, mini­ strare non dominari, laborare non otiari, pascere non vorare, non deglubere nec tondere, sed vestire. dari igitur me cupio alicui ecclesiae, ergo quam possim testari meam in Christio voluntatem, in qua possim parere quod parurio. paucis, & invitus, dico, malim enim animi mei decretum & desiderium re quam verbis exponere.“ Ad omnes, wie Anm.  247, A 2r (hier auch der oben Anm.  316 zit. Passus über die Verbindung von Handarbeit und Studium der sacrae literae). 323   „Est ne nobis Evangelium nuncipatum per inflatos magnificis titulis Doctores? Non certe, sed rem tam praeclaram & arduam placuit deo per humilimos, indoctos efficere [.  .  .] & ob hanc rem scripturae spiritus intellectum dat parvulis semper.“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 4v–C 1r.

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er prominenter antiker Werke zur Landwirtschaft324 – sei nichts so hilfreich und des Christen würdig wie die „agricultura“. Denn ein Christ verachte Muße, und die Verbindung mit der Natur helfe, von unnützen Studien wegzukommen.325 Ein Leben unter den kulturellen Zwängen der Stadt und das Christsein schienen Hugwald nurmehr schwer vereinbar; 326 die Christen sollten ohnehin vor allem die biblischen Bücher lesen, nicht aber all die Werke, die Christus nicht dienten.327 Gott habe es gefallen, das Evangelium nicht durch stolze Doktoren mit prächtigen Titeln verkündigen zu lassen, sondern durch die Niedrigsten und Ungelehrtesten.328 Ob Hugwalds Ideen in Bezug auf einen evangelischen Lebensstil durch literarische oder sonstige Vermittlung auf die Wittenberger Bewegung eingewirkt haben, entzieht sich unserer Kenntnis. In Hinblick auf den Entwurf eines ‚alternativen‘ christlichen Lebens, das den Zwängen und Eitelkeiten der Gelehrtenkultur entrückt war, gebührt ihm die Priorität; dies gilt etwa auch gegenüber Karlstadt, dessen Lebensentscheidungen der Jahre 1522/3 in auffälliger Nähe zu den Vorstellungen Hugwalds standen. Wie es scheint hat Ulrich Hugwald, der nicht-graduierte ‚Langzeitstudent‘ und Apostel des Landlebens und der unverbildeten laikalen simplicitas, auch als Lehrer gewirkt. So undeutlich der institutionelle Rahmen dieser Tätigkeit auch ist329, so un324   S. Anm.  250; Hugwald führt aus, dass und inwiefern die Lektüre der beiden Autoren, Catos und Varros, eine völlig ausreichende Informationsbasis darstelle. Petris Druck dieser Schriften war der erste außeritalienische. Vorher waren die Schriften bei Aldus Manutius erschienen (Varronis .  .  . de rebus rusticis, wie Anm.  250, a 3r/v). 325  „[N]eque enim aliud aeque Christianis dignum est atque agriculturae studium, Nam et Christi populo cum otio prorsus nihil est, & quo quidque ad communem mortalium rem minus facit, eo Christi, salutis nostrae, voluntati magis est adversum. Quid enim ille aeque conatus est, ac nos reducere ab inutilibus studiis, & perversis rerum opinionibus, si non ad viam naturae, at ad simplicitatem naturae proximam, & quae divinae sapientiae commodißima visa est?“ Vorrede zu: Varronis .  .  . de rebus rusticis, wie Anm.  250, a 2r. 326   „Quod ii viderunt, qui primi dixerunt, Quanto quidque ab urbe longius sit, tanto divinius esse, quod hodie proverbio dicitur.“ Varronis .  .  . de rebus rusticis, wie Anm.  250, a 2v; vgl. die gegenüber städtischer Zivilisation kritischen, die bäuerliche gegenüber einer geistlichen Existenzform favorisierenden Bemerkungen Luthers WA 6, S.  466, 40–467, 6 = LuStA 2, S.  164, 25–33; WA 6, S.  486, 14–16 = LuStA 2, S.  166, 6 f. 327   „Fuerunt aliquando ingenia hominum incorruptiora, fuit maior in hominibus fides, atque quo quisque maxime in hoc genus rebus, auctor antiquior eo est et syncerior. Omnino hic usuvenit, quod in illis de religione nostra libris, in quibus quoque et supervacua et pugnantia multa, quae Christum non mode non iuvant, sed etiam impediunt, cum paucis Biblicis libris abunde esset satis ad formandos hominum, ut Christus voluit, mores [.  .  .].“ Varronis .  .  . de rebus rusticis, wie Anm.  250, a 3r. Wichtig ist für Hugwald auch, dass das Volk, das der Geistlichkeit nicht mehr trauen kann (Dialogus, wie Anm.  244, S.  49), selbstständig die Bibel zu lesen vermag, vgl. Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, Anm.  235, S.  252. 328   Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 4v–C 1r. Hugwald referiert als Vorwurf gegen ihn: „Tibi nullo titulo insignito.“ A.a.O., B 4v. Hugwald Polemik gegen akademische Graduierungen setzt schon im Dialogus ein, wie Anm.  244, S.  9 ; das blinde Volk schenke den Titeln ungebührliche Beachtung, S.  61. 329   Aus einem Brief Hugwalds an Vadian (undatiert; wohl Sommer 1522, s. oben, Anm.  252; Clemen, Hugwald, wie Anm.  236, S.  54 mit Anm.  1) geht hervor, dass Hugwald ‚pueri‘ wohl vor allem rhetorisch schulte und ‚boni viri‘ ihn darum baten, ihre Kinder in dieser Weise für eine Predigt- oder sonstige Redetätigkeit auszubilden: „Deinde putant quidam boni viri, eorum pueros me

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§  7  Aktionale Aneignungen

übersehbar ist der Drang des älteren Studenten, jüngere Kommilitonen in rhetorischer und theologischer Hinsicht zu unterrichten. Aus einem „Compendium“, das der Basler Student Ulrich Köchli (Coccinius) aus einigen von Hugwald verfassten Disputationsreihen zusammenstellte330, entsteht der Eindruck, der Thurgauer habe in Basel so etwas wie einen ‚alternativen‘ reformatorischen Lehrbetrieb aufgebaut. Trifft es zu, dass es „eine Basler Besonderheit“ gewesen ist, dass „die frühe Reformation hier an der Universität Fuß faßte“331, dann wird man nach Capitos Wechsel nach Mainz in Hugwald zeitweilig den vielleicht wichtigsten, freilich nicht akademisch etablierten Repräsentanten dieser Entwicklung zu sehen haben. Wie es scheint breitete sich in Hugwalds Umkreis die Überzeugung aus, dass den durch den Geist Gottes Wiedergeborenen auch unabhängig von einer weltlichen Berufungsinstanz das Recht der Verkündigung zukomme332 – eine Position, die der der posse aptos facere sacris concionibus vel certe foro. Nam alterum exigit non hominem doctorem, sed Christum illuminatorem, quae hac aestate bene ingeniatos mecum habere decrevi, quos exercebo declamando.“ Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  259. Clemen spricht in diesem Zusammenhang von „eine[r] Art Privatschule für Rhetorik zur Herausbildung von künftigen Predigern und Juristen“ (Hugwald, a.a.O., S.  54), deren Anfänge für den Frühsommer 1522 gesichert sei. In der Disputationsreihe Est tibi schreibt Köchli / Coccinius (s. Anm.  247) stellvertretend für die bei Hugwald Unterwiesenen Folgendes: „[.  .  .] quibus nos e tenebris eripuit [sc. Hugwald], quibus ad veterem morem nos exercuit, plenis & integris orationibus declamando, non ieiune & sordide Sophistarum more.“ A 1v. In dem auf 1521 datierten Brief an Cradolph (Tres eruditae epistolae, s. Anm.  247) hatte Hugwald ein vorangehendes Schreiben erwähnt, dem eine Disputation mutmaßlich naturwissenschaftlichen Inhalts beigefügt war (Tres eruditae epistolae, A [5]r), was bereits diese ‚Privatschule‘ voraussetzte. Andererseits ist durch die von Köchli herausgegebenen Disputationsthesen, die wohl aus „duas aut tres disputationes“ (Est tibi, A 2r) aus Hugwalds Feder kompiliert sind, klar, dass Hugwald wohl vor allem theologische Gegenstände traktierte. Eine unter Hugwalds Namen handschriftlich überlieferte, undatierte Thesenreihe (UB Basel Ki. Ar. Mscr. 23a, Nr.  73, fol.  184 f., davor [183v] der Eintrag: „M. Hugwaldi, nisi fallar, disputa.“) weist auf einen universitären Entstehungszusammenhang hin. Im Proömium heißt es: „Studiosis Theologiae S. Scitis me hanc ad Timotheum epistolam suscepisse praelegandam non meo privato consilio, sed iudicio et voluntate doctissimi & colendissimi D. D. Vulphgangi Vvyssenburgii praeceptoris mei, cui nec debui nec potui quicquam negare.“ (A.a.O., fol.  184r). Die den 1 Tim behandelnde Disputation fasst die jeweiligen Inhalte („Loci“) der einzelnen Kapitel in Form von Thesen zusammen; den Thesen ging offenbar eine exegetische Vorlesungstätigkeit voraus. Sowohl der Magistergrad Hugwalds, der auf dem Vorsatzblatt (fol.  183v) erwähnt wird, als auch der theologische Doktorgrad Wissenburgs (vgl. die Hinweise BAO 1, S.  362 Anm.  4 ; Wackernagel, Matrikeln, Bd.  1, wie Anm.  237, S.  302, Nr.  29 [Promotion zum Dr. theol. 1540]; Karl Gauß, Der Reformationspfarrer Wolfgang Wissenburg [I]-VI, in: Christlicher Hausfreund 51, 1925, S.  487–489. 498–502. 508–513. 533–537. 548 f. [zu Wissenburg als Nachfolger Simon Grynäus’ auf der Theologieprofessur und Karlstadts in der Pfarrei St. Peter seit 1541/2, a.a.O., S.  533]. Zu einer Reihe von Disputationsthesen vgl. Johann Erhard Kapp, Kleine Nachlese .  .  . nützlicher Urkunden, Leipzig 1727, Bd.  2, S.  624–626 [Disputationsthesen, großes Kollegium Basel 1524 nach Handschrift Spalatins]) legen eine Datierung der Thesen in die 1540er Jahre nahe. 330   S. oben, Anm.  247. 331   Bernd Moeller, Die Basler Reformation in ihrem stadtgeschichtlichen Zusammenhang, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  182– 195. 327 f., hier: 189; zu einigen frühreformatorischen Basler Disputationen im Rahmen der Universität s. Bernd Moeller, Zwinglis Disputationen, Göttingen 22011, S.  98 f. 332   „De vocatione enim ad ministerium verbi axiomata omissa sunt, ut, Omnes vocatus divini-

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sogenannten „Zwickauer Propheten“ entsprach333 oder doch nahekam. Da eine entsprechende Geistlehre unter den signifikanten theologischen Themen Hugwalds nachweisbar ist334, ist es wahrscheinlich, dass er hier – ähnlich wie in der radikalen Nachfolgeethik 335 – einen besonderen Akzent setzte. In Bezug auf die Gotteserkenntnis kam dem Ansatz bei der Niedrigkeit Christi und seiner Apostel eine wichtigere Rolle als den Verheißungen zu.336 Die ‚Weisheit des Kreuzes‘, die die Wertigkeiten dieses Äons invertiere, nötige den Weisen dazu, ein stultus, den Reichen, ein pauper zu werden.337 Christus allein solle den Inhalt des Studiums und den Maßstab des Lebens bilden; 338 seine Bedeutung als Grund des Heils und als Vorbild der Nachfolge sind für Hugwald untrennbar verschränkt. Die im Juni 1522 recht auffällige Verteidigung der Kindstaufe gegenüber denen, die sie bestritten339, macht zum einen wahrtus, qui Christi spiritu renati sunt, Illis ius imo necessitatem prędicandi, Nec unquam morandam magistratuum vocationem, maxime ubi nihil nisi nomen Christianum habent.“ Coccinius, Vorrede zu Est tibi, wie Anm.  247, A 2r. 333  Vgl. Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  123, passim. 334   Ich verweise auf die 49. These: „Hanc renovationem, resurrectionem carnis, licebit vocare, nam anima ratioque breviter totus homo nova creatura factus, ita in spiritu ambulat.“ Est tibi, wie Anm.  247, A[6]r/v; vgl. These 98, B 1v. Der Geist eröffnet ein heiligmäßiges Leben: „Itaque homo ex divino fidei spiritu factus divinus, Non potest se non difundere in charitatem omnium, ut deus.“ Vgl. die Thesen 105 f., a.a.O., B 2r; vgl. Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 4v; vgl. auch Arbenz, Briefwechsel, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  256; 258 f.; 266. Eine Tendenz zur Spiritualisierung der Fegefeuerlehre und der Hölle in: Est tibi, A 7v; A 8r. Luthers Psalmenkommentar ist für Hugwald ein Buch, „in quo divini spiritus sensus supra tecta libere praedicatur“; Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  580,12 f. An manchen Stellen, wo Hugwald vom ‚Geist‘ spricht, würde Luther wohl vom ‚Wort‘ reden. 335  Vgl. Dialogus, wie Anm.  244, S.  64; Tres eruditae epistulae, wie Anm.  247, A 2r; zum im Anschluss an Luther (vgl. nur: WA 7, S.  32,9 ff.) verwendeten Bildwort vom Baum und den guten Früchten (Mt 7,16) vgl. Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  576,27–29; Dialogus, S.  61; Ad omnes, wie Anm.  253, A 4r; Est tibi, wie Anm.  247, B 2r (Th.101); B 3r (Th.124). 336   „Nec enim ad medullam evangelii venerunt, qui volunt ex promiss. dei, fidem, ex hac amorem propter benignitatem, ex hoc opera et vitam. Hoc est enim spes premii, et ex natura, et per hoc peccatum etc. quin oportet, ut sciat deum etiam in inferis regnare, susque deque ferat aspera et prospera, vitam et mortem etc.“ Est tibi, wie Anm.  247, Th.15, A 3v. Zum leichteren Zugang zum Heil für die stulti und pauperes s. Th. 78 f., A 8v. 337   „Qui volet esse sapiens stultus fiat, pius & justus, impius & peccator, qui sanus, insanus, qui volet esse Catholicus & vere Christianus, haereticus & anathema fiat oportet, qui Apostolicus esse cupit necessum est fieri diabolicum, sicut qui dives, potens, magnus, dominus esse cupit, pauper, impotens, abiectus, servus fiat. Haec est crucis sapientia.“ Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, A 3r; vgl. auch Ad omnes, wie Anm.  247, A 2v–A 3r, wo die dialektische Freiheit des Chri­ sten als Sklavenexistenz – in engem Anschluss an Luthers Freiheitsschrift – entfaltet wird. 338  Vgl. Dialogus, wie Anm.  244, S.  77 (s. o. Anm.  292); s. auch Dialogus, S.  8 ; 22, 53, 61; vgl. Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  235, S.  246; Est tibi, wie Anm.  247, A 5v–6r, Th. 40 ff.; B 4r, Th.134; Tres eruditae epistulae, wie Anm.  247, A [6]r/v. 339  Vgl. Est tibi, wie Anm.  247, Th. 42 ff., A 6r; gegen Burckhardt, Täufer, wie Anm.  271, S.  7, sehe ich in den Thesen keinen spezifischen Ansatz für eine Entwicklung in Richtung Täufertum. Dass er „die Taufe allein auf den Glauben forderte“ (ebd.), war durchaus reformatorisches Gemeingut, dem allerdings der Keim späterer Differenzen innewohnen mochte. Instruktiv etwa die Th. 44 f.: „Quare vehementer errant, hoc loco, qui velint nullos baptisari, nisi qui credunt et iam parati sunt Christum assumere. qui mos olim fuit philosophorum sectis. Imo nulli aetati, ut minime in-

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§  7  Aktionale Aneignungen

scheinlich, dass Hugwald auf einem uns nicht bekannten Weg mit den Auseinandersetzungen im fernen Sachsen verbunden war, und verdeutlicht zum anderen, dass er von einem eigenen Schritt in das sich erst später formierende Täufertum noch weit entfernt war. Hugwald, der sprühende junge Intellektuelle und gewandte Rhetoriker, der als erster Schweizer überhaupt, aber auch als erster Student literarisch für die Reformation eintrat, unter seinesgleichen dafür warb und durch seine berufliche Verbindung zum Druckgewerbe die reformatorische Publizistik beförderte, um nach seinen frühen Texten dann als reformatorischer Schriftsteller auf immer zu verstummen, repräsentiert die dynamische und komplexe Wirkung der frühen Reformation auf eine studentische Biografie wie kaum ein zweiter. Er wurde zum Propagandisten der neuen, die alte Kirche restituierenden Lehre340 und vollzog in seiner Person den forcierten Übergang in das Milieu und in die mentale Welt jenes ‚gemeinen Mannes‘, der durch das reformatorische Priestertum aller Gläubigen eine enorme religiöse Aufwertung erfahren hatte. Auch wenn sich in Hugwalds Texten Akzente erkennen lassen, die seinen späteren Weg in die Radikalität anzudeuten scheinen, so verstand er sich doch selbst zunächst und vor allem als Nachfolger Luthers. Der wohl profilierteste Vertreter einer ‚studentischen Reformation‘, ein vereinzeltes, zum Sterben bereites Knäblein341, war ein Schüler des Theologieprofessors und Schriftauslegers in Wittenberg.342 In Hugwalds frühem Wirken präludieren Themen und Haltungen, tricatae malis hominum artibus, magis convenit baptismus.“ Est tibi, a.a.O., A 6r . Um die Tatsache, dass Hugwald die Kindertaufe verteidigte, in ihrer Bedeutung angemessen einschätzen zu können, muss man sich klarmachen, dass es unter den führenden reformatorischen Theologen als selbstverständlich galt, dass „hic articulus de parvulis baptisandis nunquam fuerit negatus ne ab haereticis quidam“ (Luther an Melanchthon 13.  1. 1522, MBW.T 1, S.  438,88 f. = WABr 2, S.  426,89 f.), so dass das „dogma Thomę [sc. Müntzers]“ (WABr 2, S.  546,5; vgl. zum Kontext: Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  123, S.  82 f.) zur Frage der Kindertaufe als unerhörte Neuerung galt. Auch für Oekolampad, einen der gelehrtesten Theologen unter den Reformatoren, stand fest, dass die Auffassung der Täufer eine „nova doctrina catholicę ecclesię hactenus [.  .  .] incognita“ sei. „Testantur Origenes, Cyprianus et Augustinus morem baptisandi parvulos ab apostolis profluxisse.“ Oekolampad an Haller, 8.  8. 1525, BAO 1, Nr.  269, S.  380 f. 340  Vgl. nur Dialogus, wie Anm.  244, S.  30; 33; 51 f.; Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  245, B 3v; Tres eruditae epistulae, wie Anm.  247, A 2vf. 341   „Habent me puerum, solitarium, ad mortem paratum.“ Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  581, 14 f. 342  Im Dialogus, wie Anm.  244, S.  55 wird Luther, ohne namentlich genannt zu werden, als „primus autor iam renascentis libertatis“ bezeichnet, und durch den Bezug auf Friedrich von Sachsen, seinen Verteidiger (a.a.O., S.  54; vgl. 59; 77), eindeutig identifiziert. Im Brief an die Zürcher nennt ihn Hugwald einen apostolischen Boten (Ad sanctam Tigurinam ecclesiam, wie Anm.  244, A 4v); im Brief an Artholphus verteidigt er ihn gegen dessen Vorwurf der immodestia (Tres eruditae epistulae, wie Anm.  247, A 2vf.; vgl. A 5v: Hinweis auf die positive Aufnahme Luthers in Paris). Die Behandlung des Wittenbergers in Hugwalds Vorrede zu dessen Operationes in Psalmos trägt eindeutig heroisierende Züge (vgl. unten II, §  8, Anm.  53 ff.). Mit Luther verbindet sich für Hugwald „veritas, Christiana pietas, patriae libertas“ (Hammer, AWA 1, wie Anm.  245, S.  576,14 f.; vgl. 580,3 f.). In ihm liebt und bewundert Hugwald nicht jenen konkreten Menschen und Mönch „sed ei a deo datam gratiam, non os ipsius, sed illum, qui ex eo loquitur, non vas, sed generosum vinum in eo.“ (A.a.O., S.  576,16 f.). Luthers Geist sei vom himmlischen Feuer des heiligen Geistes entzündet

17.  Zusammenfassende Schlussthesen

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die erst einige Jahre später historische Gestalt annehmen sollten. Ob dies unter dem Einfluss seiner Person oder seiner Schriften geschah, bleibt im Dunkeln. In der „studentischen Reformation“, wie sie Hugwald wie kein zweiter repräsentiert, waren noch Einstellungen, Haltungen und Perspektiven beieinander, die dann in der Etablierungsphase der Reformation auseinandertreten sollten.

17.  Zusammenfassende Schlussthesen 1.  Studenten sind eine für die Ausbreitungsdynamik der Reformation und deren interne Differenzierungsprozesse zentral wichtige Sozialgruppe, deren Bedeutung die bisherige Forschung trotz der prinzipiell zutreffenden These: „Ohne Universität keine Reformation“343, nicht angemessen erfasst hat. 2. Studentische Akteure wurden als handelnde ‚Avantgarde‘ reformatorischer Veränderungen zuerst in Wittenberg aktiv; zunächst, d. h. zwischen 1518 und ca. 1520/21, standen Provokationen gegen die Vertreter des klerikalen Ancien régime im Vordergrund. Im Kontext der Wittenberger Bewegung ist ein enger Konnex zwischen studentischen Akteuren und einzelnen Wittenberger Professoren erkennbar. 3.  Gemäß ihrer sozialen ‚Zwischenstellung‘ zwischen nicht-akademischen Mili­ eus und der Universität tritt die hinsichtlich ihres Status und Habitus schwerlich eindeutige Gruppe der Studenten ‚faktisch‘ ebenso wie in der literarischen Imagination – insbesondere in Dialogflugschriften – als Vermittler bestimmter theologischer Einsichten und religiöser Praktiken in die Lebenswelt ihrer Herkunftsmilieus bzw. des ‚gemeinen Mannes‘ ein. Die Studenten sind die ersten historischen Akteure der Reformationszeit, von denen dies gilt. Die spezifischen Spannungen zwischen universitärer, städtischer und territorialstaatlicher Gerichtsbarkeit vergrößerten prinzipiell die Möglichkeiten provokativer studentischer Aktionen, forcierten aber auch Luthers frühen, erstmals im Zusammenhang studentischer Proteste in Wittenberg im Sommer 1520 wirksam werdenden reformationsstrategischen Einsatz zugunsten landesherrlicher Ordnungs- und Disziplinierungsmaßnahmen. 4.  Die Krise gelehrter Bildung, die sich in den frühen 1520er Jahren, ausgehend von Wittenberg, aus der Kritik am überkommenen Bildungssystem, aber auch aus der reformatorischen Aufwertung des vom Gottesgeist inspirierten, unverbildeten Christenmenschen ergab, brachte für manche der bereits Studierenden eine individuelle berufliche Orientierungskrise mit sich. Erst im Zuge einer längeren Entwick(a.a.O., S.  576,17 ff.); ginge Luther unter, würden auch die Studien der bonae, besonders aber der apostolicae litterae dahingehen (a.a.O., S.  576,29 ff.). Für Hugwald erscheint Luther nicht nur als Fortsetzer, sondern als eigentlicher Vollender des humanistischen Aufbruchs. Auch als ‚Entberger‘ des Antichristen ist ihm der Wittenberger wichtig, siehe a.a.O., S.  577,19 ff. 343   Kaufmann, Universität, wie Anm.  92, S.  11 (dort kursiv); noch immer anregend: Karl Bauer, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der deutschen Reformation, Tübingen 1928.

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§  7  Aktionale Aneignungen

lung wurde es selbstverständlich, dass gelehrte Bildung im Rahmen der entstehenden protestantischen Kirchentümer eine unveräußerliche Bedeutung gewinnen sollte. 5.  Außerhalb des sächsischen Raumes sind Studenten als reformatorische Akteure nur relativ punktuell zu greifen. Dass sie eine nicht unwichtige Rolle bei der Drucklegung und Verbreitung reformatorischer Publikationen vor allem außerhalb Kursachsens spielten, kann allerdings als gesichert gelten. 6.  Im Sinne eigenständiger, selbstverantworteter Aktionen und Reflexionen sind die Momente der ‚studentischen Reformation‘ ephemere Phänomene der Jahre 1518 bis 1522. In dem Maße, in dem die Wittenberger Theologieprofessoren bzw. die Inhaber bestimmter Ämter die Gestaltung reformatorischer Veränderungen in Verbindung mit den weltlichen Obrigkeiten übernahmen, entschwanden die Möglichkeiten einer ‚studentischen Reformation‘. Die Studenten waren die erste Sozialgruppe der Reformationszeit, die die ‚Grenzen‘ ihres sozialen Standes zu überbrücken versuchte; sie waren auch die ersten, deren reformatorische Eigeninitiative gebremst, beendet oder kanalisiert wurde. 7.  Ulrich Hugwald ist ein in mancher Hinsicht ‚exemplarischer‘, in anderer Hinsicht einzigartiger Student. Exemplarisch ist er darin, dass er unter dem Eindruck vor allem Luthers in einen radikalen Gegensatz zum zeitgenössischen Kirchenwesen trat, seine darauf bezogenen bisherigen Lebens- und Karriereplanungen auch um den Preis persönlicher Gefährungen und familiärer und gesellschaftlicher Konflikte revidierte und sich zum Promotor reformatorischer Agitation und Publizistik entwickelte. Einzigartig ist das Ausmaß seines öffentlichen literarischen Engagements, seiner bis zur Martyriumsbereitschaft gesteigerten Emphase und seines der reformatorischen Umwertung des ‚gemeinen Mannes‘ bzw. der Laien korrespondierenden Lebensentwurfs, der ländliche Handarbeit und das Studium der sacrae literae verband und sich in einer frühzeitig radikal-reformatorische Züge aufweisenden Theologie verdichtete.

Anhang:  Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“ In den Akten der erzbischöflichen Administration in Magdeburg sind einige Schriftstücke zum Verlauf des „pfaffensturmen zu Erffurdt“344 überliefert, von denen hier nur diejenigen wiedergegeben werden, die Hinweise auf das Verhalten der Studenten bieten. Die Berichte der kurmainzischen Beamten wurden auf Anfrage Erzbischof Albrechts von Brandenburg angefertigt. Insbesondere das Stück a) stellt eine narrative Verbindung zwischen der demonstrativen Begrüßung Luthers auf seiner Reise nach Worms und den Folgen dieses Vorgangs für 344   Diese Bezeichnung für die Vorgänge findet sich in dem Schreiben des kaiserlichen Fiskals an die Stadt Erfurt, das in den Kontext der Zitation der Stadt vor das Reichskammergericht (nach dem 31.  1. 1522) gehört (LHASA, MD, A 37 bl, II, VX Nr.  58, Bl.  1r). Moderne Abschriften der beiden Schreiben, die nachfolgend wiedergegeben werden, befinden sich im Stadtarchiv Erfurt (5-200-3, Bd.  2, S.  35–37; 39 f.); für die Textkonstitution der Edition habe ich sie als nicht berücksichtigungswert erachtet.

Anhang:  Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“

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einige Reformationsanhänger in Erfurt, insbesondere Drach, einerseits und den Aktionen der Studenten andererseits her. Auch Luther tut dies in seinem Brief an Spalatin vom 14.  5. 1521 (WABr 2, Nr.  410, S.  337,14–22). Allerdings wird man sich darüber wundern können, dass den Studenten bei ihren Aktionen daran gelegen gewesen sein soll, das einem privilegierten Kleriker wie Draconites widerfahrene „Unrecht“ zu strafen. Aber wahrscheinlich war dies nur der Anlass, um ein offenbar gehasstes klerikales Regime – anfangs mit stillschweigender Billigung des Rates – zu attackieren.

a)  Brief des Sieglers [Johannes Sömmering] und des Küchenmeisters [Nikolaus Engelmann] an Erzbischof Albrecht, 27.  6. 1521 (LHASA, MD, A 37 bl, II, XIV Nr.  2, Bl.  54r –55v) [55v] Bericht des Siglers und alten küchenmeisters zu Erffurdt / Wie sich die ufrur gegen der Clerisey daselbst anfengklich begeben hat Dem Hochwirdigsten Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten unnd Herren Herrn Al­ brechten der Heiligen Romischen Kirchen des Tittels sancti Petri Ad vincula Cardinall345 / zu Mentz und Magdeburgk Ertzbischoffen / Des heiligen Romischen Reichs Ertzcantzler Churfursten unnd primaten In Germanien Administrator zu Halberstadt Marggrafen zw Brandenburgk ec Unsern gnedigsten herren [54r] Hochwirdigster Durchleuchtigster Hochgeborner Fürst Gnedigster herre Eweren Churfürstlichen gnaden seint unsere underthenige schuldige und gantz willige dienst mit allem vhleis zuvor Gnedigster Churfürst unnd herr / Uff / E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] / neher schreiben denselben eygentliche bericht zwzwschicken / Wie sich die handlunge zw Erffurdt am nehesten begeben / was gestalt / durch we[n] / unnd wie sich auch der Rathe unnd gemeyne Burgerschafft darinne gehalten habe / was auch vor schaden gescheen sey e[t]c. haben wir undertheniglich verlesen / Wollen denselben / E[uer] c[hur]f[ürstlichen] g[naden] underthenigen getreuwen meynunge nit bergen / das anfenglich als Martinus Luther zw Erffurdt inkomen / unnd uff keiserlicher agat / geleidt unnd bevelhe / hynauß gen Wormß faren wolt / seint Ime der Rector unnd vhill auß der universitet / auch geistliche / unnd vhill Burger zw Erffurdt entgegen geritten / unnd gegangen / unnd mit denselben zwene Canonicken zw sanct Sever / unnd eyner zw unser lieben frawen daselbst haben beyde dechant derselben Canonicken zwene Nemlich herrn Niclausen Rottendorffer346 Canonicker zw unser lieben fraw­ en / Unnd magistrum Draconem347 Canonick zw sanct Sever fürgenomen unnd sie anhenger Martini / auch exquiratos und hereticos angezeigt / Welchs sie sich entschuldiget / auch gesagt / das sie durch solich Ire entgegen reitten ader sunst / Martino nichts anhengick sein wollen / haben sein Bucher auch nit gelesen / Daruff herr Niclaus Rottendorffer in fryden plieben / Aber der Dechant Severi348 hait die entschuldigung Magister Draconis nit annemen wollen 345   Breve Leos X. vom 8.  5. 1518; Vollzug der Kardinalserhebung durch Cajetan am 1.  8. 1518 in Augsburg. Über Albrecht von Brandenburg umfassend: Andreas Tacke (Hg.), Der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen, 2 Bde., Regensburg 2006. 346   Nikolaus Rottendörfer war Kanoniker am Domstift seit 1506; er soll sich zwischenzeitlich auch in Wittenberg aufgehalten haben, vgl. Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  259. 347   Über Johannes Drach oder Draconites aus Karlstadt (1494–1566) vgl. Moeller-Stackmann, Städtische Predigten, wie Anm.  101, S.  50–60; passim; DBETh 1, 2005, S.  320 f.; MBW 11, S.  364 f. (Lit.). 348   Jacobus Doli[/e]ator (1473–1524), vgl. Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  259; 176; 219; Weiß, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  92, 94, 99, 125, 129.

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§  7  Aktionale Aneignungen

unnd denselben sub divinis als man Requiem Im chore Severi gesungen / auß der kirchen heissen gehen / unnd als sich derselb magister solichs beschwerdt / divina In seynem unnd anderen Canonicken unnd vicarien beyseyn suspendiret / darumb er auß der kirchen gangen unnd sich auch ein zeitlangk darin zwgehen enthalten / Als solichs der Rector349 unnd andere In der universitet desselben Magistri Draconis anhenger und gonner erfaren / haben / sie den beyden dechant unnd Capitteln Marie und Severi zum zweittenmaill libellos famosos zugeschrieben dieselben an beyder kirchen thoren gehefft / unnd dechant unnd Capittell Severi darinne fast gropp unnd unvernunfftig angetast / und begerdt Magistrum Dracone bye Inen In der kirchen unnd sunst / als Iren mit Canonicken zwleyden / mit angeheffter troe / wo das nit geschee / das sie beforchten es mochte der kirchen und personen zwschaden reichen / Welchs derselb dechant unnd Capittell zw horchen gefürdt / beschedigunge besorget unnd villeicht uff eyn protestacion zwgelaissen unnd gewilliget haben das derselb magister Draco widderumb bey Inen [54v] zw chore unnd Capittell gehen mocht / Er ist auch darauff widderumb In der kirchen unnd Capittell gangen / darnach haben etlich Studenten zw Erffurdt mit Irem anhange etlichen vicarijs Severi die Curthisani350 unnd villeicht etlichen Curthisanen zw Rome hie aussen In Iren sachen dinstbar gewest / Ire heuser uffge­ stossen unnd fenster außgeworffen351 / Darnach haben sie dem Dechant zw unser lieben fraw­ en / Dem dechant zw sanct Sever unnd etlichen Canonicken beyder kirchen Ire fenster unnd gitter zwschlagen unnd außgeworffen / Darnach haben sie dem Dechant zw unser lieben frawen unnd doctori Mattern352 Ire heuser bey der nacht mit gewalt uffgestossen / die fenster unnd kacheloffen / auch schencke kysten / und mertheyls haußradts darinne zwschlagen und zerhauwen / Was sie auch für bücher darinne funden alle zuryssen und zwhawren Als solchs gescheen haben beyde obgemelte Capittell / bey den Radt zw Erffurdt geschickt / Ime die gewaltsamen tadt unnd beschedigunge angezeigt unnd gebetten / zuverschaffen das sie als mitwoner unnd geistlichen In Erffurdt solcher gewaltsamer thadt unnd beschedigunge uberich stehen mochten / mit erbiethunge / wo Imant zw Inen zwpprechen hette / das E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] Irer zugleich unnd rechte mechtig sein solten / hait der Rath anzwbryngen angenohmen / Darnach seint die beschediger dem dechant zw unser lieben frawen 349

  Crotus Rubeanus; vgl. über ihn die Hinweise oben Anm.  119 sowie unten II, §  8, Anm.  68.   Das in der frühreformatorischen Polemik (vgl. etwa die anonyme Flugschrift Von dem Pfründenmarkt der Curtisanen .  .  . [Basel, Adam Petri], September 1521; VD 16 M 5120; s. unten III, §  13, Anm.  102 und Abb.  7; ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  90–104; vgl. Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, wie Anm.  130, S.  369,37) verbreitete Wort stammt aus dem Italienischen (cortigiano; vgl. DWb 2, Sp.  640) und bezeichnet zunächst am päpstlichen Hof tätige Personen, also kuriale „Höflinge“, dann aber auch allgemein die mit päpstlich verliehenen Pfründen und Ämtern ausgestatteten Personen. Sie waren Gegenstand der Gravamina (DRTA J. R. Bd.  2, S.  677,28–678,5: „Von anfechtung der cordissanen“); auch Luther attackierte das Phänomen in seiner Adelsschrift (WA 6, S.  424,9 = LuStA 2, S.  117,16; vgl. WA 6, S.  428,30; 431,22; vgl. WA 7, S.  646,29 [Jahresanfang 1521]). Die früheste Verwendung findet sich bei ihm wenige Wochen vor der Adelsschrift, im Sermon von den guten Werken, WA 6, S.  257,35. Aus Schmaltz’ Gedicht geht hervor, dass auch „martinianisch“ gesinnte Kleriker (Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, S.  373,307) von den wütenden Akteuren nicht verschont wurden; in einem anderen Fall wird berichtet, daß „martinianisches“ Schrifttum, das auf dem Tisch eines der überfallenen Geistlichen gelegen habe, dazu führte, dass er „unvorsert“ (a.a.O., S.  374,417) blieb. 351   Bei diesen ersten Übergriffen dürfte es sich um jene handeln, die in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai geschehen sind und von denen Luther am 14.5. an Spalatin berichtete, WABr 2, Nr.  410, S.  336–341, hier: 337,14–22. 352   Martin von der Marthen, imm. Erfurt 1473, gest. 1552; im Sommersemester 1521 zum Rektor gewählt; Kleineidam, Universitas 2, wie Anm.  105, S.  261; 324; Schottenloher, Bericht, wie Anm.  120, S.  84. 350

Anhang:  Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“

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abermals In sein haus gefallen / und haben alles / was nach der ersten beschedigunge da plieben / hinwegk genomen / unnd E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] / alter Sigler herr Johann Nithart unnd dem dechant zw sanct Sever Ire heuser bey der nacht uffgestossen alles was an haußrad provision unnd Gräden dar Innen gewest hinwegk genomen / die kacheloffen / die Tische / die Bücher / kisten / Betladen Brewpfannen unnd kessel unnd anders zu cleynen stücken zwhawen unnd zwschlagen / außgescheyden Weyn unnd Bir In den kellern haben sie zum teyll gedruncken / unnd den andern ligen lasßen / Unnd dem dechant zw sanct Severs In seyner stoben unnd Chammern auch nichts zwschlagen nach hinwegk genomen / Unnd uffs letzts / Nemlich uff Mitwochen nach Bonifatij353 seint Studenten unnd als man sagt vhill handwergksknechte / etlicher Burger Szone unnd burger zw Erffurdt / uber des Raths verboth unnd bevelh / etliche vom Adell uff dem lande / In der nacht vor Eylffen horen zwsamen komen / haben sich In drey hauffen geteylt 354 / Unnd angehuben der geistlichen heuser uffgehauwen was darinne gewest zum deill hinwegk genomen / das uberich zwschlagen unnd zwhauwen solchs hatt geweret bis uff den dornstag zw morgen / bis es Neune geschlagen hette / haben sie den Probst zw unser lieben frawen sein haus die Rotthors entdeckt / die wende unnd boden außgeschlagen unnd was darinne gefunden alles zwbrochen unnd zwrysßen [55r] unnd auch etlicher Canonicken unnd vicarien heuser uffgestossen unnd was noch darine gewest genomen unnd zerbrochen / Sie haben auch In etlichen kellern die reiffe an den fasszen abgehawen / unnd den weyn In keller lauffen lasßen / unnd seint zw solicher thadt / zw gelauffen Bachanten355 / unnd Schützen356 In den Schulen zu Erffurdt / auch gebaur von den dorffen / unnd haben dieselben nacht unnd tag xliiij geistlicher hoffe unnd heuser zerbrochen und verwüst / Under welchen auch E[uer] c[hur]f[ürstlicher] g[naden] haus die Notarey zum Weyssen Rade357 genandt / unnd eyn ander haus E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] / zwstendig darine eyn priester Herr Peter Keule wonet / doch die gerichts acta nit fundenn / Unnd alß man sagt uber iiij m[ille] gulden schaden zugefugt / In solicher angst unnd noit ist den herrn zw sanct Sever glaupliche warnunge komen / wo sie nit bey den Rath schicken / sie umb schütze unnd schirme bitten / unnd sich auch erbitten werden / der gemeynen uffsetze zum deill zwtragen / werde es dabey nit blieben / haben sie bey den Rath geschickt / Schutz unnd schirme gebeten / unnd sich erbotten / Das sie Malgeldt / Schlachtgeldt / unnd hauptgeldt / wie andere bürger in Erffurdt / geben wollen / Daruff Inen der Rath sagen lassen das sie dieselben nach Irem vermogen schutzen unnd schirmen Ire erbrechen den formunden unnd handwergken anzeigen / unnd Inen die beschlißliche meynunge daruff zwerkennen geben wollen / Es hait auch der Rath alßo balde verschafft / das die beschediger abgetrieben / unnd nit mehr heuser zerbrochen seint / Darnach hait der Rath dem Capittel zu sanct Sever eynen zettel zugeschickt daruff sie dem Rath auß grosser forcht widder zugeschrieben / Wie E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] hiebey angezeigt finden / Daruff aber von dem Rath noch kein antwordt entpfangen[.] Gnedigster Churfurst unnd herr / Wir seint auch eigentlich gewarnet gewest / das die Boße Rotte 353

  Im Jahr 1521 fiel der Bonifatiustag (5.6.) auf einen Mittwoch; demnach war der Mittwoch nach Bonifatius der 12.6. Das Datum des 12.6. ist als Beginn des „Pfaffensturms“ auch durch einen Bericht des Eberhard von Thor (zur Biographie s. Schottenloher, Bericht, wie Anm.  120, S.  72 f.) an das Kloster Tegernsee gesichert („mitwochen vor veitti“, a.a.O., S.  82). 354  Zur Einteilung in verschiedene Gruppen, die sich jeweils mit eigenen Losungen identifizierten, vgl. Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, wie Anm.  130, S.  371,185 ff.; vgl. Schottenloher, Bericht, wie Anm.  120, S.  84. 355   Fahrender Schüler; Vagabund, Halbgebildeter, der bettelnd herumzieht, vgl. Ulrich Goebel/Oskar Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd.  2, Berlin, New York 1994, S.  1618 f. 356   Unterster Schüler, Schulanfänger, vgl. DWb 15, Sp.  2127. 357   S. unten Anm.  360.

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§  7  Aktionale Aneignungen

/ E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] / Ertzbischofflichen Hoffe zu Erffurdt / Unnd das Zolhaust / auch Sturmen wolten / daruff die Amptleude bey den Rath geschickt unnd begerdt / denselben hoffe unnd sie mit sampt andren E[uer] c[hur]fürstliche g[naden] / dienern nach laud der vertrege zwschutzen unnd zwschirmen / hait sich der Rath zu thunde gutwillig erbotten / auch zum dritten maill fast stargk wachen laisßen / Unnd seint derselben vill In den selben E[uer] c[hur]f[ürstlichen] g[naden] hoff gangen / Unnd haben darinne eyn trunck gethan sich auch horen lasßen / das sich E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] Amptleude unnd diner nichts besorgen dorffen / auch sagt man das / das widder werdig predigen Szo die geistlichen unnd martini anhenger eyn zeitlang widereynander gethan solichem uffrure den Studenten ursache geben hab / Weitter [55v] wisßen wir E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] wer Itzo nit antzuzeigen / derselb uffs underthenigst bitten diß unser schreiben gnediglich zwunehmen und unser gnedigster herr zu sein / Auch gnediglich zuverfügen / das wir der halben nit verunglimpfft werden / wolden umb derselben E[uer] c[hur]f[ürstliche] g[naden] / wir mit unsern underthenigen schuldigen und gantz willigen diensten zwuerdienen willig sein Geben uff dornstag nach Johannis und pauli Anno ec xxi. E[uer] Churfürstliche g[naden] underthenige Sigler unnd alter küchenmeister zw Erf­ furdt

b)  Schreiben der Generalrichter an Albrecht von Brandenburg, 28.  6. 1521 (LHASA, MD, A 37 bl, II, XIV Nr.  2, Bl.  52r –52v) [52r] Hochwirdigster durchleuchtigster / Hochgeborner furst gnedigster / herr Ewere churf [ürstliche] gnaden seint unsere untherdenige schuldige und gantzwillige dienst Mit allem vleyß zuvor gnedigster / Churfurst und herr E[uere] churf[ürstliche] g[naden] Jungsten schreiben nach den selbigen E[uere] churf[ürstliche] g[naden]/ der handtlunge und uffrur / so sich zu Erffurdt kurtzlich begeben / gruntlich und eygentlichen bericht zu schicken was gestalt durch wen und / wie sich der ratht / und gemeine burgerschafft / darum gehalten / auch was vor scheden / gescheen / geben E[uer] c[hurfürstlichen] g[naden] wir untherthenige Meynunge / zuerkennen das sich ein hauff / studenten / zu sammen geworffen / Die gutht Martinisch haben wollen sein / sich vernemen lassen Die pfaffen prediger und / priester / und sunderlich / Curthisan zustraffen / und endtlich do hien bringen das sie auch Martino anhengen Müsten / daruff erstlich ettliche von aussen Die fenster und gitter zurwerffen volgendts / Die heuser uffgehawen und dorinne / was sie funde / zerschlagen In den kellern an wein und bier schaden gethan ettlich getruncken zum theil die vaß zurhawen / und den wein und bier auslauffen lassen etzlich veslin hinwegk getragen und verderbet / was sie an haußrath funden vil mit weck getragen. / Uff sulchs ist die priesterschafft verursacht und eynen Ratht zu Erfurth ersucht / sulche angezeigt / gebetten / sie zu beschützen und fur solche / gewalt zubeschirmen / haben die geistlichen / vom ratht / sulichs einem ratht anzubringen angenhomen / daruff ein ratht gemeiner burgerschafft und handwercken / gebotten und bevelhen / das ein Jeder sein gesint und diener do heym behalte / und des nachts mit der boßen rotthe / nicht mitlauffen ließe / Es seint nichts desteminder die priester gewarnet worden / Wie die studenten sie sturmen / wollen / haben ettlich under den priestern als vil Inen Moglich Ir habe und den besten hausratht / ausgetragen und auch personlich / In iren heusern nicht blieben358 358   Vgl. dazu auch die detaillierte Schilderung des offenbar als Augenzeuge berichtenden Got­ hard Schmaltz aus Gotha, in: Liliencron, Volkslieder, Bd.  3, wie Anm.  130, S.  370,69. Schmaltz’ Gedicht ist handschriftlich in Erfurter Chroniken überliefert, Liliencron, S.  376.

Anhang:  Zum Erfurter „Pfaffenstürmen“

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/ Also uff mittwuch nach [52v] bonifacii359 in der nacht umb zehen höre / haben sich die studenten versamelet / und mit hauffen umbgezogen. Man sagt auch das burger und handwercks gesellen uber eines rathts gebott / mit undergelauffen. Die heuser der geistlichen eins nach dem anderen uffgehawen darinne zurschlagen was sie funden / vil diengs weggetragen und merklichen schaden gethan. Das hatt gewerdtht / von zehen höre obgemelt an / biß uff den tag widder zu zehen horen. Seint auch bawern zugelauffen und der hauff Mercklich groß wurden / das ein ratht / sie hadt Müssen mit gewalt / und gewappenter handt abtreiben. Es seint als Man sagt / bey fünffzig heuser der gestalt vergewaltiget / und beschediget Under welchen auch E[uer] churf[ürstliche] g[naden] Notarij gnant zum weyssen radde und sunst noch eins E[uer] churf[ürstliche] g[naden] / zustendig nicht verschondt.360 Doch haben wir die gerichts hendel vorwandetht die onverletzt blieben Man schatzt und acht die scheden uff / iiii tausent gulden Uber das / haben sich die rethte horen lassen die priesterschafft sall thun als burger / und burgerlich beschwerung mit tragen / oder wollen widder kommen / Daruff / Die geistlichen bey deme rathte / sich erbotten zu / bürgerlichen beschwerungen Ist sulch uffrure wenig / gesullet / und volgendt vom ratht zu Erffurdt den geistlichen ettlich artickel und punct In schrifften furgehalten361 daruff die geistlichen nach Irem bedenck zeit In schriften anthwurth / geben / was aber / endtlich beschlossen wurdt konnen wir E[uer] churf[ürstliche] g[naden] nach zur zeit / nicht schreiben / Eygentlichen und weythter E[uer] churf[ürstliche] g[naden] diesser handlünge halber wissen wir nicht bericht zuthun E[uer] churf[ürstliche] g[naden] untherdenige gauthwillige dienst / zuerzeigen seint wir altzeit gantzwillig. Datum Erffurdt uff freytag nach Joannis baptiste Anno D xxi. E[uer] churf[ürstliche] g[naden] Exequtores generales Erffurdenses.

359

  S. Anm.  353.   In Schmaltz’ Gedicht heißt es: „Noch einen wollten sie [sc. die vandalierenden Studenten] visitieren, / genant der dechant zu sanct Sever, / das weiße rad, die Lauengaß / und alles was darunter waß.“ Liliencron, a.a.O., S.  371,176–180. Im Haus zum Weißen Rade war das Notariat des kurmainzischen Generalgerichts untergebracht, vgl. Weiß, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  128. Zu besonderen Aggressionen gegenüber dem „oft gen Meinz“ (a.a.O., 372,230) berichtenden „kirchner“ vgl. S.  373,225 ff.; 374,413.418. Aus dem von Eberhard von Thor nach Kloster Tegernsee gesandten Bericht über den Erfurter „Pfaffensturm“ geht hervor, dass es in den Amtsgebäuden „roth thur“ und „zcum weyssen radt“ zu einer gezielten Zerstörung von Akten kam („registern, processen, Citation ec unnd ander handeling“, Schottenloher, Bericht, wie Anm.  120, S.  84), die wohl als Symbole administrativer und ökonomischer Herrschaft des Klerus verstanden wurden. 361  Vgl. Weiß, Die frommen Bürger, wie Anm.  105, S.  127–129. 360

§  8  Stilisierungen: Die Heroisierung Luthers in Wort und Bild 1.  Einleitende Bemerkungen Heroen sind nach Hegel solche „Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist.“1 Im Sinne dieser Definition des Helden als eines Individuums, das, eminent selbständig, immanenten Bindungen entrückt ist und aus der unverwechselbaren persönlichen Unmittelbarkeit seines gewissensgebundenen Gottesbewusstseins heraus handelt, ja eine Tat vollbringt, die eine Robustheit, eine Kraft, eine Tapferkeit erfordert bzw. zur Darstellung bringt, die das Maß des Alltäglichen sprengt und so im Individuellen ein Allgemeines und Substantielles in Erscheinung treten lässt, ist der Wittenberger Augustinermönch Martin Luther sehr bald nach dem Bekanntwerden seiner öffentlichen Kritik am Ablass als Heros bewertet worden. Der ‚heroische Luther‘ kann in der Hegelschen Perspektive auf den Heros also als ein aus innerer Überzeugung bzw. Gesinnung heraus Tätiger betrachtet werden, dessen Handeln bzw. Ergehen als Ausdruck des – wie Hegel formuliert – „Rechte[n] und Sittliche[n]“ zu gelten hat, mithin fundamentalen und unhintergehbaren Wahrheitsansprüchen genügt. Diese Kriteriologie des Heroischen bietet die Möglichkeit, aus der kaum zu überschauenden Vielfalt sprachlicher und bildlicher Bewertungen, die Martin Luther seit 1518/9 in einer – wenn ich recht sehe – in quantitativer Hinsicht ihresgleichen suchenden Intensität zuteil wurden, einzelne auszuwählen und sich so dem Zwang zu entziehen, die idealisierenden Porträts, die überschwänglichen Epitheta, die euphorisierenden Stilisierungen des gottgesandten Propheten, des Theanders, des Gottesmannes, des christomorphen Märtyrers, des paulomorphen Gottesknechts, des neuen Daniels, des dritten Elia, des seit tausend Jahren kundigsten Schriftauslegers und des geweissagten Reformators2, mehr oder weniger vollständig zu berücksichtigen. 1   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd.  1, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1985, S.  185 f. 2   Unter dem Gesichtspunkt der Materialsammlung bisher – soweit ich sehe – unerreicht ist das Buch von Hans Preuß, Martin Luther. Der Prophet, Gütersloh 1933; mit wichtigen Ausgriffen ins spätere 16. und ins 17. Jahrhundert, insbesondere zu den Reformationsjubiläen, vgl. auch Robert Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero. Images of the Reformer, 1520–1620, Grand

1.  Einleitende Bemerkungen

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Die heroisierenden Bewertungen Luthers im Sinne des skizzierten Heroenbegriffs beziehen sich demnach auf solche sprachlichen Äußerungen oder bildlichen Darstellungen, die Luther als Täter und bei einer Tätigkeit darstellen, die den habituellen Kontext und die Konventionen des Gelehrtentums und des Mönchsstandes konterkarieren oder überschreiten und ihn innerhalb eines narrativen Zusammenhanges – etwa als Sieger über das Papsttum, als zu Unrecht verfolgten Lehrer des Evangeliums usw. – und, im Falle der Bilder, zumeist innerhalb eines Personenensembles exponieren. Die heroisierenden Darstellungen situieren Luther mittels biblischheilsgeschichtlicher, antikisierender oder der zeitgenössischen Lebenswelt entstammender Motive in einem Imaginarium, das seine Überlegenheit durch körperliche Stärke oder achtungsgebietende szenische Präsenz zum Ausdruck bringt. Im Unterschied zu den monumentalen späteren Ganzkörperporträts der Cranachschule, die die Unerschütterlichkeit der doctrina Lutherana in der Gestalt des fest stehenden, ‚fetten‘3 Reformators visualisierten, geht es bei den heroisierenden Darstellungen nicht um die Person Luthers als solche, sondern darum, was sie leistet und inwiefern ihr Lebenseinsatz für jeden zeitgenössischen Rezipienten heilsame Wirkungen hervorbringt bzw. herausragende Geltung besitzt. Die Heroisierung LuRapids 1999, bes. S.  75–101; 121–134 (vornehmlich mit Beispielen, die außerhalb des in diesem Kapitel zugrundegelegten historischen Rahmens liegen); zur frühreformatorischen Heroisierung s. bes. S.  26–33 (wobei Kolb Luthers Selbstverständnis und die an ihn herangetragenen Deutungen ineinanderblendet). Ob sich die NS-ideologischen Züge des Preußschen Lutherbildes (vgl. Irene Dingel, Instrumentalisierung von Geschichte: Nationalsozialismus und Lutherinterpretation am Beispiel des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß, in: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann/Olaf Mörke/Luise Schorn-Schütte [Hg.], Wege der Neuzeit. Festschrift Heinz Schilling [Historische Forschungen 75], Berlin 2007, S.  269–284; Hanns Christof Brennecke, Zwischen Luthertum und Nationalismus. Kirchengeschichte in Erlangen, in: Helmut Neuhaus [Hg.], Geschichtswissenschaft in Erlangen [Erlanger Studien zur Geschichte 6], Erlangen, Jena 2000, S.  227– 268, hier: 262 ff.; zur evangelischen Kirchenhistoriographie im ‚Dritten Reich‘ vgl. auch: Thomas Kaufmann/Harry Oelke [Hg.], Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘ [VWGTh 21], Gütersloh 2002) in seinem Propheten-Buch nachweisen lassen, scheint mir allerdings zweifelhaft. Preuß’ Vorwort ist auf den Sebastianstag (20.1.) 1933 datiert. 3   Lyndal Roper, Martin Luther’s Body: The „Stout Doctor“ and His Biographers, in: The American Historical Review 115, Nr.  2, 2010, S.  350–384. Beispiele für diesen monumentalisierenden Darstellungstyp sind etwa die Ganzkörperdarstellungen im Doppelporträt mit Melanchthon, die, wenn ich recht sehe, nicht selten im Kirchenraum ihren Ort hatten – etwa auf der Alltagsseite des Salzwedeler Cranach-Altars (Ulrich Kalmbach/Jürgen M. Pietsch, Der Weinberg-Altar von Lucas Cranach dem Jüngeren aus der Mönchskirche in Salzwedel, Leipzig 22007, S.  6 f. [Abb. S.  7]) – und die sich von den in der Tradition des humanistischen Freundschaftsbildes gestalteten kleinformatigen Doppelbildnissen im Halbporträt, die Cranach seit 1532 von Luther und Melanchthon in großer Menge produzierte (vgl. Rainer Stamm [Hg.], Lucas Cranach der Schnellste, Bremen 2009, Nr.  10/11; 12/13), signifikant unterschieden. Die druckgrafische Variante dieses Bildtypus der unerschütterlichen Kirchenlehrer im Ganzkörperporträt findet sich gut greifbar in: Walter L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut 1550–1600. Bd.  1, New York 1975, S.  159 f.; eine eindrucksvolle Rekonstruktion der Jenenser Inszenierung der Grabplatte Luthers von 1571 bietet: Ruth Slenczka, Bemalte Bronze hinter Glas? Luthers Grabplatte in Jena 1571 als „protestantische Reliquie“, in: Philipp Zitzelsperger (Hg.), Grabmal und Körper – zwischen Präsentation und Realpräsenz in der frühen Neuzeit, in: Kunsttexte.de Nr.  4 /2010, S.  1–20.

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§  8  Stilisierungen

thers ist demnach ein entscheidendes Mittel, die Bedeutung seines Wirkens ‚pro me‘ zu veranschaulichen bzw. zu behaupten. Trennscharfe Abgrenzungen des Heroischen gegenüber dem Heiligen lassen sich kaum vornehmen, da der Heros Luther auch in die ikonographischen und kulturellen Traditionslinien des Heiligenkultes hineingestellt wurde. Doch im Vergleich mit dem Heiligen liegt der Akzent beim Heros eher auf dem Beeindruckenden seines Tuns als auf der Aura seines Seins. Angesichts einer dezidiert christlich-skeptischen Codierung des Heroischen, wie sie – durchaus wirkungsreich – ein Philosoph wie Giovanni Francesco Pico della Mirandola im unmittelbaren historischen Vorfeld der Reformation vertrat4, scheint es daher legitim, gerade auch die christlichen als he­ roische Motive zu verstehen. Insofern geht das Heroische des Lutherbildes nicht in Motiven der Antikenrezeption auf, auch wenn die historisch frühesten Beispiele einer Heroisierung des Wittenbergers von Humanisten stammten und sich bei ihnen antik-pagane Vergleichs- und Wertungsmuster besonderer Wertschätzung erfreuten. Im Interesse des handlungsorientierten Verständnisses des Heroischen, dem hier gefolgt wird, werden heroisierende Elemente, wie sie insbesondere in den Por4

  Giovanni Francesco Pico betrieb seine gelehrte Auslegung dreier Hymnen an die Heilige Trinität, Christus und Maria, die eine Fülle patristischer und paganer antiker Autoren für die Kommentierung heranzog, dezidiert „ad arcana religionis haurienda.“ (A 2v). Durch die Texte sollten ihre Leser „ad pietatem sensus concitantur, & ad mentis famulatum eriguntur.“ (Ebd.). Aus Anlass des Verses „Mille per Europam divum portenta nefandis“ kam Pico auf das Wesen des Heros zu sprechen und trug aus der Tradition Folgendes zusammen: Während ein „divus“ jemand sei, den Menschen für einen Gott hielten, gelte vom Heros: „Heros autem minor divo. Unde Horat[ius] in arte poetica. [Vgl. De arte poetica 114; 224 ], Intererit multum divus ne loquatur an heros. [.  .  .] apud Pindarum quoque legimus in Nemeonicis [vgl. Dieter Bremer , Pindar. Siegeslieder, griechisch deutsch, München 1992, S.  233 f. ], Apollinem consultum respondisse, Herculem primo ut heroa, mox ut deum honorari debere. [Es folgen weitere Belege bis hin zu Augustin.] Nostra autem aetate receptum apud plerosque, ut divorum nomen caelitibus beatisque animis adscribatur, quod olim erat scelestis etiam principibus commune. Nec vulgus etiam literatorum abhorret ab hac nuncupatione, vivis nostri temporis principibus & divitibus attribuenda, quod sane recte factum minime videri debet.“ Giovanni Francesco Pico della Mirandola, Hymni tres ad Sanctam Trinitatem, ad Christum et ad Virginem Mariam, Straßburg [.  .  .] 1511; VD 16 P 2644; Ex. SUB München {digit.}, E 4v. Zu Giovanni Francescos philosophischem Skeptizismus, der ihn zu „schrankenlose[m] Glaube[n], dem das Geschenk der göttlichen Gnade entspricht“, veranlasst habe, vgl. knapp: Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947, S.  159–161 (zit. 161); zur Biographie und politischen Stellung Giovanni Francesco Picos vgl. Ada Traldi, Gianfrancesco Pico della Mirandola: „Il Literatissimo“ [Biblioteca 10], Carpi 1994; zu Giovanni Francesco Picos dezidiert christentumsapologetischer Umgangsweise mit disparaten philosophischen Traditionen vgl. Gian Carlo Garfagnini, Savonarola tra Giovanni e Gianfrancesco Pico, in: Ders. (Hg.), Giovanni Pico della Mirandola – Convegno internazionale di studi nel cinquecentesimo anniversario della morte (1494–1994) [Studi Pichiani 5], Mirandola 1997, Bd.  1, S.  237–279, bes. 261 ff.; sowie Charles B. Schmitt, Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469–1533) and his Critique of Aristo­ tle, The Hague 1967, S.  35; passim. In seinem Examen vanitatis doctrinae gentium interpretierte G. F. Pico die Heroen durch ihre Zwischenstellung zwischen Menschen und Dämonen, „tamquam semidei“; gemeinsam gehörten sie mit den Göttern unter die animalia rationalia, Giovanni-Francesco Pico – Giovanni Pico della Mirandola, Opera Omnia (1557–1573), Bd.  2 Fasc. 2, Basel 1573, 2. ND Hildesheim 2005, S.  1127 f.

1.  Einleitende Bemerkungen

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trätdarstellungen Cranachs begegnen – man denke etwa an die Motive des antiken Heroen-, insbesondere Herkulesporträts aufgreifende Stirnwulst auf Kupferstichen und Medaillen des einen Doktorhut tragenden Luther5 oder an den Heldenschädel des die Fesseln des monastischen und des gelehrten Standes sprengenden Junkers Jörg – im Folgenden eher dilatorisch behandelt. Sie sind für den kulturellen Zusammenhang der Wahrnehmung und Bewertung Luthers allerdings insofern aufschlussreich, als sie den Wittenberger Bettelmönch und Theologieprofessor partiell außerhalb der Darstellungskonventionen seines Standes situierten und die elementare Botschaft transportierten, dass der hier Dargestellte völlig aus dem Rahmen des Herkömmlichen herausfalle: Er sei ein ganz besonderer, ein einzigartiger, ein das Maß der Sterblichen überragender Mensch. Heroisierende Darstellungen Luthers im Bild waren zunächst vornehmlich ein Moment der frühen Reformationszeit; nach dem Bauernkrieg dominierten die Cranachporträts in ihren je zeit- und alterstypischen Varianten. An den nicht auf Porträtähnlichkeit ausgerichteten heroisierenden Darstellungen, die ihren Schwerpunkt in den oberdeutschen Städten hatten, ist hingegen kaum ein Einfluss der kursächsischen Bildpolitik zu erkennen. Die Konjunktur der heroisierenden Lutherdarstellungen in der Zeit zwischen 1520/1 und 1524/5 war mit den euphorischen Reaktionen der Humanisten auf Luther engstens verbunden und von der die Aufbruchsphase der reformatorischen Bewegung prägenden Opposition „Luther versus Papst“ bestimmt. Dass der Rückgang der Heroisierungen Luthers in Wort und Bild chronologisch mit dem Bauernkrieg und dem Ausbruch des innerreformatorischen Abendmahlsstreites zusammenfiel, dürfte kaum zufällig sein: Die Schatten des politischen und theologischen Widerspruchs, die seit 1524/5 auf den Reformator fielen, haben zu einer Differenzierung seines Bildes geführt, die eine Heroisierung kaum mehr zuließ. Die späteren konfessionellen Heroisierungen, in denen der machtvoll handelnde Reformator der Papstkirche einen tödlichen Schlag versetzt – symptomatisch etwa in dem Blatt Lutherus triumphans aus den 1560er Jahren oder in zahlreichen illustrierten Flugblättern des Reformationsjubliäums von 16176 –, unterschieden sich von frühreformatorischen Darstellungen nicht selten dadurch, dass das Bild des Wittenberger Heros nun porträtähnlich gestaltet war. Während das Heroische in der Frühzeit der Reformation gleichsam eine Rolle war, die auf Luthers Person ange5  Vgl. Martin Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt/M. 1984, S.  43 ff.; s. u. Anm.  83. 6   Abb. z. B. in: Wolfgang Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd.  2 : Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Teil  2 : Historica, Tübingen 21997, Nr.  18, S.  36; weitere bibliografische Hinweise in: Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, S.  217 f. Anm.  38 (dort auch zum historischen Kontext des Lutherus triumphans, dem Kampf gegen die Jesuiten); s. dazu auch: Michael Niemetz, Antijesuitische Bildpublizistik in der Frühen Neuzeit [Jesuitica 13], Regensburg 2008, S.  279 f., und zum Kontext: S.  21 ff.; zum Reformationsjubiläum von 1617, besonders unter Rekurs auf Flugblätter: Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit, in: ZThK 107, 2010, S.  285– 324.

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§  8  Stilisierungen

wandt wurde, wurde diese für das konfessionelle Luthertum der Maßstab des Heroischen; der Reformator war zu einer Ikone des Monumentalen geworden. Im Folgenden werden zunächst einige Beobachtungen zu den bereits 1518 breit einsetzenden literarischen Heroisierungen Luthers angestellt (2.) und dann die visuellen Beispiele (3.) gesichtet und analysiert.

2.  Literarische Heroisierungen Luthers In einer der prominentesten Äußerungen eines Humanisten aus der Frühzeit der Reformation, der anonym publizierten – freilich dem Stiftsprediger und Theologieprofessor Wolfgang F. Capito7 zuzuschreibenden – Vorrede zur ersten Luthersammelausgabe, die im Oktober 1518 in der Offizin Johann Frobens in Basel erschien8, wurde der ehrwürdige Pater Martin Luther mit dem Propheten Daniel verglichen. Christus habe ihn gesandt, damit er die Missbräuche jener Theologen wie Eck oder Prierias9 offenlege, die die aus den Kommentaren der Alten beleuchtete Evangelica ac Paulina Theologia missachteten und die christliche Wahrheit durch philosophische 7   Beate Stierle, Capito als Humanist [QFRG 42], Gütersloh 1974, S.  108 f.; James M. Kittelson, Wolfgang Capito, From Humanist to Reformer [SMRT 17], Leiden 1975, S.  38 ff.; Thomas Kaufmann, Capito, Wolfgang Fabritius, in: Ders., Reformatoren, Göttingen 1998, S.  40–42; ders., Capito als heimlicher Propagandist der frühen Wittenberger Theologie, in: ZKG 103, 1992, S.  81– 86; ders., Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  39–62; Erika Rummel/Milton Kooistra (Hg., Übers.), The Correspondence of Wolfgang Capito, Bd.  1: 1507–1523; Bd.  2 : 1524–1531, Toronto, Buffalo, London 2005; 2009. 8   Der Text liegt bisher nur in dem Erstdruck der Frobenschen Sammelausgabe vom Oktober 1518, in den Schürerschen Ausgaben von Februar und August 1519 und bei Valentin Ernst Löscher, Vollständige Reformations-Acta und Documenta, Buch 3, Leipzig 1729, S.  82 f. (vgl. dazu Hans Volz, Die ersten Sammelausgaben [1518–1520], in: WA 60, S.  429–460, hier: 431–442; 607 f., Nr.  1a/b (s. Anm.  9); in englischer Übersetzung in: Rummel, Correspondence, wie Anm.  7, Bd.  1, S.  36–38, vor. Zu Johann Froben vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51], Wiesbaden 2007, S.  63 f. [Lit.]. Um der Bedeutung des Textes willen drucke ich ihn unten im Anhang zu diesem Kapitel ab. Die folgenden Hinweise beziehen sich auf diesen Text. 9   Vgl. die gleichfalls anonyme, m. E. Capito zuzuschreibende Vorrede zu Karlstadts Thesen gegen Eck, die in die Frobensche Sammelausgabe (Ad Leonem X., s. unten, S.  226 f.) eingegangen ist, aber zuvor schon in einem Einzeldruck (Kaufmann, Propagandist, wie Anm.  8) verbreitet worden war: „Conclusiones Reverendi Patris D. Martini Lutheri de virtute indulgentiarum ex medio scripturarum campo decerptas, Eckius sophistico dente conatus est arrodere, Scoti, Capreoli, Durandi, Alphonsi, Gabrielis, aliorum novorum doctorum opinionibus nimium confisus. [.  .  .] Id [sc. die biblische Grundlage einer theologischen Meinung darzustellen] quod non fecit M. sacri Palatii F. Sylvester Prieras [sic], qui nuper Martino Lutherio respondit, sed sic, ut Theologis & non Theologis risum moverit, cum sua ecclesia essentiali, virtuali, repraesentativa.“ Ad Leonem X. Pontificem Maximum, Resolutiones Disputationum de virtute indulgentiarum reverendi patris et sacrae Theologiae doctoris Martini Luther Augustiniani Vittenbergensis [Basel, Johann Froben] 1518; VD 16 L 3407; Benzing/Claus, Nr.  3 ; Ex. BSB München 4 Polem 1898, S.  226 f.; vgl. zu den frühen Kontroversen zuletzt: Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  201 ff.

2.  Literarische Heroisierungen Luthers

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und logische Operationen pervertierten. Das Ziel der Vorrede bestand darin, die lauteren (candidi) Theologen davon zu überzeugen, dass Paulus und die Kirchenväter Aristoteles und den Scholastikern vorzuziehen seien; Christus dürfe nicht verwelt­ licht (non ad mundum trahant), sondern die Welt müsse zur doctrina Christi hingezogen werden; die Geistlichen seien angesichts der religiösen Bildungsfortschritte der Laien10 gehalten, sich auf die tragfähigen Grundlagen des wahren und reinen Christentums zurückzubesinnen. Wie der vom Geist Gottes erleuchtete Prophet am babylonischen Hof erscheint Luther als inspirierter Lehrer des Evangeliums, der die Dunkelheit der Scholastik vertreibt und die Mängel des zeitgenössischen Kirchenwesens offenlegt. In einem kaum weniger prominenten, weit verbreiteten Text, der gleichfalls zunächst anonym erschienenen Schützred Lazarus Spenglers aus dem Herbst 151911, der ersten publizistischen Äußerung zugunsten des Wittenberger Theologen von einem Laien in der Volkssprache, wurde die von Capito inaugurierte12 Danielprädikation aufgenommen13 und aus der Sphäre der Ermahnung eines Theologen an andere lautere Theologen in die der laikalen Polemik gegen die Theologen überführt: „Ich hab bey mir allweg darfür geacht und halt es auß vil treffenlichen, unwidersprichlichen indicia und antzaigungen noch für unzweyfenlich, das Got der almechtig wider dise ungeschickte, verdamliche yrrung [sc. der scholastischen Theologie bzw. des zeitgenössischen Kirchenwesens] durch doctor Luthern ainen Daniel im volck erweckt hab, uns die augen unser blinthait, darinnen wir fürwar auß verfürung unser theologi nun etwan vil zeit gelegen seind, zu eröffnen und den nebel und fünsternus solcher unschicklikait von uns zu nemen [.  .  .].“14 Luther ist demnach ein – wie der An-

10   Dieser Aspekt spielt auch in der Vorrede zu Karlstadts Thesen (s. Anm.  9) eine wichtige Rolle: „Quod si laici resipiscente passim mundo non tam ex libris, quos etiam nobis Theologis meliores legunt, quam ex ingenii sagacitate, multa quotidie reprehendunt circa Christianismum, quae secus habere putant, quid oportet nos facere a vulgo longe lateque remotos? Aperite tandem per Dominum nostrum Iesum Chrisum oculos vestros o Theologi, et omissis scholasticis opinionibus, omissis puerilibus digladiationibus, ad ipsos scripturarum fontes accedite.“ Ad Leonem X., wie Anm.  9, S.  227. 11   Ediert in: Berndt Hamm/Wolfgang Huber (Hg.), Lazarus Spengler Schriften, Bd.  1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525 [QFRG 61], Gütersloh 1995, Nr.  6, S.  75–102; zu Spengler vgl. den Band: Berndt Hamm, Lazarus Spengler (1479–1534) [SuR N. R. 25], Tübingen 2004, bes. S.  171 ff. (zu Luther und Spengler). 12  Vgl. Wilhelm Gußmann, D. Johann Ecks vierhundertvier Artikel zum Reichstag von Augsburg 1530 [Quellen und Forschungen zur Geschichte des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses 2], Kassel 1930, S.  269 ff. 13   Die von Gußmann offen gelassene Frage der Priorität („Ob Spengler von Kapito abhängig ist oder nicht, müssen wir uns versagen zu entscheiden, da wir nicht einmal ausmachen können, welche Äußerung älter ist, die von Spengler oder die von Kapito.“ Gußmann, Artikel, wie Anm.  12, S.  271) ist meines Erachtens doch eindeutig entscheidbar: Capitos anonym erschienene Vorrede zur Frobenschen Sammelausgabe lag im Okt. 1518, d. h. ca. ein Jahr vor der Abfassung der Spenglerschen Schützred, die die Leipziger Disputation voraussetzt, vor. 14   Hamm/Huber, Spengler, Bd.  1, wie Anm.  11, S.  100, 1–6.

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onymus überzeugt ist – offenkundig von Gott erwähltes prophetisches Instrument, das das von obskuranten Theologen in die Finsternis geführte Volk Christi befreit. Die vor allem für Spenglers Rezeption des Danielepithetons charakteristische Wertung Luthers als eines von Gott gesandten Propheten, der die unwahre Lehre der Papstkirche und ihrer Theologen entdeckt und widerlegt und den armen Laien das befreiende Evangelium bzw. Christus offenbart, ist auch in die in zahlreichen Drucken vorliegende Flugschrift Die göttliche Mühle15 aufgenommen worden.16 Das heroisierende Narrativ von dem den Feinden Christi und des Evangeliums machtvoll und mutig entgegentretenden prophetischen Lehrer Luther hat also in der durch den Erasmusvertrauten Capito aufgebrachten17 Danielprädikation seinen frühesten und wohl zunächst wirksamsten Ausdruck gefunden. Auch wenn das Danielepitheton für Eck und Aleander zu einem weiteren Anlass wurde, den so Bezeichneten der Ketzerei und der Blasphemie zu bezichtigen18, so beschränkte sich seine Wirkung im Ganzen doch wohl vor allem auf die frühesten Anfänge der reformatorischen Publizistik. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die biblische Danielgestalt ja als inspirierter Prophet unter Gottlosen und Irrgläubigen auftrat und martyriologisch konnotiert war; infolge der Ausbreitung der reformatorischen Bewegung, dem Bann Luthers, der Verlagerung vom antischolastischen Kampf auf die Fundierung eines evangelischen Kirchenwesens und seiner Rückkehr von der Wartburg legte sich der Vergleich mit dem singulären jüdischen Wahrheitskünder am Hofe des Darius kaum mehr nahe. Von ungleich dauerhafterer Bedeutung sollte sich aber ein anderer Prophetenvergleich erweisen: derjenige mit Elia. Wenn ich recht sehe, wohnte auch dem Eliaepitheton zunächst eine primär he15   VD 16 S 5311; Ed. in: Oskar Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, 3 Bde. Hannover 21863, ND Hildesheim 1966, Bd.  1, S.  19 ff.; vgl. dazu: Peter Haeg, Die Drucker der „Göttlichen Mühle“ von 1521, in: Schweizerisches Gutenbergmuseum 40, 1954, S.  135–150; Chri­ stine Göttler, Das älteste Zwingli-Bildnis? Zwingli als Bilderfinder. Der Titelholzschnitt zur „Beschreibung der göttlichen Müly“, in: Hans-Dietrich Altendorf/Peter Jetzler (Hg.), Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, Zürich 1984, S.  19–39; s. unten Anm.  129; Abb.  18. 16   „[I]n hoffnung unser schöpfer werde mit seinem göttlichen gnaden gedachtem müller (welchen ich acht für den anderen Danielem als ein waren propheten, auß dem ungezweifelt der heilig geist redt) beistant thun, damit das süß mel in scherpfe seiner vernunft gebeutlet durch die unver­ stendigen blinden tollen verstopften geitigen und hochfertigen, so sich achten gelert sein, in iren verkerten blindheiten verharrent nit gehindert, sunder uns armen sünder sölich außerwelt gebachen brot, das Christus selb ist, zu erfolgung ewiger säligkeit gedienen möge. amen.“ Schade, Satiren, Bd.  1, wie Anm.  15, S.  19. Die unter Rekurs auf das Titelblatt (s. auch Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, S.  311) und Zwinglis Kritik an Sägers Dichtung (Z 7, S.  457,5 f.) begründete These Gußmanns (wie Anm.  12, S.  273), der hier genannte Daniel müsse Erasmus sein, halte ich für unzutreffend, und zwar 1. weil die Text-Bildkonsonanz nicht überbetont werden sollte, 2. nicht erkennbar ist, warum Erasmus – anders als Luther im Jahr 1521! – des besonderen göttlichen Beistandes bedürftig sein sollte und 3. meines Wissens sonst kein Beispiel für die Anwendung des Danielepithetons auf Erasmus bekannt ist. 17   Ältere Belege als die Vorrede zur Froben-Sammelausgabe sind mir nicht bekannt. Freilich führt Capito das Epitheton so ein, als ob es geläufig sei („quem [sc. Luther] plerique putant velut Danielem quendam a CHRISTO [.  .  .] missum“, s. unten Anhang). 18  Vgl. Gußmann, Artikel, wie Anm.  12, S.  271; 311 Anm.  139.

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roisierende Tendenz inne: Es sollte das Prophetische in Verbindung mit dem Heldenhaft-Kämpferischen zum Ausdruck bringen, ja den ernsthaften und unbeugsamen Streiter Gottes würdigen, der sich gegen eine gewaltige Übermacht römischer Baalspriester stemmte. Als frühester Beleg für die Bezeichnung Luthers als eines Elia hat eine briefliche Äußerung Zwinglis zu gelten.19 Demnach war in Zwinglis Korrespondenz mit dem Freiburger Juristen Ulrich Zasius, der Karlstadt und Luther in einer Schrift gegen Eck lobend erwähnt und den Augustinereremiten als „theologorum Phoenix“20 bezeichnet hatte, erwogen worden, Luther mit dem Propheten aus Thisbe in Gilead zu vergleichen. Doch Zasius hatte dies abgelehnt, weil Luther eine Universalgewalt des römischen Papstes qua göttlichen Rechts nicht anerkenne.21 Die prophetische Er19   Gußmann, Artikel, wie Anm.  12, S.  241. Durch den Ulmer Arzt Wolfgang Rychard (s. Anm.  128) ist ca. 1521/22 mehrfach die Bezeichnung Luthers als zweiter Elia belegt, vgl. Erich Schmidt, Deutsche Volkskunde im Zeitalter des Humanismus und der Reformation [HS 47], Berlin 1904, S.  74; vgl. die Datierung „[a]nno ab adveniente Spiritu Heliae quarto“ bzw. „quinto“ (von 1517/18 an gerechnet), in: Schelhorn, Amoenitates, wie Anm.  128, S.  302; 296; vgl. 305. Rychard verlangt es danach, Handschriften der Heroen Luther und Melanchthon zu sammeln („heroum chirographa religiose thesaurizare“, a.a.O., S.  297), was seine Dankbarkeit gegenüber seinem Wittenberger ‚Agenten‘ Magenbuch (s. Anm.  128) begründet, der wohl erwirkt hatte, dass Luther und Melanchthon Briefe an Rychard schrieben. 20   „Si tamen omnino contendas id mihi non licuisse, quomodo tu [sc. Eck] ab evidenti culpa te defendes, qui cum nulla necessitate non dico, quam iniuste contra doctissimum, & vitae integritate probatissimum virum Martinum Lutherium, veteris, id est, verae theologiae non poenitendum assertorem inter talia scripseris voluntatem esse in anima, sicut reginam in regno. Caeterum cum clarissimus vir Andreas de Bodenstein, fide & doctrina cum primis perspectus, te elegantissimis suis confutationibus urgeret.“ Ulrich Zasius, Apologetica defensio contra Johannem Eckium theologum, Basel, Froben 1519; VD 16 Z 135; Ex. SB München 4 Mor 567 {digit.}, S.  61 f.; vgl. Z 7, S.  218 Anm.  3 mit 162 f. Anm.  4. Die in der Apologetica defensio verwendete Bewertung Luthers als einen „veteris, id est verae theologiae non poenitendum assertorem“ (zit. auch WABr 2, S.  183 Anm.  1) und Karlstadts als „fide et doctrina cum primis perspectus“ (zit. auch: Otto Clemen, Supplementa Melanchthoniana 6/1: Melanchthons Briefwechsel, Bd.  1 [1510–1528], Leipzig 1926, ND Frankfurt/ M. 1968, S.  66 Anm.  4) wurde auch von Seiten Scheurls gegenüber Melanchthon hervorgehoben, vgl. MBW.T 1, Nr.  55, S.  125,9–11. Aus der Korrespondenz mit Mutian gehen offenbar ähnlich positive Urteile des Zasius hervor (vgl. die Zitate WABr 2, S.  183 Anm.  1). Lediglich Luthers These gegenüber Eck, die Superiorität der römischen Kirche sei nur „ex frigidissimis Romanorum Pontificum decretis intra cccc annos natis“ abgeleitet (WA 2, S.  161,35 f.; vgl. Z 7, S.  221,9 ff.; 266,29 f.), schränkte Zasius’ im Ganzen überaus positive, erst durch die Adelsschrift beendete Wertschätzung Luthers (s. WABr 2, S.  183 Anm.  1; zu Luthers Verhältnis zu Mutian [WABr 1, Nr.  14, S.  40 f.; 29.  3. 1516 Luther an Mutian] instruktiv: Fidel Rädle, Reuchlin und Mutianus Rufus, in: Kühlmann, Reuchlins Freunde, wie Anm.  92, S.  193–212, hier: 196; 198; im Kontext eines sensiblen Gesamtporträts Mutians: Fidel Rädle, Mutianus Rufus [1470/1–1526] – Ein Lebensentwurf gegen die Realität, in: Humanistica Lovaniensia LX, 2011, S.  3 –33, hier: 30–33) ein. In einem Brief an den Wittenberger Reformator (1.  9. 1520, WABr 2, Nr.  336, S.  181–184, hier: 181,1) nannte ihn Zasius „theologorum Phoenix“. 21   Der entsprechende Brief Zasius’ an Zwingli ist verloren; der Zürcher referierte seinen Inhalt allerdings ausführlich in einem Schreiben an Oswald Myconius (4.  1. 1520, Z 7, Nr.  113): „Lutherum verbis eius [sc. Zasius] (ut nosti) Heliam nuncupaveram; ille, quod Romanum pontificem agnoscat quidem, sed esse universalem pontificem non extare iure divino, iubet tantopere temperare ab Helię nomine, donec Romanum pontificem agnoscat universalem, quod quidem numquam obtinebit.“ Z

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wählung Luthers, nicht jedoch seine herausragende Bedeutung als Theologe, der die ‚alte und wahre Theologie‘ der Bibel und der Kirchenväter restituiert habe, war demnach zwischen Zwingli und Zasius strittig. Welchen weitergehenden Sinn Zwingli mit dem Vergleich zwischen Luther und Elia verband, ist allerdings kaum eindeutig zu entscheiden. Möglicherweise war es vor allem der Furor der Unbeugsamkeit, der ihn beeindruckte und Zasius schreckte. Noch in späteren Äußerungen Zwinglis über Luther, die nicht selten mit der Betonung seiner Eigenständigkeit gegenüber dem Wittenberger verbunden waren – bemerkenswert etwa das Urteil über Luther als größten Schriftausleger, der seit tausend Jahren aufgetreten sei22 –, lassen sich heroisierende Momente feststellen. So, wenn er ihn in seiner Amica Exegesis als ‚einen der ersten Vorkämpfer des Evangeliums‘ bezeichnet, ihn als Angreifer der ‚Venus‘ Rom mit dem die Aphrodite attackierenden Diomedes vergleicht oder mit Jonathan, der die Festungen der Philister gestürmt habe23, und ihn als treuen David apostrophiert, der als Gesalbter Gottes den gewaltigen Goliath – die Papstkirche – in seine Schranken wies.24 „Du allein bist Hercules gewesen, der du dich, wo nur immer Unbill begegnete, entgegenwarfst: den römi­ 7, S.  250,11–15. Sein differenziertes Lutherbild hatte Zasius Zwingli gegenüber am 13.  11. 1519 (Z 7, Nr.  100, S.  218–222) dargelegt. Die distanzierenden Tendenzen des Freiburger Juristen waren aufgrund der ihm wohl erst im Oktober 1519 (Z 7, S.  221 Anm.  9) bekannt gewordenen These Luthers zur Fragwürdigkeit einer Superiorität der römischen Kirche (s. Anm.  20) stärker geworden. Zasius hatte dargelegt, dass Luther es an Demut und Mäßigung fehlen lasse und betont, dass er nur dann, wenn der Wittenberger sein Gold nicht mit der Schlacke der Unduldsamkeit vermenge, bereit sein werde, ihn einen Elia zu nennen. („Super quem [sc. Luther] requiescet spiritus domini, nisi super humilem et quietum? Utinam sit probus quispiam, qui Luterum commoveat, ne ita excurrat, sed modestiam, quam ubique tantisper laudat, teneat, auro suo scoriam non misceat! Tunc eum Heliam, et si quid amplius sit, nominabimus.“ Z 7, S.  222,8–12). Aus dem Brief Zwinglis an Myconius vom 4.  1. 1520 (s. o.) geht meines Erachtens hervor, dass auch Zwingli voraussetzt, dass das Eliaepitheton auf Zasius (keineswegs – so ganz unverständlich: Z 7, S.  222 Anm.  11; vgl. auch Gußmann, Artikel, wie Anm.  12, S.  241; 300 Anm.  11 – auf Erasmus!), nicht auf Zwingli selbst zurückgeht. Doch im Unterschied zu Zasius, der wegen der ‚Ambivalenz‘ Luthers dessen Anwendung letztlich verweigerte, affirmierte es Zwingli. Zasius hatte Zwinglis verschollenem Antwortbrief unter anderem entnommen, dass diesen gestört habe, dass ihm nicht alles an Luther gefalle („Indignari autem te vereor eo nomine, quod non omnia Lutheri mihi placent.“ Z 7, S.  265,3 f.; 16.  2. 1520). Luthers Umgang mit dem kanonischen Recht scheint das entscheidende Koalitionshindernis für den Freiburger Juristen gebildet zu haben, vgl. Z 7, S.  266,29 ff. 22   Z 2, S.  147,15 f.; vgl. den Kontext Z 2, S.  144,17–150,25; Eberhard Grötzinger, Luther und Zwingli. Die Kritik an der mittelalterlichen Lehre von der Messe – als Wurzel des Abendmahlsstreites [Ökumenische Theologie 5], Gütersloh 1980, S.  71 ff.; aus der älteren Literatur sei zum Problemzusammenhang besonders verwiesen auf: Wilhelm H. Neuser, Die reformatorische Wende bei Zwingli, Neukirchen 1977, S.  21–34; Berndt Hamm, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, bes. S.  51–54; J. F. Gerhard Goeters, Zwingli und Luther, in: Knut Schäferdiek (Hg.), Martin Luther im Spiegel heutiger Wissenschaft [Studium Universale 4], Bonn 1985, S.  119–141; Martin Brecht, Zwingli als Schüler Luthers. Zu seiner theologischen Entwicklung 1518–1522, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd.  1: Reformation, Stuttgart 1995, S.  217–236. 23   Z 5, S.  613,12 ff.; eine hilfreiche Übersetzung der Passage bietet: Georg Finsler/Walther Köhler/Arnold Rüegg (Hg.), Ulrich Zwingli. Eine Auswahl aus seinen Schriften auf das vierhundertjährige Jubiläum der Zürcher Reformation, Zürich 1918, S.  649–652. 24   Z 5, S.  722,1 ff.

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schen Eber hast Du [wie Herkules den erymantischen] getötet, den Antaios, den Sohn [des Poseidon] und der Erde hast du niedergedrückt. [.  .  .]. Den Cacus, der nicht allein die Rinder in die Höhe verschleppt, sondern auch die Häuschen der Witwen, hast du hervorgezogen.“25 Eine weitere herkuleische Tat26, die Reinigung des Augiasstalls, die in der Sicht Zwinglis in der Beseitigung der dem Kult dienenden Bilder, in der Verwerfung der leiblichen Realpräsenz Christi im Abendmahl, des Fegefeuers und der Beichtabsolution bestanden hätte, sei Luther-Herkules bisher freilich schuldig geblieben.27 Insofern bietet gerade die Heroisierung Luthers Zwingli eine Möglichkeit zum kritischen Appell: „Wahrlich, ach, hüte dich [Luther], dass Du nicht das Löwenfell und die Keule ablegst aus Liebe zu dem frechen Weib.“28 Indem Luther zum Helden gemacht wird, können seine Lebensleistungen einerseits pathetisch inszeniert werden; andererseits bietet gerade das an Herkules orientierte heroische Narrativ im Horizont der tiefgreifenden theologischen Kontroversen zwischen Zürich und Wittenberg die Möglichkeit, den Helden bei seinen Siegen gegen die römische Kirche zu behaften und zugleich – gemäß dem Anspruch Zwinglis, den von Luther eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende zu gehen – zu historisieren und zu relativieren. Dass sich die von Zwingli zu Beginn der reformatorischen Bewegung, in den Jahren 1519/20, positiv aufgenommene Eliaprädikation später nicht mehr bei ihm findet, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Gestalt des alttestamentlichen Propheten nur wenig Anlass dafür bot, jene ambivalenten Züge einzutragen, wie sie der Sicht des Zürcher Reformators auf Luther definitiv seit der Mitte der 1520er Jahre entsprachen. Bei den Luther näher stehenden reformatorischen Publizisten blieb der Vergleich mit Elia noch eine Weile in Mode.29 Die im späteren Luthertum, insbesondere nach Luthers Tod, üblich werdende apokalyptische Interpretation des Wittenberger Reformators als des dritten Elia, dessen Erscheinen der Wiederkunft Christi unmittelbar vorhergehe30, hatte sich allerdings schon 1522 in einer Flugschrift seines Ordensbruders Michael Stiefel angekündigt: „Dieweyl ich“, so formulierte Stiefel, „nach

25   „Tu [sc. Luther] unus fuisti Hercules, qui ubiubi discriminis aliquid esset, occurreres; aprum Romanun occidisti, Antęum, terrae filium compressisti. [.  .  .] Cacum, qui non modo boves aversos, verum etiam viduarum domunculas in speluncam abigebat, protaxisti.“ Z 5, S.  723,1–724,3. 26   Vgl. zur Präsenz des Herkules-Stoffes in der zeitgenössischen volkssprachlichen Dichtung: Dieter Wuttke, Die Histori Herculis des Nürnberger Humanisten und Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter [Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 7], Köln, Graz 1964, S.  18,6 ff. (zu den Heldentaten). 27   Z 5, S.  724,3 ff. 28   „Verum, heus, tu [sc. Luther], cave λεοντήν et clavam mulierculae procacis amore ponas!“ Z 5, S.  724,9 f. Dieser Appell spielt an auf die Dienstbarkeit des Herkules für die Lydierin Omphale. 29  Vgl. Gußmann, Artikel, wie Anm.  12, S.  242 ff.; Preuß, Martin Luther. Der Prophet, wie Anm.  2, S.  49 ff. 30   Vgl. die Belege in: Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgottskanzlei“ (1548–1551/2) [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  182; 226; 312; 354; 370; 372; 374; 377 f.; 430; 432; 434; 551; ders., Konfession und Kultur, wie Anm.  6, S.  51; 76; 77; 103; 211; 416; 420; 428; 436.

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§  8  Stilisierungen

utzweisung der zeychen, bestimpt in der Bibel von den letsten zeyten der welt, mit Martino Luther nit anders halt, dann das uns die selbig zeyt nah sey, in welcher sich üben soll die verfürisch verfolgung des Antichrists wider die worheit gotts, halt ich, das uns von gott gesandt sey diser man [.  .  .] zu entdecken [.  .  .] den heymlichen subtilen betrug des Antichrists und seiner botten und diener in der inbrünstigkeit des geists Helie.“31 Luther war für Stiefel der in Apk 14,6 f. angekündigte Engel, der das ewige Evangelium lehrt32 ; denn nach der Bibel würden „heylig menschen, die do leren den weg Gottes [.  .  .] engel genennt.“33 Dass Luther in seiner Rede „groß“, „das ist mannlich“34, auftrete, unterstreiche, dass sein endzeitliches Prophetentum überwältigende, heroische Züge trage. Bei dem mit Hutten enger verbundenen ehemaligen Kartäuser Otto Brunfels35 hat die mit der Eliaprädikation verbundene heilsgeschichtliche Bewertung Luthers ihren frühreformatorischen Höhepunkt erreicht: Luther ist der Elias der letzten Tage, der alle Dinge wieder herstellt, der sein Volk versorgt und es befreit, der die Welt mit Weisheit erfüllt, der die Erde mit seiner Seele lenkt, der mit den römischen Löwen kämpft und den Goliath auf der Cathedra Petri niederstreckt.36 Für einen humanistisch umfassend gebildeten Autor wie Brun31

  Michael Stiefel, Von der christförmigen Lehre Luthers, hg. von Wilhelm Lucke, Leipzig 1909, in: Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  261–352, hier: 282; zu Stiefels früher Schrift zu Luthers Gunsten vgl. Werner Jentsch, Michael Stiefel – Mathematiker und Mitstreiter Martin Luthers, in: Esslinger Studien 28, 1989, S.  25–50, bes. 25–28; RGG4, Bd.  7, 2004, Sp.  1733 f. Eine stärker auf physische Militanz abzielende Berufung auf den „geist Helie“ findet sich in Müntzers Prager Sendbrief, vgl. Günther Franz (Hg.), Thomas Müntzer, Schriften und Briefe [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  504,29 (= ThMA 1, S.  427,18 f.); vgl. zum Kontext: Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010, S.  32; 55 f.; 95. 32   Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  283. 33   A.a.O., S.  286,16 f. 34   A.a.O., S.  293,21 f. 35   Vgl. seine Widmungsvorrede an Luther zu den aus Huttens Nachlass edierten Hus-Schriften, in: WABr 2, Nr.  770, S.  332–336 und Luthers Antwort (17.  10. 1524), WABr 2, Nr.  783, S.  359; zu Brunfels vgl. auch: Karl Hartfelder, Otto Brunfels als Verteidiger Huttens, in: ZGO NF 8, 1893, S.  565–578, sowie: Friedrich Wilhelm Emil Roth, Die Schriften des Otto Brunfels 1519–1536, in: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Litteratur Elsass-Lothringens 16, 1900, S.  257–288; JeanClaude Margolin, Otto Brunfels dans le milieu évangélique rhénan, in: Georges Livet/Francis Rapp (Hg.), Strasbourg au coeur religieux du XVIm siècle, Straßburg 1977, S.  111–141; in Bezug auf die ‚revolutionären‘ Potentiale der Zehntschrift Brunfels’ einseitig: Sylvia Weigelt, Otto Brunfels. Seine Wirksamkeit in der frühbürgerlichen Revolution unter besonderer Berücksichtigung seiner Flugschrift ‚Vom Pfaffenzehnten‘ [Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 153], Stuttgart 1986; dies., Otto Brunfels – radikal-reformatorisches Wirken zwischen Luther und Müntzer, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 32, 1983, S.  111–117; weitere Hinweise in: DBETh 1, 2005, S.  190 sowie in: Thomas Kaufmann, Nouvelles Sources de la Controverse Eucharistique à Strasbourg en Automne 1524, in: RHPhR 73, 1993, S.  137–153. 36   „Et si vis accipere, ipse [sc. Luther] est Elias postremorum temporum qui restituit omnia, qui curavit gentem suam et liberavit eam; qui quasi sol refulgens sic fulget in templo dei, et quasi thus ardens in igne: dedit enim illi deus cor ad praecepta et legem vitae et disciplinae, docere Iacob te­ stamentum suum et iudicia sua Israel. impletus est quasi flumen sapientia, et terram gubernat anima sua; velut etiam alter David cum leonibus lusit, cum Romanistis leonibus rugientibus et praepa-

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fels verstärkten sich die apokalyptischen und die heroischen Elemente in der Bewertung Luthers wechselseitig. Ein nicht unwichtiges Antriebsmotiv der maßgeblich von jungen Humanisten, die sich den Anliegen Luthers öffneten, forcierten Heroisierung des Wittenbergers ergab sich, so scheint es, aus dem vergleichenden Blick auf Erasmus. Dass Luther an Erasmus anknüpfte, wesentlich mit ihm übereinstimmte, ja sein Werk fortsetzte und die Erneuerung der Wissenschaften in die Theologie trug37, war eine weithin verbreitete Überzeugung.38 Doch dass der Wittenberger offen und geradlinig, unter Einsatz seiratis ad escam. et in ursis praedonica gente monachorum similiter fecit: nunquid non occidit gigantem, robustum illum venatorem coram domino et abstulit opprobrium de gente? in saxis de torrente scripturarum deiecit spurium exprobrantem et imponentem traditionibus suis Goliad Etheum.“ Otto Brunfels, Pro Hutteno ad Erasmi Spongiam Responsio, in: Böcking, Bd.  2, S.  334,7–17. 37   Vgl. Joh. v. Botzheim an Luther (3.  3. 1520), WABr 2, Nr.  264, S.  60 f.; vgl. Melanchthons Kon­ struktion einer Traditionslinie ‚von Erasmus zu den Wittenbergern‘: „‚Iecit‘ nobis ‚aleam‘ Erasmus ille, decus non huius modo seculi sed omnis plane memoriae omnium seculorum. Proximi vos estis, Wolfgange [sc. Capito] et Icolampadi [sc. Johannes Oekolampad]. Credo, non nihil Martinus et Carolstadius efficiunt. Hos ego [sc. Melanchthon] sed longo sequor intervallo.“ Melanchthon an Capito, 17.  5. 1519, MBW.T 1, Nr.  57, S.  129,18–21; zur ‚Kette‘ Erasmus – Reuchlin – Luther als Feinden der Scholastiker in der Vorrede von Melanchthons Rhetorik vgl. MBW.T 1, Nr.  40, S.  101,43 ff. Capito hat auch Luther gegenüber die historische Bedeutung des Erasmus als ‚Vorläufer‘ betont, so 1521: WABr 2, S.  416,6 ff. Erasmus hatte im Februar 1517 gegenüber Capito den Aufschwung der Wissenschaften an ihren prominentesten zeitgenössischen Vertretern illustriert (Allen, Bd.  2, S.  487–492, bes. 489,54 ff.). Bei der Theologie nannte er freilich niemanden, wahrscheinlich, um sich nicht selbst anzuzeigen. In einer Liste der vornehmsten Theologen der Zeit, die Willibald Pirckheimer in seiner Epistola Apologetica (gedruckt Okt. 1517; vgl. Gerald Dörner, Reuchlins Mann in Nürnberg – Willibald Pirckheimer und seine Epistola Apologetica, in: Kühlmann, Reuchlins Freunde, wie Anm.  92, S.  213–240, bes. 229) für Reuchlin aufstellte, findet sich unter den lebenden Theologen Giovanni Francesco Pico an zweiter Stelle – nach Matthäus Lang, Bischof von Gurk, Kardinal und Erzbischof von Salzburg; im mittleren Feld sind dann unter anderem Erasmus, Eck, Oekolampad, Murner, sowie: „Wenzeslaus Linck, Martinus Lueder Augustiniani“ genannt, vgl. Helga Scheible [Bearb.]/Dieter Wuttke (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  3, München 1989, Nr.  464, S.  162,557–578 (Luther: Z.  570); zu dieser und einer weiteren gedruckten Theologenliste des Franz Irenicus aus dem Folgejahr vgl. auch: Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: Ders., Luther-Rezeption, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S.  15–41, hier: 24–26. Der Umstand, dass Luthers („Lueder“) Name zu diesem bemerkenswert frühen Zeitpunkt [Datum der Epistola 30.  8. 1517: Scheible, Briefwechsel, Bd.  3, S.  166, 727 f.] bei Pirckheimer bekannt ist, ist erklärungsbedürftig. Allerdings war die Theologenliste in der handschriftlichen Fassung der Epistola noch nicht enthalten (a.a.O., S.  146), sodass sie wohl erst im Zusammenhang der Drucklegung [dat. sexto nonas Octobris = 12.10.] erstellt wurde. Da die Thesen Contra scholasticam theologiam (WA 1, S.  224–228; 4.  9. 1517) bereits am 11.  9. 1517 von Luther an Scheurl in Nürnberg mit der Bitte gesandt worden waren, sie weiter zu verbreiten (WABr 1, S.  106,35–38; Antwort 30.  9. 1517, WABr 1, S.  107,22–24; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  48, S.  171 f.), kann man voraussetzen, dass Pirckheimer sie wohl zum Zeitpunkt der Abfassung der Epistola Apologetica kannte und diese Thesen den Grund für die Aufnahme von Luthers Namen in diese Liste – an letzter Stelle! – darstellten. 38  Vgl. Bernd Moeller, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  98– 110. 318–320, bes. 103; Leif Grane, Martinus Noster. Luther and the German Reform Movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994, bes. S.  161 ff.; exemplarisch zu Capitos erasmianischer Lutherre­ zeption vgl. Stierle, Capito, wie Anm.  7, S.  104 ff.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  7,

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§  8  Stilisierungen

ner ganzen Person und unter größter Gefahr für Leib und Leben das kirchliche Ancien régime angriff, hob ihn doch über die vorsichtig-verhaltene Art des Agierens des großen niederländischen Gelehrten hinaus.39 Insofern war die etwa von Zasius40, Capito41 oder Erasmus42 beanstandete ‚immodestia‘ des Wittenbergers ein Moment, das den „in- bzw. restaurator religionis“, miles christianus, dux, σωτήρ, Fähnrich oder Herold [preco] Gottes43 im Augustinereremitenrock gerade in der Sicht anderer HuS.  39 ff.; am Beispiel der Öffnung der humanistisch geprägten ‚Sodalitas Staupitziana‘ für Luther: Berndt Hamm, Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit, in: Ders., Lazarus Spengler, wie Anm.  11, S.  1–72, bes. 60 ff. 39   Vgl. Bucers berühmte Äußerung gegenüber Beatus Rhenanus im Kontext seines Berichtes über die Heidelberger Disputation: „Cum Erasmo illi [sc. Luther] conveniunt omnia, quin uno hoc praestare videtur, quod quae ille duntaxat insinuat, hic aperte docet et libere.“ Jean Rott (Hg.), Correspondance de Martin Bucer, Bd.  1: Jusqu’en 1524 [SMRT 25], Leiden 1979, S.  61,54–56; zur Interpretation dieses Briefes vgl. unten II, §  9 und Martin Brecht, Martin Bucer und die Heidelberger Disputation, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd.  1: Reformation, Stuttgart 1995, S.  48–61; gegenläufig zu diesen Interpretationen des Berichts hält an der Deutung des Briefes als eines Zeugnisses der persönlichen Theologie des Erasmianers Bucer fest: Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491–1551), 2. überarb. und erw. Aufl. Münster 2009, S.  38 ff.; 288 Anm.  13. In Gestalt einer Randglosse parallelisierte der schwäbische Student Johannes Geiling Luther und Erasmus 1518, vgl. Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung [SMRT 46], Leiden u. a. 1989, S.  153 f. Anm.  60. Ähnlich wie Bucer 1519 urteilte auch – freilich im Modus der Retrospektive des Jahres 1527 – Zwingli, der [Erasmus] und sich selbst bescheinigt, zu einer neuen Erkenntnis des Evangeliums gelangt zu sein, Luthers Leistung aber in dem aus dieser Erkenntnis resultierenden offenen Kampf gegen Rom sieht, vgl. Z 5, S.  721,5 ff. mit Anm.  4 f. Für Aleander war Erasmus natürlich „der Quell alles Übels“ der lutherischen Ketzerei (vgl. Paul Kalkoff, Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstag 1521, Halle 21897, hier: S.  75; vgl. 59; 74 f.; 84; 106 ff.). Auch der Erasmusverehrer Eobanus Hessus stellte Luther über den Niederländer, s. Elegias, wie Anm.  47, A 2r: Erasmus habe gezeigt, aber Luther handelnd vollendet; deshalb gebühre ihm das größere Verdienst, s. auch unten Anm.  61. Möglicherweise wirkte in diesem Erasmus betreffenden Urteil nach, dass der Niederländer Eobanus bei einem Besuch nur geringe Ehrerbietung hatte zuteil werden lassen, wie Camerarius, Narratio, wie Anm.  48, S.  80 f. berichtet. Für Dürers Urteil gilt tendenziell dasselbe wie für Eobanus’: „o Erasme Roterdame, wo wiltu bleiben? [.  .  .] Hör, du Ritter Christi, reit hervor neben den Herrn Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Märterer Kron! Du bist doch sonst ein altes Männiken.“ (Tagebucheintrag 17.  5. 1521, zit. nach Ullmann, Dürer, wie Anm.  55, S.  90). Zu Dürer und Luther zuletzt: Gottfried G. Krodel, Dürers Luther-Bücher, hg. von Martin Brecht [SVRG 213], Gütersloh 2012. 40   Vgl. Z 7, S.  222,10. 41  Vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  7, S.  30 ff. 42   WABr 1, Nr.  183, S.  410 ff.; vgl. zum Kontext: Thomas Kaufmann, Luther und Erasmus, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen 22010, S.  142–152. 43   Zahlreiche Belege bietet Preuß, Martin Luther. Der Prophet, wie Anm.  2, S.  59 ff. Ein besonders interessanter Autor ist jener böhmische Humanist Ulricus Velenus, der in seiner [1520] bei [Cratander] in [Basel] und bei [Silman Otmar] in [Augsburg] erschienenen Schrift In hoc libello gravissimis .  .  . rationibus .  .  . probatur Apostolum Petrum non venisse .  .  . Romam (VD 16 V 504 f.; Ex. SB München 4 Poem 3027 {digit.}) darlegte, dass Elia „non carnaliter [.  .  .] sed in spiritu“ am Ende der Zeiten erscheinen werde (A2v). Als Vorläufer listet er Savonarola, Wyclif (A2v), Hus, Hieronymus von Prag, Johannes Reuchlin und Giovanni Pico (A3r) auf. In diese Reihe stellt er schließlich auch „Doctorem Martinum Lutherium, pietatis Christianae ardentissimum investigatorem et defensorem“ und „Ulrichum Huttennum, strenuissimum Germanię equitem auratum“ (A3r). Lorenzo Valla, „vere ille Hercules“ (A3v), habe mit dem Nachweis, dass die Konstantinische Schenkung eine Fälschung sei, das erste Haupt des antichristlichen Zerberus abgetrennt; „hac tempestate nostra“

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manisten zum Helden machte. In der engen Verschränkung Luthers mit Hutten, die sich textlich und bildlich insbesondere in zahlreichen oberdeutschen Flugschriften der Jahre 1521/2 nachweisen lässt44, wurde der heroische Antiromanismus breitenwirksam inszeniert. Doch diese Linie soll später am Beispiel einiger Illustrationen weiterverfolgt werden. Zuvor ist noch auf zwei weitere, wie mir scheint in ihrer Zeit besonders einflussreiche textliche Beispiele einer Heroisierung Luthers aus dem Frühjahr 1521 einzugehen. Das erste Beispiel stammt von dem jugendlichen Korrektor in der Offizin Adam Petris in Basel, Ulrich Hugwald45, der in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Lutherschen Operationes in Psalmos46 einige bemerkenswerte Akzente setze; das zweite sind habe Luther „velut alter quidam Theseus“ durch seine Verurteilung des kanonischen Rechts das zweite Haupt abgeschlagen (A3v). Das letzte Haupt, das daraus bestehe „quo se [sc. der Papst] Petri successorem iactat“ (ebd.), schlage nun Velenus mit seiner Schrift ab. Vgl. zu Velenus und seiner Schrift: Antonie Jan Lamping, Ulrichus Velenus (Oldřich Velenský) and his Treatise against the Papacy [SMRT 19], Leiden 1975 (zum Hintergrund bes. S.  74 ff.); zur späteren Rezeption vgl. Kaufmann, Ende der Reformation, wie Anm.  30, S.  349 f. mit Anm.  656. 44   Beispielhaft sei lediglich verwiesen auf das Doppelporträt Christianae Libertatis Propugnatoribus, Straßburg, Johann Schott 1521 (abgedruckt in: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, Abb.  10, S.  263); das Titelblatt des Murner-Nachdrucks History Von den fier ketzeren Prediger Ordens [Straßburg, Johann Prüß d. J. 1521] (VD 16 M 7063; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  11 f. Nr.  3409; Ex. MF 110 f., Nr.  291; s. unten II, §  10, Abb.  6); den Triumphus veritatis, s. u. Anm.  137; das Titelblatt von Huttens Gespräch büchlein [Straßburg, Johann Schott 1521] (VD 16 H 6342; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  102 f., Nr.  1706; Ex. MF 1038–1039, Nr.  2613); instruktiv dazu: Johannes Schilling, Luther und Hutten, in: Ders./Ernst Giese (Hg.), Ulrich von Hutten in seiner Zeit [Monographia Hassiae 12], Kassel 1988, S.  87–115; Manfred Meyer, Hutten und Luther, in: Laub, Hutten, wie Anm.  92, S.  251–270; Kurt Stadtwald, Roman Popes and German Patriots. Antipapalism in the Politics of the German Humanist Movement from Gregor Heimburg to Martin Luther [THR 299], Genf 1996, S.  71 ff. In Eberlin von Günzburgs achtem Bundesgenossen (s. unten II, §  10, Abschnitt 5.1) findet sich die Aussage: „Erasmus, Luther und Hut [d. i. Hutten] und vyl andere understond die recht warheit in das volck zu bringen in teütscher sprach, und jederman warnen vor den falschen propheten [.  .  .].“ Enders, Eberlin, Bd.  1 S.  86; a.a.O., S.  148 dann eine Liste mit Erasmus, Luther, Karlstadt und Melanchthon. Bei Haug Marschalck wird dieselbe Liste ohne Erasmus geboten, vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  563,20. Der Neukarsthans ist von der Behauptung der Nähe Luthers zu Hutten durchzogen, vgl. nur: BDS 1, S.  408,27–409,13; 415,31 f.; 417,5–8; passim; s. auch unten Anm.  55; 60; 88; vgl. auch: Barbara Könnecker, Das Huttenbild in der Flugschriftenliteratur der frühen Reformationszeit, in: Laub, Hutten, wie Anm.  92, S.  271–278. Dass Luther bei seiner Rückreise von der Wartburg im „Schwarzen Bären“ zu Jena mit Hutten verwechselt werden konnte, entspricht der Intensität, mit der beide zusammengesehen wurden, vgl. Johannes Kesslers Sabbata, unter Mitwirkung von Emil Egli und Rudolf Schoch hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1902, S.  78,29 ff.; 79,23–26. 45   Vgl. nur: J[ohann] G[eorg] Kreis, Das Leben und die Schriften des Thurgauers U. Hugwald, in: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte 41, 1901, S.  140–169; 42, 1902, S.  4 –75; Otto Clemen, Der Wiedertäufer Ulrich Hugwald, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte, Bd.  2, Berlin 1902, S.  45–85; Gerhard Hammer (Hg.), D. Martin Luther. Operationes in Psalmos 1519–1521, Teil  1 [AWA 1], Köln 1991, S.  257–268; ausführliche Hinweise auch oben II, §  7, Abschnitte 12.–16. und unten III, §  13; zu Adam Petri vgl. Reske, Buchdrucker, wie Anm.  8, S.  65 f.; Frank Hieronymus, 1488 Petri-Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Baseler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke, 2 Bde., Basel 1997. 46   Zu allen dieses Werk betreffenden Fragen vgl. Hammer, Operationes in Psalmos, wie Anm.  45; zur Aufnahme der Vorrede Hugwalds durch Aleander vgl. Kalkoff, Depeschen, wie Anm.  39,

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§  8  Stilisierungen

die vier Elegien47, die Eobanus Hessus48 aus Anlass von Luthers Erfurtaufenthalt im Rahmen seiner Reise zum Wormser Reichstag verfasste. Im Kontext der Leitfrage nach den Mitteln und Motiven der Heroisierung Luthers muss man in Bezug auf die beiden Texte, die sich hinsichtlich ihrer literarischen Formen grundsätzlich unterscheiden, im Auge behalten, dass sie auf dem dramatischen Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit nach dem päpstlichen Bann und vor der kaiserlichen Acht entstanden sind. Für Hugwalds literarische Inszenierung Luthers ist kenzeichnend, dass er ihn gemäß der Germanendarstellung des Tacitus zum Muster der „antiqua simplicitas et probitas“49 macht, also zum Repräsentanten jenes von Falsch und Trug freien, lauS.  143. Aleander betont, dass die Vorrede „von giftigem Hasse gegen Rom überfließt“. Stiefel zitierte sie auch, Von der christförmigen Lehre, in: Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  293,13. 47   Habes hic lector. In Evangelici Doctoris Martini Lutheri laudem defensionemque Elegias. IIII. .  .  . Helio Eobano Hesso Authore .  .  ., Straßburg, Johannes Prüß 1521; VD 16 E 1511; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  396 Nr.  930; Ex. MF 966 Nr.  2418. Der Erstdruck erschien im Mai bei Matthes Maler, Krause, Hessus, wie Anm.  48, S.  322 Anm.  1; VD 16 E 1510; s. u. Anm.  61; eine kritische Edition ist von Harry Vredeveld im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe der poetischen Werke Eobanus’ (bisher: The poetic works, 2 Bde., 2004/8) geplant. Die ersten vier Elegien dürften abgefasst sein, bevor Eobanus Nachrichten vom Ausgang des Wormser Reichstages besaß. Die fünfte Elegie setzt die Rückkehr des Luther begleitenden Erfurter Gelehrten Justus Jonas voraus (Elegias, wie Anm.  47, B 2v–B 3v) und fordert diesen auf, die Vorgänge darzulegen. Jonas sollte schildern, wie die römische Pest Luther zu verderben suche. Ansonsten geißelt Eobanus die Servilität der deutschen Fürsten gegenüber Rom und appelliert an den Kampfgeist Sickingens und Huttens. Vgl. zum Kontext: Helmar Junghans, Justus Jonas und die Erfurter Humanisten, in: Irene Dingel (Hg.), Justus Jonas (1493– 1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation [LStRLO 11], Leipzig 2009, S.  15–37; Christian Peters, Zwischen Erasmus und Luther. Justus Jonas und die Krise des Erfurter Humanistenkreises, in: Dingel, a.a.O., S.  39–58. 48   Vgl. zu Eobanus: Carl Krause, Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke, Gotha 1879, ND Nieuwkoop 1963, bes. S.  312 ff.; Ingeborg Gräßer-Eberbach, Helius Eobanus Hessus. Der Poet des Erfurter Humanistenkreises, Erfurt 1993, S.  89 ff.; Peter G. Bietenholz (Hg.), Contemporaries of Erasmus, Bd.  1, Toronto, Buffalo, London 1985, S.  433–436; Kühlmann/Seidel/ Wiegand, Lyrik, wie Anm.  61, S.  1097–1101 [Lit.]; Harry Vredeveld, Eobanus Hessus in Krakau, in: Gerlinde Huber-Rebenich/Walther Ludwig (Hg.), Humanismus in Erfurt, Rudolstadt, Jena 2002, S.  161–176; Gerlinde Huber-Rebenich, Eobanus Hessus als Übersetzer. Selbstzeugnisse aus seinen Briefen und Vorreden, in: a.a.O., S.  177–194; dies./Sabine Lütkemeyer, Art. Eobanus Hessus, in: Franz-Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd.  1, Berlin, New York 2008, Sp.  1066–1122; Anja Stewing, Die Psalterübertragung des Eobanus Hessus, in: Huber-Rebenich/Ludwig, a.a.O., S.  195–212; zum Kontext vgl. außer dem zitierten Sammelband: Eckhard Bernstein, Der Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation. Das Rektoratsblatt des Crotus Rubeanus, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Bd.  12, Wiesbaden 1997, S.  137–165; Joachim Camerarius, Narratio de Helio Eobano Hesso, comprehendens mentionem de compluribus illius aetatis doctis et eruditis viris (1553). Das Leben des Dichters Eobanus Hessus .  .  . lateinisch und deutsch, hg. von Georg Burkard und Wilhelm Kühlmann [Biblioteca Neolatina 10], Heidelberg 2003, bes. S.  88 ff. (zu den Luther-Elegien); Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Teil  2 : Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521 [EThSt 22], Leipzig 21992, bes. S.  255 ff.; Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S.  427 f.; Robert W. Scribner, The Erasmians and the Beginnings of the Reformation in Erfurt, in: Journal of Religious Studies 9, 1976, S.  3 –31. 49   Hammer, Operationes in Psalmos, wie Anm.  45, S.  571,11.

2.  Literarische Heroisierungen Luthers

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teren Volkes, das den denkbar schärfsten Kontrast zu jenen listigen und verschlagenen Italienern bildet, die auch die Feinde Luthers sind.50 Freilich seien die Deutschen nicht per se lauter und rein geblieben; perverse Studien – natürlich sind vor allem die Scholastiker gemeint! – hätten sie korrumpiert, so dass der Spruch des Volkes „Die gelehrten, die verkehrten“51 zutreffe. Denn nur bonae literae machten gute, nur apostolische literae apostolische Menschen. Ein solcher apostolischer Mann nun sei Luther, der vom Tumult der römischen Spitzbuben attackiert werde wie einst Christus von den jüdischen Priestern.52 Luther bewege sich auf jenem Pfad, den auch Christus selbst gegangen sei.53 Die punktuell in Luthers Selbstverständnis jener Wochen nachweisbare Verschränkung seines Schicksals mit der Passion Christi54, die bekanntlich in der im zeitlichen Umkreis des Wormser Reichstages entstandenen Passionskontrafaktur der Passio Doctoris Martini Lutheri ihren prägnantesten literarischen Ausdruck gefunden hat55, wird bei Hugwald zur Bereitschaft des Wittenbergers verklärt, aus Liebe zu Christus und um des Heils der Christenheit willen sterben 50   „Germaniae autem antiqua simplicitas et probitas etiam ab hostibus uno ore tribuuntur, adeo ut, quemadmodum hodie vir bonus et integer ab astutis et improbis patitur, ita ipsa ob probitatem rustica, stolida ab Italorum fraude et malitia vocetur, rideatur, digna videatur, quam tyrannide premant, diabolicis artibus vexent.“ A.a.O., S.  571,11–572,2. Die von Hammer (a.a.O., S.  571 Anm.  3 –3) aufgewiesene Parallele zu Tacitus’ Germania ist in der Tat einschlägig: „gens [sc. die Germanen] non astuta nec callida aperit adhuc secreta pectoris licentia loci; ergo detecta et nuda omnium mens. postera die retractatur, et salva utriusque temporis ratio est: deliberant, dum fingere nesciunt, constituunt, dum errare non possunt.“ Tacitus, Germ 22, zit. nach der lat.-dt. Ausg. von Manfred Fuhrmann (Hg.), Tacitus, Germania [ub 9391], Stuttgart 1972, S.  34. 51   Hammer, Operationes in Psalmos, wie Anm.  45, S.  572,11 f.; weitere Belege in AWA 1, S.  572 Anm.  11. Weitere Quellenbelege für die Verwendung des Sprichwortes und Literatur finden sich oben II, §  7, Anm.  315 und unten III, §  12, Anm.  22. 52   Die biblischen Zeugnisse bewiesen eindeutig: „Apostolicus vir ille Martinus Lutherus, et impia illa Romanensium furum turba, quae in Christi discipulo illo aliud non quaerit et timet quam illa sacerdotum Iudaica turba olim in Christo ipso.“ Hammer, a.a.O., S.  573,31–33. 53   „Adeo ille in Christi via est, ut in eosdem latrones inciderit, in quos ipse.“ A.a.O., S.  573,33 f. 54   Vgl. Luthers Brief an Cranach auf der Rückreise von Worms (28.  4. 1521): „Es müssen die Jüden einmal singen: Jo, Jo, Jo. Der Ostertag wird uns auch kommen, so wöllen wir dann singen Alleluia. Es muß ein klein Zeit geschwiegen und gelitten sein. Ein wenig, so sehet ihr mich nicht, und aber ein wenig, so sehet ihr mich, sprach Christus.“ WABr 2, Nr.  400, S.  305 f., hier: 305,17–20. Auch im Modus der Polemik gegen die Gegner Luthers wirkt die Identifikation des Wittenbergers mit Christus nach; in Bezug auf Eck heißt es in Ein Dialog oder Gespräch zwischen einem Vater und Sohn (1523; s. oben II, §  7, Abschnitt 10.): „Er ist einn priester und ablas narr, der denn Luther hatt umb etlich gülden wöllen verkauffen, wie judas Christum hatt vorkaufft.“ Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  39. 55   Johannes Schilling, Passio Doctoris Martini Lutheri [QFRG 57], Gütersloh 1989. Als ‚heroisierende‘ Motive dieser Darstellung mögen etwa gelten, dass Luther „alle ding zu künfftig uber sich“ (a.a.O., S.  44,14) gewusst habe, er seine Verleugnung ankündigte (a.a.O., S.  44,37 f.), er in Worms „unerschrocken“ (a.a.O., S.  45,60) geantwortet habe, sowie das Urteil über seine Schriften, die „nit von diser welt / sunder auß gott“ (a.a.O., S.  46,94 f.) seien. Neben Luther werden Karlstadt und Hutten als christliche Helden, als Märtyrer, dargestellt, a.a.O., S.  47,153 ff.; s. o. Anm.  43. Die Parallelisierung von Luthers und Christi Leidensweg findet sich bekanntlich auch in Dürers berühmtem Tagebucheintrag von seiner niederländischen Reise (17.  5. 1521), vgl. Ernst Ullmann (Hg.), Albrecht Dürer. Schriften und Briefe [ub 26], Leipzig 51989, S.  88–91.

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§  8  Stilisierungen

zu wollen.56 Verehrungswürdig sei Luther nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der ihm von Gott verliehenen Gnade.57 Luther aufzugeben wäre gleichbedeutend damit, die bonae literae und den seligmachenden Christusglauben fahren zu lassen.58 Im Lichte der Verfolgung durch die antichristliche59 Papstkirche entscheidet sich für Hugwald am Verhältnis zum leidenden Luther Heil oder Unheil. Im Umkreis des Wormser Reichstags hat die Stilisierung Luthers im Sinne des christlichen Helden schlechthin, des dem Heiland nachfolgenden Märtyrers, einen Höhepunkt erreicht.60 Die vier Luther-Elegien des Eobanus Hessus Zum Lobe und zur Verteidigung des evangelischen Doktors Martin Luther stellen eine literarische Verarbeitung des triumphalen Empfangs dar, den die Universität und die Bevölkerung dem ehemaligen Erfurter Studenten und Ordensmann bereiteten. Die erste Elegie grüßt den heranreisenden, die zweite beschreibt den einziehenden, die dritte schildert den predigenden und die vierte huldigt dem scheidenden Luther. Zwei weitere Elegien sind angefügt: Eine preist das Glück des Justus Jonas, der Luther auf seiner Reise zum Kaiser begleiten konnte, eine andere mahnt Hutten, dem Freiheitshelden aus Wittenberg mit Waffen beizustehen. Den Schluss bilden zwei Elegien gegen die ‚Luthergeißel‘ Emser. Der Lobpreis des alle Sterblichen der Zeit überstrahlenden Wittenbergers ist also in einem komplexen Zusammenhang von Freundschaft und Solidarität, Feindschaft 56

  Hammer, Operationes in Psalmos, wie Anm.  45, S.  573,34 ff.; 574,20 f.   „[.  .  .] ita amo [sc. Hugwald], veneror, admiror, non hominem illum monachum, sed ei a deo datam gratiam, non os ipsius, sed illum, qui ex eo loquitur, non vas, sed generosum vinum in eo. Habet animum magnum divino igne accensum [.  .  .].“ Hammer, a.a.O., S.  576,15–18; s. oben II, §  7, Anm.  342. 58  Vgl. Hammer, a.a.O., S.  576,29 ff.; 577,10 ff.; 580,21 ff. (zur in Luthers Psalmenkommentar enthaltenen doctrina christiana). 59   „Annon illi Antichristi sunt, qui Christum deprimunt, ut sua statuant, et iam suppressum dei verbum, quod sciunt etiam calcatum non perire [.  .  .]? O haereticae pravitatis inquisitores, o Antichristos [.  .  .]! Hi sunt, qui nobis Lutherum damnant [.  .  .].“ Hammer, a.a.O., S.  574,4–8. 60   Das Befremden, das der ‚Lutherkult‘ bei Aleander auslöste, bezeugen zahlreiche seiner Depeschen (vgl. Kalkoff, Depeschen, wie Anm.  39), etwa die Nachricht von einer Disputation mitten auf dem Marktplatze, bei der die These vertreten worden sei, Luther sei sündlos und deshalb höher zu achten als Augustin (Kalkoff, a.a.O., S.  58; zu den Bildern im Modus von Heiligenikonen vgl. etwa 58; 79; zum Doppelblatt Luther-Hutten [s. o. Anm.  44]: S.  80; mit Hutten und Hus 107; vgl. 208). Die Verbreitung heroisierender Verse zu Luther als Vorkämpfer des wahren Glaubens dürfte ein durchaus ‚populäres‘ Phänomen gewesen sein. So erkläre ich jedenfalls die Tendenz, vorhandene Freiflächen am Ende eines Druckes mit Luther lobpreisenden Versen anzufüllen, so etwa am Schluss von Hans Schwalbs Beklagung eines Laien, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  69 f. (lateinisch und deutsch; s. II, §  7, Anm.126), am Ende von Stiefels Von der christförmigen Lehre, in: Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  341 (deutsch), oder, inhaltlich besonders unpassend, am Schluss des sicher nicht von Karlstadt herausgegebenen (so zu Recht Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1, Nieuwkoop 21968 S.  365 f.) Sendbrief. D. Andreae Boden: von Carolstadt meldende seiner Wirtschafft .  .  ., [Erfurt, M. Maler 1522]; VD 16 B 6194; Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, Nr. 47A; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  190 Nr.  1908, A 3v, wo in sechs Versen der evangelische Hirte und Paulusinterpret gepriesen wird, z. B. folgendermaßen: „Scimus Christum revixisse per Martinum vere | tu nobis illum deus tuere.“ So etwas hätte Karlstadt niemals geschrieben, geschweige denn veröffentlicht! 57

2.  Literarische Heroisierungen Luthers

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und Bedrohung, Parteinahme und Widerstand situiert. Luther soll als Gesandter Gottes empfangen werden; er befreie vom Schmutz der unwahren Lehre und vollende, was Erasmus begonnen habe.61 Wie das Vollbringen dem bloßen Zeigen überlegen sei, so gebühre Luther ein höheres Maß an Verdienst als dem Niederländer. Eobanus vergleicht ihn mit Herkules, der Atlas die Erde abnehmen wollte, ohne im Herzen zu zweifeln, ob er die gewaltige Last tragen könne.62 Im festen Vertrauen auf Christus trotze Luther allen Widrigkeiten des Schicksals, aller drohenden Missgunst, möge die Last, die er zu tragen habe, auch schwerer wiegen als die Welt.63 Dass Luther am Ende triumphieren werde, unterlag für Eobanus keinem Zweifel.64 Der Flussgott Hieras (Gera) preist den Ankömmling als den, der als erster damit begonnen habe den Schafstall Christi zu säubern, der die Hirten der Schafe als Wölfe entlarve und der als einziger Christi Wort in einer Sprache zu vermitteln vermöge, die ihm gebühre.65 Luther lehre, die durch die Blindheit der Früheren entstellten Heiligen Schriften wieder zu lesen; er ziehe gleichsam die Decke vom Antlitz des Mose und offenbare, was unbekannt geblieben sei.66 Indem Luther der Christenheit den ihr gebührenden Christennamen zurückgebe, überwinde er den klaffenden Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Anspruch und inauguriere einen vom Himmel geschenkten Frieden, den auch die bitter wütenden Feinde des Offenbarers nicht zu rauben vermögen.67 61   „Ecce venit [sc. Luther], qui te [sc. Erfurt] de sordidus eruat istis, | Sub quibus heu nimio tempore pressa iaces. | [.  .  .] Ille Deo mentem plenus spirante salutem | Lutherus, sordes eluet ille tuas. | Tu modo fidentem spem concipe, & ista relinque | Heu male regnantis dogmata vana Chori. | Ille quidem primus vidit Vir, inutile, nostro | Tempore, per Christi surgere semen agrum. | Vidit, & est ausus duros adhibere ligones, | Noxiaque artifici vellere quaeque manu. | Ante quidem vidit mundoque ostendit Erasmus, | Secula quo cernunt doctius ista nihil. | Quam fecisse igitur velut est minus ostendisse, | Lutherus meriti grandius instar habet.|“ Elegias, wie Anm.  47, A 2r. Eine hilfreiche Übersetzung der ersten Elegie findet sich in: Winfried Trillitzsch, Der deutsche Humanismus, Frankfurt/M. 1981, S.  302–305. Elegie 1 und 4 liegen in deutsch-lateinischer Edition vor in: Wilhelm Kühlmann/Robert Seidel/Hermann Wiegand (Hg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts [Bibliothek der Frühen Neuzeit 5 / Bibliothek deutscher Klassiker 146], Frankfurt/M. 1997, S.  248–257. 62   „Sicut Atlanteae subitura pondera molis, | Alcides, animo non dubitante tulit.“ Elegias, wie Anm.  47, A 2r. 63   „Sic animo ruit invicto Lutherus in omneis | Fortunae insultus, Invidiaeque minas. | Certus in hoc etiam, quem praedicat, omnia Christo | Vincere, vel mundo sint graviora licet.“ Elegias, wie Anm.  47, A 2v. 64   „Tempus erit quo te nos accipiemus ovantem, | In caput urgentes omnia dira tuum.“ Ebd. 65   „Qui [sc. Luther] primus Christi purgare aggressus ovile | Pastores ovium prodidit esse lupos. | Ausus & a summis rationem poscere, furta, | Spem tulit illorum posse latere diu. | [.  .  .] Unice qui Christi populis oracula reddis, | Et verbis reddi qualibus illa decet.“ Elegias, wie Anm.  47, A 2v– A 3r. 66   „Quae iacuere diu tenebris confusa priorum | Sacra doces, puro lumine scripta legi. | Namque sub hac latuit multorum inscitia palla, | Si fierent paucis cognita verba Dei. | Tu velut a facie Mosis velamina ducens, | Apparere facis quae latuere prius.“ Elegias, wie Anm.  47, A 3r. 67   „Tu [sc. Luther] sua Christicolae reddis cognomina plębi | Nomina quae rebus dissona nuper erant. | Pax iterum coelo redit aurea, & hoste perempto | Nocte sub aeterna bella sepulta iacent. | Ingredere o felix, Christus fortunet euntem, | Iam tibi quod noceat nil ferus hostis habet.“ Ebd.

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§  8  Stilisierungen

Bei der Begrüßung des Ankömmlings, die die zweite Elegie schildert, lässt Eobanus den Rektor der Universität, Crotus Rubeanus68, Luther als „perfidiae Censor“69, als Richter der Lüge, ansprechen, die uns den Glauben geraubt, ja ihn beinahe vertilgt habe. Luther sei den Erfurtern teurer als jedes Himmelswesen; sein Ruhm bleibe bestehen, ob er nun lebe oder sterbe.70 Bewegender als die größten Redner Roms und Athens, Cicero und Demosthenes, ja selbst eindrücklicher als der Apostel Paulus verstehe es Luther, so schildert die dritte Elegie, das Volk mit seinem gesprochenen Wort in den Bann zu ziehen. Als es unter dem Ansturm der Massen in der Erfurter Augu­ stinerkirche zur Überbelastung der Kirchenemporen kam und Panik auszubrechen drohte, erwies sich der predigende Heros als machtvoller Exorzist: „Nichts wirst du ausrichten mit deinen Tücken, höllischer Feind!“ Und mit ausgestreckter Hand sprach er zur Menge gewandt: „Euch droht keine Gefahr; der hinterhältige Nachsteller treibt nur seine gewöhnlichen Kunststückchen!“71 So beruhigte sich die Szene durch das Machtwort dieses wahren Liebhabers des Glaubens, der so ganz anders zu reden wußte, als man es von der Klerisei gewohnt war.72 Die Abschiedselegie an den scheidenden Luther ermutigte ihn zu Standhaftigkeit, beschwor die Gewissheit seines Sieges als Soldat Christi, der die Machenschaften der Römer demaskiere, und versicherte ihn des Beistandes ganz Deutschlands.73 Die an Hutten gerichtete sechste Elegie rief zum Einsatz der Waffen des deutschen Jünglings Hutten für den „deutschen Luther“74 auf. Deutschland solle unter der Führung Huttens für die Sache Luthers in einen gerechten Krieg gegen Rom ziehen. Im nationalen Heroentum Huttens, der die Römer schrecken werde wie einst Hannibal, wie

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  Vgl. bes. Bernstein, Humanistenkreis, wie Anm.  48; zu Crotus Rubeanus s. auch die weiterführenden Hinweise in MBW 11, S.  319; sowie: Gerlinde Huber-Rebenich, Art. Crotus Rubeanus, in: Worstbrock, Deutscher Humanismus, wie Anm.  48, Sp.  505–510; zum Erfurter Empfang auch: Paul Kalkoff, Humanismus und Reformation in Erfurt (1500–1530), Halle 1926, S.  64. 69   Elegias, wie Anm.  47, A 3v. 70   „Unice perfidiae Censor, quae plurima nostro | Perdidit oppressam tempore pene fidem, | Hos coram vidisse, tuosque agnoscere vultus, | Hoc est, laetitiae non habuisse modum. | Et nobis nihil huc venit iucundius unquam, | Vix aliquis superum gratior esse queat. | [.  .  .] Stabit ab adserto Martini gloria Christo, | Seu velit hic illum vivere, sive mori. |“ Elegias, wie Anm.  47, A 3v/A 4r. 71   „Nil agis [sc. der Teufel] exclamat, Martinus, nil agis istis, | Agnosco insidias hostis acerbe tuas. | Extentaque manu, nihil est, hic ecce pericli, | Ille tuas arteis insidiator agit.“ Elegias, wie Anm.  47, A 4v. 72   „Hic est ille Dei verus pietatis amator, | Vos hominum laudes vanaque verba trahunt.“ Elegias, wie Anm.  47, B 1r. 73   „At tibi tu [sc. Luther] consta Christi fortissime miles, | Ecce deo virtus vindice tuta tua est. | [.  .  .] Vade deo praeeunte, tua est victoria, Christum | Cui pugnas, contra nullius arma valent. [.  .  .] At tu vade decus nostrum Martine Luthere, | Adsere victoris iusta trophoea Dei. | [.  .  .] Detege Rhomanas, orbis ludibria, fraudes | Quid lacerat miseras pastor iniquus oves? | [.  .  .] Magna piis pro te Germania stabit in armis.|“ Elegias, wie Anm.  47, B 2r/v. 74   „Adsere nunc fortissime Eques [sc. Hutten], doctissime vas, te | Qua debes dextra vindice, quaque potes | Adsere Germanum iuvenis Germane Lutherum: | Te duce libertas nostra tuenda fuit|“ Elegias, wie Anm.  47, B 4r = Ed. Böcking, Bd.  2, Nr.  252, S.  68–71, hier: 68,3 f.

3.  Heroisierende Bilder

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Achill die Trojaner, wie Alexander alle Welt75, findet der christliche Heros Luther Schutz und Schirm. Nationale und christliche, martyriologische, soteriologische und militant-antirömische Motive der Heroisierung Luthers sind in den beiden Texten Hugwalds und Hessus’ aus dem Frühjahr 1521 zu dem schillernden Gesamtbild eines schlechterdings exzeptionellen Helden fusioniert. Der enge chronologische und sachliche Zusammenhang zwischen dem Höhepunkt der Heroisierung Luthers und seiner definitiven Verurteilung durch Papst, Kaiser und Reich ist evident: Es ist der Papstkritiker, der tatkräftige Reformer, der zum Ketzer, und es ist der Ketzer, der zum Helden wird.

3.  Heroisierende Bilder In Bezug auf die ikonographischen Heroisierungen Luthers lässt sich eine frühere, 1519 einsetzende, vornehmlich auf das Einzelporträt des Wittenbergers zentrierte erste, von einer 1521 beginnenden zweiten Phase unterscheiden, in der Luther als Handelnder in Interaktion mit Gegnern oder Parteigängern dargestellt wurde. In dieser zweiten Phase, aus der im Folgenden Bildbeispiele der Zeit zwischen 1521 und 1524 herangezogen werden, wird Luther als Befreier, Triumphator und ‚Wundermann‘ dargestellt; in der ersten Phase dominierten hingegen Stilisierungen als Mönch, Gelehrter, schriftauslegender Prophet und Heiliger. Die rasante Transformation des heroisierten, zunächst vielleicht als Antipoden Erzbischof Albrechts gestalteten76, unerbittlich asketischen, mit willensstarken Stirnwulsten und tiefliegenden Augen dargestellten Bettelmönchs (Abb.  1) zu dem milden, in den Konventionen der Heiligenikonographie in einer Nische platzierten, gesprächswillig-argumentierenden (Abb.  2) 77 Ausleger der Bibel, die Cranach innerhalb des Jahres 1520, wohl auf Intervention des kursächsischen Hofes, vollzog, begünstigte es, dass in den druckgraphischen Rezeptionen des Lutherporträts der Jahre 1521/2 die heiligmäßige Stilisierung in den Vordergrund trat. Die Lutherbildnisse etwa Baldung Griens78 (Abb.  3) 75

  Elegias, wie Anm.  47, B 4v–C 1v.   Vgl. die Interpretation Warnkes, Cranachs Luther, wie Anm.  5, S.  19; 23; Abb. Faltblatt am Schluss; van Gülpen, Humanismus, wie Anm.  78, S.  129–131; vgl. allgemeiner: Joseph Leo Koer­ ner, The Reformation of the Image, London 2004, S.  77 f.; 194–196. Den Nachweis der faktischen Wirkungslosigkeit der ersten Fassung führten Dieter Koepplin und Tilman Falk, in: Lukas Cranach. Gemälde Zeichnungen Druckgraphik, Bd.  1, Basel, Stuttgart 21974, Nr.  35, S.  91 f.; zuletzt: Bodo Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere. Katalog aus Anlass der Ausstellung Städel Museum Frankfurt, Royal Academy of Arts 2007 / 2008, Ostfildern 2007, Nr.  37, S.  186 f.; zu Cranach im Kontext der Geschichte des Portraits vgl. nur: Alice Hoppe-Harnoncourt, Glaube und Macht. Lucas Cranach d. Ä. – Porträtist in bewegter Zeit, in: Haag u. a., Dürer, wie Anm.  85, S.  113–119. 77  Vgl. Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, S.  28 (Abb.  13); zur Interpretation im Kontext der Bildpolitik des kursächsischen Hofes S.  27 ff. 78   Abb.  16 bei Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, S.  32. Die Druckgrafik erschien als Titelblatt auf den Acta .  .  . Wormatiae 1521 (Abb. in: Ilonka van Gülpen, Der deutsche Humanismus 76

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§  8  Stilisierungen

Abb.  1  Lukas Cranach, Luther als Augustinermönch, 1520; Kupferstich; 13,8 x 9,7  cm; dritter Zustand. Das Bildnis ist in drei verschiedenen Zuständen erhalten. In der zweiten Fassung wurde das Schriftfeld zu einer plastisch wirkenden Tafel erweitert. Es gilt als das früheste der Cranachschen Lutherbildnisse. Das wohl nicht von Spalatin (WABr 2, S.  283,23 f., 7.  3. 1521) abgefasste Distichon der Inschrift lautet übersetzt: „Ein ewiges Abbild seines Geistes hat Luther selbst zum Ausdruck gebracht, aber die Wachstafel des Lukas [Cranach] die vergänglichen Gesichtszüge.“ Der Kopf eines bärtigen Mannes oben links, der später von fremder Hand hinzugefügt worden war, wurde in der dritten Fassung getilgt. Dieter Koepplin/Tilman Falk, Lukas Cranach. Gemälde Zeichnungen Druckgraphik, Bd.  1, Basel, Stuttgart 21974, Bd.  1, S.  91–93 Nr.  35.

3.  Heroisierende Bilder

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Abb.  2  Lukas Cranach, Luther als predigender oder lehrender Mönch in einer Nische, Kupferstich; 1520; 16,5 x 11,5  cm. Die Inschrift entspricht der von Abb.  1. Der Stich dürfte eine Art offizielles Lutherbildnis darstellen, das im Jahr seiner Verurteilung durch die Papstkirche und im Vorfelde des Wormser Reichstages einen gesprächswilligen Kommunikator in der Tradition der Heiligenikonographie präsentierte. Koepplin/Falk, wie Abb.  1, S.  92–94 Nr.  36.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  3  Hans Baldung Grien, Lutherbildnis, Holzschnitt; 1521; 15,4 x 11,5  cm. Nachdem Hans Baldung Grien bereits auf einem Straßburger Druck von Luthers De Captivitate Babylonica [Johann Schott 1520; WA 6, S.  489, Druck C; Benzing/Claus, Nr.  706; VD 16 L 4186/7] Cranachs Bild des predigenden Luther in der Nische (Abb.  2) verwendet hatte, fügte er nun eine Taube und einen Glorienschein hinzu und stellte Luther damit als geistbegabten Heiligen dar. Bildnisse dieser Art dürften es gewesen sein, von denen Aleander berichtet, dass ihnen kultische Verehrung zuteil wurde.

3.  Heroisierende Bilder

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oder Hieronymus Hopfers79 (Abb.  4) tragen keine heroisierenden Züge, sondern stellen einen von Gottesgeist inspirierten Heiligen dar. Das Entsetzen Nuntius Aleanders, der berichtet, die Verehrer Luthers in Worms küssten diese Bildchen80, als ob es die eines Heiligen wären, deuten auf Ansätze eines regelrechten Heiligenkultes um den Wittenberger Bettelmönch hin. Aleander war im Frühjahr 1521 sogar bereit, ein Gerücht für glaubhaft zu halten, das ihm von einem folgendermaßen beschriebenen Bild zugegangen war: „Es soll auch wirklich wahr sein, daß im sächsischen Kurfür­ stenschloss ein Gemälde hängt, auf welchem Luther voran und hinter ihm Hutten eine Lade tragen mit zwei Kelchen darauf und der Inschrift ‚Des wahren Glaubens Erzschrein‘; ihnen voraus schreitet Erasmus mit der Harfe und singt Psalmen wie König David; es folgt ihm Johannes Hus, den Luther [.  .  .] einen grossen Heiligen nennt.81 Auf der anderen Seite des Bildes sei der Papst, umgeben von Kardinälen und Trabanten der Leibwache, dargestellt; die diesbezügliche Inschrift war meinem Gewährsmann entfallen, der es mehrmals gesehen hat.“82 Sollte dieses Bild tatsächlich existiert haben, wäre das heroisierende Triumphzugmotiv schon in der Zeit des Wormser Reichstags auf Luther angewandt worden. Heroisierung und Sanktifikation lassen sich auch in den weiteren Cranachschen Lutherporträts und ihrer Rezeption kaum trennen. Cranachs drittes Lutherporträt – das Profilbildnis mit Doktorhut und Inschriftenplatte vor monumentalisierendem dunklen Hintergrund83 (Abb.  5) – situierte den Reformator in einer bisher Heroen, Päpsten und Herrschern vorbehaltenen Darstellungstradition. Die auffällige Stirnwulst, die „seit der antiken Physiognomik als Zeichen des Tatmenschen“84 galt und etwa bei Herkulesdarstellungen belegt ist, verdeutlicht, dass Cranach gezielt heroisierende Darstellungselemente verwendete. In der Rezeption des Profilbildnisses bei Daniel Hopfer (1523) (Abb.  6) 85 tritt das Heiligmäßige dann allerdings wieder deutlich in den Vordergrund.

und die frühe Reformationspropaganda 1520–1526 [Studien zur Kunstgeschichte 144], Hildesheim, Zürich, New York 2002, Nr.  67 a/b, S.  480 f.), auch auf der Titelrückseite von Stiefel, Von der Christförmigen .  .  . leer, s. oben Anm.  31, vgl. hier: VD 16 S 9020, A 2v [Straßburg 1522]; Ex. BSB München 4 Asc 1073 {digit.}. 79   Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, Abb.  17, S.  33. 80   Kalkoff, Depeschen, wie Anm.  39, S.  58 f.; ansonsten nimmt Aleander an den in Worms vertriebenen Doppelporträts Luther-Hutten (s. dazu oben Anm.  44 und 73 und unten Anm.  88) Anstoß, a.a.O., S.  97 f. mit Anm.  1; vgl. 208 f. (Kampf gegen Lutherbildnisse ebenso wie gegen Lutherschriften). 81   Zu Luthers sukzessiver Aufwertung des tschechischen ‚Vorläufers‘ siehe oben I, §  2. 82   Kalkoff, Depeschen, wie Anm.  39, S.  107. Für das Wahrscheinlichste halte ich, dass Einzelzüge des damals bereits gedruckt vorliegenden Triumphus Capnionis (s. u. Anm.  92; Abb.  20; Anm.  142 ff.) in die Bildbeschreibung eingegangen sind. 83   Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, Abb.  19, S.  40; zur Interpretation vgl. a.a.O., S.  41 ff. 84   Frank Steigerwald, in: Katalog Lucas Cranach, Berlin-Dahlem 1973, S.  53; vgl. Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, S.  46. 85   Christof Metzger, Daniel Hopfer. Ein Augsburger Meister der Renaissance, Berlin, München 2009, Nr.  102, S.  207; 427 f.; Sabine Haag/Christiane Lange/Christof Metzger/Karl

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§  8  Stilisierungen

Abb.  4 Hieronymus Hopfer, Lutherbildnis, Kupferstich um 1521. Für Hopfers Bildnis gilt Ähnliches wie für Baldung Grien (Abb.  3): Luther ist als Heiliger gestaltet; der Himmelsblick, die Handhaltung, Geistbegabung und Gloriole erheben ihn in einen Stand der Verehrungswürdigkeit.

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Abb.  5  Lukas Cranach, Luther mit Doktorhut, Kupferstich, 1521; 20,5 x 15,0  cm. Die möglicherweise von Spalatin (WABr 2, S.  283,23 f.; s. Abb.  1) stammende Inschrift lautet übersetzt: „Dieses sterbliche Bild Luthers ist Lukas’ Werk, das ewige seines Geistes drückt er selber aus.“ Die an die Präsentationsform einer Medaille erinnernde Darstellungsweise betont die Erhabenheit des Dargestellten und hat eine Tendenz zur Monumentalisierung. Das Bild existiert auch in zwei unterschiedlichen Ausfertigungen mit hellem Bildhintergrund. Durch die Verdunklung des Hintergrundes mittels Parallelschraffur ist die heroisierende Tendenz gesteigert. Martin Warnke, Cranachs Luther [dtv 3904], Frankfurt 1984, S.  40; Koepplin/Falk, wie Abb.  1, Nr.  38, S.  95.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  6  Daniel Hopfer, Luther mit Doktorhut, Eisenradierung, 1523; 22,9 x 15,6  cm. Inschrift unten: „Des lutters gestalt mag wol verderbenn / Sein christlich gemiet. Wirt nymmer sterben.“ Hopfers Darstellung greift Cranachs Lutherporträt von 1521 (Abb.  5) auf; die Gloriole erhöht den gelehrten Bettelmönch ins Ikonenhafte. Die Bildunterschrift greift Cranachs Inschriften von 1520/1 auf, akzentuiert mit dem „christlichen Gemüt“ allerdings eher die persönliche Vorbildlichkeit als die literarische Produktion.

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Das im Jahr von Luthers Rückkehr von der Wartburg, 1522, entstandene Bildnis des „Junkers Jörg“86 (Abb.  7) setzte einen weltlich-ritterlichen Helden in Szene, der Rom erfolgreich die auffällig breite Stirne und – durch eine der Unterschriften annonciert – 87 den durch Karlstadt provozierten Unruhen Paroli geboten hatte: Luther ist ein ordnungsstiftender, quasi nobilitierter Tatmensch, der in die weltliche Sphäre gestaltend einzugreifen vermag. Zugleich war das damit inaugurierte ritterliche Imageprofil Luthers in mannigfacher Weise mit Motiven des miles christianus und des heiligen Rittertums zu verbinden.88 Sollten die wohl in den historischen Kontext des Wormser Reichstages oder seiner unmittelbaren Vorgeschichte zu datierenden Doppelporträts von Luther und Hutten89 Cranach bei der Kreation des „Junkers Jörg“ bekannt gewesen sein, dann hätte der Wittenberger Künstler die dort vorgeprägte Konnotation dieser beiden ‚Helden‘ bzw. ihrer und Reuchlins als „Vorkämpfern“ oder „Hütern“ der Freiheit90 in der Figur des ritterlichen Luther möglicherweise gezielt verbunden. Die sich im Umkreis des Jahres 1521 in einigen bildlichen ebenSchütz (Hg.), Dürer Cranach Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500, München 2011, Nr.  155, S.  240–242. 86   Warnke, Cranachs Luther, wie Anm.  5, Abb.  30, S.  50; Koepplin/Falk, Cranach, Bd.  1, wie Anm.  76, Nr.  42, S.  98 f.; Johannes Jahn, 1472–1553. Lucas Cranach d. Ä. Das gesamte graphische Werk, München 21972, S.  [405]; zur Variante in Öl (1521/2), die einen Schwertknauf zeigt, s. Brinkmann, Cranach, wie Anm.  76, Nr.  38, S.  188 f.: „[.  .  .] Kräftige Wangenknochen, wulstige Brauenbogen und die breite knollige Nase verleihen dem konzentriert aufwärts aus dem Bild blickenden Luther einen energischen, kämpferischen Zug, der das unbedingte Beharren auf dem eigenen Standpunkt treffend zum Ausdruck bringt.“ A.a.O., S.  190. Wahrscheinlich portraitierte Cranach den ‚Luther mit Bart‘ während des ‚Zwischenbesuchs‘ im Dezember 1521, vgl. Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, Leipzig 21911, S.  159. 87   Vgl. das Chronogramm der Rückkehr Luthers in der linken unteren Spalte: „ANNUS REDI­ TVS EX PATHMO. 1522. | CarLstaDII ob fVrias aD SaXona teCta reCVrrit, | FaVCIbVs eX saeVIS rVrsVs oVesqVe rapit.“ Zit. nach dem Faksimile, in: van Gülpen, Humanismus, wie Anm.  78, S.  434. 88   Beispiele für Luther als Ritter listet auf: Johannes Ficker, Die Bildnisse Luthers aus der Zeit seines Lebens, in: LuJ 1934, S.  103–161, hier: 122 f.; ders., Neue alte Bildnisse Luthers. Mitteilungen der Luthergesellschaft 1924, Nr.  4 und 5. Sollte das Titelblatt des zweiten Teils des Alten Testaments (1524; WADB 2, S.  272–275, Nr.  11 [wobei dem Bearbeiter Paul Pietsch die Deutung des Ritters als Luther fern zu liegen scheint]) den „Junker Jörg“ darstellen (vgl. die Abb. in: Jahn, 1472–1553, wie Anm.  86, S. [433]), dann läge auch hier ein Luthersches Ritterbild in der Darstellungstradition der Heiligenikonographie vor. 89   Vgl. oben Anm.  44; 55; 60. Das Titelblatt der Flugschrift Kögel Spil [Augsburg, Ramminger 1522]; VD 16 K 609 (ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  3, S.  219–260, hier: 239 [Analyse des Bildes durch Götze, a.a.O., S.  220 f.]) stellt die Auseinandersetzung um Luther als Kegelspiel dar, bei dem der Reformator, sekundiert von Hutten und anderen (vgl. S.  241,40 ff.), die Kugel der Heiligen Schrift wirft. An dem Gedicht ist interessant, dass Luther zwar eine gewisse Initialbedeutung für die Durchsetzung des ‚Sola scriptura‘-Prinzips zuerkannt wird, er aber – für 1522 bemerkenswert! – nicht nur neben Gestalten wie Erasmus und Melanchthon, sondern auch Leo Jud, Konrad Schmidt, Sebastian Hofmeister und Ulrich Zwingli gestellt wird, die jeweils mit einer eigenen Rede auftreten. Eine prominente Rolle kommt Hutten nicht im Text, nur auf dem Titelblatt zu. Die Integration Luthers in ein personelles Geflecht von ‚Mitreformatoren‘, die an dieser Schrift auffällt, begegnet analog in der gleichfalls anonym erschienenen Göttlichen Mühle (s. Anm.  15 und 129). 90   Vgl. die Überschrift Christianae libertatis propugnatoribus auf dem bei Schott erschienenen Doppelporträt bzw. die Bezeichnung Reuchlins, Huttens und Luthers als „Patron[i] libertatis“ auf

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§  8  Stilisierungen

Abb.  7  Lukas Cranach, Luther als „Junker Jörg“, Holzschnitt 1522; 28,3 x 20,2  cm. Der offene Himmel gibt dem machtvollen Haupt eines kämpferischen, ritterlich gestalteten Luther Raum. Das Bild dürfte auch wegen der in der Unterschrift angedeuteten Konflikte mit Karlstadt erst nach seiner Rückkehr bzw. nach den Invokavitpredigten entstanden sein, also nicht vor März 1522. Koepplin/Falk, wie Abb.  1, Bd.  1, S.  98 f. Nr.  42.

3.  Heroisierende Bilder

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so wie in literarischen Zeugnissen gelegentlich zeigende Verbindung Luthers mit Hutten, Erasmus – etwa im Falle der Göttlichen Mühle91 – oder Reuchlin92 – etwa auf dem Titelholzschnitt des Straßburger Neudrucks von Murners History von den fier Ketzern Prediger Ordens, s. oben Anm.  44. 91   S. u. Anm.  129. 92   S. Anm.  44 sowie die Hinweise von Martin Treu, Johannes Reuchlin, Ulrich von Hutten und die Frage der politischen Gewalt, in: Rhein, Reuchlin, s. unten, S.  133–145, hier: 133 Anm.  2. Zu Luthers durchaus prominenter öffentlicher Selbststilisierung in einer Reihe mit zu Unrecht verurteilten Gelehrten bis hinauf zu Reuchlin in den Resolutiones (1518) vgl. WA 1, S.  574,21 ff.; s. auch WA 6, S.  183,3 ff.; 184,24 f. Dass Luthers Konstruktion einer solchen Traditionslinie auch auf eine entsprechende Resonanz bei den Humanisten abzielte, darf man getrost voraussetzen. Wenn Luther den Humanisten als einer der Ihren erscheinen konnte, entsprach dies also auch seiner Selbstinszenierung. Zur komplexen Verschränkung der ‚causa Lutheri‘ und des Reuchlinprozesses vgl. jetzt umfassend: Barbara Mahlmann-Bauer, Johannes Reuchlin und die Reformation. Eine neue Würdigung, in: Kühlmann, Reuchlins Freunde, s. u., S.  155–191, bes. 158; 168 ff. Im Conciliabulum theologistarum [1520; ed. Böcking, Bd.  4, S.  575–585] und im Hutten zugeschriebenen Hochstratus ovans [1520; Böcking, Suppl. I, S.  461–488; s. u. Anm.  103] werden Reuchlin und Luther gleichfalls als Opfer der Scholastiker nebeneinander behandelt, vgl. auch Peterse, Hoogstraeten, s. u., S.  142. Sollte es eigentlich ein Zufall sein, dass Martin Luder am 31.  10. 1517 mit der gräzisierenden Namensform „Eleutherius“ eine Selbstbezeichnung gewählt hatte, die als Verfassername des Triumphus Reuchlini bezeugt ist? In der maßgeblichen Studie zur Sache (Bernd Moeller/Karl Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen [NAWG 1981, Nr.  7], Göttingen 1981 [nur Namensform Eleutherius bes. S.  8 –10.20 ff.]) ist dieser Frage eines möglichen Zusammenhanges des Namenswechsels Luthers mit dem Verfasserpseudonym des Triumphus Reuchlini nicht nachgegangen worden. Die Titel dieser in zwei anonymen Drucken vorliegenden Schrift lauten: Ioannis Reuchlin viri clarissimi Encomion: Triumphanti illi ex Devictis Obscuris viris: id est Theologistis Colonien. et Fratribus de ordine Predicatorum: ab Eleutherio Bizeno decantatum. [Hagenau, Thomas Anshelm 1518]; VD 16 H 6415; Ex. MF 1307 Nr.  3383; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1712, S.  105, und: Triumphus Doc. Reuchlini HABES STVDIOSE LECTOR, IOANNIS CAPNIOnis viri praestantissimi Encomion. Triumphanti .  .  . ab Eleutherio Byzeno decantatum. [Hagenau, Thomas Anshelm 1518]; VD 16 H 6414; Ex. MF 1208 Nr.  3061; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1731, S.  113; Böcking, Bd.  1, S.  26*; zu Anshelm in Hagenau s. Reske, Buchdrucker, wie Anm.  8, S.  321 [Lit.]. Der Text des Encomions ist gedruckt in: Böcking, Bd.  3, S.  413–447, der der Vorrede und des Nachwortes in: Böcking, Bd.  1, S.  236–238. Reflexionen über den Sinn des Namens „Eleutherius Byzenus“ vermag ich dem Text nicht zu entnehmen; auch in der einschlägigen neueren Literatur (Wilhelm Kühlmann, Ulrich von Huttens Triumphus Capnionis – der Triumph Reuchlins. Bildzeichen, Gruppenbildung und Textfunktionen im Reuchlin-Streit, in: Ders. [Hg.], Reuchlins Freunde und Gegner [Pforzheimer Reuchlinschriften 12], Sigmaringen 2010, S.  89–106; Fidel Rädle, Ulrich von Huttens Kampf gegen Rom, in: Nikolaus Staubach [Hg.], Rom und das Reich zur Zeit der Reformation [Tradition – Reformation – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 7], Frankfurt/M. 2004, S.  289–302, bes. 295 f.) findet sich dazu nichts. Neben dem Adjektiv „ἐλεύθερος“ (frei, befreit, freimütig, -sinnig) ist an das Adverb βύζην (vollgestopft, dicht gedrängt, eng aneinander; vgl. Thes. Ling. Graec. 3, Sp.  453: affluenter et copiose) zu denken. Oder sollte man es von „Zenobio“ (so Böcking, Bd.  3, S.  415) her interpretieren, d. h. als „der im Coenobium, in der Klo­ stergemeinschaft Lebende“? Die überzeugendste Deutung verdanke ich meinem Kollegen Fidel Rädle: Die Ableitung von bucinus (Herold, Trompeter), das der βυκάνη entlehnt ist. Der Name bedeutet dann soviel wie ‚Freiheitsherold‘, was zu Huttens notorischer Unbescheidenheit trefflich passt. Der Text ist vor allem Hutten (vgl. Böcking, Bd.  3, S.  414–416; mit gewissen Einschränkungen, und unter Erwägung von Anteilen Hermann von Busches: David Friedrich Strauß, Ulrich von Hutten, Meersburg/Leipzig 1930, S.  167; Hans Peterse, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin [VIEG 165], Mainz 1995, S.  72 f.; Winfried Frey, Multum teneo de tali libro. Die Epistolae Obscurorum Virorum, in: Laub, Hutten, s. unten, S.  197–209, bes. 204 ff.; zu ihm

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§  8  Stilisierungen

dem Titelblatt eines Straßburger Neudrucks von Murners History des Berner Jetzerzuletzt: Wilhelm Kühlmann, Art. Hermann von dem Busche, in: Worstbrock, Deutscher Humanismus, wie Anm.  48, Sp.  314–335) zuzuschreiben. Aus einer Nachricht in Erasmus’ Spongia von 1523 (Erasmus, Opera [ASD] IX-1, S.  202, 923 ff. = Böcking, Bd.  2, S.  318,13 ff.) geht hervor, dass Hutten Erasmus das Gedicht vom Triumph Reuchlins, das durch das Reuchlins Augenspiegel vom Verdacht der Ketzerei freisprechende Urteil des Speyrer Bischofs vom 29.  3. 1514 (vgl. nur: Peterse, a.a.O., S.  41.72; Winfried Trusen, Die Prozesse gegen Reuchlins „Augenspiegel“. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit [Pforzheimer Reuchlinschriften 5], Sigmaringen 1998, S.  87–132, bes. 98–106; englische Teilübersetzungen wichtiger Quellenstücke mit einer kompakten historischen Einleitung bietet: Erika Rummel, The Case against Johannes Reuchlin: Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto, Buffalo, London 2002; Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke, Bd.  4, 1, hg. von Widu-Wolfgang Ehlers/Hans-Gert Roloff/Peter Schäfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 [Ed. der Texte Reuchlins zum Bücherstreit]; Jan-Dirk Müller, Anfänge eines Medienereignisses. Der Reuchlinstreit und der Wandel von Öffentlichkeit im Frühdruckzeitalter, in: Kühlmann, Reuchlins Freunde, a.a.O., S.  9 –28) veranlasst war, im Sommer 1514 zu lesen gegeben hatte und der Niederländer damals mit Erfolg von einer Drucklegung abriet; vgl. Böcking, Bd.  2, S.  274, 42–275,1 = Opera [ASD] IX-1, S.  136,352–354 (Spongia); Böcking, Bd.  1, S.  261,20 f.; vgl. Kühlmann, Triumphus Capnionis, a.a.O., S.  91–93, und dies wohl bei einer weiteren Begegnung im Frühjahr 1515 noch einmal bekräftigte, vgl. auch Treu, Johannes Reuchlin, s. a.a.O., S.  137; zu Hutten und Erasmus im Allgemeinen vgl. Heinz Holeczek, Hutten und Erasmus. Ihre Freundschaft und ihr Streit, in: Paul Laub (Hg.), Ulrich von Hutten. Ritter. Humanist. Publizist. 1488–1523, Ausstellung in Schlüchtern 3.7.–11.9. 1988, Kassel 1988, S.  321–335; vgl. auch Paul Held, Ulrich von Hutten. Seine religiös-geistige Auseinandersetzung mit Katholizismus, Humanismus, Reformation [SVRG 144], Leipzig 1928, S.  83–106; v. a. in Bezug auf die klandestine Publizistik: Peter Fabisch, Iulius exclusus e coelis. Motive und Tendenzen gallikanischer und bibelhumanistischer Papstkritik im Umfeld des Erasmus [RGST 152], Münster 2008, bes. S.  326 ff.; 445 ff.; 479 ff. An der Huttenschen Verfasserschaft des Triumphus Reuchlini scheint in der neueren Forschung kein Zweifel mehr geübt zu werden (vgl. Treu, a.a.O., S.  137 Anm.  26; Kühlmann, Triumphus Capnionis, s. o.). Reuchlin äußert in einem Brief gegenüber Jakob Questenberg vom 12.  2. 1519 (Ludwig Geiger, Johann Reuchlins Briefwechsel, Tübingen 1875, ND 1962, Nr.  278, S.  311; Ed. Böcking, Bd.  1, S.  458 f., vgl. Reuchlin Briefwechsel, Bd.  4, 2013, Nr.  356), dass er nicht wisse, wer der Verfasser des Triumphus sei. Huttens Verfasserschaft scheint auch durch entsprechende Äußerungen des Eobanus Hessus nahegelegt (Böcking, Bd.  3, S.  414). Von dem Busche soll den Triumphus im August 1514 gesehen haben, Böcking, ebd.; Reuchlin-Briefwechsel, Bd.  3, 1514–1517, S.  149. Es handelte sich also um ein satirisch-polemisches Werk, das zunächst in handschriftlicher Form unter den Humanisten kursierte. Der Zeitpunkt und die Umstände der Drucklegung sind, soweit ich sehe, unklar; ein terminus ante quem ergibt sich aus dem Brief Reuchlins an Questenburg (11.  2. 1519). Erasmus erwähnt allerdings, dass die Unterdrückung der Drucklegung nun ein „biennium“ (Opera [ASD] IX-1, S.  136,354) gewährt habe, was auf eine ggf. zunächst handschriftliche Verbreitung seit ca. 1517 hindeuten könnte. Melanchthon versandte den gedruckten Triumphus wohl am [5.  3. 1519] an Spalatin (MBW.T 1, S.  108,2 ff.) und setzte Huttens Autorschaft voraus. Einer der beiden Drucke dürfte demnach kurz vorher erschienen sein. Ob Luther den Triumphus Reuchlini des „Eleutherius“ bereits im Herbst 1517, als er diesen Namen erstmals verwandte (erster eindeutig datierbarer Beleg: 11.  11. 1517, WABr 1, Nr.  52 [Luther an Johannes Lang], S.  122,56; Moeller/Stackmann, Luder, a.a.O., S.  9 ; WABr 1, Nr.  50 [Luther an G. Spalatin], S.  118,16 ist undatiert), gekannt hat, ist ungewiss. Dass er zu diesem Zeitpunkt bereits gedruckt vorgelegen haben sollte, ist aber wohl eher unwahrscheinlich. Es könnte sich hier natürlich um einen Parallelvorgang zu Luthers Lektüre der Handschrift des [Erasmusschen] Dialogs Julius exclusus handeln, über den er sich in eben jenem Brief an Spalatin aus dem November 1517, in dem er sich mutmaßlich zuerst „Eleutherius“ nannte (vgl. WABr 1, S.  118,3 ff.; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, S.  734 Anm.  25), äußert. Dass Luther an­ gesichts seiner damals wohl doch eher bescheidenen Griechischkenntnisse diese latinisierte

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Handels93 – hat, soweit ich sehe, in der Druckgrafik Cranachs keinen Niederschlag gefunden und muss als ephemeres Moment der oberdeutschen Publizistik gelten. Bei Cranach dominierte demgegenüber ein bemerkenswert wandlungsfähiger Luther im Einzelporträt. Das Heroische an ihm war gleichsam in den geschichtlichen Verlaufsprozess der Reformation, in der derselbe Reformator viele Gesichter zeigte, hineingenommen. Außerhalb des sächsischen Reformationskreises hingegen wurde Luther seit 1521 auch gerne in Interaktion mit anderen Personen dargestellt. Als der dem Papst und anderen Vertretern des Klerus (Abb.  8) 94 oder dem Kaiser (Abb.  9) 95 und dem Reichstag96 allein gegenübertretende Bettelmönch, der ohne Porträtähnlichkeit dargestellt wurde, erscheint er deshalb als heroisch, weil er den Mächtigen dieser Welt Paroli bietet. Das Heroische haftet der Person also nicht als solches an; es stellt sich gleichsam durch den narrativen Kontext und die Monumentalität des Gegensatzes zwischen dem Wittenberger ‚David‘ und dem römischen ‚Goliath‘ ein. („Eleutherius“, WABr 1, S.  118,16; später gelegentlich auch: „ἐλευθεριος“, z. B. WABr 1, S.  312,39; sämtliche Belege bei Moeller/Stackmann, a.a.O., S.  9, Anm.  19) Version eines griechischen Namens ‚von zweiter Hand‘ übernommen haben könnte, besitzt wohl eine gewisse Plausibilität. Und auch, dass Luther zu einem Zeitpunkt, in dem der Druck des Triumphus Reuchlini erschien, also spätestens zu Jahresbeginn 1519, aufhörte, sich „Eleutherius“ zu nennen (letzte Verwendung: 24.  1. 1519, WABr 1, S.  312,39), könnte so vielleicht verständlicher werden. Insofern halte ich es für durchaus möglich, vielleicht gar wahrscheinlich, dass [Huttens] Pseudonym Luthers Namenswechsel beeinflusst, ja ihm die etymologische Entdeckung der Freiheit (vgl. Moeller/Stackmann, a.a.O., S 11 ff.) in seinem Vaternamen erschlossen hat, deren spezifisch theologische Füllung er allerdings auf eigene Weise gewann. Sollte diese Hypothese im Recht sein, wären die späteren Doppelporträts von Luther und Hutten (s. oben, Anm.  44), den ‚Vorkämpfern der Freiheit‘, auf hintergründigere Weise ‚wahr‘, als die intellektuellen Dissonanzen zwischen den beiden Protagonisten der reformatorischen Bewegung erkennen lassen. Konrad Hoffmann setzt dem gegenüber voraus, dass das „lutherische Pseudonym ‚Eleutherius Bizen‘“ (Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers, Frankfurt 1983, Nr.  279, S.  221) von Hutten in Kenntnis Luthers gewählt worden sei. Das ist aber nur vorstellbar, wenn das Gedicht vorher ohne das Pseudonym kursiert wäre. Es wäre dann aber auch erklärungsbedürftig, warum Hutten aus dem Namen nichts weiter macht! 93   Vgl. oben Anm.  44; s. unten II, §  10, Abb.  6. 94   Vgl. das Titelblatt der Flugschrift Ain anzeigung wie D. Martinus Luther zu Wurms .  .  . verhört und mit im darauff gehandelt [Augsburg, Ramminger 1521]; VD 16 A 3024; Abb. des Titelblattes in: van Gülpen, Humanismus, wie Anm.  78, Nr.  63, S.  476. 95   Titelblatt der Flugschrift Doctor Martini Luthers offentlich verher in Worms .  .  . [Augsburg, J. Nadler 1521]; VD 16 L 3654; Abb. in: van Gülpen, a.a.O., Nr.  65, S.  478. 96   Titelblatt der Flugschrift Doctor Martini Luther offentliche Verhör .  .  . [Augsburg, M. Ramminger 1521]; VD 16 L 3655; Abb. in: van Gülpen, a.a.O., Nr.  66, S.  479. Die Flugschrift In disem tractetlin sind drey hübsche lieder new gemacht .  .  . ([Straßburg, Johannes Prüß, um 1523]; VD 16 G 2744; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1350, S.  575 f.; Ex. MF 1130 Nr.  2890) zeigt auf dem Titelblatt einen von einem Stern illuminierten Mönch, wohl Luther, der zwei Personen höheren oder bürgerlichen Standes gegenübertritt. Das Bildmotiv erinnert an die Gegenüberstellung Luthers und des Kaisers bzw. des Papstes, akzentuiert aber dessen Heiligkeit und stellt ein durch Handreichung symbolisiertes Einvernehmen her. Die drei Lieder Grafs polemisieren gegen Pfründenjäger „in Mardern baret“ (A 1v) und die Verurteilung Luthers (A 2r); sodann preisen sie Erasmus: „[.  .  .] Jesus Christ uns ein hirten sant / den glerten zu einer stroff / der ist Ruterdamus genant / weydet Christus sein schaff / die warheit brinngt er an den tag [.  .  .].“ A 3r. Zu Jörg Graf vgl. Saur, Allgemeines Künstlerlexikon, Bd.  60, München, Leipzig 2008, S.  86.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  8  Ain anzaigung wie D. Martinus Luther zu Wurms auff dem Reichstag eingefaren durch K. M. In aygner person verhört und mit jm darauff gehandelt [Augsburg, Melchior Ramminger 1521]; VD 16 A 3024, Titelblatt; Holzschnitt. Luther als Mönch (mit Gloriole?), predigend und aus der Schrift lehrend, steht Repräsentanten des Hochklerus gegenüber (Papst, Kardinal, Bischof, Stiftskanoniker). Die Druckplatte ist in der Mitte geteilt und konnte mit anderen Bild­ elementen kombiniert werden. (Variante VD 16 A 3024 [Ex. ThULB Jena Th 751] ohne Gloriole).

3.  Heroisierende Bilder

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Abb.  9  Doctor Martini Luthers offentliche verher zu worms im Reichstag vor Kai. Ma. Red und widerred / am 17. tag Aprilis .  .  . [Augsburg, Jörg Nadler 1521]; VD 16 L 3654, Titelblatt; Holzschnitt. Luther mit werbendem Redegestus steht Kaiser Karl V. gegenüber; im Bildhintergrund ein Kardinal (Aleander?) und weitere nicht signifikant gekennzeichnete Personen der kaiserlichen Entourage.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  10  Passion D. Martins Luthers oder seyn lydung durch Marcellum beschriben .  .  . [Straßburg, Johann Prüß d.J.] 1521; VD 16 B 9935, Titelblatt; Holzschnitt. Der mit einem großen Buch offensiv und unerschrocken, ja konfrontativ hervortretende Bettelmönch trägt keine porträthaften Züge.

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Ganzfigurige Lutherdarstellungen ohne Porträtähnlichkeit, wie sie etwa auf dem Titelblatt des Erstdrucks der deutschen Version der Passio Lutheri [Prüß, Straßburg, ca. 1521] (Abb.  10) 97 begegnen, verfolgen in der körpersprachlichen Gespanntheit ihres Ausdrucks eine „Tendenz zur Heroisierung des Reformators“98, die den Übergang zur machtvollen Tat als geradezu zwingend erscheinen lässt. An der abermaligen Verwendung des Druckstocks der Lutherdarstellung aus der Passio Lutheri im Murnarus Leviathan (Abb.  11) 99 lässt sich dies veranschaulichen: Der reckenhaft wirkende Luther steht über dem animalisierten und dämonisierten Murner, der gekrümmt am Boden liegt. Die lateinischen Inschriften rücken Luthers Sieg in den Horizont apokalyptischer Endgültigkeit.100 Der Reformator triumphans nimmt gleichsam die Position einer heilsgeschichtlichen Rettergestalt ein, die den teuflischen Drachen niederstreckt. Während Luthers heroische Überlegenheit im Murnarus Leviathan in Form des errungenen Sieges ins Bild gesetzt ist, schildern andere Darstellungen den noch toben­den Kampf. Das heute wohl berühmteste Beispiel dieses Darstellungstypus scheint der Hercules Germanicus Hans Holbeins d. J. (Abb.  12) von 1522 gewesen zu sein.101 Die Interpretationen des Blattes oszillieren freilich zwischen einer eindeu97   VD 16 B 9935; vgl. Schilling, Passio Doctoris Martini Lutheri, wie Anm.  55, S.  13 f., Nr.  1; Abb. S.  182; vgl. van Gülpen, Humanismus, wie Anm.  78, Nr.  71, S.  484; vgl. Kolb, Luther, wie Anm.  2, S.  28. 98  So Konrad Hoffmann, in: Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  92, Nr.  284, S.  284 f., hier: 285. 99   Abb. in: Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  92, S.  225; van Gülpen, Humanismus, wie Anm.  78, Nr.  87, S.  502; Drucke: VD 16 M 7111 f.: [Straßburg, Johann Schott 1521]. Weiterführende Hinweise unten II, §  10, Exkurs; Paul Merker, Der Verfasser des Eccius Dedolatus und anderer Reformationsdialoge [Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig 2, Neugermanistische Abt. H. 1], Halle/S.  1923, S.  32 ff.; Abb. nach S.  X III. 100   Die Inschriften stellen keine exakten Bibelzitate dar, kombinieren aber Motive aus Hi 40,20 f., Vulg. bzw. Hi 40, 25–41,26 und Apk 12,3–13,18. 101   Aus der Fülle der Literatur sei lediglich verwiesen auf: Werner Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, S.  158 f. Nr.  32; Gerd-H. Zuchold, Luther = Herkules. Der antike Heros als Siegessymbol für Humanismus und Reformation, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 3, 1984, S.  49–64; Walter Sparn, Herkules, der „Wundermann“. Mythographie und Theologie in der Dürerzeit, in: Ulrich Kuder/Dirk Luckow (Hg.), Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürer-Zeit, Kiel 2004, S.  19–23; Jürgen Müller, Holbein und Laokoon. Ein Beitrag zur gemalten Kunsttheorie Hans Holbeins d. J., in: Bodo Brinkmann/Wolfgang Schmid (Hg.), Hans Holbein und der Wandel in der Kunst des frühen 16. Jahrhunderts, Turnhout 2005, S.  73–89; Silvana Seidel-Menchi, Erasmus as Arminius – Basel as the Anti-Rome? Closed and Open Circles of Humanist Communication, in: ARG 99, 2008, S.  66–96, bes. 83–86; Christian Rümelin, Hans Holbein und die Druckgraphik, in: Hans Holbein d. J. Die Jahre in Basel 1515–1532, München 2006, S.  124–131; Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, Nr.  353, S.  360–362; Abb. S.  624; Theophil Burckhardt-Biedermann, Über Zeit und Anlaß des Flugblattes: Luther als Hercules Germanicus, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 4, 1905, S.  38–44; Scribner, Sake, wie Anm.  156, S.  32 f.; Matthias Winner, Terminus als Rebus in Holbeins Bildnissen des Erasmus, in: Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel, a.a.O., S.  97–109; zur allgemeinen kunstgeschichtlichen Orientierung zum Herkuleskomplex hilfreich: Lexikon der Kunst 3, Leipzig 2004, S.  216–218.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  11  Matthias Gnidius [pseud.; wohl identisch mit Raphael Musaeus; vgl. WABr 2, S.  238– 240], Murnarus Leviathan vulgo dictus Geltnarr oder Genß Prediger, Holzschnitt D 2v, [Straßburg, Johann Schott] 1521; VD M 7111/2. Die auf dem Boden liegende drachenschwänzige Gestalt des Straßburger Franziskaners Thomas Murner wird von dem triumphierenden Luther mit der Bibel besiegt. Die lateinischen Kompilationen biblischer Worte rücken die Auseinandersetzung in einen apokalyptischen Horizont.

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Abb.  12 Hans Holbein d.J., Hercules Germanicus, kolorierter Holzschnitt [1522], 32,0 x 23,2  cm; eingeklebt in: Heinrich Brennwald/Johannes Stumpf, Schweizer Chronick, ZB Zürich Ms A2, vor S.  150. Auf der rechten Seite neben dem eingeklebten Blatt wird eine Darstellung der „Causa Lutheri“ und der reformatorischen Bewegung im Jahre 1519 geboten, die mit einem kolorierten Lutherporträt (Holzschnitt von Hans Herman nach Hans Baldung Grien) illustriert ist. Die gelegentlich begegegnende Datierung auf 1519 ist diesem Überlieferungszusammenhang geschuldet. Zur Bildunterschrift des Holbeinschen Holzschnittes s. unten §  8, Anm.  114.

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§  8  Stilisierungen

tigen Parteinahme des Künstlers zugunsten des übermächtigen, in der älteren ikonologischen Tradition als „Präfiguration eines christlichen Tugendhelden“102 gewerteten „Herkules“ und einer ironischen bis kritischen Distanzierung von einem wild um sich schlagenden, berserkerhaften Wüterich. Für die historische Interpretation des Blattes hat auch eine Rolle zu spielen, dass wir durch einen Brief Ulrich Hugwalds an den St. Gallener Reformator Joachim Vadian103 einige Hinweise auf die Entstehung und die zeitgenössische Rezeption des Blattes besitzen, und zwar folgende: 1. Der Reformationsanhänger Hugwald sah in dem Bild einen Ausdruck der Ignoranz gegenüber den eigentlichen Anliegen Luthers und der Evangelischen, da er den Vergleich mit Herkules für verfehlt hielt; er setzte aber gleichwohl voraus, dass es von Leuten stammte, die die Sache Luthers prinzipiell befürworteten.104 2. Er führte die 102   Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd.  2 : Holzschnitte und Holzschnittfolgen, München u. a. 2002, S.  46 (zu Nr.  105: Ercules, um 1496); vgl. zu dem im Thema der menschlichen Willensfreiheit zentrierten Motivkomplex des Scheideweges: Erwin Panofsky, Herkules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst [Studien der Bibliothek Warburg 18], Leipzig, Berlin 1930, Neudruck mit einem Nachwort von Dieter Wuttke, Berlin 1997, bes. S.  37 ff.; zu Dürers Stich S.  166– 173; 181–186; Walter Sparn, Herkules Christianus. Mythographie und Theologie in der frühen Neuzeit, in: Walther Killy (Hg.), Mythographie der frühen Neuzeit [Wolfenbütteler Forschungen 27], Wiesbaden 1984, S.  73–107; zu spanischen und englischen Beispielen: Stephen Orgel, The Example of Hercules, in: a.a.O., S.  25–47; Ludwig Schrader, Herkules-Darstellungen in der spanischen Literatur vom 15. bis 17. Jahrhundert, a.a.O., S.  49–71; weitere Beispiele grafischer Aneignungen der Herkules-Thematik bei Hans Sebald Beheim und Heinrich Aldegrever im späteren 16. Jahrhundert in: Kuder/Luckow, Des Menschen Gemüt, wie Anm.  101, S.  98–115. 103   Ed. in: Emil Arbenz (Hg.), Die Vadianische Briefsammlung in der Stadtbibliothek St. Gallen, Bd.  3 [Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte, hg. vom Historischen Verein in St. Gallen 27], St. Gallen 1897, Nr.  96, S.  246–248. Die Datierung des Briefes ist unsicher; als terminus post quem hat allerdings Erasmus’ Widmungsbrief an Hadrian VI. in seiner Arnobius-Ausgabe (VD 16 B 3130) vom 1.  8. 1522 (Allen, Bd.  5, Nr.  1304, S.  99–111; vgl. Nr.  1310, S.  121) zu gelten, den Hugwald ebenso voraussetzt wie das Ausbleiben einer Dankesreaktion aus Rom. Wahrscheinlich sollte man den Brief also in die letzten Monate des Jahres 1522 datieren; in diese Zeit gehört auch der Hercules Germanicus. Die Erwähnung Hochstratens als des, wenn ich recht sehe, einzigen zeitgenössischen Gegners Luthers scheint in Bezug auf die Datierung unergiebig zu sein: Luther hatte im Vorfelde der Leipziger Disputation eine kurze literarische Auseinandersetzung mit ihm (WA 2, S.  384–387; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  48, S.  294 f.); er war an den Verurteilungen durch die Universitäten Löwen und Köln beteiligt (Brecht, a.a.O., S.  322 f.); im November 1520 erschien der polemische Dialog Hochstratus ovans in Schlettstadt (L. Schürer) bzw. Hagenau (Th. Anshelm): VD 16 H 4004– 4006; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  55 f. Nr.  1591–1593; Ed. in: Böcking, Suppl. I, S.  461–488. Hochstratens Nennung auf dem Blatt Hercules Germanicus hat also mit einer „zeitgenössischen Schilderung der Ereignisse“ (so Rümelin, Holbein, wie Anm.  101, S.  125) nichts zu tun. Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, S.  361 führt einen polemischen Brief des Erasmus an Hochstraten vom 11.  8. 1519 (Allen, Bd.  4, Nr.  1006, S.  42–51) als mögliches Argument dafür an, dass er hier exponiert genannt wird. Für den fliehenden Mönch im Hintergrund erwägt er Murner (ebd.). Für beide Interpretationen sehe ich keine Anhaltspunkte. Auch die von Rümelin wahrgenommene Bezugnahme auf Eck (Rümelin, ebd.) ist nicht verifizierbar. Hochstratens Name ist wohl wegen seiner Prominenz als Reuchlingegner im Kreise der Humanisten gewählt worden. 104   „Semper ego [sc. Hugwald] veritus sum, ne ab inimicis evangelii fingerentur libelli sub nomine Lutheri. Nunc demum sero video factum a nobis ipsis, nihil minus cogitantibus. Colliges [sc. Vadian] hoc argumento quorundam veri christianismi ignorantiam, qui putant Luthero aut ulli

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Bildidee auf Erasmus zurück, der in vertrautem Kreise die sprichwörtliche Wendung „suspendere naso“ (vgl. Horaz, Sat. I, 6, 5) ) – an der Nase aufhängen – auf Luthers Kampf gegen das Papsttum bezogen hatte. Ob Erasmus selbst der Autor der Verse unterhalb des Blattes sei, wusste Hugwald nicht.105 3. Ein Kanoniker, der sich zufällig in Basel aufhielt, schickte das Bild gleich am Tag seines Erscheinens mit einem Hinweis auf die Verfasserschaft des Erasmus nach Rom106 ; aufgrund der Druckerei, in der das Blatt erschien – nämlich Frobens –, erhärtete sich der Verdacht gegen Erasmus. Außerdem sei allgemein bekannt, dass dieser darüber verärgert gewesen sei, dass Papst Hadrian VI. auf eine Widmung von seiner Seite nicht reagiert habe.107 Diese für die Interpretation des Blattes wichtigen Hinweise ergeben einen ambivalenten Befund, der für die Differenzierungsprozesse innerhalb der intellektuellen Szene Basels charakteristisch ist: Dem wohl zum damaligen Zeitpunkt noch entschiedenen Parteigänger Luthers Ulrich Hugwald erschien das Blatt, dessen ‚proreformatorische‘ Tendenz er voraussetzte, wegen des Herkules-Bezuges problematisch; Erasmus, der Luthers immodestia und ungestüme Polemik scharf missbillige, sei der eigentliche spiritus rector der Bildidee; von römischer Seite werde das Bild als eindeutige Kampfansage gewertet. Diese Ambivalenz in der zeitgenössischen Bewertung dürfte der Gebrochenheit des ‚Heroischen‘ in Holbeins Holzschnitt entsprechen und die auch in den zeitgenössischen literarischen Zeugnissen einiger Humanisten greifbar werdende Distanzierung von dem Polemiker Luther spiegeln. evangelistae aliquid cum Hercule illo, quem olim ob nescio quae facta in caelum tulerunt, commune esse. Dubium non est, illos, qui ita de caussa gloriae dei sentiunt et somniant, omnes repugnatores deo quantum quod maxime.“ Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  103, S.  246 f. 105   „An ipse [sc. Erasmus] sit auctor, nescio [sc. Hugwald]. Hoc scio, aliquando apud eum mentionem incidisse proverbii: suspendere naso, cumque [cj. tumque?, so Seidel-Menchi, Erasmus, wie Anm.  101, S.  84 Anm.  66, oder besser: eumque] eius proverbii admonitu talem quandam [gegen cj. quendam?, Seidel-Menchi, ebd.] verbis depinxisse tragoediam; quendam autem ex his, qui tum aderant, figmentum leve quidem arripuisse atque addidisse.“ Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  103, S.  247. Demnach folgte die Bildidee aus dem entsprechenden Sprichwort (s. dazu Adagia 722 [I. VIII.22] = Opera [ASD] II-2, S.  246; s. unten Anm.  113), das von Erasmus auf Luthers Kampf bezogen worden war; das Bild (figmentum) der ‚Kampftragödie‘ war im Zuge des Gesprächs skizziert bzw. gerissen worden. Hugwald sah Erasmus ausgesprochen kritisch – er schmeichele den Menschen gegen die Ehre Gottes („qui [sc. Erasmus] impiissime adversus gloriam dei hominibus adulatur“, Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, S.  257, Hugwald an Vadian, undat. 1523?). Bei Luther, besonders aber bei Melanchthon, sah Hugwald damals die höchste Autorität in Bezug auf die sacrae literae. Im Zusammenhang einer ausführlicheren Schilderung seiner sozial instabilen Existenz als Student griff Hugwald übrigens schon 1520 auf die sprichwörtliche Wendung „naso suspendere“ (s. Anm.  113) zurück: „Nihil mea refert quibusdam nihil sapere alienae domi, et omnia naso suspendere, nisi quod domi suae habent.“ Ulrich Hugwald, Dialogus, studiorum suorum prooemium et militiae initium, [Basel, A. Petri 1520]; VD 16 H 5859; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  79, Nr.  1651, S.  13; vgl. Frank Hieronymus, 1488 Petri Schwabe 1988, Bd.  1, Basel 1997, S.  331; Ex. MF 930 Nr.  2314; s. auch oben II, §  7, Abschnitt 15. 106   „Porro Romam eo die, quo prodibat, hic [cj. hinc?] a quodam canonico [.  .  .] missa est haec pictura cum literis Erasmum auctorem indicantibus.“ Arbenz, Briefsammlung, Bd.  3, wie Anm.  103, S.  247. 107   A.a.O., S.  247; vgl. Anm.  103.

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§  8  Stilisierungen

Abb.  13  Maximilian I. als Hercules Germanicus, Holzschnitt, um 1489/90; 28,0 x 17,5  cm. In der oberen Bildhälfte ist Maximilian als ein Löwenfell tragender Herkules mit einer Krone aus Pappellaub, Schwert, Bogen und Schleuder dargestellt. In der unteren Bildhälfte wird er inschriftlich als Sohn Kaiser Friedrichs III. und als deutscher König bezeichnet und als Ritter dargestellt.

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Der Mönch mit dem Fell des nemäischen Löwen ist auf Holbeins Blatt von überragend robuster Körperlichkeit; er ist ein Repräsentant jenes Stammes, dessen äußere Erscheinung nach Tacitus durch wild blickende blaue Augen, rötliches Haar und eine große Gestalt (magna corpora), die allerdings nur zum Angriff tauge, gekennzeichnet sei.108 Ein ironisches Moment der Inschrift „Hercules Germanicus“ ist vielleicht darin zu sehen, dass Herkules nach Tacitus bei den Germanen als erster aller Helden (primumque omnium virorum fortium)109 galt, der hier präsentierte ‚germanische Herkules‘ also die germanisch rohe Variante seiner reineren Ursprungsgestalt repräsentiert. Eine weitere ironische Pointe könnte darin liegen, dass Kaiser Maximilian mit einem gleichnamigen illustrierten Flugblatt als „Hercules Germanicus“ (Abb.  13) in Szene gesetzt worden war.110 Eine ironische Brechung klingt sodann darin an, dass die Bewegungsdynamik der leidenden Laokoongestalt vom keulenschwingenden Herkules Holbeins, der den intellektuellen Repräsentanten des kirchlichen Ancien régime seinerseits Leid zufügt, adaptiert111 wird. Der berserkerhafte Hüne Luther hat in der situativ verdichteten Szene mit Hochstraten, dem Hauptfeind Reuchlins, den einzigen zeitgenössischen Gegner am Wickel; auf dem Boden liegen die mit Namensschildchen versehenen niedergestreckten Leiber von Johannes Duns Scotus, Robert Holcot, Nikolaus von Lyra, Avicenna (Ibn Sina), Aristoteles, Thomas von Aquin und Wilhelm von Occam112 ; im Hintergrund sieht man eine nicht näher bezeichnete fliehende Mönchsgestalt. Sollte auf die neunköpfige lernäische Hydra, deren Köpfe Herkules abschlug und durch Ausbrennen der Wunden deren Nachwachsen verhinderte, 108

 Tacitus, Germ. 4, zit. nach der zweisprachigen Ausgabe Fuhrmanns, Germania, wie Anm.  50,

S.  8 f. 109

 Tacitus, Germ. 3, wie Anm.  108, S.  6 f.   Faksimile in: Stephan Füssel, Kaiser Maximilian und die Medien seiner Zeit. Der Theuerdank von 1517, München 2003, S.  21; zur möglichen Datierung auf 1489/90: S.  23; zum Kontext: Falk Eisermann, Buchdruck und politische Kommunikation. Ein neuer Fund zur frühen Publizistik Maximilians I., in: Gutenberg-Jahrbuch 2002, S.  76–83; vgl. Campbell Dogson, Catalogue of Early German und Flemish Woodcuts, Bd.  1, London 1903, Abb.  141, S.  137 f.; ikonologische Verbindungen zwischen diesem Blatt aus dem späten 15. und dem Holbeins sind allerdings nicht unmittelbar evident. Zu den nationalen und regionalen Hercules-Adaptionen instruktiv: Joachim Berger, Hercules Vinariensis. Aneignungen eines europäischen Mythos in der frühen Neuzeit, in: Hellmut Seemann, Europa in Weimar: Visionen eines Kontinents, Jahrbuch Klassik Stiftung Weimar 2008, Göttingen 2008, S.  77–104, hier: 92 ff.; Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, S.  362 (Hercules Helveticus erwähnt); zur Inszenierung Moritz’ von Sachsen als deutscher Herkules vgl. Jürgen Müller, Moritz von Sachsen als „Hercules Germanicus“: zur Deutung der Herkulestafeln Lukas Cranachs d. J., in: Andreas Henning/Uta Neidhardt/Martin Roth (Hg.), „Man könnt vom Paradies nicht angenehmer träumen“, FS Harald Marx, Berlin, München 2009, S.  50–57 (mit der instruktiven These, Holbeins „Herkules Germanicus“ sei das Vorbild für Cranachs d. J. Gemälde Herkules und die Pygmäen von 1551 gewesen). 111   Vgl. bes. Müller, Holbein, wie Anm.  101, S.  84 f. 112   Zwischen den als Mönchen gestalteten Figuren Occams und Lyras liegt freilich eine von Luthers rechtem Fuß niedergetretene neunte Person, die nicht mit einem Namensschild bezeichnet ist. Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, S.  361 äußert die ansprechende Vermutung, dass es sich hierbei – analog dem Holbeinschen Kalenderblatt „Christus das wahre Licht“ (a.a.O., Nr.  354 a, S.  362–366; Abb. S.  626) – um Platon handeln könnte. 110

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§  8  Stilisierungen

angespielt sein, läge ein weiteres ironisches Brechungsmoment vor: Trotz aller Wüterei des germanischen Herkules-Luther ist das Monstrum keineswegs definitiv besiegt. An Luthers Nase hängt der Papst – eine unmittelbar gegenständliche Umsetzung der sprichwörtlichen Wendung „naso suspendere“, die im Begleittext aufgenommen wird; sie stellt die auf Erasmus selbst zurückgehende Bildidee dar und spielt mit einem Attribut des Hercules Gallicus (s. unten). Von der Erläuterung des Sprichwortes in den Adagia113 her ist klar, worum es geht: um eine verschmitzt-heimtückische, ja übermäßige Verspottung des Papstes, mit der Luther diesen dreileibigen Riesen Geryones, den Herkules auf der Insel Erythreia mit Pfeilen tötete, zu einer puppenhaften Größe geschrumpft hat. Der Text114 korrespondiert mit dem Bild aufs Genaueste, bietet aber zugleich eine dem Bild selbst nicht inhärente Deutungsper­ spektive. Er spricht das unfromme Rom an, das allen Grund habe, den germanischen Alkidenspross Herkules-Luther zu fürchten. Denn der vertilge die Sophisten und habe das Papsttum erbärmlich geschwächt. Daran, dass das römische System und die Kohorte seiner Repräsentanten zutiefst verderbt sind, kann es keinen Zweifel geben. Doch Rom soll sich, vielleicht wie einstmals nach der Niederlage gegen die Germanen, sammeln, von seinem Irrtum abgehen, sich seinem ‚Vater‘ – Gott oder dem Kaiser – zuwenden und sich reinigen; andernfalls habe es seiner definitiven Vernichtung gewärtig zu sein. 113  „Naso suspendere, est, vafre ac subdole irridere Plinius lib. 11 cap.  37 [Hist. Nat. 11, 158] docet, a suae aetatis hominibus nasum subdolae irrisioni fuisse dicatum. Nam apud veteres auctores nihil huiusmodi legitur. Verba Plinii subscribamus: Et altior homini tantum (quem novi mores subdolae irrisioni dicavere) nasus.“ Zit. nach der Ausgabe der Adagia von Paul Manutius, Ursellis, C. Sutorius, L. Zetzner 1603, S.  337 ([= Opera [ASD] II-2, S.  246,290–294 [Adagia 722 / I. VIII,22]). 114   Da die sechs Distichen unterhalb des Blattes m. W. zuletzt bei Burckhardt-Biedermann, Zeit, wie Anm.  101, S.  39, neu gedruckt wurden und bei den Interpretationen des Blattes zumeist ignoriert werden, sie überdies auf dem einzigen erhaltenen Exemplar (in: Heinrich Brennwald – Johannes Stumpf, Schweizerchronik, ZB Zürich MSA 1/2, S.  150) relativ schwer lesbar sind, seien sie hier wiedergegeben: „Germanum Alcidem tollentem monstra Lutherum | Hostem non horres impia Roma tuum? | Nonne vides, naso ut triplicem suspenderit unco | Geryonem, & lasset pendula crista caput? | Ecce tibi insanos feriat qua mole sophistas, | Urgeat & rabidos strenua clava canes? | Ecce cadit male sana cohors, cui cerberus ipse | Cedit & in fauces fertilis hydra novat. | Quin igitur fortem agnoscis dominumque pa[t]remque | Tendisti victas cui semel icta manus? | Erratum, mihi crede satis, sape, teque repurga | Aut Lernae impurae te sacra flamma manet. |“ Übersetzt etwa: Den germanischen Alkiden Luther, der Ungeheuer vertilgt | Fürchtest du, unfrommes Rom, ihn nicht als deinen Feind? | Siehst du nicht, dass er den dreifältigen Geryonem an seiner Nasenspitze aufgehängt hat | und der herabhängende Kamm [crista, bei Tierköpfen oder Schlangen ] das Haupt müde macht? | Siehe wie gelenk er die unsinnigen Sophisten zerhaut | Und die tollen Hunde die wackere Keule vertreibt[.] | Siehe es fällt die übel-heillose Kohorte, der Cerberus selbst | nachsteht und die zu neuen Schlangenrachen nachwachsende furchtbare Hydra. | Wie also erkennst du nicht als einen mächtigen Herrn und Vater | dem du einmal, als du getroffen warst, die besiegten Hände gereicht hast? | Es ist genug geirrt worden, glaube mir, sei verständig und reinige dich wieder | Oder die heilige Flamme der unreinen Lerna erwartet dich. | (Für Unterstützung beim Verständnis dieser Verse danke ich meinem Göttinger Kollegen Fidel Rädle.)

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Im Lichte des Textes kann es meines Erachtens keinem Zweifel mehr unterliegen, dass der Hercules Germanicus keine affirmative Heroisierung Luthers darstellt. Vielmehr wird – mit Thomas Mann zu sprechen – das „fürchterlich Robuste“, „das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten“115 des Wittenbergers in seiner tiefen Ambivalenz zum Ausdruck gebracht, d. h. zugleich hinsichtlich der Berechtigung einer Kritik an bestehenden kirchlichen Missständen und unter Distanzierung von der Destruktivität ihrer Form. Im Blatt des Hercules Germanicus scheint also – insbesondere im Modus des werbend-warnenden Appells gegenüber Rom und verborgen unter dem Gegenteil – das humanistische Tugendideal des „Hercules Gallicus“ auf, der durch „Wortgewandtheit und Überredungskunst“116, nicht durch die Wucht seiner physischen Überlegenheit, zu wirken vermochte. Nach Lukian soll dieser Hercules in Gallien als Gott der Beredsamkeit verehrt worden sein; sein Abbild sei mit Bogen und Keule dargestellt worden. Er soll Menschen an den Ohren gefesselt und mit Ketten an seiner Zungenspitze aufgehängt haben.117 Genau dieses Merkmal 115   Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: Hermann Kurzke/Stephan Stachorski (Hg.), Thomas Mann, Essays, Bd.  5 : Deutschland und die Deutschen, Frankfurt 1996, S.  260–281, hier: 266. 116   Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd.  1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter, München u. a. 2001, S.  78, Nr.  22 (zu Hercules am Scheideweg). 117  Vgl. Winner, Terminus, wie Anm.  101, S.  101 f.; vgl. Lukian, Herakles 3 (in: Lucian with an English Translation by A. R. Harmon in eight Volumes, vol. 1, London / Cambridge / Mass. 1961, S.  64 f.). Für die lukianische Beschreibung der Bindung der Kelten an diesen von ihnen unter dem Namen Ogmios / Ogma (Herakles 1; vgl. TRE 18, 2000, S.  94,17 ff.) verehrten Gott ist charakteristisch, dass die hübschen Ketten, mit denen ihre Ohren an seinen Mund gebunden sind, leicht zu sprengen gewesen wären, die Gefolgschaft also mit Zustimmung, ‚wohlgemut‘ (φαιδροὶ), erfolgte. Aus Lukians Text geht eindeutig hervor, dass sich die Befestigung der Ketten an der Zunge der Gottheit auf die bildliche Darstellung eines Malers (ζωγράφος, ebd.) bezieht. Holbein folgt also einer literarisch vermittelten bildlichen Darstellungsform (γραφή, Herakles 4), die durch einen antiken Kollegen vorgegeben war. Erasmus hatte den lukianischen Text erstmals 1506 in lateinischer Übersetzung publiziert, vgl. Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, S.  308; s. unten am Ende dieser Anm.; vgl. ed. Welzig 3, S.  4 f. Im Unterschied zu den Griechen hielten die Kelten wegen der Stärke nicht Hermes, sondern Herakles für „das Wort“ („τὸν λόγον ἡμεις οἱ κελτοὶ οὐχ ὡσπερ ὑμείς οἱ Ἓλληνες Ἑρμήν οἰόμεθα εἶναι, ἀλλ Ἡρακλεῖ αὐτὸν εἰκάζομεν, ὅτι παρὰ πολὺ τοὺ  Ἑρμοῦ ἰσχυρότερος οὗτος.“) (Herakles 4). Der wirkliche Herakles sei der, dessen Pfeile Worte darstellten (Herakles 6). Dass der keltische Herakles als alt dargestellt ist, die Beredsamkeit aber erst im Alter ihre volle Stärke entfalte, ist bei dem Heraklesbezug des alternden Erasmus (s. Anm.  118) mit zu beachten („το δε γῆρας ἔχει τι λέξαι τῶν νέων σοφώτερον“, ebd.). Zur Bedeutung der lukianischen Bildbeschreibungen für die Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts instruktiv: Barbara E. Borg, Bilder zum Hören – Bilder zum Sehen: Lukians Ekphrasis und die Rekonstruktion antiker Kunstwerke, in: Millennium-Jahrbuch 2004, Berlin, New York 2004, S.  25–57, bes. 44 ff. mit Abb.  8 und 9 (Zeichnungen Dürers und Raffaels vom gallischen Herkules, bei denen die angebundenen Personen in ihrer Körpergröße von denen der Gottheit nur unwesentlich unterschieden sind – im Gegensatz zur Papstpuppenfigur in Holbeins Hercules Germanicus!) Deutlich andere Proportionen (Hercules Gallicus doppelt so groß wie seine Anhänger) zeigt die auf einem Basler Cratander-Druck (März / April 1519) des Dictionarium Graecum abgebildete Hercules-Gallicus-Darstellung Hans Francks, Abb. in: Hieronymus, Buch­i llustration, wie Anm.  129, S.  320/2; weitere süddeutsche Buchtitel mit dem gallischen Herkules bei Bulst, s. unten, S.  76; eine Miniaturzeichnung des Hercules Gallicus, wohl aus der Zeit nach Erasmus’ Tod, soll nach Hieronymus [ebd.] aufführen: Paul Ganz, Handzeich-

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§  8  Stilisierungen

Abb.  14  Hans Holbein d.J., Bildnis des Erasmus von Rotterdam „mit dem Renaissancepila­ ster“; Ölgemälde, 1523; 74,8 x 52  cm (London, National Gallery, Leihgabe aus Longford Castle). Das Porträt war ein Geschenk des Erasmus an seinen Freund und Mäzen William Warham, Erzbischof von Canterbury. Auf dem Buchschnitt unter Erasmus Händen ist sein Name und auf Griechisch „Herkulische Mühen“ zu lesen. Der 54jährige Erasmus wirkt müde und abgemagert; er ist in eine mit Marderfell gefütterte schwarze Schaube gekleidet. Zwischen dem Holbeinschen Bildnis und zeitgenössischen literarischen Zeugnissen, die die Erschöpfung des Erasmus und seine Verbitterung über den eskalierenden Glaubensstreit zum Ausdruck bringen, gibt es deutliche Entsprechungen.

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des „Hercules Gallicus“ ist in das Bild des Hercules Germanicus Luther, wohl in Anerkennung seiner Beredsamkeit und der Berechtigung seiner Kritik am Papsttum, eingeflossen. Allerdings dürfte die puppenhafte Kleinheit des Papstes an Luthers Mund wiederum ein Moment ironischer Brechung darstellen. Denn die Anhänger des Hercules Gallicus, die in sonstigen Darstellungen zumeist nur geringfügig kleiner als die Gottheit abgebildet werden, folgen diesem gern und weisen Merkmale höchster Lebendigkeit auf, während der Papst bei Holbein am Munde des Hercules Germanicus leblos und wie ein Hingerichteter baumelt. Der dominierende Zug an dem Germanen ist das wütende Einschlagen auf seine Gegner. Wenn sich Erasmus 1523 auf einem Porträt von Holbein mit auf einem Buch ruhenden Händen darstellen ließ, das auf dem Blattschnitt mit den Worten „ΗΡΑΚ­ΛΕΙΟΙ ΠΟΝΟΙ“ – herakleische Mühen – gekennzeichnet ist118 (Abb.  14), kann kaum zweifelhaft sein, welche Art von Herkulesrezeption der große Niederländer für sich selbst in Anspruch nahm. Es ist die Überlegenheit des Alters und des Wortes, die den Hohenpriester des gallischen Herkules, des Logos, auszeichnet und von dem Ungestüm des sich selbst titanenhaft als quasi-Gottheit aufspielenden und genau darin mit Rom vergleichbaren119 Hercules Germanicus unterscheidet. Durch diese Interpretation des Blattes wird, so denke ich, verständlich, warum weder der Lutheranhänger Hugwald noch der durch Basel reisende Kanoniker mit seinem Inhalt einverstanden waren. Allerdings muss man natürlich bei diesem wie auch bei anderen illustrierten Flugblättern120 prinzipiell mit einer durchaus intendierten Mehrschichtigkeit der Rezeption rechnen: Einem Illiteraten bietet das Blatt die Darstellung des Kampfes eines wohl mühelos mit Luther zu identifizierenden Mönches, der den Papst, Kleriker und Gelehrte niederschlägt – eine Ikone des Antiklerikalismus. Für einen volkssprachlich Lesekundigen werden der Zusammenhang mit Herkules und Germanien und die Namen der Hingerafften verstehbar. Die einungen von Hans Holbein dem Jüngeren, Berlin 21923 [was ich allerdings nicht zu verifizieren vermag]). Zur Diskussion, ob das von Lukian beschriebene Bild tatsächlich existierte, s. Borg, a.a.O., S.  44 [Lit.], sowie unter eindrucksvoll breiter Würdigung der vielfältigen Rezeptionen der Figur des gallischen Herkules: Wolfger A. Bulst, Hercules Gallicus, der Gott der Beredsamkeit. Lukians Ekphrasis als künstlerische Aufgabe des 16. Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und Italien, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.), Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance [Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 4. Folge, 3], München, Berlin 2003, S.  61–121. 118   Abb. und Interpretation bei Winner, Terminus, wie Anm.  101, S.  96: Hans Holbein d. J., Bildnis des Erasmus von Rotterdam „mit dem Renaissancepilaster“; zu Erasmus’ Übersetzung der Prolalia Herakles des Lukian, siehe die Hinweise bei Bulst, Hercules Gallicus, wie Anm.  117, S.  105 Anm.  60. 119   Vgl. die Wendung „fortem [.  .  .] dominumque pa[t]remque“ in den Versen unterhalb des Bildes, wie Anm.  114. 120  Vgl. Wolfgang Harms, Lateinische Texte illustrierter Flugblätter. Der Gelehrte als möglicher Adressat eines breit wirksamen Mediums der frühen Neuzeit, in: Klaus Grubmüller/ Günter Hess (Hg.), Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing – nur für Experten?, Tübingen 1986, S.  74–85; vgl. auch meine exemplarischen Flugblattinterpretationen aus Magdeburg in meinem Buch: Das Ende der Reformation, wie Anm.  30, S.  398 ff.

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Abb.  15 Einblattholzschnitt Die päpstlichen Wölfe [Mainz, Johann Schöffer, um 1520/21]; 22,5 x 32,5  cm. Unter dem Text steht ein in vier Spalten gesetztes Reimgedicht, das das Bild erläutert und vor den reißenden Wölfen warnt. Das Bild zeigt Schafe, die sich um das Kreuz Chri­sti scharen. Zwei mit päpstlicher Tiara und Kardinalshut gekennzeichnete Wölfe reißen die Schafe. Im Bildhintergrund verweisen die Apostel Petrus und Paulus auf den Gekreuzigten. Im Bildvordergrund erscheint Luther; er trägt ein Buch in der rechten und eine Schreibfeder, die auf Christus verweist, in der linken Hand.

gentliche Tendenz und höchste Sinnebene des Blattes aber erschließt sich erst dem Lateinkundigen: Hier wird es als ein Dokument der Erasmischen Äquidistanz gegenüber den kirchenpolitischen Konfliktparteien erkennbar. Wenn ich recht sehe, ist es übrigens das einzige visuelle Zeugnis dieser Art, das in einem eher auf ‚Popularisierung‘ abzielenden Medium, dem Holzschnitt, produziert wurde. Aus dem Umstand freilich, dass es – wie viele andere Einblattdrucke auch – in nur einem einzigen Exemplar, eingeklebt in Johannes Stumpfs Schweizerchronik, überliefert ist, möchte man schließen, dass sein Vertrieb, vielleicht auf Initiative des Erasmus selbst, bald eingestellt worden war, nachdem es zu den sich im Hugwald-Brief an Vadian vom Herbst 1522 spiegelnden Turbulenzen gekommen war. Nicht dem überparteilichen Antiheroismus des Erasmus, sondern der Heroisierung des Wittenbergers durch seine Verehrer, und der Dämonisierung durch seine zu Feinden gewordenen Gegner, gehörte die Zeit.

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Seit 1521 zeichnete sich auch in der Ikonografie die Tendenz ab, Luther mit einzelnen Aspekten seiner Lehre, vornehmlich mit bestimmten biblischen Sachverhalten, ins Bild zu setzen. Dies geschah etwa in einem undatierten Blatt mit dem sekundären Titel Die päpstlichen Wölfe121 (Abb.  15). Es zeigt Luther am rechten Bildrand einer Szenerie, in der mit Kardinalshut und Tiara gekennzeichnete Wölfe Schafe reißen. Die Schafe sammeln sich um den gekreuzigten Christus; zwei Apostelgestalten im Bildhintergrund indizieren, dass das Dargestellte auf einer biblisch-überzeitlichen Ebene stattfindet. Luther selbst wird im Text namentlich nicht genannt, gleichwohl im Modus der Ich-Rede als Handelnder in die Szenerie hineingezogen: „So ich sihe den schaden | Domit die Christenheit ist beladen | Durch bischoff / päbst und Cardinäl | Davon weißsagt Ezechiel | Herumb ich predig / lere und schreib | Solts auch kosten meinen leib.|“ Die ureigensten Tätigkeiten des gelehrten Theologen – also Predigt, Lehre, Schriftstellerei – sind es, durch die Luther wirksam wird und dazu beiträgt, den Schaden, der auf der Kirche liegt, zu beseitigen. Ihm kommt in dem Bild zweifellos eine exponierte Rolle zu, insofern er als einziger ‚Zeitgenosse‘ in ein biblisch-apokalyptisches Imaginarium hineingestellt wird. Doch es ist nicht eigentlich eine Heroisierung der Person, die hier vorliegt, sondern eher ein Heroismus des mutigen, für die bedrängte Christenheit befreiend wirkenden Handelns als Prediger und Literat. Eine ähnliche Tendenz sehe ich in dem Blatt Außfürung der Christglaubigen aus Egyptischer finsterniß von 1524 (Abb.  16)122, das Luther als Befreier des „armen volck[s]“ darstellt, der es aus der Höhle der Finsternis zu Christus führt. Oberhalb der Höhle ist die Phalanx der Gegner Luthers aufgereiht, einige von ihnen in der inzwischen verbreiteten Form der Diffamierung durch Tierköpfe. Innerhalb der Höhle, in der Finsternis verbleibend, wenden sich weltliche Obrigkeiten von Luther ab („drumb hant sie mir den rück gewendt“). Die Tendenz des Blattes, die reformatorische Bewegung vornehmlich als Sache des ‚gemeinen Mannes‘, nicht der höheren Stände, aufzuweisen, ist unübersehbar. So exponiert Luthers Rolle als gleichsam zweiter Mose oder dritter Elia in dem Blatt auch ist: Nicht er selbst, sondern Chri­ 121  Vgl. Hermann Meuche/Ingeborg Neumeister (Hg.), Flugblätter der Reformation und des Bauernkriegs, Leipzig 1976, Abb.  13, S.  35; 117; Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter [AKG 57], Berlin, New York 1992, Abb.  10; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, S.  461; ein ähnliches Blatt bildet ab: Scribner, Sake, wie Anm.  156, Nr.  135, S.  167. Das Motiv der päpstlichen Wölfe ist besonders prominent auch auf dem Titelholzschnitt der Flugschrift Das Wolffgesang ausgeführt, vgl. dazu unten III, §  13, Abb.  5 ; die Zitate im Haupttext entstammen diesem Blatt. 122   Vgl. Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  92, Nr.  281, S.  223 f.; Meuche/Neumeister, Flugblätter, wie Anm.  121, S.  32, Abb.  11; 116; Hugo Schmidt (Hg.), Bilder-Katalog zu Max Geisberg: Der Deutsche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, München 1930, S.  162 Nr.  927; Oelke, Konfessionsbildung, wie Anm.  121, Abb.  11; Otto Clemen, Ein Spottgedicht aus Speier von 1524, in: Ders., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897–1944), hg. von Ernst Koch, Bd.  3, Leipzig 1983, S.  151–160 (mit der ansprechenden Verfasserhypothese: Johann Bader). Der Druck erschien in der Offizin Jakob Schmidts in Speyer 1524; die folgenden Zitate im Text entstammen diesem Blatt.

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Abb.  16  Luther führt die Christen aus der Finsternis, Einblattholzschnitt (16,4 x 21,7  cm); Monogrammist H, [Speyer, Jakob Schmidt] 1524; oberer Teil eines illustrierten Flugblattes mit dreispaltigem Reimgedicht, in dem die auf dem Bild dargestellten Personen nacheinander sprechen; die Buchstaben stellen die Verbindung zwischen den dargestellten Personen und dem Text her. Luther führt die Gläubigen aus einer dunklen Höhle, der „[e]gyptische[n] fin­ sterniß“, zu dem gekreuzigten Christus, um den sich bereits eine Gruppe Betender gesammelt hat. Im Hintergrund der Höhle wenden sich bekrönte Häupter von Luther ab. Oberhalb der Höhle stehen durch Tierköpfe gekennzeichnete Repräsentanten der römischen Kirche.

stus, auf den er verweist, bildet den inhaltlichen Fokus des Bildes ebenso wie des Textes: „[D]en rechten Weg wil ich euch leren. | zu gottes Sun solt ihr euch keren. | Dann er der weg ist / und das leben / | durch den euch würdt all sünd vergeben.|“ Verglichen mit den Auratisierungs- und Heroisierungsmomenten anderer Bilder möchte man bei einem Blatt wie der Außfürung der Christglaubigen von einer heilsgeschichtlich-versachlichenden Tendenz sprechen. Das auf Luther angewandte Epitheton ist das des von Gott gesandten „Propheten [.  .  .] | Von dem wir sindt gefürt mit flyß / auß irthumb / und der finsternyß.|“ Seine Befreiungstat hat eine heilsgeschichtliche Dimension: „Mit danckparkeit lob preyß und eer / | das du [sc. Gott] uns hast (o mylter her) | Erlöset von der hellen port / | durch Martin Luther / mit deym wort | Und uns den hymmel uffgeschlossen / | das den Endtchrist hat seer verdrossen.|“

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Abb.  17  Die Luterisch Strebkatz [Worms, Peter Schöffer d.J. 1524]; VD 16 L 7843; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  3162, S.  683. Im Strebkatzspiel steht Luther, gestützt auf das Kreuz Christi, einer großen Gruppe z. T. tierköpfiger Gegner gegenüber und bringt soeben den Papst zu Fall. Eine bekrönte Person sucht den Fallenden zu stützen, droht dabei aber selbst zu straucheln. Ähnlich wie in Abb.  16 ist auch hier die grundstürzende politische Brisanz der Reformation – unmittelbar vor dem Bauernkrieg – bildlich in Szene gesetzt.

Eine vergleichbare heilsgeschichtliche Heroisierung Luthers scheint auch in der Flugschrift Die Luterisch Strebkatz (1524) (Abb.  17) vorzuliegen.123 Das Titelblatt der 123   Die Luterisch Strebkatz [Worms, P. Schöffer d. J. 1524]; VD 16 L 7843; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  683, Nr.  3162; Ex. MF 1430 Nr.  3786; Text in: Schade, Satiren, Bd.  3, wie Anm.  15, S.  112–135; 255–261 (Kommentar); vgl. Otto Clemen, Die lutherisch Strebkatz, in: Ders., Kleine Schriften, wie Anm.  122, Bd.  2, S.  202–217; Hieronymus, Buchillustration, wie Anm.  129, Nr.  352, S.  359. Über

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Schrift zeigt den auf das Kreuz Christi gestützten Luther im Strebkatzziehen mit dem von seinen Anhängern unterstützten Stellvertreter Petri. Sie sind allesamt prominente Luthergegner, die den soeben zu Boden gehenden, das Haupt senkenden Papst mit seiner fallenden Tiara umringen. Die ins Bild gesetzte Szene stellt die kampfentscheidende Phase dieses Kraftspiels dar, bei dem sich zwei Kämpfer auf den Knieen, mit den Händen auf dem Boden und einem Strick um den Nacken gegen­übersitzen und versuchen, dem anderen das Seil über den Kopf zu ziehen oder ihn zu Boden zu reißen. Genau dies gelingt Luther im Bild. Es ist ein Heroismus des ungleichen Kampfes, der hier zur Darstellung gebracht ist. Im Text sagt Luther, an Christus gewandt: „Die warheyt hat mich bracht in hatz | Muß mit ihm [sc. dem päpstlichen Antichristen] ziehen die strebkatz | uff meiner seiten nit mer hab | Dann herr / dein leiden für eyn stab[.] |“124 Doch es ist zugleich ein Heroismus, der vom göttlichen Beistand getragen ist: „Biß keck dann ich [sc. Christus] will bei dir sein | Das dir der Papst mit seiner Cron | Kein widerstandt soll mögen thon | Mein wort stat steiff uff festem grundt | Das hast allzeit in deinem mundt[.] |“125 In dieser Gewissheit kann Luther „gerüstet hie alleyn“ die Strebkatz ziehen: „Hwi / zeuh nur dapffer dann es gilt[.] |“126 Luthers im Kampf der Ungleichen bewährter Heroismus besteht darin, „[a]lleyn durchs wort“127 das antichristliche Papsttum entlarvt und bezwungen zu haben. Für die beiden zuletzt genannten Bildbeispiele, die Außfürung der Christglaubigen und Die Lutherisch Strebkatz, ist – ähnlich wie für den Hercules Germanicus – charakteristisch, dass Luther als exponierte Einzelfigur einer großen Zahl an Feinden gegenübergestellt wird. Während das von Erasmus inspirierte Blatt Holbeins die brachialen Mittel, derer sich Luther in seinem Kampf bedient, unterschwellig satirisch geißelt, betonen die beiden anderen, untereinander mannigfach zusammenhängenden128 Text-Bildbeispiele, dass der Wittenberger Mönch ‚allein durch das Wort‘ den Drucker: Alejandro Zorzin, Peter Schöffer d. J. und die Täufer, in: Ulman Weiß (Hg.), Buchwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. FS Helmut Claus, Epfendorf / Neckar 2008, S.  179–213, hier: 200, Nr.  42. Als Schöpfer des Titelholzschnitts der Strebkatz hat Stuhlfauth, Holzschnitte, wie Anm.  137, S.  54 f. Urs Graf nachzuweisen versucht; s. unten Anm.  137. Durch die Zuweisung des Drucks an Schöffer dürfte das unsicher sein. 124   Strebkatz, wie Anm.  123, A 4r= Schade, Satiren, Bd.  3, wie Anm.  15, S.  116,18–21. 125   A.a.O., A 4v= Schade, a.a.O., S.  117,6–10. 126   A.a.O., B 1r= Schade, a.a.O., S.  118,7.10. 127   A.a.O., D 3r= Schade, a.a.O., S.  135,6. 128  Vgl. Clemen, Spottgedicht, wie Anm.  122, S.  158, der von einer Priorität der Außfürung der Christglaubigen ausgeht. Das chronologische und sachliche Verhältnis zu dem Blatt mit dem löwenköpfigen Leo-Papst und den vier deutschen Theologen Murner, Emser, Eck und Lempp auf einer Loggia (etwa in: Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  92, Nr.  283, S.  244 f.; s. unten §  10, Abb.  7; die vielleicht früheste literarische Erwähnung des Blattes [?] [1521/22] durch den Ulmer Arzt Wolfgang Rychard [vgl. WABr 3, Nr.  585; MBW 266; MBW.T 2, S.  53 ff.; MBW 307; MBW.T 2, S.  110] findet sich in einem Brief an den damals in Wittenberg studierenden [WABr 3, S.  33 Anm.  3] Johannes Magenbuch, ed. in: Johann Georg Schelhorn, Amoenitates literariae [I.], Leipzig, Frankfurt 1725, S.  298), ist unklar. Doch da Leos X. Pontifikat 1521 endete, spricht alles für eine Priorität dieses Blattes gegenüber der auf 1524 datierten Außfürung der Christglaubigen. Es dürfte den an die

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wirke. Für diesen Motivkomplex des Wirkens durch das Wort kann noch ein weiteres, besonders frühes, aber auch besonders prominentes Bildbeispiel angeführt werden, dem in Bezug auf Luther allerdings eine geradezu entheroisierende Bedeutung zuzuschreiben ist: die sogenannte Göttliche Mühle129 (Abb.  18) von 1521. Das Bild nimmt das Motiv der Hostienmühle auf und stellt den kybernetischen Prozess des Wirksamwerdens des Wortes Gottes in der Gegenwart dar: Christus selbst, der Mühlenherr, gibt seinen Geist in das durch die Evangelistensymbole und Paulus repräsentierte Wort, das Erasmus in Form der christlichen Kardinaltugenden in den Mehlsack schaufelt. Luther formt daraus am Teigzuber Brot und eine namentlich nicht gekennzeichnete, wahrscheinlich mit Zwingli zu identifizierende Prädikantengestalt teilt das Wort in Form gedruckter Bücher an Repräsentanten der Papstkirche aus, die es allerdings ungelesen zu Boden fallen lassen. Die aus dem Schnabel des Höllenvogels gekrächzten Worte „ban ban“ verweisen auf die repressive Religionspolitik der Kurie. Karsthans als exponierte Hintergrundsfigur hat den Dreschflegel bereits drohend zum Schlag auf die Klerisei erhoben. Die Entstehungsgeschichte der Schrift und ihres Titelblatts ist aufgrund eines Briefes Zwinglis, der die „figura“ entscheidend mitgestaltet hatte, einigermaßen durchsichtig: Er war von einem Marienfelder Stadtvogt namens Martin Säger mit einem textlich wohl bereits näher ausgearbeiteten Konzept für eine Flugschrift bekannt gemacht worden130, hatte sie aufgegriffen, und, weil seine eigene Zeit knapp Schriften des ‚Murner-Komplexes‘ (vgl. unten II, §  10, Exkurs) anknüpfenden visuellen Ausgangspunkt der tierköpfigen Diffamierung der Gegner Luthers gebildet haben. (Zur polemischen Anwendung von Tiermetaphern auf seine Gegner bei Luther schon 1520 s. nur WA 6, S.  298,22; 302,29; 323,30). Im Hochstratus ovans tritt der englische Theologe und Erasmuskritiker Edward Lee (vgl. Erika Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, Bd.  1 [BFHRef 45], Nieuwkoop 1989, S.  95 ff.) als Hund auf (vgl. nur: Peterse, Hoogstraeten, wie Anm.  92, S.  140). Relativ sicher auf 1522 datierbar, aber in Bezug auf die ‚vertierten‘ Gegner Luthers (nur: Emser, Alveldt und Eck) sehr eigenständig ist sodann: [Agricola, Johann?], Eine kurze Anrede zu allen Mißgünstigen Doktor Luthers und der christlichen Freiheit [Leipzig, W. Stöckel 1522]; VD 16 A 1006–1009; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  51–54, S.  22– 24; Abb. in: Köhler, Erste Schritte, wie Anm.  136, Tafel 12, S.  177; Schade, Satiren, Bd.  2, wie Anm.  15, S.  190–195; 349–352, eine Schrift, die auch in den textlichen Zusammenhang der in Straßburg und Basel beheimateten Anti-Murner-Publizistik gehört. Der Entstehungskontext und die Akteure dieses Text-Bildkomplexes, mit dem auch der übrigens – wie die Außfürung der Christglaubigen (s. Anm.  122) – in Speyer erschienene Triumphus veritatis motivisch eng zusammenhängt, hat als ungeklärt zu gelten. Der Triumphus veritatis (wie Anm.  137, b 2r= Schade, Satiren, Bd.  2, S.  203,259) setzt Die Lutherisch Strebkatz voraus. Diesem Fragenkomplex kann hier nicht weiter nachgegangen werden. 129   [Fuessli, Hans/Säger, Martin/Zwingli, Huldrich], Das hand zwen Schweizer Bauren gemacht, fürwahr, sie hand es wohl betracht, Zürich [Christoph Froschauer d. Ä. 1521] (Erstdruck); VD 16 S 5309–5312; ZV 1431; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1226, S.  521; Göttler, Zwingli-Bild, wie Anm.  15, S.  22; Ex. MF 297 Nr.  794; aus der reichhaltigen Literatur sei lediglich verwiesen auf: Frank Hieronymus [Bearb.], Basler Buchillustration 1500 bis 1545. Universitätsbibliothek Basel Ausstellung [Ober­ rheinische Buchillustration 2 / Publikationen der UB Basel Nr.  5], Basel 1984, Nr.  214, S.  185–187 [Lit.]. Insgesamt sind fünf verschiedene Drucke der Schrift nachgewiesen. 130   In dem Brief an Oswald Myconius (25.  5. 1521), der das Erscheinen des Zürcher Urdrucks der Schrift bereits voraussetzte, teilte Zwingli mit, dass ihm der ‚Inhalt dieser Mühle‘ durch einen in der Bibel sehr kundigen Laien zugetragen und übersandt worden war: „Molę huius argumentum, quod

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Abb.  18 [Hans Fuessli/Martin Säger/Huldrich Zwingli], Das hand zwen schwytzer puren gmacht .  .  . Zürich [Christoph Froschauer d.Ä. 1521]; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1226, S.  521; Ex. MF 279 Nr.  794, Titelholzschnitt. Das Bild zeigt eine nach dem Modell der das eucharistische Wandlungswunder darstellenden Hostienmühle gestaltete Mühlenszene: Christus füllt das Evangelium in Gestalt der Symbole der vier Evangelisten in den Mühlentrog; eine als „Erasmus“ gekennzeichnete Person im Vordergrund füllt das gemahlene Mehl in einen Sack. Damit wird auf seine Ausgabe des Neuen Testaments in der griechischen Sprache angespielt. In einem Bottich formt ein als Luther bezeichneter Mönch das Evangelium in aktuelles „Buchwort“ um; eine nicht gekennzeichnete, vielleicht mit Zwingli zu identifizierende Prädikantengestalt teilt es aus. Die altgläubigen Gegner aber lassen es zu Boden fallen; ein fliegender Unheilsvogel krächzt ihre Antwort: „ban ban“. „Karsthans“ holt mit dem Dreschflegel zu einem vernichtenden Schlag auf die Klerisei aus.

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war, den Zürcher Glocken- und Stückgießer Johannes Fuessli darum gebeten, eine Versdichtung zu komponieren. An Sägers ‚Idee‘ hatte Zwingli allerdings beanstandet, dass dieser in einer seines Erachtens unangemessenen Weise Aussagen über Luther gemacht hatte, die besser von Christus oder Gott gemacht würden.131 Im Bild, analog auch im Text, ist Luther deshalb in einen komplexen historisch-kybernetischen Interaktionsprozess integriert, der zum einen durch das Wirken des Gottesgeistes vermittels des Wortes, zum anderen durch die Anstrengung des humanistischen Philologen Erasmus bestimmt ist. Denn Erasmus hat jenen Ausbreitungs- und Popularisierungsprozess ermöglicht und initiiert, in dem Luther zwar eine zentral wichtige, aber keine singuläre Rolle spielt. Neben Luther, dem „hochgelert getreu[en] man“, dem „herolt“132 in Sachen ‚wahre Lehre‘, steht Erasmus, der „uns den weg recht aufgethan, | daß wir sicherlich mögen gan | Zu der waren heiligen gschrift | die alle ding weit übertrifft. |“133 Seite an Seite mit den beiden großen Einzelfiguren Luther und Erasmus stehen aber auch „ander me [,] die leren“134, also die vielen namentlich nicht genannten reformatorischen Prediger und Lehrer, unter denen Zwingli einer der herausragendsten war. Die Göttliche Mühle enthält mithin eine ‚Reformationstheorie‘ in nuce, in der sich das Selbstverständnis jener Erasmianer spiegelt, die den Anschluss an Luther vollzogen hatten, sich einer Hypostasierung seiner Person aber von vornherein widersetzten. Wie im Falle des Hercules Germanicus ist es auch bei der Göttlichen Mühle ein erasmianisch geprägtes deutsch-schweizerisches Milieu, das einer Heroisierung Luthers entgegentritt. Die weitgehende zeitliche Synchronie zwischen den Heroisierungs- und den Entheroisierungstendenzen im Lutherbild, die im Frühjahr 1521, im Umkreis des Wormser Reichstages, erstmals greifbar werden, legt es in historischer Perspektive zwingend nahe, den inneren Zusammenhang und die gemeinsame Fundierung beider Tendenzen in humanistischen Traditionen zu betonen. Noch eine letzte kleine Bildgruppe vermeintlich oder wirklich heroisierender Darstellungen des ‚Triumphators‘ und ‚Wundermanns‘ Luther steht in einer besonderen Verbindung mit der humanistischen Adaption klassischer antiker Motive und Inszein scęde prima facie occurrit, a Rheto quodam laico, sed egregie docto in sacris literis, quantum scilicet licuit latine indocto, concinnatum est ac ad me transmissum.“ Z 7 = CR 94, Nr.  181, S.  457,1– 4. Ich verstehe den Satz so, dass die Inhaltsangabe [argumentum] schon in einer etwas ausgereifteren Form an Zwingli gelangte, also wohl als eigenes Manuskript. Dass ihm an dem „argumento“ (a.a.O., Z.  5) die quasi-göttliche Aufwertung Luthers (s. folgende Anmerkung) nicht behagte, setzt doch wohl voraus, dass das „argumentum“ eben nicht nur eine ‚Idee‘ war, sondern bereits textliche Gestalt angenommen hatte. Sonst hätte er das „argumentum“ (a.a.O., Z.  7) ja auch nicht an Fuessli weitergeben können, der dann die Verse machte. 131   „Ego [sc. Zwingli] vero argumento [sc. Sägers] perspecto, quod ille ad Luterum incommodius traxerat, ad deum et Christum rectius trahi putabam [.  .  .].“ Z 7 = CR 94, S.  457,5 f. 132   Schade, Satiren, Bd.  1, wie Anm.  15, S.  23,129; 24,155; zu Erasmus’ Bedeutung als Bibelphilologe und für die volkssprachliche Bibel s. oben I, §  3, Abschnitt 2. 133   Schade, Satiren, Bd.  1, wie Anm.  15, S.  23,117–120. 134   A.a.O., S.  23,135.

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§  8  Stilisierungen

nierungsformen. Die drei Beispiele, der Triumphus veritatis, Peter Vischers d. J. Hercules und eine Luther-Medaille, stammen allesamt aus dem Jahr 1524, gehören also in die Zeit des vorläufigen religionspolitischen und kommunikationsgeschichtlichen Höhepunktes der reformatorischen Bewegung: Die reichsrechtlichen Rahmenbedingungen nach dem zweiten Nürnberger Reichstag forderten und legitimierten die Predigt des Evangeliums „nach auslegung der Schriften von der heiligen cristlichen Kirchen approbirt und angenommen“135. Sie eröffneten den evangelisch gesinnten Ständen damit proreformatorische Handlungsspielräume; die reformatorische Pub­ lizistik erreichte ihr quantitatives Maximum136 und die innerreformatorischen Dissonanzen, Differenzierungsprozesse und Konflikte waren allenfalls in ersten Ansätzen in eine breitere Öffentlichkeit gelangt. Es dürfte kaum zufällig sein, dass – soweit ich sehe – mit dem Triumphus veritatis, dem Vischerschen Hercules und der LutherMedaille vergleichbare Bildbeispiele einer Heroisierung des Wittenberger Reformators aus der Zeit nach dem Ausbruch des innerreformatorischen Abendmahlsstreites und des Bauernkrieges nicht überliefert sind. Der Holzschnitt Triumphus veritatis (Abb.  19)137 greift das in der zeitgenössischen Druckgrafik, etwa bei Cranach, Flötner und Dürer138 oder im Triumphus Capnionis, 135   DRTA. JR 3, S.  447,18 f.; zum Kontext: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, S.  369 f.; Armin Kohnle/Eike Wolgast, Reichstage der Reformationszeit, in: TRE 28, 1997, S.  457– 470, hier: 459 f.; vgl. Armin Kohnle, Reichstag und Reformation [QFRG 72], Gütersloh 2001, S.  124 ff. 136   Vgl. nur: Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit [SMAFN], Stuttgart 1986, S.  244–281, bes. 266 f. 137   Hans Heinrich Freiermut [Pseud.], Triumphus veritatis. Sieg der Wahrheit [Speyer, Johann Eckhart 1524]; ZV 6175; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  508 f., Nr.  1196; Text in: Schade, Satiren, Bd.  2, wie Anm.  15, S.  196–251. 352–373 (Kommentar); Ex. MF 1568 Nr.  4067; vgl. Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  92, Nr.  279, S.  221 f.; Georg Stuhlfauth, Die beiden Holzschnitte der Flugschrift „Triumphus Veritatis. Sick der warheyt“ von Hans Heinrich Freiermut (1524), in: Zeitschrift für Bücherfreunde NF 13, 1921, S.  49–56, vermutet denselben Künstler hinter den Holzschnitten des Triumphus veritatis und der Luterischen Strebkatz, Urs Graf, s. o. Anm.  123; vgl. Scribner, Sake, wie Anm.  156, S.  63–65 (mit der falschen Datierung auf 1520, a.a.O., S.  63); Könnecker, Huttenbild, wie Anm.  44, S.  276.278. Der Verfasser nennt seinen ‚Namen‘ Hans Heinrich Freiermut am Schluss der insgesamt 2034 Verse umfassenden Dichtung (Triumphus, h 3v= Schade, a.a.O., S.  250, 2000) und gibt an, in Nürnberg geboren zu sein und jetzt „by zürch im schwytzerland“ (ebd. = Schade, a.a.O., S.  250,2002) „wonhafft“ (ebd.) zu sein. Das Gedicht ist aus Reden einzelner Personen und Gruppen gestaltet; Großbuchstaben verbinden die entsprechenden Textteile mit den Darstellungen der Personen auf dem breitformatigen Holzschnitt. Der – soweit ich sehe – präziseste Datierungshinweis lässt sich der Rede Karlstadts, der letzten vor dem Schlusswort des pseudonymen Dichters (Triumphus, h 2v–h 3v= Schade, a.a.O., S.  248,1917–1998), entnehmen. Die Ausführungen, die das Gedicht Karlstadt ‚in den Mund‘ legt, setzen bereits eine Kenntnis seiner von Luther abweichenden Abendmahlslehre, insbesondere seiner Kritik an der leiblichen Realpräsenz, voraus, verraten aber noch keine Kenntnis der exegetischen Argumentation, die Karlstadt in den in seiner „Pub­ likationsoffensive“ (Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, S.  101; zum Kontext: Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  7, S.  180 ff.; Amy Nelson Burnett, Karlstadt and the origins of the Eucharistic controversy, Oxford 2011, S.  54 ff.) seit Oktober 1524 erschienenen Abendmahlsschriften bot. Der anonyme Verfasser des Triumphus veritatis lässt Karlstadt sagen: „Von wegen der opinion | Die Thomas [sc. von Aquin] hat uß lassen gon |

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dem unmittelbaren Vorbild des Blattes, geläufige, an antike Traditionen anknüpfende Motiv des Triumphwagens auf. Das Titelblatt der Schrift indiziert, dass der „Sieg Nemlich das in dem Sacrament | (Das man des herren nacht mal nent) | Do bleybe weder win noch brot / | Sonder alleyn war mensch und gott / | Doch bleyb do beyderley gestalten. | Dar wider / Luther hat erhalten / | Das do bleyb beyde brot unn weyn / | Und doch mög fleysch und blut do seyn. | Hat das ein gleychniß (merkent eben) | [vgl. WA 6, S.  510,5–8; WA 10/3, S.  271,24–28; WA 11, S.  436,35– 437,1; vgl. WA 18, S.  186,22–35] Von eym glüenden ysen geben. | Fürs erst so hat er schrifft genug. | Fürs ander er baß umb sich lug / | Dan ich das opffer nit alleyn / | sonder auch fleysch und blut verneyn.“ A.a.O., h 3r = Schade, a.a.O., S.  249,1947–1962. Dem Passus kann man ohne Zweifel entnehmen, dass sein Verfasser ein theologisch versierter Kenner der scholastischen und der frühreformatorischen Abendmahlsdiskussion ist. Auffällig zahlreiche Randglossen zu Karlstadts Rede deuten eine tendenzielle Parteinahme des Verfassers (bzw. des Glossators) zugunsten einer seines Erachtens theologisch konsequent aus der Kritik am Messopfer resultierenden Verabschiedung der Vorstellung einer leiblichen Realpräsenz an. Ansonsten ist die irenische Tendenz des um eine angemessene historische Würdigung Karlstadts („Wie wol ich [sc. Karlstadt] armer würd veracht / | Unn Luther allein fürt den bracht [d. h. Luther kommt groß heraus] / | Als der den endchrist hab gezwagen | [.  .  .].“ A.a.O., h 2v = Schade, a.a.O., S.  248, 1917–1919) bemühten Verfassers dominierend. Es geht ihm offenkundig darum, den inneren Zusammenhalt der reformatorischen Kräfte gegen Rom zu stärken. Allerdings teilt er Karlstadts Überzeugung, dass Luther in der Abendmahlsfrage auf halber Strecke stehen geblieben sei: „Dan gwin ichs [sc. Karlstadt] spil / als ich vermut / | Wil ich den Luther machen gut. | Dan was er hat lass über blyben / | Aus Bapsts reych / wil ich gar vertreyben / | Ja nit eyn stützen blyben lon | Sonder muß gar zu trümmern gon.“ A.a.O., h 3v = Schade, a.a.O., S.  250,1991–1996. Dazu die Glossen a. R.: „Das möcht wol geschechen“, und: „Ja wan es zu dir stunde“ (ebd. = Schade, a.a.O., S.  358). Die inhaltlichen, ebenso wie die strategischen Merkmale der Schrift weisen schlagende Übereinstimmungen mit der ersten publizistischen Reaktion auf den Abendmahlsstreit zwischen Luther und Karlstadt auf: Capitos Schrift Was man halten und antworten soll von der Spaltung zwischen Martin Luther und Andres Carolstadt, Straßburg, W. Köpfel 1524; VD 16 C 848; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  500, S.  220; Ex. MF 79 Nr.  213; zwei weitere Drucke 1524/5 in Augsburg und Erfurt: VD 16 C 847 und 849; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  499, S.  219 [Augsburg, Ph. Ulhart 1524]; Text auch in: W2, Bd.  20, Sp.  340–351. Zur Interpretation der Schrift vgl. Kaufmann, a.a.O., S.  207 ff.; Burnett, a.a.O., S.  105 f. Dass einem Mann wie Capito, der seine Stellung am kurmainzischen Hof einstmals unter anderem der Vermittlung Huttens verdankte (s. Olivier Millet, Correspondance de Wolfgang Capiton [1478–1541] [Publications de la Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg 8], Straßburg 1982, Nr.  32, S.  11; Johann Wilhelm Baum, Capito und Butzer. Straßburgs Reformatoren, Elberfeld 1860, S.  38–41; Fritz Hermann, Die evangelische Bewegung zu Mainz im Reformationszeitalter, Mainz 1907, S.  74; 78–82; Kittelson, Capito, wie Anm.  7, S.  53 ff.; 60 f.; 66 f.), seiner immer wieder respekt-, ja liebevoll gedachte bzw. als Übermittler von Nachrichten und Grüßen desselben und als Stifter neuer Kontakte mit ihm auftrat (Allen, Bd.  4, Nr.  1083, S.  210–212, hier: 211,19 ff.; WABr 2, Nr.  267, S.  70 f., hier: 71,11 f.; Nr.  282, S.  93–95, hier: 94,30 f.; Baum, a.a.O., S.  52; Millet, a.a.O., Nr.  62, S.  20; WABr 2, S.  222,9 f.; Rummel, Correspondence, Bd.  2, wie Anm.  7, S.  X XII ff.) und mit ihm Kontakt hielt (ed. Böcking, Bd.  1, Nr.  181, S.  365 f.; Millet, a.a.O., Nr.  52, S.  17), ja, der von Bucer in einem Atemzug mit Hutten als große Hoffnung für Reformation und Humanismus gefeiert werden konnte (Bcor I, Nr.  18, S.  120,13 f.) und der nach dem Zerwürfnis zwischen Erasmus und Hutten Verständnis für dessen Schmerz wegen eines ihm von dem Humanistenfürsten verweigerten Gespräches zum Ausdruck brachte (WABr 2, S.  437,15–17 [zu diesem Dokument vgl. meine Hinweise Kaufmann, a.a.O., S.  129 mit Anm.  988 f.; Baum, a.a.O., S.  210 f.]; vgl. Allen, Bd.  5, S.  294,28–33 [Anklänge von Verständnis für Hutten gegenüber Erasmus geäußert, 18.  6. 1523]; vgl. 306,96–106; Rummel, Correspondence, Bd.  1, wie Anm.  7, S.  228 f.), der also trotz sich aus seiner eigenen ‚nikodemitischen‘ Haltung in den Diensten Erzbischof Albrechts ergebenden Spannungen (Bcor I, Nr.  38, S.  175,45 ff.; MBW.T 1, Nr.  175, S.  373,71 f.) doch in enger innerer Verbindung mit dem Ritter gestanden hatte, ernsthaft zuzutrauen sein könnte, dass er an dem Hutten ein Jahr nach dessen Tod visuell und textuell kräftig würdi-

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§  8  Stilisierungen

Abb.  19  Hans Heinrich Freiermut [pseud.], Triumphus veritatis. Sick der Wahrheit [Speyer, Johann Eckhart 1524]; ZV 6175; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1196, S.  508, Faltblatt nach Titelblatt; Ex. MF 1568 Nr.  4067. Das Bild stellt den triumphalen Einzug in Jerusalem dar. Patriachen, Propheten und Apostel tragen „Das grab der heyligen schrifft“ (s. §  5, Anm.  25), einen an die Bundeslade erinnernden gotischen Sarkophag. Die Feinde Christi, unter denen einige durch Tierköpfe gekennzeichnet sind, werden von einem als „Hutten“ bezeichneten Ritter im Tross abgeführt. Vor dem Triumphwagen, auf dem Christus, begleitet von Palmzweige tragenden Märtyrern, sitzt, schreiten Luther (im Vordergrund) und „Carolstat“ einher. genden Triumphus veritatis irgendwie direkt oder indirekt beteiligt war, sei an dieser Stelle lediglich notiert. Ähnliches dürfte für Brunfels gelten. Huttens Rolle im Triumphus veritatis ist auch insofern exponiert, als er als erster ‚Zeitgenosse‘ nach den Engeln, dem gemeinen christlichen Volk, den Patriarchen, Propheten, Aposteln und Evangelisten spricht – vor Luther. In der Offizin Johann Eckharts in Speyer, die den Triumphus veritatis druckte, erschien übrigens im Jahre 1525 Capitos anonyme Vermahnung zum Frieden (vgl. Thomas Kaufmann, Zwei unerkannte Schriften Bucers und Capitos zur Abendmahlsfrage aus dem Herbst 1525, in: ARG 81, 1990, S.  158–188, hier: 160 f. mit Anm.  15; zu Johann Eckhart s. auch: Reske, Buchdrucker, wie Anm.  8, S.  847 f.; zur Vermahnung zum Frieden vgl. auch die Edition unter dem sekundären Titel: Frohlockung eines christlichen Bruders, in: Adolf Laube, Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich [1526–1535], Bd.  1, Berlin 1992, S.  102–115). Dass ein Distichon des damals in Heidelberg tätigen Hermann von dem Busche (MBW 11, S.  246 [Lit.]; s. o. Anm.  92; VD 16 B 9879–9955), das zum Ausdruck bringt, dass das Wort eine gewaltige Kraft entfaltet, die nur noch stärker wird, wenn man sie zu unterdrücken versucht („Hęc vis hoc decus est non enarrabile verbi, | Quo premitur plus, hoc vincit ab hoste magis. |“ Triumphus, a 1v = Schade, a.a.O., S.  353) – ein Thema, das die Schrift durchzieht – leichter über Männer wie Capito oder Brunfels als durch einen Laien in der Zürcher Landschaft in den Druck gelangt sein mag, versteht sich wohl von selbst. Auch die lateinischen Inschriften oberhalb der Gruppe der Reformationsgegner („Revelatus est homo peccati, filius perditionis, & abominatio, quem percussit deus virga oris sui.“ Triumphus, a 1v [vgl. 2 Thess 2,3]; zu Allusionen auf weitere Stellen, Stuhl­ fauth, a.a.O., S.  49 Anm.  4), oberhalb der den Wagen mit Christus ziehenden Evangelisten („Regi autem seculorum immortali invisibili, soli deo honor & gloria in secula seculorum Amen.“, ebd. [vgl. 1 Tim 1,17]) und im Kranz der Engel über Christus („Ego sum via veritas & vita. Iohan. 10“ Ebd. [Joh 14,6!]) verweisen eindeutig auf einen gelehrten Entstehungszusammenhang des Bildes. Sollten die lateinischen Inschriften darauf hindeuten, dass ursprünglich ein Äquivalent zum Triumphus Capnionis Huttens beabsichtigt war? Dass nach Christus und den dankbaren Märtyrern in dem Gedicht noch Karlstadt redet, wirkt übrigens wie ein Nachtrag, der der aktuellen Entwicklung des innerreformatorischen Abendmahlsstreites gewidmet ist. Auch dies deutet darauf hin, dass eine

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der Wahrheit“ den Fall des päpstlichen Antichristen bedeutet, den Christus selbst – vermittels seines Wortes – heraufführt. Das Insistieren auf dem „Schwert des Gei­ stes“ als demjenigen Mittel, mit dem der Kampf zu führen sei, dürfte eine implizite Distanzierung von Gewaltoptionen zum Ausdruck bringen. Durch Buchstaben auf dem Holzschnitt werden Verbindungen zu bestimmten Textpassagen des Gedichtes hergestellt, in denen, ausgehend von den Engeln (A) und den mit Palmwedeln ausgestatteten Vertretern des „gemeynen [Christen] volcks“139 (B), die Patriarchen und Propheten Christus für sein Heilswerk, aber auch für die Sendung seines „boten“ bzw. „propheten“ Martin Luther140 preisen und die Christenheit zur freudigen Dankbarkeit aufrufen. Das Gedicht und die bildliche Darstellung des Triumphwagens korrespondieren aufs engste miteinander; sie inszenieren einen allein mit geistlichen Mitteln, kraft des mit Gott identifizierten Wortes errungenen, gleichwohl definitiven Sieg der christlichen Wahrheit, die Luther als von Gott gesandter Prophet reformu138

ursprüngliche Konzeption vor Herbst 1524 anzusetzen ist. An Huttens, des exemplarischen miles christianus, Rede fällt übrigens auf, dass er, den Capito für einen weisen Theologen hielt (vgl. Millet, a.a.O., Nr.  32, S.  11), im Gedicht sehr geistlich spricht und einen Kampf für die Wahrheit „[n] ur aber mit dem schwert des geysts“ (Triumphus, b 2r = Schade, a.a.O., S.  204,269; vgl. a 1r = Schade, a.a.O., S.  353: „Mit dem Schwert des Geysts durch die Wittenbergische Nachtgall erobert“) propagiert. Einen Hinweis auf Huttens Tod enthält das Gedicht nicht. Hans Sachs’ Wittenbergische Nachtigall war 1523 erschienen, vgl. VD 16 S 645–651; ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  590– 613. Im Verhältnis zum stark auf die singuläre, schlechterdings herausragende Bedeutung Luthers zentrierten Gedicht Hans Sachsens kommen im Triumphus veritatis noch Christus selbst, die Märtyrer und mit Hutten und Karlstadt zwei Exponenten der reformatorischen Bewegung zu Wort. In einer Randglosse verweist der Triumphus veritatis (b 4v = Schade, a.a.O., S.  354 f.) übrigens auf das Büchlein Vom alten und neuen glauben (s. dazu unten III, §  13, Anm.  99; §  13, Abb.  6). Es gehört wohl in denselben Entstehungs- und Milieuzusammenhang wie der Triumphus veritatis selbst. Als Pfleger des Huttenschen Erbes, dem auch am Kontakt mit Luther lag, hat übrigens seit 1523 (vgl. Böcking, Bd.  2, S.  325–351), besonders aber im Sommer 1524 Otto Brunfels zu gelten, vgl. WABr 3, S.  334,57 ff.; 335,74 ff.; 359; 476–478, hier: 477, 29–46 (zu Brunfels’ Schmerz über den Streit zwischen Luther und Karlstadt, seine Bemühung, die Wertschätzung für beide aufrechtzuerhalten und in der Sachfrage neutral zu bleiben); zu Brunfels’ Aktivitäten seit Herbst 1524 (Hus-, Wiclifedition [Joh. Schott, Straßburg]) vgl. Weigelt, Wirksamkeit, wie Anm.  35, S.  90–97; Hartfelder, Brunfels, wie Anm.  35, S.  569–578; Margolin, Brunfels, wie Anm.  35, S.  124 f. 138   Vgl. zum sog. großen und kleinen Triumphwagen Kaiser Maximilians nur: Schoch/Mende/ Scherbaum, Dürer, Bd.  2, Holzschnitte, wie Anm.  102, Nr.  239, S.  413 ff.; Nr.  257, S.  470 ff.; zu Cranachs Illustration des Karlstadtschen Fuhrwagens vgl. nur die Hinweise in: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  9, Abb.  8, S.  238 ff.; 739 Anm.  23; zu Flötners parodistischer Aufnahme des Motivs s. Dienst, Kosmos, wie Anm.  150, S.  284–292; eine Triumphprozession Sebald Behams a.a.O., S.  283 Abb.  143; 274 Abb.  135. Weitere Hinweise auf das Triumphzugmotiv in Dichtung und bildender Kunst bei Kühlmann, Triumphus Capnionis, wie Anm.  92, S.  90 f. [Lit.]; einzelne Beispiele in der venezianischen Druckgraphik, z. B. in: Lilian Armstrong, Studies of Renaissance Miniaturists in Venice, Bd.  2, London 2003, S.  628 f. [Drucke von 1499/1504]; Miniaturzeichnungen in Büchern, Bd.  1, London 2003, S.  195. 139   Triumphus, wie Anm.  138, a 1v/a 2r = Schade, Satiren, Bd.  2, wie Anm.  15, S.  196. 140   Triumphus, wie Anm.  138, A 2vf = Schade, a.a.O., S.  197,31; 198,57; 198,71; 199,84 u. ö. In der Rede der „Apostoli“ wird Luther als „Getrewe[r] Gottes Knecht“ (a 3v = Schade, a.a.O., S.  200,118) neben Hutten (ebd. = Schade, a.a.O., S.  199,114) genannt; in der Rede der Evangelisten ist Luther der „knecht“ (a 4r= Schade, a.a.O., S.  200,144); in Huttens Rede heißt er dann wieder „prophet“ (a 4v = Schade, a.a.O., S.  201,168).

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§  8  Stilisierungen

Abb.  20  [Ulrich von Hutten], Triumphus Doc. Reuchlini .  .  . [Hagenau, Thomas Anshelm 1518]; Holzschnitt; VD 16 H 6414; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1731, S.  113; vgl. §  8, Anm.  92. Der Triumphator Reuchlin zieht in eine ihn begeistert empfangende Stadt, vielleicht seine Heimatstadt Pforzheim, ein. Auf einer Bahre werden als heidnische Götterstatuen präsentierte Untugenden der scholastischen Theologen transportiert. Reuchlins literarischer Gegner Johannes Pfefferkorn wird im Vordergrund des Bildes gepeinigt.

liert habe, die aber auch von anderen Protagonisten wie Hutten und Karlstadt verfochten werde. Der Triumphzug ist eine Manifestation der Freude über die Rückkehr des heiligen Grabes der Schrift – im Bild als Lade von Patriarchen, Propheten und Aposteln getragen –, die der „römisch Türck“141, der Antichrist, und seine nun gefangen weggeführten Schergen der Christenheit mit List geraubt hatten. Die Brisanz des Triumphus veritatis ergibt sich allerdings erst durch den direkten Vergleich mit dem Triumphus Capnionis (Abb.  20)142, der ohne Zweifel als ikonographische Vorlage fungiert hat. Während auf dem Triumphzug Reuchlins die ‚Numina‘ der scholastischen Theologen – Superstitio, Barbaries, Ignorantia und Invidia143 – in Gestalt kleiner Götterstatuen auf einer Bahre transportiert werden, ist das zurückeroberte Beutegut beim Triumphus veritatis die Bibel. Während bei dem Triumphzug des wohl in seine Heimatstadt Pforzheim Einziehenden der mit seinem Augenspiegel und einem Lorbeerkranz gekennzeichnete, erhoben positionierte, in seinen Tu141   Triumphus, wie Anm.  137, b 3r = Schade, a.a.O., S.  206,347; zum Zusammenhang des Begriffs des ‚römischen Türken‘ mit dem Titelbild vgl. Stuhlfauth, Titelholzschnitte, wie Anm.  137, S.  51; zur antirömischen Polemik, die die Anhänger der Papstkirche als Türken zu desavouieren pflegte, s. Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008, S.  44 f.; 177 ff. „Gottes Wort / das Gott selbs ist“ (Triumphus, b 3v = Schade, a.a.O., S.  207,375), liegt im Grab der heiligen Schrift vergraben. Luthers Rede ist die längste des Gedichtes; sie ist in verschiedene Loci, z. B.: Vom Ursprung der päpstlichen Gewalt, Von Menschen Geboten, Vom Ablaß, Vom Fegefeuer etc., eingeteilt. 142   Vgl. die Hinweise in: Peterse, Hoogstraeten, wie Anm.  92, S.  70–73; ein Ex. des Holzschnittes ist auch in der HAB Wolfenbüttel Inv. Nr.  95.2 Theol. vorhanden, Abb. auch in: Emil Reiche, Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Jena 1924, ND Bayreuth o. J., S.  78 f., sowie: Laub, Hutten, wie Anm.  92, S.  204 f. 143  Vgl. Triumphus Doc. Reuchlini, wie Anm.  92, C 2v–C 3v: Darlegung der „munera templi“ des falschen Kultes der ‚theologistae‘.

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Abb.  21  Peter Vischer d.J., Luther als Herkules, Nürnberg 1524; Federzeichnung, Goethe-Nationalmuseum Weimar. Ein als nackter Heros gezeichneter „Lvtherus“ weist drei gebeugte Personen (Gewissen, Jugend, Volk) auf den im Bildhintergrund stehenden Christus-Salvator. Im Bildvordergrund stehen die als Grazien gestalteten christlichen Kardinaltugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung); links sitzt die als weltlicher Herrscher gekleidete Gerechtigkeit mit verbundenen Augen. Am rechten Rand des Bildes ist der Untergang des antichristlichen Rom dargestellt.

genden wortreich verherrlichte144 Gelehrte selbst die Hauptperson ist, ist es beim ‚Triumph der Wahrheit‘ der Salvator Christus in eigener Person. Vergleicht man die Inszenierung Reuchlins und Luthers in beiden Triumphzügen, so ist die Differenz schlagend: Während Reuchlin der verehrte Triumphator über die in Ketten mitgeführten Feinde ist, ist es im Triumphus veritatis Christus, der diese Rolle innehat. Luther ist Christus völlig untergeordnet; gemäß den Ausführungen des Gedichts ist er ein Prophet, Bote und Knecht Gottes, dem nur in Bezug auf diese von Christus als dem Wort initiierte Vermittlungsaufgabe eine Bedeutung zukommt. Luthers Person wird also – im Unterschied zur Rolle Reuchlins im Triumphus Capnionis – schlechterdings kein herausragendes Gewicht gegeben. Durch Hutten und Karlstadt wird sie geradezu relativiert. Diese entheroisierende Sicht auf den Wittenberger Reformator 144   Nacheinander werden fortitudo, innocentia, die Freiheitsliebe, seine immortalitas und die verschiedenen Taten und Ämter des Bejubelten dargelegt, Triumphus Doc. Reuchlini, wie Anm.  92, E 3r ff.

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§  8  Stilisierungen

entspricht kongenial der Wertungsperspektive einiger oberdeutscher, insbesondere Straßburger Reformatoren, die vielleicht mit der Konzipierung, Abfassung oder Produktion des Triumphus veritatis in Verbindung zu bringen sind. Eine eindeutig heroisierende Tendenz in der Darstellung Luthers lässt sich allerdings in einer Federzeichnung des Nürnberger Künstlers Peter Vischer d. J. von 1524 (Abb.  21)145 erkennen. Sie war Goethe 1818 vom Fürsten von Kurland zum Geschenk gemacht worden; der Dichter schätzte sie offenbar.146 Goethe interpretierte die antikisierende Heroengestalt, als die der die Jugend, das gebundene Gewissen und das Volk in allegorisierenden Personifikationen auf Christus verweisende „LVTHERVS“ hier dargestellt ist, als Herkules. Dies könnte sich durch die Tugend- und Lasterantithese – auf der linken Bildseite sind die christlichen Kardinaltugenden Fides, Spes und Charitas in der Nähe eines weltlichen Herrschers, auf der rechten die Todsünden Superbia, Luxuria und Avaritia in den Trümmern der „Sedes Apostolica Romana“ dargestellt – nahelegen, die vielleicht auf die Prodikos-Fabel von Herkules am Scheideweg147 anspielt. In den Trümmern des romanischen Gebäudes liegt ein niedergestreckter Koloss in antiker Rüstung, dessen Schwert zerbrochen ist. Er trägt eine Tonsur. Eine Tiara, eine als „Confessio“ gekennzeichnete weibliche Person, ein Schild mit der Aufschrift „Decreta Pontificis“ und ein als Allegorie der „Ceremonie“ ausgewiesener Rosenkranz zeigen an, dass die geistliche, rituelle, rechtliche und weltliche Macht der Papstkirche zusammengebrochen ist. Die mit „IUSTICIA“ bezeichnete, wegen ihrer Unbestechlichkeit als blind gekennzeichnete Figur eines weltlichen Herrschers trägt dieselbe Rüstung wie der römische Koloss und symbolisiert die Wiederherstellung einer gerechten, von den christlichen Kardinaltugenden geleiteten Ordnung nach der Beseitigung der angemaßten Herrschaft des Papsttums. Der Kontrast zwischen der jugendlich-muskulösen, gleichwohl natürlichen Körperlichkeit der Lutherfigur und 145   Allegorie zu Ehren Luthers. Federzeichnung von Peter Vischer dem Jüngeren 1524. Aus Goethes Kunstsammlung. Mit einer Einführung von Wolfgang Hecht, Weimar 1983; zu Goethes grafischen Sammlungen, freilich ohne Bezug auf das Vischer-Blatt, umfassend: Johannes Grave, Der „ideale Kunstkörper“. Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen [Ästhetik um 1800, Bd.  4], Göttingen 2006; zu dem Blatt auch: Hofmann, Luther und die Folgen, wie Anm.  101, S.  159; Wuttke, Histori, wie Anm.  26, Tafel 10. Wuttke, der die uns hier interessierende Zeichnung P. Vischers als „Allegorie auf den Sieg der Reformation“ (a.a.O., S.  107) bezeichnet, scheint den hier dargestellten Luther nicht als Herkules zu interpretieren. Zu weiteren Zeichnungen Peter Vischers s. a.a.O., S.  105 ff. Vischers „Herkules“ (s. a.a.O., Abb.  1), den er für die Herkules-Dichtung seines Freundes Pankraz Bernhaupt-Schwenter gezeichnet hat (s. dazu Wuttke, passim), sieht sehr anders aus als der Luther auf dem Blatt Goethes. 146   Vgl. die Einführung von Hecht, wie Anm.  145. 147   S. dazu Dürers Blatt und die Studie von Panofsky, Herkules, wie oben, Anm.  102; zu den sich an Panofskys berühmten Essay anschließenden kunsthistorischen Debatten über die Rolle gelehrten ikonologischen Wissens s. Brendan Cassidy, Introduction: Iconography, Texts, and Au­ diences, in: Ders. (Hg.), Iconography at the Cross-Roads, Princeton 1993, S.  3 –14, bes. 5–8; zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung von Panofskys Buch s. Wuttke, Neudruck 1997, wie Anm.  102, S.  5 ff.; Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen [Wagenbachs TB 631], Berlin 2010, S.  195 f.

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Abb.  22a/b  Vor- und Rückseite einer Medaille von Hans Krug d.J., Nürnberg 1524; Dresden, Münzkabinett. Die Vorderseite zeigt Luther mit Doktorhut im Dreiviertelporträt. Die Umschrift bezeichnet ihn (in deutscher Übersetzung) als „Doktor Martin Luther Prediger zu Wittenberg“. Auf der Rückseite ist eine Kampfszene zweier nackter Männer, wohl Luthers und des Papstes, dargestellt. Zwei lateinische Bibelzitate (übersetzt: „Der Bauch ist mir Gott“ und „Das Wort sei meiner Füße Leuchte“) charakterisieren die Haltungen beider. Unter der Kampffläche ist ein Gerippe zu sehen mit der Inschrift (übersetzt) „Weiche niemandem“.

den kolossalen Dimensionen der besiegten Rom-Personifikation legt es nahe, auch die David-Goliath-Motivik als Interpretament der Allegorie Vischers zu erwägen. Die Heroisierung Luthers ist in diesem Bild, wenn ich recht sehe, uneingeschränkt affirmativ inszeniert: Luther führt den gemeinen Mann – mit dem Dreschflegel des Bauern dargestellt –, das in Ketten gelegte Gewissen und die unbescholtene „iuventus“ aus der im Untergang begriffenen, der Sittenlosigkeit verfallenen römischen Kirche der Heilandsgestalt im Bildzentrum zu und lässt die weltliche Ordnung zu ihrem Recht kommen. Das Bild dürfte die im Ganzen ungebrochen-positive Bewertung Luthers in den Kreisen der führenden Theologen und Ratspolitiker der fränkischen Reichsstadt spiegeln.148 Es ist der Heroismus des dritten Elias, des Nachfolgers Johannes des Täufers, der hier zur Darstellung kommt. Er korrespondiert mit den frühen literarischen Wertungen der Humanisten. Über den ursprünglichen ‚Sitz im Leben‘ der Federzeichnung Peter Vischers ist nichts bekannt. Ob die Art der Darstellung auch als Reflex auf eine zeitweilig repressivere Bildpolitik des Nürnberger Rates zu verstehen ist, der 1524 eine „ganze Reihe Verbote von Bildern Luthers und des Papstes, viel zahlreicher als vorher und nachher“149, aussprach, ist nicht sicher zu entscheiden. Doch es scheint mir durchaus möglich zu sein. 148   Vgl. dazu bes. die Arbeiten von Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996; ders., Lazarus Spengler, wie Anm.  11. 149   Ficker, Neue alte Bilder, wie Anm.  88, S.  60 Anm.  4. Ficker verweist auf Theodor Hampe (Hg.), Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance, Wien, Leipzig, Bd.  1, 1904 (29.  3. 1524: Inhaftierung eines Briefmalers wegen eines illustrierten Flugblattes [S.  220, Nr.  1444]; eine Woche später entsprechende Maßnahme gegen einen Formschneider [a.a.O., Nr.  1445 f.]; 11.  6. 1524: Verbot von „schmehgedicht oder ungeschicht gemel“ gegenüber allen Buchführern, a.a.O., S.  221, Nr.  1454; 4.  7. 1524: gegen „schendelichen gemel und auch lutters pildnuß“, a.a.O., Nr.  1455; am 6.  9. 1524 sollen in „Birckhaimer hof“ angebotene „gemalte

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§  8  Stilisierungen

Dass auch eine zweite, durchaus heroisierende Nacktdarstellung des Wittenberger Reformators durch Hans Krug d. J. gleichfalls Nürnberger Herkunft ist150 (Abb.  22a/ b), ist vielleicht kein Zufall. Die auf 1524 datierte Schaumünze zeigt auf der Vorderseite den Bildtypus „Luther mit Doktorhut“ im Dreiviertelporträt. Die Umschrift nennt seinen Namen und das Datum und „preist ihn als Apostel“151 – ein in dieser Zeit auch sonst belegtes Luther-Epitheton.152 Die Rückseite (Abb.  22b) zeigt eine Kampfszene zweier nackter Männer, links eines feisten Kolosses mit Tiara auf dem Kopf, der mit zwei Schwertern zum Schlage ausholt. Über ihm ist die Inschrift zu lesen: „Venter Deus mihi“ (vgl. Phil 3,19). Zwei hinter ihm stehende Kämpfer scheinen ihn zu unterstützen. Ihm tritt ein baretttragender Kämpfer mit einem aufgeschlagenen Buch forsch entgegen; von dem Buch gehen Strahlen aus. Hinter ihm liest man die Inschrift: „Verbum lucerna pedibus meis“ (Ps 119,105); über seinem Haupt schwebt ein Engel mit einem Schild. Der linke Arm des Kämpfers hält einen Gegenstand in der Hand – vielleicht ein Schreibgerät oder eine Schleuder; wäre Letzteres der Fall, könnte auf die David-Goliath-Motivik angespielt sein. Unter der Kampffläche liegt ein Gerippe mit einem Bogen, über dem die Worte „Nulli recedo“ zu lesen sind. Zu seinen Füßen ist das Monogramm des Künstlers und sein Symbol, ein Krug, entdeckt worden.153 Möglicherweise soll die Inschrift über dem Toten die unerschütterliche Kampfbereitschaft des rechten Kämpfers unterstreichen; er ist mit einer Kapuze ausgestattet, also als Mönch gekennzeichnet.

tüchlein“ und schändliche „gemel vom bapst“ [a.a.O., S.  222 Nr.  1459] verboten werden); vgl. Herbert Zschelletzschky, Die „drei gottlosen Maler“ von Nürnberg, Leipzig 1975, S.  31–50; 55–62. 150   Abb. der Hans Krug d. J. (Ulrich Thieme/Felix Becker, Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, Bd.  22, Leipzig 1928, S.  3 ; Max Bernhart, Der Meister mit dem Krüglein [Hans Krog d. J.?], in: Archiv für Medaillen- und Plattenkunde 2, H. 1, 1920/21, S.  34–48) bzw. Peter Flötner (Saur, Allgemeines Künstlerlexikon, Bd.  41, München, Leipzig 2004, S.  281–284; vgl. Barbara Dienst, Der Kosmos des Peter Flötner. Eine Bilderwelt der Renaissance in Deutschland, München, Berlin 2002 [zu den Propagandamedaillen S.  295–300 ]) als Künstlern zugeschriebenen Medaille bei Ficker, Neue alte Bilder, wie Anm.  88, Abb.  2 a/b, S.  59.61; weitere Hinweise 59 Anm.  3 ; Hans Heinrich Borcherdt (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke, Bd.  4, München 1923, nach S.  240 f.; 379–381 (mit einer wenig überzeugenden Deutung der Medaille als gegen die ‚Schwärmer‘ gerichtet); eine andere Nürnberger Luthermedaille aus der Mitte der 1520er Jahre in: Georg Habich, Die deutschen Schaumünzen des 16. Jahrhunderts, 2 Bde. in 4 Teilen, München 1929–1934, Bd.  1/2, 1931, S.  CXVI, Nr.  10; ders., Die deutschen Medailleure des XVI. Jahrhunderts, Halle/S.  1916, S.  241 mit Abb.  17, erwog Ludwig Krug, den Vater Hans d. J., vgl. dagegen Bernhart, Meister, s. o.; zur Biographie s. a.a.O. Das einzige bekannte Exemplar der Medaille ist eine recht unscharfe Nachprägung, die sich im Dresdner Münzkabinett befindet. 151   Ficker, Neue alte Bilder, wie Anm.  88, S.  60. Die genaue Umschrift lautet in Transkription: „doctor·martinvs·lvthervs·eccles:vvitten:“. 152  Vgl. Ficker, ebd.; WABr 3, S.  329,1; 330,1; das Epitheton „apostolos“ scheint gewichtiger zu sein als „euangelista“ (vgl. Bcor 2, S.  174,66), das Luther zur Anrede anderer Prediger verwendet (z. B. WABr 3, S.  337,1), ansonsten in dieser Zeit „servus Christi fidelis“ bevorzugend, z. B. gegenüber Spalatin (WABr 3, S.  346,1; 354,1), W. Stein (356,1) und O. Brunfels (359,1). 153   Ficker, a.a.O., S.  62; Bernhart, Meister, wie Anm.  150.

4.  Zusammenfassende Bemerkungen

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Luther ist der gottgesandte Apostel, der mit der Bibel dem widergöttlichen, antichristlichen, mit beiden Schwertern, dem geistlichen wie dem weltlichen, kämpfenden Papst gegenübertritt und trotz der Ungleichheit der Waffen siegen wird – das ist die heroische Botschaft dieser Nürnberger Medaille. Wie der Triumphus veritatis zeugt sie von der Siegesgewissheit der reformatorischen Bewegung; wie die Allegorie Vischers spielt sie auf die Luthers Heldentum begründende Ungleichheit des Kampfes an. Im Unterschied aber zu den text-bildlichen Kontextualisierungs- und Entheroisierungsstrategien der Göttlichen Mühle und des Triumphus veritatis tritt auf der Nürnberger Medaille – ähnlich wie auf dem Titelblatt der Lutherisch Strebkatz – der siegreiche, heroische Einzelkämpfer im direkten physischen Kampf mit dem Papst hervor. Anders als bei der etwa zur gleichen Zeit, am gleichen Ort entstandenen allegorischen Federzeichnung Vischers, auf der der Heros Luther auf Christus verweist, ist es hier die biografisch identifizierbare, kämpferische Person, der die Verehrung gilt und auf die sich die memoria beziehen soll. Doch gleichviel ob man eher das Wirken Gottes durch den Propheten Luther, das Wirken des Wortes durch Luther und andere Prediger und reformatorische Akteure oder den Kampfgeist des Wittenberger Reformators betonte – einig war man sich innerhalb der reformatorischen Bewegung der Jahre 1523/24 weithin darin, dass ein Sieg der eigenen Sache selbstverständlich war und bald eintreten werde. Insofern waren die durchaus unterschiedlichen Formen und Intensitätsgrade der Heroisierung Luthers ein ephemerer, wohl 1524/5 endender Aspekt der „Kontextuellen Reformation“.

4.  Zusammenfassende Bemerkungen 1.  Heroisierende Bewertungen Luthers setzten bereits im Jahr nach seiner Veröffentlichung der 95 Thesen ein, wurden zunächst im Kommunikationsnetz der humanistischen Sodalitäten, sodann aber auch bald in der Öffentlichkeit verbreitet. Der Kampf gegen das übermächtig scheinende papstkirchliche System, den Luther auf sich nimmt, macht ihn zu einem das Alltägliche überragenden Helden. 2.  Ein Held wird Luther als Täter; seine gelehrte und volkssprachliche Schriftstellerei und seine Predigttätigkeit werden als Teil eines Handlungszusammenhanges, seines Kampfes für das Evangelium und gegen dessen Feinde, insbesondere den Papst, verstanden und aufgewertet. Die Auseinandersetzungen, die der Wittenberger zu führen, die Kontrahenten, die er zu bezwingen hat, unterstreichen die Gefahren, in denen er steht und akzentuieren die übermenschliche Kraft, die er aufbringt. Heroisierungsfähig wird Luther als martyriumsbereiter Kämpfer gegen viele Feinde. 3.  Neben den Heroisierungen Luthers sind die Humanisten bzw. die nachhaltig durch den Humanismus geprägten schweizerisch-südwestdeutschen Reformatoren auch für dessen Entheroisierung im Sinne einer Kontextualisierung und Historisierung entscheidend verantwortlich. Gegenläufig zur monumentalen Singularisierung des in immer neuen Imagekreationen präsentierten Cranachschen Luther ist man in

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§  8  Stilisierungen

Zürich, Basel und Straßburg daran interessiert, Luther in Kontexten zu verorten, ihn auf Erasmus zu beziehen oder seine Rolle als Instrument Gottes bzw. Christi zu betonen. Der Umgang mit der Person Luthers, der das wichtigste Symbol seines persönlichen Neuanfangs, seinen Namen Eleutherius-Luther, möglicherweise einer humanistischen Anregung verdankte, ist der vielleicht deutlichste Indikator für die komplexen und ambivalenten Beziehungen zwischen Humanismus und Reformation bzw. zwischen den sich formierenden theologischen und religionspolitischen Lagern des Protestantismus. 4.  Die Heroisierungen waren in keiner Phase der frühen Reformation die einzigen, nicht einmal die dominierenden Strategien in der Bewertung und Inszenierung Luthers. Elementare Grundaussagen seiner Theologie – zum servum arbitrium etwa oder zur Unverfügbarkeit des Gnadenwirkens Gottes – standen in einer unvermittelbaren Spannung zu jedweder Heroisierung. Und auch manche der Urteile Luthers über sich selbst154 leisteten eher der besonders verbreiteten Deutung als eines von Gott gesandten Propheten Vorschub als der Bewertung als aus sich heraus wirkungsmächtiger Person, d. h. als Heros. Die mittels astrologischer Berechnungen der Gestirnskonstellationen bei Luthers Geburt begründete Heroisierung155 Luthers war keineswegs unumstritten, strahlte kaum über den gelehrten Raum aus und blieb mit den sonstigen Motiven und Medien seiner Heroisierung weitgehend unverbunden. 5. Die reformationszeitlichen Heroisierungen sind nicht unabhängig von den zeitnahen Entheroisierungstendenzen Luthers zu interpretieren. Forschungsstrategisch dürfte es entscheidend sein, die jeweiligen lokalen oder regionalen Kommunikationskontexte zu berücksichtigen, in denen Heroisierungs- bzw. Entheroisierungstendenzen wirksam wurden.156

154   Vgl. dazu nur: Karl Holl, Luthers Urteile über sich selbst, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.  1: Luther, Tübingen 71948, S.  381–419; Bernhard Lohse, Luthers Selbsteinschätzung, in: Ders., Evangelium in der Geschichte, hg. von Leif Grane/Bernd Moeller/Otto Hermann Pesch, Göttingen 1988, S.  158–175; Thomas Kaufmann, Martin Luther [bsr 2388], München 22010, S.  15 ff. 155   Der maßgebliche Wittenberger Mathematiker Erasmus Reinhold (DBE 8, S.  222 f.) knüpfte an das falsche Geburtsdatum (1484) einer von dem Italiener Lucas Garicus erstellten Nativität des Reformators an, weil ihm an einer bestimmten Planetenkonjunktion gelegen war. „Jupiter und Saturn stehen so im Skorpion zusammen, daß sie ‚heroische Männer hervorbringen‘ und der abgesonderte Mars ruft unschädlich im günstigen alten Haus der Zwillinge die Beredsamkeit hervor.“ Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1520), zuletzt wiederabgedruckt in: Ders., Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin 2010, S.  424–491, hier: 443. 156   In der unzureichenden historischen Kontextualisierung der visuellen Einzelzeugnisse, die methodisch primär als Momente einer auf Popularisierung abzielenden Akkommodationsstrategie der intellektuellen Eliten an die Erwartungen des Volkes in den Blick geraten, sehe ich die – ungeachtet aller Anregungen im Einzelnen – verfehlte Gesamtperspektive von Robert W. Scribners einfluss- und materialreichem, insofern eindrucksvollem Buch: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford 21994.

Anhang

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6.  Nach Lage der Dinge war Luther schon 1521 der am häufigsten und in der vielfältigsten Weise bildlich dargestellte Zeitgenosse. Verstreute Hinweise auf die „appropriation“ seines Bildes durch Nutzer und Betrachter deuten eher auf Traditionen des Heiligenkultes hin. Ob die von humanistisch gebildeten Akteuren initiierten Heroisierungs- bzw. Entheroisierungstendenzen in Bezug auf den Wittenberger Reformator eine gesellschaftliche Breitenwirkung entfalteten, wird man vielleicht bezweifeln können oder auf publizistische Produkte wie die Göttliche Mühle beschränken wollen. 7. Der Beginn der innerreformatorischen Abendmahlsdebatte im Herbst 1524 und dann der Bauernkrieg des Folgejahres markieren eine tiefgreifende Veränderung in der Bewertung Luthers. Wenn ich recht sehe, lassen sich heroisierende Darstellungen im Sinne des hier präsentierten und interpretierten Materials nach 1524/5 nicht mehr nachweisen. Die Zukunft gehörte nicht dem heroisierten, sondern dem monumentalisierten Luther, nicht mehr dem tapferen Kämpfer, sondern dem siegreichen Bekenner und trutzfesten, unerschütterlichen Vorbild und Kirchenlehrer. Er wurde in der Tradition der nunmehr ganz dominierenden Cranachschen Darstellungsweise zu einem maßgeblichen Moment lutherischer Konfessionskultur.

Anhang [Capitos] Vorrede zur ersten Luther-Sammelausgabe [Joh. Froben, Basel] Okt. 1518 Vorlage: Ad Leonem X. Pontificem Maximum Resolutiones disputationum .  .  . Excudebatur typis hoc opus Mense Octobris. An. M. D.XVIII; Benzing/Claus, Nr.  3 ; WA 60, S.  607 f., Nr.  1a/b; Ex. BSB München 4 Polem. 1898. Nachdrucke: Luther-Sammelausgaben Matthias Schürer Februar und August 1519, Benzing/Claus, Nr.  4 f.; WA 60, S.  608 f., Nr.  2 /3. Die Schürer-Ausgabe vom August bildet die Grundlage des Abdrucks in: Valentin Ernst Loescher, Vollständige Reformations-Acta und Documenta, Bd.  3, Leipzig 1729, S.  82 f. Die Nachdrucke bieten keine signifikant abweichenden Lesarten; geringfügig abweichende orthographische Varianten bleiben unberücksichtigt. Ad Candidos Theologos. a Habetis hic reverendi patris Martini Lutheri theologicas lucubrationesa, quem plerique putant velut Danielem quendam a Christo tandem nos respiciente missum, ut abusus aliquot theologis Evangelicam ac Paulinam theologiam cum veterum commentariis iuxta negligentibus, et circa meras ampliationum, restrictionum, appellationum, ac vere parvorum logicalium nugas occupatis, in ecclesia sua natos hic coarguat. Atque utinam omneis theologos a lethargo tandem expergefieri contingat, ut omissis fraternalibus somniis, summis dictum oportuit, Evangelicam philosophiam malint quam Aristotelicam, Paulinam quam Scoticam, ut deinceps bHieronymum, Augustinum, Ambrosium, Cyprianum, Athanasium, Hilarium, Basilium, Io. Chrysostomum, Theophylactum, anteponant Lyrano, Thomae, Scoto, et caeteris opiniosis scholae disputatoribusb, ut Christum non ad mundum trahant, quod tam passim facit Aquinensis ille Thomas, sed mundum ad Christi doctrinam erudiant, ut non aliud dicant in scholis dum agunt comoedias, aliud domi, apud populum aliud, aliud apud amicos familiareis, ut non facili de causa, aut etiam non causa, bonos viros cum ipsis ineptire nolentes,

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§  8  Stilisierungen

haereticos pronuntiare conentur, quosdam Parisiensis scholae theologos imitari, qui cIacobum Fabrum Stapulensem eruditionis et integritatis columenc, quod ineptam istam novi in­ strumenti versionem adductis argumentis esse Hieronymi negasset157, haereseos damnare 157   Zu Jacobus Faber Stapulensis vgl. die bio-bibliographischen Informationen in: MBW 12, S.  34 f. Zu späteren Zensurkonflikten zwischen Faber Stapulensis und der Sorbonne (1521 und seit 1523) im Zusammenhang mit seiner anonym erschienenen französischen Übersetzung des NT (seit 1523) vgl. Francis Higman, Censorship and the Sorbonne [THR 172], Genf 1979, S.  24; 77 f.; Guy Bedouelle/Bernard Roussel, La lecture de la Bible en langue vivante au XVIe siècle: chronologie et quelques textes et faîts marquants, in: Irene Backus/Francis Higman (Hg.), Théorie et pratique de l’exégèse, Genf 1990, S.  61–76, bes. 63; Guy Bedouelle, Attacks on the Biblical Humanism of Jacques Lefèvre d’Etaples, in: Erika Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus [Brill’s Companions to the Christian Tradition], Leiden, Boston 2008, S.  117–141; zum Kontext auch: Farge, Orthodoxy, s. u., S.  177 ff. Martin Gröning berichtete Reuchlin in einem Brief vom 12.  9. 1516, dass sich Aleander bei einer Beratung in Rom zugunsten von Reuchlins Augenspiegel ausgesprochen und dabei auf einen Brief Fabers berufen hatte, den der inzwischen verstorbene Marco Vigerio, Kardinal von Senigallia [Reuchlin-Briefwechsel, s. u., Bd.   3, S.   346 Anm.  113] gegen die Pariser Beurteilung Faber Stapulensis’ angeführt hatte, vgl. Johannes Reuchlin, Briefwechsel 3, Leseausgabe von Georg Burkard, Stuttgart-Bad Canstatt 2007, Nr.  291, S.  166– 182, hier bes. 180 f.; vgl. Johannes Reuchlin: Briefwechsel, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Stadt Pforzheim, Bd.  3 : 1514–1517, bearb. von Matthias Dall’Asta und Gerald Dörner, Stuttgart-Bad-Canstatt 2007, S.  330, 286 ff. Lefèvre galt also als Anhänger Reuchlins, s. auch: James K. Farge, Orthodoxy and Reform in Early Reformation ­France, the Faculty of Theology of Paris, 1500–1543, Leiden 1985, S.  117 Anm.  12; 170 f. Im Mai 1515 war Lefèvre von der Pariser Theologischen Fakultät wegen seiner Unterstützung Reuchlins befragt worden, vgl. Jules Alexandre Clerval (Hg.), Registre des procès-verbaux de la faculté de théologie de Paris, Tome 1: 1505–1523 [Archives de l’Histoire religieuse de la France 6], Paris 1917, S.  178; vgl. 185 Anm.  8. Ein Urteil der Pariser Universität gegen Lefèvre, wie [Capito] es hier in der Vorrede zur ersten Lutherausgabe erwartet, scheint aber 1518/19 nicht ergangen zu sein. Wahrscheinlich handelt es sich um ungewisse Nachrichten, die vielleicht mit Erasmus’ Kontroverse mit Lefèvre zusammenhängen. Erasmus war in Fragen der neutestamentlichen Textkritik mit Lefèvre, der eine lateinische Übersetzung der paulinischen Briefe und einen Kommentar zu diesen veröffentlicht hatte (Commentarii in Pauli epistolas, Paris 1512; 21515 [fehlerhafte Angabe; richtig wohl: 1516/7; vgl. Steenbeck, s. u., ASD IX/3, S.  60–63; vgl. 90, 172–179]; vgl. Allen, Bd.  2, S.  14, 86–92; Allen, Bd.  1, S.  22,10 ff.; ND Stuttgart 1976), nicht einig, vgl. seinen Brief an Marten Dorp (Ende Mai 1515, Allen, Bd.  2, Nr.  337, hier: S.  112,835 ff.; vgl. 57,85 ff.; Walther Köhler [Hg./Übers.], Erasmus von Rotterdam, Briefe, 3. erw. Aufl. von Andreas Flitner, Darmstadt 1986, Nr.  83, S.  125–131, bes. 129 f.). Am 6.12. 1517 teilte Erasmus Capito aus Löwen mit, dass es vierzehn Tage gedauert habe, bis er seine durch einen Angriff des Faber in dessen Kommentar zu den paulinischen Briefen veranlasste Apologia fertiggestellt habe (Allen, Bd.  3, Nr.  731, S.  159 f.). Die von Erasmus verfasste Apologia ad Jacobum Fabrum (Opera Omnia, Bd.  9, Leiden 1706, ND Hildesheim 1962, S.  17–66; [ASD IX/3], Amsterdam u. a. 1996) war zweimal Gegenstand der Korrespondenz Capitos mit Erasmus (Allen, Bd.  3, Nr.  731; 734, S.  159 f.; 163 f.). Die Differenzen bezogen sich vor allem auf christologisch angemessene Übersetzungen neutestamentlicher Stellen, u. a. Hebr 2,7, vgl. dazu die einleitenden Hinweise von Andrea W. Steenbeck, in: ASD IX/3, S.  7–16. Erasmus hatte Capito gegenüber betont, dass seine Apologie deshalb so scharf ausgefallen sei, weil er sich durch Lefèvre dem Verdacht der Impietas und der Blasphemia ausgesetzt sehe (Allen, Bd.  3, S.  159,3–6). Erasmus warf seinerseits Lefèvre vor, sich zu stark über die Vulgata hinweggesetzt zu haben. An dem Argwohn, der gegen Lefèvres zunächst lateinische (Teil-), später französische Vollübersetzung unter ‚orthodoxen‘ Theologen der Sorbonne entstand, war Erasmus nicht unbeteiligt, vgl. ASD IX/3, S.  10. Sollte Capitos Hinweis auf eine drohende Häretisierung Lefèvres durch die Pariser Theologen dafür verantwortlich gewesen sein, dass auch Luther dessen Namen in eine übrigens recht merkwürdige Liste zu Unrecht verurteilter Theologen in seiner Responsio auf die Lehrverurteilungen der Unversitäten

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voluerunt, se ipsos interim non citra academiae totius ignominiam, apud totum orbem et omnem forsan posteritatem dimperitiae et invidiae, atque malignitatis notantes, sed cogitent scholasticas opiniones nequaquam fieri debere christianorum onera, cogitent mundum passim nunc emergentibus studiis resipiscere, laicos non tam crassos quam fuerunt olim, Chri­ stum et Paulum inprimis amentd, spirent, complectantur, et comperient, quaedam secus habentia quam Quaestionistae hactenus docuerunt. Itaque fratres tempus est nos a somno surgere. Bene valetote candidi theologi.   a  a.R.: M. Lutherus   b  a.R.: Antiqui sacrarum literarum interpretes. c   c  a.R.: Iacobus Faber Stapulensis. d   d  a.R.: Opiniones maneant opiniones, non autem fiant onera Christianorum a

b

Löwen und Köln (Ende März 1520) aufnahm? Vgl. WA 6, S.  184,24; s. dazu Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm.  6, S.  324. Auch bei Hutten ist übrigens die Vorstellung belegt, die Pariser Universität verteile bereitwillig Ketzerhüte, Böcking, Bd.  3, S.  426, 326–329 und Anm. ebd. Vgl. zu den Motiven, die Capito dazu bewogen haben, eine Verurteilung Lefèvres durch die Pariser Fakultät zu erwarten, jetzt: Christoph Schönau, Jacques Lefèvre d’Etables und die Reformation [QFRG 91], Gütersloh 2017, S.  128 f.

§  9  Argumentative Impressionen: Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation 1.  Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Luthers berühmte Heidelberger Disputation fand im Rahmen des Generalkapitels der Reformkongregation der Augustinereremiten statt.1 Über die Verhandlungen der Kongregation ist ansonsten „so gut wie nichts bekannt“2 . Die Thesen des Wittenberger Bibelprofessors zu der am 26. April 15183 in der „Schola Artistarum“4 zu Heidelberg gehaltenen Disputation gelten zu Recht als ein Schlüsseltext zum Verständnis seiner frühen reformatorischen Theologie.5 Von zentraler Bedeutung für dieses 1   Unabhängig von dieser Untersuchung hat Martin Brecht (Martin Bucer und die Heidelberger Disputation, in: Willem van’t Spijker [Hg.], Calvin. Erbe und Auftrag, FS Wilhelm H. Neuser, Kampen 1991, S.  214–228, ND in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd.  1: Reformation, Stuttgart 1995, S.  48–61) dasselbe Thema behandelt. Brecht kommt aufgrund teilweise anderer Argumentation als ich zum selben Resultat, dass Bucer einen weithin verlässlichen Bericht vom Gang der Heidelberger Disputation gegeben hat. Zum Anlass des Kongregationskonventes vgl. Heinz Scheible, Die Universität Heidelberg und Luthers Disputation, in: ZGO 131, 1983, S.  309–329, bes. S.  309 ff. (ND in: Ders., Melanchthon und die Reformation, hg. von Gerhard May und Rolf Decot [VIEG.B 41], Mainz 1996, S.  371–391, hier: 371 ff.); Karl-Heinz Zur Mühlen, Die Heidelberger Disputation Martin Luthers vom 26. April 1518. Programm und Wirkung, in: Wilhelm Doerr u. a. (Hg., Bearb.), Semper apertus: 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bd.  1: Mittelalter und Frühe Neuzeit: 1386–1803, Heidelberg 1985, S.  188–212; Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 [VIEG 187], Mainz 2002, S.  131–138. Zum ordensgeschichtlichen Kontext vgl. auch Theodor Kolde, Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz, Gotha 1879, bes. S.  313–315; zum früheren ordenspolitischen Erfahrungshintergrund: Hans Schneider, Martin Luthers Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet, in: AAWG NF 10, Sammelband 2, Berlin, New York 2011, S.  1–157. 2   Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  1. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S.  209. Vgl. aber die Hinweise bei Peter Fabisch/Erwin Iserloh, Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), Teil  1 [CCath 41], Münster 1988, S.  30. 3   Zur exakten Datierung vgl. Scheible, Universität, wie Anm.  1, S.  317 (ND S.  379). 4  Vgl. Walter Friedensburg, Ein Brief des Matthäus Nägelin von Straßburg vom 22. Juni 1556, in: ZGO 86, N. F. 47, 1934, S.  391; Heinz Scheible, Luther und die Anfänge der Reformation am Oberrhein, Luthers Heidelberger Disputation 1518, in: Gerhard Römer/Gerhard Schwinge (Red.), Luther und die Reformation am Oberrhein. Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek und der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe 1983, S.  15–39, hier: 16; 25 (ND in: Ders., Melanchthon und die Reformation, wie Anm.  1, S.  481–505, hier: 482; 491); vgl. Scheible, Universität, wie Anm.  1, S.  320 ff. (ND S.  382 ff.); Reinhard Schwarz, Luther [utb 1926], Göttingen 32004, S.  66. 5  Vgl. Walter von Loewenich, Luthers Theologia crucis, Bielefeld 61982, bes. S.  18–25; Jos E.

1.  Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung

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Urteil ist in terminologischer und sachlicher Hinsicht der Begriff der theologia crucis.6 Begriff und Sache wurden von Luther in den Disputationsthesen pointiert einer scholastischen theologia gloriae7 entgegengesetzt. Das Kreuz stellt er als den Ort der Vercruysse, Gesetz und Liebe. Die Struktur der Heidelberger Disputation Luthers (1518), in: LuJ 48, 1981, S.  7–43 [Lit.]; Heinrich Bornkamm, Die theologischen Thesen Luthers bei der Heidelberger Disputation und seine theologia crucis, in: Ders., Luther, Gestalt und Wirkungen [SVRG 188], Gütersloh 1975, S.  130–146; Edgar Thaidigsmann, Identitätsverlangen und Widerspruch. Kreuzestheologie bei Luther, Hegel und Barth [FThS 8], München, Mainz 1983, bes. S.  26–47; Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 41981, bes. S.  259–262; Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 61983, S.  34–42; Ole Modalsli, Die Heidelberger Disputation im Lichte der evangelischen Neuentdeckung Luthers, in: LuJ 47, 1980, S.  33–39; Hans Joachim Iwand, Theologia crucis, in: Ders., Nachgelassene Werke, Bd.  2, hg. v. Helmut Gollwitzer, Walter Kreck, Karl Gerhard Steck und Ernst Wolf, München 1966, bes. S.  381–389; Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, S.  118–130; Gerhard O. Forde, On being a theologian of the Cross: reflections on Luther’s Heidelberg Disputation, 1518, Grand Rapids 1997; zur Rezeption der Heidelberger Disputation in der neueren Theologie vgl. Edgar Thaidigsmann, Kreuz und Wirklichkeit. Zur Aneignung der „Heidelberger Disputation“ Luthers, in: LuJ 48, 1981, S.  80–96; zum theologiegeschichtlichen Kontext vor allem im frühen 20. Jahrhundert grundlegend: Michael Korthaus, Kreuzestheologie [BHTh 142], Tübingen 2007, S.  25 ff. 6  Vgl. Loewenich, Theologia, wie Anm.  5 ; Jos E. Vercruysse, Luther’s Theology of the Cross at the Time of the Heidelberg Disputation, in: Gr. 57, 1976, S.  523–548; Hubertus Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie: Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit; eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos (1519–1521) [KKTS 60], Paderborn 1995; zu den philosophischen Thesen der Heidelberger Disputation ausführlich: Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles [ThB 105], Berlin, New York 2001, S.  431 ff. Für Heinrich Alting, einen reformierten Heidelberger Theologen des frühen 17. Jahrhunderts, war die Heidelberger Disputation offenbar nicht auf die Kreuzestheologie konzentriert. Er fasst ihren Gegenstand eher als Summe theologischer Einzelthemen auf, wenn er ihren Gegenstand folgendermaßen wiedergibt: „[.  .  .] conscripsit et proposuit [sc. Luther] conclusiones (paradoxa vocat ipse) mixti generis quadraginta, [.  .  .], quibus taxavit Romanae Ecclesiae errores receptos, de libero arbitrio post peccatum, de gratia, fide, iustificatione, operibus bonis, inprimis autem de iustificatione per fidem absque operibus doctrinam Pauli et Augustini repraesentare ac demonstratam dare voluit.“ Zit. nach Martin Luther, EA var. arg. 1, S.  384. Luthers in einer Zittauer Handschrift erhaltene Äußerung über die „Heidelberger Disputation“ (vgl. WA 9, S.  170) ist wohl allein auf die textgeschichtlich selbständigen philosophischen Thesen (vgl. unten Anm.  59 und 64) zu beziehen und sagt für die historische Heidelberger Disputation nichts aus. Heidelberg wird als Ort, an dem die betreffenden Thesen disputiert wurden, nicht genannt (gegen Helmar Junghans, Die probationes zu den philosophischen Thesen der Heidelberger Disputation Luthers im Jahre 1518, in: LuJ 46, 1979, S.  10–59, hier: 29). Nach der Darstellung der reformatorischen Wende, die Oswald Bayer (Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie [FKDG 24], Göttingen 1971, Darmstadt 21989) gegeben hat, ist der seit Frühsommer 1518 spezifisch akzentuierte Promissiobegriff (vgl. a.a.O., S.  166 ff.) zentral für die Entwicklung der reformatorischen Theologie Luthers. Im Lichte dieser Bestimmung des Reformatorischen (vgl. a.a.O., bes. S.  339–344) ist die Theologie der Heidelberger Thesen vorreformatorisch. Vgl. dagegen Leif Grane, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518) [AThD 22], Leiden 1975, hier S.  146–151. Zur Kreuzestheologie Luthers im Kontext seiner Stellung zur Mystik vgl. Berndt Hamm, Der frühe Luther, Tübingen 2010, S.  234–239. 7   Vgl. bes. These 21. Ich zitiere nach der Ausgabe der Thesen von Helmar Junghans, in: LuStA 1, S.  186–218, hier: S.  208, 19 ff. Neben dieser Ausgabe ist die Textgestalt des [Corverschen] Druckes (vgl. unten Anm.  64) zu vergleichen. Eine zweisprachige Ausgabe liegt vor in: Wilfried Härle, Der Mensch vor Gott [Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd.  1], Leipzig 2006, S.  35– 69. Im Vergleich zu den kritischen Editionen eignet ihr kein eigener textgeschichtlicher Wert.

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§  9  Argumentative Impressionen

Gegenwart des abscondito modo wirkenden Gottes heraus. Diese vor allem in den Thesen 19–24 entwickelten Gedanken Luthers gelten als zentral für die theologische Interpretation der Heidelberger Disputation.8 In Bezug auf die Kenntnis seiner Theo­ logie außerhalb Sachsens, die Rekrutierung von Anhängern im Südwesten des Reiches und die Entstehung einer reformatorischen Bewegung kommt der Heidelberger Disputation eine zentrale Bedeutung zu. Was lässt sich über den theologischen Gehalt des in Heidelberg Disputierten und seiner Rezeption durch die Teilnehmer aussagen? Das wichtigste Dokument zu diesen Fragen stammt von dem späteren Straßburger Reformator Martin Bucer, der sich damals als dominikanischer Ordensstudent in Heidelberg aufhielt. Als folgenreich dafür, wie das theologische Verhältnis des jungen Bucer zu Luther in der Forschung beurteilt wurde, stellte sich dar, dass Bucer in seinem am 1. Mai 1518 an Beatus Rhenanus9 gerichteten Bericht über die Heidelberger Disputation von dem, was der Forschung als das theologische Zentrum der Disputation erscheint, die theologia crucis, nichts berichtet. Indem Bucer dieses Zentrum übergeht, scheint sich zu zeigen, dass er Luther von vornherein moralisierend missverstand.10 Die Tatsache, 8

  Zum Aufbau der Thesen vgl. bes. Vercruysse, Gesetz, wie Anm.  5, S.  7 ff.; Scheible, Luther, wie Anm.  4, S.  18 f. (ND S.  484 f.); ders., Universität, wie Anm.  1, S.  313–316 (ND S.  375–377); ders., Luthers Heidelberger Thesen. Ein Kompendium seiner Theologie, in: Martin Luther. Die Anfänge der evangelischen Bewegung in der Kurpfalz. Ausstellung der Universitätsbibliothek Heidelberg vom 1. März bis 28. Mai 1983, hg. v. der Universitätsbibliothek Heidelberg, S.  121–126; Thaidigsmann, Identitätsverlangen, wie Anm.  5, S.  18–20; Bornkamm, Thesen, wie Anm.  5, S.  131 ff.; vgl. auch Karl Stürmer, Gottesgerechtigkeit und Gottesweisheit bei Martin Luther, Ludwigshafen a. Rh. 1940, S.  25 ff. 9   Der Text ist ediert in: WA 9, S.  160 ff.; Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder (Hg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Leipzig 1886, ND Hildesheim 1966, S.  106 ff. und Jean Rott (Hg.), Correspondance de Martin Bucer, Tome 1, jusqu’en 1524, Leiden 1979 [SMRT 25] (= Bcor 1), S.  58 ff. Ich zitiere nach der neuesten Edition in der Bucerkorrespondenz. Die kritischen Ausgaben folgen dem Abdruck des Textes bei Daniel Gerdesius, Introductio in Historiam Evangelii Seculo XVI passim per Europam renovati, Bd.  1, Groningen 1744, S. (176)-(191). Die Handschrift ist seitdem verschollen. Ob Bucer über seinen Brief hinaus ein separates Blatt mit allen theologischen Thesen mitgeschickt hat, ist nicht sicher (gegen Horawitz/Hartfelder). Gerdesius hat alle 40 theologischen und philosophischen Thesen nicht nach einem entsprechenden Bucermanuskript, sondern nach Loescher und der Jenaer Lutherausgabe abgedruckt. Zu Bucers Verhältnis zu Rhenanus im Ganzen vgl. Jean Rott, Investigationes Historicae. Églises et Société au XVIe Siècle, hg. v. Marijn de Kroon und Marc Lienhard [Société Savante d’Alsace et des Régions de l’Est, Collection Grandes Publications], Straßburg 1986, Bd.  2, S.  166–176. 10   Brecht, Luther, wie Anm.  2, S.  210; ähnlich Martin Brecht/Hermann Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte. Zur Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg 1534, Stuttgart 1984, S.  54; Heiko A. Oberman (Headwaters of the Reformation. Initia Lutheri – Initia Reformationis, in: Ders. [Hg.], Luther and the Dawn of Modern Era [SHCT 8], Leiden 1974, S.  43 f.) entnimmt der Bucerschen Rezeption, dass der Wittenberger als Erasmianer wahrgenommen wurde, vgl. auch a.a.O., S.  51; ähnlich auch Bernd Moeller, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: ZKG 10, 1959, S.  46–61, hier: 52 (ND in: Ders. Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  98–110. 318–320, hier: 103); Grane versteht Bucers Bericht im Sinnes eines Plädoyers für die Rückkehr zur „old purity of the Christian faith“, Leif Grane, Martinus noster. Luther in the German Reform Movement 1518– 1521 [VIEG 155], Mainz 1994, S.  18.

1.  Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung

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dass er die Thesenreihe 17–28 unerwähnt läßt, wurde dem Umstand zugeschrieben, dass der „Humanist ihr keine Bedeutung abgewinnen kann“11. Bucer sei ein „Erasmianer“, der Luthers „eigentliches Anliegen, die Theologie des Kreuzes, nicht aufgenommen und andere Gedanken im Sinne des Humanismus interpretiert“12, ja, der den „Bereich der theologia gloriae [.  .  .] nur scheinbar [.  .  .] verlassen“ habe.13 Mit erstaunlicher Einmütigkeit reklamierte die Forschung Bucers Disputationsbericht also als Quelle dafür, wie der junge Mönch selbst theologisch gedacht und wie er Luther verstanden hat. Als historische Quelle für die Rekonstruktion der Heidelberger Disputation wurde Bucers Bericht hingegen weitgehend vernachlässigt.14 Das einigermaßen einheitliche Bild, das Bucers Bericht in der Forschung besitzt, aber auch das 11   Karl Koch, Studium Pietatis. Martin Bucer als Ethiker [BGLRK 14], Neukirchen 1962, S.  13. 12   Koch, Studium Pietatis, wie Anm.  11, S.  15; vgl. ähnlich Martin Greschat, Die Anfänge der reformatorischen Theologie Martin Bucers, in: Martin Greschat/Johann Friedrich Gerhard Goeters (Hg.), Reformation und Humanismus, FS Robert Stupperich, Witten 1969, S.  129 ff.; Oberman, Headwaters, wie Anm.  10, S.  43 f., 51; vgl. auch Ernst-Wilhelm Kohls, Die Schule bei Martin Bucer in ihrem Verhältnis zu Kirche und Obrigkeit [PF 22], Heidelberg 1963, S.  185 f., Anm.  152; vgl. auch Lambert Leijssen, Martin Bucer und Thomas von Aquin, in: EThL 55, 1979, S.  262–296, hier: 277, 279. Auch in der Neuauflage seiner Bucer-Biographie (1.  Aufl. 1990, S.  39 f.) hat Martin Greschat im Wesentlichen an seiner Interpretation des Briefes als Quelle für die Rekon­ struktion der Theologie Bucers – nicht aber als Quelle für den Verlauf der Heidelberger Disputation, wie es meiner Absicht entspricht – festgehalten: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491–1551), Münster 22009, S.  40; 288 Anm.  13 der Hinweis darauf, dass „die Grenzen der Interpretationen von [.  .  .] Brecht [s. oben Anm.  1] [.  .  .] und Kaufmann“ darin liegen, das „eigene theologische Interesse des Dominikaners“ zu ignorieren (s. auch unten Anm.  78). Doch wenn Greschat bei seiner Interpretation Differenzen zwischen Bucer und Luther erheben zu können meint, setzt dies ein ‚Wissen‘ des Berichterstatters über das in seinem Bericht Gebotene hinaus voraus. Genau dies aber halte ich für methodisch problematisch. 13   Christian Zippert, Der Gottesdienst in der Theologie des jungen Bucer, Marburg, Diss. theol. 1969, S.  16; vgl. Friedhelm Krüger, Bucer und Erasmus. Eine Untersuchung zum Einfluss des Erasmus auf die Theologie Martin Bucers [VIEG 57], Wiesbaden 1970, S.  49. 14   Seit dem Vorstoß Baums (vgl. Johann Wilhelm Baum, Capito und Butzer, Straßburgs Reformatoren [LASRK 3. Theil], Elberfeld 1860; ND Nieuwkoop 1967, S.  98), der von Bucers Bericht ausgehend die Verhandlung aller Thesen in Heidelberg bestritt, schien die Frage durch Knaakes Gegenvotum (WA 9, S.  160) lange Zeit als erledigt zu gelten (so schon Karl Bauer, Die Heidelberger Disputation Luthers, in: ZKG 21, 1901, S.  233–268; 299–329, hier: 245). Brecht (Luther, wie Anm.  2, S.  210) scheint die Verhandlung aller Thesen ebenso vorauszusetzen wie Koch (Studium Pietatis, wie Anm.  11, S.  13) und Greschat (Anfänge, wie Anm.  12, S.  129 ff.; Ders., Bucer, wie Anm.  12, S.  38 ff.; 2.  Aufl. S.  37 ff.). Knaake wies darauf hin, dass These 16 und 25 in Bucers Bericht erwähnt werden, und folgerte daraus, „daß die Verhandlung weiter fortgeführt wurde“ (WA 9, S.  160). Nach Knaake wurden also mutmaßlich alle einschließlich der von Bucer nicht erwähnten Thesen disputiert. In der Tat werden These 1–13 explizit, These 14–16 summarisch und These 25 von Bucer abschließend wiedergegeben. Aber weder die Behandlung der Thesen 17–24 noch die der Thesen 26–28 oder gar die der philosophischen Thesen ist sicher. Einen Abschluss der Disputation bei These 25 vermutet Scheible (Universität, wie Anm.  1, S.  316 [ND S.  378]), ohne aber auf die Frage einzugehen, ob die bei Bucer nicht erwähnten Thesen, also v. a. die zur theologia crucis, in Heidelberg verhandelt wurden oder nicht. Dass in Heidelberg „nicht der ganze Thesenzettel disputiert worden“ ist, hat zu Recht Gerhard Hammer (vgl. WA 59, S.  669, Anm.  253) auch aus dem Vergleich mit der Wittenberger Franziskanerdisputation von 1519 heraus erwogen.

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§  9  Argumentative Impressionen

sachliche Gewicht dieses an Aussagen über Luther reichsten Textes des jungen Heidelberger Dominikaners nötigen zu einer eingehenderen Betrachtung.

2.  Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1.  5. 1518 Der uns erhaltene Text Bucers gliedert sich in drei Teile. Der eigentliche Disputa­ tionsbericht15 ist von konkreter Korrespondenz gerahmt, in der sich zentrale Aus­ sagen über Luther finden. In topischen Höflichkeitsfloskeln die Nachlässigkeit der eiligen Niederschrift erklärend16, gibt Bucer als Grund für sein Schreiben die Liebe17, als Anlass sein Bemühen an, zu zeigen, dass nicht alle Heidelberger ihre ureigenste Sache preisgäben.18 Bucers Brief reagiert mit diesem Hinweis apologetisch auf eine von Rhenanus19 verfasste Polemik gegen die Heidelberger Theologenzunft („nostros theo­logos“) 20. Bei der Erwähnung Luthers nimmt Bucer also auf einen früheren Geprächszusammenhang zwischen ihm und dem Schlettstädter Bezug. Er führt Luther als Theologen ein, der im Gegensatz zu den von Rhenanus angegriffenen Hei­delbergern die Auseinandersetzung mit den Humanisten nicht fürchten müsse.21 Die Heidelberger Theologen überbiete er an Beredsamkeit und theologischem Urteilsvermögen.22 Der prononcierten Hervorhebung Luthers als eines Theologen und der Begründung, dass jeder Widerstand gegen ihn eine Gegnerschaft gegen das „wahrhaft und echt Theologische“ („vere et germane theologicum“) sei23, entspricht die Charakterisierung seiner Gegner als „rhetorici theologi“24. In ihrer Ausrichtung an Aristoteles25 und Scotus bzw. dem französischen Skotisten Petrus 15   Bcor 1, S.  62,67–71,389. Die konkrete Korrespondenz scheint dem Disputationsbericht im engeren Sinn nachträglich hinzugefügt worden zu sein. Bucer setzt den Manuskriptteil, der von der Disputation berichtet, als abgeschlossen voraus. Dies erklärt auch den Hinweis auf Platzprobleme (Bcor 1, S.  61,60: „Sed ecce vides plura scribendi non esse locum“) und macht deutlich, warum Bucer nach dem eigentlichen Disputationsbericht die Korrespondenz mit Rhenan noch einmal aufnimmt (Bcor 1, S.  71,390 ff.). Platz für den eigentlichen Brief an Rhenan war auf seinem Manuskript also nur vor und nach dem Bericht, den Bucer nach dem Gespräch mit Luther (vgl. unten Anm.  38) wohl unter Verwendung seiner bei der Disputation entstandenen Aufzeichnungen angefertigt hat, freigeblieben. 16   Bcor 1, S.  59,6 f. 17   Bcor 1, S.  59,14 ff. 18   Bcor 1, S.  59,20 ff. 19   Vgl. die Überlegungen Rotts, Bcor 1, S.  59, Anm.  4. 20   Bcor 1, S.  59,20. 21   „[.  .  .] eoque, ne per nos Heidelbergenses tu deserta causa tibi victor videare [.  .  .] ego tibi obi­ iciam theologum, quamquam non nostrum, apud nos tamen his diebus auditum [.  .  .]“. Bcor 1, S.  59,22–60,25; vgl. Bcor 1, S.  97,35. 22   Vgl. Bcor 1, S.  60,25–30. 23   Bcor 1, S.  60,37. 24   Bcor 1, S.  60,28 f.; Kasus von mir geändert, Th.K. 25   Bcor 1, S.  61,39; 60,26; 71,394. Bucer hatte eine stattliche Anzahl von Aristoteles-Bänden in

2.  Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1.  5. 1518

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Tartaretus26 werden sie dem an Hieronymus27, Augustin28 und vor allem an Paulus29 orientierten Luther entgegengesetzt.30 Bei Bucers pejorativen Pauschalurteilen über die Scholastik fehlt bezeichnenderweise der Name des Thomas, eine der maßgeblichen Autoritäten in Bucers eigenem Bildungsgang und einem der Autoren, der in seinem Bücherverzeichnis am häufigsten vertreten ist.31 Verglichen mit Luthers Bericht von der Heidelberger Disputation an Spalatin32 gibt Bucer eine auffallend negative Charakterisierung von Luthers Heidelberger Gegnern ab.33 Ihre theologischen Positionen teilte er Rhenanus zunächst gar nicht mit34, sondern übersandte sie erst später auf dessen Bitte hin.35 Bucer beabsichtigte offenbar, Luthers Bedeutung dadurch hervorzuheben, dass er seine Einzigartigkeit als Theologe betonte. Luthers Person wird in Basel bereits vom Ablassstreit her als bekannt vorausgesetzt.36 Sein Disputationsstil wird lebhaft gepriesen.37 Bei einem Privatgespräch unter vier Augen und einem Tischgespräch am folgenden Tag, an dem seiner Bibliothek, vgl. die Nr.  4 ; 12; 19; 23; 24; 58 seines Bücherverzeichnisses, Bcor 1, no. 2, S.  42– 58. 26   Bcor 1, S.  60,31 f. Die scotistische Schulliteratur fehlt erwartungsgemäß in der Bibliothek des Dominikaners. 27   Bcor 1, S.  60,30; 61,59. 28   Ebd.; Augustin und Hieronymus fehlen in Bucers Bücherverzeichnis. 29   Bcor 1, S.  61, 49; 61, 59; 66, 241; 71, 397. 30  Vgl. Heiko Jürgens, Die Funktion der Kirchenväterzitate in der Heidelberger Disputation Luthers (1518), in: ARG 66, 1975, S.  71–78. Jürgens (S.  72; passim) weicht darin von der übrigen Forschung (vgl. oben, Anm.  14) ab, dass er Bucers Bericht stärkere historische Glaubwürdigkeit zuerkennt. 31   Vgl. Bcor 1, S.  45 ff., Nr.  7–10; 12; 19 f.; 58; vgl. auch die instruktive Analyse des Bücherverzeichnisses von Martin Greschat, Martin Bucers Bücherverzeichnis, in: AKuG 57, 1975, S.  162– 185; zu Thomas vgl. bes. a.a.O., S.  169 ff.; ders., Martin Bucer als Dominikanermönch, in: Marijn de Kroon/Friedhelm Krüger (Hg.), Bucer und seine Zeit [VIEG 80], Wiesbaden 1976, S.  30–53; zu Bucers Verhältnis zu Thomas im Ganzen vgl. Leijssen, Bucer, wie Anm.  12, passim. Zu dem interessanten Parallelfall des Franziskaners Konrad Pellikan, der in seiner frühreformatorischen Scholastikkritik vor allem die thomistische Tradition attackiert s. unten III, §  13, Anm.  104. 32   WABr 1, Nr.  75 (18.  5. 1518), S.  173 f.; bes. 173,23 f. 33   Zu ihnen vgl. Scheible, Universität, wie Anm.  1, S.  324 ff. (ND S.  386 ff.); WABr 1, S.  174 f., Anm.  8. Luther berichtet davon, dass einer der Doktoren ihm entgegnet habe: „Si rustici he¸ c audirent, certe lapidibus vos [sc. Luther] obruerent et interficerent.“ WABr 1, S.  173, 28 f. Dieser „Iunior doctor“ wird in der Regel mit Georg Schwarz alias Nigri (vgl. WABr 1, S.  174, Anm.  8 ; Scheible, a.a.O., S.  328 [ND S.  390 f.]; Brecht, Luther, Bd.  1, wie Anm.  2, S.  210; Bauer, Heidelberger Disputation, wie Anm.  14, S.  246; vgl. die Liste bei Johann Friedrich Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg, Bd.  1, Mannheim 1862, ND Hildesheim 1980, S.  384) identifiziert. 34   Bcor 1, S.  71,392 ff. 35   Bcor 1, S.  77,6 ff.; vgl. a.a.O., Anm.  4. 36   „Is est Martinus, ille indulgentiarum, quibus nos minime parum nobis hactenus indulsimus, sugillator [.  .  .]“. Bcor 1, S.  60,32 f. Bucer kannte die 95 Thesen späterer Erinnerung zufolge (Brief an Spalatin vom 23.  1. 1520) bereits vor der Heidelberger Disputation, vgl. Bcor 1, S.  98,41 ff. 37   Vgl. Bcor 1, S.  61,46 ff., 54. Ähnlich löblich äußerte sich Pfalzgraf Wolfgang über Luthers Disputationsstil: „Er [sc. Luther] hatt sich auch allhier mitt seinem disputieren also geschickt gehalten, dass er nitt eynn kleynn lob E. L. [sc. Friedrich der Weise] Universitet gemacht hatt, es werde Im auch grosser Preyss von vill gelerten leutten nachgesagt, das haben E. L. als eyn Somm frunttlicher Mainung nitt wollen verhaltenn.“ Zit. nach Hautz, Geschichte, wie Anm.  33, S.  385, Anm.  82.

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§  9  Argumentative Impressionen

sicher auch Staupitz teilnahm38, hatte Bucer Gelegenheit, dem sächsischen Professor in Anknüpfung an die Disputation Fragen zu stellen.39 Im Anschluss an dieses Tischgespräch formulierte Bucer die Überzeugung, dass Luther mit Erasmus in allem übereinstimme, diesen freilich durch die unverblümte Art, seine Lehre zu vertreten, übertreffe.40 Eben diese Einsicht scheint Bucer besonders begeistert zu haben.41 Die vielzitierte Aussage von Luthers Übereinstimmung mit Erasmus steht im Zusammenhang seines Berichts über das Tischgespräch. Sein rhetorischer Ausruf, er bedaure es, dass er aus Zeitgründen nicht mehr schreiben könne42, kann nur auf den Bericht von dem Tischgespräch bezogen werden. Von diesem Kontext her ist freilich auch die Aussage über die Konvergenz zwischen Luther und Erasmus zu verstehen. Luthers Verhältnis zu Erasmus ist offenkundig auch Gegenstand des Gesprächs gewesen. Denkbar ist, dass Bucer Luther um eine Stellungnahme zu Erasmus gebeten hatte und aufgrund von Luthers Votum sein zusammenfassendes Urteil sprach. Nicht auszuschließen ist auch, dass Bucers Konvergenzaussage weniger etwas über Bucers Verhältnis zu Luther als über Luthers Verhältnis zu Erasmus, wie er es dem Heidelberger Dominikaner im Frühjahr 1518 gegenüber dargelegt haben mag, zu erkennen gibt.43 Der Disputationsbericht im engeren Sinne scheint nun sowohl die 38   „Fuit postridie cum viro familiaris mihi et procul arbitris amica confabulatio, sed et coena non dapibus, sed doctrinis longe paratissima optatissimaque.“ Bcor 1, S.  61, 51–54. Zu Staupitz’ Teilnahme an dem Mahl vgl. Bcor 1, S.  91, 6 f.; zur Teilnahme Brenzens (vgl. Martin Brecht, Die frühe Theologie des Johannes Brenz [BHTh 36], Tübingen 1966, S.  13) und anderer Heidelberger Studenten vgl. Altings Bericht, in: EA var. arg. 1, S.  385, übers. in W2, Bd.  15, Sp.  423. 39   „Quaecunque sciscitarer, luculentissime explicabat [sc. Luther].“ Bcor 1, S.  61,54. 40   „Cum Erasmo illi [sc. Luther] conveniunt omnia, quin uno hoc praestare videtur, quod quae ille duntaxat insinuat, hic aperte docet et libere.“ Bcor 1, S.  61,54–56; vgl. zu diesem bald topisch werdenden Urteil oben II, §  8, Anm.  39. 41   Vgl. Bcor 1, S.  61,56 f. 42   „O utinam mihi tempus esset de hoc tibi scribere plura!“ Bcor 1, S.  61,56 f. 43   In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Bucer und seine Straßburger Kollegen den Wittenberger 1524 unter Berufung auf eine unbekannte schriftliche Äußerung Luthers (vgl. Bcor 1, S.  296, Anm.  1) zur Trennung von Erasmus aufforderten: „Quare te [sc. Luther] per Chri­ stum obsecramus, carni et sanguini ne acquiescas, quod de Erasmo semel scripsisti, propter Chri­ stum etiam odiendos parentes, nunc omnium rhetorum consiliis praeferas“ (Bcor 1, S.  296,233– 236). Luther hatte demnach sein Verhältnis zu Erasmus mit der Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern parallelisiert, von denen um Christi Willen ein radikaler Abschied nötig sei (vgl. Lk 14, 16). Auffällig ist überdies, dass Bucer in seiner Frühzeit immer nur gegenüber Luther hervorzuheben scheint, dass er neben ihm Erasmus besonders verehre, vgl. außer Bcor 1, S.  61, 54–56; 94, 79 f.; 115, 16 ff. Ist es auszuschließen, dass Luther in Heidelberg und in seinem Gespräch mit Bucer gerade seine positive Beziehung zu Erasmus in einem Maße betont hatte, die den „Erasmianer“ Bucer besonders beeindruckte und gerade so die Trennung Bucers von Erasmus in der Weise erschwerte, dass sich der spätere Straßburger Reformator auf Luther selbst berufen zu müssen meinte, um ihn von der Notwendigkeit eines definitiven Abschieds von dem Rotterdamer zu überzeugen? Wenn Luther auf der Heidelberger Disputation als „Erasmianer“ wahrgenommen wurde (vgl. oben Anm.  10), dann konnte dies ja nicht nur in der humanistischen Disposition seiner Zuhörer, sondern auch in Luthers Auftreten selbst seinen Grund haben. Vgl. zu dem ganzen Problemkomplex Helmar Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, bes. S.  314–317; speziell zur Heidelberger Disputation vgl. a.a.O., S.  293–296; speziell zum Problem des Namenswechsels, der bei aller Komplexität auch humanistischer Gewohnheit entsprach, vgl. Bernd Moeller/Karl

2.  Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1.  5. 1518

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eigentliche Heidelberger Disputation als auch die Gespräche bei Tisch am folgenden Tage wiederzugeben.44 Bucer beteuert zweimal, all das zu berichten, was er „inter disputandum“45 mitbekam. Vor einer Analyse des Gesprächsberichts sind folgende Klarstellungen erforderlich: 1.  Bucer schreibt seinen Bericht von der Heidelberger Disputation nach seinem Gespräch mit Luther am 27. April 1518. Der uns erhaltene Bericht stellt also mutmaßlich eine die Erfahrungen des Gesprächs mit Luther mitverarbeitende Überarbeitung derjenigen Aufzeichnungen dar46, die Bucer während der Disputation angefertigt hatte. 2.  In dem Bericht werden nach Bucers Angaben die „disputata Paradoxa“ und deren „explicationes“ wiedergegeben.47 Davon, dass er über die von ihm wiedergegebenen Thesen mit Explikationen hinaus auch die übrigen Thesen unkommentiert beigelegt hätte48, sagt Bucer nichts.

Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen, in: NAWG, Phil. hist. Klasse Jg. 1981, Nr.  7, S.  171–210; s. auch oben II, §  8, Anm.  92 zur Frage einer Akkommodation Luthers an die Humanisten. 44   Bcor 1, S.  71,390 ff.; 61,60–62; vgl. auch Junghans, LuStA 1, S.  189; Hammer, in: WA 59, S.  668, Anm.  252. 45   Bcor 1, S.  61,61 f.; 71,390; vgl. auch Bcor 1, S.  77,5 f. Alting vermerkt zu Recht, Bucer habe „qua valebat scribendi celeritate, plerique Lutheri notasset“. EA var. arg. 1, S.  385. 46   Alting, ebd.: „[.  .  .] quae responsa quoque Bucerus in sua adversaria retulit“. 47   Bcor 1, S.  61, 61; zur Bedeutung des Begriffs „Paradoxa“ in unserem Zusammenhang vgl. Bornkamm, Thesen, wie Anm.  5, S.  131; Thaidigsmann, Identitätsverlangen, wie Anm.  5, S.  14 f.; LuStA 1, S.  186; 213, Anm.  612. Aus Bucers Bericht folgt eindeutig, dass die probationes vor der Disputation verfasst waren, gegen Erich Vogelsang (Hg.), Luthers Werke in Auswahl, Bd.  5, Berlin 31963 (= Cl 5), S.  375. Die probationes zu den theologischen Thesen finden sich bereits im [Corverschen] Erstdruck (vgl. Anm.  64), gegen die Angaben von Junghans, WA 59, S.  405. 48   Diese von Rott (Bcor 1, S.  61, Anm.  12) im Anschluss an Horawitz/Hartfelder (Briefwechsel, wie Anm.  9, S.  115) geäußerte These geht aus dem erhaltenen Text Bucers nicht zwingend hervor. Der entscheidende Satz lautet: „Mitto per eum disputata Paradoxa iuxta et eorum explicationes, quantum inter disputandum excipere potui aut postea ab ipso fui edoctus“ (Bcor 1, S.  61, 60–62). Entscheidend ist nun, wie man das „per eum“ versteht. Schon Baum sah darin einen Hinweis auf einen Boten (Capito, wie Anm.  14, S.  97), der aber vorher nicht erwähnt worden wäre. Dieser Bote hätte dann neben dem Bericht ein Blatt mit den Thesen, die in Bucers Bericht nicht enthalten waren, transportiert. Knaake (WA 9, S.  160 ff.) ist der Entscheidung von Horawitz/ Hartfelder nicht gefolgt, und bietet keinen Abdruck der Restthesen. Verständlicher ist es – und ohne die Einführung eines Boten erklärbar –, wenn man das „per eum“ auf Luther bezieht und mit den „disputata Paradoxa“ verbindet. Bucer sagt dann nur: „ich schicke dir die von Luther disputierten Paradoxe“. Nur so wird dann deutlich, warum Bucer sogleich von den „Paradoxa [.  .  .] et eorum explicationes“ (Bcor 1, S.  61,61) spricht. Hätte Bucer auch Paradoxa ohne Erklärungen beigefügt, dann wäre seine Ausdrucksweise zumindest unpräzis. Auch der hastige Verweis auf These 25 am Schluss von Bucers eigentlichem Disputationsbericht (Bcor 1, S.  71,384–389) gibt sich als ein zusammenfassendes Resümee, das leichter zu verstehen ist, wenn es am Ende der Information steht, die Bucer Rhenan von der Disputation gibt und nicht noch die unerwähnt gebliebenen Thesen beigefügt sind.

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§  9  Argumentative Impressionen

3.  Weder aus dem Brief an Rhenanus, noch aus dem Disputationsbericht im engeren Sinne geht hervor, dass Bucer nicht der alleinige Verfasser des Berichtes gewesen ist. Einem Brief  Frechts vom 22. Juni 155649 ist zu entnehmen, dass neben Bucer Brenz und Frecht nicht nur an der Disputation teilnahmen, sondern auch „omnia acta“ aufgeschrieben hatten („conscripsimus“) 50. Ob man jedoch dem „conscribere“ entnehmen muss, dass der an Rhenanus gesandte Bericht eine Gemeinschaftsproduktion der genannten drei ist51, oder es nicht doch eher meint, dass jeder von ihnen seine eigenen Aufzeichnungen machte, ist unsicher.52 Vielleicht wäre sonst zu erwarten, dass Bucer bei seinen Entschuldigungen für die sprachliche Form des Berichts53 auf dessen besondere Entstehungsbedingungen als Gemeinschaftstext eingegangen wäre. 4.  Wie Frecht berichtet, „omnia acta“ mitgeschrieben zu haben54, so teilt auch Bucer mit, alles, was er „inter disputandum“ mitschreiben konnte, wiederzugeben.55 Eine Erwähnung der Thesen 17–24, 16–28 und der philosophischen Thesen sucht man in seinem Bericht vergeblich. Da Bucer Luther bei zwei Gelegenheiten begegnete, der Disputation und dem Gespräch am 27. April, hätte er, wären die genannten Thesen einmal Gesprächsgegenstand gewesen, eine doppelte Möglichkeit gehabt, etwas über sie zu erfahren und entsprechend zu berichten. Ihre Nichterwähnung käme jedenfalls einer Unterschlagung gleich, da er ja angibt, „quantum inter disputandum excipere potui“56 wiederzugeben und nicht nach eigenen Gesichtspunkten auszuwählen. 5. Da nichts dafür spricht, dass alle uns erhaltenen 40 Thesen Gegenstand der Heidelberger Disputation gewesen sind, vielmehr Bucer als einziger Berichterstatter gegen diese Auffassung steht, wird man davon auszugehen haben, dass nur die von Bucer erwähnten Thesen disputiert wurden. Jedenfalls stellen die Thesen in dieser Auswahl [These 1–16; 25] einen durchaus konzisen, um die Werkgerechtigkeit kreisenden Gesprächsgegenstand dar. Bucers summierende Behandlung der Thesen 14– 1657 könnte auf eine gewisse Zeitnot bei der Disputation hindeuten. Dass die These 25 zum Abschluss in die Debatte einbezogen wurde, könnte sich aus ihrer zusammenfassenden und zuspitzenden Prägnanz ergeben haben.58 Inwieweit der von der

49

  Abgedruckt bei Friedensburg, Brief, wie Anm.  4, S.  389 ff.   A.a.O., S.  391. 51  So Brecht, Luther, wie Anm.  2, S.  219; Brecht/Ehmer, Reformationsgeschichte, wie Anm.  10, S.  54. 52   Scheible (Universität, wie Anm.  1, S.  321; 326 [ND S.  383; 388]), der auf Frechts Brief eingeht, zieht die Konsequenz einer gemeinsamen Autorschaft nicht. 53   Bcor 1, S.  59,5 f.; 72 f. 54   Friedenburg, Brief, wie Anm.  4, S.  391. 55   Bcor 1, S.  61,60 ff., 71,390 ff. 56   Bcor 1, S.  61,61 f. 57   Bcor 1, S.  70,364 ff. 58   „Non ille iustus est, qui multum operatur, sed qui sine opere multum credit in Christum.“ LuStA 1, 216,7 f. 50

2.  Form und Gehalt von Bucers Brief an Beatus Rhenanus vom 1.  5. 1518

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Forschung in der Regel als Respondent bezeichnete59 Wittenberger Magister und Lutherschüler Leonhard Beyer60 in Erscheinung trat, entzieht sich unserer Kenntnis. Da Luther fünf disputationsfreudigen Heidelberger Doktoren61 als Opponenten gegenüberstand, die seiner Theologie mit Unverständnis begegneten62, ist eine zeitintensive Auseinandersetzung mit ihnen wahrscheinlich. 6.  Spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass andere als die von Bucer erwähnten Thesen in Heidelberg nicht disputiert wurden, so ist es sogar möglich, dass Bucer die nicht verhandelten Thesen gar nicht kannte. Die Abweichungen63 zwischen seiner 59

  Vgl. LuStA l, S.  217, 19 f. Bucer berichtet von Beyer (vgl. LuStA 1, S.  217, Anm.  674; über ihn: MBW 11, S.  155 f. [Lit.]) nichts. Dass Beyer Luthers Heidelberger Begleiter war, scheint sich auf die textgeschichtlich problematische Notiz „Frater Leonardus Bayer artium et Philosophiae Magister Respondebit“ (ebd.) zu gründen. Dieser Hinweis findet sich am Ende der textgeschichtlich selbständig überlieferten zwölf philosophischen Thesen, die in den frühen Drucken der Heidelberger theologischen Disputationsthesen (vgl. Anm.  64) nicht auftauchen. Zur Textgeschichte der philosophischen Thesen und ihrer probationes vgl. Junghans, probationes, wie Anm.  6, S.  10–59; ders., WA 59, S.  405–426; zur Textgestalt der 3. probatio vgl. Gerhard Ebeling, Disputatio de Homine, Lutherstudien, Bd.  2, Tübingen 1982, S.  471–489. In Luthers ausführlichem Bericht über die Fahrt nach Heidelberg und die dortige Disputation an Spalatin (WABr 1, S.  173 f.) taucht der Name Beyers bezeichnenderweise nicht auf. Die ausgesprochen lockere Verbindung zwischen Beyer und der Heidelberger Disputation lässt mich daran zweifeln, ob er überhaupt Luthers Reisebegleiter nach Heidelberg war. Möglicherweise gehören die zwölf philosophischen Thesen ursprünglich zu einer späteren Wittenberger Disputation Beyers, bei der sie vielleicht überlieferungsgeschichtlich mit den theologischen Thesen zur Heidelberger Disputation zusammengewachsen sind. Eine wirkliche Verbindung zwischen der Heidelberger Disputation und der Erörterung philosophischer Themen wird man auch der von Cordatus überlieferten „Quaestio metricalis Heidelwergae proposita“ (WATR 2, 572,30–33) nicht entnehmen können. Zur Struktur und zum Regelwerk akademischer Disputationen knapp und konzis: Fidel Rädle, Art. Disputation, in: RDL2, Bd.  1, 1997, S.  376–379; vgl. auch Hanspeter Marti, Art. Disputation, in: HWR, Bd.  2, 1994, Sp.  866–880; s. auch Christian Kiening, Art. Streitgespräch, in: RDL2, Bd.  3, 2003, S.  525–528; umfassend, allerdings in Bezug auf die Theologie und das 16. Jahrhundert wenig ergiebig: Marion Gindhart/Ursula Kundert (Hg.), Disputation 1200–1800: Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur [Trends in medieval philology 20], Berlin 2010. 60   Bauer (Heidelberger Disputation, wie Anm.  14, S.  234; 239; 245) bezeichnet ihn als den „Opponenten“ Luthers. Luther saß der Disputation vor (Bcor 1, S.  60, 35). Beyer „respondierte“ (Kolde, Augustiner-Congregation, wie Anm.  1, S.  314; vgl. Schwarz, Luther, wie Anm.  4, S.  66). Die Heidelberger Fakultät (vgl. Scheible, Universität, wie Anm.  1, S.  324 ff. [ND S.  386 ff.]) wird ihre opponierenden Voten mit Luther disputiert haben. Beyer wird von Bucer gar nicht erwähnt, s. vorige Anm. „Luther hat offensichtlich selbst mindestens das entscheidende Wort geführt.“ (Junghans, in: Lu­ StA 1, S.  186); zu den Verfahrensfragen bei derartigen Disputationen vgl. auch Hammer, in: WA 59, passim, bes. S.  666. 61   WABr 1, S.  173,23 ff. 62   „quamquam enim peregrina illis videbatur Theologia, Nihilominus tamen et argute et pulchre adversus eam velitabantur.“ WABr 1, S.  173,25 f. Luther spricht also genau genommen nicht vom Unverständnis gegenüber seiner Theologie, sondern gegenüber der Theologie überhaupt. Bucer nennt die Heidelberger ja auch „rhetoricos theologos“ (vgl. oben Anm.  24). Die Heidelberger scheinen im Vergleich mit Luther keinen großen Eindruck gemacht zu haben. 63   Bei folgenden Thesen weicht Bucer von der übrigen Textüberlieferung zur Heidelberger Disputation ab: 1. in These 3 bringt Bucer gegenüber dem [Zwolleschen] Urdruck (vgl. Anm.  64) eine veränderte Wortfolge (vgl. Bcor 1, S.  65, 190 mit Rabenau, Luther, wie Anm.  64, A 2r und LuStA 1, S.  201,1 und Cl 5, S.  378,1; 381,16). 2. „adparent“ (Bcor 1, S.  66,212) statt assimiliertem „apparent“

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§  9  Argumentative Impressionen

Wiedergabe der Thesen und der übrigen Textüberlieferung lassen es möglich erscheinen, dass Bucer die Thesen während der Disputation mitschrieb und keine andere Textvorlage besaß. Ein früher Einzeldruck der Heidelberger Thesen als Vorlage zur Disputation ist nicht bezeugt.64 7.  Der Versuch, daraus, dass Bucer die die theologia crucis betreffenden Thesen der Heidelberger Disputation nicht erwähnt, Rückschlüsse auf sein theologisches Denken und seine frühe Lutherrezeption zu ziehen, ist also deshalb zweifelhaft, weil nicht sicher ist, ob Bucer die entsprechenden Thesen überhaupt kannte.

(Rabenau, a.a.O., A [3]r; Cl 5, S.  378,5; 382,29; LuStA 1, S.  202,12; 214,9). 3. In These 6 geänderte Wortfolge (Rabenau, a.a.O., A [3]r; Bcor 1, S.  66,242 f.; LuStA 1, S.  202,19; 214,11; Cl 5, S.  378,7 f.; 383,2 f. 4). Bei der Wiedergabe von These 8 bringt Bucer gegen die gesamte Textüberlieferung „libertate“ statt „securitate“ (Rabenau, a.a.O., A [4]r; Bcor 1, S.  67,277; Cl 5, S.  378,12; 384,12; LuStA 1, S.  214,16; 204,2). 5. Bei These 12 bringt Bucer „vero“ (Bcor 1, S.  69,349) statt „vere“ (Rabenau, a.a.O., A [4]r; Cl 5, S.  378,19; 385,17; LuStA 1, S.  205,6; 214,23). 6. In These 13 „cum“ (Bcor 1, S.  70,359) statt „dum“ (Rabenau, a.a.O., A [4]r; Cl 5, S.  378,22; 385,25; LuStA 1, S.  205,12; 214,25). Wahrscheinlich erklären sich die Abweichungen eher als Hör- denn als Lese- bzw. Abschreibfehler. 64   Der wohl älteste bekannte Druck der 28 theologischen Heidelberger Thesen erschien unter dem Titel De Lege et fide conclusiones. xxviij. cum resolutionibus Martini Lutheri zusammen mit Luthers Schrift De ratione confitendi in einer Ausgabe bei [Simon Corver, Zwolle 1520], vgl. Helmut Claus/Michael A. Pegg, Ergänzung zur Bibliographie der zeitgenössischen Lutherdrucke. Im Anschluss an die Lutherbibliographie Josef Benzings, Gotha 1982, Nr.  818d, S.  57; S.  168 Abb.  4 ; S.  11 Anm.  3 ; Benzing/Claus, Nr.  818d (Bd.  2, S.  79); vgl. die Faksimile-Ausgabe von Konrad von Rabenau, Martin Luther: Thesen und Erläuterungen zur Heidelberger Disputation. Einleitung zum zweiten Galaterkommentar. Gedicht auf Graf Enno II. von Ostfriesland. Drei neugefundene la­ teinische Drucke aus der St.-Gotthardt-Bibliothek in Brandenburg, Köln, Wien 1987. Es folgten wohl noch 1520 die Drucke in den Thesensammlungen der Wittenberger Theologen Luther, Melanchthon und Karlstadt, die bei [Jan Seversz, Leiden 1520] (vgl. Benzing/Claus, Nr.  85; WA 59, S.  405, Anm.  1) und bei [Pierre Vidoue, Paris 1520] (vgl. Benzing/Claus, Nr.  86) erschienen sind. Bei dem niederländischen Drucker J. Seversz erschien auch ein Druck der Wittenberger Franziskanerdisputation (Claus/Pegg, a.a.O., Nr.  818e; vgl. dazu Gerhard Hammer, Militia Franciscana seu militia Christi, 1. Teil, in: ARG 69, 1978, S.  51–81; 2. Teil, in: ARG 70, 1979, S.  59–105; vgl. WA 59, S.  606–697). Zum Problem eines ausländischen Urdrucks von Wittenberger Thesen vgl. Hammer, ARG 69, 1978, bes. S.  55, Anm.  11. Zu einem weiteren neuentdeckten Druck von Wittenberger Thesen bei Jan Serversz vgl. Gunter Quarg, Seltene Lutherdrucke der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, in: GutJb 60, 1985, S.  155–161. Ein Verbindungsmann zu den Niederlanden brachte die Heidelberger Thesen also ähnlich in den Druck, wie es auch bei der Wittenberger Franziskanerdisputation und dem weiteren Thesendruck geschah, vgl. Hammer, ARG 69, 1978, S.  56; WA 59, S.  612. Quarg (a.a.O., S.  158–160) macht wahrscheinlich, dass der der Wittenberger Universität und wohl auch Luther nahestehende Übermittler in die Niederlande Augustinereremit [J. Propst?] gewesen sein dürfte. Jedenfalls scheint, wie gerade der Vergleich mit der Wittenberger Franziskanerdisputation zeigt, ein Thesendruck im Rahmen einer Ordensdisputation nicht üblich gewesen zu sein; vgl. dagegen Junghans (WA 59, S.  405), der vermutet, dass Luthers Heidelberger Thesen „zur Disputation gedruckt vorlagen“ (vgl. ähnlich Rabenau, a.a.O., S.  V). Zum Vergleich beider Kapiteldisputationen vgl. auch die von Hammer (WA 59, S.  633; 666) aufgewiesenen Gemeinsamkeiten.

3.  Zum Verlauf der Heidelberger Disputation

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3.  Zum Verlauf der Heidelberger Disputation Die vorangehenden Überlegungen nötigen dazu, Bucers Disputationsbericht in stärkerem Maße als bisher üblich aus dem mutmaßlichen Verlauf der Heidelberger Disputation heraus zu verstehen und weniger den eigenen theologischen Intentionen des jungen Dominikaners zuzuschreiben. Methodische Sicherheit lässt sich für die Frage nach der Nähe von Bucers Berichterstattung zum historischen Disputationsverlauf überall dort gewinnen, wo sie parallel zu den probationes läuft, die Luther zu seinen Thesen verfasst hatte. Dass die Beweisgründe, die Luther für eine These anführen wollte, in der Disputation dann auch tatsächlich eine Rolle gespielt haben, ist durchaus zu erwarten. Andererseits bedeuten Abweichungen Bucers von den vorgesehenen probationes noch nicht notwendigerweise, dass sein Bericht vom historischen Disputationsverlauf abweicht, da Luther in Heidelberg ja auch andere Zeugnisse in der Disputation angeführt haben kann, als die überlieferten probationes nahelegen. Nur dort, wo es nicht gelingen sollte, die Art der Bucerschen Berichterstattung aus einem hypothetisch zu rekonstruierenden Disputationsverlauf zu erklären, wäre mit größerer Wahrscheinlichkeit von individuellen Anteilen Bucers auszugehen. Bucers Ausführungen zu These 1 der Heidelberger Disputation65 weisen nun zunächst starke Übereinstimmungen mit Luthers probatio zu der These auf. Die paulinische und augustinische Begründung66 werden in beiden Texten genannt. Die angeführten Schriftbelege stimmen überein.67 Diesem Umstand ist zu entnehmen, dass Luther die probatio in der Disputation gebraucht hat. Einzelne Züge in Bucers Bericht scheinen nun über Luthers probatio hinauszugehen. Wie Luther will Bucer die 1. These auf jedes Gesetz angewandt wissen.68 Bucer charakterisiert die lex als „foris manens quicquam faciendum praescribat“69. Als dieses „außen bleibende“ Gesetz wirke es nichts zu seiner Erfüllung.70 Ist der These Luthers und ihrer probatio nur zu entnehmen, dass der Wittenberger die verhängnisvolle Wirkungslosigkeit des Gesetzes für die iustitia hominis trotz ihres göttlichen 65

  „LEX Dei saluberrima vitae doctrina, non potest hominem ad iustitiam promouere, sed magis obest.“ LuStA 1, S.  200,8 f. 66   Vgl. Bcor 1, S.  62,72 f. (MPL 44, Sp.  216 = CSEL 60, S.  177,15 ff.); LuStA 1, S.  200,11 f., 14 f. Zutreffend sieht Schwarz, Luther, wie Anm.  4, in den Thesen zur Heidelberger Disputation ein Zeugnis für Luthers „augustinischen Paulinismus“ (S.  66); vgl. auch Thaidigsmann, Identitätsverlangen, wie Anm.  5, S.  23–25; 40. 67  Röm 8,2 (Bcor 1, S.  62,70 = LuStA 1, S.  200,13 f.); Röm 8,3 (Bcor 1, S.  63,126 = LuStA 1, S.  200,13); Röm 7,9 (Bcor 1, S.  63,136 = LuStA 1, S.  200,12); zu 1 Sam 2,6 f. (Bcor 1, S.  63,116) vgl. LuStA 1, S.  201,20. Das von Bucer zitierte Psalmwort Ps 36,31 (Bcor 1, S.  63,10 f.) findet sich in der Überlieferung zur Heidelberger Disputation sonst nicht. 68   „[.  .  .] ad quamcunque legem deducit [sc. Luther], quae modo foris manens quicquam faciendum praescribat, de nulla non lege, sive data esset auctore Deo sive homine, scripta aut tantum animo complexa, se loqui testabatur.“ Bcor 1, S.  62,73 ff.; vgl. LuStA 1, S.  200,15: „[.  .  .] de qualibet etiam sanctissima lege Dei.“ 69   Bcor 1, S.  62,74. 70   „Nam mentem lex huiusmodi, quaecunque illa sit, erudit quidem, at affectui nullam praebet efficaciam implendi eius quod praecipit in gloriam Dei [.  .  .].“ Bcor 1, S.  62,76 ff.

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§  9  Argumentative Impressionen

Ursprungs zeigen wollte, so spiegelt der Bericht Bucers über diese negative Absicht hinaus ein Interesse daran, die Erfüllung des Gesetzes durch die im Herzen eingeschriebene „lex Spiritus“71 (Rm 8,2) zu entwickeln. Ob diese Gedankenführung Bucers eine eigenmächtige Interpretation der These 1 darstellt72 und ob die für ihn als Selbstaussage ungewöhnliche 1. Person Plural73, die die These zusammenzufassen behauptet, Bucers Stimme wiedergibt oder die Disputation in ihrem originalen Verlauf und Ton spiegelt, ist jedenfalls kaum sicher zu entscheiden. Da die Existenz unter der „lex Spiritus“ aber nicht als eigene Verdienstlichkeit eines sittlich wirkenden Menschen, sondern als Handeln Christi im Menschenherzen verstanden wird74, ist es durchaus vorstellbar, dass dies ein Gedanke Luthers war. Als Summarium einer an Augustin orientierten frühen Rechtfertigungstheologie Luthers stellt der erste Teil von Bucers Disputationsbericht einen denkbaren Einstieg in die Disputation dar, insofern der ganze Problemkomplex von Gnade, Gesetz und Werken berührt wird. Setzt man voraus, dass Luther durch die Disputation der ersten These genötigt worden wäre, über die Negation hinaus fortzuschreiten, so wäre denkbar, dass Luther selbst auf den für seine Theologie der Jahre 1515–1517 so entscheidenden Gedanken Augustins75 rekurriert hätte, dass Gott lege fidei gibt, was er zu tun befiehlt. Das In71

  Bcor 1, S.  62,79; passim.  So Greschat, Anfänge, wie Anm.  12, S.  130 ff.; Koch, Studium Pietatis, wie Anm.  11, S.  12 ff.; Zippert, Gottesdienst, wie Anm.  13, S.  12 ff. 73   „Atque, ut summatim complectamur haec omnia [.  .  .].“ Bcor 1, S.  62,96. 74   „At vero, si cordibus hominum, hoc est affectibus inscribatur, iam non ipsi vivunt aut agunt, sed vivit potius in ipsis Christus, et non tam agunt quam aguntur [.  .  .].“ Bcor 1, S.  62,88 ff.; vgl. dazu Bernhard Lohse, Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, in: Ders., Evangelium in der Geschichte, hg. v. Leif Grane/Bernd Moeller/Otto Hermann Pesch, Göttingen 1988, S.  11–30, hier: 24, bes. Anm.  43. In seiner frühen Theologie macht Luther von der paulinischen „lex spiritus“ bzw. der Rede von der lex als einer geistlichen Sache unbefangenen Gebrauch: „Spiritualis lex seu intelligentia est ea, quae significat Spiritum seu gratiam, ut scilicet qui habet Spiritum et Gratiam, hic habet quod lex iubet.“ WA 1, S.  106,9–11; vgl. WA 1, S.  35,23 f. Zur Absetzung des geistlichen Charakters des Gesetzes im Sinne einer herzlichen und freudigen Erfüllung im Unterschied zu einem mystischen Verständnis: WA 1, S.  461,24–29 (1518). In diesem Sinne kann Luther lex spiritus synonym mit iustitia fidei verwenden, vgl. WA 4, S.  306,3 f.; vgl. 310,37 f.; 334,30; 285,30: „Lex spiritualis euangelica“. In der Galatervorlesung expliziert er „evangelium Christi“ „i.e. spiritualem et vivam legem“ (WA 57, S.  7,7 f.). In der Römerbriefvorlesung legt er „lex enim spiritus ‚digito Dei Scripta‘“ aus: „i.e. ‚charitas diffusa in cordibus per spiritum sanctum‘“, WA 56, S.  76,9 f. „Lex spiritus“ begegnet noch 1524 ohne Vorbehalte: WA 15, S.  726,4. 75  Vgl. Bayer, Promissio, wie Anm.  6, bes. S.  157. Luther kommt in seiner probatio zu These 1 gleich zweimal auf Augustins De spiritu et littera zu sprechen, vgl. LuStA 1, S.  200,10. 14 f. Die m. E. für den Disputationsverlauf entscheidende Augustinstelle: „ac per hoc lege, operum dicit deus: ‚fac quod iubeo‘, lege fidei dicitur deo: ‚da quod iubes‘“ (MPL 44, Sp.  214 = CSEL 60, S.  175,21–23) steht zwischen den beiden in der Probation angeführten Belegen. Dieser Gang der Disputation ist durch den aus Augustins Argumentation (vgl. MPL 44, Sp.  209 = CSEL 60, 167,17–23) in Luthers probatio eingedrungenen Begriff der „lex adiuvans“ (LuStA 1, S.  200,11) selbst angelegt. Zur Bedeutung von Augustins De spiritu et littera in der Heidelberger Disputation vgl. auch Thaidigsmann, Identitätsverlangen, wie Anm.  5, S.  24; Reinhard Staats, Augustins „De spiritu et litera“ in Luthers reformatorischer Erkenntnis, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther [VIEG.B 25], Wiesbaden-Stuttgart 1988, S.  365–384, hier: 383; vgl. auch KarlHeinz zur Mühlen (Luthers Kritik am scholastischen Aristotelismus in der 25. These der 72

3.  Zum Verlauf der Heidelberger Disputation

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teresse an dem Gesetz, das die Erfüllung des Geforderten ermöglicht, ist also ebensogut aus dem Verlauf der Disputation und aus Luthers spezifischem Augustinismus, der sich in Heidelberg anlässlich der Disputation der Augustinereremiten vor der Ordensöffentlichkeit präsentierte, wie aus Bucers in dem Bericht angeblich greifbaren Thomismus76 erklärbar. Dieses positive Interesse an der „lex Spiritus divina“ als der dem Menschen geschenkten Möglichkeit der Gesetzeserfüllung ist auch der in der Regel Bucer selbst beigelegten Definition77 des Gesetzes78 als einer ἐντελέχεια79 „Heidelberger Disputation“ von 1518, in: LuJ 48, 1981, S.  54–79, hier bes.: 56 [ND in: Ders., Reformatorisches Profil, hg. Johannes Brosseder und Athina Lexutt, Göttingen 1995, S.  40–65]), der davon spricht, dass die Heidelberger Thesen „das Programm des Wittenberger Augustinismus“ artikulieren, ähnlich auch Leif Grane, Divus Paulus et S. Augustinus, interpres eius fidelissimus, in: FS Ernst Fuchs, hg. v. Gerhard Ebeling, Ernst Jüngel und Gerd Schunack, Tübingen 1973, S.  133–146, hier: 134. Zur Bedeutung Augustins für den jungen Luther im Ganzen vgl. nur Lohse, Bedeutung, wie Anm.  74, passim [Lit.]; zu De spiritu et littera vgl. bes. a.a.O., S.  14–27; Grane, a.a.O., S.  139–144; Hans-Ulrich Delius, Augustin als Quelle Luthers. Eine Materialsammlung, Berlin 1984, S.  171–174; für die früheste Zeit noch immer: Adolf Hamel, Der junge Luther und Augustin, 2 Bde., Gütersloh 1934/5, ND Hildesheim 1980, bes. Bd.  2, S.  38 ff. (zum Gesetz). Zur Wittenberger Augustinrezeption vgl. die bei Manfred Schulze (Via Gregorii in Forschung und Quellen, in: Heiko A. Oberman [Hg.]: Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation [SuR 20], Berlin, New York 1981, S.  1–126, bes. S.  114–121) aufgenommene Diskussion zwischen Heiko A. Oberman und Leif Grane (vgl. Grane, Modus loquendi, wie Anm.  6, S.  135–138) im ARG 68, 1977. Zum diffizilen Problem der Augustinrezeption bei den Augustinereremiten und bes. zur Entdeckung des antipelagianischen Augustin durch Luther vgl. Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis [BHTh 65], Tübingen 1982, S.  303 ff., bes. S.  319–322; zum Wittenberger Augustinismus s. auch Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  1, S.  78 ff. 76  Gegen Greschat, Anfänge, wie Anm.  12, S.  132; ders., Der Ansatz der Theologie Martin Bucers, in: ThLZ 103, 1978, Sp.  83 ff.; ders., Bucer, wie Anm.  12, S.  40 (2. Aufl., S.  38; 40). 77  Vgl. Greschat, Anfänge, wie Anm.  12, S.  131; Zippert, Gottesdienst, wie Anm.  13, S.  15; Koch, Studium Pietatis, wie Anm.  11, S.  12. Oberman (Headwaters, wie Anm.  10, S.  71) benennt Augustins De spiritu et littera als den von Bucer wiedergegebenen „context of interpretation of Luther’s intention“. Die „lex Spiritus“ scheint er aber nicht dem augustinischen Kontext, sondern Bucers eigener Theologie zuschreiben zu wollen. Die von Oberman vorausgesetzte Unterscheidung zwischen Luthers und Augustins Position wäre für die Disputation der These 1 in Heidelberg aber allererst zu erweisen. 78   Greschats beeindruckend geschlossene traditionsgeschichtliche Ableitung von Bucers Gei­ stesbegriff aus Erasmianismus, Thomismus und Neuplatonismus (vgl. ders., Anfänge, wie Anm.  12, S.  129 ff.; ders., Ansatz, wie Anm.  76, Sp.  87; Ders., Bucer, wie Anm.  12, S.  34 ff. [2.  Aufl., S.  32 ff.]) gibt Bucers geistigen Ort zwischen Humanismus und Scholastik aus der Sicht eines Theologiegeschichtlers zwar kongenial wieder, ist aber als Auslegung des Disputationsberichtes insofern wenig überzeugend, als sie die Aussagen Bucers nicht aus der Disputation heraus zu verstehen versucht. Greschat verkennt den literarischen Charakter des Berichtes und behandelt ihn weitgehend als einen eigenständigen theologischen Traktat Bucers. Dies gilt – trotz der Charakterisierung des Briefes an Rhenanus als „Mischung aus Referat und Interpretation“ (1.  Aufl. 1990, S.  39; 2.  Aufl. 2009, S.  38) – auch noch weitgehend für die Sicht, die er in seiner Bucer-Biographie (wie Anm.  12), nach der Bucers Bericht eine durch „eigenes theologisches Interesse“ (Greschat, Bucer. 1.  Aufl. S.  41; geändert in 2.  Aufl. S.  40 in: „Die Frage, ob Bucer Luther hier angemessen verstand, wird schief, wenn sie nicht das eigene theologische Interesse des Dominikaners berücksichtigt.“) geleitete Auseinandersetzung mit Luther sein soll, entfaltet. 79   Fortsetzung des Zitates in Anm.  73: „est lex Spiritus divina quaedam ἐντελέχεια humanae

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§  9  Argumentative Impressionen

zu entnehmen. Möglicherweise ist eben diese Definition auch in der Disputation selbst gefallen und von Bucer eifrig notiert worden, zumal sie in einem Kontext begegnet, der Luthers Gedanken explizit wiedergibt.80 Der radikale hamartiologische Ernst und die exklusive Benennung Christi als des Heilsortes81, ja der von Bucer auch durch ein in Luthers probationes belegtes Schriftwort82 geschilderte Weg Gottes, auf verborgene Weise unter dem Gegenteil zu handeln83, verrät jedenfalls ein nicht geringes Maß an Authentizität. Gerade der besonders Bucer zugeschriebene Begriff der „[lex] Spiritus“ wird von dem Dominikaner als Terminus Luthers wiedergegeben und mit anderen Begriffen analogisiert.84 Dass Christus die Erfüllung des Gesetzes bringt85, ist von Bucers Bericht her ein innerhalb des Disputationsverlaufs wohl denkbarer erster Höhepunkt. Dass die theo­ logische Aussage durch die Römerbriefzitate begründet wird, die auch in Luthers probatio zu These 1 aufgeführt sind, macht die Nähe zum Disputationsverlauf wahrscheinlich. Das Interesse daran, die „lex quatenus carnalis est“86 mit Augustin87 durch eine ihre Erfüllung mit sich bringende lex zu ersetzen, kann wohl besser aus Luthers theologischen Anschauungen erklärt werden, als aus den humanistisch geprägten Neigungen eines Dominikaners, der nach seinem Bücherverzeichnis zum Zeitpunkt der Disputation kein einziges Werk Augustins besaß. Vielleicht waren es auch gerade die für Bucer ganz neuen augustinischen Gedanken Luthers, die ihn menti deitus illapsa, irrequieta, perenni impulsu sursum ciens omnia, qua homo et animo prono iusta percipit et summa cum voluptate operatur.“ Bcor 1, S.  62,95–99. Gerdesius, Introductio, wie Anm.  9, Bd.  1, S.  181, Anm., hat die Bezeichnung der „lex spiritus“ als  Ἐντελέχεια Luther zugeschrieben und aus seinem Studium Taulers und der Theologia deutsch abgeleitet. Zu Tauler und Luther im Zusammenhang mit der Heidelberger Disputation vgl. noch Thaidigsmann, Identitätsverlangen, wie Anm.  5, S.  38 f.; Bornkamm, Thesen, wie Anm.  5, S.  136–138. Zu Luthers Beziehung zu Tauler im Ganzen vgl. Bernd Moeller, Tauler und Luther, in: La Mystique Rhenane, Paris 1963, S.  157–168; Volker Leppin, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme my­ stischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: ARG 93, 2002, S.  7–25; Hamm, Der frühe Luther, wie Anm.  6, S.  240 ff.; zur Präsenz Taulers an der Schwelle zur Reformation grundlegend: Hendrik Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption [QFRG 75], Gütersloh 2003. 80   „Hanc vero ita dari a Deo contendit [sc. Luther], ut nulla prorsus mortalium opera emereri queat.“ Bcor 1, S.  62,99–101. 81   „Etenim cum pluribus se obnoxium sceleribus homo animadvertit, quam nihil sit, quam penitus nihil suo marte queat manifesto admonetur, eoque ceu ansa porrigitur salutis, nempe ut confugiat ad Christum, pastorem et curatorem animarum nostrarum, quoniam ex se, nisi mori, nisi perdi, nihil possit.“ Bcor 1, S.  63,110–115. 82   „Dominus mortificat et vivificat, pauperem facit et ditat.“ 1Sam 2,6 f.; Bcor 1, S.  63,115 f.; Lu­ StA 1, S.  201,20. 83   „[.  .  .] siquidem vivificaturus [sc. Gott], semper mortificat prius, antequam ditat, efficit pauperem, hoc est homini liquido ostendit, quod pauper, quod plane sit mortuus, si non ipsi aspiret vitam opesque largiatur“. Bcor 1, S.  63,116 ff. 84   „Eam ipsam appellari quoque subinde gratiam, nonnunquam fidem, legem vitae, legem Spiritus ac etiam novam legem.“ Bcor 1, S.  62,101–63,102. 85   „Siquidem id demum aiebat [sc. Luther] ad iustitiam promovere, quod, ut illa impleatur, prae­ bet efficaciam, hoc autem ab uno Christo expectetur oportet.“ Bcor 1, S.  63,130–132. 86   Bcor 1, S.  64,143. 87   Vgl. MPL 44, Sp.  215 f. = CSEL 60, S.  177,8–178,25; vgl. Bcor 1, S.  64,144.

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faszinierten – ähnlich wie dies einige Monate zuvor den Wittenberger Kollegen widerfahren war. Weder die Ausführlichkeit, mit der Bucer die These 1 expliziert, noch die Ausführungen selbst geben eindeutig originäre eigene theologische Anschauungen des Heidelberger Studenten zu erkennen.88 Das im Zentrum der Disputation stehende Interesse an einer lex, die ihre Erfüllung mit sich bringt – möglicherweise im Anschluss an Augustins Begriff der lex adiuvans89 – und in Christus ihre Erfüllung findet, ist aus dem Verlauf der Disputation und dem Augustinismus Luthers erklärbar. Möglicherweise war Luther gerade durch seine Verweise auf Augustin von seinen Opponenten genötigt worden, über die negative Bestimmung des Gesetzes hinaus zum Modus seiner Erfüllung fortzuschreiten. An der Disputation von These 1 hätte sich dann schon entzündet, was im Aufriss der Thesen erst später90 vorgesehen war. Der nach gängiger Lutherinterpretation für Luther unspezifische Terminus der „lex Spiritus“ könnte auch durch einen Opponenten Luthers in die Diskussion gebracht und von dem Wittenberger aufgegriffen worden sein. Er ist jedenfalls keineswegs zwingend als ein Begriff anzusehen, der für den Berichterstatter Bucer im Jahre 1518 spezifisch war. Bucers Explikationen zu den folgenden Thesen sind dadurch gekennzeichnet, dass er ihre Wiedergabe in den Kontext einer Gedankenbewegung stellt. Die Thesen stehen nicht voran und werden dann nur ausgelegt, sondern sie bilden gleichsam eine Zusammenfassung und stellen den Abschluss eines Gedankenganges dar. Der Bericht über sie könnte die Argumentationsführung Luthers nachzeichnen. Die von Bucer nicht wiedergegebene Stimme der Opponenten ist allenfalls dort zu greifen, wo ein in den probationes nicht angelegter Disputationsverlauf eingeschlagen wird oder Einwände direkt behandelt werden. In seiner Wiedergabe der zweiten These führt Bucer nicht nur mit Luther Röm 3,10 f. als das einzige auch in Luthers probatio vorgesehene Dictum an91, sondern gibt Luthers in der probatio niedergelegtes a fortiori Argument92 angemessen wieder. Ist das Gesetz Gottes zu schwach, um den Menschen zur Gerechtigkeit zu führen, wieviel weniger vermag dies der Mensch aus eigener Kraft.93 Der Unterschied in der Gedankenführung zwischen Bucers Bericht und Luthers probatio besteht nur darin, dass das, was Luther generalisierend der Unfähigkeit der menschlichen vires zuschreibt94, in Bucers Bericht differenzierter gefasst wird. Bucer gibt das, was Luthers probatio global als Schwäche der menschlichen

88   Jürgens, Funktion, wie Anm.  30, S.  75 f., rechnet mit der Möglichkeit, dass Bucers Ausführungen zu These 1 dem historischen Verlauf der Heidelberger Disputation nahe sind. 89   MPL 44, Sp.  209 = CSEL 60, S.  167,18–23; vgl. LuStA 1, S.  200,11; vgl. oben Anm.  75. 90   Vgl. die Thesen 17; 23; 25; 26; 27; LuStA 1, S.  207,1 ff. 91   Bcor 1, S.  64,16 ff.; vgl. LuStA 1, S.  200,23 f. 92  Vgl. Vercruysse, Gesetz, wie Anm.  5, S.  10. 93   „Quippe si imbecillis et inefficax sit lex Dei, vitae saluberrima doctrina, ut ad iustitiam hominem promoveat, quid conducere arbitrabimur nostrae praescriptum rationis, tanto utique divina lege infirmius, quanto est potentior homine Deus?“ Bcor 1, S.  64,148 ff. 94   LuStA 1, S.  200,19 ff.

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§  9  Argumentative Impressionen

Kräfte benennt, als Gebrechlichkeit der ratio95, als Dunkelheit der mens96, als φιλαυτία97 wieder. Dabei deutet er an98, dass diese Differenzierungen in der Disputation nur am Rande eine Rolle spielten. Das Ziel des Passus, die Offenbarung der „difficultas iusti“99, berührt sich intentional mit Luthers Ausführung in der probatio. In dem Bericht zu These 3 fällt auf, dass Bucer die in Luthers probatio nur angelegte Einsicht100, dass die Werke, die „sine Christo“ getan werden101, verdammlich seien, weiter ausführt. Diesen christologischen Bewertungsmaßstab hatte Luther in seiner probatio nicht vorgesehen. Über die dicta in Luthers probatio hinaus bietet Bucer einen Hinweis auf Hieronymus.102 Vielleicht kam im Verlauf der Disputation das Gespräch auf diesen Kirchenvater. Der in Luthers probatio zu These 3 unternommene Vorgriff auf These 7103, die von den Werken der Gerechten handelt, aber auch einige von Luther angeführte Bibelstellen104 finden sich in Bucers Bericht nicht. Vielleicht spielten sie in der Disputation keine Rolle. Luthers 4. These105 zielt auf das Leben der Gerechten „in abscondito Dei“106. Die opera Dei meinen ein „opus alienum“ Gottes107, durch das er die Menschen in sich demütigt.108 Diese opera seien entweder Züchtigung Gottes oder Selbstanklage des Menschen.109 Sie hätten Demut und Verzicht auf eigene Gerechtigkeit zur Folge. Die in Demut vollbrachten Werke seien unsterblich.110 Bucer gibt die opera dei als die Werke wieder, „quae iusti Deo auctore agunt“111. Diese Werke sind nicht triumphalistische Manifestationen, sondern erscheinen „deformia“112 . Wenn das, was Chri­ stus in ihnen tut, von ihnen abgetrennt würde, erschienen sie als gänzlich wertlos. 95

  Bcor 1, S.  64,150.   Bcor 1, S.  64,152. 97  Ebd. 98   Bcor 1, S.  64,151 ff. 99   Bcor 1, S.  64,160, Kasus von mir geändert, Th.K. 100   „Videntur enim sibi et alijs bona et pulchra [sc. die opera], Sed Deus est, qui non iudicat secundum faciem, sed scrutatur renes et corda. At sine gratia et fide impossibile est mundum haberi cor. Act. 15. Fide purificans corda eorum.“ LuStA 1, S.  201,5–7. 101   Bcor 1, S.  65,182. 102   Bcor 1, S.  65,182 f.; vgl. aber LuStA 1, S.  202, Anm.  351. 103   LuStA 1, S.  201,8 f. 104   Vgl. LuStA 1, S.  201, Anm.  316 ff. 105   „Opera Dei, ut semper sint deformia, malaque uideantur, uere tamen sunt merita immortalia.“ LuStA 1, S.  201,17 f. Zum Problem des meritum-Begriffs in dieser These vgl. Rune Söderlund, Der meritum-Begriff der „Heidelberger Disputation“ im Verhältnis zur mittelalterlichen und zur späteren reformatorischen Theologie, in: LuJ 48, 1981, S.  44–54. 106   LuStA 1, S.  201,24. 107   LuStA 1, S.  201,28. 108   „Et hoc est, quod Esaias cap.  28. uocat, opus alienum Dei, ut operetur opus suum ‚id est, nos humiliat in nobis, desperantes faciens, ut exaltet in sua misericordia, sperantes faciens‘ [.  .  .].“ LuStA 1, S.  201,27–202,1. 109   LuStA 1, S.  202,5 ff. 110   LuStA 1, S.  202,9 f. 111   Bcor 1, S.  65,194. 112   Bcor 1, S.  65,196. 96

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Die Unscheinbarkeit der Werke Gottes ist nach dem Bericht Bucers nicht so sehr von Gottes verborgenem Geschichtshandeln her zu verstehen. Bei Bucer tritt ein chri­s­tologischer Akzent113 stärker in den Vordergrund: Das, was einem in Demut vollbrachten Werk seinen unsterblichen Wert verleiht, ist der in ihm wirksame Christus. Diese unterschiedlichen Aussageakzente in Luthers probatio und in Bucers Bericht über die These 4 stehen in keinem Gegensatz zueinander. Was Luther als Leben „in abscondito Dei“, „id est, in nuda fiducia misericordiae eius“114 bezeichnet, wird von Bucer in christologischen Relationen wiedergegeben. Bucers Referat der 5. These115 und ihrer Auslegung stimmt nicht nur in dem Beweis aus Augustin116, sondern auch in dem Skopus mit Luthers probatio überein: Die opera der Menschen sind „certe mortalia“117, aber nicht „crimina“118, die, wie Ehebruch119 oder ähnliche Verbrechen, anklagbar wären. Bucers Ausführungen zu Luthers 6. These120 enthalten die von dem Wittenberger gebrauchten dicta121 und ein von ihm benutztes Bild.122 Darüber hinaus werden Hiob 9,28 und Ps 143,2123 angeführt, Stellen, auf die Luther erst in seiner probatio zu These 7 zu sprechen kommt.124 Der Skopus seines Berichts und die Reihenfolge der dicta stimmen bei Bucer und in der probatio Luthers vollständig überein. Die durch einen Menschen geschehenen Werke seien Sünde, da der Mensch unaufhörlich zur Sünde geneigt sei.125 Bucers Wiedergabe von These 7 lässt sowohl die bei Luther in vier Schritte gegliederte Beweisführung126 vermissen, als auch eine Reihe der in Luthers probatio enthaltenen Schriftzeugnisse. In Bucers Bericht scheint aber nur weiter ausgeführt zu sein, was in Luthers erstem Teil seiner probatio zu These 7127 gesagt wird. Bucer spricht davon, dass ein Christ Gott das Gute und sich selbst das Schlechte zuzuschreiben habe.128 Luther formuliert grundsätzlicher, dass auf ein Werk zu vertrauen bedeute, Gott die Ehre zu rauben und sich zu Gott zu erheben.129 Luthers 113

  Bcor 1, S.  65,196 ff.   LuStA 1, S.  201,24 f. 115   „Non sic sunt opera mortalia ‚de bonis, ut apparent loquimur‘ ut eadem sint crimina.“ LuStA 1, S.  202,12 f. 116   MPL 44, Sp.  749; vgl. LuStA 1, S.  202,16 f.; Bcor 1, S.  65,208. 117   Bcor 1, S.  65,204; vgl. LuStA 1, S.  201,14. 118   Bcor 1, S.  65,207; vgl. LuStA 1, S.  201,14. 119   Bcor 1, S.  65,208; LuStA 1, S.  201,14. 120   „Non sic sunt opera Dei merita ‚de his, quae per hominum fiunt, loquimur‘ ut eadem non sint peccata.“ LuStA 1, S.  202,19 f. 121   Pred 7,21: Bcor 1, S.  66,220 f. = LuStA 1, S.  202,21; Spr 24,16: Bcor 1, S.  66,226 f. = LuStA 1, S.  202,27. 122   Vgl. Bcor 1, S.  66,231 mit LuStA 1, S.  202,28 f. 123   Bcor 1, S.  66,235 ff. 124   LuStA 1, S.  203,9. 125   Bcor 1, S.  66,234. 126   Vgl. LuStA 1, S.  203,1 ff. 127   LuStA 1, S.  203,3 ff. 128   Bcor 1, S.  66,245 ff. 129   LuStA 1, S.  203,4 f. 114

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§  9  Argumentative Impressionen

probatio und Bucers Bericht beurteilen den Vorgang des Sich-selbst-Gefallens130 als Raub an Gottes Ehre131 und als „perversitas“132 . Signifikant ist erneut die christologische Konzentration, in der Bucers Bericht über Luthers probatio hinausgeht. Spricht Luther davon, dass sich der Gerechte in Gott gefalle („in Deo sibi placeret“)133, so betont Bucer, dass das fromme Werk in und durch Christus seinen Wert erhält.134 Auch diese Ausführungen sind sehr wohl als Wiedergabe des Disputationsverlaufs erklärbar. Dass der zweite bis vierte Argumentationsschritt aus Luthers probatio in Bucers Bericht fehlt, muss nicht zu Lasten des Dominikaners gehen, der ja immerhin alle von Luther beigebrachten Autoritäten aufzeichnet. Dass die Gerechten Gott mit Furcht begegnen135, während die, die auf sich selbst vertrauen, „superbia“ erkennen lassen136, entwickelt Bucer in Parallelität zu Luthers probatio zu These 8. In seiner Explikation der These 9 legt Bucer erneut den Akzent auf die in Luthers probatio erst am Schluss stehende christologische Pointe.137 Sich selbst etwas Gutes zuzuschreiben, erscheint als Raub an Gottes Ehre.138 Sie führe zur vergottenden Selbstüberhebung des Menschen139 und sei allein in Christo überwunden.140 Auch die Ausführungen Bucers zu These 10 lassen keine eigene theologische Akzentuierung des Berichterstatters erkennen. In zum Teil stärkstem Anklang an Wendungen, die zugleich in Luthers probationes belegt sind141, und unter Verwendung auch von Luther gebrauchter Bibelworte142, gibt Bucer nichts erkennbar anderes als den mutmaßlichen Disputationsverlauf wieder. Zu These 11143 führt Bucer als Skopus an, dass auch der gerechte Mensch sich darin verfehle, dass er keine restlose Preisgabe an Christus, keinen gänzlichen Verzicht auf Selbstliebe vollziehe.144 Luther spricht ‚augustinischer‘ von einem „confidere in creaturam“145. Einig sind sich der 130   „[.  .  .] sibi ipsi placere fruique se ipso“, Bcor 1, S.  67,256; „[.  .  .] sibi placere, fruique seipso“, LuStA 1, S.  203,6 f. 131   „[.  .  .] gloriam aufferre Deo“, Bcor 1, S.  67,256; „[.  .  .] sibi gloriam dare, et Deo aufferre“, LuStA 1, S.  203,4 f. 132   LuStA 1, S.  203,6; Bcor 1, S.  67,258. 133   LuStA 1, S.  203,8. 134   Vgl. Bcor 1, S.  67, 248. 251. 254. 260. 265 f. 135   Bcor 1, S.  67,272 f. 136   Bcor 1, S.  67,281; LuStA 1, S.  204,5. 137   Vgl. LuStA 1, S.  204,14 f. 138   Vgl. LuStA 1, S.  204,10 f. 139   Bcor 1, S.  68,289 ff.; vgl. Bcor 1, S.  68, Anm.  27. 140   Bcor 1, S.  68,287 ff. 141   Vgl. Bcor 1, S.  68,314 mit LuStA 1, S.  204,19 f.; Bcor 1, S.  69,323 f. mit LuStA 1, S.  204,25; Bcor 1, S.  69,326 mit LuStA 1, S.  204,27. 142   Spr 15,8: Bcor 1, S.  69,321 = LuStA 1, S.  204,23. Bucer bringt noch Jes 1,13 f. (Bcor 1, S.  69,319 f.) und Ex 20,3 (Bcor 1, S.  68,310 f.) über das in Luthers probatio Enthaltene hinaus. 143   „Non potest uitari praesumptio, nec adesse uera spes, nisi in omni opere timeatur iudicium damnationis“. LuStA 1, S.  204,29 f. 144   Bcor 1, S.  69,328 ff. 145   LuStA 1, S.  205,2; Verbform von mir geändert, Th.K.

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Disputator und sein Berichterstatter freilich darin, dass die ausnahmslose Verfehlung des Menschen angesichts des Gerichts Angst hervorrufe.146 Bucer und Luther fassen These 12147 als Konsequenz des Voraufgehenden auf148 und behandeln sie nur kurz. Auch die Disputation scheint zügig über sie hinweggeschritten zu sein. Das in These 13 vertretene liberum arbitrium wird von Bucer in völliger Entsprechung zur probatio Luthers und mit dem bei dem Wittenberger aufgeführten Augu­ stinbeleg149 und den Schriftbeweisen150 wiedergegeben. In beiden Texten erscheint These 13 als Konsequenz der Thesen 1–12.151 Bucers Ausführungen zu These 14 gehen zwar in der exakten Bestimmung dessen, wie der Wille Gottes den Willen des Menschen so bestimme, dass das Gute nicht nur dargeboten und vom Menschen frei gewollt werde, sondern auch sein Wollen ganz von Gott bestimmt sei152, über das, was Luther in probatio 14 vorsieht, hinaus. Die Ausführungen sind freilich nichts anderes, als eine Auslegung des Luthersatzes: „Liberum autem arbitrium est mortuum [.  .  .].“153 Die Thesen 14–16 scheinen in Heidelberg nurmehr summarisch behandelt worden zu sein. Die Väterbeweise154, die Luther anführte, notiert Bucer aufmerksam. Keine der Thesen 14–16 zitiert er jedoch im Wortlaut. Dennoch bezeugen speziell seine Ausführungen zu These 16155 und ihre formale und inhaltliche Nähe zu Luthers entsprechender probatio, dass Bucer auch diese Schlussphase der Disputation aufmerksam protokollierte. Der abschließende Rekurs auf These 25 scheint nicht nur von Bucer als Zusammenfassung verstanden worden zu sein156, sondern könnte den Schlusspunkt der Disputation gebildet haben. Die mit einem Pauluszitat157 zugespitzte Alternative: „non opera eum, verum fidem efficere iustum: ‚justus enim ex fide vivit‘“158 fasst die Ausführungen Luthers unter dem Begriff des Glaubens zusammen, der in den Thesen bisher nicht vorkam.159 146

  Bcor 1, S.  69,334 f., 34 ff.; LuStA 1, S.  205,2 f.   „Tunc uere sunt peccata apud Deum uenialia, quando timentur ab hominibus esse mortalia.“ LuStA 1, S.  205,6 f. 148   Bcor 1, S.  69,346 f.; LuStA 1, S.  205,8. 149   Bcor 1, S.  70,361 f.; LuStA 1, S.  205,18. 150  Joh 8,34: Bcor 1, S.  69,351 f.; LuStA 1, S.  205,14 ff.; Hos 13,9: Bcor 1, S.  70,362; LuStA 1, S.  205,20 f. 151   Vgl. LuStA 1, S.  205,14; Bcor 1, S.  70,356 f. Von einem „gewissen Befremden“ Bucers (so Moel­ ler, Humanisten, wie Anm.  10, S.  53 [ND S.  103] im Anschluss an Baum, Capito, wie Anm.  14, S.  99) vermag ich bei der Wiedergabe der These zum servum arbitrium nichts wahrzunehmen. 152   Vgl. Bcor 1, S.  70, 364 ff. 153   LuStA 1, S.  205,26. 154   Vgl. LuStA 1, S.  205,27 f.; 206,4 f.; Bcor 1, S.  70,372 ff. 155   Vgl. die wörtlichen Anklänge Bcor 1, S.  70,378 und LuStA 1, S.  206,19; Bcor 1, S.  70,379; Lu­StA 1, S.  206,18; Bcor 1, S.  71,384 und LuStA 1, S.  206,26. 156   Vgl. Bcor 1, S.  71,384 ff.; vgl. im Ganzen zur Mühlen, Kritik, wie Anm.  75, bes. S.  63 ff. 157   Röm 1,17, vgl. Röm 10,10; Bcor 1, S.  71,388 f.; LuStA 1, S.  210,22 ff. 158   Bcor 1, S.  71,387 f. 159   Der fides-Begriff begegnet in den Thesen 1–24 gar nicht und nur in den probationes zu These 147

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§  9  Argumentative Impressionen

4. Schlussfolgerungen Die Analyse von Bucers Bericht über die Heidelberger Disputation zeigt, dass die Ausführungen des Dominikaners mit den probationes zu Luthers Thesen weitgehend schlagende Übereinstimmungen aufweisen. Diese starke Kongruenz macht es sehr wahrscheinlich, dass seine Berichterstattung in hohem Maße authentisch ist. Persönliche theologische Akzente Bucers sind seinem Bericht an keiner Stelle zweifelsfrei zu entnehmen. Die Tatsache freilich, dass Bucer diesen Bericht schrieb und mit ihm eine wohl annähernd getreue Wiedergabe der Heidelberger Disputation an den Humanistenfreund schickte, zeigt, dass er ein eminentes Interesse an der Heidelberger Theologie Luthers hatte.160 Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation ist aber weniger eine Quelle für die Theologie ihres Verfassers als vielmehr das einzige zuverlässige Dokument, das darüber informiert, was tatsächlich in Heidelberg disputiert wurde. Im Zentrum der historischen Heidelberger Disputation stand das Problem von Gnade und Werken, das Luther in engem theologischen Anschluss an Augustin entwickelte. Dieses theologische Zentrum sollte beachtet werden, wenn man nach der spezifischen theologischen Wirkung fragt, die diese Disputation als wichtiges „Anfangsdatum der südwestdeutschen Reformation“161 auf diejenigen ausübte, die als Heidelberger Studenten bei der Disputation anwesend waren162 und aus deren Kreis sich kein unwesentlicher Teil der reformatorischen Führungselite Südwestdeutschlands rekrutierte. Das älteste erhaltene Zeugnis für Bucers Auseinandersetzung mit der Theologie Luthers lässt jedenfalls ein durch seine humanistische

3 (LuStA 1, S.  201,7) und These 17 (S.  207,9), ohne dass man sagen könnte, dass er den Charakter eines Leitbegriffes hätte. Dass dieser für Luther so entscheidende Begriff erst in These 25 (vgl. 26) begegnet, zeigt den summierenden Charakter von These 25 für die ganze Thesenreihe. Gerade diese Beobachtung legt es nahe, dass Luther These 25 am Schluss der Disputation, „die sich demnach hauptsächlich mit der Werkgerechtigkeit auseinandergesetzt hat“ (Scheible, Universität, wie Anm.  1, S.  316 [ND S.  378]), zur Sprache brachte. Wenn auch die Thesen 17–24, 26–28 gar nicht diskutiert wurden, so ist angesichts des bedeutenden Themas von Glaube und Werken verständlich, dass Frecht urteilen konnte, Luther habe „omnem suam theologiam“ (Friedensburg, Brief, wie Anm.  4, S.  391) disputiert. 160   Die Heidelberger Disputation gilt deshalb zu Recht als ein einschneidendes Ereignis in Bucers theologischer Entwicklung, vgl. Bcor 1, S.  91,lff; 98,44 ff.; Greschat, Anfänge, wie Anm.  12, S.  133 ff.; Hasting Eells, Martin Bucer, New Haven 1931, S.  4 f.; Baum, Capito, wie Anm.  14, S.  96 ff.; Koch, Studium Pietatis, wie Anm.  11, S.  12 ff.; Zippert, Gottesdienst, wie Anm.  13, S.  10 ff.; Krüger, Bucer, wie Anm.  13, S.  45 f. Die bis 2002 erschienene Literatur zu Bucer ist der von Holger Pils/Stephan Ruderer und Petra Schaffrodt erstellten Bibliographie, Gütersloh 2005 zu entnehmen. 161   Brecht/Ehmer, Reformationsgeschichte, wie Anm.  10, S.  55; Volker Leppin spricht vom „Funkenschlag in den Südwesten“, Martin Luther, Darmstadt 2006, S.  126. 162   Vgl. die Listen bei Brecht/Ehmer, Reformationsgeschichte, wie Anm.  10, S.  55; Schwarz, Luther, wie Anm.  4, S.  67. Als gesichert kann die Teilnahme von Johannes Brenz, Theobald Billican, Franz Irenicus, Erhard Schnepf und Martin Frecht gelten; die Teilnahme Johannes Isenmanns, Paul Fagius’ und Sebastian Francks ist möglich oder wahrscheinlich.

4. Schlussfolgerungen

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Prägung bedingtes „Mißverständnis“163 der Heidelberger Thesen nicht zweifelsfrei erkennen.164 Der ‚Heidelberger Luther‘ war schwerlich ein Grund jener eigentümlichen theologischen Entwicklungen, die später im oberdeutschen Raum wirksam werden sollten. Ein wichtiges Moment alles weiteren war sicher auch, dass der Wittenberger Professor kein statischer Referenzpunkt war und seine Theologie in den kommenden Jahren nicht still stand, sondern ein dynamischer Faktor der sich verdichtenden Kommunikation der frühreformatorischen Bewegung wurde. Die Frage nach der ‚Einheit und Vielfalt‘ der Reformation165 ist im Kern auch eine Frage nach der ‚Einheit und Vielfalt‘ Luthers.

163

  Brecht/Ehmer, Reformationsgeschichte, wie Anm.  10, S.  54.   Ein nach Moeller für die frühe humanistische Lutherrezeption im Ganzen charakteristisches „produktives Missverständnis“ des Wittenbergers (Humanisten, wie Anm.  10, S.  54 [ND S.  105]; zum Problem vgl. auch Lewis W. Spitz: The Third Generation of German Renaissance Humanists, in: Archibald Ross Lewis [Hg.]: Aspects of the Renaissance, Austin/Texas, London 1967, S.  105–121; Junghans, Luther, wie Anm.  43, S.  288–304; vgl. noch Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: ZHF 15, 1988, S.  65–92, bes. 74–81; wiederabgedruckt in: Ders., LutherRezeption, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S.  15–41, hier bes. 24–32) sollte in Hinblick auf die jeweilige theologische Entwicklung für Bucer und vielleicht auch für diejenigen jungen Humanisten, die sich später der Reformation anschlossen, eingehender geprüft werden. Dies gilt auch für die literarisch vermittelte Rezeption der Heidelberger Disputation, wie sie für einen Mann wie Capito, der durch Bucers Bericht an Rhenan von den Inhalten wusste (vgl. Bcor 1, S.  73,10 ff.), vorstellbar ist. Könnte Luthers eigentümliche Rezeptionsgeschichte gerade in Oberdeutschland damit zusammenhängen, dass der dort zunächst berühmt gewordene Wittenberger Theologe noch keine im strikten Sinn etwa Bayers (s. Anm.  6) „reformatorische“ Theologie vertreten hätte? 165   Vgl. das Büchlein: Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995. 164

§  10  Publizistische Mobilisierung: Anonyme Flugschriften der frühen Reformation 1.  Einleitende Bemerkungen Anonyme Flugschriften scheinen vor der reformatorischen Flugschriftenwelle der frühen 1520er Jahre „eine Ausnahme“1 gewesen zu sein. Im Zuge der reformatorischen Flugschriftenpublizistik hingegen werden sie ein Massenphänomen, das mit der Ausbildung der sog. reformatorischen Öffentlichkeit in einem genuinen Zusammenhang steht. Für die volkssprachliche anonyme Flugschriftenpublizistik der frühen Reformation lässt sich keine wirklich überzeugende Vorläufertradition namhaft machen; in literarhistorischer und kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht stellt sie ein qualitativ und quantitativ neuartiges Phänomen dar, ein Moment des Umbruchs, unbeschadet dessen, dass einzelne literarische Motive und fingierte Rollenkonzepte, etwa die Narrenfigur, die in anonymen Flugschriften eine wichtige Rolle spielen, ihrerseits in komplexen Traditionsbezügen stehen. Der Verwendung anonymer und pseudonymer lateinischer Publikationen bei den Humanisten dürfte freilich eine wichtige Bedeutung hinsichtlich der Ausbildung einer anonymen reformatorischen Flugschriftenpublizistik in der Volkssprache zukommen. In der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit anonymen Flugschriften haben besonders zwei Aspekte eine Rolle gespielt. In der älteren Forschung, etwa bei Oskar Schade2, August Baur3 oder Karl Hagen4, galten die volkssprachlichen Flugschriften im Allgemeinen, die anonymen oder pseudonymen deutschen Flugschriften im Besonderen als Reflex oder Beweis der Volkstümlichkeit der Reformation, ihrer tiefen Verwurzelung im Volk und der „energische[n] Beteiligung“5 des ‚gemeinen Mannes‘ an ihr. Für Baurs gleichermaßen gegen einen konfessionellen wie gegen ei1   Carl Diersch, Art. Anonymität, in: RDL, Bd.  1, Berlin u. a. 1958, S.  66–68, hier: 66; vgl. JanDirk Müller, Art. Anonymität, in: RDL2, Bd.  1, Berlin u. a. 1997, S.  89–92, hier: 91. 2   Oskar Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd.  1–3, Hannover 21863, ND Hildesheim 1966, bes. Einleitung zu Bd.  1, S.  V f. Zu Schade instruktiv: Matthias Janßen, Oskar Schade (1826–1906), in: Dietrich Rauschning/Donata von Nerée (Hg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren [JAUK 29], Berlin 1995, S.  185–202. 3   August Baur, Deutschland in den Jahren 1517–1525. Betrachtet im Lichte anonymer und pseudonymer deutscher Volks- und Flugschriften, Ulm 1872. 4   Karl Hagen, Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, bes. Bd.  2, Erlangen 1843, S.  176 ff.; 208 ff.; 219 ff. 5   Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  1, S.  V.

1.  Einleitende Bemerkungen

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nen unionsprotestantischen Dogmatismus gerichtetes Interesse an den anonymen Flugschriften ist die These charakteristisch, der „Baum des Protestantismus [sei] nicht dem dogmatischen Boden entwachsen [.  .  .], sondern dem Leben des Volkes“6. Während die „Schriften, die ihren Verfasser äußerlich nennen“, „ihrem Wesen nach Schriften an das Volk und für das Volk“ seien, wären die anonymen Flugschriften „Werke aus dem Volk selbst, unwillkürliche Äußerungen aus seiner Mitte, der Widerhall dessen, was zu ihm als zündendes Wort der Führer gedrungen ist“7. Dieser ‚sozialromantische‘ Versuch, die Stimme des Volkes aus den anonymen deutschen Flugschriften selbst vernehmbar zu machen, dürfte nach allem, was man heute über die kontextuellen sozialen Bedingungen spätmittelalterlich-frühmoderner Literarizität zu wissen meint, kaum mehr ernsthaft diskutabel sein. Der zweite Aspekt, unter dem anonyme Flugschriften die Forschung bis heute beschäftigen, ist der der hypothetischen Autorensuche. Das Fehlen eines Verfassers scheint das Verstehen eines Textes zu behindern oder unmöglich zu machen, die Auflösung der Anonymität allererst die historisch unerlässlichen Verstehensbedingungen zu schaffen. Auch wenn die etwa von Alfred Götze8, Paul Merker9 und auch Otto Clemen10 exzessiv und positivistisch angewandte stil- und dialektkritische Zuschreibungsmethode nur mehr zögernd oder gar nicht praktiziert wird – die von den genannten Autoren gegenüber der älteren Forschung eingeleitete Trendwende in der Beschäftigung mit anonymen Flugschriften erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Gaben die anonymen deutschen Flugschriften etwa für Baur die ‚Stimme des Volkes‘ wieder, so ist für die genannte Forschungsrichtung der einzelne, zumeist mit einer ohnehin gut bekannten Persönlichkeit des Zeitalters identifizierte Autor das eigentliche Forschungsziel. Im Horizont der Autorensuche wurde der für die ältere Forschung entscheidende Gesichtspunkt, anonyme Flugschriften als ein spezifisches und allgemeines Phänomen zu untersuchen, weitgehend aufgegeben.11 Unter dem 6

  Baur, Deutschland, wie Anm.  3, S.  8 ; vgl. 6 f.   Baur, a.a.O., S.  10; Kursive im Original gesperrt. Die Quellenbasis für Baurs Versuch, die frühe Reformation (1517–1525; vgl. S.  8 f.) von den anonymen oder pseudonymen Flugschriften her darzustellen, besteht weitgehend in Schades Satiren und Pasquillen (wie Anm.  2). 8   Vgl. nur: Alfred Götze, Martin Butzers Erstlingsschrift, Leipzig 1907 (ARG 4, 1906/7, S.  1– 64); ders., Urbanus Rhegius als Satiriker, in: ZDP 37, 1905, S.  66–113; ders., Ein Sendbrief Eberlins von Günzburg, in: ZDP 36, 1904, S.  145–154. 9   Vgl. nur: Paul Merker, Der Verfasser des Eccius dedolatus und anderer Reformationsdialoge, [Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig 2, Neugermanistische Abteilung, Heft 1], Halle 1923. 10   Vgl. z. B. Otto Clemen, Henricus Phoeniceus = Urbanus Rhegius, in: Ders., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, hg. von Ernst Koch, Bd.  1–9, Leipzig 1982–1988, hier: Bd.  1, S.  512– 521; ders., Philadelphus Regius = Urbanus Rhegius? in: a.a.O., Bd.  6, S.  43–50; ders., Das Pseudonym Symon Hessus, in: a.a.O., Bd.  1, S.  328–354. 11   Wichtige Anregungen auch zum Umgang mit anonymen Flugschriften bietet: Heinz Scheible, Reform, Reformation, Revolution. Grundsätze zur Beurteilung der Flugschriften, in: ARG 65, 1974, S.  108–134 (ND in: Ders., Melanchthon und die Reformation, hg. von Gerhard May und Rolf Decot [VIEG.B 41], Mainz 1996, S.  442–469); in methodischer Hinsicht bezüglich der Kriterien für Verfasserzuschreibungen anonymer Flugschriften vorbildlich: Traugott Schieß, Hat Vadian deutsche Flugschriften verfaßt? in: FS Hermann Escher, Zürich 1927, S.  66–97 (ND in: 7

358

§  10  Publizistische Mobilisierung

Aspekt der Autorensuche geriet die Beschäftigung mit der Anonymität in der reformatorischen Flugschriftenpublizistik in den Bann der These, viele der ungenannten Autoren hätten deshalb anonym geschrieben, weil ihnen der „Mut [.  .  .] für das, was sie schrieben, einzustehen“12, gefehlt habe. Die zunächst ganz vorläufige Feststellung freilich, dass es auf den Gesamtbestand geurteilt vornehmlich bestimmte literarische Formen, vor allem Dialoge, waren, die anonym erschienen – unter den Dialogflugschriften dürften ca. 50% ohne authentischen Verfasserhinweis publiziert worden sein –13, könnte zu einer gewissen Skepsis gegenüber der dominierenden These, es sei allein die Not eines Autors, die ihn das Inkognito wählen lasse, Anlass geben. Im Folgenden soll die These begründet werden, anonyme Flugschriften der frühen Reformation stellten ein spezifisches publizistisches Phänomen sui generis dar und spiegelten eine bestimmte, reflektiert eingesetzte Publikationshaltung, die mit der Reformation als Umbruchvorgang und mit der Konstituierung einer reformatorischen Öffentlichkeit14 wesentlich zusammenhängt. Die Frage nach dem „reformatoDers., Beiträge zur Geschichte St. Gallens und der Ostschweiz, St. Gallen 1932, S.  181–215 [vor allem zum Karsthans]), sowie: Hans-Georg Hofacker, „Vom alten und nüen Gott, Glauben und ler“. Untersuchungen zum Geschichtsverständnis und Epochenbewußtsein einer anonymen reformatorischen Flugschrift, in: Josef Nolte u. a. (Hg.), Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit in Flugschriften und Kleinliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert [SMAFN 2], Stuttgart 1978, S.  145–177, und das Korreferat von Heinz Scheible, a.a.O., S.  178–188 = ders., Melanchthon, wie oben, S.  470–480; vgl. zu der Schrift Vom alten und nüen Gott auch unten III, §  13, Anm.  99; §  13, Abb.  6. Zur Debatte um Bucer als Verfasser des Neu-Karsthans als Beispiel einer aporetischen und in Bezug auf die Kriterien der Urteilsbildung problematischen Diskussion zuletzt: Siegfried Bräuer, Bucer und der Neukarsthans, in: Christian Krieger/Marc Lienhard (Hg.), Martin Bucer and Sixteenth Century Europe, 2 Bde. [SMRT 52 f.], Leiden u. a. 1993, Bd.  1, S.  103– 128; Christoph Markschies, Die eine Reformation und die vielen Reformen oder: Braucht evangelische Kirchengeschichtsschreibung Dekadenzmodelle? In: ZKG 106, 1995, S.  18–45; moderat gehandhabte dialektkritische Zuschreibungskriterien bringt Gisela Möncke als Zusatzargumente bei der Zuschreibung einer anonymen Flugschrift in Anwendung: Die ‚Neue Zeitung‘ vom Konzil zu Mantua. Eine unbekannte Schrift Johann Hoffmeisters, in: ZKG 106, 1995, S.  295–312. 12   Diersch, Art. Anonymität, wie Anm.  1, S.  66. Ähnlich Müller, Anonymität, wie Anm.  1, S.  91: „So dürfte schon die Anonymität des größten Teils der Reformationspublizistik mit Furcht vor Sanktionen zu erklären sein [.  .  .].“ 13   Vgl. den Hinweis bei Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, S.  21 f., Anm.  12, der in Bezug auf ein Sample von 122 lateinischen und deutschen Dialogflugschriften zwischen 1518 und 1525 einen Anteil von 47,5% anonym oder pseudonym erschienenen Werken berechnet hat. Unter den lateinischen Dialogen dürfte die Pseudonymität, unter den deutschen die Anonymität dominieren. Vgl. zu den Dialogen auch: Alejandro Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Dialogflugschriften, in: ARG 88, 1997, S.  77–117; zu literaturwissenschafltichen Beiträgen zur Reformationsliteratur instruktiv: Werner Röcke/Marina Münkler (Hg.), Die Literatur im Übergang von Mittelalter zu Neuzeit [dtv 4343], München 2004. 14   Zu dem Begriff und seinen forschungsgeschichtlichen Implikationen vgl. die instruktive Forschungsübersicht von Heike Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit, in: IASL, Forschungsreferate 3, 6. Sonderheft, 1994, S.  1–26. Einschlägig auch Bernd Moel­ler, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: Hartmut Boockmann (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts [AAWG.PH 3, 206], Göttingen 1994, S.  140–155 (ND in überarbeiteter Form in: Ders., Luther-Rezeption, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S.  73–90); vgl. Holger Flachmann, Martin Luther und das

1.  Einleitende Bemerkungen

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rischen“ Profil dieser anonymen Flugschriftenliteratur wird im Folgenden insofern restriktiv und pragmatisch behandelt, als nicht von materialen theologischen Aussagen auf der Inhaltsebene ausgegangen wird, sondern die Flugschriften ausschließlich als literarische Akte einer gezielten Parteinahme für die maßgeblich von Luther ausgehende Bewegung interpretiert werden. In publizistischer Hinsicht ist das „Reformatorische“ zunächst und vor allem eine spezifische Form der Parteinahme, unabhängig davon, wie die rezeptionsgeschichtliche Stellung zu bestimmten Inhalten reBuch [SuR N. R. 8], Tübingen 1996, bes. S.  174 ff. Der Begriff der „reformatorischen Öffentlichkeit“ scheint durch Schutte, Frühformen, wie Anm.  58, S.  8 ff., wieder neu eingeführt worden zu sein. Vgl. ansonsten die Hinweise bei Talkenberger, a.a.O., S.  18 ff.; Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S.  123 ff.; weitere Hinweise in: Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Hergotts Kanzlei“ 1548–1551/2 [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  65 ff. [Lit.]; Johannes Schwitalla, Flugschriften [Grundlagen der Medienkommunikation 7], Tübingen 1999. Freilich spielte der Begriff schon in den 1930er Jahren eine Rolle. Vgl. Arnold E. Berger, Der Einfluß der Flugschriften auf die öffentliche Meinung, in: Ders., Die Sturmtruppen der Reformation, Leipzig 1931 (ND Darmstadt 1967), S.  5 –42, und – wohl davon abhängig – bei Werner Elert, vgl. meine Nachweise in ZThK 93, 1996, S.  232 f. mit Anm.  147. Neben der quantitativen Veränderung, die mit der Massenhaftigkeit der Flugschriftenproduktion verbunden war, betont Talkenberger in Bezug auf die „reformatorische Öffentlichkeit“ zu Recht, dass „zuvor keine derartige Vielfalt von Medien unter gezielter Ansprache des gemeinen Mannes auf breiter Ebene mit dem Zweck der Beeinflussung der öffentlichen Meinung zusammenwirkte“ (a.a.O., S.  21). Moeller sieht die kommunikationsgeschichtliche Neuheit der „reformatorischen Öffentlichkeit“ vor allem darin, „daß die Verfasser ihre Meinung zur Sache deutlich aussprachen und ihren Lesern nahebrachten“ (Kommunikationsprozeß, S.  146 [ND S.  79]). Freilich dürfte das Verhältnis von Autoren und Lesern in starkem Maße von Wechselseitigkeit geprägt sein. Die Sensibilität in der Wahrnehmung von Leserbedürfnissen entschied ja auch über den Erfolg einer Flugschrift. Die „reformatorische Öffentlichkeit“ dürfte wesentlich mit einem sei es imaginierten, sei es intendierten oder gar realisierten neuartigen Beziehungsverhältnis von Lesern und Autoren zusammenhängen. In Bezug auf den publizistisch komplexen Beitrag der Flugblätter zum reformatorischen Kommunikationsprozess vgl. Beyer, Eigenart, wie Anm.  110, S.  163 ff. Bei den Flugblättern ist von einer Anonymitätsquote von ca. 80% auszugehen, vgl. die Hinweise bei Harry Oelke, Die Konfessionsbildung im 16. Jahrhundert im Spiegel illustrierter Flugblätter [AKG 57], Berlin/New York 1992, bes. S.  102–105. Die publizistische Bedeutung des Mediums Flugblatt scheint daher nur unter weitgehender Ausblendung der Autorenperspektive überhaupt angemessen erfaßbar zu sein. Oelke geht davon aus, dass die im Verlauf des 16. Jahrhunderts restriktiver und systematischer gehandhabte Zensurpraxis in Bezug auf die Flugblätter die Publikation ohne Autorenangabe „gefördert“ habe, a.a.O., S.  103. Hierin scheint eine signifikante Differenz zwischen der langfristigen und dominierenden Bedeutung der Anonymität für das Medium Flugblatt und seiner relativ großen, zeitlich freilich eng befristeten Bedeutung für die Flugschrift zu sehen zu sein. Zur besonderen Bedeutung der Anonymität bei literarischen Kleinformen vgl. auch Wolfgang Harms, Anonyme Texte bekannter Autoren auf illustrierten Flugblättern des 17. Jahrhunderts. Zu Beispielen von Logau, Birken und Harsdörffer, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 12, 1985, S.  49–58, bes. 50–52; vgl. auch Harms, Flugblätter, Bd.  1, wie Anm.  110, S.  X X; vgl. XVI; XXII f.; vgl. auch: Silvia Serena Tschopp, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pround antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635 [Mikrokosmos 21], Frankfurt/M. u. a. 1991, bes. S.  87 ff. Die von mir in Bezug auf die Flugschriften vertretene Deutung der Anonymität als intendierter oder in Anspruch genommener Allgemeingültigkeit ist auch für die Flugblätter einschlägig. Oelke formuliert: „Durch das Abstrahieren von allen individuellen Zügen ließ sich eine größere Verbindlichkeit und eine Steigerung der Allgemeingültigkeit der im Text gemachten Aussage erreichen“. A.a.O., S.  103.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

formatorischer Theologie bestimmbar sein mag.15 Der historischen Bezogenheit anonymer Flugschriften auf die lokalen Diskussionszusammenhänge ihrer mutmaßlichen Entstehungsorte soll dabei besondere Aufmerksamkeit zukommen. Quantifizierende Hinweise zum Anteil anonymer Publikationen am geschätzten Gesamtvolumen der ca. 10.000 Flugschriftenausgaben zwischen 1501 und 153016 sind nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung nicht möglich. Man hat sich deshalb auf einige relative Angaben zu den anonymen Flugschriften zwischen 1520 und 1525 zu beschränken; ihnen kommt gleichwohl eine gewisse Aussagekraft zu. Sie basieren im wesentlichen auf den Bibliographien von Pegg und den ersten drei Bänden der Köhlerschen Flugschriftenbibliographie. Alle diese Angaben sind mit gewissen Vorbehalten zur Kenntnis zu nehmen, da bei vielen anonymen Flugschriften nicht nur die Erscheinungsorte und die Drucker, sondern auch die Erscheinungsjahre erschlossen sind. Die Angaben beschränken sich auf anonyme Flugschriften unter Ausschluss der Dialoge; auch Aktenpublikationen und chronistische Berichte sind ebenso wenig berücksichtigt wie Flugschriften benannter Körperschaften oder Institutionen. Folgende ganz vorläufige Ergebnisse seien knapp rekapituliert: 1. Zwischen 1519 und 1520 scheint sich die Zahl der anonymen Flugschriften mehr als verdoppelt zu haben. 2. Seit 1520/21 ist die dominierende Sprache der anonymen Flugschriften die deutsche. Diese Beobachtungen konvergieren mit den einschlägigen quantitativen Ergebnissen zur reformatorischen Flugschriftenpublizistik im Ganzen und bedürfen keiner weiteren Begründung.17 3. Die größte Menge anonymer Flugschriften erschien 15   Die von mir gewählte formale Bestimmung des ‚Reformatorischen‘ als Parteinahme zunächst zugunsten Luthers und seiner Lehre steht in einer kritischen Beziehung zur Bestimmung des Reformatorischen primär von den theologischen Inhalten der Flugschriften her, s. dazu auch oben §  1. Zu der stark an der Frage der rezeptionsgeschichtlichen Beziehung reformatorischer Flugschriften zu Luther orientierten Forschung vgl. v. a.: Thomas Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521/22 [SuR N. R. 6], Tübingen 1996; Bernd Moel­ler/Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 [AAWG. PH 3, 220], Göttingen 1996. Schon Gottfried Blochwitz (Die antirömischen deutschen Flugschriften der frühen Reformationszeit [bis 1522] in ihrer religiös-sittlichen Eigenart, in: ARG 30, 1927, S.  145–254) hat sich um eine Analyse der volkssprachlichen Flugschriftenliteratur unter dem Aspekt der dezidierten Anknüpfung an Luther bemüht. Auch einzelne anonyme Flugschriften hat er einbezogen, vgl. bes. 174 ff.; 180; 189 f.; 191 f.; zu Blochwitz’ Zuweisung der anonymen Schriften an ein humanistisches Milieu s. unten Anm.  329. 16   Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit [SMAFN 16], Stuttgart 1986, S.  244–281, hier: 249. Unverständlich ist mir, wie sich zu dieser Angabe die „über 11.000 Drucke“ (a.a.O., S.  250) verhalten, die Köhler für die Jahre des Produktionsbooms zwischen 1520 und 1526 ansetzt, und die ca. Dreiviertel des Gesamtvolumens – das demnach auf 14–15.000 Drucke zu schätzen wäre – ausmachen sollen. Letzteres ist offenbar nicht so; in seinem Beitrag „The Flugschriften“ (s. Anm.  17) spricht Köhler davon, dass diesen ca. drei Vierteln „well over 6000 editions“ (S.  155) entsprochen hätten. 17   Wegweisende auch quantitative Forschungsergebnisse zum Flugschriftenmaterial bieten besonders Köhler, Erste Schritte, wie Anm.  16; vgl. ders., Fragestellungen und Methoden zur Inter-

1.  Einleitende Bemerkungen

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im Jahr 1521; schon 1522 und noch deutlicher 1523–1525 nahm die Zahl der anonymen Flugschriften ab. Die anonyme Flugschriftenpublizistik verhielt sich damit gegenläufig zur ansteigenden Wachstumsquote der Flugschriftenproduktion überhaupt, die seit 1518 sprunghaft zunahm und 1524 ihren absoluten Höhepunkt erreichte. Die anonyme Flugschriftenpublizistik war hinsichtlich ihres quantitativen Schwerpunktes ein Phänomen der frühen Durchsetzungsphase reformatorischer Gesinnungen und Meinungen; ihr Zentrum lag in den oberdeutschen städtischen Reformationsorten. Zwischen 1520 und 1522 sind mehr als doppelt so viele anonyme Flugschriften gedruckt worden wie in den Jahren 1523–1525. Der Schwerpunkt der anonymen Flugschriftenproduktion befand sich – in der Reihenfolge ihrer Be­deutung – in den Druckmetropolen Augsburg, Straßburg und Basel. Die in Bezug auf die Gesamtproduktion reformatorischer Flugschriften außerordentlich wichtigen Druckzentren Wittenberg, Nürnberg, Leipzig und Erfurt18 spielten somit bei der Verbreitung anonymer Flugschriften eine deutlich untergeordnete bzw. fast gar keine Rolle. 4. Das quantitative Gesamtvolumen der anonymen Publizistik zwischen 1519 und 1525 dürfte hinsichtlich der Zahl der Druckausgaben deutlich oberhalb der für die erfolgreichsten Autoren der Zeit errechneten Quoten19 liegen und möglicherweise sogar an die publikationsgeschichtliche Bedeutung Luthers heranreichen. Ano­ nyme Flugschriften stellen demnach ein keineswegs marginales, sondern ein durchaus zentrales Phänomen frühreformatorischer Publizistik dar. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen vor allem anonyme Flugschriftenserien aus der ‚hohen‘ Zeit anonymer Flugschriftenpublizistik, den Jahren 1520/21. An diesen anonymen Reihenpublikationen zeigt sich besonders deutlich, dass die Furcht vor dem Bekanntwerden keineswegs die alleinige, vielleicht nicht einmal die dominierende Ursache dafür gewesen ist, dass ein Autor anonym schrieb. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die von den anonymen Verfassern in Anspruch genommene Allgemeinheit und Repräsentativität ihrer Auffassungen und Meinungen als ein wesentliches Moment ihrer Publikationsstrategie anzusprechen ist. pretation frühneuzeitlicher Flugschriften, in: Ders. (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit [SMAFN 13], Stuttgart 1981, S.  1–28; ders., The Flugschriften and their Importance in Religious Debate: A Quantitative Approach, in: Paola Zambelli (Hg.), „Astrologi hallucinati“: Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin u. a. 1986, S.  153–175; ders., Vorwort zu: Köhler Bibl., Bd.  1, S.  V ff.; ders., Die Flugschriften der frühen Neuzeit. Ein Überblick, in: Werner Arnold u. a. (Hg.), Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland, Wiesbaden 1987, S.  307–345; ders., Die Flugschriften. Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Horst Rabe u. a. (Hg.), FS Ernst Walter Zeeden, Münster 1976, S.  36–61; Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13; Mark Edwards, Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley u. a. 1994. 18   Vgl. nur Köhler, Erste Schritte, wie Anm.  16, S.  271. 19  Vgl. Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13, bes. S.  24; 79 ff.; Edwards, Printing, wie Anm.  17, bes. S.  26; Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, hat in ein als repräsentativ behauptetes Quellensample mit Flugschriften aus den Jahren 1521/22 einen Anteil an anonymen Flugschriften, der 25% des Gesamtvolumens ausmacht, aufgenommen, vgl. S.  197; zum Umgang mit ‚anonymen‘ Flugschriften instruktiv: a.a.O., S.  221; 269.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Ein Verfasser konnte auch deshalb ungenannt bleiben, weil die von ihm vertretenen Anschauungen nicht als individuelle und spezifische, sondern als allgemein anzu­ erkennende Positionen die Aufmerksamkeit der Leser beanspruchten. Damit unterscheiden sich die Anonymen grundsätzlich von der seit ca. 1522 massiv hervortretenden Publikationshaltung zahlreicher individueller, in aller Regel namentlich genannter reformatorischer Erstpublizisten, die persönliche Erfahrungen von lebens­ geschichtlicher Brisanz und lebenswendender Tragweite, sei es den Klosteraustritt20, sei es die Eheschließung21, sei es den mit Konflikterfahrungen verbundenen Einsatz für das Evangelium22, vor ihrem Lesepublikum ausbreiten. Für diese Texte dürfte das persönliche, biographische Element ebenso ein integraler Bestandteil sein wie für die Anonymen das transpersonale, überindividuelle. Die Textgattung, die in quantitativer Hinsicht den weitaus größten Anteil unbekannter Verfasser aufzuweisen hat, die Dialogflugschriften, erscheinen in dieser Perspektive als idealtypische literarische Umsetzung eines bestimmten Typus anonymer Publizistik überhaupt.

2.  Zu den Anfängen anonymer reformatorischer Flugschriften Eine der ersten deutschsprachigen Reformationsflugschriften, die anonym erschien, war Lazarus Spenglers Schutzrede für Luthers Lehre. Die Umstände ihres Erscheinens sind weitgehend im Dunkeln. Spenglers eigener Hinweis – freilich gegenüber dem Bamberger Bischof in einen apologetischen Zusammenhang geäußert –, die Schrift sei ohne sein „Wissen, Bewilligung und Geheiß“23, „ja gegen sein Verbot veröffent­ 20  Vgl. Johannes Schilling, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation [QFRG 67], Gütersloh 1997, S.  143 ff.; Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524 [QFRG 79], Gütersloh 2007; vgl. zur Flugschriftenpublizistik im Lichte lebensgeschichtlicher Umbrüche auch: Rublack, .  .  . hat die Nonne, wie Anm.  108. 21   Vgl. z. B. Thomas Kaufmann, Pfarrfrau und Publizistin – Das reformatorische „Amt“ der Katharina Zell, in: ZHF 23, 1996, S.  169–218; Stephen L. Buckwalter, Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation [QFRG 68], Gütersloh 1998; Elsie McKee, Katharina Schütz Zell, 2 Bde. [SMRT 69], Leiden, Boston, Köln 1999; s. auch unten III, §  14. 22   Vgl. z. B. Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften [EHS.T 468], Frankfurt a. M. 1992; Peter Matheson (Hg., Bearb.), Argula von Grumbach, Schriften [QFRG 83], Gütersloh 2010; Martin Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525) [GTA 42], Göttingen 1990; am Beispiel der Quellengattung der ‚Predigtsummarien‘ vertriebener evangelischer Prediger: Moeller/Stackmann, Predigt, wie Anm.  15; vgl. auch Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  303 ff. 23   Johann Bartholomäus Riederer, Beytrag zu den Reformationsurkunden betreffend die Händel, welche D. Eck bey Publication der päbstlichen Bullen wider den sel. D. Luther im Jahr 1520 erreget hat .  .  ., Altdorf 1762, S.  94: „[.  .  .] und bin gestendig [sc. Spengler], das dasselb buchlin [sc. die Schutzrede] durch mich anfenglich, nit on redlich bewegung, wie ich mit grund anzeigen mag, gemacht, und in ein verzeichnuß gepracht. Das es aber nachvolgend gedruckt und offenlich außgangen, das ist, ob ich E.F.g. bei höchstem glauben zuschreiben mag, und deß von dapffern redlichen und erlichen personen genugsamen rechtmessigen schein und urkund bringen, und darzu, wurtt not, mit einem aide erhalten mechte, on mein wissenn, bewilligung und geheiß, darzu aber statlich mein verpie-

2.  Zu den Anfängen anonymer reformatorischer Flugschriften

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licht“24, ist umso erklärungsbedürftiger, als bestimmte Elemente schon der Urfassung der Schrift ausgeprägt subjektive Aussagen enthielten25, sich durchgängig der auch biographisch gemeinten ersten Person Singular bedienten und auf einen öffentlichen Diskurs hin angelegt waren.26 Unbeschadet der Frage, welcher Zusammenhang zwischen Spengler selbst und dem [Augsburger] Urdruck seiner Schutzrede (Abb.  1) bestand: Die Schrift gelangte als das persönliche Zeugnis eines Ungenannten zugunsten Luthers an die Öffentlichkeit. Nicht als Schrift Spenglers, sondern als anonyme Flugschrift erregte sie Aufsehen und erreichte ein beträchtliches publizistisches Echo.27 Durch die anonyme Veröffentlichung erhielt die Schrift einen gleichsam exemplarischen Zuschnitt: Ein sich von den „Gelehrten“28 distanzierender „liebhaber götlicher warhait der heiligen geschrifft“29 legte seine über der gewissenhaften Prüfung der Bibel und ihrer Vergleichung mit der Lehre Luthers gewonnenen Erkenntnisse dar; seine Einsicht, dass Luthers Lehre mit der Christi übereinstimme, brachte ihn selbst in den gegen Luther erhobenen Verdacht der Ketzerei.30 Schrift und Vernunft, die Instanzen, auf die sich Luther in Leipzig berief, führten aber zu der unwiderlegbaren Erkenntnis, dass Luthers Lehre wahr sei und eine elementare tenn bescheen, mir auch nie lieb gewest, welches auch aus dem abzunemen, deß die angebne sollichs drucks meinen namen, deß ich sonst gantz kein abschewen getragen, zu setzen underlassen haben.“ Für den Inhalt der Schrift steht Spengler in vollem Umfange ein; zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schutzrede sei Luther noch unverurteilt gewesen. Vgl. Berndt Hamm – Wolfgang Huber (Hg.), Lazarus Spengler, Schriften, Bd.  1, Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525 [QFRG 61], Gütersloh 1995, Nr.  10, S.  146; der Brief ist erschienen in: Helga Scheible (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  4, München 1997, Nr.  734; vgl. im Ganzen Hans von Schubert, Lazarus Spengler und die Reformation in Nürnberg [QFRG 17], Leipzig 1934, ND New York, London 1971, S.  189 ff.; 195 mit Anm.  2 ; 215–236; 247–250; zu allen Spengler betreffenden Fragen vgl. die Literaturhinweise in Schriften, Bd.  1 und Berndt Hamm, Bürgertum, (s. unten), S.  143 ff.; ders., Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube [SuR N. R. 25], Tübingen 2004; Harold J. Grimm, Lazarus Spengler: A lay leader of the Reformation, Columbus 1978, S.  36 ff. Worauf sich die von Grimm (a.a.O., S.  36) geäußerte These, Spengler habe seine Schrift schon 1518 verfasst, gründet, ist mir unverständlich. Da Spenglers Schrift in die Wirkungsgeschichte der Leipziger Disputation gehört, ist diese These m. E. auch abwegig. Unter Spenglers Namen erschien lediglich ein Nürnberger Druck, vgl. Schriften, Bd.  1, S.  78; 80 (E). Die von Berndt Hamm (Bürgertum und Glaube. Konturen städtischer Reformation, Göttingen 1996, S.  150) geäußerte These, das auf dem Titelblatt stehende Adjektiv „erbar“ verweise auf die „Zugehörigkeit ihres Verfassers zur sozialen Oberschicht der reichsstädtischen ‚Ehrbarkeit‘“ (ebd.), geht von der Kenntnis des Autors, nicht aber von dem aus, was für einen zeitgenössischen Leser dem Titelblatt zu entnehmen war. Die sozial-ständischen Implikationen des Wortes „ehrbar“ stehen neben der allgemeinen Bedeutung von „rechtschaffen / unbescholten“ o. ä.; vgl. DWb, Bd.  7, Sp.  154 ff. 24   Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  75. 25   Vgl. z. B. a.a.O., S.  89,6 ff.; 85,14 f. 26   Vgl. a.a.O., Bd.  1, S.  89,5 f.; 92,14–16; 93,4 f. 27   Der quantitativ größere Anteil der Nachdrucke einschließlich der deutschen Luthersammelausgaben erfolgte anonym, s. Anm.  23. 28   Vgl. z. B. Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  97,13 u. ö. 29   A.a.O, S.  82,2; Titelblatt S.  74; Ex. MF 446 Nr.  1195. 30   A.a.O., S.  89,14 f.; vgl. 82,12 ff.; u. ö.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Abb.  1  Titelblatt von [Lazarus Spengler], Schützred unn christenliche antwurt ains erbarn liebhabers götlicher warheit der hailigen geschrifft .  .  . mit antzaigunge warumb Doctor Martini Luthers leer .  .  . mer als Christenlich gehalten werden soll .  .  . [Augsburg, Silvan Otmar] 1519; VD 16 S 8250; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  4239, S.  477 f.; Berndt Hamm/Wolfgang Huber (Hg.), Lazarus Spengler Schriften Bd.  1 [QFRG 61], Gütersloh 1995, S.  79: A; Zierrahmen mit Säulen; spielende Putten; mythologische Figuren.

2.  Zu den Anfängen anonymer reformatorischer Flugschriften

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gewissensbefreiende Wirkung auslöse.31 Gerade die von dem Anonymus nachdrücklich erhobene Forderung, die Auseinandersetzung um Luthers Lehre solle öffentlich geschehen32, gibt m. E. wesentliche Hinweise auf die Deutung der Schrift und die Funktion der Anonymität. Die Schutzrede brachte – gemäß dem im römischen und im kanonischen Recht belegten Grundsatz, dass jeder Angeklagte Anspruch auf ein Verhör habe33 – die Luthersache in die Öffentlichkeit und trug damit dazu bei, dass dem schon Vorverurteilten Gerechtigkeit widerfahren konnte. Zugleich war der Zug in die Öffentlichkeit in der Sache selbst begründet, ja der Diskurs um das Heil forderte die Öffentlichkeit: „Ist sy [sc. Luthers Lehre] gerecht und götlich, so wirt sy niendert billicher dann bey denen, den sy allenthalben zu gutem kommen mag, offenlich [.  .  .] Ist sy aber ungötlich, so mag abermals fruchtbarer sin, das ouff einmal bey allem volck als ain unchristenlich gifft außzureiten, dann dise ire opinion mit nachtail des glaubens zu halten [.  .  .].“34 Indem der anonyme „liebhaber götlicher warhait der heiligen geschrifft“ mit seiner Schutzrede Öffentlichkeit herstellte und die Lehre Luthers am Maßstab der Schrift gewissenhaft prüfte, leistete er stellvertretend und exemplarisch, was Luthers Gegner unterließen. Mit Ausnahme einer kritischen Erwähnung Tetzels35 verzichtete der Anonymus vollständig auf Polemik, die über nicht personal identifizierbare Bemerkungen zu den „grossen vermainten theo­ logos“36 hinausging. Die um eine ernsthafte Sacherörterung und ein verantwortungsvolles Verfahren gegenüber Luther bemühte Sprachform der Schutzrede wies in ihrer anonym erschienenen Ursprungsgestalt sogar ein deutlich unpolemischeres Gepräge auf37, als die etwa ein halbes Jahr später erschienene Ausgabe, in der Spengler als Autor firmierte. Die Anonymität der Schutzrede spiegelte also eine bestimmte Publikationshaltung, gleichgültig, ob Spengler selbst oder das Augsburger Humani­ stenmilieu den entscheidenden Anstoß für die Drucklegung gaben.38 31

  Vgl. z. B. a.a.O., S.  95,15 ff.; 96,10–12; 89,6 ff.; 99,2 f.   A.a.O., S.  96,13–97,12; 99,17 ff.; vgl. 207,21–211,8. 33  Vgl. Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  208,9 mit Anm.  575; 101,9 f.; 102,7 ff. 34   A.a.O., S.  97,2–11. 35   A.a.O., S.  99,1 f. 36   Vgl. z. B. a.a.O., S.  102,7; Kasus von mir geändert, Th. K. 37  Vgl. z. B. die Zusätze in den im Sommer 1520 erschienenen Augsburger und Nürnberger Druckfassungen D und E, a.a.O., S.  88,10–12; 89,2 f.; vgl. 102,5–13 (die Gegner Luthers verurteilen seine Lehre, ohne seine Schriften überhaupt gelesen zu haben); 92,1–13; 98,8–15; 92,15. An einer Stelle ist in der von Spengler überarbeiteten Fassung ein lokaler Bezug eingefügt: „[.  .  .] so ist offenlich [.  .  .] das (nit allein zu Nürnburg, sonder schier) an allen orten teütscher land gehört, mitt was unverschämpter vermessenhait [.  .  .] Johannes Tetzel [.  .  .] den ablaß und andere yrsal [.  .  .] geprediget [.  .  .]“ A.a.O., S.  98,21–99,2. Der Anonymität entspricht also eine lokal und geographisch entschränk­ te Allgemeinheit des Ausdrucks. 38   Will man nicht Spengler selbst als Initiator der Augsburger Drucklegung annehmen, so war er natürlich als zweifelsfreier Verfasser der Schutzrede für ihre – zunächst handschriftliche – Verbreitung verantwortlich. Ein Privatschreiben, das nicht auf eine ‚öffentliche‘, d. h. für den Autor prinzipiell nicht kalkulierbare Rezeption angelegt ist, war die Schutzrede nicht. Ihr literarischer Charakter spricht m. E. eindeutig für eine vom Autor selbst intendierte ‚öffentliche‘ Wirkung. Die Tatsache, dass die anonyme Druckfassung von Spengler mit Ausnahme einiger Zusätze in der revidierten und 32

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Mit der Anonymität war der Anspruch auf Repräsentativität und Allgemeinheit verbunden: So wie der ungenannte „liebhaber götlicher warhait“ über Luthers Lehre denkt, muss jeder Christ urteilen. So, wie der Anonymus als exemplarische Person, die um ihr Seelenheil besorgt ist, Luthers Lehre als Befreiung empfindet, soll und kann sie jeder Christ aufnehmen, was auch immer die gelehrten Theologen dazu sagen mögen. Der Weg in die Öffentlichkeit entsprach der Überzeugung, dass die von Luther aufgeworfenen Fragen jedermann angingen, und die Anonymität brachte den Anspruch zum Ausdruck, gleichsam die „öffentliche Meinung“ selbst zu repräsentieren.39 Die Anonymität der volkssprachlich abgefassten Schutzrede war die literarische Ausdrucksform eines allgemeinen-christlichen Wahrheitsbewusstseins. namentlich gekennzeichneten Ausgabe weitgehend unverändert übernommen wurde, spricht auch eindeutig gegen eine nennenswerte redaktionelle Bearbeitung der Urfassung durch einen Heraus­ geber. Auch der Umstand, dass Spengler keinerlei öffentlichen Protest oder irgendein Unbehagen über die anonyme Druckveröffentlichung äußerte, dürfte nahelegen, dass ihm das ganze Verfahren keineswegs zuwider war oder seinen Intentionen widersprach. Sieht man in Adelmann diejenige Person, die den Augsburger Urdruck der Schutzrede lancierte (vgl. dazu Schubert, wie Anm.  23, S.  195; Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  75), dürfte der publikationsstrategische Zusammenhang evident sein, denn etwa gleichzeitig mit Spenglers Schutzrede erschien die von Adelmann angeregte (vgl. WABr 2, Nr.  251; Ernst Staehelin, Das theologische Lebenswerk Johannes Oekolampads [QFRG 21], Leipzig 1939, ND New York, London 1971, S.  109), von Oekolampad verfasste (vgl. WABr 2, Nr.  261) Flugschrift Canonici indocti Lutherani (EA var. arg. 4, S.  61–70; vgl. W2, Bd.  15, Sp.  1275–1284; Ernst Staehelin, Oekolampad-Bibliographie, Nieuwkoop 21963, Nr.  15–19; deutsche Ausgaben: 20 f.; Druckerzuschreibung problematisch, vgl. z. B. Michael Pegg, A Catalogue of German Reformation Pamphlets in Swiss Libraries (1516–1550) [BBAur 99], BadenBaden 1983, Nr.  3829: [Johannes Prüss, Straßburg 1519]; vgl. VD 16 O 297–300: [Erfurt]; [Straßburg]; [2 x Wittenberg], bisher kein Augsburger Druck nachgewiesen! So auch Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3549–3552, S.  177–179). Zur Sache vgl.: Staehelin, Lebenswerk, S.  108 ff.; Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  1, Stuttgart 21983, S.  319 ff.; vgl. BAO 1, S.  109; Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reformation movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994, S.  174 ff.; Franz Xaver Thurnhofer, Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, Humanist und Luthers Freund, Freiburg/B. 1900, S.  62–66. In Bezug auf die anonyme Schrift Oekolampads ist die redaktionelle Einflussnahme Conrad Peutingers gesichert (Staehelin, Lebenswerk, S.  109; 110, Anm.  1). Wahrscheinlich muss man voraussetzen, dass nicht nur Oekolampads, sondern auch Spenglers Schrift in der Augsburger Humanistensodalität kursierte und besprochen wurde. Nicht ein einzelner Herausgeber, sondern ein Milieuzusammenhang dürfte hinter der – wie mir scheint – publikationsstrategisch reflektierten und natürlich besonders auf Eck abzielenden, parallelen Veröffentlichung der ersten lateinischen und der ersten deutschen Lutherapologie stehen. WABr 2, Nr.  249, S.  30,27 erhellt, dass man in Wittenberg die Parallelität beider Schriften wahrnahm und entsprechende Nachdrucke (Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  79, B; Ex. MF 1100 Nr.  2833; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  4243, S.  479 f.; VD 16, S 8256/8257; zu Oekolampad vgl. Ex. MF 145 Nr.  401; Ex. MF 188 Nr.  861; Ex. MF 865 Nr.  2185; Ex. MF 1036 Nr.  2609; deutsche Ausgabe: Ex. MF 144 Nr.  398; MF 298 Nr.  862; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3549–3552, S.  177–179; Nr.  3591 f., S.  194 f.; vgl. WABr 1, Nr.  240, S.  612,5; Nr.  242, S.  619,4 f.; WABr 2, Nr.  249, S.  30,27; Nr.  257, S.  48–10–12) herausgab. Zur deutschen Übersetzung mit anonymem Zusatz (Ex. MF 144 Nr.  398; Ex. MF 298 Nr.  862 vgl. Grane, Martinus Noster, s. o., S.  177 f.) in einem [Wittenberger] und einem [Nürnberger] Druck (VD 16 O 301 f.), s. unten Anm.  55; zur Reihenfolge: Staehelin, Oekolampad-Bibliographie, Nr.  20 f. 39   Ein für Spengler – wie es scheint – nicht unwichtiger Aspekt, der gegen die nicht-öffentliche Behandlung der Luthersache sprach, betraf die Reaktion des „gemainen man[nes]“ (Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  210,1) darauf. Dass Luther kein ordentliches Verhör bekommen habe, habe das „gemain volck allenthalben gantz hitzig, bewegig und auffrurig gemacht“ (a.a.O.,

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Dieses spezifische Profil scheint sie von anonymen lateinischen Flugschriften durchaus zu unterscheiden. Die – wie mit guten Gründen zu vermuten – von demselben Augsburger Humanistenkreis40, der hinter dem Druck der Spenglerschen Apologie stand41, lancierte anonyme lateinische Responsio der ungelehrten lutherischen Kanoniker (Abb.  2), für die – gleichfalls zweifelsfrei – ein Hauptverfasser42, nämlich Johannes Oekolampad, feststeht, wies gegenüber der Schutzred unter dem Gesichtspunkt der anonymen Publizistik einige bemerkenswerte Besonderheiten auf. Sie erschien auf Latein, besaß über weite Strecken ein an den Stil der Dunkelmännerbriefe erinnerndes satirisches Gepräge und entlarvte in ihrer gegen die Person Ecks und dessen literarischen Angriff auf namentlich nicht genannte ‚lutherische‘ Domherren gerichteten Polemik dessen grobianisches Wesen und eitle Dummheit.43 Der polemisch-iroS.  210,4 f.). Nur ein ordentliches Verhör Luthers auf einem Konzil (a.a.O., S.  210,9 f.) vermöge „den gemainen Man zu stillen“. 40   Adelmann scheint auch mit der Drucklegung des Eccius dedolatus in Zusammenhang gestanden zu haben; dies dürfte aus dessen Korrespondenz mit Pirckheimer hervorgehen, vgl. die Nachweise Holzbergs, Eccius dedolatus, wie Anm.  43, S.  121 f.; zur Anspielung auf die dem Verfasser des Eccius dedolatus bekannte Augsburger Humanistenszene, die hinter Oekolampads Responsio stand, vgl. Holzberg, a.a.O., S.  17. Freilich weisen die erschlossenen Druckerzuweisungen (vgl. Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  612–614, S.  265–267; VD 16 C 5587–5589) nicht nach Augsburg oder Nürnberg, sondern nach Schlettstadt und Erfurt. Vor der Veröffentlichung ist mit einem Kursieren der Manuskripte im humanistischen Kontaktnetz der Sodalitäten zu rechnen, vgl. auch Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  212; s. auch oben II, §  8, Anm.  142; §  8, Abb.  20 (zum Triumphus Capnionis). 41   In Bezug auf die Parallelität beider Luther-Apologien wird man neben den oben (Anm.  38) genannten Gesichtspunkten zugleich die Reaktionen Ecks auf beide Schriften zu berücksichtigen haben; vgl. die Hinweise bei Riederer, Beytrag, wie Anm.  23, und Schubert, Spengler, wie Anm.  23, S.  190 f. 42   Ähnlich wie bei den Dunkelmännerbriefen ist bei dem Eccius dedolatus (vgl. Hans Rupprich, Der Eckius dedolatus und sein Verfasser, Wien 1931; dazu auch Holzberg, Eccius dedolatus, wie Anm.  43, S.  125) und der Canonicorum indoctorum Lutheranorum ad Johannem Eccium responsio die Entstehung der Texte in einem bestimmten Milieuzusammenhang zu reflektieren und ihr Charakter als literarische Gemeinschaftswerke bzw. ihre Verortung in einem Diskurszusammenhang in ihre Interpretation einzubeziehen. Die dem Dialog Eccius dedolatus zugrundeliegende onomatologische Ableitung des Namens Eck (Herkunftsname nach dem schwäbischen Dorf Egg an der Günz, aus dem Johann Maier, genannt Eck, stammte) von dem griechischen Wort αἰκίζειν bzw. αἰκίζομαι (= ungebührlich behandeln, beschimpfen, entehren, verstümmeln), die dem an Eck im Dialog vollzogenen ‚Enteckungsritual‘ das Motiv verleiht (vgl. Holzberg, a.a.O., S.  74 ff.), scheint erstmals von Oekolampad in der Antwort der ungelehrten Domherren verwandt worden zu sein. „Iterum quaeris [sc. Eck] [.  .  .] quos insigniter αἰκίζης, ut neminem non contemptui habeas [.  .  .].“ EA var. arg. 4, S.  63. Der schon seinem Namen nach als Verstümmelnder (αἰκίζης) enttarnte Eck wird seinerseits verstümmelt, vgl. Holzberg, a.a.O., S.  74 ff. Sollte angesichts der beharrlichen Verweigerung Pirckheimers, seine schon von zahlreichen Zeitgenossen vermutete (vgl. WABr 2, Nr.  263) Verfasserschaft des Eccius dedolatus zuzugeben, ein Zusammenhang zwischen dem Pseudonym „Johannesfranciscus Cottalembergius“ und Johannes Oecolampadius erwägenswert sein? 43   Dass sich unter dem Eindruck der causa Lutheri die Wertung Ecks im humanistischen Milieu gegenüber seiner früheren Einschätzung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt hatte, kann man etwa an der Sichtweise Pirckheimers anschaulich machen. In seiner Epistola apologetica von 1517 hatte ihn der Nürnberger unter die Gruppe der gegen den scholastischen Obskurantismus stehenden

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§  10  Publizistische Mobilisierung

nische Duktus44 war von zentraler Bedeutung für die Intention der direkt an Eck adressierten Schrift. Der Angriff Ecks auf die vermeintlich ungelehrten Kanoniker, die Luther unterstützten und mit ihm der Ketzerei verfielen45, bestimmte die Grundrichtung der Widerlegung, die einerseits der Rehabilitation der Person Luthers, andererseits seiner evangeliumsgemäßen Lehre galt.46 Als Schrift, die sie für Luthers Lehre eingenommen habe, führten die ‚ungelehrten Kanoniker‘ seine lateinische, vor 1520 nicht in der Volkssprache verbreitete Auslegung der Zehn Gebote von 1518 an.47 Der ‚Erfolg‘ der Ablassthesen Luthers unter den „doctissimi“48 diente der anonymen Schrift als zentrales Argument dafür, Ecks These, die Lutheranhänger seien „indocti“, zu entkräften. Zugleich nahmen die anonymen Kanoniker die ihnen durch Eck zugewiesene Rolle als „indocti“ an: Da sie selbst dem ungelehrten Volk entstammten, könnten sie schwerlich Luthers Lehre verbreitet haben. Dies sei vielmehr durch den Buchdruck geschehen; der publizistische Erfolg Luthers sei ein Beweis für die Wahrheit seiner Lehre.49 Luthers bahnbrechender Erfolg, so behauptete die anonyme Responsio an Eck, stelle eine neuartige Gemeinschaftserfahrung von Gelehrten und Ungelehrten dar, ein von Gott selbst heraufgeführtes Gegenwärtigwerden seiner Wahrheit, die die von Eck im Sinne letztgültiger Entitäten verstan„modernen Theologen“ gezählt, vgl. Manfred Schulze, Johannes Eck im Kampf gegen Martin Luther, in: LuJ 63, 1996, S.  39–67, bes. 41 f.; Helga Scheible (Bearb.) – Dieter Wuttke (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd.  3, München 1989, Nr.  464, S.  162,567 f. (nach Erasmus, Johann Spiser [aus Forchheim] und vor Paul Phrygio und Oekolampad); s. auch oben II, §  8, Anm.  37. In dem wohl im Frühsommer 1520 erschienenen Eccius dedolatus war er dann der vir obscurus schlechthin (vgl. Niklas Holzberg, Lateinisch-deutsche Ausgabe des Eccius dedolatus, Stuttgart 1983, S.  116). Zu Ecks barbarischem Latein vgl. auch EA var. arg. 4, S.  69. 44   Vgl. schon die Anrede Ecks: „Gloriosissimo Superdoctissimo Triumphatori Magistro Nostro, Magistro Ioanni Eccio Theologistae [.  .  .]“, EA var. arg. 4, S.  62. 45   EA var. arg. 4, S.  62 f. 46   EA var. arg. 4, bes. S.  64; 66. 47   „Ante paucos autem annos declamatiunculae quaedam populares illius, tumultuario et repentino, ut videtur, calore scriptae, in manus nostras venerunt, in quibus decem praecepta Mosis enarrans velamen ab oculis illius removet.“ (EA var. arg. 4, S.  65 f.) Über der Lektüre dieser Schrift Luthers sei es zur Hinwendung der ‚ungelehrten Kanoniker‘ zum Evangelium gekommen: „Unde tum sua [scil. Luthers] eruditione perspicuaque claritate praestitit, ut supra morem Scholasticorum indocti nos sublimius de Christo, sanctius de evangelio sentiremus, positoque supercilio parum, imo nihil nobis, multum, imo omnia Christo Deo tribueremus.“ EA var. arg. 4, S.  66. 48   Vgl. EA var. arg. 4, S.  66. 49   „At non ideo dabimus [sc. die canonici indocti] errores a nobis disseminatos, nisi enim iam disseminata fuissent Lutheriana, quomodo ad nos, qui ex indocto vulgo sumus, et altero paene mundo intercipimur, pervenissent? An non hoc chalcographorum negotium est, qui simul atque recentiora quaepiam suboleverint, veritati consentanea, et plausibilia, ut lucrum faciant, ea magis extorquent, quam ambiunt, imo magis surripiunt, quam extorquent [folgen ironische Bemerkungen über den bescheidenen publizistischen Erfolg der Bücher Ecks] [.  .  .]. Scis tu nunc saepius Lutherana et variis prelis excusa, et credis indoctos Canonicos tantum molestiarum voluisse subire, cum tua tamen interim apud nos paucos etiam doctos fastidiantur, etiam ab indoctis improbentur. Veritatemne putas sub modio posse condi? Rem, quae ex Deo est, aboleri posse credis?“ EA var. arg. 4, S.  67. Zu dem Zusammenhang zwischen Luthers publizistischer Wirkung und der Wertung seiner Sache vgl. bes. Edwards, Printing, wie Anm.  17, S.  7 f.; passim; s. auch Moeller, Die frühe Reformation, wie Anm.  14, S.  160.

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Abb.  2  [Johannes Oecolampadius], Canonici indocti Lutherani, Erfurt, Matthes Maler 1519; VD 16 O 297; Ex. ULB Halle Vg 341a {digit.}, A 1r/v.

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dene Fundamentaldifferenz von doctus und indoctus aufhebe. Gerade die „indocti“ hielten sich allein an die Heilige Schrift und die erkennten die altkirchlichen Ausleger50 an: Nach diesem Maßstab geurteilt aber sei Luthers Lehre wahr. Die Ungelehrten seien viele, sie bräuchten Eck nicht zu fürchten51 – ihre Stimme werde in der anonymen Flugschrift laut. Auch in der höchst reflektiert stilisierten lateinischen Responsio an Eck 52 spiegelte die Anonymität eine Publikationshaltung, die mit dem Anspruch allgemeiner Meinungs- und Wahrheitsrepräsentation verbunden war. Die vermeintliche Standesapologie der Domherren erweist sich so als Apologie des allgemeinen Christenstandes, dessen docilitas allein von der Schrift her bestimmt wird. Die causa Lutheri brachte für Vertreter der humanistischen Elite wie Oekolampad die neuartige Erfahrung mit sich, dass das, was man selbst, durchaus in engem Anschluss an Erasmus53, dachte und wollte, über den engen Kreis der gelehrten Sodalitäten hinaus wirksam zu werden begann, ja eine sich bildende ‚Öffentlichkeit‘ als solche zu überzeugen schien. Insofern stellt ein anonymes Postskriptum, das der in Wittenberg erschienenen deutschen Übersetzung dieser Schrift der ‚ungelehrten Kanoniker‘ (Abb.  3) beigegeben war54 und in dem ein angeblicher Laie die Rechte seines Standes in der Kirche gegenüber klerikalen und akademischen Privilegien in den Vordergrund stellte55, eine konsequente Weiterführung des in Oekolampads Respon50

  Vgl. EA var. arg. 4, S.  67 f.   EA var. arg. 4, S.  70. Die ‚Ungelehrten‘ berufen sich auf das gleichlautende Urteil des Erasmus, den Inbegriff der Gelehrsamkeit: „Indocti sumus, non videmus enim, qua ratione perfecti Chri­ stum pauperem sequantur, si pro temporariis causis iurent; sed quid? nimirum ea in re et Erasmus, illud seculi nostri sidus, nobiscum, te censore, hallucinatur.“ EA var. arg. 4, S.  69. Zum Stand der öffentlich wirksam gewordenen Haltung des Erasmus zu Luther gegen Jahresende 1519 vgl. zusammenfassend: Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, bes. S.  167–173. 52   Grane urteilt knapp und treffend: „Canonici indocti is cleverly written.“ Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  177. 53   Im Lichte der deutschsprachigen Flugschriftenliteratur, die in Straßburg erschien, hat Edwards diese erasmianische Tendenz der Lutherrezeption betont, vgl. Printing, wie Anm.  17, bes. S.  100 ff.; 108: „For a time – a crucial time for the Hedgling Reformation movement – Luther was read and represented in these Erasmian terms.“ 54   Die verteutscht antwort / der / die Doctor Eck in seinem Sendbrieff an den Bischoff zu Meyssen hat die ungelarten Lutherischen Thumhern genandt, 1520; Ex. MF 144 Nr.  398; vgl. Ex. MF 298 Nr.  862; VD 16 O 301 [Nürnberg, Peypus]; Ex. SB München Res. 4 H. ref. 800/19 {digit.}; VD 16 O 302 [Wittenberg, Johann Rhau-Grunenberg]. 55   Zur Interpretation des Textes, für den Grane Luthers Verfasserschaft erwägt, vgl. Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  177 f. Charakteristisch scheinen besonders folgende Aussagen: „Frewen sollen sich alle / die / vormals als unverstendige / ungelerthe / unerfarne / göttlicher und Christlicher lere unentpfehigk von den großscheynenden geystlichen gehalten worden seyn. Schemen sollen sich auch widerumb alle hochtragende / ubermütige geyste / die von ubermasse yrer grossen weißheyt dahyn kummen / das sie es da für halten / Christus habe seyner frummen schefflein vergessen / und wone allein bey den falsch gleyssenden Rabonibus / tzu Latein Magistris nostris / tzu deutsch unßern Maystern. Dan es ist offentlich und am tag / mit was vernunfft / rechter schryff­ten verstandt / diße ungelerthe Thumherrn / dem großtetigen / aller künst Mayster / als er sich dünken lest. Geantwort haben. [.  .  .] Es ist leyder dahyn kummen / das man uns Layen / von dem geystlichen Gottes Cörper / als untüchtige glidmaß abschneydt / ßo doch wir gleych alßo woll / 51

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§  10  Publizistische Mobilisierung

sio programmatisch behaupteten neuartigen Gemeinschaftszusammenhangs aller derer dar, die im Urteil der Gegner Luthers als „indocti“ erschienen. Als ebenso folgerichtig dürfte die Tatsache zu bewerten sein, dass dieser schwierige lateinische Text überhaupt in der Volkssprache weiterverbreitet wurde: Sein Anspruch auf umfassende Meinungsrepräsentanz konnte nur durch die Entschränkung des Rezipientenkreises über die lateinkundigen „docti“ hinaus angemessen zum Ausdruck kommen. Dies unterscheidet die anonym erschienene Schrift der ‚ungelehrten Kanoniker‘ durchaus von anderen lateinischen Flugschriften ohne Verfasserhinweis, die sich selbst dezidiert als gelehrte Beiträge zu einem Gelehrtendiskurs verstanden, oder die eindeutiger als die Responsio die Tradition der Dunkelmännerbriefe fortsetzten und deren Anonymität nicht in dem skizzierten Sinne als reflektierte Publikationshaltung zu interpretieren sein dürfte.56 Ebenso wie im Falle der Spenglerschen SchutzreChristus unnsers haupts gelyder yn eynem Glauben / eyner Tauff / in der schrifft genandt werden. [.  .  .] Aber gott sey gelobet / der uns solche der heyligen schrifft außleger / auß seynem göttlichen allerbesten wolgefallen und gnaden geben hat. Darumb bitt ich eyn ydes frummes Christenlich hertz / wollt Gott ermanen / das er uns solcher Cristenlicher lerer mer erwecken wolle / arme / elende / betrübte geyst tzu tröstend und bestetigen.“ (Ex. MF 144 Nr.  398, B 3v–4r = Ex. MF 298 Nr.  862, B 3v–4r; vgl. Abb.  3). Ich neige dazu, ggf. die Verfasserschaft Karlstadts zu erwägen. Neben dem dezidierten Interesse an der Karlstadt zu Jahresbeginn 1520 noch stark in Anspruch nehmenden Auseinandersetzung mit Eck (vgl. Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13, Nr.  18; s. auch S.  85 ff.; 181 ff.; zu Karlstadts Theologie der Laien s. auch Shinichi Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodensteins von Karlstadt in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005; unten III, §  13) wäre auch das bei ihm 1520 ausgebildete, wohl an Erasmus anknüpfende (vgl. Zorzin, a.a.O., S.  190 mit Anm.  37) – und, wie mir scheint – gegenüber Luther schon zu diesem Zeitpunkt spezifische Moment laikaler Selbstverantwortung zu berücksichtigen; vgl. De canonicis scripturis (Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13, Nr.  22; Ex. MF 1360–61 Nr.  3592, Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1870, S.  175), B 4r/v; A 2v. „Adidi [sc. Karlstadt] quoque ad omnes interpretationem scripturae pertinere id sic intellectum volo, quod omne quibus dominus deus illud muneris interpretandae scripturae largitur, possunt scripturam interpretari, sive sit laicus, sive clerus, sive prophanus, sive sacer [.  .  .].“ B 4r. Und v. a. den im Februar 1520, also in großer zeitlicher Nähe zum Wittenberger Nachdruck der um einen Zusatz erweiterten deutschen Ausgabe der (Oekolampad-)Schrift erschienenen Traktat Verba Dei, in dem es u. a. um das Problem ging, ob die Inhalte der Bibel auch Frauen und Ungebildeten beizubringen seien, vgl. Verba Dei (Zorzin, a.a.O., Nr.  17; Ex. MF 1948 Nr.  2650; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1924, S.  196) z. B. A 1v, C 2v; O 1r; vgl. auch Zorzin, a.a.O., S.  189 f.; 196 mit Anm.  68. – Ein charakteristischer Unterschied in der theologischen Begründung des allgemeinen Priestertums zwischen Luther und Karlstadt dürfte schon 1520 darin bestanden haben, dass es für Luther durch Glaube und Taufe konstituiert wurde, für Karlstadt hingegen der tauftheologische Konstitutionsakt keine Rolle spielte; vgl. zum Problem der laientheologischen Entwicklung Karlstadts bes. Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae [JusEccl 24], Tübingen 1977, S.  97 f.; 100; 176 mit Anm.  68; 188 f., 196–198. Auch Karlstadts besonderes Interesse als Kanoniker an einer „responsio“ ungelehrter Kanoniker wäre in Betracht zu ziehen. Karlstadts Verba Dei und seine Confutatio gegen Eck (vgl. Zorzin, a.a.O., Nr.  17/18; Ex. MF 1048 Nr.  2650; Ex. MF 133 Nr.  359; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1863, S.  171) erschienen in derselben Offizin wie der Wittenberger Nachdruck der Responsio, nämlich bei [M. Lotter d. J.], Pegg, Swiss, wie Anm.  38, Nr.  3830; Staehelin, Oekolampad-Bibliographie, wie Anm.  38, Nr.  16; zum Wittenberger Druck der deutschen Übersetzung vgl. oben Anm.  38; s. Abb.  3. 56   Dies gilt etwa für die in vier z. T. voneinander abweichenden Textfassungen und mit unterschiedlichen Titeln veröffentlichte Schrift Ars et modus inquirendi et damnandi quoscumque haereticos [Schlettstadt, Lazarus Schürer 1519]; VD 16 A3801; Ex. MF 1075 Nr.  2723; vgl. WABr, Nr.  236,

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A 1 v Abb.  3  Titelblatt und Nachwort (B 3v – 4r) von [Johannes Oecolampadius], Die vordeutscht Antwort der die doctor Eck in seynem Sendbrieff an den Bischoff czu Meyssen hat die ungelarten lutherischen Thumherrn genandt, Wittenberg, [Johann Rhau-Grunenberg] 1520; VD 16 O 302. Als Verfasser des anonymen Nachwortes ist Karlstadt oder Luther, vielleicht auch Melanchthon zu erwägen; vgl. Anm.  55.

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de dürfte die Anonymität im Falle der Canonici indocti eine Korrespondenz von Inhalt und Form spiegeln: Luthers Lehre geht die Allgemeinheit an, weil sie der allgemein anzuerkennenden Norm, der Bibel, entspricht und sich im individuell nicht identifizierbaren kollektiven „Wir“ der Domherren und aller vermeintlichen „indocti“ oder im literarischen „Ich“ eines „liebhabers der götlichen warhait“ als Allgemeinheit ausspricht. Die These, die frühreformatorische anonyme Flugschriftenpublizistik stelle eine spezifische, den Anspruch auf allgemeine öffentliche Meinungsrepräsentanz literarisch umsetzende Publikationshaltung dar, soll im Folgenden von zwei Aspekten her weitergeführt werden, einerseits von dem ‚altgläubigen‘ Versuch, mittels anonymer Flugschriften den eigenen Anspruch, die allgemeine Meinung zu vertreten, durchzusetzen, andererseits von anonymen reformatorischen Flugschriftenserien her, die sich für den zeitgenössischen Rezipienten als zusammengehörige Schriften zu erkennen gaben und ein gleichsam fortgesetztes Gespräch zwischen einem ungenannten Autor und seinen Lesern darstellten.

3.  Thomas Murners anonyme Publikationsoffensive und ihre publizistische Abwehr Zwischen November 1520 und Februar 1521 erschienen bei dem Straßburger Drucker Johannes Grüninger in rascher Folge fünf anonyme deutsche Flugschriften, der wohl eher bescheidenere Teil einer – wie der anonyme Verfasser der zuerst erschienenen Schrift sein Lesepublikum wissen ließ – auf 32 Schriften geplanten publizistischen Kampagne.57 Die exakte Zahl dürfte – unbeschadet dessen, dass der AnonyAnm.  1; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  165, S.  73; vgl. Hagen, Verhältnisse, wie Anm.  4, S.  40–43; Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  179 ff. Andere anonyme lateinische Schriften aus dem Jahre 1520, zu denen keine deutschen Übersetzungen erschienen, dürften etwa die bei Pegg, Swiss, wie Anm.  38, Nr.  1858 = Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  672, S.  293; Pegg, Swiss, Nr.  1230 = VD 16 E 1689; Ex. MF 1339 Nr.  3514; sowie Pegg, Swiss, Nr.  4382, 4384; 4626; 5104 verzeichneten Drucke sein. 57  „Ist diß [sc. die Schrift Christliche und briederliche ermanung an den hoch gelerten doctor Luther] uß. XXXII. tractat einer eilendts in brüderlicher liebe fürgewent / dein [sc. Luthers] und unser heil darunder frundtlicher zu betrachten“. MDS 6, S.  87. Murner selbst verweist in einzelnen der Schriften auf Bücher, die er z. T. als abgeschlossen voraussetzt. In der in 1. Auflage am 11.  11. 1520, in 2. am 21.  1. 1521 erschienenen Christlichen Ermanung erwähnt er ein „buch der Tyranny“ (MDS 6, S.  73), das nicht zu identifizieren ist und wohl – wie Wolfgang Pfeiffer-Belli vermutet – zu „eine[r] der Murnerschen Kampfschriften, die nicht gedruckt und später vernichtet wurden, gehörte“ (MDS 6, S.  159; vgl. Theodor von Liebenau, Der Franziskaner Thomas Murner [Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes 9, 4–5], Freiburg/Breisgau 1913, S.  210). Auch eine Schrift über die Greuel der Hussiten war geplant, vgl. MDS 6, S.  85. In der am 24.  11. 1520 fertiggedruckten Schrift Von doctor Martinus Luters leren und predigen weist er auf ein „büchlin von der christlichen kirchen“ (MDS 6, S.  112) voraus, in der überarbeiteten Neuauflage der Christlichen Ermanung verweist er auf dieses Buch als inzwischen fertiggestellte Schrift (MDS 6, S.  78; 80; vgl. 164 zu Z.  31; 165 zu Z.  15). Will man nicht annehmen, dass diese Schrift in Murners am 13.  12. 1520 gedruckten Traktat Von dem babstenthum, das ist von der höchsten oberkeyt einge-

3.  Thomas Murners anonyme Publikationsoffensive und ihre publizistische Abwehr

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mus, der bekanntlich Thomas Murner war, sich durchaus nicht selten auf projekgangen ist (vgl. etwa MDS 7, bes. S.  44 ff.), muss man dieses Buch als verschollen ansehen. In Von doctor Martinus Luters leren verweist Murner sodann auf „andere Büchlein“ (MDS 6, S.  98); erschienen war aber bis dato nur die Christliche Ermanung (MDS 6, S.  181 zu Z.  12). Sein Verweis auf das Buch vom Papsttum in der an Weihnachten 1520 fertiggedruckten Schrift An den Groszmechtigsten [.  .  .] adel (MDS 7, S.  86) entspricht der Chronologie; über das in derselben Schrift angekündigte Büchlein vom Bann (MDS 7, S.  81; 117; Laube, Flugschriften gegen die Reformation [bis 1524], S.  211) und weitere Schriften (vgl. MDS 7, S.  66–69) ist nichts bekannt. Auch wenn durch die jeweils auf den Drucken vermerkten Erscheinungsdaten die Chronologie dieser Schriften eindeutig ist (vgl. auch Edwards, Printing, wie Anm.  17, S.  59; 190, Anm.  60), dürfte dies keineswegs zwingend für den Zeitpunkt ihrer Abfassung gelten. Der Anfang der als zweite erschienenen Schrift Von doctor Martinus Luters leren und predigen (Ex. MF 1483 Nr.  3889) erweckt den Eindruck, als ob sich der Anonymus erstmals zu Wort melde: „Hat mich nothurfftig bedunckt nyt me zu schlaffen [.  .  .].“ MDS 6, S.  92. Die für die vier übrigen anonymen Schriften konzeptionell entscheidende Rolle fingierter Überparteilichkeit, die Murner freilich je länger desto weniger durchhielt, spielte in Von doctor Martinus Luters leren noch keine Rolle. Sie ist außerdem die einzige Schrift, die sich nicht ausschließlich mit Luther, sondern auch mit der anonymen Schutzrede [Spenglers] auseinandersetzte und nicht als direkte Anrede an Luther gestaltet war. Aus den genannten Gründen neige ich dazu, sie für die der Abfassung nach älteste der fünf Schriften zu halten. Einzelne Passagen der Christlichen und brüderlichen Ermanung, etwa MDS 6, S.  34 ff.; vgl. MDS 6, S.  116 ff.; MDS 6, S.  43 ff.; MDS 6, S.  113 u. a., wirken wie präzise Ausarbeitungen kürzerer Abschnitte der Schrift Von doctor Martin Luters leren und predigen. In seiner Protestation vom 8.  3. 1521 gab Murner abermals an, 32 Schriften gegen Luther geschrieben zu haben (ZHTh 1848, S.  598 f.), die offenbar fertig waren („noch zu trucken vorhands sein“, ZHTh 1848, S.  601). Sechs seiner Schriften setzte Murner als bei Grüninger in Straßburg gedruckt voraus (S.  601). Diese Zahlenangabe macht gewisse Schwierigkeiten, da nur fünf Schriften bekannt bzw. nachgewiesen sind. Die naheliegendste Vermutung dürfte sein, Murners Übersetzung von Luthers De captivitate Babylonica einzubeziehen (vgl. Anm.  63). Das macht allerdings insofern Schwierigkeiten, als der bekannte Druck [Johann Schott] zugeschrieben wird. Eine andere Möglichkeit scheint Röhrich (ZHTh 1848, S.  596) zu erwägen, der als erste Murnerschrift das gegen Michael Stifel gerichtete Ain new Lied von dem Undergang des christlichen glaubens in Bruder Veiten thon angibt. Einen Einzeldruck dieses Murnerliedes konnte ich bisher nicht nachweisen, nur eine von Murnergegnern herausge­gebene Sammelausgabe mit diesem und einem „ander Lied Darwieder vom auffgang der Christenhait in D. Mur. Veiten thon“ ist bekannt. (Eckel, Fremdwörterschatz, wie Anm.  60, Nr.  43; Ex. MüSB 4° P. o. germ. 229/52; Badische Landesbibliothek Karlsruhe – Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg [Hg.], Thomas Murner. Elsässischer Theologe und Humanist 1475–1537, Katalog, Karlsruhe 1987, E 12, S.  188 f.). Vielleicht ist aber auch damit zu rechnen, dass die von Murner als schon gedruckt vorausgesetzte Schrift Von der Kirche (s. o.) gemeint ist. Sie müsste dann in der Tat als verschollen gelten. Möglich ist aber auch, dass Murner seine bereits im Januar 1521 in 2. Auflage erschienene Ermanung als eigene Schrift zählt. Will man die von Murner genannte Zahl von 32 Schriften der Entgegnung auf Luther nicht lediglich für eine Fiktion halten, wäre möglicherweise damit zu rechnen, dass einige der ursprünglich als Einzelschriften geplanten literarischen Projekte zu den z. T. umfänglichen fünf Flugschriften zusammengewachsen sind. Die im Oktober 1520 in Straßburg erschienene deutsche Sammelausgabe der Schriften Luthers (WA 60, S.  612, b) enthält 19 verschiedene Schriften Luthers von 1519 bis Mitte 1520, vgl. die im Ganzen instruktive Übersicht bei Edwards, Printing, S.  43 ff.; S.  186 f., Anm.  10; vgl. auch Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  102 f. Nimmt man die in der zweiten Jahreshälfte 1520 in Straßburger Nachdrucken erschienenen sechs Lutherschriften hinzu (maximal 14 Ausgaben, vgl. Edwards, a.a.O., S.  13; 187, Anm.  13–18), könnte sich der Eindruck nahelegen, Murner habe auf die Menge der Lutherschriften mit etwa derselben Menge an Gegenschriften reagieren wollen. Dass Luther „in mannig feltigen deutschen biechlin alle winckel erfüllet hat“ (MDS 6, S.  91), ist jedenfalls eines der maßgeblichen Antriebsmotivationen für Murners publizistische Offensive.

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tierte oder noch unfertige Werke zu beziehen pflegte58 – auf den umfassenden Plan einer publizistischen Großoffensive hindeuten, deren nurmehr bescheidene Ausführung nicht zuletzt ein Reflex des für die altgläubigen Kontroverstheologen ja charakteristischen59 geringen Erfolges der ersten Schriften gewesen sein dürfte.60 Die Gründe dafür, warum Murner anonym schrieb, sind höchst komplex. Wenn ich recht sehe, bot die ihm wohl durch einen Nachdruck in einer im Oktober 1520 in Straßburg erschienenen Lutherausgabe bekanntgewordene Schutzrede Spenglers61 den unmittelbaren Anlass, ja lieferte ihm die Idee dazu. Die Anonymität ist eine von Murner gezielt und sehr reflektiert eingesetzte Publikationsstrategie, die sich auf den Neueditionen der (Murner-)Schriften Von Dr. Martin Luthers Lehren und Predigten und An den Groszmechtigsten [.  .  .] adel liegen vor in: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), hg. v. Adolf Laube unter Mitarbeit von Ulman Weiß, Berlin 1997, S.  142–170; 171–220. 58   Vgl. MDS 6, S.  171 f. Anm.  zu Z.  8. Zu Murner vgl.: Marc Lienhard, Art. Murner, Thomas, in: TRE 23, 1994, S.  436–438 [Lit.]; Erwin Iserloh, Thomas Murner (1475–1537), in: Ders. (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd.  3, München 1986, S.  19–32, bes. 21 ff.; Reinhold Rieger, Art. Murner, Th., in: RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  1589 f.; Heribert Smolinsky, Art. Murner, Th., in: DBETh 2, 2005, S.  961; vgl. auch Frauke Büchner, Thomas Murner. Sein Kampf um die Kontinuität der kirchlichen Lehre und die Identität des Christenmenschen in den Jahren 1511–1522, Diss. theol. Kirchliche Hochschule Berlin 1974, bes. S.  233 ff., die bei dem kundigen Literaten „besorgte Ratlosigkeit“ gegenüber Luther registriert (S.  239), wo m. E. die ausgefeilte literarische Strategie eines anonymen Publizisten zu diagnostizieren ist. Die von Büchner gebotene Einschätzung bes. der Ermanung knüpft an Kawerau an (Waldemar Kawerau, Thomas Murner und die deutsche Reformation [SVRG 32], Halle 1891, S.  20) und wirkt auch bei Miskuly (s. u., a.a.O., S.  21 f.) nach. Zu Murners publizistischer Offensive der Jahreswende 1520/21 – freilich unter weitgehender Ignorierung ihrer anonymen Publikationsform: Jason M. Miskuly O. F. M., Thomas Murner and the Eucharist, New York 1990, S.  19 ff. Zur germanistischen Murnerforschung vgl. nur: Jürgen Schutte, „Schympfred“. Frühformen bürgerlicher Agitation in Thomas Murners „Großem lutherischen Narren“ (1522), Diss. phil. Berlin 1971; Sabine Heimann, Begriff und Wertschätzung der menschlichen Arbeit bei Sebastian Brant und Thomas Murner [Stuttgarter Arbeiten zur Germani­ stik 225], Stuttgart 1990 (zur konsequenten Integration der rhetorischen Bildungselemente zu Zwecken der theologischen Polemik bei Murner, bes. S.  73 ff.) und die instruktive Übersicht bei Barbara Könneker, Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche, München 1975, S.  116 ff.; 256–258 [Lit.]; vgl. auch: Arnold E. Berger, Satirische Feldzüge wider die Reformation, Leipzig 1933 (ND Darmstadt 1967), Einleitung S.  5 –36: Thomas Murner und sein Kampf gegen die Reformation. 59  Vgl. Edwards, Printing, wie Anm.  17, bes. S.  57 ff.; 28 ff. 60   Nur von der ersten Schrift sind eine Grüningersche Neuausgabe (MDS 6, S.  23 ff.; Ex. MF 1292 Nr.  3326; Benzing, Bibl. Stras., Nr.  1407 f.; Michael Pegg, A Catalogue of German Reformation Pamphlets [1516–1546] in Libraries of Great Britain and Ireland [BBAur 45], Baden-Baden 1973, Nr.  2979) und ein [Wiener] Nachdruck der 1. Ausgabe, insgesamt also drei Drucke, nachgewiesen: MDS 6, ebd.; Friedrich Eckel, Der Fremdwörterschatz Thomas Murners (mit einer vollständigen Murnerbibliographie), Göppingen 1978, S.  36; VD 16 M 7029–7031; Katalog, wie Anm.  57, S.  183, E 3; vgl. Ex. MF 1473 Nr.  3871; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3399, S.  105 f. Zur Charakterisierung der Murnerschen Publizistik knapp: Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13, S.  71–73; Edwards, Printing, wie Anm.  17, S.  57 ff.; 85 ff. Die anderen vier anonymen Schriften Murners erschienen nur in jeweils einem Grüninger-Druck. 61  Vgl. Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  81, G; Benzing/Claus, Nr.  8 ; VD 16 L 3308; S 8255. Zu den Argumenten, mit denen Murner dem anonymen Verfasser der Schutzred sein Recht auf ein öffentliches Eintreten für Luther bestreitet, vgl. MDS 6, S.  120 ff.; zu Murners Argumentationsstrategie vgl. auch Jørgensen, Bauer, wie Anm.  127, S.  90–93.

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ihrerseits höchst reflektierten Einsatz der Anonymität in der Schutzrede bezieht; Murner entwickelt sie zu seinem zunächst bevorzugten literarischen Stilmittel im zeitgenössischen Meinungsstreit weiter. Erst nachdem die anonyme Publikationsstrategie mit der literarischen Entlarvung Murners im Karsthans (Abb.  4) und in der seit Januar 1521 einsetzenden publizistischen Kampagne seiner zunächst wohl ausschließlich in Straßburg zu suchenden ersten Gegner gescheitert war, ging er dazu über, in namentlich gekennzeichneten Schriften gegen Luther zu schreiben.62 Dass Murner, ähnlich wie bei seiner deutschen Übersetzung von Luthers De captivitate Babylonica, mit der er die Hoffnung verbunden hatte, die Laien über die Abgründigkeit der reformatorischen Ketzerei aufzuklären und sie von Luther abzuwenden63, das vollständige Gegenteil dessen erreichte, was er erhofft hatte, und die hinsichtlich der Zahl der Schriften und der in sie involvierten Autoren, aber auch der Vielfalt der literarischen Formen und Ausdrucksmittel komplexeste, überwiegend mit anonymen oder pseudonymen Schriften geführte literarische Kontroverse der frühen Reformationszeit auslöste64, in deren Gefolge er selbst zu der schillerndsten und populärsten Spottfigur unter den Luthergegnern avancierte65, sollte sich erst in der er­ sten Monaten des Jahres 1521 abzeichnen. Gerade im Lichte der massiven Gegenwehr, auf die Murner stieß, wird deutlich, dass die Tatsache, dass er anonym geschrieben hatte, eine Schlüsselrolle spielte, und dies eben deshalb, weil mit der von Murner gewählten Anonymität in der Volkssprache der Anspruch auf jene allgemeine Meinungsrepräsentanz verbunden war, die zu bestreiten für seine Gegner entscheidend war. Gerade weil Murner von der Anonymität einen reflektierten publizistischen Gebrauch gemacht hatte, dessen Absichten seinen kundigen Lesern durch62   Am 8. März 1521 erschien namentlich gekennzeichnet: Protestation Dr. Thomas Murner, daß er wider Dr. M. Luther nichts Unrechtes gehandelt habe (Eckel, Fremdwörterschatz, wie Anm.  60, Nr.  42; ed. in ZHTh 18,1848, S.  598–602; Charles Schmidt, Répertoire bibliographique strasbourgeoise jusque vers 1530, Bd.  2 : Martin 1481–1499, Jean Schott 1500–1544, Strasbourg 1893, ND Strasbourg 1958, S.  428, Nr.  341; Liebenau, Murner, wie Anm.  58, S.  172), ein Plakat, das Murner an 12 Orten in Straßburg aushängen ließ, zweieinhalb Wochen nach seiner letzten anonymen Schrift, dem am 17.  2. 1521 gedruckten Büchlein Wie Doctor Luter auß falschen Ursachen bewegt das geistlich recht verbrennet hat (MDS 8, S.  1 ff.; vgl. Eckel, a.a.O., Nr.  41). Erst gegen Jahresende 1522 folgten dann unter Murners Namen: Ob der könig aus England ein lügner sei oder der Luther (November 1522; Eckel, a.a.O., Nr.  47; MDS 8, S.  43 ff.) und das Versepos Vom großen lutherischen Narren (Dezember 1522; Eckel, Nr.  48; MDS 9). Murners Protestation markiert im Licht seiner eigenen literarischen Betätigung das Ende seiner anonymen Strategie. 63   Vgl. dazu die Nachweise in Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  57, S.  104, Anm.  755; Pierre Fraenckel (Hg.), Heinrich VIII., Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum [CCath 43], Münster 1992, S.  6 f. mit Anm.  32; Edwards, Printing, wie Anm.  17, 1994, S.  72 ff.; Miskuly, Murner, wie Anm.  58, S.  30. 64   Zu diesem ganzen Zusammenhang ist bisher noch unersetzt: Merker, Verfasser, wie Anm.  9, sowie die von Merker verfasste Einleitung zu MDS 9. Zur Skizzierung der literarischen Kontroverse s. u. Exkurs zu diesem Kapitel. 65   Zu Murner in der Druckgraphik vgl. Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford 21994, passim; Katalog der Ausstellung Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt/M. 1983, S.  221; 223–226; 249; Beyer, Eigenart, wie Anm.  110, S.  62–64.

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Abb.  4  Titelblatt der Flugschrift Karsthans [Straßburg, Johann Prüß d.J. 1521]; VD 16 K 135; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1977, S.  216. Das Titelblatt zeigt (von links nach rechts): den reformgeneigten, aber nicht mit offener Kirchenkritik hervortretenden Humanisten Mercurius, den katzenköpfigen Franziskaner Thomas Murner, einen Studenten – Sohn der Titelfigur – , und, mit der „Karst“ genannten Feldhacke über der Schulter: Karsthans. Der kurz im Dialog auftretende Luther wird interessanterweise nicht abgebildet, vielleicht, um Karsthans ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken; Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt/M. 1983, S.  248 f. Nr.  314.

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sichtig sein mussten, löste er die in ihrer Intensität analogielose publizistische Gegenreaktion aus. Die Anonymität hatte es Murner erlaubt, sich auf einen auf die Ebene der Volkssprache verlagerten Diskurs einzulassen, und ihn – da die Auseinandersetzung um die Lehre seines Erachtens eine Angelegenheit der Gelehrten sein und bleiben müsse66 – zugleich in seinem Recht grundsätzlich zu bestreiten.67 In Bezug auf den Anlass, sich in die durch Luther aufgeworfene Diskussion einzuschalten, spielte nach Auskunft des Anonymus die Tatsache eine wichtige Rolle, dass „etlich ungelert“ aufträten, die Luther „in kunst und erfarenheit der götlichen geschrifft seer ungleich“ seien, ihn aber „an vermessenheit ubertreffen offenlich zu disputieren“68. Die Wirkungen Luthers bei „hanß karst und der ungelerten und uf­f­ rie­rigen gemein“69, die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und der unter dem „deckmantel und schein fill myßbruchs yn chrystlicher kirchen“ Einzug haltende „mißglauben“ und „yrtum christlicher warheit“70 veranlassten den Anonymus zu seiner literarischen Gegenwehr (Abb.  5). Nicht die Kritik an von Luther zum Teil zu Recht angeprangerten Missbräuchen, sondern sein Angriff auf den „glauben“71 erscheint dem Anonymus als grundstür66

  Vgl. z. B. MDS 7, S.  68.   Dass Luther „in manigfeltigen deutschen biechlin alle winckel erfüllet hat“ (MDS 5, S.  91, S. Anm.  57), ist für den Anonymus Anlass, „dem frummen eynfeltigen christen [.  .  .] zu rettung und hanthabung zu zu springen“ (MDS 6, S.  92). Den Charakter seiner dritten Schrift Von dem babsten­ thum rechtfertigt [Murner] folgendermaßen: „Es mag auch ein ieder weyser wol verston / das wir in dissen deutschen biechlin / dem gantzen fluß und anlauffenden waltwasser / zu gegen gesperret haben / un der uffblasenden gemein die luther mer dan uber das halb mit seinen unwarheiten und ungleübigen reden uffgewiehlet und vergifftet hatt / den rechten christlichen verstande zu geben verursachet seint [.  .  .]“. Ebd. Im Folgenden wolle der Anonymus Luther „zu latin und deutsch“ antworten, MDS 7, S.  53. Cochläus rechnete Murner unter diejenigen Kontroverstheologen, deren literarische Aktivitäten gegen Luther erfolglos waren, vgl. Walter Friedensburg, Beiträge zum Briefwechsel der katholische Gelehrten im Reformationszeitalter 2, in: ZKG 18, 1898, S.  106–131, hier: 124; vgl. Liebenau, Murner, wie Anm.  58, S.  171. Schon während seiner volkssprachlichen Kampagne gegen Luther wurde Murner – wohl verstärkt durch die Kritik im eigenen Lager – sein publizistisches Vorgehen in der Volkssprache entweder selbst zweifelhaft, oder er sah sich doch wenigstens unter Legitimationsdruck. 68   MDS 6, S.  32. 69   MDS 7, S.  63; MDS 6, S.  91. Ein durchgängiger Kritikpunkt an Luther besteht darin, dass dieser mit ihm widerfahrenem Unrecht in die Öffentlichkeit gehe. Vgl. MDS 7, S.  41 f.: „[.  .  .] thut euch [sc. Luther] [S.  42] der bapst unrecht / oder beschwert euch / so klagen das ab im an ort und enden / da es mag gebessert werden / und üch geholffen. Was sol hanß karst und die uffrürige gemein darzu thun / wa ir ewer klag ie erstrecken würden / solt euch hanß karst wol den blunder gar nemen / dan kenn ich in recht / so kan er kein schimpff verston / mit namen was pfaffen und münch antrifft / dan ich uß seinem mund selbs gehört / man hab im drei zipffel genummen / und ficht umb den fierden / er wöl ein mal mit dem karst daryn schlagen. Ir solten euch wol eins zipffels klagen / und das gantz bet verlieren.“ Die Bezugnahme Murners auf den ‚gemeinen Mann‘ in Gestalt des Karsthans löste bekanntlich die literarische Replik in Gestalt der gleichnamigen Dialogflugschrift aus. Zur Literatur zum Karsthans und zur Bauernfigur in der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur s. unten Anm.  127. Integraler Bestandteil der Aufruhrthematik ist die von Murner beschworene Erinnerung an die Greuel der Hussiten, vgl. nur MDS 6, S.  86 f.; MDS 7, S.  48; 63; 81; 114; s. oben I, §  2. 70   MDS 6, S.  91 71   MDS 7, S.  93; passim; MDS 6, S.  39. Wichtige Aspekte einer lebhaften Reformgesinnung Mur67

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Abb.  5  [Thomas Murner], An den Großmechtigen unn Durchlüchtigsten adel tütscher nation das sye den christlichen glauben beschirmen wyder den zerstörer des glaubens christi Martinum luther ein verfierer der einfeltigen christen [Straßburg], Johann Grüninger 1520; VD 16 M 7020; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3394, S.  102 f.; Ex. MF 250 Nr.  696; Titelblatt mit floralen Ranken und Zierpfeilern, in denen Insekten schwirren; ein sitzender und ein liegender Engel am unteren Rand.

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zender Umbruch. Die Person Luthers wolle der Ungenannte weder schmähen noch in ihrer Bedeutung schmälern72, mit seinen „latinische[n] biecher[n]“ sei er ja auch „in filer erwürden kummen“, nur „ietz“ habe er angefangen, ‚jedem Kuckuck mit seinem Ruf zu antworten‘73, mit Schmähungen um sich zu werfen und den „armen unver­ stendigen christen“74 Ärgernis zu geben. In der Rolle, die der Anonymus einnimmt, will er – durchaus auf der Linie der Spenglerschen Schutzrede – die Auseinandersetzung um Luther als „hangendt“75, als noch nicht definitiv entschiedenen juristischen Prozess ansehen. Gerade wegen seiner Berufung auf ein Konzil dürfe Luther nicht schon vor dessen Urteil so auftreten, als ob die Wahrheit seiner Sache entschieden sei.76 Den sich auf einem Konzil zur Entscheidung versammelnden „hochverstendigen“, insbesondere dem Kaiser77, aber auch dem „gemeinen Mann“78, will er Orientierungshilfen geben. Durch gelegentliche Bemerkungen über die „edele vernunfft“ und den „von gott erlüchteten verstandt“ Luthers, die dieser freilich „ubel“79 nutze, ners sind in Gestalt einschlägiger Zitate zusammengestellt in: Georg Schuhmann, Wetterzeichen der Reformation nach Murners Satiren aus der vorlutherischen Zeit, in: RQ 25, 1911, S.  162–184. 72   MDS 6, S.  32; vgl. 75; 81; MDS 7, S.  8. 73   MDS 6, S.  42. 74   MDS 6, S.  43; 53. 75   MDS 6, S.  37; 97. Analog zu dem von dem Juristen Spengler angeführten Rechtsgrundsatz (s. o. Anm.  33) heißt es bei Murner: „Ein red kein red / darumb so höre sie beide / und einer regel der rechten also lutendt / was yederman betrifft/ sol auch von niemans in sunderheit / sunder von iederman gehandelt werden.“ MDS 6, S.  33; vgl. Codex Iustinianus I, 1, 3; MDS 6, S.  192 f. zu Z.  10; vgl. auch MDS 6, S.  94; 114; vgl. MDS 6, S.  97. In Bezug auf Murners Argumentation mit dem römischen und dem kanonischen Recht in der Auseinandersetzung mit der Reformation ist zu berücksichtigen, dass er soeben vor Eintritt in die literarische Kontroverse mit Luther seine juristischen Studien abgeschlossen und wohl erst spät – 1518/19 weitgehend durch juristische Interessen absorbiert – überhaupt zu einer Auseinandersetzung mit den Schriften Luthers kam. Vgl. im Ganzen: Adalbert Erler, Thomas Murner als Jurist [Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe 13], Frankfurt 1956. 76   Vgl. MDS 6, S.  37 f. Dass Murner zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Schrift von der Bannandrohungsbulle gegen Luther nichts gewusst haben sollte, ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern wohl auszuschließen. Bei den Argumenten, die er für die Anonymität anführt, spielt auch eine Rolle, „das mir zimpt und gebürt / auch mit bennigen zu handlen in dem fal das ich myn christlichen bruder bring wieder uff die Strassen der christlichen underthenigkeit / und sein seel gewyn in das ewig leben [.  .  .].“ MDS 6, S.  33. Dies setzt voraus, dass er Luther bereits als Gebannten betrachtet, den Appell an ein Konzil gleichwohl aus argumentationstaktischen Gründen als verbindlicher behandelt, als Luther – wie Murner weiß (MDS 6, S.  31) – ihn wegen der Unterordnung des Konzils unter die Schrift zu diesem Zeitpunkt noch betrachtete. Der Verfasser will Luther also nicht als Ketzer behandeln, da nur der ein Ketzer sei, der sich nicht belehren lasse (MDS 6, S.  70 f.), und da ihm – jedenfalls in der Ermanung – von Luthers „condemnation“ noch nichts bekannt ist, MDS 6, S.  84. 77   MDS 6, S.  33; 92; 95; vgl. 97; MDS 7, S.  42. 78   Vgl. MDS 8, S.  4. 79   MDS 6, S.  44; vgl. 43; MDS 7, S.  116. Luther habe sich aus einem gelehrten Mann zu einem Feind des Vaterlandes und des Glaubens entwickelt, MDS 7, S.  66 f.; zur Anwendung des DanielEpithetons auf Luther vgl. MDS 6, S.  93; vgl. 175, Anm.  zu Z.  24; Hamm, Spengler, Schriften, Bd.  1, wie Anm.  23, S.  100,4; vgl. MDS 7, S.  88; Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  57, S.  41; s. oben II, §  8, Anm.  9.

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und mit Anreden an ihn wie „mein hertz lieber bruder“80 will der Anonymus den Eindruck verstärken, er bemühe sich um eine vorurteilsfreie Prüfung der Sache. Aus seiner Zugehörigkeit zum Priesterstand macht der Anonymus keinen Hehl. Für sein öffentliches Auftreten beruft er sich auf seine durch Eid und Gelübde bekräftigte Amtspflicht, „die warheit [.  .  .] zu retten und [zu] beschirmen“81. Unter dem Schutz der Anonymität versucht Murner geradezu, um durch die „Ungunst“82, die seiner Person entgegengebracht werden könnte, der Wahrheit, für die er eintritt, nicht im Wege zu stehen, sein ideales Bild des priesterlichen Amtsverständnisses exemplarisch umzusetzen.83 Die von Luther in der Adelsschrift eingenommene Narrenrolle widerspricht dem programmatisch verfochtenen geistlichen Rollenverständnis des Anonymus zutiefst.84 Während Luther den Laien mit seinem allgemeinen Priestertum nach dem Mund rede, will der Anonymus dies gerade aus höherem Verantwortungsgefühl heraus nicht tun85 : „dem leyen und gemeinen armen Christen“ will er den „rechten verstandt“86 der von Luther verunglimpften Messe erschließen. Gerade als Repräsentant des geistlichen Standes vertritt der Anonymus seinem Anspruch nach die „gemeine christenheit“87. Die Mehrheit der Christen88, ja „tusend“89 andere stün80   MDS 6, S.  41: „Darumb ich dich erman mein hertz lieber bruder / das du der gedult christi ihesu unsers herren nit vergessest / [.  .  .] ob du angefochten würdest von filen / dich des nit verwunderst / dann du auch fill anflehtest / und nit die minderen sunder die mereren / gedult habest / nit in solchem zorn bewegen lassest / das du das kint mit bad ußschüttest [.  .  .].“ Vgl. S.  82; 33; MDS 8, S.  4. 81   MDS 6, S.  92; zu seiner eidlichen Verpflichtung als Doktor und Ordensmann vgl. auch seine Protestation (ZHTh 1848, S.  598; 600; vgl. 601). Freilich scheint Murner sein Rollenkonzept nicht ganz durchzuhalten. Eine Aussage wie: „Dem geistlichen stant rat ich gantz nichts / dan sie mir das nüt befohlen haben“ (MDS 7, S.  42) scheint einen Verfasser aus dem Laienstand zu suggerieren; vgl. ähnlich MDS 7, S.  50: Der Anonymus hat die Schriften der Gelehrten zwar gelesen, überlässt ihnen aber das theologische Urteil. 82   Vgl. z. B. MDS 7, S.  55; s. unten Anm.  115. 83   Vgl. Murners Schrift Der keiserlichen stat rechten ein ingang und wares fundament, Straßburg 1521; VD 16 C 5235; Ex. SB München 4° J rom c 158c {digit.}; zit. MDS 7, S.  56 f. Vgl. Eckel, Fremdwörterschatz, wie Anm.  60, Nr.  44; Muller, Bibl. Stras., Bd.  2, S.  40, Nr.  177. Seine Übertragung lateinischer Rechtsquellen in die Volkssprache begründete Murner mit seinem geistlichen Amtsverständnis, vgl. Erler, Murner, wie Anm.  75, S.  48. 84   Vgl. MDS 7, S.  67. 85   MDS 7, S.  82. 86   MDS 6, S.  61; vgl. 75. 87   „Das aber gemeine Christenheit (für deren wir von dir [sc. Luther] on alle warheit verklagt ston) erkennen mögen / wie und von wem / auch in welcher meinung diese ubung und bruch der meß uff unß erwachsen sy / und wir dan weder umb gelt noch anders erdichtet noch erlogen haben [.  .  .].“ MDS 6, S.  45. Erler äußert die These (Murner, wie Anm.  75, S.  61), Murner habe „nur wegen (seines) geistlichen Standes“ anonym geschrieben. 88   MDS 6, S.  41. 89   MDS 6, S.  65; vgl. 33. Gerade diese Berufung auf die Mehrheitsmeinung ist allerdings brüchig; zur Wirkung des allgemeinen Priestertums etwa heißt es: „Darumb du [sc. Luther] dich der wörtter pfaff und pfeffin unverstentlich mißbruchest hast / das sich des der ley hoch geergert / unnd schon meinet / das keines priesters mer not were zu übung des Sacraments unnd vermeinten [.  .  .] selb die götlichen empteren zu thun [.  .  .].“ MDS 6, S.  60.

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den hinter ihm und er habe sein Ohr an dem Mund des gemeinen Mannes.90 Eigentlich habe der Anonymus nicht gegen Luther auftreten wollen, ja zunächst habe er sogar gehofft, seine „leeren / dienten zu einem fruchtbaren und christlichen end“91. Nun aber müsse er als Anwalt der schweigenden Mehrheit, die von Luthers maßlosem Pfaffenhass und seiner Unterstellung, die Priester feierten die Messe nur aus Geldgier und ohne an ihren Heilswert zu glauben, entsetzt sei, das Wort nehmen: „so ich aber sihe das du unß ußschließen wilt / uß dem verdienst des leidens cristi Jhesu / brüchest du mit uff mein hertz mit hoher bitterkeit / dir antwurt zu geben / mein und noch manches frummen priesters entschuldigung zu schreiben / mit gebognen knüen uff den boden / und uffgereckten henden und mit heisserr trehen zu der gemein / die du der maß wider unß erweckest / das sie unß bessen vertrauwen [.  .  .].“92 In dem werbenden Ringen, das durch Luther erschütterte Vertrauen zwischen Priestern und Laien erneuern zu können, bekundet der Anonymus Zuversicht. Auch wenn die „gemein“ Luther mit „einem oren geglaubt“ habe, so werde sie den Priestern „das ander or gantz behalten“93. Konzessionen in Bezug auf Verfehlungen von Mönchen, Pfaffen94 und der Hierarchie95 und Appelle an eine „gemeine reformation / durch ein concilium“96 setzt der Anonymus gezielt ein, um das Zentrum des Heils – daran „das aller meist“ gelegen sei, „das heilige ampt der meß“97 –, vor Missverständnissen und Verunglimpfungen zu schützen und Luthers Angriffen auf den Glauben, und das heißt für den Anonymus: auf den Papst, umso nachdrücklicher entgegenzutreten.98 90

  Vgl. oben Anm.  69. „Es sein vil die da meinen dich dürst nach dem blut der geistlichen / so du so grossen und als sie sagen / unverdienten ungunst / argwon / und haß uff sie [sc. die Priester, und zwar mit dem Vorwurf, sie läsen die Messe um des Geldes willen und glaubten nicht an die „Krafft der messen“ ] geworffen hast / das du in allen deinen büchlin / ir also zu uneeren und schaden gedenkest [.  .  .].“ MDS 6, S.  43 Gelegentlich fasst sich [Murner] mit der Gemeinde zusammen und redet von „uns armen Christen lüt“ (MDS 6, S.  107). 91   MDS 6, S.  44. 92   MDS 6, S.  44; vgl. 103. Dass in der Messfrage das Herzstück des priesterlichen Selbstverständnisses des Anonymus zu sehen ist, wird auch an einer anderen Stelle deutlich, wo er mit „diser meiner hantgeschrifft [bekennt] / das ich in vetterlicher lere des andachts der messen sterben wil von dieser welt [.  .  .]“. MDS 7, S.  111; vgl. zu Murner Messtheologie Miskuly, Murner, wie Anm.  58, bes. S.  22 ff. 93   MDS 6, S.  44. 94   Vgl. z. B. MDS 6, S.  67 f.; 84; 102; zum Ablasswesen instruktiv: MDS 6, S.  104; 11 (zu Tetzel); in direkter Anrede an Karl V.: MDS 7, S.  64. 95   Der Anonymus bekundet, er habe Luthers „eer / unnd würden in kainerley weg [.  .  .] geletzt haben [wollen] auch daby keinen mißbruch durch dich fur gewent / er sei wider bapst / keiser / künig / fürsten / heren ritter oder knecht / geistlich oder weltlich / burger oder buren verantwurt haben [.  .  .].“ MDS 7, S.  81; vgl. 107. 96   MDS 6, S.  70; MDS 7, S.  90 ff. (unter Rekurs auf die vorreformatorische Reformliteratur). 97   MDS 6, S.  75; Kasus von mir geändert, Th. K. 98   „[.  .  .] Ich sag wie alle weg / werestu [sc. Luther] uff straff der mißbruch beliben / und hettest nit in den glauben mit ungeweschten henden gegriffen / was het uns den schlaff brochen / wie ir myteinander der Sachen uberkummen weren / so fer das wir zu gegen dem babst des glaubens halb nit erwecket würden“. MDS 6, S.  84. Die Auseinandersetzung mit Luthers in den Resolutiones de postestate papae (vgl. WA 2, S.  181 f.; Benzing/Claus, Nr.  392–397), der Adelsschrift und seiner ge-

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Er will sich als „unpartheiescher“99 darstellen; seinen christlichen Bruder Luther, der mit durchaus reichen Verstandesgaben geziert sei, sich nun aber verrannt und vollständig isoliert habe100, wolle er – wie den verlorenen Sohn des Gleichnisses – in den „schossen der barmhertzigkeit“101 der Papstkirche zurückführen. Der irenisch-pastorale Ton, den der Anonymus anklingen lässt, gründet in dem verpflichtenden Ernst der Situation: Luther ist von der „strassen der christlichen underthenigkeit“102 abgewichen und hat damit das Heil seiner Seele aufs Spiel gesetzt.103 Er hat Fragen, die den Glauben berühren, aufgeworfen, und muss es deshalb ertragen, dass der Anonymus und „yederman“104 gegen ihn schreibt. Der Anonymus suggeriert seinen Lesern also nichts Geringeres, als dass die Auffassung, die er selbst vertritt, die allgemeine ist105 und dass er sich einfügt in eine gewaltige publizistische Abwehrkampagne gegen Luther. Die von Murner mit der Anonymität verfolgte propagandistische Strategie ist ebenso schlicht wie bestechend: Die Abwehr der Irrlehre durch den Appell an die von „einigkeit / in gehorsame der oberkeit“106 geprägte bürgerlich-städtische Verantwortungs- und Verpflichtungsgemeinschaft will der als moderater Sprecher der Allgemeinheit auftretende Anonymus schaffen, indem er sie behauptet. Die „verschwygung eigens namens“107 solle beweisen, dass der Anonymus keinen anderen Ruhm suche als die Wahrheit des Evangeliums.108 Mit der von Luther erwarteten gen Alveldt gerichteten Schrift Vom Papsttum zu Rom vorgetragenen Angriffen auf das Papsttum bildet den Inhalt der dritten Murnerschrift, vgl. MDS 7, S.  5 ff. Aus dem Erweis der Legitimität des Papsttums als Stiftung göttlichen Rechts folgt die Illegitimität der Lutherschen Angriffe auf den Glauben. Die „höchst und hauptsach [.  .  .] des glaubens“ sei, „ob das babstenthum von Christo sei uffgestifftet oder nit [.  .  .].“ MDS 7, S.  7; vgl. MDS 7, S.  54. 99   MDS 6, S.  81; vgl. MDS 7, S.  43. 100   Vgl. z. B. MDS 6, S.  47. 101   MDS 6, S.  82; vgl. 42; Luther soll nicht sterben, sondern sich bekehren: MDS 6, S.  44. 102   MDS 6, S.  33. 103   MDS 6, S.  33; 82. 104   MDS 6, S.  33. 105   Vgl. aber auch MDS 7, S.  53 f., wo [Murner] wohl auch, weil er im eigenen Lager unter Druck geraten ist (vgl. oben Anm.  67), den Vormarsch der Lutheranhänger nicht mehr verschweigt. 106   MDS 6, S.  74. Vgl. auch die Bezugnahmen auf die städtische Erfahrungswelt MDS 6, S.  114; MDS 7, S.  69 f. 107   MDS 6, S.  32 f. 108   MDS 6, S.  33. Das von Murner gebrauchte Motiv, ohne eigenen Namen zu schreiben sei Ausdruck von Demut (vgl. auch seine Protestation, ZHTh 1848, S.  599), begegnet in anonymen Flugschriften auch sonst gelegentlich. Das Gespräch zwischen einem Christen und Juden (vgl. dazu HansChristoph Rublack, .  .  . hat die Nonne den Pfarrer geküßt? Gütersloh 1991, S.  37 ff.; Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, Tübingen 22013, S.  71 ff.) endet mit folgendem Dialog zwischen dem Wirt und dem Hausknecht: „W: es gefelt mir wol. schreyb nur dein nhamen hinden dar ahn! Christus spricht marci am 8. [V. 38]: wer mich bekennen wyrt und mein wort yn disser ebrecherrischen und sunthaftigen arth, den wirt wider bekennen der sohn des menschen, wan ehr wirt kommen yhn dy ehre seines vatters mit allen seinen engeln. HK: ich will yhn [sc. den gelehrten Gesprächspartner] zu nurnbergk dar umb fragen, wy es sich leiden wiel, dye weil allein Gottis ehre gesucht sol werden. W: ßo mach dich balt her auß! HK: das kundt ihr dencken; das phlaster ist heiß einem, der nicht viel gelß hath. Haus Knecht ßt (scripsit).“ Zit. nach Clemen, Flugschriften, Bd.  1,

3.  Thomas Murners anonyme Publikationsoffensive und ihre publizistische Abwehr

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Antwort werde dieser „in“ dem Anonymus als korporativer Figur der allgemeinen Christenmeinung „fil frumme christenlüt“109 ansprechen. Der ‚Niemand‘ der anonymen Flugschrift behauptet, ‚Jedermann‘ zu sein.110 Um es nicht als ein „schmachbüchlin on namen“ zu verdächtigen, kündigt der Verfasser sogar an, dem Straßburger Bischof „nam und person des machers diser büchlin“111 anzuzeigen. Diese Ankündigung wurde am Schluss jeder der fünf anonymen Schriften wiederholt.112 Der vom Anonymus in Anspruch genommenen Repräsentanzfunktion für die Christenheit als ganze korrespondierte so eine Einfügung in die von ihm bejahte kirchliche Ordnungswelt. Die von Murner gebrauchte Form der Anonymität sollte von dem anonymer Publizistik anhaftenden Nimbus des Subversiven freigehalten werden. Gerade weil der Verfasser dieser anonymen Schriften davon überzeugt war, dass die „schmachbüchlin“ nur zum Aufruhr führen könnten, schärfte er die Unterordnung unter die Obrigkeit als der berufenen Instanz auch der Konzilsappellation ein113 und erklärte seine Bereitschaft, sich dem Lehrurteil des Mainzer Erzbischofs und des Straßburger Bischofs zu beugen.114 Die Entscheidung darüber, wem S.  420. Ähnliche Motive klingen auch in anderen anonymen Flugschriften an, etwa in einer Vorrede zu einer deutschen Ausgabe des sog. Hoen-Briefes, s. meine Hinweise in: Abendmahlstheologie, wie Anm.  57, S.  293, Anm.  139; Pfarrfrau, wie Anm.  21, S.  213, Anm.  168. 109   MDS 6, S.  33. 110   Die in zahlreichen Gedichten des Straßburger Barbiers Jörg Schan popularisierte „Nieman“Gestalt könnte als eine Art literarischer Analogie zum Murnerschen Rollenbild des Anonymus erscheinen. Vgl. zur Nieman-Figur die Hinweise in: Hermann Meuche/Ingeborg Neumeister, Flugblätter der Reformation und des Bauernkrieges, Leipzig 1976, S.  104–106 (Lit.); siehe auch: Franz-Heinrich Beyer, Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblattes im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit [Mikrokosmos 39], Frankfurt/M. u. a. 1994, S.  110 f.; 175; Wolfgang Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd.  1, Tübingen 1985, S.  112–115; vgl. Bd.  4, 1987, S.  20 f. Vom Anspruch repräsentativer Allgemeinheit her ist etwa auch die Bauernfigur in der Göttlichen Mühle (vgl. die Hinweise oben II, §  8, Anm.  129 und unten Exkurs) angelegt: „doch hat got die verstentnus / viler menschen erleucht in uns“ (Kursivierung vor mir, Th. K.); Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  1, S.  20,39 f.; vgl. auch 24,170 ff. 111   MDS 6, S.  87. 112   Vgl. MDS 6, S.  122; MDS 7, S.  54 f.; 117. 113   „Und dunkt mich gantz und gar zu einem bundschu dienen / und einer schelligen / wietenden / und unsinigen uffruren / die so bald wider die erwecket ist als / wider iemans anders das man der massen mit schmachbüchlin / und mancherlei scheltworten der gemein geben wil / das billich der oberkeit zugehört.“ MDS 7, S.  90; vgl. 116; Protestation, ZHTh 1848, S.  601. 114   „Des halben mich eröfnet unseren durchllüchtigen erwürdigen und hoch gebornen fürsten und heren einem bischoff von mentz und von Straßburg alß ordentlichen richteren der mentzischen provintzen / so ich ie auch ein mensch bin und irren möcht mich ir genad wa ich irrete berichteten hinderzigen und lerneten bereit in alle weg irer genaden urteil Sententz und underweisung zu volgen [.  .  .].“ MDS 8, S.  29. Dieser Hinweis darauf, dass Murner seine Anonymität auch gegenüber dem Mainzer Erzbischof entborgen habe, findet sich auschließlich in der letzten der fünf anonymen Schriften; wahrscheinlich hat Murner allerdings von vornherein den Mainzer Erzbischof informiert, vgl. seinen Brief an Sebastian Brant vom 13.  1. 1521, abgedruckt in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologisch und historischen Classe der Königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Bd.  1, 1871, S.  277–280, hier: 277; vgl. auch Murners Protestation, ZHTh 1848, S.  599; s. auch Liebenau, Murner, wie Anm.  58, S.  171 ff.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

das Geheimnis über den anonymen Verfasser mitgeteilt werden konnte, lag demnach beim Bischof.115 Es wurde für Murner freilich immer schwerer, das anonyme Rollenprofil in der skizzierten Weise durchzuhalten, einerseits weil er sich wohl schon in der dritten Schrift seiner Kampagne mit Kritik aus dem eigenen Lager auseinandersetzen musste, die seine Behandlung von Glaubensfragen in der Volkssprache verurteilt hatte116, andererseits, weil das Missverhältnis zwischen der von ihm beanspruchten allgemeinen Meinungsrepräsentanz und der tatsächlichen Zustimmung der reichsstädtischen ‚Öffentlichkeit‘ zu Luther und seiner Sache zu offenkundig wurde. Die Polemik des Anonymus gegen Luther verschärfte sich zusehends – insbesondere über der Papstfrage –, und sein Anspruch, die „eynfeltigen Christen“ zu retten117, reduzierte sich mehr und mehr auf die Absicht, bei den „hochverstendigen“ Gehör zu finden118, bis hin zu der Ankündigung, demnächst in „latin und deütsch“119 zu schreiben. Die anonyme Publikationsoffensive Murners wirft ein instruktives Licht auf die konfliktreiche publizistische Situation der ‚altgläubigen‘ Kontroverstheologen.120 Durch seine anonymen volkssprachlichen Flugschriften versuchte Murner im Kontext eines noch keineswegs entschiedenen Meinungsstreites, im Horizont eines zunächst noch ‚offenen‘ Diskurses in der elsässischen Reichsstadt, in der Straßburger Parteigänger Luthers noch nicht öffentlich publizistisch hervorgetreten waren, den Anspruch auf allgemein-verbindliche Meinungsrepräsentanz aufrechtzuerhalten. Das Dilemma Murners bestand grundsätzlich darin, sich mit volkssprachlichen Flugschriften auf ein Medium einzulassen, das er für die Erörterung von Glaubensfragen prinzipiell ablehnte. Durch Luthers deutsche Flugschriften sah er sich ge­­nö­ tigt, das, „was unseren glauben berüren möcht“121, vor der Laienöffentlichkeit zu verhandeln und ihr die systemsprengenden Konsequenzen der Lutherschen „er115   Vgl. MDS 6, S.  87. In Bezug auf die Handhabung dieses bischöflichen Rechtes sollte dies nur geschehen, sofern „sein gnad [sc. der Bischof] das notturfftig wurd erachten / doch nit einem ieden biß zu seiner zeit / der filleicht uß Ungunst der personen die warheit verachten wolt.“ MDS 7, S.  55. Gegenüber Brant begründet Murner die Anonymität damit, „ut authoris nomen ignorantes ad materie veritatem dicere extimularentur“, Sitzungsberichte, wie Anm.  114, S.  278. Dieses Motiv nennt er auch in der Protestation, vgl. ZHTh 1848, S.  599. Den Hinweis auf seine Motive verband Murner mit der Forderung an Brant, durch scharfe Zensurmaßnahmen der um sich greifenden böhmischen Ketzerei Luthers (s. oben I, §  2) entgegenzutreten, (a.a.O., S.  278), „ne nobilis, gloriosa, et inclita atque fidelis argentina spelunca fiat infidelium“. 116   Vgl. oben Anm.  67 und 105. 117   Vgl. MDS 6, S.  92. 118   Vgl. MDS 7, S.  54; [Murners] Schrift An den Groszmechtigen . . . adel (Abb.  6) ist gleichsam die programmatische Umsetzung dieser Absicht, vgl. etwa MDS 7, S.  116. 119   MDS 7, S.  53; vgl. oben Anm.  105. In seiner Protestation erklärt Murner seine Bereitschaft „meine .xxx. ii. büchlin [s. o. Anm.  57] in latinische zungen zu verdalmetschen“, ZHTh 1848, S.  599. 120   Vgl. auch Edwards, Printing, wie Anm.  17, bes. S.  63. Die beste bibliographische Übersicht über die Publizistik der Reformationsgegner bietet noch immer: Wilbirgis Klaiber, Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jahrhunderts [RGST 116], Münster/W. 1978. 121   MDS 7, S.  93.

Exkurs:  Die Straßburger Anti-Murner-Publizistik an der Jahreswende 1520/21

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nüwerung“122 des Glaubens vor Augen zu führen. Die dem Leser suggerierte überparteiliche Neutralität und der irenisch-moderate Ton des um das Seelenheil der Christenheit bemühten Priesters123, auch die Zugeständnisse hinsichtlich der Kirchenkritik Luthers, zielten darauf ab, das religiös-theologische Zentrum des angegriffenen kirchlichen Systems, den priesterlichen Messdienst124, und das die Wahrheit der Glaubenslehre verbürgende kirchliche Autoritätsgefüge umso nachdrücklicher zu verteidigen. Der mit der anonymen Publikationshaltung verbundene Anspruch, die Meinung des ‚gemeinen Mannes‘ zu repräsentieren, scheiterte in dem Moment, in dem der ‚gemeine Mann‘ selbst das Wort ergriff. Die zweifellos von einer Straßburger Humanistenhand stilisierte Gestalt des Karsthans, des unverbildeten und eben deshalb für das ursprüngliche Evangelium empfänglichen Bauern, ist die personalisierte Gegenfigur zu jenem Anonymus der Grüningerschen Flugschriftendrucke, hinter denen Thomas Murner stand. Karsthans, die publikations- und motivgeschichtlich einflussreichste literarische Figur der frühreformatorischen Flugschriftenpublizistik, die – zugespitzt formuliert – personifizierte ‚öffentliche Meinung‘, verdrängte den Anonymus in seinem Anspruch auf überparteiliche allgemeine Meinungsrepräsentanz und entlarvte ihn als den parteilichen ‚Murnarr‘. Der erste Versuch eines Luthergegners, mit Hilfe einer anonymen Publikationsserie in der Volkssprache die ‚öffentliche Meinung‘ dadurch zu beeinflussen, dass man sie zu repräsentieren beanspruchte, blieb – soweit ich sehe – der letzte. Die anonyme Publizistik wurde in noch stärkerem Maße als die volkssprachliche Flugschriftenpublizistik überhaupt eine genuine Ausdrucksform der ‚reformatorischen Bewegung‘.125

Exkurs:  Die Straßburger Anti-Murner-Publizistik an der Jahreswende 1520/21 Auf die anonyme Publikationsoffensive Murners reagierte das reformatorisch gesinnte Straßburger Humanistenmilieu, in dessen Kontext auch der Karsthans (Abb.  4) entstanden sein dürfte, seinerseits offensiv. Als Repräsentanten dieses Milieus, die als Verfasser der Schriften in Frage kommen bzw. zu diskutieren wären, ist wohl an Gestalten wie Nikolaus Gerbel, Otho Brunfels oder den zwischenzeitlich in Straßburg bezeugten Fabius Zonarius (s. dazu Rupprich, Eccius dedolatus, wie Anm.  42) zu denken. In Bezug auf diese Publikationsoffensive fällt auf, dass die lateinischen 122

  MDS 6, S.  33; vgl. 31; 39.   Vgl. Murners Selbstdarstellung gegenüber Brant, wie Anm.  114, S.  277 f. 124  Vgl. Protestation, ZHTh 1848, S.  599 f. 125   Vgl. zu dem Begriff meinen Artikel „Evangelical Movement[s]“, in: Hans J. Hillerbrand (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Reformation, Vol.  2, Oxford, New York 1996, S.  81 f.; s. auch: Thomas Kaufmann, Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen 32017, S.  219–230. 123

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Schriften in nicht-firmierten Drucken der Offizin Schotts, die deutschen Schriften in nicht-firmierten Drucken Johannes Prüß’ erschienen. In Bezug auf die lateinischen Schriften ist die Wahl von Pseudonymen typisch; die deutschsprachigen Texte, Karsthans und der Zusatz zum Nachdruck der Schrift Von den fier ketzeren (s. u. Nr.  1; Abb.  6) erschienen anonym. Ein für die lateinische Druckproduktion Schotts geradezu charakteristischer Sachverhalt, der in allen hier erwähnten Schriften eine gewisse Rolle spielt – bis hin zur Passio Lutheri –, ist in der starken Verschränkung der Anliegen und Personen Luthers und Huttens (besonders eindrücklich in dem Plakatdruck [Schotts]: Christianae Libertatis Propugnatoribus M. Luthero U. ab Hutten [Benzing, Bibl. Stras., wie Anm.  60, Nr.  377; Muller, Bibl. Stras., wie Anm.  83, Bd.  2, S.  80, Nr.  81; Faksimile in: Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Leipzig o.J., Bd.  3/1, zwischen S.  80 und 81; Johannes Schilling, Hutten und Luther, in: Ders./Ernst Giese [Hg.], Ulrich von Hutten in seiner Zeit [MonHas 12], Kassel 1988, S.  87–117; 100 f.; vgl. oben II, §  8, Anm.  44; bzw. dem Titelblatt von Huttens Gesprächsbüchlein [Straßburg, Schott, 1521], in: Schilling, a.a.O., S.  99; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  22, S.  263) zu sehen. 1.  In dem 1521 in drei Nachdrucken (vgl. MDS 1, 1, S.  CVI ff.) bei [Johannes Prüß, Straßburg] erschienenen, wohl von Murner verfassten deutschen Reimgedicht (MDS 1,1, S.  LXXII ff.) Von den fier ketzeren von 1509, in dem er den Berner Jetzerhandel zur Darstellung brachte, findet sich ein anonymer, auf dem Titelblatt angekündigter Ein kurtzer begriff unbillicher frevel handlung Hochstrats / Murners / Doctor Jhesus und irer anhenger (vgl. S.  CVII). Der Titelholzschnitt stellt Murner mit Katzenkopf und Drachenschwanz dar. Die Bezugnahme auf Murner in Ein kurtzer begriff (ed. in MDS 1, 1, S.  CXVIII–CXXI; Abb.  6) setzt das Erscheinen des Karsthans und des Murnarus Leviathan (s. oben II, §  8, Abb.  11) voraus, vgl. S.  CXIX, Z.  57 ff. Ein kurtzer begriff dürfte kurz nach dem Wormser Reichstag erschienen sein (vgl. S.  CXII) und nimmt bereits auf das Scheitern von Murners weiträumigen Publikationsplänen Bezug: „Wolt [sc. Murner] schrieben vil, doran nit ist“ (S.  CXX, Z.  69). Das Interesse am Jetzerhandel hat eine auffällige Parallele in der etwa zeitgleich in Straßburger Drucken erschienenen pseudonymen Schrift Passio Doctoris Martini Lutheri secundum Marcellum; der lateinische Urdruck erschien bei [Schott], der Urdruck der deutschen Übersetzung bei [Johannes Prüß]. Vgl. Johannes Schilling, Passio Doctoris Martini Lutheri [QFRG 57], Gütersloh 1989; zum Bezug auf den Jetzerhandel bes. S.  34, 179 f.; s. auch Scribner, Sake, S.  25 f.; II, §  8, Abb.  10. 2.  Wohl noch im Dezember 1520 oder im Januar 1521 (vgl. Merker, Verfasser, wie Anm.  9, S.  19, Anm.  1; vgl. 28 f.) erschien in der [Straßburger] Offizin [Johann Schotts] unter dem Pseudonym (vgl. Merker, a.a.O., S.  28; s. auch WABr 2, S.  238– 240) „Matthaeus Gnidius“ eine Schrift mit dem Titel: Defensio Christianorum de Cruce (Muller, Bibl. Stras., wie Anm.  93, Bd.  2, S.  78, Nr.  64; Pegg, Swiss, wie Anm.  38, Nr.  2034; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  1343, S.  573; Ex. MF 65 Nr.  169; Merker, a.a.O., S.  19 ff.; vgl. Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  261 f.; s. auch Liebe­ nau, Murner, wie Anm.  58, S.  169; RE3 13, S.  570; Scribner, Sake, wie Anm.  65,

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Abb.  6  [Thomas Murner], History von den fier ketzren Prediger ordens der observantz zu Bern jm Schweytzer land verbrant in dem jar .  .  . M.CCCC.IX. .  .  . [Straßburg, Johann Prüß d.J. 1521]; VD 16 M 7063; Ex. MF 110–111 Nr.  291; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  3409, S.  111 f.. Die Flugschrift war zuerst 1509 erschienen und berichtet von dem sog. Berner „Jetzerhandel“. Der Laienbruder Hans Jetzer hatte im Berner Dominikanerkloster Wundererscheinungen fingiert, die Beweise gegen die von den konkurrierenden Franziskanern vertretene Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens liefern sollten. Jetzer kam schließlich frei; die vier Oberen des Dominikanerklosters wurden hingerichtet – ein Justizmord. Der Neudruck der Schrift im Jahre 1521 nutzt das Titelblatt zur Agitation gegen ihren Verfasser. Die „Patroni Libertatis“ Reuchlin, Hutten und Luther treten den als „Conciabulum malignantium“ ettikettierten altgläubigen Gegnern entgegen.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

S.  24–26), für die wohl insgesamt zwei Druckausgaben (VD 16 G 2276 f.; vgl. dagegen Merker, a.a.O., S.   20–22) nachgewiesen sind. Der durch [Murners] Von dem babstenthum, Von Doctor Martinus Luthers leren und predigen und seine erst in den angehängten Briefen erwähnten Adelsschrift veranlassten Defensio Christianorum de Cruce des Matthaeus Gnidius sind ein Brief des Gnidius an alle „eruditi“ Deutschlands und zwei Briefe eines Petrus Francisci an Hutten und Luther angefügt. Ähnlich der Vorrede zum Karsthans (Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  76,2 ff.) nimmt Gnidius an Murners Anonymität und daran Anstoß, dass er in der Volkssprache schreibt, vgl. Ex. MF 65 Nr.  169, a2r; a1v; ausführliches Inhaltsreferat bei Merker, a.a.O., S.  22 ff. Gnidius ahmt Murners Verfahren, Mäßigkeit vorzuschützen und polemisch zu agieren, nach, ebenso den an Murner gerichteten, Murners Bekehrungsappell gegenüber Luther kopierenden ‚Umkehrruf‘. Dasselbe gilt für die von Gnidius herausgestellte Beurteilung, Murners Anonymität sei eines Theologen unwürdig. In Bezug auf die Motive der Murnerschen Anonymität spielen die Ruhmsucht und der Erwerbswillen des Franziskaners die entscheidende Rolle. Die zeitliche und weitgehend sachliche Parallelität der Defensio Christianorum und des Karsthans sowie das in beiden Texten erkennbare tiefe Unbehagen an Murners volkssprachlicher Publikationsoffensive verweist auf einen identischen Straßburger Milieuzusammenhang, innerhalb dessen diese und die anderen Drucke gegen Murner entstanden sein dürften. Instruktiv ist allerdings der plötzliche und unvermittelte Übergang ins Deutsche in Gestalt einer parodistischen Umdichtung des bekannten Judasliedes auf Murner innerhalb der lateinischen Schrift, vgl. Merker, a.a.O., S.  26 f. mit Anm.  2; MDS 9, S.  313 f., Anm.  411; vgl. Cl 1, S.  154 f. Anm.; s. auch Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe, wie Anm.  127, S.  62 ff.; Ex. MF 65 Nr.  169, c2r. 3.  Unter dem Pseudonym „Raphael Musaeus“ erschien wohl zu Jahresbeginn 1521 in der Offizin [Johannes Schotts] die berühmte Anti-Murner-Satire Murnarus Leviathan in zwei verschiedenen, in rascher Folge erschienenen Ausgaben (Muller, Bibl. Stras. Bd.  2, S.  81, Nr.  95 f.; Ex. Hohenemser 2865 f.; Ex. MF 549 Nr.  1405; Pegg, Swiss, wie Anm.  38, Nr.  4134; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  3420 f., S.  117 f.; VD 16 M 7110 f.; Katalog Martin Luther und die Reformation in Deutschland, wie Anm.  65, S.  225 f.; Merker, a.a.O., S.  32 f.; zum Inhalt der Schrift vgl. das ausführliche Referat bei Merker, a.a.O., S.  35 ff.; vgl. auch WABr 2, Nr.  364). Die zweite Ausgabe ist um einen kurzen, Auctio Lutheromastigum genannten Dialog erweitert, s. dazu Merker, a.a.O., S.  49 ff. Ohne Merkers These, Gerbel sei der pseudonyme Autor, für hinreichend begründbar zu halten, teile ich seine Einschätzung, dass hinter den Pseudonymen Gnidius und Musaeus dieselbe Person steht (vgl. bes. S.  44 ff.). Ähnlich wie in der Defensio des Gnidius und dem Karsthans ist Murners angebliche Ruhm- und Geldsucht ein Hauptmotiv. Die im Karsthans verspotteten Gänsepredigten Murners (vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  88,1 ff.) spielen auch im Murnarus Leviathan eine Rolle (vgl. Merker, a.a.O., S.  37); Murnarus Leviathan, Ex. MF 549 Nr.  1405, A 4vff. Die Bezugnahme auf eine am 20.  11. 1520 bei Grüninger in Straßburg erschienene Schrift des in Straßburg ansässigen Arztes Lorenz Fries kurtze schirmred der kunst

Exkurs:  Die Straßburger Anti-Murner-Publizistik an der Jahreswende 1520/21

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Astrologiae (Ex. BSB München 4° Astr. P 510 [40]; VD 16 F 2861; Merker, a.a.O., S.  38 mit Anm.  1), in der sich dieser en passant gegen Luthers Auslegung der Zehn Gebote gewandt hatte, verdeutlicht, dass der im Dienste Schotts tätige pseudonyme Autor gezielt gegen das Grüningersche Verlagsprogramm agiert. Zugleich ist der Murnarus Leviathan ein dekuvrierender Angriff auf eine offenbar relativ konsolidierte Gruppe gelehrter Straßburger Luthergegner, zu der neben Murner ein Jurist namens Wedele und Frisius gehörten (vgl. Merker, a.a.O., bes. S.  38 f.). Angriffe auf Murner und Wedele sind auch einem [Straßburger] Nachdruck der bekannten Flugschrift Beschrybung der Götlichen Müly [B. Beck, 1521] (Pegg, Swiss, wie Anm.  38, Nr.  5849; Muller, Bibl. Stras. Bd.  2, wie Anm.  83, S.  231,56; fingierter Druckort: Tübingen; s. oben II, §  8, Abb.  16) angefügt, vgl. die Hinweise auf die Bildausstattung des Druckes in: Peter Heeg, Die Drucke der „Göttlichen Mühle“ von 1521, in: Schweizerisches Gutenbergmuseum 40, 1954, S.  135–150, zu Druck C: 140–144; Christine Göttler, Das älteste Zwingli-Bildnis? – Zwingli als Bilderfinder: Der Titelholzschnitt zur „Beschreibung der götlichen Müly“, in: Hans-Dietrich Altendorf/Peter Jezler (Hg.), Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation, Zürich 1984, S.  19–39. Aufgrund zahlreicher biographisch-detaillierter Hinweise auf Murners Vita ist von einer intensiven persönlichen Bekanntschaft des pseudonymen Autors mit Murner, der in Basel, Frankfurt und Trier mit dem Franziskaner persönlich verkehrt haben will (vgl. Merker, a.a.O., S.  42, sowie das unter dem Titel Ain kurts anred zu allen mißgunstigen Doctoris Lutheri [vgl. Merker, S.  42, Anm.  1; VD 16 A 1006–1009] separat erschienene Schlusswort des Murnarus Leviathan [ed. in: Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  2, S.  190–195, hier: 191,53 ff.]), auszugehen. Das eigentliche Kernmotiv der Murner-Gegnerschaft, auch im Murnarus Leviathan, ist dessen anonymer Angriff auf Luther (vgl. bes. das Schlusswort Schade, a.a.O., S.  192,55 ff.). Der Murnarus Leviathan dürfte vor dem 13.  1. 1521 (s. dazu unten Anm.  145) und kurz nach der mit der Gnidius-Schrift eröffneten publizistischen Reaktion auf Murners anonyme Schriften veröffentlicht worden sein. Während die Gnidius-Schrift erst in einem der Anhänge auf Murners An den Groszmechtigsten [.  .  .] adel (Abb.  6) eingeht, spielt diese am 24.  12. 1520 erschienene Murner-Schrift im Murnarus Leviathan schon eine zentrale Rolle. Die rasche Abfolge der Texte macht den Charakter des publizistischen Schlagabtausches und des nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der Murnerschen Ermahnung am 21.  1. 1521 dann endgültig vollzogenen Wechsels der Anti-Murner-Publizistik in die Volkssprache deutlich. Als chronologische Abfolge ergibt sich demnach: 10.  11. 1520: Murners Ermanung; 24.  11. 1520: Murners Von doctor Luthers leren und predigen; 13.  12. 1520: Murners Von dem babstenthum; 24.  12. 1520: Murners An den Groszmechtigsten [.  .  .] adel; nach dem 25.  12. 1520: M. Gnidius’ Defensio; vor dem 13.  1. 1521: Murnarus Leviathan (§  8, Abb.  11); 21.  1. 1521: 2. Auflage der Murnerschen Ermanung; nach dem 21.  1. 1521: Karsthans.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Der Wechsel der Murner-Gegner in die Volkssprache erfolgte also erst zu einem Zeitpunkt, als das publizistische Übergewicht Murners offenkundig zu sein schien. Erst dem Karsthans gelang es, Murners publizistische Offensive zu bremsen. Die Pub­ lizistik spiegelt auf Seiten der Murner-Gegner auch einen Lernprozess in Bezug auf die Wirkungen deutscher bzw. lateinischer Schriften. 4.  Zwei unter dem Pseudonym „Abydenus Corallus“ erschienene Drucke, die Dia­ logi Septem [Straßburg, Johann Schott 1521] (vgl. Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  604, S.  262 f.; Ex. MF 445–446 Nr.  1192; vgl. ausführlich: Merker, a.a.O., S.  150 ff.; Grane, Martinus Noster, wie Anm.  38, S.  263 ff.) und die Oratio ad Carolum Maximum et Germaniae principes pro Ulricho Hutteno et Martino Luthero [Straßburg, Johann Schott 1521] (Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  605, S.  263; Merker, a.a.O., S.  186 ff.; Grane, a.a.O., S.  262 f.; Ex. MF 118 Nr.  319, zu Murner: b 6r) spiegeln eine zum Teil längere Entstehungsgeschichte. Die Dialogi septem sind nach Merkers im Ganzen überzeugender Analyse zwischen April und Dezember 1520 entstanden, der Dialog Huttenus illustris setzt bereits Murners am 24.  12. 1520 erschienene Schrift An den Groszmechtigsten [.  .  .] adel (vgl. Ex. MF 445 Nr.  1192, f 6v) voraus. Nicht die Dialogi septem als Literaturwerk im Ganzen, wohl aber ihre Druckverbreitung zu Jahresbeginn 1521 hatte einen gegen Murners anonyme Publizistik gerichteten Impetus. Dasselbe gilt für die Oratio. Durch die gegen Murner gerichteten Hinweise fügen sich die CorallusSchriften kongenial in das Verlagsprofil Schotts an der Wende des Jahres 1520/21 ein. Dies gilt insbesondere auch für die weit ins Jahr 1521 hinein zentrale Bedeutung der Leitfiguren ‚Hutten und Luther‘, die in den Corallus-Texten eine wichtige Rolle spielen. Im Unterschied zu den oben genannten Anti-Murner-Schriften aber ist die Auseinandersetzung mit der anonymen Publizistik des Franziskaners kein Hauptmotiv, das die Abfassung der Texte selbst, sondern bestenfalls den Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung beeinflusst haben dürfte. Gleichwohl sind sie Teil der gezielten, von der Offizin Schotts und den ihr zuarbeitenden reformationsgesinnten Humanisten betriebenen Publikationskampagne gegen Murner.126

4.  Karsthans versus Murner Die anonyme Tarnung Murners veranlasste den anonymen Verfasser der Dialogflugschrift Karsthans127 (Abb.  4) dazu, in seiner Vorrede die „wölfische dück“ des sich 126   Murner scheint nicht gewusst zu haben, mit welchen Personen er es bei seinen Straßburger Gegnern zu tun hatte, vgl. Protestation, ZHTh 1848, S.  600 f. 127  Der Karsthans gehört zu den meistinterpretierten reformatorischen Flugschriften. Wichtige bibliographische Hinweise bei Bentzinger, Wahrheit, wie Anm.  149; vgl. auch Könneker, Literatur, wie Anm.  58, S.  100–108 (zum Verhältnis des Karsthans zum Humanistendialog bes. S.  102 f.); an neueren Studien sei verwiesen auf Ninna Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur [AThD 23], Leiden u. a. 1988, bes. S.  42 ff.; 87 f.; und Beyer, Eigenart, wie Anm.  110, S.  34 ff., bes. 43 ff. unter besonderer Berücksichtigung der Ikonographie; zur Bauernthematik in reformatorischen Flugschriften, die 1521 einen besonderen

4.  Karsthans versus Murner

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Abb.  7  Illustriertes Flugblatt mit den Feinden Luthers (von rechts nach links: Thomas Murner, Hieronymus [„Bock“] Emser, Papst Leo X., Doktor [„Sau“] Johannes Eck und der Tübinger Theologieprofessor Johannes Lempp). Das Blatt dürfte zu den frühesten reformatorischen Einblattdrucken gehören und vor dem Tod des Papstes (11.  12. 1521) entstanden sein. Die lateinische Inschriften verweisen – ähnlich der Anti-Murnerpublizistik – auf einen humanistischen Entstehungszusammenhang; 27 x 39,2  cm; Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt/M. 1983, S.  224 f. Nr.  283; s. II, §  8, Anm.  128.

unter der „gestalt eines schaffs“128 verbergenden geistlichen Verfassers schonungslos offenzulegen.129 Murners Anonymität erschien ihm als Missbrauch seiner priesterlipublizistischen Schwerpunkt ausmachte, instruktiv: Hans-Joachim Köhler, „Der Bauer wird witzig“. Der Bauer in den Flugschriften der Reformationszeit, in: Peter Blickle (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Zürich 1987, S.  187–218, bes. 193–195, sowie die interpretatorisch unzureichende, hinsichtlich der Materialpräsentation aber noch immer brauchbare Studie von Paul Böckmann, Der gemeine Mann in den Flugschriften der Reformation, in: DV f LG 22, 1944, S.  186– 230; vgl. auch Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, bes. S.  259 ff. 128   Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  75,5 f. 129   Die Umstände, aufgrund derer bestimmte Kreise frühzeitig wussten, dass Murner der Verfasser der anonymen Schriften war, sind m.W. nicht exakt zu rekonstruieren. Die Selbstanzeige beim Straßburger Bischof dürfte die Identifizierung ohnehin erleichtert haben. Nikolaus Gerbel etwa war bereits am 23.  11. 1520, 13 Tage nach Datierung der ersten und einen Tag vor dem Erscheinen der zweiten anonymen Murner-Schrift, exakt informiert: „Molitur alia quędam, stultiora reor, in Lutherum Murr Narr: Deus Apellem aliquem scitum excitet, qui ἄργιον ὄνον colore non alio quam griseo depingat.“ (Bcor 1, S.  124,28–30; vgl. Anm.  8 f. und die Deutung Merkers, Verfasser, wie Anm.  9, bes. S.  278). Bereits am 11.  11. 1520, also einen Tag nach der Datierung der Murnerschen

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§  10  Publizistische Mobilisierung

chen und akademischen Würdestellung.130 Unter dem fadenscheinigen Titel einer „brüderlichen Ermahnung“ verbreite er ausländische, d. h. päpstliche Irrlehren. Der als „gemalte[r] theologus“131 ohne namentliche Nennung angegriffene Franziskaner wolle, dies sei das „grössest“132, den christlichen Glauben auf zeitliches Regiment und heidnische Herrschaft gründen. Wäre er unter seinem Namen hervorgetreten, hätte er sich wegen seiner Unkenntnis der Bibel zum Spott gemacht. Er schreibe auch deshalb anonym, um den Erfolg seiner Schrift erst einmal abzuwarten, um dann später umso unverblümter Ruhm und Geld einzustreichen.133 Der Verfasser des Karsthans rügt die Tatsache, dass Murner als Anonymus in der Volkssprache hervorgetreten sei, nachdrücklich: Er habe sich auf lateinische und deutsche Schriften Luthers bezogen, aber nicht in der gleichen Sprache geantwortet, nur deshalb, damit seine „unwys­ senheid“134 nicht offenbar werde und er eine größere Öffentlichkeit erreiche. Wer deutsch schreibe, so suggeriert der anonyme Verfasser des Karsthans, tue das um großer öffentlicher Wirkung willen und weil er sich dem Widerspruch der gelehrten Theologen entziehen wolle. Die hintergründig-taktische, einschmeichlerische Rolle, die der Franziskaner Luther gegenüber in seinen anonymen Schriften eingenommen hatte, legt der Karsthans-Dialog in Gestalt der Katzenfigur, in der er Murner darstellt, schonungslos offen. Der Katzengesang der Murner-Figur im Karsthans-Dialog – „yetz ist es fridsam, yetz schryet es auwe, yetz pfuchttes wie ein schlang“135 – bildet die Vieltönigkeit seiErmanung, wusste Bucer in Heidelberg: „Murnerius ille franciscanus evomuit his diebus contra Lutherum libellum lingua vernacula scriptum, in quo et nomen suppressit suum et dissimulavit mores, tametsi auriculas suas Midas occulere penitus haud potuerit. Misissem exemplar si aliquod mihi fuisset: unicum enim frater, apud quem vidi, attulit.“ (Bcor 1, S.  121,25–29; vgl. MDS 9, S.  12). Die Aussage über den ‚dissimulierenden‘ Stil passt natürlich vorzüglich zu Murners anonymer Schrift, keineswegs aber zu der volkssprachlichen Übersetzung von Luthers De captivitate Babylonica (so Bcor 1, S.  121, Anm.  8). Bucers Hinweis auf Murners stilistische Eigentümlichkeit sowie die Zusatzinformationen, die er von dem nach Heidelberg gereisten Bruder erhielt, verdeutlichen, dass in ‚Insider‘-Kreisen schon zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten anonymen Murnerschrift kein Zweifel an ihrem Verfasser bestand; vgl. Capitos Brief an Luther vom 4.  12. 1520, WABr 2, Nr.  357; Erika Rummel, The Correspondence of Wolfgang Capito, Vol.  1: 1507–1523, Toronto, Buffalo, London 2005, Nr.  63, S.  110. 130   „Nemlich das übel stot eim geistlichen und vil gelerten man (nach syner achtung) sich mißbruchen seins titel und wirden, do durch in gestalt ein schaffs wölfisch dück gespürt – jm titel brüderlicher ermanung – offenlich schmeung und lesterung, durch mittel vernünfftiger ursachen vast ußlendig dorecht leren geben, in beschirmung bäpstlicher oberkeit, die durch vil narrisch byspil und heidnisch anzeigen zu grund keren.“ Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  75,3–10. 131   A.a.O., S.  75,10 f.; vgl. 121, Anm.  5. 132   A.a.O., S.  75,10. 133   A.a.O., S.  75,16–76,1. 134   A.a.O., S.  76,6. 135   A.a.O., S.  76,21 f. Das Schlangenmotiv weist eindeutige Verbindungen zur Darstellung Murners im Murnarus Leviathan (s. II, §  8, Abb.  11) auf. Die enge Verbindung beider in Straßburger Urdrucken erschienenen Schriften, ihre Herkunft aus einem identischen Milieu bzw. möglicherweise von demselben Verfasser, besitzt ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit. Die beiden Schriften, die Murner zu seiner öffentlichen Protestation veranlassten, dürften der Karsthans und der Murnarus Leviathan gewesen sein; vgl. auch unten Anm.  145.

4.  Karsthans versus Murner

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ner in den anonymen Schriften eingenommenen Rolle ab und erweist ihn als „trügentlich thier“136. Die Karsthans-Figur selbst entlarvt die Murner-Gestalt im Dialog: „ain katz [hat] lang scharff negel under den linden dapen verborgen“137. Unter Rekurs auf naturkundliches und mythisch-abergläubiges ‚Erfahrungswissen‘ legt Karsthans mittels der Katzengestalt Murner als abgründiges Tier bloß.138 Im lokalen Kommunikationszusammenhang durchaus verständliche Anspielungen auf Murners zweifelhafte Lebensführung139 desavouieren die mit moralischem Anspruch auftretende Gestalt des unparteilichen Anonymus. Mit Hilfe der kunstvoll eingesetzten literarischen Technik des Missverständnisses greift der des Lateinischen unkundige Karsthans bestimmte Floskeln auf, die zeigen sollen, dass der unverbildete gesunde Menschenverstand zu einem tieferen Verständnis der Glaubenswahrheit hindurchdringt als die literati.140 Der Versuch der Murner-Figur, beim Erscheinen Luthers zu verschwinden und einer Disputation mit ihm auszuweichen, brandmarkt das lichtscheue Verhalten des Anonymus Murner.141 Die Murner-Figur des Dialogs, der unterstellt wird, sie habe die anonymen Schriften nicht allein, sondern mit einem ungenannten Gesellen abgefasst142, versteckt sich hinter ihrer Anonymität, um sich nicht direkt der Auseinandersetzung mit Luther, der Murner ohnehin nicht gewachsen wäre, stellen zu müssen: „Auch hab ich min namen nit dorin geschahen, uff das er nit wiß, das ichs thon hab.“143 Ein „lichtverstendiger“, so beteuert die Murner-Figur, werde angesichts des originellen Gebrauchs seiner Sprichwörter ohnehin erkennen, „wo das saltz herfleüßt“144. Murners Selbstanzeige gegenüber „den gnedigen herrn zu Stroßburg“145 begrün136

  Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  77,3.   A.a.O., S.  77,9 f. 138   Vgl. a.a.O., S.  77,8–22. 139   Vgl. nur a.a.O., S.  79,17–19; 81,6 ff.; 84,12 ff.; vgl. 75,17; 88,4 ff. 140   Vgl. z. B. a.a.O., S.  79,20 f.; 80,22 ff.; 81,19–21; 82,4–7; 82,20 f.; 84,2; 118,21 f. 141   Vgl. a.a.O., S.  83,5 ff. 142   Vgl. a.a.O., S.  85,7; 86,17; 124, Anm.  56; vgl. auch Murners Replik in seiner Protestation, ZHTh 1848, S.  601. 143   Vgl. a.a.O., S.  86,7–9. 144   A.a.O., S.  87,5 f.; zum Murnerschen Anspruch literarischer Originalität vgl. MDS 6, S.  30; 125, Anm.  zu II; vgl. Clemen, Flugschriften, S.  87,20 f. und das ironisch angeführte Sprichwortbeispiel: „hast nit mein gens gesehen“, S.  88,1 ff. 145   A.a.O., S.  87,7. Diese Wendung ist vor dem Hintergrund dessen, dass Murner in seinen ersten vier anonymen Schriften den Straßburger Bischof nennt (vgl. oben Anm.  114), auffällig. Entweder weiß der Anonymus von der „Selbstanzeige“ Murners gegenüber dem Straßburger Zensor Sebastian Brant vom 13.  1. 1521 (vgl. oben Anm.  114), was bedeuten würde, dass der in diesem Brief erwähnte „libellus“ (Sitzungsberichte, wie Anm.  114, S.  279) nicht mit dem Karsthans, sondern mit dem Murnarus Leviathan zu identifizieren wäre. Oder – schließt man achtlose Formulierungen aus –, die Wendung ist als Provokation gegenüber dem Rat der Reichsstadt gemeint, der dadurch, dass er in die Nähe zu Murner gerückt wird, zur Parteinahme herausgefordert werden soll. Möglich ist auch, dass mit dem Plural „herren“ der Straßburger Bischof und der Trierer Erzbischof gemeint sein sollen, was aber wiederum interne (vgl. Sitzungsberichte, wie Anm.  114, S.  277 f.), über Murners gedruckte Hinweise hinausgehende Informationen voraussetzen würde. Letzteres wäre natürlich als gezielte Provokation gegenüber dem Straßburger Rat zu lesen, der durch diese – versteckte – An137

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§  10  Publizistische Mobilisierung

det die Murner-Gestalt im Dialog damit, auf „eer und schankung“146 zu spekulieren. Die Anonymität Murners ist nicht nur der historische Anlass für den Dialog Karsthans, sondern eines der literarischen Hauptmotive dieser wohl bekanntesten frühreformatorischen Dialogflugschrift. Der zweite Teil des Dialogs besteht vorwiegend aus einer Rezitation und widerlegenden Kommentierung der anonymen MurnerSchrift Von dem Babstenthum.147 Der ‚gemeine Mann‘, auf den sich Murner ja berufen hatte, macht sich in Gestalt der Karsthans-Figur daran, Murners Schriften gewissenhaft zu prüfen148, und entlarvt die auf den ersten Blick gar nicht leicht durchschaubare hintergründige Polemik des Anonymus als das, was sie ist: eine parteiliche Kampfansage an den Wittenberger Reformator. Die Karsthans-Figur des Dialogs ist der literarische Gegenentwurf zu dem mit Murners Anonymität verbundenen Anspruch auf allgemeine Repräsentanz. Ähnlich wie der Anonymus Murner den ‚gemeinen Mann‘ dadurch zu gewinnen suchte, dass er als sein Sprachrohr aufzutreten behauptete, sucht der Karsthans-Dialog die ‚Öffentlichkeit‘ auf seine Seite zu ziehen, indem er den ‚gemeinen Mann‘ selbst zu Wort kommen lässt. Beiden anonymen Textformen ist eine publikationsstrategische Grundhaltung gemeinsam: Die Beeinspielung mit einer seine reichsstädtische Autonomie gegenüber dem Bischof einschränkenden, vermeintlich von Murner vertretenen Rechtsauffassung konfrontiert würde. Oder sollte der Zusatz „Censores“ unterhalb des Impressums der ersten anonymen Schrift Murners (MDS 6, S.  87) eine Anrede an die Repräsentanten des Straßburger Rates veranlasst haben? Ungenau ist Büchners Angabe, „dem Rat zu Straßburg“ (Murner, wie Anm.  58, S.  234) habe sich der Verfasser bekannt gemacht. Dafür, dass die von Murner am 13.  1. 1521 vorausgesetzte Schrift der Murnarus Leviathan, nicht der Karsthans ist, könnte auch sprechen, dass der Karsthans (Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  87,20 f.) auf eine erst in der 2. Auflage der Ermanung vom 21.  1. 1521 enthaltene Wendung (vgl. MDS 6, S.  18 f.; 30; 125, Anm.  zu II; s. auch MDS 9, S.  7) anspielt. Der Karsthans wäre dann eine Antwort auf Murners in der 2. Auflage der Ermanung implizit unternommene publizistische Reaktion auf den Murnarus Leviathan. Die herausgehobene Bedeutung der Ermanung Murners im Karsthans ist m. E. leichter verständlich, wenn es sich um die gerade jüngst erschienene, nicht um eine bereits zwei Monate zuvor erschienene Ausgabe handelt. Auch die Reihenfolge, in der die Ermanung bzw. die Schrift Von dem Bapstenthum eingeführt werden, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die 2. Auflage der Ermanung im Blick ist. Das für den Murnarus Leviathan wichtige Schlangenmotiv ist im Karsthans (vgl. Clemen, a.a.O., S.  75,19; 76,20) aufgenommen, s. oben Anm.  135. Auch Clemen, a.a.O., S.  78,22 f. mit S.  122, Anm.  24; Werner Lenk, Die Reformation im zeitgenössischen Dialog [Deutsche Bibliothek 1], Berlin 1968, S.  255 f. dürfte für die Priorität des Murnarus Leviathan gegenüber dem Karsthans sprechen. Clemen, a.a.O., S.  89,3; 91,13 weist möglicherweise auf den Dezember 1520 bzw. den Jahresbeginn 1521 als Zeitpunkt der Abfassung hin. 146   Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  87,8. 147   A.a.O., S.  96,10 ff. Die [Murnersche] Schrift Von dem Bapstenthum (a.a.O., S.  96,14) wird freilich – entgegen der ja aufgrund der exakten Druckdatierungen (s. oben Anm.  57) auch für Zeitgenossen erkennbaren Chronologie – als „des doctor Murners erst büchlin“ (Clemen, a.a.O., S.  96,20) angeführt. Faktisch war es die dritte Schrift der Murnerschen Publikationskampagne. Der Karsthans setzt lediglich die Kenntnis der Ermanung und Vom dem Bapstenthum voraus (vgl. a.a.O., S.  88,16 ff.). Die vor der Papsttumsschrift erschienene Flugschrift Von Martinus Luthers leren und predigen kennt er offenbar nicht. Terminus ante quem non des Karsthans ist demnach die Schrift vom Papsttum, also der 13.  12. 1520, bzw. (s. o. Anm.  145) der 21.  1. 1521. 148   Vgl. z. B. Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  88,24–89,3; Luther bekräftigt ihn darin: a.a.O., S.  89,26 ff.

4.  Karsthans versus Murner

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flussung der ‚Öffentlichkeit‘ in ihrem Sinne suchen sie dadurch zu erreichen, dass sie sich selbst als deren Stimme präsentieren. Mit der von dem anonymen Verfasser des Karsthans vollzogenen Hinwendung zum volkssprachlichen Dialog – der Karsthans gilt als der erste ursprünglich in der deutschen Sprache geschriebene Reformationsdialog überhaupt149 – trat im Kontext der Straßburger Lokaldiskussionen an der Wende der Jahre 1520/21 diejenige Literaturform in den Vordergrund, von der etwa die Hälfte aller Schriften anonym erschienen ist. Die Dialogflugschriften und der überindividuelle und dem Anspruch nach typische Charakter ihrer wesentlichen Gestalten dürften als literarische Umsetzung des mit der Anonymität verbundenen Anspruchs exemplarischer Allgemein­ heit zu werten sein. Die für die reformatorische Dialogliteratur charakteristische Propagierung einer bestimmten Überzeugung im kämpferischen Gegenüber zu einer gegnerischen Position war mit dem Anspruch verbunden, die Wahrheit über elementare Fragen des christlichen Lebens, des Glaubens und der gesellschaftlichen Ordnung als solche diskursiv, doch im Ergebnis unwiderlegbar eindeutig, assertorisch zu entfalten. Der Dialogliteratur, die in noch ausgeprägterem Maße als die Flugschriftenpublizistik überhaupt eine literarische Domäne der reformatorisch Gesinnten war, kommt in Bezug auf die intendierte ‚Volkstümlichkeit‘ eine Schlüsselrolle zu. Darüber, dass die Verfasser der Dialogflugschriften in aller Regel humani­ stisch gebildete ‚literati‘ sind, kann kein Zweifel bestehen. Sie sind nicht ‚Volkes Stimme‘, gerieren sich aber so. In diesem ihrem Anspruch, ‚volksnah‘ zu sein, ist ihre wesentliche historische Bedeutung zu sehen, unbeschadet dessen, dass hinter diesem Anspruch das fingierte Rollenspiel einer urbanen Bildungselite steht. Die öffentliche 149  Vgl. Rudolf Bentzinger, Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation [Reclams Universal-Bibliothek 948], Frankfurt/M. 1983, S.  18; noch ins Jahr 1520 gehört allerdings der auf deutsch verfasste Cuntz von Oberndorf [pseud. ?], Dialogus ader ein gespreche wieder Doktor Ecken Buchlin [Leipzig, Wolfgang Stöckel 1520]; VD 16 K 2574; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  644, S.  279; vgl. dazu Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  22, S.  275 ff. Hutten kommen unbestreitbar die wichtigsten Verdienste um die Dialogliteratur in der Reformationszeit zu. Seinen 1516/17 in der Tradition der lukianischen Dialoge verfassten Phalarismus übersetzte er 1519 ins Deutsche. Vier zwischen 1518 und 1520 erschienene lateinische Dialoge gab er 1521 unter dem Titel Gesprächsbüchlein in deutscher Sprache heraus. In Einzelausgaben waren diese Übersetzungen z. T. seit 1519 erschienen, vgl. die Ausgaben bei Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1688; 1689, S.  95 f.; Gesprächsbüchlein [Schott, Straßburg 1521]: Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1706, S.  102 f. Die druckgeschichtlichen Ursprünge der reformatorischen Dialogflugschriften liegen vornehmlich in Straßburg, vgl. zum [Prüßschen] Urdruck des Karsthans die bei Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1977 und 1978, S.  216 f. gebotenen Hinweise. Seit 1521/ 22 sollte Augsburg zum wichtigsten Druckzentrum der Dialog- wie auch der Flugschriftenproduktion überhaupt avancieren. Zu Augsburg als Druckzentrum vgl.: HansJörg Künast, Gedruckt zu Augsburg. Buchdruck und -handel in Augsburg zwischen 1468 und 1555 [Studia Augustana 8], Tübingen 1996; ders., Entwicklungslinien des Augsburger Buchdrucks von 1468 bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555, in: Jochen Brüning/Friedrich Niewöhner (Hg.), Augsburg in der Frühen Neuzeit [Colloquia Augustana 1], Berlin 1995, S.  227–239; ders., Augsburg als Knotenpunkt des deutschen und europäischen Buchhandels (1480–1550), in: ebd., S.  240–251; ders., Martin Luther und der Buchdruck in Augsburg, 1518–1530, in: Helmut Gier/ Reinhard Schwarz (Hg.), Reformation und Reichsstadt – Luther in Augsburg. Ausstellung der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Augsburg 1996, S.  65–77.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Wirkung der anonymen Flugschriftenpublizistik in der frühen Reformation im Ganzen scheint wesentlich mit diesem Anspruch zusammenzuhängen, das auszusprechen, was jeder denkt und was als ‚Wahrheit‘ der Schrift allgemeine Resonanz verdient. Die qualitativ und quantitativ dominierende Bedeutung der Dialogform, der Siegeszug dieser Flugschriftengattung unter den anonymen Publikationen der Reformationszeit, begann 1521, in jenem Jahr, dem nach einer vorläufigen quantitativen Gesamtübersicht über das Phänomen anonymer Publizistik in der frühen Reformation eine herausragende Bedeutung für die anonyme Publizistik im Ganzen zukam. In der meinungsbildenden Durchsetzungs- und Formierungsphase der ‚reformatori­ schen Öffentlichkeit‘, die mit der Flugschriftenexplosion in den Jahren 1522 bis 1524 ihren nicht wieder erreichten Höhepunkt erlangte150, kam der anonymen Publizistik ihre relativ größte historische Bedeutung zu.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521 Die spezifische publikationsgeschichtliche Bedeutung des Jahres 1521 in Hinblick auf die anonyme Druckproduktion als ganze soll im Folgenden anhand des erstmals von Murner praktizierten, soweit bekannt nur in dieser Frühphase der reformatorischen Publizistik begegnenden Phänomens anonymer Flugschriftenserien veranschaulicht werden. Unter anonymen Flugschriftenserien verstehe ich literarische Reihenerzeugnisse, die ohne Verfassungsangabe erschienen sind, auf jeweils bereits erschienene oder geplante Folgeschriften verweisen und mit diesen einen lockeren literarischen Zusammenhang bilden, ohne dass die Kenntnis der voraufgegangenen Flugschriften die notwendige Verständnisvoraussetzung wäre, und die durch bestimmte Elemente wie gemeinsame oder ähnliche Titel und verbindende Motive für eine Öffentlichkeit, die diese Serienprodukte nach der Unterstellung ihrer anonymen Verfasser fortlaufend rezipieren sollte, als zusammengehörig erkennbar waren. Gerade im seriellen Charakter dieser anonymen Flugschriften verdichtet sich – wie in Ansätzen schon in Murners anonymer Publikationsoffensive – der in anonymen Pub­ likationen allgemein begegnende Anspruch allgemeiner Wahrheitsrepräsentanz zu dem Versuch einer fortgesetzten publizistischen Präsenz. Das bekannteste Beispiel, das freilich – soweit ich sehe – als anonymes Publikationsphänomen bisher nicht eingehend gewürdigt wurde, ist der als XV Bundesgenossen weithin bekannte, zunächst in anonymen Einzeldrucken erschienene Flugschriftenzyklus Eberlins von Günzburg. Als zweites Beispiel soll eine lediglich vier einzelne Flugschriften umfassende Augsburger Serie knapp analysiert werden. Beiden Flugschriftenserien liegt eine Bundeskonzeption zugrunde, die den spezifischen Beitrag dieser Reihenpublikationen zur anonymen Publizistik der frühen Reformation bildet. 150

 Vgl. Köhler, Schritte, wie Anm.  16; s. oben Abschnitt 1. in diesem Kapitel.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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5.1  Die XV Bundesgenossen Das komplizierte Problem, ob die Bundeskonzeption schon jedem der 15 Einzelstücke bei ihrer ursprünglichen Abfassung zugrunde lag, muss hier übergangen werden.151 In der überlieferten Druckfassung jedenfalls ist jede der 15 Einzelflugschriften der XV Bundesgenossen durch die fortlaufende Zählung, die sie als Schrift eines der 15 Bundesgenossen ausweist, und durch rahmende Hinweise auf das Bundeskonzept als solches auf den Zyklus als ganzen bezogen (Abb.  8). Innerhalb der Publizistik des entlaufenen Franziskaners Eberlin von Günzburg stellt diese anonyme Flugschriftenserie, die durch Verweise zusätzlich mit dem wohl gegen Jahresende 1522 vorliegenden Letzten Ausschreiben der XV Bundesgenossen und der Doppelflugschrift Pfaffenklage/Pfaffentrost verbunden ist152, einen spezifischen, von Flugschriften, die Eberlin unter seinem Namen erscheinen ließ, charakteristisch unterschiedenen literarischen Zusammenhang dar. Das Letzte Ausschreiben der Bundesgenossen, die Klage der sieben Pfaffen und der Pfaffentrost153, enthalten am Schluss bzw. auf dem Titel­ 151   Vgl. dazu zuletzt Christian Peters, Johann Eberlin von Günzburg ca. 1465–1544 [QFRG 60], Gütersloh 1994, bes. S.  44 ff.; eine kundige literaturwissenschaftliche Übersicht über die mit den XV Bundesgenossen verbundenen germanistischen Probleme bietet – freilich unter Ausklammerung der Bedeutung der Anonymität – Könneker, Literatur, wie Anm.  58, S.  109–116. Vgl. auch Gottfried Geiger, Die reformatorischen Initia Eberlins von Günzburg nach seinen Flugschriften, in: Horst Rabe u. a. (Hg.), Festgabe für E. W. Zeeden, Münster 1976, S.  178–201, bes. S.  182 ff.; Wilhelm Lucke, Die Entstehung der „15 Bundesgenossen“ des Johann Eberlin von Günzburg, Halle/S.  1902, S.  30 ff. Eine die rhetorisch-dialektisch geschulte Hörerorientierung des Schriftstellers Eberlin eindrücklich analysierende Detailstudie zum 3. Bundesgenossen bietet: Monika RössingHager, Wie stark findet der nicht lesekundige Rezipient Berücksichtigung in den Flugschriften?, in: Hans-Joachim Köhler, Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit [SMAFN 13], Stuttgart 1981, S.  77–137. 152  Vgl. Ludwig Enders (Hg.), Johann Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, 3 Bde. [Flugschriften aus der Reformationszeit 11, 15, 18], Halle 1896, 1900, 1902 (im Folgenden zit. als Enders, Eberlin, Bd.  1–3), hier: Bd.  2, S.  59; 80; Bd.  1, S.  205; Bd.  3, S.  85; 88; 148; s. auch Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  116, Anm.  42. 153   Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  3, S.  X I f.; Bd.  1, S.  171. Vier der XV Bundesgenossen erschienen mit fingierten Verfasserinitialen (3. Bundesgenosse: F. W., Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  23; 6. Bundesgenosse: V. S., Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  55; 11. Bundesgenosse: M. W. V. H., Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  131; 14. Bundesgenosse: M: W. H., Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  161), analog der bei Lutherdrucken – freilich dort wegen der „übergroßen Prominenz“ ihres Verfassers (Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: ZHF 15, 1988, S.  65–92, hier: 83 [ND in: Ders., Luther-Rezeption, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S.  15–41, hier: 33]) – seit 1519 belegten Praxis. Wirkliche oder fingierte Verfasserinitialen sind in der Flugschriftenliteratur natürlich auch sonst belegt. Ein besonders berühmtes Beispiel ist der unter den Initialen „V. H. Z.“ erschienene, Haugk Marschalck genannt Zoller zugeschriebene Spiegel der Blinden von 1522, vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  128 ff.; zur Druckgeschichte a.a.O., S.  150 f.; dazu auch Zorzin, Karlstadt, wie Anm.  13, S.  241 ff. (Abbildungen der Titelillustrationen: S.  247–249); Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, S.  259–264 [Lit.]; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3229–3231; 3218 f., S.  26 f.; 31 f. Offenkundig ist, dass das Kürzel „V. H. Z.“ schon bei dem vermeintlich vom Autor selbst gekürzten (Laube, a.a.O., S.  151) zweiten Rammingerdruck fortgelassen wurde und auch bei den Nachdrucken in Basel und Straßburg fehlt. Ob wir es wirklich mit einem echten Verfasserinitial zu tun haben, oder was sich tatsächlich hinter „V. H. Z.“ verbirgt, scheint mir keineswegs so klar zu sein, wie die einschlägige Literatur (vgl. die

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Abb.  8  [Johann Eberlin von Günzburg], Ain klägliche klag an den christlichen Römischen Keyser Karolum von wegen Doctor Luters und Ulrich von Hutten. Auch von wegen der Curtisanen und bettel münch. .  .  . Der erst bund genos. [Speyer, Johann Eckhart 1521]; VD 16 E 97; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  795, S.  343; Ex. MF 1097–1098 Nr.  2790; Gesamtausgabe des Flugschriftenzyklus der XV Bundesgenossen, Titelblatt; Säulen mit Rundbogenarchitrav; florale Zierleiste unten.

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blatt das Monogramm „J. E. M. W.“, der Pfaffentrost verweist überdies auf ein von einem Mitglied des Bundeskreises verfasstes Schriftchen von mißgebruch christlicher fryheit154, lauter mehr oder weniger versteckte Hinweise auf den anonymen Verfasser, die gleichwohl für zeitgenössische Leser schwerlich dechiffrierbar gewesen sein dürften und erst ca. ein Jahr nachdem der Bundesgenossenzyklus seinen publizistischen Erfolg erzielt hatte, erschienen.155 Im Lichte der Leitfrage nach den publikationsstrategischen Spezifika anonymer Flugschriften der frühen Reformationszeit kommt diesen versteckten Hinweisen ohnehin kaum Bedeutung zu, da sie erst auftauchten, als sich die 15 Bundesgenossen von der Bühne der zeitgenössischen publizistischen Öffentlichkeit verabschiedeten. Ihre publizistische Wirkung erzielten die XV Bundesgenossen insbesondere im Jahr 1521156, als anonyme Flugschriften, einer – wie wir Hinweise bei Zorzin und Laube, a.a.O.) suggeriert. Dies gilt auch für das Verhältnis von „V. H. Z.“ zu „H. M. G. Z.“, vgl. Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  3220–3225, S.  27–30; zu „X S M“ und „G H G H“ vgl. WA 7, S.  156 und Götze, Sendbrief, wie Anm.  8, S.  149 f.; s. auch unten III, §  13, Anm.  100. Im Falle der vier verschiedenen Initialen auf den Drucken der XV Bundesgenossen ist mit einer bewussten ‚Tarnung‘ zu rechnen, die wohl die Authentizitätssuggestion der Bundesgenossenkonzeption erhöhen sollte. Zu den Schwierigkeiten der Auflösung selbst des vermeintlich klaren Kürzels J[ohann] E[berlin] M[agister] W[ittenbergensis] vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  4 mit Anm.  1. Eberlin war bekanntlich Basler Magister, also vielleicht: ‚Wittembergae‘. Vgl. im Ganzen auch die ausführliche Erörterung der Frage bei Lucke, Entstehung, wie Anm.  150, S.  22 ff. Seine phantasievolle Auflösung i. S. von „Ich eile mit Weile“ mag glauben, wer will! 154   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  88; s. dazu Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  100; vgl. die ironischen Hinweise Eberlins auf seine eigene Predigttätigkeit vor und nach der Hinwendung zur reformatorischen Lehre in der Pfaffenklage, Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  70 f.; Verweis auf Kontakte Eberlins mit dem Bischof von Merseburg im Pfaffentrost, Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  92; vgl. dazu: Peters, a.a.O., S.  102 f. 155   Peters (Eberlin, wie Anm.  151) geht für die Veröffentlichung der Pfaffenklage, des Pfaffentro­ stes und des Letzten Ausschreibens von Jahresende 1522 (November bis Dezember, vgl. S.  92; 107; das Ausschreiben setzt die beiden erstgenannten Schriften voraus, vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  205; Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  74) aus. In Bezug auf den in der Pfaffenklage (Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  74) erwähnten „Doctnarr zu Freyburg“, der „(als man sagt) wider sye [sc. die 15 Bundesgenossen] schreibt“, wäre eine Anspielung auf Murner erwägenswert. Eberlin wusste dann bereits von einem von dem Freiburger Doktor der Theologie geplanten Angriff auf die 15 Bundesgenossen, wie dieser sie in seinem am 19.  12. 1522 erschienenen Versepos Von dem großen lutherischen Narren (MDS 9, S.  40; vgl. 28 ff.; 120, V. 789 ff.) vortrug, freilich ohne diese Schrift schon kennen zu können. Auch für das Letzte Ausschreiben der Bundesgenossen ist keine Kenntnis der wegen der Zensurmaßnahmen des Straßburger Rates ohnehin sehr seltenen Murnerschrift nachzuweisen. Möglicherweise ist aber damit zu rechnen, dass die publizistische Verabschiedung der 15 Bundesgenossen auch durch Murners Eberlin zu diesem Zeitpunkt als Faktum, nicht aber in Bezug auf den Text seines Ordensbruders bekanntgewordenen Angriff mit verursacht war. Für die Publizistik Eberlins scheint charakteristisch, dass direkte literarische Fehden mit bestimmten Gegnern in ihr nicht vorkommen. 156   Als Zeitraum der Veröffentlichung der Einzelausgaben dürfte Frühjahr bis Sommer 1521 anzusetzen sein, vgl. aber Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  46, der die „Gesamtkonzeption“ mit Lucke (Entstehung, wie Anm.  150) erst auf Juli ansetzt, was doch wohl für das Erscheinen des 1. Bundesgenossen bedeuten würde, dass er erst dann im Druck erschienen sein kann. Ein Erscheinen der Eröffnungsschrift nach dem Wormser Reichstag halte ich aber für ganz unwahrscheinlich (s. u. Anm.  228). Durch Peters’ Nachweis, dass alle 15 Bundesgenossen zunächst in Einzelausgaben erschienen sind, scheint es mir grundsätzlich erforderlich, die Fragen nach der Entstehung der Einzeltexte und nach dem Zeitpunkt ihres Erscheinens im Druck zu entkoppeln. Lucke setzt voraus, dass

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wissen – literarisch imaginierten, sich den Zeitgenossen freilich als reales Bündnis ungenannter Personen präsentierenden Vereinigung von 15 Personen, deren „heymlich blyben“ von ihrem Verfasser als beabsichtigte publizistische Strategie verstanden und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.157 In der Pfaffenklage, einem in Analogie zu den XV Bundesgenossen konzipierten Prosadialog, in dem sieben Geistliche unter als Pseudonyme offengelegten Namen158 je ihre für die Situation des zeitgenössischen Pfarrklerus exemplarische Not vortragen, wird die Weisheit der 15 Bundesgenossen gepriesen, die bis „uff disen tag“ „ir wesen und nammen“ mit Erfolg verheimlicht hätten.159 Durch die erklärte Absicht der Kolloquenten, ihre „red“ „heymlich bleyben“160 zu lassen, wird der Leser gezielt in einen ihm verborgenen Gesprächszusamdie Bundesgenossen erst erschienen, nachdem alle ihre Teile fertig waren. Nun ist – zuletzt von Peters (vgl. bes. S.  44 ff.) – ganz überzeugend nachgewiesen worden, dass einige der „Texte“, die später in die XV Bundesgenossen eingingen, älter sind. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass der wohl Eberlins Konflikt mit Glapion (15./16.  3. 1521, vgl. Paul Kalkoff, Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, Halle 21897, S.  127 mit Anm.  2) voraussetzende 1. Bundesgenosse im Vorfelde des Wormser Reichtages und in der Hoffnung, auf den Kaiser einzuwirken, erschien (zur auch in der älteren Literatur gelegentlich vertretenen Auffassung, terminus ante des Druckes des 1. Bundesgenossen sei der Wormser Reichstag, s. Lucke, Entstehung, wie Anm.  150, S.  67 mit Anm.  3 ; 69 ff.; s. u. Anm.  228). Nacheinander ließ Eberlin dann z. T. schon ausgearbeitete, z. T. als „Lückenbüßer“ (Lucke, a.a.O., S.  91: Bundesgenosse 13, 6 und 14) noch beigebrachte Einzelschriften in den Druck gehen. Gerade die „Lückenbüßer“ zeigen, dass er z. T. unter beträchtlichen Produktionsdruck geraten sein muss. Da wohl ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass Eberlin Anfang April in Basel war (vgl. Z 7, S.  445,4 ff. [Brief Zwinglis an Beatus Rhenanus vom 5.  4. 1521]; s. dazu Lucke, a.a.O., bes. S.  14; Peters, a.a.O., S.  28), halte ich es für das Wahrscheinlichste, dass zu diesem Zeitpunkt bereits Absprachen bezüglich des Druckes getroffen wurden. Da ja die Möglichkeit, dass die ‚Bundesidee‘ bzw. die Idee, einen Zyklus erscheinen zu lassen, vom Drucker, also Gengenbach, stammte, nicht auszuschließen ist, vielleicht sogar – da er ja das wirtschaftliche Risiko trug! – wahrscheinlich ist, besagt die Chronologie der Einzelstücke m. E. gar nichts. Für die von Peters (S.  46 f.) weitgehend offengelassene Frage nach möglichen traditionsgeschichtlichen Hintergründen des Bundeskonzeptes möchte ich an den schon von Lucke (vgl. S.  95 ff.) herausgestellten Hutten erinnern, vgl. bes. die Dialoge von 1520/21 in: Böcking, Bd.  4, S.  223; 310–329. Terminus post quem non des Erscheinens des 15. Bundesgenossen ist Oktober 1521, vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  I V; vgl. auch Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  2, S.  191, 49 ff. 157   Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  59; 74. 158   Der fünfte „trostloß pfaff, herr Panthleon ubelin, pfarrher zu Grüblingen“ (Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  72), schlägt die dann befolgte publizistische Strategie innerhalb der Flugschrift selbst vor: „Darumb ist mein rath, wir lassen ußdrucken unser anligen und begern rath und hilff von allen menschen, das sye gott für uns bitten. und welcher etwas guts da zu wisß zusagen, das er es thu heymlich oder offentlich, mündtlich oder schrifftlich, damit aber uns nit grösserer schad daruß entspring, wöllen wir eygne nammen verdecken under obgemelten namen, ist uns auch nit tadelich zuachten, so wir aygne beschwerde, nit frembde schmach ußschreiben. auch das nit uß bösem, sonder uß gutem willen hilff und rath in so grosser not zesuchen.“ Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  74. Die durchsichtig gemachte Pseudonymität der sieben trostlosen Pfaffen ist also ein Mittel, den Eindruck der suggerierten Authentizität ihrer Klagen zu steigern. 159   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  59. In Bezug auf die XV Bundesgenossen gebe es zwar „ein argwon [.  .  .], ist doch kein wissen, wer sye sind.“ Ebd. Die XV Bundesgenossen hätten einen „verschwygnen Buchdrucker“ (Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  74) gefunden. Am Schluss des Pfaffentrostes verweisen die 15 selbst auf Basel als Erscheinungsort ihrer ersten „XV. biechlin“ (Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  93). 160   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  59; zu diesem Motiv vgl. z. B. auch den Dialog Cuntz und Fritz, Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  2, S.  121; 127; s. auch unten, Anm.  235.

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menhang der sieben Pfaffen eingeführt. Die „heymlichkeit“161 begründet der erste „trostlose Pfaff, herr Engelhart, Pfarrher zu Krochingen, Hauer Bistumb“162 damit, nicht „leiden uff leiden [zu] laden“ und „böß erger“ vermeiden zu wollen163, und führt sie als Ausdruck des guten Willens an, „hilff und rath in so grosser not zusuchen“, nicht aber „fremde schmach“ offenzulegen.164 Jeder, der ihnen in ihrer Not etwas „heymlich oder öffentlich, mündtlich oder schrifftlich“165 raten könne, sei dazu aufgefordert. Die Adressaten der Pfaffenklage sind alle „frummen ußerwelten Christen“, die – unter Zusicherung von Diskretion166 – aufgefordert werden, hilfreichen brüderlichen Rat zu bieten: „Ob ir eweren nammen nit darzu schreiben, ligt nit daran, an schrifften der Biblia, so jr ynfüren werden, wollen wir wol mercken, das euer rath gerecht sey oder nit [.  .  .].“167 Die Pfaffenklage verweist so gleichsam voraus auf die ihr in Gestalt des Pfaffentrostes zuteil werdende anonyme Hilfe der 15 Bundesgenossen. Die fortlaufenden biblischen Begründungen, die die 15 Bundesgenossen ihren Antworten unterlegen, sichern jene verbindliche Allgemeingültigkeit, die wichtiger ist als die namentliche Kennzeichnung öffentlicher Meinungen. Als exem­ plarische Verkörperung der „frummen ußerwelten Christen“168 repräsentieren die 15 Bundesgenossen das schriftgebundene Wahrheitsbewusstsein der Christenheit als solches169, das eben darin seinen Ausdruck findet, dass es sich von der Bibel her korrigieren lässt.170 In der ausdrücklichen Verabschiedung der 15 Bundesgenossen von der publizistischen Öffentlichkeit, die in dem Letzten Ausschreiben vollzogen wird, spielt das auch von Luther und Melanchthon171 geteilte Unbehagen darüber, dass „man in götlichen dingen andere biecher schreybe dan die Biblia“172, die wohl entscheidende Rolle. Aus vielen Büchern erwachse „mer yrsal dan nutz“; „wil ainer antwurt haben uff ein 161

 Ebd.  Ebd. 163  Ebd. 164   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  74. 165  Ebd. 166   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  76. 167   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  77. 168   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  76. 169   Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  80; 93. 170   „Erwirdig lieben herren [sc. die sieben trostlosen Pfaffen], hye schicken wir euch zu unser gutbeduncken uff ewer klag [.  .  .] wo wir geirret haben, wöllen wir uns lassen weisen und ain besseren berichten. Wir begeren auch, ir wöllen unsere erste .XV. büchlin von mengerley ußgangen zu Basel im jar .M. D. xxj. mit urteil lesen, dann nit alle ding artickel des glaubens, so darinn verfasßt sind. doch vertrawen wir euch, jr bedencken all unser arbeit zu gutem, ob wir schon nit alle ding so eben treffen by einem bauren schuch.“ Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  93. Der ausdrückliche Rückverweis auf den ca. ein Jahr zuvor erschienenen Zyklus der XV Bundesgenossen und die Aufforderung, ihn „mit urteil“ zu lesen, signalisiert eine dem vertieften theologischen Selbstverständnis des nunmehr in Wittenberg studierenden Eberlin entsprechende Distanznahme, vgl. auch Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  103 f. 171   Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  201 f. 172   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  201; Enders, Eberlin, Bd.  3, S.  161 ff. 162

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hailsame frage, so zaige im text der Biblia dar uff, und laß den gaist seinen expositor und lerer sein.“173 Deshalb wollen die 15 Bundesgenossen „auch uffhören [zu] schryben, und alle menschen vermanen wir, das sie hailge schrift selbs lesen, betrachten, und mit mundt leren, do by blyben und bitten got für uns.“174 Die durch den Rekurs auf die Schrift verbürgte allgemeine Wahrheitsrepräsentanz machte die anonyme Publikationstätigkeit der 15 Bundesgenossen nach der nunmehr gewonnenen Einsicht ihres Erfinders und mit dem Erscheinen des Neuen Testaments in der Volkssprache im Spätjahr 1522 selbst überflüssig. Dem allgemeinen Rückgang anonymer Flugschriftenpublikationen entsprechend, spielten anonyme Schriften in der literarischen Produktion des ehemaligen Franziskaners Eberlin nurmehr eine untergeordnete und funktional spezifisch gewandelte Rolle.175 Von seiner Abkehr von dem von Eberlin 1521 virtuos und mit analogielosem Erfolg praktizierten Konzept anonymer Serienpublizistik her fällt ein instruktives Licht auf die ursprünglichen Absichten, die er selbst – möglicherweise in enger Verbindung zu dem seinerseits ano173   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  205; vgl. 203; dazu auch: Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  113–115. Einen Hinweis auf seine spätere nachdrückliche Distanzierung von den 15 Bundesgenossen bietet Eberlin selbst: Enders, Eberlin, Bd.  3, S.  148; 162. 174   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  205. Die Ermahnung zum Bibelstudium wird mit konkreten Vorschlägen zu seiner Umsetzung verbunden: „kanstu nit selbs läsen, bestel ein armen schuler, der lißt dir umb ein stück brot als vyl du ein tag bedorffst. Hastu kein buch, bist du arm, bättel ein buch, es ist dir eerlicher ain ewangeli bätlen dann ein stuck brot. Bit andre um gotswillen das sie dir im ewangeli läsen.“ Enders, Eberlin, Bd.  1 S.  165. Im Letzten Ausschreiben setzt Eberlin sechs Monate für das orientierende Bibelstudium an: „lyß mit flyß in heilger geschryfft [. . .]. VI. monat: darnach wurdstu selbs wissen, was hailger gschrift mainung ist, on aller lerer geschryfften.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  204. Ungeachtet des phantastisch anmutenden Charakters seiner Forderung nach allgemeiner Bibellektüre der Christen unter den bildungs- und sozialgeschichtlichen Bedingungen des frühen 16. Jahrhunderts kann Eberlin als durchaus wirkungsreicher Repräsentant der Vorstellung gelten, jeder Christ solle die Bibel lesen oder sich vorlesen lassen; s. dazu auch unten III, §  13, Anm.  136 ff.; oben I, §  3. Dies dürfte bei Wallmanns Versuch, in dieser Forderung ein Proprium des Pietismus Spenerscher Prägung zu sehen, zu bedenken sein, vgl. Johannes Wallmann, Was ist Pietismus?, in: PuN 20, 1994, S.  11–27, bes. 23 f. (ND in: Ders. Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze 2, Tübingen 2008, S.  211–227, hier: 223); ders., Vom Katechismuschristentum zum Bibelchristentum. Zum Bibelverständnis des Pietismus, in: Richard Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips [Bibel im Gespräch 2], Stuttgart 1994, S.  30–56 (ND in: Ders., Pietismus-Studien, a.a.O., S.  228–257). In Bezug auf eine entsprechende Forderung bei Luther sei nur auf die Adelsschrift verwiesen, vgl. WA 6, S.  461. Zu der etwa für Karlstadts gemeindereformatorisches Reformationskonzept zentralen, schon 1520 im Anschluss an Erasmus erhobenen Forderung, die Bibel solle in der Muttersprache den einfachen Laien in die Hand gegeben werden (s. oben I, §  3 ; unten III, §  13), vgl. nur Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1, Leipzig 1905, ND Nieuw­ koop 1968, S.  175 f.; vgl. etwa auch Sebastian Lotzer, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  252,24 ff.; 257,35 ff. Der Topos „Bibelstudium ist wichtiger als Flugschriftenlesen“ begegnet auch sonst, vgl. nur Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, S.  222, und dürfte als Folge des Erscheinens des Lutherschen Neuen Testaments deutsch anzusprechen sein. 175  Vgl. Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  363 ff., Nr.  52–55; 63 f.; S.  154 ff.; 222 ff.; vgl. auch: Hans-Herbert Ahrens, Die religiösen, nationalen und sozialen Gedanken Johann Eberlins von Günzburg, mit besonderer Berücksichtigung seiner anonymen Flugschriften, Hamburg 1939, bes. S.  13 f., der die These vertritt, die anonymen Schriften behandelten „in der Hauptsache politische und soziale Fragen, während die Schriften, die Eberlin unter seinem Namen hinausgehen ließ, fast alle theologisch sind.“

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nym bleibenden Drucker und Publizisten Pamphilius Gengenbach in Basel176 – mit dem in großer Geschwindigkeit produzierten Flugschriftenzyklus verband. Für das Bundeskonzept der XV Bundesgenossen, die in numerischer Folge – jeder an einem Tag177 – nacheinander auftreten und konkrete Missstände des zeitgenössischen Kirchenwesens und Vorschläge zu seiner Reformierung vortragen, war – auch nach der Einschätzung Eberlins – von zentraler Bedeutung, dass „jr wesen und nammen“178 unbekannt blieb. Die „heymlichkeit“179 der Bundesgenossen, von denen kein lesender Zeitgenosse als solcher wissen konnte, dass sie keinen realen Personenverband, sondern eine literarische Fiktion darstellten, ist ein integrales Moment der publizistischen Konzeption. Der Anonymität der Personen und der Unbestimmtheit ihres Bundes haftet etwas Geheimnisvolles an. In literarischer Hinsicht bietet sie die Möglichkeit, eine große thematische Vielfalt der behandelten Stoffe und der sozialen Referenzbezüge zu integrieren und die 15 Bundesgenossen gleichsam als Repräsentanten der ‚gesamten Öffentlichkeit‘ zu präsentieren. Die Veröffentlichung der Meinungen und Vorstellungen erscheint geradezu als die eigentliche, jeden einzelnen der 15 Bundesgenossen in die Pflicht nehmende Zweckbestimmung ihrer „verbündtnüß“180. Die 15 haben „zu samen geschworen [.  .  .] wir wollen entdecken gemeinen Christen, mit was lästerlicher unträglicher bürde sy beladen sind.“181 Der Adressat ihrer Schriften ist die „wält“182, die „Christenheit“ als ganze183, die weltlichen Obrigkeiten als deren Repräsentanten184, die „theüren teütschen“185, die „hoch gekoufften Christen“186, in einem Fall auch die „starcken christenlichen Aidgnossen.“187 Das kollektive Gewissen dieser Allgemeinheit wollen die 15 Bundesgenossen

176  Auch Peters äußert die überzeugende Vermutung, dass der Plan zu dem Zyklus „wohl unter Beteiligung des Verlegers und Humanisten Pamphilius Gengenbach“ (Eberlin, wie Anm.  151, S.  315) zustande kam. Über Gengenbach vgl. Rudolf Raillard, Pamphilius Gengenbach und die Reformation, Diss. phil. Zürich 1936; Richard Ernest Walker, Art. Gengenbach, in: Hillerbrand, Encyclopedia, wie Anm.  125, S.  164 f. [Lit.]. 177   Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  16; 33; 105. 178   Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  59. 179  Ebd. 180   Unvermittelt beginnt der 1. Bundesgenosse: „Ich erster bundtsgnoß wird erfordert von minen .xiiij. mit gesellen gnug zu thun unser verbündtnüß, bedunckt mich nützlich sein all mein red zu keren uff das trew adelich christlich härtz unsers genädigsten Kaysers Caroli [.  .  .].“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  2. Vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  36: Der 4. Bundesgenosse bittet Jesus darum, „minem zusagen gnug [zu] thun zu nutz und trost diser wält“; der 6. Bundesgenosse tut seiner „pflicht“ „gnug“, indem er die Bettelmönche abweist, Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  56; der 12. Bundesgenosse seinem „eid“ (a.a.O., S.  134), indem er auf Befehl der deutschen Nation an die Klosterpersonen schreibt, vgl. a.a.O., S.  154. 181   A.a.O, S.  16; vgl. 90; 144; 149. 182   A.a.O, S.  24; 76. 183   A.a.O, S.  16; vgl. 22. 184   A.a.O, S.  46. 185   A.a.O, S.  76. 186   A.a.O, S.  77. 187   A.a.O,S.  144.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

sein188 ; als ihre Ratgeber treten sie auf.189 Vor bäuerlichen Übergriffen auf Kleriker warnen sie190 ; in der Ritterschaft haben sie „vill gutter fraindt“191 ; Hutten und Sickingen sind auch ihre Helden.192 Die 15 Bundesgenossen tragen ihre Auffassungen dem Kaiser „im namen teütscher nation“193 vor; ihre Klage über die Bettelmönche, der sie Ausdruck verleihen, haben sie „under fürsten, edlen burgern und pawren“194 vernommen, aber auch den Nöten ehrbarer, frommer Klosterleute leihen sie ihre Stimme195 oder sprechen sie aus „befälch teutscher nation“196 an. Wie sie ihr Ohr an der deutschen Nation haben, artikulieren sie deren Unruhe.197 Als ‚Laienbund‘198 verkörpern die 15 Ungenannten die ‚öffentliche Meinung‘ als solche; ihre Anonymität entspricht dem Anspruch auf allgemeine Meinungsrepräsentanz. Auch in Bezug auf die zwei Wolfaria-Stücke eines nicht mit einem der Bundesgenossen identischen Psitacus199 bilden die 15 eher das Forum, den Artikulationsraum, die symbolisierte Öffentlichkeit, innerhalb deren die Lebensordnung dieser utopischen Gesellschaft vorgestellt wird. Ein individuelles Meinungsprofil eignet keinem der 15: Was einer denkt, denken auch die anderen.200 Der Bundesgesinnung der 15 entspricht es, den angesprochenen Christen mit letzter Verbindlichkeit („mit trüwen“) 201 zu begegnen. Der eigentliche Sinn der Bundeskonzeption scheint in der 188   Vgl. a.a.O., S.  18 f.; 21; zum Rekurs auf die altkirchlichen Quellen der Wahrheit, die die 15 anführen, vgl. etwa 19; 29; 51; 56; 64. 189   Vgl. etwa a.a.O., S.  31; 65; mit leicht modifiziertem Adressatenbezug: 7. Bundesgenosse, a.a.O., S.  68. Für den Fall, dass ein Bischof einer heiratswilligen Nonne keinen Dispens erteilt, tun dies die 15, vgl. a.a.O., S.  32; zur Ermahnung, in der Lehre beständig zu sein, vgl. a.a.O., S.  164. 190   Vgl. a.a.O., S.  65: „Der Pawr wirt witzig“; vgl. a.a.O., S.  161. 191  A.a.O., S.  194. 192   Zu Sickingen: a.a.O., S.  201; zu Hutten und Luther: a.a.O., S.  4 ; 7; 79 ff.; 86. 193   A.a.O., S.  13 f. 194   A.a.O., S.  11. 195   A.a.O., S.  101. 196   A.a.O., S.  134. 197   „Dise stuck und deren glichen haben wir für gehalten der teütschen nation mit mund und geschrifft, offentlich und heimlich, du [sc. Kaiser Karl V.] werdest all dein fleiß ankeren solichs ab zu stellen vor allen dingen, das dir dar nach got gäb syg und hail vor allen dinen finden.“ A.a.O., S.  13. Die Anliegen der 15 Bundesgenossen und der deutschen Nation werden gleichsam identifiziert: „Do mit beschlüß ich [sc. der 1. Bundesgenosse] min und miner mit gesellen hertzlich klag zu dir [sc. dem Kaiser], thu du als ein getrüwer vatter, als ein genädiger herr, als ein gehärtziger kayser, und biß got und der teütschen nation danckbar und kumm unß zu hilff.“ A.a.O., S.  14. 198   Vgl. z. B. a.a.O., S.  10; vgl. 21; 100 (Sorgen von Laien mit Mönchen in der 1. Person Singular). 199   Vgl. a.a.O., S.  107; 121; 122; s. auch Enders, Eberlin, Bd.  3, S.  148 ff.; zur reichhaltigen älteren Literatur zu den Wolfaria-Stücken vgl. die bei Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  38 f., gebotenen Hinweise; s. auch oben II, §  5, Anm.  138 ff. Bei den Wolfaria-Stücken ist die literarische Einbindung in den Flugschriftenzyklus besonders oberflächlich, vgl. nur Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  108; 122; zur Bezeichnung Luthers als „optima psiticus“ = psittacus (Sittich) im Karsthans vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  83,9; 123 Anm.  46. 200   Vgl. etwa Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  38; der 8. Bundesgenosse ist von seinen „vierzehen gesellen verordnet“, dem „gemeinen man“ die heilsame Bedeutung deutschsprachigen Schrifttums darzulegen, a.a.O., S.  80. 201   A.a.O., S.  78; vgl. 161.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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modellhaften gemeinschaftlichen Verwirklichung einer gegenüber Gott in der Taufe verpflichtend angenommenen Lebensordnung zu bestehen. Sowenig dieser Sinn des Bundes der 15 in den Flugschriften selbst explizit entfaltet wird, so scheint er ihm doch implizit zugrunde zu liegen. Im 13. Bundesgenossen etwa heißt es: „Got suchet unser selen heil, der teüfel sucht unser lybs und seel verdammunge. solchs zu erinnern [im Nachdruck: erneweren] hat got uff gsatzt ein sacrament des tauffes, durch welches er verpflicht auch sichtbarlich alle, die Christen wellen sein, zu fleissiger warnämung, was dem heyl und der verderbung nach sy. So wir dann alle getoufft sind und ein eerlichen eyd geschworen haben got und der Christenheit, ist nachfolgig, das wir söllen lassen lyb, läben, eer und gut, ee dann wir abflüchtig und mainaidig werden.“202 Diese an theologische Äußerungen Luthers und Erasmus’ anknüpfende Deutung der Taufe als Bundesschluss203, als den Christen bei seinem „geschwornem 202

  A.a.O., S.  145.   In Bezug auf Luther ist insbesondere dessen Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe von 1519 einschlägig, vgl. etwa die Bezeichnung der Taufe als „eyn eußerlich zeychen odder loßung / die uns absondert von allen ungetaufften menschen / dz wir dar bey erkennet werden / eyn volck Christi unßers hertzogen / under wilchs panier (das ist / das heylig Creutz) wir stetiglich streyten widder die sund [.  .  .].“ WA 2, S.  727,20–23 = LuStA 1, S.  259,17–260,2. In der vergleichenden Höherbewertung der „Tauff unnd gelubd / die wir da gott gethan“ (WA 2, S.  735,29 f. = LuStA 1, S.  267,29 f.) gegenüber den Mönchsgelübden – ein Gedanke, der in charakteristischer Modifikation in De votis monasticis eine zentrale Rolle spielt (vgl. WA 8, S.  573–669; dazu Bernhard Lohse, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters [FKDG 12], Göttingen 1963, S.  363; ders., Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S.  158–161) – knüpft Luther eindeutig an Erasmus’ Enchiridion an (s. u.); zur militia-Topik vgl. auch WA 2, S.  732; zur Taufe als Gelübde s. WA 2, S.  735; in Luthers Deutung des „tauff bund“ (WA 2, S.  737,7 = LuStA 1, S.  269,1) hat die Sündenvergebung gegenüber der Inpflichtnahme der Nachfolge eine herausgehobene Bedeutung. Zum wechselseitigen Verbündnis zwischen Gott und Mensch in der Taufe vgl. WA 2, S.  730,21 f.30 = LuStA 1, S.  262, 28.36; WA 2, S.  731,3 ff. = LuStA 1, S.  263,9 ff.; WA 2, S.  732,5 ff. = LuStA 1, S.  264,5 ff.; WA 2, S.  737,19 ff. = LuStA 1, S.  269,13 ff. Der enge Konnex zwischen Luthers früher Sakramentstheologie in den drei Sermonen von 1519 und dem Enchiridion des Erasmus (vgl. in Bezug auf das Abendmahlsverständnis: Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  57, S.  49, Anm.  279) scheint in der Lutherforschung (vgl. die Literaturhinweise bei Lohse, a.a.O., S.  143 f.) noch nicht intensiver diskutiert worden zu sein. Zur Tauflehre des jungen Luther vgl. noch immer die grundlegende Arbeit von Werner Jetter, Die Taufe beim jungen Luther. Eine Untersuchung über das Werden der reformatorischen Sakraments- und Taufanschauung [BHTh 18], Tübingen 1954, bes. S.  309. In Bezug auf eine Gestalt wie Eberlin von Günzburg dürfte dieser Befund möglicherweise zu einer entschieden undramatischeren Bestimmung des Übergangs vom ‚Humanismus‘ zur ‚Reformation‘ führen, als Peters (Eberlin, wie Anm.  151, vgl. bes. S.  61: „Bestürzung“) sie bietet. Im Enchiridion militis christiani etwa heißt es: „Etenim qui cum vitiis pacem iniit, cum Deo in baptismate percussum foedus violavit.“ Hajo Holborn (Hg.), Desiderius Erasmus, Ausgewählte Werke [VKERG 3], München 1933, ND München 1964, S.  24,1 f. = Werner Welzig (Hg.), Desiderius Erasmus. Ausgewählte Schriften, lateinisch und deutsch, Bd.  1, Darmstadt 42006, S.  60 f.; vgl. auch Holborn, S.  19,32 f. = Welzig 1, S.  48 f., wo die Taufe als „unicum votum, quod [. . .] non homini, sed Christo“ getan werde – im Unterschied zu den Mönchsgelübden –, bezeichnet wird. Vgl. Holborn, S.  24,13 ff. (zit. Anm.  206) = Welzig 1, S.  62 f. Die „professio christianorum“, der Sünde und der Welt zu sterben, wurde in der Taufe geschworen: „Hoc iam olim in baptismo deierasti.“ Holborn, S.  59,34 f. = Welzig 1, S.  160 f.; vgl. Holborn, S.  74,12 = Welzig 1, S.  200 f.; Holborn, S.  78,10–12 = Welzig 1, S.  212 f. 203

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§  10  Publizistische Mobilisierung

eid“204 behaftende Verpflichtung gegenüber Gott, schließt die Bereitschaft zum „verlust zytlichs läbens und alles zytlichen guts“205 um der Nachfolge Christi willen ein. Christus, „unser houptman“206, habe ein „im helgen ewangelio, und yn Biblischen büchern des newen testaments“ enthaltenes „gsatz“207 aufgerichtet, auf das die Chri­ sten in ihrer Taufe geschworen haben und das sie unter Einsatz ihres Lebens zu halten verpflichtet sind.208 Die Schweizer Eidgenossen werden ihres „got im touff“ getanen „aid[es]“209 erinnert und sollen als Schützer der „unbillichen verfolgten frummen Christen“210 auftreten. Zugleich werden sie von den 15 Bundesgenossen zur Hilfe angerufen, „das wir unseren aid, so wir got uff sein ewangelisch gsatz gethon haben, mögen halten, das wir nit so unbillich von den falschen christen und lerer umb unser gut, eer und lyb kummen wider got und recht“211. Das Verhältnis der weltlichen Obrigkeiten zu ihren „underthon“ ist durch die im Taufeid eingegangene, durch keine Instanz der Welt – auch den Papst nicht – zu lösende Verpflichtung konstituiert.212 Auch das Verhältnis der Pfarrgemeinde zu ihrem „prediger“ soll durch ein wechselseitig verpflichtendes „bündtnüß“ begründet werden, „des jr yn, und er eüch on mercklich ursach nit mögen urlauben“213. Die in dem anonymen Flugschriftenzyklus anklingenden, tauftheologisch begründeten bundeskonzeptionellen Vorstellungen zielen auf eine Parteinahme der Leserschaft in den Auseinandersetzungen der Gegenwart ab. Darin, dass „vyl küner helden“ von Gott erweckt 204

  Enders, Eberlin, Bd.  1, S. 145.   A.a.O., S.  145. 206   A.a.O., S.  145; zu dieser für Zwingli charakteristischen Christusprädikation vgl. Gottfried Wilhelm Locher, „Christus unser Hauptmann“. Ein Stück der Verkündigung Huldrych Zwinglis in seinem kulturgeschichtlichen Zusammenhang, in: Ders., Huldrych Zwingli in neuer Sicht, Zürich, Stuttgart 1969, S.  55–74. Bei Eberlin dürfte die Prägung der Metapher durch Erasmus im Hintergrund stehen: „An nescis, o Christiane miles, iam tum, cum vivifici lavacri mysteriis initiabaris, nomen dedisse te duci Christo, cui bis vitam debebas, pariter et donatam et restitutam, cui plusquam teipsum debebas? [.  .  .] Quantus pudor, quanta paene publica humani generis exsecratio, cum a duce principe deficit homo. Tu cor ludibrio habes Christum ducem tuum neque metu illius coercitus, cum sit Deus, neque amore prohibitus, cum tua causa sit homo?“ Holborn, Erasmus, wie Anm.  204, S.  24,13 ff. = Welzig, Erasmus, wie Anm.  204, Bd.  1, S.  62 f. Die erste literarisch gewordene Verwendung der Metapher bei Zwingli läßt sich m.W. in seiner im September 1522 in den Druck gegebenen Predigt von der ewigen reinen Magd Maria nachweisen, vgl. Z 1, S.  395, 14 ff. (vgl. dazu: Hans Schneider, Zwinglis Marienpredigt und Luthers Magnifikat-Auslegung, in: Zwa 23, 1996, S.  105–141). Da sich Eberlins Verwendung der Christusprädikation in der speziell an die Eidgenossen gerichteten Schrift des 13. Bundesgenossen findet, halte ich Zwinglis Beeinflussung durch diese prominente Verwendung in der anonymen Schrift des Günzburgers durchaus für möglich. Auch bei Luther ist 1519 die Rede von Christus als „hertzog“ (WA 2, S.  727,22 = LuStA 1, S.  260,1) belegt; zu den Momenten einer frühen Vorbild-Christologie vgl. nur: Marc Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis, Göttingen 1979, S.  82 f. 207   Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  145. 208   A.a.O., S.  146. 209   A.a.O., S.  150. 210   A.a.O., S.  150. 211   A.a.O., S.  150. 212   A.a.O., S.  46. 213   A.a.O., S.  97. 205

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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würden, Protagonisten der evangelischen Erneuerung wie etwa die im Flugschriftenzyklus mehrfach genannten Erasmus, Luther, Karlstadt, Melanchthon und Hutten214, sehen die 15 Gottes helfendes Heilsangebot215, die von Gott gewährte Möglichkeit einer Erneuerung des in der Taufe eingegangenen Bundes. Der Bund der 15 Ungenannten ist die exemplarische, auf Nachahmung in der gesamten Christenheit abzielende Aktualisierung der in der Taufe begründeten Eidesverpflichtung zur christ­ lichen ‚militia‘. Die Anonymität der Bundesgenossen, ihr einer soziologischen Prä­ zisierung bewusst enthobenes Inkognito, entspricht der allgemeinen, auf jeden getauften Christen bezogenen Exemplarität der Bundeskonzeption.216 Die literarische Form und die Intention des Flugschriftenzyklus, jeden Christen unter dem Aufweis vorhandener Missbräuche und unter dem Angebot bestimmter Entscheidungshilfen217 zum entschiedenen Einsatz für das Evangelium, zu dem er sich in seiner Taufe verpflichtet hat, zu bewegen, entsprechen einander kongenial. Auch im Falle des Eberlinschen Flugschriftenzyklus Die XV Bundesgenossen ist die Anonymität ein literarisch gezielt eingesetztes Mittel, um den Anspruch auf allgemeine Wahrheitsrepräsentanz im Raum der Öffentlichkeit zu artikulieren, bzw. diese ‚Öffentlichkeit‘ mit Hilfe einer seriellen Flugschriftenreihe allererst zu schaffen. 214   Vgl. a.a.O., S.  3 ; 4; 12; 55 ff.; 153 ff.; 79 ff.; 86; 148. In dem Ende 1522 abgefassten Letzten Ausschreiben spielen nurmehr Luther und Melanchthon (a.a.O., S.  201 f.) eine Rolle, auch Karlstadt ist – entsprechend den aktuellen innerwittenbergischen Parteibildungen und Eberlins eigenem theologischen Anschluss an Melanchthon und Luther (vgl. Peters, Eberlin, wie Anm.  151, passim) – ‚abgemeldet‘. 215   „Sähen ir nit das eüch got die hand reicht und will eüch hälffen, das ir mercken in dem, das got so vyl küner helden erweckt, welch schryen wider solichen mißbrauch und ir eer, lyb und gut wogen zu ewerem heil.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  77. 216  Möglicherweise wären die Wolfaria-Schriften vor diesem Hintergrund anders denn als bloßes ‚Kuriosum‘ (vgl. Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  50) zu interpretieren. Dass sie schon in literarisch-formaler Hinsicht aus dem Rahmen fallen, soll damit nicht bestritten werden (vgl. Peters, a.a.O., S.  38 f.; 50 f.). Mit dem Hinweis auf die von Peters überzeugend aufgewiesenen Traditionen ist die Frage nach der Funktion der Stücke innerhalb des Zyklus ja noch keineswegs beantwortet. In Bezug auf den weltlichen Verfassungsentwurf (11. Bundesgenosse) fällt auf, dass seinem Inkrafttreten die Zustimmung des ganzen Volkes (Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  122) vorausgehen soll. Der Verfassungsentwurf teilt also mit der Bundeskonzeption den Anspruch auf Allgemeinheit. Wie jeder Christ, in der Taufe sich selbst eidlich bindend, eine Verpflichtung gegenüber Gott und der Christenheit (Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  145) eingeht, soll die für Wolfaria geplante Ordnung die Zustimmung des ganzen Volkes finden. Ähnlich der Aktualisierung des Taufbündnisses in Bezug auf die weltliche Obrigkeit (Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  46) und die schweizerische Eidgenossenschaft (a.a.O., S.  145; 150) könnte in dem Verfassungsentwurf eine bewusst fiktionalisierte Spiegelung des Taufbundes in eine gesellschaftliche Ordnung versucht sein. In der germanistischen Eberlin-Forschung wird in der Regel von einer bei allem inneren Spannungsreichtum planvollen Gesamtanlage des Zyklus ausgegangen, vgl. etwa Könneker, Literatur, wie Anm.  58, z. B. S.  110 f.; besonders schwer nachvollziehbar: Helmut Weidhase, Kunst und Sprache im Spiegel der reformatorischen und humanistischen Schriften Johann Eberlins von Günzburg, Diss.phil. Tübingen, 1967, bes. S.  126 ff.; 274 ff. 217   Vgl. etwa den Katalog, mit dessen Hilfe ein „einfältiger ley“ (Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  61) prüfen kann, ob sein Prediger im Sinne des Evangeliums gelehrt oder ungelehrt ist, Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  61–63.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Dafür, dass die Idee einer Flugschriftenserie aus jeweils sehr kurzen, in rascher Folge erschienenen Schriften auch als eine – freilich publikationsstrategisch optimierte – Replik auf Murners Publikationsoffensive von 1520/21 interpretiert werden könnte, gibt es zwar einige Anhaltspunkte218 ; definitiv entscheidbar ist die Frage aber nicht. Die Bundeskonzeption des Eberlin von Günzburg dürfte zu den historisch wirkungsreichen Fiktionen gehören. Auch wenn das „genossenschaftlich-bündische Prinzip“ als Verfassungsmodell südwestdeutscher und schweizerischer Vereinigun­ gen lange vor der Reformation breit belegt ist 219, so scheint gleichwohl das dezidiert ‚christliche‘ Selbstverständnis der sogenannten christlichen Vereinigungen im Vorfeld des Bauernkrieges, in deren Namen „der neue Maßstab politischer Ordnung durch Evangelium und göttliches Recht“220 seinen Ausdruck findet, ein mit der frühreformatorischen Bewegung ursächlich verbundenes Novum darzustellen. Die XV Bundesgenossen stellen den publizistisch wirkungsreichsten volkssprachlichen Textzusammenhang der frühen Reformation dar, in dem der Bundeskonzeption eine zentrale, freilich strukturell und inhaltlich auch ganz unbestimmte und damit vielfältige Aneignungsformen ermöglichende Bedeutung zukam. Die programmatisch formulierten Anliegen der christlichen Vereinigungen der oberdeutschen Bauernschaft weisen in Bezug auf ihre grundsätzlichen Zielbestimmungen – die Evangeliumsverkündigung und das göttliche Recht durchzusetzen221 – gewisse Parallelen zum Zweck des Bundes der 15 auf. Mit der Möglichkeit, dass das Bundeskonzept des Eberlin auf die christlichen Verbündnisse im Umfeld des Bau218   Eine eindeutige Anspielung auf die Stilisierung Murners im Karsthans ist auf dem Titelblatt des 10. Bundesgenossen gegeben: „Wann man annäm diß Reformatz, So gschweigt man manche kloster katz, Die vornen läckt und hinden kratzt.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  107; vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  77,14 f.; zum Bezug auf die Straßburger Franziskaner vgl. Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  83; zu Murners breiter Replik auf die XV Bundesgenossen vgl. MDS 9, passim. 219  Vgl. Horst Buszello, Legitimation, Verlaufsformen und Ziele, in: Ders./Peter Blickle/ Rudolf Endres (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg [UTB 1275], Paderborn u. a. 31995, S.  281–321, hier: 311. Zum begriffsgeschichtlichen Kontext des „Bundes“ vgl. Reinhart Kosselleck, Art. Bund, in: Ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  1, Stuttgart 1972, S.  582–671, bes. 600 ff., zu Eberlin: 603 f.; s. auch oben I, §  5, Abschnitt 2. und 3. 220   Peter Blickle, Die Revolution von 1525, München 31993, S.  152; zu den „christlichen Vereinigungen“ vgl. a.a.O., S.  152 ff. sowie die Hinweise bei Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 111977, S.  127 ff.; zu den christlichen Vereinigungen im Erfahrungsradius Eberlins und seines Vetters vgl. ausführlich: Max Radlkofer, Johann Eberlin von Günzburg und sein Vetter Hans Jakob Wehe von Leipheim, Nördlingen 1887, S.  253 ff. 221   Vgl. dazu Blickle, Revoution, wie Anm.  220, bes. S.  154. In der Präambel zu den Zwölf Artikeln etwa heißt es: „So dann der grund aller Artickel der Bawren [.  .  .] dz Euangelion zuhören, und dem gemeß zu leben, dahin gericht ist [.  .  .].“ Zit. nach Blickles Ed., a.a.O., Anhang 1, S.  321. Vgl. die Formulierung des Bundeszweckes im 13. Bundesgenossen: „Es ist auch eüch [sc. den Schweizer Eidgenossen] wissen, das Christus unser houptman unß geben hat ein gsatz, begriffen im helgen ewangelio, und yn Biblischen büchern des newen testaments, welches gesatz vol ist aller billichen, heylsamen, nützlichen und eerlichen gebotten, uff welches wir geschworen haben solch gsatz nit fölschen, nit verlöügnen, das halten styff und redlich, und ob wir etwan in unserem läben do wider sünden uß menschlicher blödigkeit. Wöllen wir doch nit lyden, das dem gsatz ein falscher verstand, gloß, zusatz oder absatz, oder andere schmach bewysen werde.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  145 f.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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ernkrieges – jedenfalls atmosphärisch – eingewirkt hat, insofern es dazu beigetragen haben könnte, traditionelle genossenschaftliche Korporationsformen mit neuartigen theologischen Leitvorstellungen und Legitimationsmustern zu verbinden und zu unterlegen und damit jener Integration von ‚reformatorischer‘ Theologie und bäuerlicher Lebenswelt den Weg zu bahnen, die die historische Dynamik der ‚bäuerlichen Reformation‘ ausmacht, dürfte immerhin zu rechnen sein.222 Auch in Bezug auf die bei Thomas Müntzer und in seinem Umfeld begegnenden bundestheologischen Vorstellungen ist die These vertreten worden, dass sie dem Eberlinschen Flugschriftenzyklus entstammen, eine Deutung, die man gleichwohl zurückhaltend und allenfalls – ähnlich den christlichen Vereinigungen der Bauern – im Sinne atmosphärischer Prägung aufrecht erhalten sollte.223 222   Bei einer Gestalt wie dem mit den Bauernkriegsgeschehnissen intensiv verbundenen Memminger Kürschner Sebastian Lotzer etwa kann die Kenntnis der XV Bundesgenossen vorausgesetzt werden, vgl. Arnold, Handwerker, wie Anm.  22, S.  152 f.; vgl. auch Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  257,35 ff. Möglicherweise ist aus Lotzers Beziehung zu dem sich „Karsthans“ nennenden, als Laienprediger auftretenden Arzt Johann Murer oder Maurer (vgl. über ihn die bei Arnold, a.a.O., S.  163, Anm.  11; Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  47, Anm.  86; und Laube, a.a.O., S.  262, Anm.  2 ; 252,17; 260,2 gebotenen Hinweise) auf einen Zusammenhang mit einem „24-Männer-Bund“ zu schließen. Murer soll Glied eines 24 Personen umfassenden Bundes gewesen sein, dem „Doktoren und andere namhafte Leute“ angehörten und die „sich zugesagt [d. h. geschworen hätten], unter Todesgefahr den wahren christlichen Glauben wieder an den Tag zu bringen“, Bossert, zit. nach Peters, a.a.O., S.  47, Anm.  86. Freilich gibt Lotzer an, seine Informationen über „Karsthans“ von den Einwohnern von Horb zu haben, vgl. Laube, a.a.O., S.  260,3 ff.; zu Lotzer und den Bauern im Ganzen: Arnold, a.a.O., S.  183 ff. Die Tatsache, dass Lotzer und Schappeler die Vereinigung der Bauern grundsätzlich akzeptieren konnten (vgl. Martin Brecht, Der theologische Hintergrund der 12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben von 1525. Christoph Schappelers und Sebastian Lotzers Beitrag zum Bauernkrieg, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd.  1: Reformation, Stuttgart 1995, S.  310–347, bes. 335 f.), könnte auch in einem freilich spezifisch aktualisierten rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang mit der Bundeskonzeption stehen. Eine offensive, programmatische Förderung bäuerlicher Vereinigungen dürfte der grundsätzlichen Akzeptanz der Obrigkeit bei Lotzer und Schappeler nicht unbedingt widersprochen haben. Auf Übereinstimmungen zwischen Eberlins utopischen Wolfaria-Statuten und Forderungen der Bauern weist auch Könneker, Literatur, wie Anm.  58, S.  112, hin. 223   Heinrich Bornkamm urteilt: „Der Bund war – sehr bezeichnend für den Büchermenschen Müntzer – nach einem literarischen Vorbild entworfen, einer Flugschrift des Eberlin von Günzburg.“ (Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag, Göttingen 1979, S.  143). Die These Bornkamms ist von Peters zurückhaltend übernommen worden: „Tatsächlich ist nicht auszuschließen, daß Müntzer seinen Allstedter Bund nach dem Vorbild des eberlinschen Flugschriftenzyklus entwarf.“ Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  106, Anm.  70. Eine historisch bedeutende Rolle scheinen bundestheologische Vorstellungen bei Müntzer seit Frühjahr 1524 gespielt zu haben, als zunächst 30, im Juni 1524 dann 500 Menschen nach einem Schwur mit „aufgereckten Fingern“ und anschließender namentlicher Inskription die Verpflichtung eingingen, „bei den Worten Gottes zu stehen“ (vgl. Carl Hinrichs, Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht [AKG 29], Berlin 1952, S.  19; vgl. Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 12, 1869, S.  215; vgl. im Ganzen Walter Elliger, Thomas Müntzer, Leben und Werk, Göttingen 31976, bes. S.  430–437; 467 ff.; 485 ff.; umfassend auch: Manfred Bensing, Idee und Praxis des „christlichen Verbündnisses“ bei Thomas Müntzer, in: WZ(L) 14, 1965, S.  459–471, und: Hans-Joachim Hillerbrand, Bundesbegriff und Bundestheologie bei Thomas Müntzer und den frühen Täufern, in:

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Nachwirkungen des Eberlinschen Bundeskonzeptes könnten möglicherweise in Günter Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994, S.  85–93, bes. 88; nach Auskunft der Verhörprotokolle vom Juni 1525 sei der Zweck des Bündnisses gewesen: „Bei dem Evangelium zu stehen, Mönchen und Nonnen keinen Zins mehr zu geben und dieselben helfen zerstören und vertreiben.“ Neue Mittheilungen, a.a.O., S.  215; Hinrichs, a.a.O., S.  12; Bensing, a.a.O., S.  461; 463; vgl. Walther Peter Fuchs, Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland, Bd.  2, Jena 1942, Nr.  1654, S.  470. Dass auch Vorstellungen der Gütergemeinschaft eine Rolle spielten, ist wahrscheinlich, vgl. Günther Franz, Thomas Müntzer, Schriften und Briefe [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  548,14 ff. (= ThMA 1, S.  271, 1 ff.), s. oben I, §  5, Anm.  150 ff. Nach Müntzers Verständnis des Bundes sollten diejenigen beitreten, die den „ungedichteten Glauben“ hatten; der Bund war als endzeitliche Erneuerung des im Evangelium konstituierten Gottesverhältnisses gedacht. Der Bezug auf die Taufe spielt eine gewisse, aber nicht die entscheidende Rolle: „Das dye unvorsuchten wolten hye sagen, was dorfen wyr vil bundes, wyr haben uns in der tauf verbunden, eyn christ sol und muß leyden. Antwort, lerne erst, was dye tauff sey, lerne erst und erkunde, ap du Gotts gezeugnis in dyr befunden hast [.  .  .].“ Franz, a.a.O., S.  423,8–11 = Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch (Bearb.), Thomas Müntzer Briefwechsel [ThMA 2], Leipzig 2010, S.  321,16–19. Nicht der Rekurs auf die sakramentale Taufhandlung, sondern das innere Geistzeugnis als ‚wahre Taufe‘ bildet den Bezugspunkt für den Bundesschluss. (Zu Müntzers Tauftheologie vgl. Ernst Koch, Das Sakramentsverständnis Thomas Müntzers, in: Siegfried Bräuer/Helmar Junghans [Hg.], Der Theologe Thomas Müntzer. Untersuchungen zu seiner Entwicklung und Lehre, Berlin 1989, S.  129–155, hier: 139 ff.). Müntzer verstand den Allstedter Bundesschluss vom Sommer 1524 auch als eine naturrechtlich begründete „nothwere“ (Franz, a.a.O., S.  423,6 = Bräuer/Kobuch, a.a.O., S.  321,14). Der Bund schloss Leidensbereitschaft ein (Franz, a.a.O., S.  422,28–34; 434,14 f. = Bräuer/Kobuch, a.a.O., S.  320,16–20; 338,1 f.; 545,6–8; vgl. dazu Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten [BHTh 55], Tübingen 1977, S.  96). Die Ambivalenz der Müntzerschen Bundeskonzeption als Bund mit Gott und den Menschen (vgl. 2Kön 23,3) haben die Orlamünder deutlich empfunden und sich im Namen christlicher Freiheit den ihnen von Müntzer nahegebrachten Beitritt versagt, vgl. Franz, a.a.O., S.  572,9–27 = Bräuer/Kobuch, a.a.O., S.  294,19 ff. Die Versuche einer universalen Ausweitung des Bundes bei Müntzer seit Frühsommer 1524 dürften deutlich über einen defensiven Charakter als Schutzkorporation für das Evangelium hinausgehen, s. dazu Bensing, a.a.O.; Hillerbrand, a.a.O., bes. S.  90–92. Im Lichte des unter Folter zustandegekommenen ‚Bekenntnisses‘ vom 16.  5. 1525 (Franz, a.a.O., S.  543 ff. = ThMA 3, S.  265 ff.) erscheint Müntzer als geradezu ‚notorischer‘ Inaugurator von Bundesschlüssen. Bereits in Halle und Aschersleben (Franz, a.a.O., S.  548,28 f. = ThMA 3, S.  271, 13; vgl. Elliger, a.a.O., S.  29 ff.), Zwickau (Franz, a.a.O., S.  547,6–8 = ThMA 3, S.  269,7; vgl. Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichung 12], Mühlhausen 2010), schließlich in Allstedt (Franz, a.a.O., S.  545,3 ff.; 548,7 ff. = ThMA 3, S.  267,1 ff.; 270,10 ff.) soll er als Anstifter von Bundesschlüssen aufgetreten sein. Über den Charakter dieser ‚Bünde‘ vor Allstedt besteht einige Unklarheit; der ohnehin zweifelhafte Charakter der Quelle läßt die Tendenz erkennen, die Tätigkeit des ‚Bundesstifters‘ Müntzer von seinen frühesten Anfängen an als aufrührerisch zu ‚entlarven‘; vgl. dazu die instruktive Analyse des Quellenstücks bei Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung [SMRT 46], Leiden u. a. 1989, S.  59–62. Innerhalb des ‚Bekenntnisses‘ nun findet sich ein Passus, der Hinrichs (a.a.O., S.  21 f.) zu der These veranlasst hatte, Müntzer sei von Eberlins XV Bundesgenossen beeinflusst worden: „Sagt habe geredt [sc. Müntzer], das dye fursten mit 8, eyn grave mit 4 und eyn edel man mit 2 pferden reyten sol und daruber nit [.  .  .].“ (Franz, a.a.O., S.  545,1 f. = ThMA 3, S.  266,15 f.). Diese Begrenzung adliger Herrschaftsrepräsentation (vgl. Franz, S.  545, Anm.  22; WABr 3, Nr.  875) steht in Müntzers ‚Bekenntnis‘ in gar keinem Zusammenhang mit dem Bund, sondern soll die „beschwerung gegen die underthanen“ (Franz, S.  544,21; textgeschichtlich problematisch, ThMA 3, S.  266) restringieren. Entgegen der von Hinrichs (ebd.) aufgestellten Behauptung vermag ich eine analoge Vorstellung in Eberlins WolfariaStücken nicht zu identifizieren. Andererseits finde ich für die von Hinrichs als zweites Argument

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einigen der reformatorischen Ritterschaftsbewegung224 nahestehenden oder eine Nähe zu dieser suggerierenden Flugschriften greifbar sein. Die vor allem um ihrer bis heute kontroversen Verfasserzuschreibung willen viel beachtete Dialogflugschrift Neu-Karsthans225 bezieht sich – jedenfalls in den wahrscheinlich nicht vom Hauptverfasser stammenden rahmenden Einleitungs- und Schlusspassagen – auf einen exemplarisch gemeinten Bundesschluss zwischen Karsthans und Vertretern der Ritder Eberlin-Rezeption Müntzers angeführte ‚kuriose‘ (Peters, a.a.O., S.  38) Forderung des Günzburgers „Alle mann söllen by grosser pein lang bärte tragen“ (Enders, Eberlin, Bd.  1 S.  127) bei Müntzer keinen Beleg; vgl. aber Johann Agricola und Philipp Melanchthon, in: Adolf Laube – Werner Seiffert (Hg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin 1975, S.  526,1 ff.; 532,37. In ihrem Kern scheint die auf Hinrichs zurückgehende These, Müntzers Allstedter Bund der Erwählten stelle eine Umsetzung des Eberlinschen Bundesgenossenkonzepts dar, auf ganz und gar zweifelhafte Rezeptionsspuren zurückzugehen. Bornkamm verweist überdies auf die Epiphaniaspredigt von Müntzers Allstedter Kollegen Simon Haferitz (ed. in Laube, a.a.O., S.  316–347), in der sich zwar instruktive Hinweise zur Taufverpflichtung im Sinne des oben angeführten Müntzerzitats finden (vgl. etwa Laube, a.a.O., S.  333,24 ff.; vgl. Otto Clemen, Simon Haferitz, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte, 2. Heft, Berlin 1902, S.  14–25, bes. 20 f.) ansonsten aber keine in einem rezeptionsgeschichtlich präzisen Sinne an die XV Bundesgenossen und das Bundeskonzept erinnernden Ausführungen. Zur Predigt Haferitz’ vgl. Martin Brecht, Die Predigt des Simon Haferitz zum Fest der heiligen drei Könige 1524 in Allstedt, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd.  1: Reformation, Stuttgart 1995, S.  300–310. Der letzte Verweis Bornkamms betrifft die Pfingstpredigten Müntzers und Haferitz’ aus dem Jahre 1524, wofür er auf Neue Mittheilungen, a.a.O., S.  159; 165; 185; 215 rekurriert. Unter den von Bornkamm angeführten Referenzbelegen vermag ich nur dem Hinweis auf S.  185 eine gewisse Bedeutung beizumessen. In dem Weimarer Verhörprotokoll vom 1.  8. 1524 heißt es: „So haben die geschickten [sc. aus Allstedt] bekannt, als der prediger von dem pundnuss gepredigt, weren bey drey hundert frembder menschen im stettlein gewest, die hetten die gemein doselbst angesucht und begert, das sie sich mit Jne verbinden wolten. Daraufhat die gemein den Radt angesucht und begertt solch bundt zemachen. Darauf hat sich der radt und die gemein mit denselben frembden verpunden also: wo die aus der graffschaft oder die pflege die Jenigen, so dem euangelio anhengig, uberfallen wolten, das sy leib und leben beieinander lassen und zusetzen wolten, aber der obrigkeit wolten sie Zinss und Renten geben und anders thun wie hievor etc.“ S.  185. Die Berichterstattung von den Pfingstpredigten scheint quellenkritischen Rückfragen nicht standzuhalten (vgl. Elliger, a.a.O., S.  425 f.) und durchaus tendenziös zu sein. In Bezug auf das in den Predigten entfaltete Bundesverständnis gehen die Aussagen schwerlich über ansonsten bekannte Ausführungen Müntzers (vgl. bes. Franz, S.  421–423; 434,11–13 = Bräuer/Kobuch, a.a.O., S.  316–322; 337,12 ff.) hinaus. Einen rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang mit den XV Bundesgenossen bestätigen sie nicht. Auch wenn man eine Rückbeziehung Müntzers auf Eberlin „nicht ausschließen“ will (so Peters, s. o.) – für einen direkten Zusammenhang spricht rebus sic stantibus nichts. Die ‚Evidenz‘ des Bundesgedankens im Umfeld der Bauernunruhen war sicher durch Eberlins XV Bundesgenossen gesteigert; in diesen ‚atmosphärischen‘ Zusammenhang gehören auch Müntzer und die Allstedter Ereignisse. 224   Zur Flugschriftenliteratur aus dem Umkreis der Ritterschaftsbewegung vgl. zuletzt die im Ganzen instruktiven Hinweise von Hans-Jürgen Goertz, Adel versus Klerus. Antiklerikale Polemik in Flugschriften des Adels, in: Ders., Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen [Kleine Reihe V&R 1571], Göttingen 1995, S.  45–65; 126–129 [Lit.]. Für die frühreformatorischen Flugschriften der Ritterschaftsbewegung noch immer unersetzt: Karl Schottenloher, Flugschriften zur Ritterschaftsbewegung des Jahres 1523 [RGST 53], Münster 1929. 225   Eine ausführliche Darlegung der nunmehr seit über einem Jahrhundert geführten, aporetischen Diskussion um den Verfasser bietet Bräuer, Bucer, wie Anm.  11; vgl. Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491–1551), Münster 22009, S.  50 f.

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terschaft.226 Freilich ist das chronologische Verhältnis zwischen dem Neu-Karsthans227 und den nacheinander zunächst in Einzeldrucken erschienenen XV Bundesgenossen nicht eindeutig zu entscheiden; die unmittelbare zeitliche Nähe des Erscheinens zumindest des 1. Bundesgenossen und des Neu-Karsthans im April 1521 scheint mir allerdings große Wahrscheinlichkeit zu besitzen.228 Möglicherweise sind die lite226   BDS 1, S.  406, 2–8; 442,26- 444,35. Der Zusammenhang beider Passagen und ihr besonders hinsichtlich der Gewaltfrage deutlich unterschiedener, den Vorstellungen Huttens vom Pfaffenkrieg nahestehender Skopos ist von Herbert Demmer, BDS 1, S.  393, zu Recht herausgestellt worden. Auch Bentzinger nimmt jedenfalls für die dreißig Artikel am Schluss des Neu-Karsthans einen zweiten Verfasser – wie Demmer vermutet er Hutten! – an (Wahrheit, wie Anm.  149, S.  178). Wichtige Argumente zur Sache bietet schon Paul Kalkoff, Ulrich von Hutten und die Reformation. Eine kritische Geschichte seiner wichtigsten Lebenszeit und der Entscheidungsjahre der Reformation (1517–1523) [QFRG 4], Leipzig 1920, S.  537 ff. Die positive Bezugnahme auf Žiska in BDS 1, S.  438,32 ff. scheint mir hingegen nicht zwingend im Sinne eines literarkritisch eindeutig erkennbaren redaktionellen Zusatzes (so Bentzinger, ebd.) zu beurteilen zu sein. Die hier bejahte Gewalt gegen Kirchengebäude und Mönche steht zwar in einer gewissen Spannung zu der beschwichtigenden Haltung, die der Sickingen des Dialogs ansonsten gegenüber der Karsthans-Figur einnimmt (vgl. etwa S.  413,31 f.). Inkohärente Rollenprofile einzelner Figuren sind in reformatorischen Flugschriften allerdings keineswegs selten und kaum durch literarkritische Analysen aufzulösen. Die Žiska-Passage ist jedenfalls mit dem Kontext gut verbunden. Der literarisch eigenständige Charakter insbesondere der 30 Artikel (S.  442,29 ff.), die gewalttätige Übergriffe auf die Geistlichkeit bejahen, ergibt sich aus den neu eingeführten, im Dialog nicht vorbereiteten Figuren „Juncker Helferich“ und „Reytter Heintz“ (S.  442,27). Die Wendungen in der Vorbemerkung an den Leser: „Mit Edlen bin ich worden eins“ und „Und würd mit henden greyffen zu“ (BDS 1, S.  406,4. 6) dürfte auf die 30 Artikel des Bundesschlusses und das militante Programm derselben Bezug nehmen. Selbst wenn man in Hinblick auf den Dialog und die 30 Artikel denselben Verfasser annimmt (vgl. etwa Bräuer, Bucer, wie Anm.  11, S.  107 f.), muss man jedenfalls zwischen beiden Stücken einen gewissen zeitlichen Abstand ansetzen oder die neu eingeführten Personen sonst irgendwie erklären. Ein durchaus analoger Fall liegt in dem der Passio Doctoris Martini Lutheri angefügten Dialog Karsthans-Kegelhans vor, vgl. dazu Schilling, Passio, wie Exkurs, S.  65 ff. 227   Entgegen der bibliographisch unklaren Angaben in BDS 1, S.  401 ist davon auszugehen, dass die beiden bekannten Drucke des Neu-Karsthans in der [Straßburger] Offizin [Matthias Schürers 1521] erschienen, vgl. Benzing, Bibl. Stras., Nr.  250 f.; Muller, Bibl. Stras., Bd.  2, S.  209, Nr.  23; vgl. auch Bentzinger, Wahrheit, wie Anm.  149, S.  178. 228  Die Datierungsversuche der XV Bundesgenossen, die vor allem Lucke und Geiger (s. o. Anm.  151) vorgelegt haben, leiden m. E. methodisch vor allem darunter, dass sie bestimmte inhaltliche Ausführungen in einzelnen der 15 Stücke auf die Biographie Eberlins beziehen und dann entsprechend datieren. Der Charakter der XV Bundesgenossen als anonymer Flugschriftenzyklus wird damit grundsätzlich ignoriert. Für unsere Frage ist überdies nicht entscheidend, wann Eberlin welches Stück schrieb, sondern wann es im Druck erschien (s. o. Anm.  156), und dabei muss selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass die 15 Einzelstücke in der Folge ihrer numerischen Zählung gedruckt wurden. Für den 1. Bundesgenossen dürfte evident sein, dass er im April 1521 – möglicherweise nach dem kaiserlichen Sequestrationsmandat vom 26.3. (vgl. Geiger, a.a.O., S.  182) – erschien, d. h. im Vorfeld des Wormser Reichstages. Dass dieser 1. Bundesgenosse, der werbend beim Kaiser dafür eintritt, auf Hutten und Luther zu setzen, nach dem Wormser Reichstag in der uns bekannten Form gedruckt sein könnte, halte ich für ganz unwahrscheinlich. Genau dies aber muss Peters voraussetzen, wenn er die Entstehung der „Gesamtkonzeption“ (Eberlin, wie Anm.  151, S.  46 f.) auf Juli 1521 ansetzt. Denn dann erst kann ja der 1. Bundesgenosse im Druck erschienen sein, da dieser schon voraussetzt, dass es 15 sind (Enders, Eberlin, Bd.  1 S.  2, Peters, S.  340, Nr.  1). Die Vorstellung, der Zyklus sei mit einer Flugschrift eröffnet worden, die das Thema der Zeit, nämlich das dann seit ca. zwei Monaten bekannte Wormser Edikt und den damit eingetretenen Stand der

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rarisch sekundären Bezugnahmen auf den Bundesschluss in der Vorbemerkung an den Leser und in den 30 Artikeln am Schluss des Neu-Karsthans als rezeptionsgeschichtliche Aktualisierung und soziale Konkretisierung der schon im 1. Bundesgenossen vorausgesetzten Bundeskonzeption zu verstehen. Freilich weist, setzt man diese rezeptionsgeschichtliche Hypothese einmal voraus229, die kämpferisch-‚antiklerikale‘230 Programmatik der Schwurgemeinschaft von „Juncker Helferich, Reyter

causa Lutheri ignoriert hätte, leuchtet mir in Bezug auf den versierten Publizisten und Drucker Gengenbach nicht ein. Am Einfachsten scheint es mir, mit einem seit April 1521 – vielleicht in einem ein bis zwei Wochen-Rhythmus – fortlaufenden Erscheinen zu rechnen; als terminus post quem non gilt der 27.  9. 1521, als Cochläus den Zyklus der Einzeldrucke – oder bereits die erste Sammelausgabe – kannte, vgl. Friedensburg, Beiträge, wie Anm.  67, S.  125; Lucke, a.a.O., S.  30; Geiger, a.a.O., S.  182; Peters, a.a.O., S.  41 mit Anm.  58; vgl. auch Kalkoff, Hutten, wie Anm.  226, S.  541 f. Auch die Datierung des Neu-Karsthans ist umstritten. Die einschlägigen Argumente sind von Demmer (BDS 1, S.  385–387), Bentzinger, Wahrheit, wie Anm.  149, S.  176, und Bräuer, Bucer, wie Anm.  11, S.  108, aufgeführt und diskutiert worden, vgl. auch noch Martin Greschat, Martin Bucer und Ulrich von Hutten, in: Marijn de Kroon/Marc Lienhard (Hg.), Horizon Europeen de la Réforme en Alsace. Festschrift Jean Rott, Straßburg 1980, S.  178–193, bes. 187; 192 Anm.  66, der „eindeutig“ für Juli 1521 votiert; ansonsten neigt die Forschung – wie mir scheint zu Recht – der ersten Aprilhälfte als Abfassungsdatum des Neu-Karsthans zu. Auch im Falle des NeuKarsthans jedenfalls fällt es schwer, die schon von Skepsis nicht freie Hoffnung auf Karl V. (vgl. BDS 1, S.  417,3 ff.) nach dem Wormser Edikt für möglich zu halten. Der 1. Bundesgenosse und der NeuKarsthans dürften also hinsichtlich ihrer Erscheinungsdaten mit einer großen Wahrscheinlichkeit in einer zeitlichen Nähe zueinander stehen, so auch Josef Schmidt, Lestern, Lesen und Lesen hören. Kommunikationsstudien zur deutschen Prosasatire der Reformationszeit [EHS.DS 179], Bern, Frankfurt/Main, 1977, S.  170 f. mit Anm.  73. 229   Prinzipiell ist nicht auszuschließen, dass dem Neu-Karsthans gegenüber dem 1. Bundesgenossen die Priorität zukommt. Allerdings erscheint es mir schwerer vorstellbar, dass ein mit sehr konkreten ‚antiklerikal‘-programmatischen Inhalten ausgefülltes Bundeskonzept, wie es die 30 Artikel bieten, sekundär in ein allgemeines Schutzbündnis zugunsten des Evangeliums ‚zurückgenommen‘ wurde, wie es in den XV Bundesgenossen vorgesehen ist. Eher ist damit zu rechnen, dass die inhaltlich wie in Bezug auf die sozialen Träger des Bundes offene Konzeption der XV Bundesgenossen den Anlass dafür bot, sie auf die vom Verfasser des Neu-Karsthans projektierte Verbindung von Bauerntum und Ritterschaft hin zu aktualisieren. 230   Ich begegne dem Begriff ‚Antiklerikalismus‘ in seiner vielfach üblich gewordenen Schlagworthaftigkeit mit einer gewissen Zurückhaltung, vgl. ausführlicher dazu meine Rezension zu dem von Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman hg. Sammelband: Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe [SMRT 51], Leiden u. a. 1993, in: GGA 247,1994, S.  112–130; ähnlich: Klaus Schreiner, in: ZHF 21, 1994, S.  513–521. In ihrer Kritik an der Geistlichkeit unterscheiden sich der Dialog und die 30 Artikel m. E. insofern grundlegend, als die Geistlichkeit im Dialog an ihrem idealtypisch-apostolischen amtstheologischen Selbstbild gemessen wird, das als Orientierungsmaßstab ihres realen Verhaltens eingefordert wird, vgl. nur BDS 1, S.  409,21 ff., während die 30 Artikel von einer tiefgreifenden Verachtung gegenüber der Geistlichkeit als ganzer und ihrer Amtstätigkeit geprägt sind und auf deren Vernichtung, nicht deren Reformierung, abzielen, vgl. S.  442,29 ff.; 443,10 ff.; 443,23 ff.; 443,29 f.; 444,3 ff.; 444,19 ff. Bestenfalls in Art.  21 deutet sich dezent das positive Leitbild eines evangelischen Geistlichen an: „[.  .  .] das sie keinen pfarrer bey in leyden wöllen, er sey dann genugsam, das evangelium und christlich gesatz zu predigen und darneben eins erbarn frummen lebens.“ BDS 1, S.  444,6–8. In Bezug auf die dreißig Artikel – nicht auf den Neu-Karsthans im Ganzen, wie Goertz es tut (Adel, wie Anm.  224), – halte ich die Bezeichnung ‚antiklerikal‘ für zutreffend.

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Heintz und Karsthans mitsampt irem anhang“231 über den offenen Rahmen des ano­ nymen Laienbundes des Eberlinschen Flugschriftenzyklus hinaus. Der am Schluss des Neu-Karsthans durch die Schwurartikel dokumentierte und durch die Namen der Bundespartner gleichsam authentifizierte Bundesschluss suggeriert tathafte Entschiedenheit und überbietet darin das Wollen der 15 Ungenannten deutlich. Ihr Bund dient nicht mehr allein der Artikulation von Missbräuchen und der Bezeugung der Wahrheit; er stellt eine Kriegserklärung an die Feinde Luthers im Namen des wahren Glaubens dar.232 In seiner spezifischen Zuspitzung unterscheidet sich der fingierte Bundesschluss am Ende des Neu-Karsthans von der wohl religiös-theologisch durch die frühreformatorische Bewegung beeinflussten, freilich an die Tradition vorreformatorischer Rittergesellschaften anknüpfenden „brüderlichen Vereinigung“ der oberrheinischen und fränkischen Ritterschaft von Landau im August 1522 unter der Führung Sickingens233, die gerade – ungeachtet der Popularität einzelner Ritter wie Hutten, Sickingen oder Götz von Berlichingen – kein Ständegrenzen überschreitendes ‚gemeinchristliches‘, sondern ein nach Ablauf von sechs Jahren jeweils zu erneuerndes ständisches Verbündnis sein wollte.234 Sofern man mit einer Einwirkung der ja intensiv auf den Adel bezogenen XV Bundesgenossen auf die brüderliche Vereinigung rechnen will, dürfte auch diese kaum über das Atmosphärische hinausgehen, jedenfalls dann nicht, wenn man nach dem kodifizierten Selbstverständnis dieses Bundes von Landau in Gestalt der veröffentlichten Bundesartikel urteilt. 5.2  Ein anonymer Augsburger Flugschriftenzyklus von 1521 Eine dem wirklichen Denken und Wollen Huttens und Sickingens und ihrem Ideal einer gesamtgesellschaftlich-nationalen Koalition gegen Rom unter Führung der 231   BDS 1, S.  442,27 f.; zu Bundesvorstellungen im Anhang des Murnarus Leviathan vgl. Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  2, S.  191,49 ff. 232   BDS 1, S.  444,26 f. Neben der „göttlichen Wahrheit“ und dem „Glauben“ ist „des gemeynen vatterlands wolfarn“ das maßgebliche Antriebsmotiv. Zum nationalhumanistischen Vorstellungszusammenhang im Umkreis Huttens vgl. Helmar Junghans, Der nationale Humanismus bei Ulrich von Hutten und Martin Luther, in: Ebernburg-Hefte 22, 1988, S.  37–60; instruktiv auch: Wolfgang Hardtwig, Ulrich von Hutten. Zum Verhältnis von Individuum, Stand und Nation in der Reformationszeit, in: Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S.  15–33; 274–277. Vgl. auch den Beitrag von Martin Treu, Hutten, Melanchthon und der nationale Humanismus, in: Michael Beyer/Günther Wartenberg/Hans-Peter Hasse (Hg.), Humanismus und Wittenberger Reformation, Leipzig 1996, S.  353–366, bes. 363 ff.; Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2006, S.  383 ff. 233   Vgl. nur die von Volker Press gegebenen Hinweise in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellungskatalog zum 500. Geburtstag Luthers, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Frankfurt/M. 1983, S.  205 f., Nr.  261. 234   Schottenloher, Flugschriften, wie Anm.  224, S.  2 f.; sowie 30–37 die Ed. der brüderlichen Vereinigung. Zur Ritterschaftsbewegung im Ganzen vgl. die knappen und präzisen Hinweise in: Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S.  282 ff.; 684 f. [Lit.]; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  22, S.  483 ff.

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Ritterschaft vielleicht näherkommende, wohl auch in einen rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang mit den XV Bundesgenossen zu verortende Vorstellungswelt tritt uns in einem wahrscheinlich 1521 in Augsburg gedruckten, vier Einzelschriften umfassenden anonymen Flugschriftenzyklus entgegen.235 235

  Auf diese vier untereinander verbundenen Schriften hat Schottenloher, Flugschriften, wie Anm.  224, S.  6 –9, hingewiesen. Es handelt sich um die Schriften: 1.  Ain schenes und // nutzliches büchlin von // dem Christlichen // glauben. Emil Weller, Repertorium typographicum. Die deutsche Literatur im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts, Nördlingen 1864, Nr.  1996; Köhler Bibl., Bd.  3, Nr.  4117, S.  426 f.; VD 16 S 3681; Ex. MF 69 Nr.  180; im Faksimile ed. von Otto Clemen (Hg.), Flugschriften aus der Reformationszeit in Faksimiledrucken, Bd.  1, Leipzig 1921/2; 2.  Wer hören wil wer die gantzen welt arm gemacht / der mag lesen dises biechlein. Weller Nr.  1799; ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  731–741; Ex. MF 221 Nr.  619; VD 16 W 1960–1962; 3.  Das biechlin zaiget an wer der // lebendig martrer sey auff erdtrich // unn // betrifft den Christenlichen // glauben: //; im Faksimile ed. in: Clemen, ebd.; Weller Nr.  1997; 4.  Das biechlin hat gemacht der nar der gut lutherisch ist; ed. in: Laube, a.a.O., S.  742–747; Ex. MF Bibl. Pal. E 1671; Abb.  9. Zur Chronologie und zur Zuschreibung der vier Drucke an die [Augsburger] Offizin [Erhard Oeglin Erben 1521] vgl. Helmut Claus, in Laube, a.a.O., S.  739 f.; 746. Von 2. sind insgesamt drei, von 4. sind insgesamt fünf Einzelausgaben nachgewiesen, ebd. Auf 1. geht knapp ein: Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, S.  238–240, auf 1. und 2.: Miriam U. Chrisman, The Reformation of the Laity, in: Hans R. Guggisberg/Gottfried Krodel (Hg.), Die Reformation in Deutschland und Europa [ARG Sonderband], Gütersloh 1993, S.  627–646, 635 f. Hohenberger und Chrisman neigen der von Schottenloher vorgeschlagenen Einordnung der Flugschriften in den Kontext der Ritterschaftsbewegung zu, diskutieren aber die Frage, ob die Adelsbezüge möglicherweise eine gezielte literarische Stilisierung darstellen, nicht. Die vier Schriften werden im Folgenden nach arabischen Ziffern zitiert. Ob das Versgedicht Fryhans, das in einem Nachdruck des Karsthans-Dialogs (Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  119 f.; Druck F, S.  55; vgl. Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1976, S.  216) angeführt ist, als Quelle für die reformationsgeschichtliche Situation in Augsburg im Frühjahr 1521 aussagekräftig ist, wie Jørgensen meint (Bauer, wie Anm.  127, S.  49 ff.), scheint mir aufgrund der druckgeschichtlichen Zuweisung an die Offizin [Adam Petri, Basel 1521] sehr zweifelhaft. Die Dialogflugschrift Ain schöner dialogus Cuntz und Fritz (ed. in: Schade, Satiren, wie Anm.  2, Bd.  2, S.  119 ff.; 319 ff.; vgl. die instruktive Teiledition in: Heiko A. Oberman, Die Kirche im Zeitalter der Reformation [KTGQ 3], Neukirchen 31988, Nr.  35, S.  68–70) gehört hingegen nach Augsburg und dürfte (vgl. Schade, a.a.O., S.  324) in das Frühjahr oder den Sommer 1521 zu datieren sein. Terminus post quem des Dialogus Cuntz und Fritz ist das Erscheinen von Oekolampads Quod non sit onerosa christianis confessio (VD 16 O 390; vgl. die Hinweise in MBW.T 1, S.  288 zu Z.  25), also ca. Ende April 1521 (gegen Schade, a.a.O., S.  324; vgl. 125,5 f.; terminus ante quem ist möglicherweise das Wormser Edikt, vgl. S.  125,34 f.). Zu den Drucken des Dialogus vgl. VD 16 R 1882–1888 (vier Augsburger, zwei Straßburger, ein Bamberger Druck); s. auch WA 6, S.  644, und zum Namensmotiv Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  644, S.  279 (Erfurter Herkunft [s. oben Anm.  149]); zur Verfasserfrage vgl. die gegenüber der Zuweisung an Urbanus Rhegius (so Götze und Clemen) skeptischen Hinweise Maximilian Liebmanns, Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation. Beiträge zu seinem Leben, seiner Lehre und seinem Wirken bis zum Augsburger Reichstag von 1530 [RGST 117], Münster 1980, S.  331–333; zu dem Dialog vgl. auch Jørgensen, Bauer, wie Anm.  127, S.  51 ff. In der Beurteilung des Augsburger Bischofs Christoph von Stadion (Schade, a.a.O., S.  122,3 ff. = Oberman, a.a.O., S.  68 f. mit Anm.  6) konvergiert der Dialog mit dem anonymen Flugschriftenzyklus, vgl. etwa 3: Laube, a.a.O., S.  738,10. In Bezug auf Oekolampad besitzt der Dia­ log Detailkenntnisse, vgl. Schade, a.a.O., S.  123,20 ff. Die Furcht vor dem Bekanntwerden (vgl. ebd., S.  121,21; 127,4 f.) spielt – ähnlich wie im Zyklus – eine Rolle. Auch der Aspekt heimlicher Parteigängerschaft mit Luther unter den Geistlichen bzw. Mönchen (ebd., S.  123,5 ff.) ist als motivgeschicht-

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Abb.  9  Das biechlin hat gemacht der nar der gut lutherisch ist .  .  . [Augsburg, Erhard Oeglin Erben 1521]; Ex. MF Bibl. Pal. E 1671, Titelblatt. Das Titelblatt zeigt einen lesenden Gelehrten auf einem Lehr- oder Schreibpult in einer geschlossenen Stube, die sich im Hintergrund durch zwei Fenster in die Landschaft öffnet. In seiner linken Hand hält er einen Zeigestock, der um ein Staub- bzw. Fliegenwedel verlängert zu sein scheint – ein pejorativ konnotiertes Requisit, vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  1031, 37 f. Hinter seinem Kopf ist eine Narrenkappe mit Schelle erkennbar. Im Vordergrund streckt sich ein Hund behaglich vor einem Tisch.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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Die vier Flugschriften sind untereinander nicht nur durch bestimmte literarische Eigentümlichkeiten, sondern auch durch wechselseitige Verweise verbunden. Die erste Schrift bezieht sich auf die „nechsten büchlein die hernach werden gemacht“236, die zweite Flugschrift ist schon auf dem Titelblatt als „das ander biechlein / das von dem Adel außgeet“237 gekennzeichnet und nimmt damit die für die erste Schrift zentrale Adelsthematik und die dort ausgeführten Überlegungen, die Schrift einem ungenannten „Grafen“, einer Hauptperson der beiden ersten Schriften, zuzuschreiben, auf.238 Die zweite Flugschrift kündigt ein „nächste[s] biechlein“239 an und die dritte bezeichnet sich selbst als „das drit büchlin das von dem adel außgat“.240 In der mutmaßlich letzten der vier Schriften fehlen Hinweise auf die vorangegangenen oder auf nachfolgende „büchlin“; ob sie ursprünglich als Einzelschrift konzipiert war, ist zweifelhaft.241 Möglicherweise weist aber auch gerade der unvermittelte Rückbezug auf die Narrenrede in der vorangegangenen Schrift am Anfang darauf hin, dass der liche Ähnlichkeit anzusprechen; vgl. zu diesem Motiv auch den im Augsburger Kontext zu interpretierenden Blindenspiegel, Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  145, 19 ff. Dass der anonyme Verfasser des Dialogs mit dem Verfasser des Zyklus (beide dürften Geistliche sein!) identisch ist, bzw. dasselbe Milieu im Hintergrund steht, ist nicht auszuschließen, vielleicht sogar wahrscheinlich. Allerdings dürfte der Dialog Cuntz und Fritz früher zu datieren sein. Der von Liebmann aufgrund eines Augs­ burger Handschriftenfundes ermittelte ursprüngliche Titel des Dialogs (Liebmann, a.a.O., S.  332, mit Faksimile zwischen S.  332 und 333) lässt die Dialogpartner als Narrenfiguren (s. auch Jørgensen, a.a.O., S.  52 f.) durchsichtig werden, womit eine weitere Motivverbindung zu dem Zyklus gegeben ist. Das Bauernmilieu ist freilich zugunsten eines ‚stadtnahen‘ Adels- und Priestermilieus aufgegeben. 236   „[.  .  .] wie grossen fleiß solten wir daran kören / darmit das wir alle in sein reich komen wann er hatt uns alle dartzu beschaffen / aber ich hör niemants begere darein als ir dann yetz werden hören nachfolgende in den nechsten büchlein die hernach werden gemacht.“ 1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1r, 22–26. 237  2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  739. 238   Am Schluss der ersten Flugschrift heißt es: „Herr [sc. der Graf] wem sollen wir das büchlin zuschreiben [?] Der Graf sprach / mir. Sy [d. h. der Domherr und die drei Priester] antwurten all und sprachen / wir wöllen das nit haben / wir wöllen kainen namen darein setzen wer waißt wie es gat wann got vermag alle ding. Amen“. 1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1v, 25–28. 239  2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  738,20. 38. Die Ankündigung enthält bereits inhaltliche Hinweise, die sowohl auf 3 als auch auf 4 zutreffen: Es soll um die materielle Bereicherung des Klerus gehen und darum, dass nicht die Kaufmannschaft, sondern die Geistlichkeit die maßgebliche Verantwortung für die globale, alle weltlichen Stände erfassende Krisensituation trage. Der Hinweis, diese Schrift werde darüber aufklären, „wer die Kauffleüt seyen“ (Laube, a.a.O., S.  738,43), ist auf dem Titelblatt der vierten Schrift (ebd., S.  746) aufgenommen. Der Schlusspassus von 2 (a.a.O., S.  738,35–739,26) ist im Urdruck (Ex. MF 221 Nr.  620) druckgraphisch stark abgesetzt: 738,34 wirkt wie ein Abschluss. Die Schlusspassage könnte eine redaktionelle Anfügung sein. 240  3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, A 4v, 34. 241   Dies könnte sowohl aus dem oben Anm.  239 berührten Sachverhalt als auch daraus zu folgern sein, dass der Anfang dieser Schrift mit einer Rückfrage des Domherrn und der drei Priester an den Narren eröffnet wird: „Der thumherr und die drey priester fragen den narren, lieber, bist du ain narr und retst solche wort [.  .  .].“ Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  742,3 f. Diese Rückfrage kann sich eigentlich nur auf die in der dritten Schrift entfaltete Anrede beziehen. Für die literarische Selbständigkeit auch der vierten Schrift spricht allerdings, dass die dritte eine eigene Schlussbemerkung (Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, B 1rf) aufweist.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

anonyme Autor oder sein Drucker242 bereits eine fest etablierte Beziehung zu einem lokalen Augsburger Lesepublikum voraussetzen konnte. Der Flugschriftenzyklus dürfte in die Sommermonate 1521 zu datieren sein. Die erste Schrift setzt voraus, dass Luther nach seinem Abtreten von der öffentlichen Bühne im Gefolge des Wormser Reichstages keine „frucht“ mehr bringen könne243 ; die etwa auch von Urbanus Rhegius bezeugte244 Absicht des Anonymus, an Luthers Stelle publizistisch in die Bresche zu springen, dürfte darauf hindeuten, dass von Luthers Verbleib nichts bekannt und seine durch die ‚Schutzhaft‘ auf der Wartburg erzwungene Publikationspause noch nicht beendet war.245 Auch die Bezugnahmen auf die Erfurter Studentenunruhen vom 10. bis 12. Juni246 und der in der dritten 242   Die vier nicht-firmierten Drucke weisen allesamt Ausstattungsmerkmale der Offizin Erhard Oeglins auf, der „wahrscheinlich noch 1520 gestorben“ (Claus, in: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  740) ist. Möglicherweise – so Claus, ebd. – repräsentieren die vier anonymen Flugschriften den Anfang der Drucktätigkeit Philipp Ulharts d.Ä. Allerdings scheinen Oeglins Witwe Barbara und Erben noch bis 1522 gedruckt zu haben; Ulhart übernahm das Druck- und Typenmaterial erst 1523, vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker der 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51], Wiesbaden 2007, S.  31; vgl. 36. Siehe im Ganzen auch: Karl Schottenloher, Philipp Ulhart. Ein Augsburger Winkeldrucker und Helfershelfer der „Schwärmer“ und „Wiedertäufer“ (1523–1529) [Historische Forschungen und Quellen 4], München/Freising 1921, ND Nieuwkoop 1967. Zu allen Augsburger Drucke betreffenden Sachverhalten vgl. v. a.: Künast, Augsburg, wie Anm.  149. 243   „Es grünet ein bom unn pracht gut frucht, der hieß Martin Luther / der selbig bom getar yetz nymer frucht tragen got erbarms / aber ich waiß dz wir von nichten wegen auf erdrich beschaffen seind dann das wir gute werck thun söllen [.  .  .].“ 1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2r, 28–32. 244  Vgl. Friedrich Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte 1517–1530 Bd.  1, München 21901, ND 1974, S.  67; Hellmut Zschoch, Reformatorische Existenz und konfessionelle Identität. Urbanus Rhegius als evangelischer Theologe in den Jahren 1520 bis 1530 [BHTh 88], Tübingen 1995, S.  33, Anm.  181. In einer stilisierten Schlussrede legt Simon Hessus alias Urbanus Rhegius Luther Ende Mai 1521 in den Mund: „Proinde me [sc. Luther] occiso aut mortuo innumeri erunt alii qui non minori animo vestigiis meis insistentes sacras litteras libertatemque christianam sunt defensuri humanasque traditiones et Romanam tyrannidem fortissime ab humeris excussuri.“ Zit. nach Zschoch, ebd. Weitere Hinweise auf ähnliche Äußerungen in Flugschriften im Vorfeld des Wormser Reichstages bei Hohenberger, Rechtfertigungslehre, wie Anm.  15, S.  199 f. 245   Luthers erste auf der Wartburg abgefasste Schrift, seine Widerlegung des Löwener Theologen Latomus (vgl. Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2, Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S.  16 ff.; LuStA 2, S.  405 ff.; WA 8, S.  36–128), scheint nicht vor Mitte September im Druck erschienen zu sein, vgl. MBW.T 1, S.  355,23–25. Clemens Deutung der Stelle 1: Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 4v, 15: („mein rat das ir schickt nach disem man“) auf Luther, woraus folge, dass der Anonymus wisse, dass man „nach ihm schicken“ (S.  2) könne, ist m. E. unzutreffend. Der „man“, von dem hier die Rede ist, wird schon A 4r, 10 ff. eingeführt und ist der dann in der Rolle des Narren auftretende, ungenannte Ratgeber, der zugleich als anonymer Autor der dritten und vierten Schrift firmiert, s. u. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass der „man“ nicht mit dem historischen Luther, sondern mit der literarisch gewählten ‚Luthermaske‘ des Anonymus zu identifizieren ist. 246  Vgl. Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, S.  1; 1: B 1v, 5 f.; 2: b 1r, 22 ff.; zu den Pfaffenstürmen im Kontext der Erfurter Reformation vgl.: Bob Scribner, Die Eigentümlichkeit der Erfurter Reformation, in: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S.  241–254; s. auch oben II, §  7, Abschnitt 7. Zu einem Augsburger Gedichtdruck über das Erfurter Pfaffenstürmen s. oben II, §  7, Anm.  20

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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Schrift gegebene Hinweis auf die „yetzund“247 grassierende Pest verweisen, auch unter der Voraussetzung einer Augsburger Herkunft der Schrift, auf den Sommer. Als sicherer terminus post quem non der dritten und wohl auch der kurz nach dieser erschienenen vierten Flugschrift des Zyklus dürfte die am 14. September erfolgte Bekanntmachung des Wormser Edikts in Augsburg anzugeben sein.248 Er erschien also kurz vor dem Abgang des seit Frühjahr 1521 wichtigsten Exponenten der reformatorischen Bewegung in der Reichsstadt, dem seine Stellung als Augsburger Domprediger im September 1521 quittierenden Urbanus Rhegius.249 Dem Verweis auf noch folgende Schriften bereits im ersten „büchlin“ kann man entnehmen, dass die Absicht einer anonymen Serie schon zu Beginn feststand. Literarische und inhaltliche Parallelen lassen vielleicht an eine Beeinflussung durch die XV Bundesgenossen denken. Daran zu zweifeln, dass der Ort der Urdrucke, nämlich Augsburg, auch der Entstehungsort der Schriften gewesen ist, besteht kein Anlass. Die Aussage des Domherrn in der dritten Schrift, „mir haben ein frummen bischof, er hat kain schuld an disen dingen wann das capitel macht wie es will“250, dürfte sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die auch über ein Jahr später noch im Pfaffentrost der XV Bundesgenossen proklamierte251, reformfreudig-tolerante, erst im Spätjahr 1522 korrigierte 247  3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, a 3v, 11 f. Ein Ausbruch der Pest ist „um Jacobi“ 1521 (wohl 25.7., vgl. dazu Clemen, S.  1) in Augsburg gesichert, vgl. Wilhelm Rem, Cronica neuer Geschichten, Leipzig 1896, S.  162 f. Aufgrund der Bezugnahme auf die Erfurter Studentenunruhen in der ersten Schrift ergibt sich, dass der terminus ante quem non der ersten Schrift Ende Juni gewesen ist; als ungefährer Zeitpunkt des Erscheinens der dritten Schrift dürfte Ende Juli/August anzusetzen sein. 248   3: „Nembt also für gut ir kinder gotes alle / wir habens eylends gemacht / wann wir hetten nit vil zeit / man saget uns die reichstet wölten die ächt anschlagen dz niemants nichts mer schreiben sölt / das bringt der bapst zuwegen mit dem gelt das er auß unserm land geschetzt hat / hetten wirs behalten / so hetten wir yetzunt dem kayser auch dienen künden und hetten uns nit fürchten dürffen / das uns der kayser von des bapsts wegen het in ban acht gethon / das macht alles das wir unsern pfaffen souil gelts geben unn dem stul zu Rom [.  .  .].“ Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, b 1v, 3–11. Am 16.  8. 1521 wurde das Wormser Edikt dem Augsburger Rat zugestellt, am 14.9. wurde es auf dem Marktplatz angeschlagen und verlesen, vgl. Roth, Reformationsgeschichte, wie Anm.  244, Bd.  1, S.  66; die verglichen mit anderen süddeutschen Städten relativ frühzeitige Bekanntmachung des Wormser Edikts dürfte mit der Tätigkeit des Augsburger Bürgermeisters, Hauptmannes des Schwäbischen Bundes und Vertreters der habsburgisch-kaiserlichen Politik, Ulrich Arzt (vgl. Roth, a.a.O., bes. S.  87 f.; Martin Brecht, Das Wormser Edikt in Süddeutschland, in: Fritz Reuter [Hg.], Der Reichstag zu Worms von 1521, Köln 21981, S.  475–489, bes. 476) zusammenhängen. 249  Vgl. Zschoch, Existenz, wie Anm.  244, S.  15 ff.; Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  83; Roth, Reformationsgeschichte, wie Anm.  244, Bd.  1, S.  70–72; Liebmann, Rhegius, wie Anm.  235. Weder äußere noch innere Gründe sprechen gegen eine Zuweisung des Zyklus an Urbanus Rhegius als Verfasser. Die sich in den vier Flugschriften spiegelnden Konflikte dürften seiner eigenen Situation in besonderer Weise entsprechen. 250   Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  738,10 f. 251   [Eberlin] führt den Augsburger Bischof als Beispiel für viele Bischöfe an, die „dem Euangelio gneygt [sind] im hertzen, dürffen aber nit bekennen offendich von forcht wegen [.  .  .].“ Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  91. „Auch gedulden sye Euangelische männer, als der wirdig herr und bischoff zu Augsburg lydet zu augspurg den christlichen doctor Herr Johann Spyser und edlen beyd brüder Adelmanner, das sye leren und lesen heylsame geschrifft [.  .  .]. [.  .  .] Der bischof von Augspurg hat

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Religionspolitik des Augsburger Bischofs Christoph von Stadion beziehen. Im Hintergrund der Ausführungen über das Domkapitel könnten die Konflikte stehen, in die Urbanus Rhegius infolge einer am 30. Mai 1521 gehaltenen Fronleichnamspredigt und seiner dann auch gedruckt verbreiteten Kritik am Ablasswesen seitens der Domherren geraten war.252 Der Flugschriftenzyklus fügt sich nahtlos in die von starken reichspolitischen Verunsicherungen und ersten wirksamen Repressionen des Domkapitels geprägte, instabile, ja bedrängte Gesamtsituation der reformatorischen Bewegung in Augsburg im Frühsommer 1521 ein. Die freilich in charakteristischer Weise literarisch offensiv gewendete Furcht davor, entdeckt zu werden, bildet den konkreten Hintergrund dafür, dass die Schriften anonym erschienen. In literarischer Hinsicht handelt es sich bei den vier Flugschriften um Prosadialoge. Bei der ersten Schrift sind fünf namentlich nicht benannte Personen – ein Domherr, drei Priester und ein Graf – an einem Gespräch über den christlichen Glauben beteiligt. Um einen Eindruck von dem Zyklus und seiner spezifischen Anwendung der Anonymität zu vermitteln, ist eine eingehendere Textparaphrase der Eröffnungsschrift sinnvoll: Der adlige Laie in der Runde wendet sich an die Geistlichen mit der Frage „was der christlich gelaub wer“253. Die Priester, die nur kollektiv antworten, verweisen den Grafen auf die Kirche: „gond ir denn nit in die kichen und hörent was der glaub ist [?]“254. Aber der Verweis auf die fides implicita genügt dem mündig werdenden Laien nicht: „ich kan aber nit hören das man mich den rechtenn glaube lere / man leret mich / ich sol glauben was die christlich Kirch glaubt / ich hör aber nit was sy gelaubt / wie kan ich dann wissen was ich glauben sol.“255 Nun zieht er den Domherrn ins Gespräch, der seine bedrückende nikodemitische Situation eines inneren Konfliktes offenlegt: „herr ich waiß schier nit was man sagen oder glauben sol / dann wer die warhait sagt der wirt verfolgt unn vertriben / den ir hören wol das

gesagt, im sey wie jm wöll, so seind die lutheranischen minder strafflich in irem wandel, dann die anderen parthey, welcher vil sind schlemmer, hurer ec.“ Enders, Eberlin, Bd.  2, S.  92; vgl. Roth, Reformationsgeschichte, wie Anm.  244, Bd.  1, S.  119 ff.; Peters, Eberlin, wie Anm.  151, S.  81 ff.; Hermann Arthur Lier, Der Augsburger Humanistenkreis mit besonderer Berücksichtigung Bernhard Adelmann’s von Adelmannsfelden, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 7, 1880, S.  68–108; bes. 99 ff.; zur im Frühjahr 1521 zunächst keineswegs eindeutig ‚antireformatorischen‘ Haltung des Augsburger Domkapitels etwa gegenüber Rhegius instruktiv: Zschoch, Existenz, wie Anm.  244, S.  15; Liebmann, Rhegius, wie Anm.  235, S.  141 ff.; eine völlig unterschiedliche Gesamtbeurteilung des deutschen Episkopats findet sich im Neu-Karsthans, vgl. BDS 1, S.  430,1 ff.; 433,24 f. 252  Vgl. Zschoch, Existenz, wie Anm.  244, S.  15 ff.; Liebmann, Rhegius, wie Anm.  235, S.  142 ff.; zur Situation des Augsburger Domkapitels im Gefolge der Bannandrohung gegen Bernhard Adelmann in Exsurge Domine instruktiv: Thurnhofer, Adelmann, wie Anm.  38, S.  70 ff.; Lier, Humanistenkreis, wie Anm.  251. Die Hoffnung auf die adligen Domherren als Agenten der lutherischen Reformation hat der Verfasser keineswegs aufgegeben, 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, b 1r, 14 ff.; s. u. 253  1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2r, 3. 254   A.a.O., Z.  10 f. 255   A.a.O., Z.  12–15; vgl. 2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  732,7 ff.

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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kain gelerter von dem glauben darff reden [.  .  .].“256 Er selbst zählt sich unter die bösen Bäume, die keine Frucht bringen und ihrer Strafe im Jüngsten Gericht gewärtig sein müssen.257 Nun geht der Domherr zu einem leidenschaftlichen Appell an seinen adligen Verwandten258 über und ermahnt ihn, alle als treuer Hirte in seinem Land lebenden Menschen in der rechten Lehre zu unterweisen, ja wie der gute Hirte des Evangeliums (Joh 10) sein „sel für sy [zu] setzen“.259 Der Graf versucht, sich dieser ihm gestellten Aufgabe mit dem Hinweis darauf zu entziehen, dass er „kain gaystlich man“ sei260 und dass es in seinem Lande genug wohlbezahlte Priester gäbe. Ebenso wie der Domherr, obschon er nicht mit der cura animarum betraut sei, für sich erkannte, dass er im Jüngsten Gericht als „priester“ behaftet würde261, schärft er dem Grafen seine Pflicht ein: „darum sprich ich es thet not das ir selbs dartzu gehent unn eüwere schaff weydeten / wan ich hon darfür wir werden am jüngsten gericht alle ston als hirten und lerer / wann so wir alle kinder gotes seind so müssen wir auch alle lerer sein [.  .  .]“.262 Nun dankt der Graf dem Domherrn für seine Unterweisung im Glauben263, bekennt, bisher ein schlechter Hirte seines Volkes gewesen zu sein – „wann ich hab umb meine hund mer sorg dann umb mein volck wie es selig werd“264 – und bittet den Domherrn um Rat, wie er seine Schäfchen weiden solle. Der Domherr möchte diese Aufgabe aber nicht übernehmen und verweist auf die drei Priester, die den Grafen „underweisen“ könnten265 ; er selbst bringe sich sonst nämlich in Gefahr und könnte seine Pfründe verlieren.266 Der Graf äußert Zweifel an der Kompetenz seiner drei Priester und sichert dem Domherrn Unterhalt und Schutz zu267, der Domherr repliziert mit einem langen Monolog über die verwerfliche Herrschaft der Geistlichkeit über den Adel, äußert die dunkle Vermutung, „ee fünfftzig jar vergond so soll aller Adel den gaistlichen underthenig sein“268 und verspricht, dem Grafen 256

  A.a.O., Z.  19–22.   A.a.O., Z.  25 ff. 258   Der Domherr redet den Grafen durchgängig mit „Vetter“ an, 1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2v, 1. 17. 18. 35; A 3v, 23; A 4r, 34; vgl. auch Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  740. Auch umgekehrt nennt der Graf den Domherrn „Vetter“, 1: Clemen, a.a.O., A 3r, 2. 21; A 4r, 6 f.; A 4v, 15 f.; Laube, a.a.O., S.  731,4; passim. Der Domherr ist selber eine Adelsperson, 1: Clemen, a.a.O., A 3v, 12 f. Beträchtliche interpretatorische Schwierigkeiten bereitet ein Passus in 2: Laube, a.a.O., S.  738,10 ff., wo eine Rede des Domherrn unvermittelt in die des Grafen (Z.  25) übergeht und er Aussagen, die auf den adligen Laien zutreffen, im Munde führt. 259  1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2v, 6. 260   A 2v, 10. 261   A 2r, 34 f. 262   A 2v, 21–24. 263   A 3r, 2 ff. 264   A 3r, 9 f. 265   A 3r, 20 f. 266   „Der tumher sprach zu dem grafen / mein lieber vetter unn herr / ich bit euch dz ir mich überhebt diser sach / wann ich beschayd eüch der ding nit dann ir wissent wol es stat mir grosse geferlichait darauf / ich möcht umb meine lehen dardurch komen [.  .  .]“. 1: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 3r, 13–16. 267   A 3r, 21 ff.; A 4r, 6 ff. 268   A 4r, 3 f. 257

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§  10  Publizistische Mobilisierung

einen Mann zu nennen, „der eüch wol von dem christlichen glauben sagen kan / und halten jn haimlich in der still / so thut er nach allem eüwerm willen / jr werdent wunderbarlich ding hören die jr vor nie erfaren habt / darum soellen jr kain red oder frag an jm sparen / wann von got ist er also wol gelert als ich nie von kainem hab gehört / unnd er wird grossen fleiß mit eüch haben / so er hört das ir die Christen bewaren werden / wann sy leiden yetz grosse not.“269 Die Rückfrage des Grafen bei den Priestern ergibt, dass auch sie – wie der Domherr – in die bedrängenden Sachzwänge ihres geistlichen Standes verstrickt sind: Von der „lutherische[n] sachen“ dürfen sie nach einem Verbot des Fiskals nicht reden; lobten sie Luthers Lehre, „nem er uns all unsere lehen / darumb ist es besser stil schweigen [.  .  .].“270 Der Graf aber „wil die warheit wissen“; er sieht das nahe Ende der Welt und „einen grossen grausamen tod“ vor sich; 271 er will „aylen unnd nit feyren“, um den „bösen Unglauben“ „auszureissen“272 . Hatte das Gespräch bisher ergeben, dass die Geistlichen allesamt heimlich der „lutherischen“ Lehre zuneigen, aber sich aus Rücksicht auf ihre Pfründen und ihre amtliche Gehorsamspflicht zu einem öffentlichem Eintreten für die ‚Reformation‘ außerstande sehen, so nimmt sie der Graf nun für die von ihm übernommene Aufgabe in die Pflicht: Sie sollen sich durch eine gemeinsame Schwurformel zu gegenseitiger Treue verpflichten, also einen Bund schließen.273 Nun geben sich der Domherr und die Priester als „gut lutherisch[e]“274 ‚Bundesgenossen‘ zu erkennen, die in einer subversiven, verschworenen Bruderschaft stehen und den Grafen, wenn er „gut lutherisch“ ist, als ihren „bruder“275 annehmen wollen: „wann es seind unnser vil wir dürffen aber ainander nitt offenlich leren als brüder und schwestern ainander schuldig seind zu leren / wann wir fürchten alle den tod.“276 Der Name des Mannes, den der Domherr zum Grafen senden will, muss deshalb verschwiegen werden.277 Die geheime Bruderschaft derer, „die gut lutherisch seind“278, bittet für ihre bedrängten Glaubensbrüder, „das sy verharren unn bleiben bey der warhait Christi“ und für 269

  A 4r, 10–17.   A 4r, 19 ff. 271   A 4r, 26 ff. 272   A 4r, 29 f. 273   „Der graff antwurt jnen und sprach / ich wils [sc. die Wahrheit der Lehre] ungeschwigen haben das wissent all vier wann ich wil die warhait wissen dann ich sich das das end der welt vorhanden ist / wann ich sich ainen grossen grausamen tod vor mir / darumb wil ich eylen unnd nit feyren das ich den bösen unglauben außreüt / es treff geistlich oder weltlich an / darumb verhaissent all bey eüwrer treüw / das sich kainer wol schayden von dem andern / und darumb müssen ir all gleich sagen“. A 4r, 26–33. 274   A 4v, 3. 275   A 4v, 4. 276   A 4v, 4–7. 277   „Der graff antwurt jn und sprach / wer mag dann der mann sein / ich mein dz der Luther sei. Der thumherr sprach / ach gnediger herr schweigent der wort u[nd] nennent niemants mit namen / er kompt sunst nit zu eüch / er ist unser bruder / wann wir seind gut lutherisch [.  .  .].“ A 4r, 35-A 4v, 3. 278   A 4v, 19; vgl. B 1r, 34. 270

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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ihren „vorfechter Martin Luther“, dass er auch „bestendig beleib bey der warhait Christi wann es thut grosse not / wann wir weren gestorben wie das vich wer er nit komen / wann er hat uns bracht den tag und das liecht gottes [.  .  .].“279 Den Schluss der ersten Flugschrift bildet ein Appell, in dem sich die in Szene gesetzte, verschworene Gemeinschaft an ihre lesenden „schwöster[n] und brüder“280 wendet und unter Verweis auf künftige Schriften ankündigt, „eüch [zu] leren und [zu] weisen alles das das wir wissen von dem christlichen glauben / und [.  .  .] alles das [.  .  .] das eüch not ist zu eüwer seel seligkeit [.  .  .]“.281 Zugleich ‚öffnet‘ sich der geheime Bund der Lutherischen in Richtung auf Außenstehende: „Darumb welcher gut lutherisch wölle sein der mag sich wol machen zu uns herein.“282 Der Graf versichert die verschworene Gemeinschaft, entgegen der von den Priestern angekündigten Unheilsprophetie, seiner tatkräftigen Unterstützung283, die Priester hingegen bekräftigen ihre Bereitschaft zum Martyrium: „es ist besser vonn des Christlichen glaubens wegen gestorben / dann das wir ein zeit lang solten leben und solten ewigklich verloren werden [.  .  .]“.284 Am Ende der Schrift wird die Frage aufgeworfen, wem die geheimnisvollen ‚Bundesgenossen‘ „das büchlein zuschreiben“.285 Der Graf erklärt seine Bereitschaft, die öffentliche Verantwortung für das im Druck erschienene gemeinsame Gespräch zu übernehmen, doch seine geistlichen Gesprächspartner ziehen eine anonyme Publikation vor: „wir wöllen keinen namen darein setzen wer waißt wie es gat wann got vermag alle ding. Amen.“286 Als Kollektivautor der ersten der vier anonymen Flugschriften fungiert also die um einen Grafen gesammelte geheimnisvolle Gemeinschaft der „gut Lutherischen“287 ; auch bei der zweiten Schrift, die auf dem Titelblatt den Hinweis trägt, dies sei „das ander biechlein / das von dem Adel außgeet“, ist das so.288 In der dritten und vierten Schrift firmiert dann eine neu eingeführte ‚Narren‘-Figur als Verfasser.289

279   A 4v, 19–24; darauf folgt ein Gebet in der 1. Person Singular, das ins Vaterunser ausmündet, A 4r, 26 ff. 280   B 1r, 26 f. 281   B 1r, 27–30. 282   B 1r, 34 f. 283   „Die pfaffen sprechnn wir wöllen eüch wol propheceyen unn war sagen / wir lutherisch menner werden von dem unn von den pfaffen bald all erschlagen. Der graff sprach / ir verkünden uns böse mer / mainent ir das ich nit auch hab land und leüt unn künd mich weren wann es ist zeit ich waiß noch ain hohe schul [sc. Erfurt, vgl. 3: B 1r, 23] ir lieben priester die wöllen auch thun ir hilff dartzu“. B 1r, 35 – B 1v, 6; vgl. B 1v, 17 ff. 284   B 1v, 10–12. 285   B 1v, 25. 286   B 1v, 26–28. 287   Vgl. den Rückverweis in 2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  734,1. 288   Vgl. 2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  738,39 ff. 289  3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, b 1r, 4 f.: „Das büchlin hat gemacht der welt narr unn ist gut lutherisch [.  .  .].“ 4: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  745,40–42: „Wenn ainer fraget wer das büchlin gemacht hab, so sprich: Es habs der welt narr gemachet der gut lutherisch ist, und hets gemacht zu lob allem adel.“

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Ehe der weitere Fortgang des Flugschriftenzyklus knapp rekapituliert werden soll, sind folgende Beobachtungen festzuhalten: Die Geistlichkeit wird in einer ‚nikodemitischen‘ Situation geistiger Gefangenschaft dargestellt, die eine Folge ihrer Einbindung in das kirchliche Pfründensystem ist. Sie hat die Wahrheit des Evangeliums erkannt, vermag diese aber aus Angst um Leib und Leben nicht öffentlich zu vertreten. Der wahrheitssuchende Adel erkennt seine Verantwortung für die wahre Lehre um des Heils der ihm anvertrauten Untertanen willen. Adel und Geistlichkeit formieren sich in einem geheimnisvollen Zusammenschluss der „gut Lutherischen“. Dieser wendet sich anonym an die ‚Öffentlichkeit‘, bzw. an die in der Bedrängnis lebenden lutherischen Brüder und Schwestern. Die Flugschrift selbst realisiert eine modellhafte Umgangsweise mit der Situation der Verfolgung um des wahren Glaubens willen. Sie entwirft eine korporative Strategie, durch die gleichsam verborgen ‚Öffentlichkeit‘ hergestellt und den Anhängern Luthers Trost dadurch vermittelt werden soll, dass das bündische Wirken eines subversiven, von dem Adel und Teilen der Geistlichkeit getragenen Schutzbündnisses für die Wahrheit des Evangeliums suggeriert wird. Gerade die nach historischem Urteil fingierte, für zeitgenössische Leser aber nicht als Fiktion durchsichtige ‚Gegenöffentlichkeit‘ der verschworenen „gut Lutherischen“ sucht die öffentliche Basis für die Anliegen des Wittenberger Reformators im unmittelbaren Kontext drohender Verfolgungen zu verbreitern. Das reflektiert eingesetzte Mittel zu diesem Zweck ist die Anonymität. In der zweiten Flugschrift hat sich die personelle Konfiguration geändert. Nun ist der in der vergangenen Schrift angekündigte „lutherisch man“290 da, der sich als „edelman“ vorstellt und – ähnlich wie in der vorangegangenen Schrift der Domherr – das Gespräch mit dem Grafen bestimmt.291 Der „edelman“ will eigentlich nur bei der Gruppe sitzen „als ain narr“292 ; in der dritten und vierten Schrift tritt er dann ausdrücklich als Narrenfigur auf und figuriert schließlich als eigentlicher Verfasser der letzten Schriften. Thema des Gesprächs ist abermals das an der Vorbildgestalt Ulrich von Huttens293, des ritterlichen „Vorfechter[s] des Luthers“294, veranschau­ lichte, von einem institutionsfreien Kirchenbegriff gestützte295 Mandat des Adels, die 290

 2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  731,4.   Die Identität des „lutherisch[en] man[nes]“ und des „edelman[nes]“ ist vor allem daraus zu folgern, dass ersterer nach der Erwähnung des zweiten nicht mehr vorkommt, und dass der „edelman“ jene dem in der ersten Flugschrift angekündigten „lutherischen man“ zugeschriebene Beraterfunktion übernimmt. 292  2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  731,22. 293   2: Ebd., S.  731,18. 294   2: Ebd., S.  738,36. 295   „Darumb will ich [sc. der lutherische Mann/Edelmann/Narr] auch helffen und retten, das die boßheit und laster auß dem menschen werd getriben und widerumb ain gesetzet werd die frümkait und die warhait Got des hailigen gaists. Wenn wo die warheit nit ist und die gerechtigkait, da kan Got nit wonung häben, wenn so mir Got kennen und in lieb haben, so wont Got bey unß, so sein mir die hailige christenlichen kirchen.“ Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  731,27–33. Die Edelleute in Gestalt dieser Einzelfigur wissen „baß waß die christenlich kirch ist, wann die priester.“ Laube, a.a.O., S.  731,38 f. 291

5.  Anonyme Flugschriftenserien des Jahres 1521

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Reform des aufgrund der selbstsüchtigen Bereicherung des Klerus und der Klöster zerrütteten Gesellschaftssystems zu übernehmen. Ein für den Diskussionszusammenhang in der Handelsmetropole Augsburg instruktiver argumentationsstrategischer Akzent ist in einer auf die Akzeptanz der reformatorischen Bewegung im Handelsbürgertum berechneten apologetischen Tendenz gegenüber den Kaufleuten zu sehen.296 Alle materielle und soziale Bedrückung des Adels- und des Bauernstandes erscheint dem „Narren“ ausschließlich als Folge der klerikalen Geldgier.297 Als geeignetes Mittel gilt allein ein Bündnis des Adels, in das die reichsunmittelbaren Territorien und die Reichsstädte einbezogen werden.298 Die Bundesvorstellung der ersten Flugschrift ist also politisch perspektiviert, konkretisiert und in Bezug auf die Bundespartner erweitert: Die geistlichen Bundespartner der ersten Schrift, der Domherr und die Priester, sind ganz in den Hintergrund getreten. Die drei Priester sollen zwar nach dem Anfang dieser zweiten Schrift geholt werden; 299 von ihrem Erscheinen wird aber nichts berichtet. Im Gegenteil – gegen den Willen des Grafen, die Priester zu fragen, „wer die straßrauber seyen“300, will der Edelmann/Narr vorher „das biechlein“ schreiben, da er fürchtet, die Priester würden sich vor der ihm geboten erscheinenden Konsequenz scheuen.301 Die Schlussbemerkung der Schrift, das nächste Büchlein werde „mit sampt dreyen priestern“302 gemacht, bezeugt ebenso wie die Aufschrift auf dem Titelblatt, das zweite „biechlein“ sei vom Adel ausgegangen, dass sich die Schriften als Äußerung des „lutherisch“ gesinnten Adels präsentieren wollen. Die zweite Schrift scheint schon konkrete Zensurerfahrungen der „armen lutherischen Kinder“303 zu spiegeln, die als anonymes Verfasserkollektiv fungieren: „Dann wan man etwas druckt das wider die pfaffen ist, so wend syß [sc. das Domkapitel] nit leyden das mans fayl hab, wann sy werden das büchlein auch nit fayl lassen haben, wann sy mügen nit leyden das man jn die warhait sagt, wann sy haben unß [sc. dem Adel] lang gesagt, wie mir rauben und den leüten das ir nemen, das haben sy nye 296

  Vgl. 2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  734,22 f.; 738,42 f.; u. ö.; 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, a 3r, 34 ff.; 4: Laube, a.a.O., S.  745,35 ff. 297  2: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  734–737; vgl. bes. den anschaulichen Gesprächsgang zwischen einem Priester und einer armen Witwe in Bezug auf geforderte Stiftungsgelder für Seelenmessen für ihren verstorbenen Ehemann, S.  737,24 ff. 298   „Der edelman sprach so must ir ain rat mit dem adel haben unnd must euch mit ainander verainigen und in ein buntnuß tretten und müst die sach mit ainander wachen und verainigen auch mit dem reich [.  .  .].“ Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  737,17–20. 299   Ebd., S.  731,3. 300   Ebd., S.  733,41; vgl. 38; 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 4r, 12. 301   Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  734,1 ff. Wie uneinheitlich das Figurenkonzept in Bezug auf die drei Priester ist, zeigt sich etwa darin, dass sie der Narr in der dritten Flugschrift als notorische Luthergegner anspricht, vgl. 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2r, 17 ff. 302   Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  738,40. 303   Ebd., S.  739,24.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

kinden vergessen.“304 Die Domgeistlichkeit habe von Luther adelskritische Äußerungen erwartet; stattdessen kündigt der Adel nun selbst an, aufzudecken, dass alle Schuld für soziale Notlagen bei den Geistlichen liege.305 Der Schluss306 der zweiten Schrift deutet mit seinem Wechsel zwischen der 1. Person Singular und Plural an, dass es dem Verfasser über der Schilderung der konkreten Verfolgungssituation, der er sich ausgesetzt sieht, schwerfällt, die Fiktion, ein Autorenkollektiv stehe hinter der Schrift, durchzuhalten307 : „Mich wundert das ir als seer nach meinem namen fragt und nach denen, die die biecher machen, wan es wol gemacht ist, was fragst du darnach wer es gemacht hab. Es wirt noch der tag kumen, das ich weder dich noch dein Got fürchten wird, aber yetzund fircht ich alle welt [.  .  .].“308 Der „gutt Luther“309, wie sich der anonyme Verfasser schließlich als korporative Figur, gleichsam als Statthalter des von der historischen Bühne verschwundenen Wittenbergers, nennt, vertritt die Anliegen des in Worms Geächteten und tröstet wie dieser die „gantze Christenheit“310. Die aus der Not erwachsene Anonymität wird zum literarischen Stilmittel, um einen jedes individuelle Zeugnis überstrahlenden, transpersonalen Wahrheitsanspruch auszudrücken. In der in der dritten und vierten Schrift angenommenen Narrenrolle findet diese publikationsstrategisch ausgeformte Anonymität ihren abschließenden Ausdruck. Dem Narren wird seitens des Adels, des schon bekannten Grafen und der neu eingeführten, nicht näher charakterisierten Figur eines Fürsten311, die Redefreiheit gewährt. Auch wenn er damit in die Rollentypik des Hofnarren eingefügt zu sein scheint, ist für seine Deutung die für spätmittelalterliche Narrenfiguren charakteri­ stische Funktion als „kollektive Gestalt quer zu den verschiedenen Binnenöffentlich304

  Ebd., S.  738,12–17. Vgl. S.  739,15–17: „[.  .  .] wan ainer yetzund nur ein brieflein fail hatt das wider sy [sc. die Geistlichkeit] ist, so verbidten syß in bey leib und gut und schnappen nach im wie die geschrifft gelerten nach Christum schnapten.“ 305   Ebd., S.  738,17 ff.; 39 ff. 306   Ebd., S.  739,4–26. 307   Ähnlich in der dritten Schrift, wo es unmittelbar hintereinander heißt: „[.  .  .] und das ist das drit büchlin das von dem adel außgat got sey gelobt und wir habens gemacht zu einem trost allen lutherischen mannen und frawen got wöl uns helffen das wir in unser letzten stund in seinem Christenlichen glauben werden erfunden. Amen. Das büchlin hat gemacht der welt narr und ist gut lutherisch darumb wer dem Luther feind ist der ist auch mir feind unn allen frumen Christen unn ich glaub wer des Luthers bücher verfolge und verbeüt der verfolg got selbert [.  .  .].“ 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, a 4v, 44 – b 1r, 7. Am Schluss erscheint als Verfasser der Schrift ein kollektives „wir“. In der vierten Schrift heißt es, der „welt narr“ habe sie „zu lob allem adel“ gemacht, Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  745,41 f. 308   Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  739,6–10; vgl. 4: ebd., S.  742,12 ff. 309   Die singularische Wendung „es habens gutt Luther“ (Lurter) (Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  739,4 f. mit Anm.  y; vgl. 742,12) gemacht, dürfte nicht einfach im Sinne von „Lutherische“ aufzulösen sein; der als lectio difficilior anzusprechende Kollektivsingular „Luther“ entspricht wohl dem Versuch des Verfassers, die Weiterführung der Sache Luthers durch seine Anhänger sprachlich auf den Punkt zu bringen. 310   Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  739,5. 311  3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2r,1 ff.

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keiten“312 in Rechnung zu stellen. Der Narr tritt prononciert als Apologet Luthers und seiner Lehre auf, wohl durchaus in Anknüpfung an Luthers eigene Verwendung der (Hof-)Narrenrolle in der Adelsschrift.313 Die dritte und vierte Schrift sind fast ausschließlich als Rede des Narren stilisiert und wechseln unversehens in die 1. Person Singular des anonymen Autors über314 : der Anonymus selbst ist der „gut lutherisch[e]“ „welt narr“315. Er ist der Freund der frommen Christen316, der Anwalt der Gerechtigkeit, die öffentliche Repräsentanzfigur der Wahrheit, die auf Seiten Luthers ist. „[W]er dem Luther feind ist“317, hat auch den Narren, dieses „kommunikativ-soziale Regulativ“318 des öffentlichen Wahrheitsbewusstseins, das sich auf die Bibel allein gründet319, gegen sich. Der „welt narr“ ist „ein guter Luther“320 ; als solcher unterwirft er sich „allem adel gaistlich und weltlich“321. Eine Veränderung der kirchlichen Situation erwartet der Narr vom geistlichen Adel, etwa dem Bischof, aber auch einigen Domherren322, dem weltlichen Adel und den Reichsstädten323, nicht mehr jedoch vom Kaiser324 – eine im Horizont der Erfahrungen des Wormser Reichstages durchaus realistische Weiterentwicklung der Reformkonzeption der Lutherschen Programmschrift An den christlichen Adel. Der Flugschriftenzyklus im Ganzen ist durchaus ein Echo auf die von Luther am Ende der Adelsschrift geäußerte Hoffnung, der christliche Adel deutscher Nation möge „einen rechtenn geystlichen mut“ empfangen, um „der armen kirchen das be­

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  Werner Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800–1400 [Die Geschichte der Medien, Bd.  2], Göttingen 1996, S.  59; zum Narren vgl. im Ganzen a.a.O., S.  52–69; sowie die instruktiven Studien von Werner Mezger, Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amtes, Konstanz 1981; ders., Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur [Konstanzer Bibliothek 15], Konstanz 1991. 313   Vgl. WA 6, S.  404,25 ff.; vgl. auch zum weiteren literarischen Spiel mit dem Narrentopos in der für die vier Flugschriften zentralen Adelsschrift Luthers: WA 6, S.  425,15; WA 6, S.  432,7; WA 6, S.  433,21; WA 6, S.  454,20; WA 6, S.  463,12 (LuStA 2, S.  96,20 ff.; 119,9; 126,16; 128,5; 150,19; 160,8 f.); zu Luthers Verwendung der Narrenrolle in der Adelsschrift instruktiv: Jørgensen, Bauer, wie Anm.  127, S.  16 ff. 314  3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, A 2v, 3 ff. 315   3: ebd., B 1r, 4 f. 316   3: ebd., B 1r, 4 f. 317   3: ebd., B 1r, 5. 318   Faulstich, Medien, wie Anm.  312, S.  57 (Kasus geändert, Th. K.). 319   „[.  .  .] unn ich [sc. der welt narr] glaub wer des Luthers bücher verfolge und verbeüt der verfolg got selbert / wann das wort gotes ist gott selbs wie Johannes spricht / in dem anfang was das wort / unn got was das wort [Joh 1,1] / und wir haben sunst nichts dann das wort gotes [.  .  .].“ 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1r, 6–10. 320  4: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  742,1 1 f.; vgl. oben Anm.  309. 321   4: ebd., S.  742,11 f. 322   Vgl. 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1r, 14 ff.; von dieser an die Domherren gestellten, wohl konkret auf die reformationsgesinnten Teile des Augsburger Domkapitels zu beziehenden Erwartungen her erklärt sich auch die im ganzen positive Rolle des Domherrn in den ersten beiden Flugschriften. 323   Vgl. 4: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  742,20. 324   Vgl. 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1v, 9 ff.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

ste zuthun.“325 Das geheimnisvolle Kollektiv aus Adligen und Geistlichen und die Figur des „welt narren“, hinter dem angeblich viele Gleichgesinnte stehen, deren Namen der bedrängte Narr zu ihrem Schutz geheim hält326, sind literarische Fiktionen, mit deren Hilfe ein anonymer Autor in einer offenen geschichtlichen Situation, in der Luther zum Schweigen verurteilt ist und das Blutzeugnis der Lutheranhänger327 Wirklichkeit zu werden droht, zu suggerieren versucht, dass sich die von Luther ausgegangene Bewegung auf einen starken Rückhalt bei den Mächtigen stütze und durch bedrohliche Repressionen nicht zu besiegen sei. In der Narrenrolle verdichtet sich der Anspruch des Anonymus, die angefochtene Wahrheit als solche zu repräsentieren und eben damit die Anhänger der reformatorischen Bewegung, für die die Fiktion keineswegs durchsichtig gewesen ist, zu trösten und zu stärken. Gerade die wohl durch reale Bedrängnis des unbekannten Verfassers erzwungene Anonymität wird als produktives literarisches Mittel einer publizistisch-offensiven Strategie umgesetzt. Auch im Falle des Augsburger Flugschriftenzyklus ist die Anonymität ein wichtiges publizistisches und literarisches Mittel, eben jene breite öffentliche Basis zugunsten Luthers zu erzeugen, deren Widerhall die anonymen Schriften zu sein behaupten.328 Der serielle Charakter der anonymen Flugschriftenreihen des Jahres 1521 entspricht der offenen geschichtlichen Situation im Hinblick darauf, wie der Kampf um die Öffentlichkeit ausgehen wird.

6.  Zusammenfassende Schlussthesen 1.  Anonyme Flugschriften sind reflektiert eingesetzte Medien des reformatorischen Kommunikationsprozesses, die die Beeinflussung der öffentlichen Meinung dadurch zu erreichen versuchen, dass sie mit dem Anspruch auf allgemeine Wahrheitsrepräsentanz auftreten. Noch in stärkerem Maße als in der Flugschriftenproduktion über325

  LuStA 2, S.  167,10 f. (= WA 6, S.  469, 17).  4: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  742,12 ff.: „[.  .  .] ich bin ain guter Luther und fürcht kain feür, wie wol ich meinen namen nit darff hinzu setzen, so find ich doch nit das ich mich selb oder meinen bruder verratten soll [.  .  .].“ 327   Die Martyriumsthematik ist in dem Zyklus von zentraler Bedeutung, vgl. nur 3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1v, 20 ff. 328   Die Absicht des Zyklus ist zweifellos darauf gerichtet, die gesellschaftliche Basis einer ‚Reformation‘ bei den geistlichen und weltlichen Inhabern politisch-sozialer Machtstellungen zu vergrößern, und zwar unter Führung des Adels. Die von Schottenloher (Flugschriften, wie Anm.  224, bes. S.  9) herausgestellte Nähe zur Ritterschaftbewegung sollte nicht überbetont werden. Die in der ersten Flugschrift entwickelte Bundeskonzeption ist offen für alle gesellschaftlichen Kräfte. Das Ideal ist auf eine Ständegrenzen überschreitende brüderliche Kommunität (3: Clemen, Flugschriften in Faksimiledrucken, wie Anm.  235, Bd.  1, B 1r, 32) gerichtet. Der euphorische Appell an den Adel, dessen proreformatorische Entschiedenheit eingeschärft werden soll, steht eher in einem engen rezeptionsgeschichtlichen Konnex mit Luthers Adelsschrift. Ähnlich wie in Bezug auf Eberlin von Günzburg ist auch für den anonymen Augsburger Flugschriftenzyklus von einer ausstrahlen­ den Wirkung der Huttenschen Schriften, die seit Jahresanfang 1521 in der Volkssprache erschienen sind, auszugehen. 326

6.  Zusammenfassende Schlussthesen

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haupt wird die anonyme Flugschriftenpublizistik eine Domäne der Parteigänger Luthers. 2.  Die im Verhältnis zum Gesamtvolumen der Flugschriftenproduktion relativ größte Bedeutung anonymer Flugschriften fällt in die Jahre 1521/22. Im Horizont befürchteter oder erster wirksam werdender Einschränkungen öffentlicher Meinungsäußerungen im Umfeld des Wormser Reichstages tragen anonyme Flugschriften vor allem in den süddeutschen Stadtzentren wesentlich dazu bei, die Sache Luthers im Sinne der Parteinahme für ihn in den Raum der öffentlichen Kommunikation zu tragen. 3.  Die anonyme volkssprachliche Publizistik der frühen Reformation ist – wie der frühreformatorische Kommunikationsprozess als solcher – ein Phänomen des Umbruchs, dem innerhalb des Durchsetzungsprozesses der Reformation eine zentrale Bedeutung zukommt. In Bezug auf die Langzeitwirkungen der mit der Reformation eingeleiteten publizistischen Präsenz der Flugschriften während des gesamten 16. Jahrhunderts ist es berechtigt, von einem gesellschaftsgeschichtlichen Umbruchprozess zu sprechen, an dessen dynamischer Entfaltung die anonymen Flugschriften in den frühen Jahren der Reformation einen wesentlichen Anteil hatten. Als Massenphänomen spielt die anonyme Publizistik, die als Moment spezifischer Konfliktkonstellationen den frühneuzeitlichen Kommunikationsprozess als ganzen begleitet, erstmals in der frühen Durchsetzungsphase der Reformation eine entscheidende Rolle. 4.  Der zum Teil beträchtliche publizistische Erfolg anonymer Flugschriften lässt den Schluss zu, dass die Anonymität die Nachfrage nach bestimmten Schriften durchaus fördern konnte und dass die Frage, wer eine Flugschrift abgefasst hat, bei den zeitgenössischen Rezipienten gegenüber dem thematischen Sachinteresse im Hintergrund stand. Inhalte und Formen der Flugschriften dürften für den frühen kommunikationsgeschichtlichen Erfolg des Mediums – wenn man von Luther als Flugschriftenautor einmal absieht – ungleich wichtiger gewesen sein als der Name eines Autors. 5.  Die in der Forschung vertretene These von der Meinungsführerschaft von Klerikern, Theologen und ehemaligen Mönchen als Verfassern reformatorischer Flugschriften329 dürfte auch in Bezug auf die anonymen Flugschriften ein hohes Maß an 329  Vgl. Moeller, Reformation, wie Anm.   14, bes. S.   155; Blochwitz, Flugschriften, wie Anm.  15, S.  187 mit Anm.  1; 244 f. äußert die These, dass die Verfasser anonymer Schriften „fast ausnahmslos unter den Humanisten zu suchen“ sind, d. h. in einer aus „humanistischen Theologen“, „humanistischen Gelehrten“ und dem „aufgeklärte[n] Bürgertum“ (a.a.O., S.  245) bestehenden „humanistischen Bevölkerungsschicht“. Auch unter den Autoren reformatorischer Flugblätter scheint ein überdurchschnittlicher Anteil evangelischer Geistlicher gesichert zu sein, vgl. Oelke, Konfessionsbildung, wie Anm.  14, S.  103 f.; Tschopp, Deutungsmuster, wie Anm.  14, S.  89. Im Unterschied zu meinem Ansatz scheint Chrisman (Reformation, wie Anm.  235, bes. S.  639) den Anteil an Laienautoren unter den Anonymen entschieden höher zu veranschlagen. Die von ihr in Anwendung gebrachten stilkritischen und thematischen Kriterien ignorieren das Problem der intendierten Fiktionalität bzw. der bewussten ‚Tarnung‘.

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§  10  Publizistische Mobilisierung

Wahrscheinlichkeit besitzen. Davon auszugehen, dass der Laienanteil unter den ano­ nymen Flugschriften über dem sonstigen Anteil am Gesamtvolumen der Flugschriften liege, besteht kein Anlass. Da, wo es einigermaßen eindeutige Hinweise auf den ‚Stand‘ eines ‚Autors‘ gibt, handelt es sich in der weit überwiegenden Mehrzahl um geistliche Personen. Anonyme Flugschriften sind nicht die „Stimme des Volkes“, aber sie geben sich als solche.330 Die besondere Affinität anonymer Flugschriften zu bündischen Vergesellschaftungskonzeptionen entspricht ihrem Anspruch, ein allgemein-christliches Wahrheitsbewusstsein zu repräsentieren und auf gesellschaftliche und kirchliche Wirkungen hin zu mobilisieren. Darin dürfte ihr spezifischer Beitrag zum kommunikationsgeschichtlichen Umbruchprozess der frühen Reformation liegen.331 6. Die anonyme Flugschriftenpublizistik ist auch als programmatische literarische Umsetzung des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen zu werten. In den zumeist wohl fingierten Laienrollen, die die anonymen Autoren annehmen, unterscheiden sie sich grundsätzlich von dem bedeutendsten altgläubigen Versuch anonymer Publizistik, dem Thomas Murners. 7.  Als dominierende theologischen Themen, die zugleich in der anonymen Publizistik ihre exemplarische literarische Umsetzung erfahren haben, sind zu identifizieren: die Schrift als alleinige Autorität und normativer Orientierungsmaßstab und die Teilhabe von Laien am Diskurs über die Wahrheit des Glaubens. Diese thematische Konzentration mag gemessen an der Fülle der theologischen Anliegen Luthers als reduktiv erscheinen. Sie stellt aber genau jene Aspekte der reformatorischen Theologie elementarisierend in den Vordergrund, die im Erfahrungshorizont der Zeitgenossen den epochalen Umbruch des Zeitalters markieren. Auch wenn die expliziten thematischen Ausführungen zum Priestertum aller Gläubigen eine relativ geringe Bedeutung in den Flugschriften im Ganzen einnehmen332, so stellt die anonyme Flugschriftenpublizistik, insbesondere in Gestalt der Dialogliteratur, doch eine modellhafte Umsetzung der reformatorischen Grundthese dar, dass alle Christen an den Heilsfragen zu beteiligen sind.

330

  Ähnlich urteilt Ahrens (Gedanken, wie Anm.  175) in Bezug auf die Funktion der Anonymität bei Eberlin: „Alle seine anonymen Flugblätter sollten nichts anderes sein als ein Sprachrohr des Volkes.“ S.  14. 331   Zum ‚Umbruchkonzept‘ vgl. Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998. 332  Vgl. Edwards, Printing, wie Anm.  17, S.  108; vgl. dazu auch Köhler, Schritte, wie Anm.  16, S.  259; Blochwitz, Flugschriften, wie Anm.  15, S.  207 ff.

III.  Lehrbildungen und Identitätsentwürfe

§  11  Theologisch-philosophische Rationalität: Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation 1. Einleitendes Der Umgang auch der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtgesellschaften mit dem Phänomen der Prostitution war bekanntlich hochgradig ambivalent. Dies ist als mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Hintergrund der sprichwörtlich gewordenen Lutherschen Rede von der „Hure Vernunft“ mit zu bedenken. Zum einen ließ man die „gemeinen weyber“ zur „vermeydung willen merers übels in der cristenhait“1 zu, d. h. man duldete sie, um den virilen Triebstau der Gesellschaft, die „fleyschliche anfechtung“2, zu kanalisieren und die Gefahren devianter Sexualität zu reduzieren.3 Gegenüber der Ehe war die Hurerei die ungleich verwerflichere Option; eine wesentliche Funktion der von der Sünde affizierten göttlichen Erhaltungsordnung des ehelichen Konnubiums bestand darin, dass „sich eyner an bynden lest, das er nicht die stat creutzweiß außlauff, daß die fleyschliche lust wirt also getempfft, das sie an ein bandt gebunden wirt.“4 1  Begründung der Zulassung von Prostituierten in Nürnberg zit. nach: Annette LömkerSchlögell, Prostituierte – „umb vermeydung willen merers übels in der cristenhait“, in: BerndUlrich Hergemöller (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf 2 1994, S.  52–85, hier: 77; vgl. Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit [Kleine Reihe V&R 1568], Göttingen 1993, S.  122 ff.; das Beispiel eines Mannes, der 1498 im Nürnberger Frauenhaus Gott gelästert hat und mit dauerndem Stadtverweis bestraft wurde, erwähnt Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter, Darmstadt 2002, S.  347 Anm.  80. 2  Luther, Ein Sermon vom ehelichen Stand (1519), WA 2, S.  166–172, hier: 168,2; vgl. WA 6, S.  467,35; s. unten III, §  14. 3   Zum allgemeinen Rahmen vgl. Vern L. Bullough/James A. Brundage (Hg.), Handbook of Medieval Sexuality, New York, London 1996, S.  243 ff.; Mary E. Wiesner-Hanks, Christianity and Sexuality in Early Modern World, London, New York 2000, S.  85 ff.; 123 ff.; Anselm Schubert, Art. Sexualität II, kirchengeschichtlich, in: RGG4, Bd.  7, 2004, Sp.  1249 f.; Schubert, Alltag, wie Anm.  1, S.  222 ff. Im Gründungsbrief des Münchner Frauenhauses (1433) wird die obrigkeitliche Intention formuliert, „zucht unnd erberchait an mannen und frawen in unser Stat Munchen“ zu fördern und „viel übels an frawen und Junckfrawen“ zu hindern, zit. nach Schuster, Frauenhaus, wie Anm.  5, S.  40 f. 4   WA 9, S.  215,23–25 (von Luther nicht in den Druck gegebene Version des Sermons vom ehelichen Stand [Januar 1519]); vgl. zum Kontext unten III, §  14. Enthaltsamkeit war nach Luther, wie er in der 1. Person Singular formulierte, keine dem Menschen eigene Möglichkeit, WA 9, S.  215,13.

1. Einleitendes

437

Der Duldung der Prostitution als eines unumgänglichen und – etwa gegenüber perhorreszierten sexuellen Praktiken – kleineren Übels korrespondierten restriktive disziplinatorische Maßnahmen im Umgang mit den Prostituierten, die darauf abzielten, sie in einzelnen Quartieren der Städte bzw. in „Frauenhäusern“5 zu ghettoisieren, mit bestimmten vestimentären Attributen – Schleier mit grünen Streifen, gelben Bändern oder roten Käppchen und Kopftüchern6 etwa – zu stigmatisieren und gelegentlich von der Partizipation an sakramentalen Vollzügen und dem Recht auf ein christliches Begräbnis auszuschließen.7 Mancherorts, etwa in Augsburg oder Köln, waren die Dirnen dem Scharfrichter unterstellt, also einem seinerseits unehrbaren Berufsstand; diesem hatten sie gelegentlich Abgaben zu leisten8 – wohl eine vor- bzw. frühmoderne Form der Zuhälterei. Die Abschaffung der Prostitution bzw. der „Frauenhäuser“, begründet mit dem theologischen Argument, dass „wir [.  .  .] alle zur keuschheit getaufft“9 seien, gehört 5   Vgl. zu Köln: Franz Irsigler/Arnold Lasotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt [dtv 11061], München 1989, S.  179 ff.; vgl. LömkerSchlögell, Prostituierte, wie Anm.  1, S.  63 ff.; zu Frauenhäusern umfassend: Peter Schuster, Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland 1350 bis 1500, Paderborn 1992; allgemein zum späten Mittelalter: Edith Ennen, Frauen im Mittelalter, München 51994, S.  172 f. Pius II., der von seiner Deutschlandkenntnis her auch über Frauenhäuser im Reich informiert war, lehnte übrigens im Jahre 1462 ein Gesuch des böhmischen Königs ab, die Prostitution völlig zu verdammen – unter Berufung auf Augustin [De ordine 2,4,12; MPL 52, Sp.  1000; CSEL 63, S.  155; CChr SL 29, S.  114]. Augustin hatte argumentiert, dass die Entfernung der Prostituierten zur völligen Vorherrschaft der sexuellen Leidenschaften führen werde, vgl. Lömker-Schlögell, a.a.O., S.  77. 6  Vgl. Roeck, Außerseiter, wie Anm.  1, S.  123; Jankrift, Henker, wie Anm.  8, S.  164; Ennen, Frauen, wie Anm.  5, S.  173; Lömker-Schlögell, Prostituierte, wie Anm.  1, S.  74 f. 7   Irsigler/Lasotta, Bettler, wie Anm.  5, S.  187 f.; zum kirchenrechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Berlin 1893, ND Graz 1959, Bd.  5, S.  170 f. Anm.  11; 815 f.; vgl. Lömker-Schlögell, Prostituierte, wie Anm.  1, S.  77–79; Brundage, in: Bullough/ders., Handbook, wie Anm.  3, S.  33 ff. Ein Reflex der mittelalterlichen Verhältnisse ist darin zu sehen, dass auch in evangelischen Gemeinden Vorbehalte gegen die Aufnahme von Huren in die kirchliche Gemeinschaft bestanden, vgl. etwa: Anneliese Spengler-Ruppenthal, Gesammelte Aufsätze zu den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts [Jus Eccl 74], Tübingen 2004, S.  112; zur Prostitutionsabwehr im Protestantismus s. Schuster, Frauenhaus, wie Anm.  5, S.  189 ff.; Wiesner-Hanks, Sexuality, wie Anm.  3, S.  85 ff.; passim. 8   Ennen, Frauen, wie Anm.  5, S.  173 f.; zum Henker: Roeck, Außenseiter, wie Anm.  1, S.  106 ff.; Kay Peter Jankrift, Henker, Huren, Handelsherren. Alltag in einer mittelalterlichen Stadt, Stuttgart 2007, S.  160 ff. (zum Verhältnis Dirnen – Scharfrichter bes. 161); zur sozialen und juristischen Dimension seiner Unehrbarkeit vgl. Jürgen Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2000, S.  29 ff.; zum Scharfrichter s. auch: Jutta Nowosadtko, ‚Scharfrichter‘ – ‚Hangman‘. Zwei soziokulturelle Varianten im Umgang mit dem Vollzug der Todesstrafe, in: AKuG 74, 1992, S.  142–172; dies., Wer Leben nimmt kann auch Leben geben – Scharfrichter und Wasenmeister als Heilkundige in der frühen Neuzeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 12, 1993, S.  43–74; Wolfgang Oppelt, Über die Unehrlichkeit des Scharfrichters: unter bevorzugter Verwendung von Ansbacher Quellen, Würzburg 1976, bes. S.  359 ff. (zur Berührungsscheu); Irsigler/Lasotta, Bettler, wie Anm.  5, S.  228 ff. 9   An den christlichen Adel (1520), WA 6, S.  467,18 f. = LuStA 2, S.  165,12; Luther bezeichnet die Frauenhäuser kurzerhand als „unfug“ WA 6, S.  467,24 = LuStA 2, S.  165,18; vgl. WA 6, S.  262,19–28; WA 6, S.  39, 6  f f.

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

zu den ersten Maßnahmen reformatorischen Ordnungshandelns; 10 sie war Teil eines christlichen Versittlichungsprogamms, das von Theologen, städtischen Magistraten und Gemeindekreisen gleichermaßen getragen wurde und auf eine Vereinheitlichung der moralischen Standards, unbeschadet der Zuständigkeit etwa bischöflicher oder akademischer Disziplinierungsinstanzen, abzielte.11 Wenn Luther die Vernunft als „Hure“ bezeichnete, so sprach er vor dem soziokulturellen Hintergrund seiner Zeit ein scharfes sittliches Urteil. Auch die Verwendung der Prostitutionssemantik im Zusammenhang mit der Papstpolemik12 lässt keinen Zweifel daran, dass Hurerei für die literarischen Akteure der Reformation ein schlechterdings inakzeptables, nicht zu duldendes und aus der christlichen Gemeinschaft auszuscheidenden Phänomen darstellte. Mit der Diffamierung der Vernunft als Hure ging Luther über die vernunftkritischen Traditionen mittelalterlicher Theo­ logie13, aber auch über die Urteile seiner reformationsgesinnten Zeitgenossen deutlich hinaus.

2.  Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft bei Luther Freilich ist in Bezug auf Luthers Rede von der Hure Vernunft den jeweiligen Kontexten ihrer Verwendung Rechnung zu tragen. Deshalb seien zunächst einmal einige 10

  Vgl. die Wittenberger Ratsordnung vom 24.  1. 1522, ed. in: LuStA 2, S.  525–529, hier: S.  528,6 ff. Die Wittenberger Beutelordnung von 1520/1 setzte voraus, dass die Gefahr bestehen könne, dass Hilfsleistungen der Gemeinde von „unerlichen und unczuchtigen“ (WA 59, S.  64,4) erschlichen würden, rechnete also mit deren Präsenz. Dem gegenüber steht die Auffassung von Müller, die Beutelordnung habe „das städtische Frauenhaus“ (vgl. Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, Leipzig 21911, S.  163 Anm.  1; vgl. 210) abgeschafft; vgl. zur Beutelordnung außer WA 59, S.  63 die Edition von Karl Pallas, Die Wittenberger Beutelordnung von 1521 und ihr Verhältnis zu der Einrichtung des Gemeinen Kastens im Januar 1522, in: ZKGPrSa, Bd.  12, 1915, S.  1–45; 100–137; Bd.  13, 1916, S.  1–12; ältere Ausgabe in: Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  2, Leipzig 1905, 2. unveränd. Auflage Nieuwkoop 1968, Anlage Nr.  13, S.  559–561. In der Züricher Ehegerichtsordnung (1525) wurde die als Hindernis der Ehe betrachtete „hury“ [= Hurerei] „gebannet“, CR 91 [= Z 4], S.  187, 4 f.; zum Kontext: Walther Köhler, Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium, Bd.  1 [QASRG 10], Leipzig 1932, S.  75; 142 ff.; Gottfried W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen, Zürich 1979, S.  154 f.; vgl. allgemein: Schuster, Frauenhaus, wie Anm.  5, S.  189 ff. 11   Charakteristisch ist etwa die Behandlung der Prostitution in einer Artikelliste, die im Vorfelde der Januarordnung von 1522 (s. Anm.  10) „einer gemayn zu Wittenberg dem Rath fürgehalten“ (Müller, Wittenberger Bewegung, wie Anm.  10, S.  161) wurde. Darin heißt es: „Der sechst [sc. Artikel], hurheuser, die in der statt vil sein, es sey unter den Studenten, Pfaffen, Burgern, Haußleuten ec. offentlich hurerey halten, ein stetz straffen, außtilgen und abthun, unangesehn, das sy unter dem Rector oder Bischoffe gehören.“ Müller, a.a.O., S.  163. 12   Zum Papsttum als Hure vgl. nur WA 47, S.  510,18; WA 8, S.  524,13; WA 22, S.  59,2; WA 28, S.  25,24; WA 30/3, S.  340,9; WA 34/1, S.  372,14; WA 51, S.  56,14 u. ö. 13  Vgl. nur: Peter Schulthess/Ruedi Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Düsseldorf, Zürich 22002, S.  140 ff.; Jan Rohls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, S.  190 ff.; 222 ff.; Bengt Hägglund, Theologie und Philosophie bei Luther und in der occamistischen Tradition [LUA N. F. 1, 51, Nr.  4], Lund 1955.

2.  Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft bei Luther

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Stellen, an denen Luther von der Vernunft als Hure spricht, gesichtet. Ein erster Beleg stammt aus einer im Jahre 1521 gehaltenen Genesispredigt. Hier markiert die Rede von der „doll, blindt huer, die vernunfft, welche mit dem Teuffel buleth“14, den Inbegriff des der göttlichen Kondeszendenz entgegengesetzten menschlichen Strebens nach Höherem. Während Gott das Niedrige ansieht, richten sich die Augen der Menschen nur auf das, „daß do weiß ist, vernunfftig, gelehrtt, gunstig, reich, schön und waß der gleichen ist.“15 In der Metapher von der „Hure Vernunft“ verdichtet sich also die epistemische Totalkorruption der menschlichen Erkenntnisfähigkeit infolge der Sünde. Eine etwas andere Pointe hat die Rede von der „kluge[n] hure“, der „naturliche[n] vernunfft“16, in Luthers Schrift Vom ehelichen Leben (1522). Hier repräsentiert sie eine Haltung der verantwortungsscheuen Bequemlichkeit, die das leichte Leben der Ehelosigkeit der Mühsal des Ehestandes und die äußere Freiheit der Gefangenschaft in Pflichterfüllung vorzieht: „‚Acht solt ich das Kind wiegen‘“ fragt sich die kluge Hure, die natürliche Vernunft, „‚die Windel waschen, bette machen, stanck riechen, die nacht wachen, seyns schreiens wartten, seyn grindt und blattern heylen, danach des weybs pflegen, sie erneeren, erbeytten, hie sorgen, da sorgen, hie thun da thun [.  .  .]‘“?17 Die kluge Hure folgt dem Rat der Heiden und wählt das Zölibat, das wegen seines Eigennutzes als geistliche Hurerei erscheint. In einer weiteren Genesispredigt aus einem Folgejahr (1523/4) sprach Luther dann davon, dass Gott selbst es sei, der die „tolle hure“, die „nerrische vornunfft“18, dadurch „klug“ machen wolle, dass er ihr „nerrische wergk“19 wie etwa die Speisegeschichte über Jakob und Esau vor Augen führe. Denn gerade die Narrheit der Schrift sei es, die gemäß der paulinischen Inversionslogik (1. Kor 1,18 ff.) die Weisheit der Welt ‚überführe‘.20 Die An14

  WA 9, S.  559,28 f.   WA 9, S.  559,15 f. 16   WA 10/2, S.  295,16. 17   WA 10/2, S.  295,18–21. 18   WA 14, S.  335,29 (Z.  8 : „tolle hur“). 19   WA 14, S.  335,30. 20   Luther führte den Gedanken mit der persönlichen Erinnerung ein, auch ihm seien die „tam multa verba et simplicia Moses“ einst, als er ein weiser Doktor („cum essem doctor prudens“) war, anstößig gewesen (WA 14, S.  335,2 f.). Der Zustand der Klugheit „ehr ich ein narr ward“ stellte sich folgendermaßen dar: „ich mainet, es hetts ein schuster mit seinem knecht geredtt den dy schrifft redett nit mit mir, drumb bilde ich nichts darvon, szo thut alle vornunfft, so thuen alle, die mit ungewaßchenen fueßen, mit stiffeln in die Bibel fahren [.  .  .].“ S.  335,17–20. Die Stelle bezeugt, dass die Äußerungen über seine ungewöhnlich frühe und intensive Beschäftigung mit der Bibel (vgl. einige einschlägige Belege oben I, §  3, Anm.  80 ff.) mit der Anwendung von Wandlungs- oder Umbruchmetaphern („ehr ich ein narr ward“, S.  335,17) kombiniert werden können, mithin das Problem von ‚Kontinuität‘ und ‚Umbruch‘ in Bezug auf Luther in seinen Selbstdeutungen bzw. -stilisierungen angelegt ist. Dies scheint in der einschlägigen Debatte nicht immer im Blick zu sein, vgl. zuletzt: Berndt Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe [SMHR 39], Tübingen 2007, S.  111–152 (neuerlich noch einmal gedruckt in: Athina Lexutt/Volker Mantey/Volkmar Ortmann [Hg.], Reformation und Mönchthum [SMHR 43], Tübingen 2008, S.  103–143 und in: Ders., Der frühe Luther, Tübingen 2010, S.  25–64). 15

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

rede durch die Heilige Schrift sei eine der Weisen, mit denen die „tolle Hure“ Vernunft ihrer Narrheit überführt werde. Im Zusammenhang einer Auslegung der Aeropagperikope (Apg 17) aus dem Jahre 1524 klingt noch eine andere Tendenz in der Verwendung der Hurenmetapher für die Vernunft an. Nach einer knappen Vorstellung der verschiedenen philosophischen „sectae“21 in Athen, den Epikureern, Stoikern, Platonikern und Aristotelikern22, stellte Luther fest, dass Gott dieser Stadt bewiesen habe, was die menschliche Vernunft vermöge.23 In Hinblick auf den großen Eindruck, den die menschliche Vernunft auf dem athenischen Marktplatz der Eitelkeiten zu machen versuche, „richt sich’s erger auss quam huren und buben“24. Der Vergleichspunkt zwischen der Vernunft und der Hure besteht hier also im werbenden ‚Für-sich-Einnehmen‘. Im Verhältnis zu Gott aber strebe die „tolle Hure, die Vernunfft“ danach, „etwas [zu] verdienen“25 und trete damit in einen unvermittelbaren Gegensatz zum Glauben, der empfange und gerade deshalb allein vor Gott gelte. In der Auseinandersetzung mit Karlstadts ‚rationali­ sierender‘ Bestreitung der leiblichen Gegenwart Christi in den Elementen des Abendmahls spitzte Luther die auf die Vernunft bezogene Semantik der Hurerei dämono­ logisch zu: Karlstadts Lehre, so formulierte er in Wider die himmlischen Propheten, biete nichts anderes als „was frau hulde, die natürliche vernunfft, zu diesen sachen sagt“26 ; dies aber sei in höchstem Maße verwerflich, da die Vernunft als „teuffels hure“ bzw. „ertz hure“ und „teuffelsbraut“27 alles, was Gott rede und tue, verlästere und schmähe, also notorisch widergöttlich agiere. Frau Hulda bzw. Holle28, die 21

  WA 15, S.  631,9.   Dabei erscheint Aristoteles gegenüber Platon als Inbegriff menschlicher Vernunft: „Aristoteles est multo sapientior et Plato stultitior.“ WA 15, S.  641,15 f. Zu Luthers komplexer Auseinandersetzung mit Aristoteles umfassend: Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie [ThB 105], Berlin, New York 2001; Rohls, Philosophie, wie Anm.  13, S.  269 ff.; Philippe Büttgen, Luther et la philosophie, Paris 2011, S.  53–86. 23   WA 15, S.  631,21 ff. 24   WA 15, S.  631,24. 25   WA 16, S.  111,24–26 (Dez. 1524). Ähnlich in einer Predigt von Febr. 1525: „Das ist die vernunfft, die tolle hur, die wyr auffmutzen, ut cum deo posset agere.“ (WA 17/1, S.  58,32). In einer Überlieferungsvariante heißt es: „Rationem, quam sie so hoch auff blasen, quod possit se praeparare ad deum [.  .  .].“ A.a.O., Z.  16 f. 26   WA 18, S.  164,24 f.; ähnlich in Bezug auf die „Rottengeister“ WATr 6, Nr.  6889, S.  252,28–34; weitere Belege für Frau Hulda: WA 10/1, S.  326,16; WA 18, S.  182,11.30; 183,7; 185,8; 200,20 ff.; WA 24, S.  516,22; WA 26, S.  462,38; WA 29, S.  474,27; WA 45, S.  453,21; WATr 6, S.  251,34. 27   WA 18, S.  164,26 f.; zur historischen Bedeutung von Wider die himmlischen Propheten für die reformatorischen Auseinandersetzungen vgl. nur: Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2, Stuttgart 1986, S.  165 ff.; Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  223 ff. Die Schrift Wider die himmlischen Propheten war durch Karlstadts „Publikationsoffensive“ des Herbstes 1524 (vgl. Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990, S.  101) veranlasst. 28   WA 10/1, S.  326 Anm.  3 ; vgl. Marianne Rumpf, Art. Frau Holle, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd.  5, Berlin, New York 1987, S.  159–168. Gelegentlich begegnet bei Luther auch die Bezeichnung als „Jungfrau hulde“ (WA 29, S.  474,11). Angesichts dessen, dass er neben dem kontradiktorischen Gegensatz von Jungfrau und Hure (vgl. etwa WA 10/2, S.  247,23; WA 30/2, S.  521,15 f.; WA 22

2.  Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft bei Luther

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Hexe und Buhlerin des Teufels29, also eine der dämonischen, gottwidrigen Sphäre angehörige Personifikation, bediene sich des „naturlich licht“, der „vernunfft“, des „freyen willen[s]“, der „naturlichen krefft“30, schließlich heidnischer Bücher und Menschenlehren, um ihren Widerspruch gegen Gott zu vertreten und ihr mit Ari­ stoteles fundiertes „Cain[s] werck“31 aufzurichten, das in nichts anderem als darin bestehe, die guten Werke zur Grundlage der göttlichen Anerkennung zu machen.32 Insofern bildete die Rechtfertigung allein aus Glauben, allein aus Gnade, den noetischen Grund und das theologische Kriterium, von dem her Luthers Kritik an der Vernunft ansetzte. Gott handle gegen die Erwartungen der Vernunft, etwa indem er die Erfüllung der Nachkommenschaftsverheißung in Abrahams hohes Alter verlege, „das er uns zu narren mache, das die hur die vernunfft stillschweige und lasse yhr urteyl stehen.“33 Der Weg göttlichen Heils- und Offenbarungshandelns diskreditiere die Vernunft und demonstriere die Korruptheit und Anmaßung der Hure. Denn die Vernunft sei an äußerliche Maßstäbe gebunden und versage nicht nur in Bezug auf Gott, sondern auch in Hinblick auf den Menschen. Sie sehe einen grauen Rock und opera externa und folgere daraus einen gottgemäßen Lebenswandel. Die Erkenntnis aber, dass solche Werke „weyt von got seyn“34, sei der Vernunft als Vernunft nicht möglich; sie verdanke sich allein dem Worte Gottes.35 Die Vernunft vermöge die Freude und den Gewissensfrieden, den Christus schenke, nicht zu erfassen.36 Ihrer eigenen Verderbtheit inne zu werden, sei die Vernunft nicht fähig; auch erkenne sie nicht, was der 47, S.  511,28; 791,21 f.) die paradoxen Begriffsverbindungen der „hurischen iungfrawe[n]“ bzw. „iungfrauliche[n] hure[n]“ (WA 38, S.  586,21 f.) als Beispiele eines „Oppositum in adiecto“ anführt, dürfte „Jungfrau Hulda“ soviel wie diaboli sponsa [s. u. Anm.  43] meinen. 29  Vgl. Jörg Hausstein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen [MKHS 2], Stuttgart u. a. 1990, S.  34; 180; vgl. zum Kontext: Lyndal Roper, Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung, München 2007, S.  120 ff.; 220 ff. 30   WA 10/1, S.  324, 1–3. 31   WA 10/1, S.  326,16; 327,5. 32   „Denn alßo hatt Aristoteles geleret; wer viel gutts thutt, der wirt dadurch gutt, darauff hafftet sie fest, und alßo keret sie [sc. Frau Hulda] die schrifft umb, meynett, Gott soll die werck tzuvor ansehen und darnach die person. Solch teufflisch lere regiern itzt ynn allen hohen schulen, stifften und klostern unnd sind allesampt eyttel Caynsche heyligen, die gott nitt ansihet.“ WA 10/1, S.  327, 6–10. 33   WA 24, S.  428,16 f. (Genesispredigten 1527). 34   WA 34/2, S.  44,28 (Predigt Juli 1531). 35   „Das heyst kurcz umb eyn gutter baum: der, der do lebt und noch gotes wort und werk, sicut in fine auditis, quando plures fecerunt miracula und syndt dennoch nicht. Ergo oportet hic racionem claudere et iudicare secundum verbum, si voluerit hominem iudicare, Et sciat, was got selbst eyn guten baum und frucht heyst, Racio inspicit griseam tunicam et externa opera. Den sie kundts nicht besser welen, wen sie hoch kumpt, concludit: wer eyn ander leben erwelet, maior est in regno dei. Szo ist sie gefangen: sie sihet nicht, die tolle hure, das solche werk weyt von got seyn.“ WA 34/2, S.  44,20–28. 36   „Ratio hoc gaudium non intelligit, sed videt ante in tristiciam.“ (WA 46, S.  515,28 f. [Predigten Nov. 1538]). In einer Überlieferungsvariante heißt es: „Ratio dicat: Es perditus. Sed recordabor vulnerum i. e. halten in den freud, quae non rationis et cogitationis meae [.  .  .], nicht der schonen hure gewalt freude, sed ‚in domino‘.“ A.a.O. S.  515,9–12.

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

Mensch sei.37 Während Missetaten wie Wucher, Sauferei, Ehebruch, Mord und Totschlag auch der „welt“ als „sünde“38 erkennbar seien, blieben die Vergehen der „Teuffels Braut Ratio“, der „schöne[n] Metze“39, unsichtbar und könnten deshalb von niemandem außer Gott selbst gerichtet werden.40 Gegen die Anziehungskraft der „schöne[n]“, doch „schedliche[n] hure“, die „uber die massen fein gleisset“41, setzt Luther auf die katechetischen Gewissheiten des „kinder glauben[s]“42 : „Ich gleube in Jhesum Christum [.  .  .], denn alleine von Christo wirt gesagt: ‚Sihe das Lamb GOTTES [.  .  .]‘. Darumb sol ich bey dem Kinder glauben bleiben, da kan ich mich der vernunfft erwehren, wenn die widderteuffer geifferen: Die Tauff ist wasser, was kans aussrichten? O der Geist mus es thun. Hörestu es, du schebichte, auffsetzige hure, du heilige vernunfft, das geschrieben steht: ‚Diesen höret‘, der da sagt: ‚gehet hin und teuffet alle Heiden‘ [.  .  .].“43 Die Positivität des autoritativen biblischen Wortes bildet für den Wittenberger das erkenntnistheoretische fundamentum inconcussum, auf dem der Glaube angesichts der suggestiven Einwände der Vernunft allein zu bestehen vermag. Da die Hure Vernunft vom Teufel, dem Vater aller Ehrlosigkeit, gezeugt ist und ihr vornehmstes Ziel darin besteht, Zweifel zu säen und die Grundlagen des Glaubens zu erschüttern, kann jede ihr zugeschriebene Ehre nur angemaßt sein, ist jeder Ausgleich mit ihr per se unmöglich. Aussagen über die ‚Teufelshure Vernunft‘ begegnen vornehmlich in Predigten Luthers, was darauf hindeutet, dass er dem metaphorischen Sprachgebrauch ein besonderes Veranschaulichungspotenzial in Bezug auf Adressaten bzw. Rezipienten zuschrieb, die nicht unbedingt zu den intellektuellen Exponenten des zeitgenössischen Wissenssystems gehörten. Allerdings begegnet der Zusammenhang zwischen der ratio humana und dem Teufel als seiner „sponsa“44 (eig.: Braut) und die Rede von der 37

  „Aber pfui dich an, du schendliche hur (Ich meine unser vernunfft), können wir doch uns selbst nicht recht kennen, was wir sind.“ WA 52, S.  336,5 f. (Hauspostille 1544). 38   WA 51, S.  126,28 f. 39   A.a.O., S.  126,29. 40   „Wucherey, seufferey, ehebruch, mord, todschlag etc., die kann man mercken, und verstehet auch die welt, das sie sünde sein, Aber des Teuffels Braut Ratio, die schöne Metze, feret herein und wil klug sein, und was sie sagt, meinet sie, es sey der heilig Geist, wer wil da helffen? wedder Jurist, Medicus, noch König odder Keyser, Denn es ist die höchste Hure, die der Teuffel hat, Die andern groben sünde sihet man, aber die vornunfft kann niemand richten, die feret daher, richtet schwermerey an mit der Tauff, Abendmal, meinet, alles, was ihr einfelt, und der Teuffel ins hertz gibt, sol der heilig Geist sein [.  .  .].“ A.a.O., Z.  27–35. 41   A.a.O., S.  129,20 f. 42   A.a.O., S.  129,21. 43   A.a.O., S.  129,22–31. 44   „In ista caecitate fuimus, qui audivimus ista, sed ratio est diaboli sponsa, quae excogitat aliquid sonderlichs, quia nescit, quid sit diligere deum sed cogitat: si eligo opus, quod mihi placet, et deo placet ec.“ WA 34/2, S.  313,2–5 (Predigten Okt. 1531); vgl. WA 47, S.  474,33 f.; S.  842,16.f.; ohne nähere Charakterisierung wird der Zusammenhang von „ratio“ und „sathan“ betont: WA 31/1, S.  152,14; 228,14; WA 34/1, S.  205,2 f. (Satan und ratio sträuben sich gegen die Sündenvergebung ohne Werke); WA 34/2, S.  49,15; WA 36, S.  7,19; WA 37, S.  73,22; 242,16; 243,12. In der Praefatio zur Disputation über Joh 1,14 konfrontiert Luther doctrina nostra und fides auf der einen, ratio nostra und diabolus noster auf der anderen Seite, WA 39/2, S.  6,19 f.; vgl. WA 40/2, S.  355,12; 459,6; 560,8 f.;

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ratio als meretrix caeca (blinde Hure) 45 auch in lateinischen Texten des Reformators immer wieder einmal. Christsein kann von Luther geradezu durch das Wissen definiert werden, die Vernunft und den Teufel gegen sich zu haben.46 Zur Verführungskraft der Vernunft in Bezug auf die Religion gehöre ihr Erfindungsreichtum entscheidend hinzu; denn unablässig suche sie, dem von Gott gewiesenen Pfad des Glaubens ausweichend, nach neuen Möglichkeiten und Inszenierungsformen der Gottesverehrung.47 Insofern besteht die Differenz zwischen Luthers Verständnis des christlichen Glaubens und den nicht-christlichen Religionen in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur Vernunft: „[.  .  .] quia Christiana fides mus ausserhalb der rationem sthen, quia Turcarum, Iudaeorum et Tartarorum fides stet in der vernunfft. Quod deum esse oportet, norunt etiam Turcae, gentes olim Ro. 1[,19].“48 Wo sich Gottes Heil, das Evangelium, der Glaube, durchsetzten wollen, muss die törichte Hure Vernunft weichen.49 Hinsichtlich des quantitativen Befundes dürfte unstrittig sein, dass die unter dem Vorzeichen der Sünde stehenden apodiktischen Negativurteile über die Blindheit, Bosheit und Fleischlichkeit der Vernunft bei Luther diejenigen über ihre Würde und Unverzichtbarkeit weit überragen. Am spezifisch theologischen, d. h. in Bezug auf WA 42 S.  526,18 f.; WA 43, S.  580,13 f.; WA 47, S.  696,18 f.; 841,12 f. Der Satan bringt die Vernunft in seinen Bann, indem er sich in einen Engel des Lichts verwandelt und mit der Bibel argumentiert, WA 47, S.  846,18–20; vgl. WA 16, S.  602,3 f.; WA 15, S.  429,12 f. Die Gewalt des Satans über die ratio währt, bis Christus kommt, vgl. WA 20, S.  304,32 ff.; WA 24, S.  85,5 ff.; WA 29, S.  365,7–9; WA 34/2, S.  167,9–11. 45   „Ratio meretrix caeca haec [sc. dass es auch bei den Erzvätern auf Wort und Glaube ankam] non intelligit, sed prescribit deo dicens ‚Hoc iustum est, illud non‘.“ WA 14, S.  232,27–29 (Genesispredigten 1523/4). Ähnlich WA 20, S.  586,13 f., wo es von der ratio als meretrix heißt, dass sie sich immer selber schinden will, d. h. notorisch im Gegensatz zur Rechtfertigung aufgrund der fremden Gnade Christi steht. 46   „Ita Christianus sciat se non racionem, sed ipsum sathanam contra se habere.“ WA 34/2, S.  363,25. „Ratio est plena diabolis et nihil agit, quam ut homines abducat a fide [.  .  .].“ WA 46, S.  393,7 f. 47   „Meretrix ratio semper aliquid novi molitur, quo deum vult colere.“ WA 14, S.  593,5 f. Als Beispiel führt Luther dann die Frömmigkeitspraxis der Bettelorden an, a.a.O., S.  593,6 f. 48   WA 34/2, S.  151,21–152,2 (Predigten August 1531); vgl. WA 18, S.  80,18 f. In seiner Vorrede zu dem höchst einflussreichen Werk des „Georgius“ genannten Siebenbürgeners (vgl. Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008, s.v.; s. auch oben I, §  4, Anm.  11 ff.) betonte Luther, dass die „türkische“ der christlichen Religion in Bezug auf leges, mores, ceremoniae – kurz: ‚Religion‘, d. h. Frömmigkeit – mühelos überlegen sei, dass sich die Seligkeit aber allein im Verhältnis zu den christlichen Heilslehren entscheide. Gerade in der Herausforderung durch die Türken „in vicino“ (WA 30/2, S.  207,24) seien die Christen daran zu erinnern, Glauben nicht mit Sitten zu verwechseln, „[s]ed discant [sc. die Christen] religionem Christi aliud esse quam ceremonias et mores [.  .  .].“ WA 30/2, S.  207,27 f. Gerade auf dem Feld der Sitten und der Riten sei die türkische der päpstlichen Religion unendlich überlegen, a.a.O. S.  206,3 ff. In der ‚Rationalität‘ der „türkischen Religion“ wird für Luther das Wirken des Teufels fassbar. 49   „Dei voluntas non secundum opera nostra metienda est, sed voluntas nostra et opera voluntati et Verbo Dei obtemperare debent. Stulta meretrix ratio hic debet confundi et cedere.“ WA 24, S.  449,2–5 (Genesispredigten 1527). Wenn es ums Heil geht, muss die sich als „domina Ratio“ (WA 18, S.  674,13; 729,7) aufspielende Vernunft zur serva werden!

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

das Gottesverhältnis profilierten Charakter der Vernunftkritik und am philosophischen, d. h. das Gottesverhältnis und die Weltverantwortung des Menschen betreffenden Zuschnitt des Vernunftlobes konkretisieren sich die figurativen Unterscheidungsrelationen von Gesetz und Evangelium, Glauben und Wissen, Christenheit und Welt. Blind sei die durch die Erbsünde korrumpierte Vernunft, die sich ausschließlich im Horizont des Gesetzes zu bewegen50 vermöge, etwa in Bezug auf alle Fragen der trinitarischen Gotteserkenntnis51, aber auch in Hinblick auf die durch die lex naturae eingeschriebene ‚goldene Regel‘52 oder hinsichtlich der Einsicht in eine angemessene Bestrafung für die Sünden.53 Blind sei die ratio sodann in Bezug auf die Schöpfungserkenntnis; die „tolle nerrin“ Vernunft „stecht mitten im gottswerck et tamen nescit“54 ; sie vermöge zwischen Sein und Schein nicht angemessen zu unterscheiden und nehme die ‚Maske‘ von etwas für die Sache selbst.55 Ihre mangelnde Urteilskraft führe die blinde Vernunft dazu, Gottes Werke völlig falsch einzuschätzen und diejenigen hochzuachten, die Gott gering geachtet wissen will; in Bezug auf die Erkenntnis Christi56, insbesondere seiner Gottheit57 und seines Versöhnungswerkes58, versage die Vernunft völlig. Im Vergleich mit der durch den Heiligen Geist eröffneten performativen Glaubenserkenntnis, die schaffe, was sie bein50   Vgl. dazu Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont [BHTh 86], Tübingen 1994, S.  209–211; WA 18, S.  677,7 ff.; WA 40/1, S.  562,5: „Ratio facit Christum legislatorem.“ 51   „Hic [sc. in Bezug auf das Verhältnis von göttlichem Wesen und Personalität] enim ratio corrupta originali peccato captivanda, imo exstinguenda est cum sua luce et sapientia in obsequium fidei.“ WA 39/2, S.  253,9 f.; WA 36, S.  2,24–26; WA 40/2, S.  348,30–32. 52   „Tametsi enim omnes homines ‚notitiam quandam naturalem habeant, animis ipsorum insitam‘, qua naturaliter sentiunt alteri faciendum esse, quod quis velit sibi fieri (Quae sententia et similes, quas legem naturae vocamus, sunt fundamentum humani iuris et omnium bonorum operum), tamen adeo corrupta et caeca est vitio diaboli humana ratio, ut illam cognitionem secum natam non intelligat aut, si etiam admonita verbo Dei intelligat, tamen scienter [.  .  .] eam negligat et contemnat [.  .  .].“ WA 40/2, S.  66,34–67,14. 53   „Ratio sic corrupta, ut poenas illas peccati non possit aequo animo ferre. Ideo appetit ea, quae suavia, laeta et iucunda sunt: crucem autem et molestias fugit.“ WA 43, S.  559,33–35. 54   WA 12, S.  667,15 (Predigten 1523); vgl. WA 4, S.  314,8 f. „Sic ratio ceca non potest fructus agnoscere, quos deus ordinavit.“ WA 34/2, S.  41,16 f.; vgl. WA 39/2, S.  345,4 ff. 55   WA 10/3, S.  431,10 ff. 56   „natura et caeca ratio, quae opera dei vult ermessen, et hoc ducit sanctum, quod deus malum ec. Interim Christum non cognoscunt et regnum eius neque incipiunt accedere Christum, nisi cognoscant errorem suum.“ WA 11, S.  100,16–19 (Predigten 1523). Das Versagen der Vernunft ist insbesondere in Bezug auf die Rechtfertigungserkenntnis evident: „Et hoc facit ceca ratio, quae respicit saltem opera. Grave igitur est zu weren der blinden rationi, quae non credit Christum adesse, nisi opera mirabiliter adsint, sed dominus potens est se occultare.“ WA 15, S.  660,4–7; vgl. WA 17/1, S.  151,27 ff.; WA 20, S.  236,23–237,4; WA 31/2, S.  276,22 f.; WA 34/1, S.  149,1–3. 57   WA 11, S.  226,21–23; vgl. WA 26, S.  41,16 ff.; WA 29, S.  290,3 ff.; WA 31, S.  506,21 ff.; WA 36, S.  49,3 ff. „Ratio enim non intelligit eum qui apparet pauperrimus et miserrimus servus, esse Regem.“ WA 40/2, S.  659,19 f.; vgl. WA 45, S.  250,2 f.; vgl. WA 47, S.  635,24 ff.; WA 49, S.  197,30 ff.; 626,16 ff. 58   „At ceca humana ratio neque credere neque ferre potest unam Christi mortem nobis conferre iustitiam.“ WA 27, S.  172,36–173,19; vgl. WA 23, S.  730,14 f.; WA 25, S.  412,33 ff.; WA 27, S.  332,29– 31; WA 37, S.  326,12 f.; WA 41, S.  418,20 ff.

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halte, bleibe die Vernunft in sich selbst gefangen.59 Ihre Urteilskraft versage nicht nur in Bezug auf die Glaubenslehre, sondern auch in Hinblick auf das Leben und die Werke total.60 Dass der heilige, reine Gott um der Sünde willen Mensch wurde, sei der Vernunft schlechterdings unbegreiflich.61 Vernunft und Teufel versuchten zu verhindern, dass Christus ins Herz einziehe.62 Dass wir allein aus Gnaden gerettet werden, sei der ratio humana zutiefst anstößig.63 Die Vernunft und die ihr folgenden Juden machten deshalb aus Christus ein „ungeheuer“64. Die Notwendigkeit der Offenbarung ergebe sich also aus der Beschaffenheit der Vernunft post lapsum.65 Der Imperativ des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens lautet daher: Verzichte auf die Vernunft und werde ein Narr! 66 Die Bosheit und Fleischlichkeit der Vernunft kommt für Luther vor allem darin zum Ausdruck, dass sie in Christus nichts als das Ihre sucht.67 Denn „Fleisch“ sei der Inbegriff dessen, was der Mensch ist, will, vermag und begreift68 ; gerade in Bezug auf die zugleich fleischliche und vernünftige Verfasstheit des Menschen aber gelte, dass sie Gott gegenüber feindlich gesinnt sei.69 Sich ans Wort des Evangeliums zu halten, bedeute, dass Vernunft, Fleisch und Blut stillschwiegen und jedes Vertrauen auf sich 59   WA 20, S.  499,4 ff.; 622,33 (Zusammenhang von caro und ratio caeca); vgl. WA 11, S.  74,17; WA 36, S.  2,24–26; WA 40/2, S.  348,30–32. 60   „Adeo incomprehensibilis et infinita est caecitas humanae rationis, ut non solum de doctrina fidei sed etiam de vita et operibus rite iudicare non possit.“ WA 40/2, S.  71,32–34; vgl. WA 20, S.  400,19; WA 28, S.  53,19 ff. 61   „Mundus plenus libris, Sed nihil de illa doctrina, quia ratio non intelligit, quod deus sanctus purus fiat homo et mea peccata ferat et satisfaciat pro eis.“ WA 45, S.  63,8–10; vgl. WA 9, S.  517,18– 20; WA 11, S.  108,22 ff.; WA 15, S.  570,15 ff.; WA 23, S.  734,36 ff.; WA 29, S.  401,25 f.; WA 32, S.  258,3 f.; WA 37, S.  366,4 ff.; 407,4 ff.; 484,8 ff. 62   „Angelus prius praedixit, postea venit Maria et vocat, et postea praedicatum per orbem terrarum, et tamen ego kans nicht ins cor bringen, quod sit Iesus, quia ratio kempfft und streit et non vult hoc nomen lassen faren.“ WA 36, S.  4,1–4; vgl. 49,3 f.; 409,29 ff. 63   „[.  .  .] quod Christum Dei filium hominem natum, passum, resuscitatumque difficilius creditu est, utpote res, quae humana ratione percipi non potest, quam quod ex gratia salvemur.“ WA 39/1, S.  54,28–30. 64   WA 45, S.  359,26.28; zu Luthers Polemik gegen die jüdische Nichtanerkennung der messianischen Weissagungen des Alten Testaments vgl. Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 22013, bes. S.  81 ff. 65   „In divinitate tota essentia, natura gehet in Son, eandem naturam, maiestatem habet filius et Spiritus sanctus, quam pater. Das mus man glauben. Qui vult ratione erstreiten ec. Si posset ratio adsequi, so dürffts Got nicht e coelo revelare.“ WA 47, S.  628,13–16. 66   „Claude ergo rationem et werde ein Narr.“ WA 47, S.  634,4; vgl. WA 27, S.  187,18 f.; WA 29, S.  86,14. 67   „Adeo carnalis ratio hominis nihil in Christo nisi sua querit et tantum ventris conpendium captat, cum Christus longe aliud querat, Nempe salutem animae quae contingit per fidem.“ WA 29, S.  94,23–26 (Predigt März 1529). 68   „Caro heist hie als was der mensch ist, ratio, krafft, und macht, quicquid homo potest facere.“ WA 29, S.  35,8 f. 69   „[.  .  .] caro et ratio inimica est Deo.“ WA 24, S.  136,2 (Genesispredigten 1527). Caro und ratio sind untereinander verbunden: „Dein caro, sanguis et ratio adest.“ WA 15, S.  776,3 f.; vgl. 797,3 f.; WA 19, S.  492,2; WA 25, S.  69,17 f.; WA 27, S.  457,31 ff.; WA 29, S.  40,1–3; WA 31/2, S.  171,22–24.

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fahren ließen.70 Das Wesen des biblischen Offenbarungswortes bestehe geradezu darin, die menschliche Vernunft und ihren fleischlichen Sinn zu verwirren.71 Da die ratio für Luther in theologischer Perspektive dasjenige am Menschen ist, was Gott gegenüber am allerfeindseligsten genannt zu werden verdient72, kommt dem vernünftigen Gottesgedanken keine dem in Christus sich offenbarenden Gott irgendwie entsprechende Qualität zu: „Non kan Got ergreiffen per rationem.“73 Obschon also die Vernunft eine hervorragende göttliche Schöpfungsgabe sei74, erweise sie sich in Bezug auf alles, was Gott und die Seele angehe, als nichtig.75 Denn sich Gott mittels der Vernunft nähern zu wollen, bedeute, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen und gerade so den wahren Gott zu verfehlen.76 Dies freilich liege im Wesen der Vernunft und ihrem Universalitätsanspruch begründet; denn in Bezug auf Gott träfen die coram hominibus gültigen Maßstäbe nicht nur nicht zu – sie widersprächen ihm.77 Wenn der wahre und eine Gott aber für die Vernunft unerreichbar und unfassbar sei, dann gelte dies auch von seiner Gerechtigkeit.78 Je intensiver mittels der Vernunft über Gott spekuliert werde, desto ungewisser werde seine Existenz, denn die vom Wort unabhängigen grüblerischen Gedanken seien das Einfallstor des Teufels.79 Got70

  „Die ratio kan sich nicht drein schicken: from sein et tamen nicht fülen, ergo mus ratio, caro et sanguis still schweigen, se captivam dare et cogitare, ut per fidem ergreiffe et expectet per fidem, quod reveletur. Ideo halt man sich ans wort, sonst ist kein radt und hülff, alioqui non capiemus quam per verbum Evangelii [.  .  .].“ WA 34/1, S.  471,6–10. 71   „Ecce, hec scripta sunt, ut confundatur ratio humana et sensus carnis.“ WA 9, S.  500,25 f. 72   „In Theologia itaque sic dicamus rationem in hominibus esse inimicissimam Dei.“ WA 42, S.  108,8 f. (Genesisvorlesung); vgl. WA 11, S.  559,16 f. 73   WA 49, S.  78,18 (Predigt 1540). 74   „Das ist die meinung, das ich gleuben sol, das ich Gotts geschöpffe bin, das er mir geben hat leib, seel, gesunde augen, rationem [.  .  .].“ WA 30/1, S.  87,5–7; vgl. 248,2; 363,3; vgl. WA 36, S.  141,4 f.; WA 44, S.  17,32–34; 77,21 f. 75   „Ideo docet Christus nihil esse rationem in his quae ad animam pertinent et ad deum [.  .  .].“ WA 11, S.  200,31 f. Dies gilt etwa auch in Bezug auf die Erkenntnis der Schöpfertätigkeit: „Ex nihilo facit omnia deus, non ex aliquo, ut putat ratio.“ WA 11, S.  182,20. „Opus creatoris est: quod aliquid est, destruere et ex nihilo aliquid facere. Ratio non capit nec potest dare gloriam deo, quod possit facere, quae promisit etc.“ WA 13, S.  279,15–17. „Ego loquor de rebus spiritualibus: quando videlicet ratio regere hominem vult coram deo, tanto plus peius agit.“ WA 15, S.  631,29–31 (Predigten 1524); vgl. WA 24, S.  18,6; WA 42, S.  X IX,20 f. 76   „Ad deum non venio ratione, non onustus multis operibus bonis: hoc est deo aliud nomen dare, imo illi auferre et dare creaturae, in qua fido et soli deo fidere debui.“ WA 16, S.  49,12–50,2. 77   „Sed statim ratio felt zu et putat coram deo gelten, coram hominibus sols gelten.“ WA 16, S.  211,7 f. Aus der Inkongruenz der Maßstäbe coram deo und coram hominibus ergibt sich, dass der Vernunft lächerlich, also unvernünftig, erscheint, was Gott im Horizont der Offenbarung anordnet, vgl. etwa WA 11, S.  596,23–25; ähnlich WA 17/1, S.  170,2 f.; WA 18, S.  695,22 ff.; 731,2–5 (wenn die Vernunft Gott lobt, zielt sie nur auf ihre eigenen Projektionen von Gott!); „ratio scandalizatur in mirabilibus operibus dei.“ WA 27, S.  2,2 f. 78   „At cum sit Deus verus et unus, deinde totus incomprehensibilis et inaccessibilis humana ratione, par est, imo neccessarium est, ut et iustitia sua sit incomprehensibilis, Sicut Paulus quoque exclamat dicens: O altitudo divitiarum sapientiae et scientiae Dei [Röm 11,33] [.  .  .].“ WA 18, S.  784,11–14. 79   „[.  .  .] yhe lenger ich gedenck, ye weniger de deo i. e. nihil credo de deo. Hoc fit, quando ratione speculatur de deo, der ist verlorn, quia wird yhr [= irre] yn dem steigen und klettern et fit certus, ut

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teserkenntnis bedeutet für Luther also in einem prägnanten Sinne: „gotts wort hören“80 ; denn die Vernunft vermöge nicht über die eher vage Erkenntnis der bloßen Existenz eines in seiner Natur verborgenen Gottes hinauszugelangen81 und sei sogar so unstet, dass sie im Weltenlauf keinen göttlichen gubernator, sondern viele Teufel am Werk sehe.82 So sehr Luther auch den Gegensatz von Evangelium83, Glauben84 und wahrer Lehdicat non esse deum. Sic Paulus Ro. 1 ubi diu de deo speculantur. Quem Satan da hin bringt, das er in mit gedancken furet absque verbo, dem kan niemand raten. Sic fit nostris Schwermeris [.  .  .].“ WA 28, S.  92,1–6 (Predigt 1528). 80   „Cognitio dei: hoc est gotts wort hören, quia alias non potest deus cognosci, at quando dicitur: Ego sum deus tuus, qui baptizavi te, qui misi filium meum ec. Das ist Gott, per hoc verbum discimus eum agnoscere, alias nulla ratio sciret aut intelligeret, das wir einen Gott hetten, si non revelaret se nobis per verbum.“ WA 36, S.  331,4–8. Der Passus ist mehrdeutig, je nachdem, wie man die Sätze aufeinander bezieht. Nimmt man zwischen agnoscere und alias einen Neueinsatz an, ergäbe sich, dass der „Das-Satz“ als Inhalt der Erkenntnis der ratio zu verstehen wäre. Andererseits scheint der „si-Satz“ die Bedingung der Erkenntnis der ratio zu bezeichnen: Ohne Offenbarungswort erkennt die Vernunft die Existenz Gottes nicht. Dass die Vernunft sine revelatione zur Erkenntnis der Existenz Gottes zu gelangen vermag, lässt sich bei Luther auch sonst belegen, vgl. etwa WA 34/1, S.  499,1; WA 40/2, S.  586,9–11; das ändert freilich nichts daran, dass die Erkenntnis der „nuda divinitas“ (WA 39/1, S.  389,11; Kasus geändert, Th. K.) durch die humana ratio „sine Christo mediatore“ (389,10 f.) gefährlich (pericolosum, ebd.) ist. Der ‚nackte‘ Gott „in maiestate et natura sua“ (WA 18, S.  685,12 f.) ist ja gerade der verborgene, der der Vernunft zwar als alles bestimmende Wirkursache erkennbar sein mag („Caeterum Deus absconditur in maiestate neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mortem et omnia in omnibus.“ WA 18, S.  685,21–23), aber, da er keinen Umgang mit sich eröffnet, uns nichts angeht, vgl. im Ganzen WA 18, S.  685,1–24; 689,22–690,8; Eberhard Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluß an Luther interpretiert, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch, München 1980, S.  202–251. Freilich ist es die Herrin Vernunft, die gegen die zu fürchtende Willensmacht Gottes Einwände erhebt und dann durch Schriftworte in ihre Schranken gewiesen wird, WA 18, S.  690,9 ff. Dass Gott der alles in allem Wirkende ist, ist der Vernunft erkennbar, vgl. WA 18, S.  709,10 f.; 718,19 f. 81   „[.  .  .] ratio nihil possit certi de Deo et operibus Dei statuere sed tantum rationes contra rationes fingit neque quicquam perfecte aut solide docet.“ WA 42, S.  53,26–28. Da Gott Zeichen wie die Beschneidung gegeben hat, ist „etiam gentibus“ (WA 42, S.  624,38) die Möglichkeit der Gottes­ erkenntnis eröffnet. Freilich gilt: „Nam ratio humana non potest Deum invenire, nisi talia signa ab ipso Deo instituta nos quasi manuducant.“ WA 42, S.  624,40–625,1. Die Vernunft fragt also nach Gott, bewegt sich aber in unendlichen Irrungen: „Ratio enim quaerit Deum, et vagatur per infinitos errores suorum studiorum, ut eum inveniat.“ WA 42, S.  652,5 f.; vgl. WA 43, S.  239,20 ff. 82   Vgl. etwa im Zusammenhang von Anfechtungserfahrungen: „In morte terrentur etiam pii, et Christus propter nos in horto. Si pereunt uxor, liberi, ut possit dicere: Hoc placet, tua voluntas facit. Ratio dicit: puto non esse deum, sed meros diabolos gubernare.“ WA 46, S.  115,6–8. Die Vernunft weiß nichts von der Güte der Anfechtungen, vgl. WA 31/2, S.  152,14. 83   „Evangelium et ratio contraria sunt. Ratio quanto prudentior est tanto plus adversatur Evangelio. Evangelium dicit omnia nihili esse opera. Ratio illud patitur minime.“ WA 11, S.  17,18–20; vgl. 216,24–26; vgl. WA 12, S.  644,19 ff.; 669,32 ff.; WA 15, S.  681,25 f.; WA 17/1, S.  272,1 ff.; WA 20, S.  444,16; WA 23, S.  736,26; WA 24, S.  406,5; WA 39/1, S.  122,12; WA 46, S.  214,18. 84   „Haec fides plane est contraria rationi et captui humano.“ WA 31/2, S.  227,14 f.; vgl. WA 34/2, S.  152,1; mit einem Gegensatz zwischen der „logica rationis“ und der „logica fidei“, die Luther gegen die scholastische Argumentation Ecks profilierte, operierte er schon 1518, vgl. WA 1, S.  282,13; vgl. WA 11, S.  141,12; 211,13; WA 12, S.  663,3; WA 15, S.  427,10; WA 18, S.  698,5. Grundlegend zur Sache: Bernhard Lohse, Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers

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re85 auf der einen, Vernunft auf der anderen Seite betonte, und er seinen eigenen theologischen Erkenntnisprozess gelegentlich dadurch beschreiben konnte, dass Gott ihm die Augen der Vernunft geschlossen und dadurch seine Verzweiflung beendet habe86, so offenkundig ist zugleich, dass der Wittenberger seinen religiösen Wahrheitsanspruch etwa vor Kaiser und Reich nicht allein durch Zeugnisse der Schrift, sondern auch durch klare Vernunftgründe87 fundierte, mitnichten also einer theologischen Legitimität der Unvernunft das Wort redete. So wenig die Vernunft dabei ‚autonom‘ gedacht, sondern mit dem Schriftwort untrennbar verbunden war, so deutlich gestand ihr Luther doch – zumal außerhalb der Heilserkenntnis – eine gewichtige Rolle zu. Mit der „ratio evidens“, auf die sich der Wittenberger in Worms berief, war insofern auch die Vernunft coram hominibus seu mundo, oder ihre kritische Bedeutung in Bezug auf die Gotteserkenntnis gemeint, wie sie von ihm in De votis monasticis entfaltet worden war. Denn hier hatte Luther der ratio naturalis zwar abgesprochen, das Licht und die Werke Gottes „per sese“ zu berühren88 und in positiver Hinsicht ein zutreffendes Urteil über Gott zu erlangen, zugleich aber doch betont, dass die Vernunft ein sicheres Urteil „in negativis“89 besitze: „Non enim capit ratio, quid sit deus, certissime tamen capit, quid non sit deus.“90 Auch wenn die Vernunft also nicht erkenne, was vor Gott recht und gut sei, nämlich der Glaube, wisse

[FKDG 8], Göttingen 1958; instruktiv auch: Dietrich Korsch, Theologische Prinzipienfragen, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen 32017, S.  398–408, bes. 404 ff.; Gerhard Ebeling, Fides occidit rationem. Ein Aspekt der theologia crucis in Luthers Auslegung von Gal 3,6, in: Ders., Lutherstudien, Bd.  3, Tübingen 1985, S.  181–222; ders., Lutherstudien, Bd.  2, Disputatio de homine, 2. Teil, Tübingen 1982; Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S.  214–223; Karl-Heinz zur Mühlen, Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken [BHTh 59], Tübingen 1980; ders., Art. Luther II, in: TRE 21, 1991, S.  530–567, hier: 535 ff.; Oswald Bayer, Theologie [HST 1], Gütersloh 1994, S.  35 ff.; ders., Martin Luther’s Theology, Grand Rapids, Cam­ bridge 2008, S.  15 ff.; Johann Anselm Steiger, Kontrarationalität und neue Rationalität des Glaubens in der Theologie Martin Luthers, in: Wilfried Härle/Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. FS Theo­dor Mahlmann [MThSt 99], Leipzig 2009, S.  23–34. 85   „Omnes enim Christiani sunt docti a deo, quia Christianam doctrinam racio non potest invenire, immo inventam non potest capere, immo illam persequitur, quia non loquitur de apparentibus, sed pocius videntur esse nugae. Omnes sapienciae mundi loquuntur de apparentibus. Haec contra racionem docet de non apparentibus, ideo racio corruit, offenditur.“ WA 31/2, S.  449,19–24. 86   „Et ego Martinus Luther, nisi mihi deus clausisset oculos racionis, dudum obmutuissem prae­ dicacione et desperassem.“ WA 31/2, S.  397,2–4. 87   „Nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente (nam necque Papae neque conciliis solis credo, cum constet eos et erasse sepius et sibiipsis contradixisse), victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscientiam agere neque tutum, neque integrum sit.“ WA 7, S.  383,4–8. Vgl. Kurt-Victor Selge, Capta conscientia in verbis Dei. Luthers Widerrufsverweigerung in Worms, in: Fritz Reuter (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521, Köln 21981, S.  180–207. 88   WA 8, S.  629,25. 89   WA 8, S.  629,26. 90   WA 8, S.  629,26 f.

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sie doch zuverlässig, dass Unglaube, Mord und Ungehorsam böse sind.91 Christus und Paulus bedienten sich der Vernunft, sodass von Luther als axiomatische Grundthese formuliert werden konnte: Was offenkundig der Vernunft entgegensteht, ist um vieles mehr Gott entgegen.92 Insofern eigne der Vernunft eine exzeptionelle Ehrenstellung, die sie über alle Dinge erhebt und zu etwas beinahe Göttlichem mache. Denn sie sei die Erfinderin und Herrscherin über alle Wissenschaften, ja stelle die wesentliche Differenz dar, die den Menschen gegenüber allen anderen geschöpflichen Wirklichkeiten auszeichne und konstituiere.93 Freilich gründen die Urteile über die Ambivalenz der Vernunft, die sie mit der Natur des Menschen gemein hat, darin, dass sie in dem, was sie erkennt, „nicht fe­ ste“94 bleibt. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Möglichkeiten einer natürlichen Gotteserkenntnis. Denn zum einen steht für Luther fest, dass die „naturliche vernunfft bekennen mus, das alles gute von Gott kome. [.  .  .] So weyt reicht das naturlich liecht der vernunfft, das sie Gott für eynen gütigen, gneedigen, barmhertzigen achtet; das ist eyn gross liecht.“95 Zum anderen aber versage die Vernunft bei der Selbstanwendung dieser Erkenntnis: „Aber das er [Gott] wolle oder willig sey, solchs [sc. zu helfen etc.], an yhr auch zu thun, das kan sie nicht [.  .  .].“96 Der Kern ihrer Resistenz gegenüber dem, was sie erkannt hat, gründet mithin in dem Anspruch der menschlichen Vernunft, Gott gegenüber selbstständig sein zu können. Sie erkennt insofern Gott als Schöpfer nicht oder jedenfalls nicht so, dass daraus die einzig angemessene Haltung, die Hingabe, folge, bleibt insofern auf die Wahrnehmung der äußeren Schöpfungswerke fixiert97, insistiert auf ihrem Selbststand gegenüber Gott, 91   „Ita licet non videat [sc. die ratio], quid rectum et bonum sit coram deo (nempe fidem), scit tamen evidenter infidelitatem, homicidia, inoboedientiam esse mala.“ WA 8, S.  629,27–29. 92   „Quod ergo huic rationi evidenter adversatur, certum est a deo multo magis adversari. Quomodo enim coelesti veritati non pugnabit, quod terrenae veritati pugnat?“ WA 8, S.  629,31–33. 93   Vgl. v. a. die einschlägigen Thesen der Disputatio de homine, bes. WA 39/1, S.  175,9–15: „4. Et sane verum est, quod ratio omnium rerum res et caput et prae ceteris rebus huius vitae optimum et divinum quiddam sit. 5. Quae est inventrix et gubernatrix omnium Artium, Medicinarum, Iurium, et quidquid in hac vita sapientiae, potentiae, virtutis et gloriae ab hominibus possidetur. 6. Ut hinc merito ipsa vocari debeat differentia essentialis, qua constituatur homo, differre ab animalibus et rebus aliis.“ Vgl. WA 39/1, S.  180,16; zur Interpretation der Thesen grundlegend: Ebeling, Lutherstudien, Bd.  2 : Disputation de homine, wie Anm.  84, S.  184 ff. 94   WA 19, S.  206,17. 95   WA 19, S.  206,9–14. 96   A.a.O., Z.  15 f. 97   In Auslegung von Röm 1,20 führt Luther in der Promotionsdisputation von Petrus Hegemon (1545) aus, dass die Heiden die Schöpfung der Welt „simpliciter non cognoverunt, quia non cognoverunt Deum ex creatione.“ (WA 39/2, S.  345,25–27). Denn die creatio ex nihilo glaubten sie nicht; wohl aber gelangten sie zu der philosophischen Erkenntnis ex gubernatione: „esse primum movens et summum ens, ut Plato, sed naturalis ratio non potest intelligere rationem creatoris, id est, opus illud, illam totam mundi machinam ex nihilo conditam esse.“ WA 39/2, S.  346,3–8. Die Erkenntnis des die stabilen ‚Naturgesetze‘ in Gang haltenden gubernator sei aber nicht mit der des creator identisch. Röm 1,20 bedeute demnach: „[.  .  .] Paulus tantum vult, quod machinam creatam intellexerunt gentes et gubernationem et non ipsam creationem.“ 346,20–24. Die natürliche Vernunft ist auch genötigt, anzuerkennen, dass die dem Schicksal unterworfenen heidnischen Götter lächerlich

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mithin auf ihren Werken98, und verfehlt gerade so die Einsicht in ihre wirkliche Situation coram deo, also die Sünde99 und das Angewiesensein auf ihre Vergebung.100 Unbeschadet der Verfinsterung des von Gott geschaffenen hellen Lichtes der natürlichen Vernunft101 infolge des Sündenfalls ist ihr noch soviel an Erkenntnis- und Urteilskraft verblieben, dass sie zur Verehrung Gottes drängt102, wiewohl diese in Vorstellungen von Werkgerechtigkeit befangen bleibt.103 Die ihrer eigenen Erkenntnisgrenzen in Bezug auf das Ewige und Unendliche innewerdende Vernunft müsste wohl gar zu der Behauptung gelangen, dass Gott nicht existiert.104 Postlapsarisch ist dem Menschen qua Vernunft zu urteilen und zu unterscheiden möglich; diese entscheidende Fähigkeit der ratio ist somit intakt105, auch wenn sie natürlich aus eigenen Kräften und nicht nach Maßgabe des Wortes urteilt.106 Zwar sei das Licht der Versind; die Erkenntnis Gottes als des alles bestimmenden ‚Treibers‘, also des deus absconditus, ist der ratio naturalis demnach zugänglich, vgl. WA 18, S.  718,15–20; 719,3 ff. 98   „[.  .  .] ratio et natura kan nicht höher komen denn auff die opera [.  .  .].“ WA 34/1, S.  290,4. „Ratio et natura stehet ynn dem wahn, quod meis operibus possim me liberare.“ WA 34/1, S.  202,9 f. „Necessaria sunt opera ad salutem, ita concludit racio.“ WA 32, S.  244,20 f.; vgl. WA 11, S.  118,17 ff.; WA 13, S.  246,19–21; WA 14, S.  346,5. Den Werken und der Vernunft ist gemeinsam, dass sie „in afflictiones“ (WA 11, S.  193,13) nicht zu helfen vermögen. 99   „Mus peccatum erkand sein, da gehört Lex zu, das man den leuten Catechismum treibe. Ratio ist zu schwach, das sie sünde erkenne. Ist etwas in ratione de illa agnitione, so ists doch gering.“ WA 49, S.  137,32–34; vgl. WA 15, S.  511,3. 100   „Ratio dicit: remissio peccatorum macht die leut nit from [i. S. von rechtschaffen], fides nur bose.“ WA 34/2, S.  175,5 f. 101   Vgl. nur WA 30/1, S.  87,7; WA 36, S.  141,5; WA 44, S.  17,33; 77,21; WA 45, S.  14,40; vgl. WA 39/1, S.  180,16. 102   „Ratio docet nos, ut deum colamus Ro. 1 [,19 ff.] omnes gentes habent cognitionem de deo. Scimus, quod crearit et det omnia, ut deus facit, quare ei debemus honorem, gloriam, gratias agimus.“ WA 16, S.  431,3–6; vgl. WA 13, S.  698,5 f. Die Form der Gottesverehrung dürfte den natürlichen Geboten des Sittengesetzes entsprechen; vgl. zur Rolle der ratio bei deren Aufrechterhaltung etwa WA 36, S.  619,7 ff.; WA 34/2, S.  559,13 ff.; WA 41, S.  376,26 ff. 103   „Ratio somniat colendum et placandum esse Deum sacrificiis corporalibus, aut aliis exercitiis ab hominibus excogitatis.“ WA 43, S.  367,25 f. 104   Diese Pointe formuliert Luther als Konsequenz der göttlichen gubernatio etwa in De servo arbitrio: „Ecce sic Deus administrat mundum istum corporalem in rebus externis, ut si rationis humanae iudicium spectes et sequaris, cogaris dicere, aut nullum esse Deum, aut iniquum esse Deum.“ WA 18, S.  784,36–39. In den Promotionsthesen für Erasmus Alberus (1543) erscheint die Nichtexistenz Gottes als Konsequenz einer ihrer Erkenntnisbedingungen innewerdenden Vernunft im Gefolge des Aristoteles: „30. Sensit et Aristoteles, aeternum seu infinitum, in quantum eiusmodi, esse ignotum et incomprehensibile. 31. Imo affirmat infinitum seu aeternum, in quantum huiusmodi, existere non posse, et secundum rationem visus est recte dicere. 32. Sed consequentiam non vidit, vel potius videre noluit, scilicet quod apud rationem ex hoc sequitur, Deum non esse, nec esse posse.“ WA 39/2, S.  255,5–10. 105   So notierte Luther schon als Randglosse anlässlich seiner Lektüre von Augustins De vera religione: „Iudicare, discernere, est proprium rationis: quod non est fantasma, Sed invisibile.“ WA 9, S.  13,29 f.; (Lesart korrigiert nach: Jun Matsuura [Hg.], Martin Luther. Erfurter Annotationes 1509/ – 1510/11 [AWA 9], Köln, Weimar Wien 2009, S.  232, 13 f.); zum iudicare als maßgeblicher Funktion der ratio vgl. auch: WA 9, S.  488,17 f.; WA 14, S.  326,1; WA 15, S.  661,4 f.; 684,34–36; 728,7 f.; WA 20, S.  689,5 f.; WA 32, S.  21,2 f.; WA 40/1, S.  603,20–22; WA 40/3, S.  110,21 f. 106   „Ratio non iudicat secundum verbum, promissionem.“ WA 40/3, S.  70,12.

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nunft und des menschlichen Verstandes ohne Gnade in Bezug auf das Heil in Blindheit verfinstert107 ; aber die göttlich inspirierte menschliche Vernunft könne auch nach dem Fall zu einer gewissen Weisheit108 gelangen. Insbesondere in Bezug auf die verantwortliche Weltgestaltung kommt der menschlichen Vernunft eine zentrale Bedeutung zu.109 Politik und Wirtschaft, also die ureigensten Tätigkeitsfelder zweier der drei Stände110, sind der gestalteten Kraft der Vernunft unterworfen.111 Auch die Predigt des Gesetzes hebt die Vernunft nicht auf; allein in Bezug auf Christus verliert die ratio ihr Mandat112, so dass gilt, dass das regnum der menschlichen Vernunft von einem geistlichen regnum aufs Deutlichste zu unterscheiden ist.113 Der Kern der theologischen Erkenntnistheorie Luthers besteht deshalb gerade in der Unterscheidung der Vernunft und ihrer Möglichkeiten vom Worte Gottes und dem Heiligen Geist und seinen Potenzialen: Ohne den Heili107

  „Tanta scil. et tam horrenda est nostra coecitas, si quando gratia dei destituti lumen naturae et rationis nostrae in rebus pietatis sequimur. Et hac coecitate laborare videmus hodie doctissimos et praestantissimos viros, quos nostrum saeculum habet, in quos et reges et principes coniiciunt oculos.“ WA 13, S.  551,5–8; vgl. WA 10/3, S.  414,21 ff.; gegen das lumen naturae tritt die lux evangelii et cognitio gratiae an, WA 18, S.  785,14 f. (Kasus geändert, Th. K.). 108   „In homine est aliqua sapientia ex lumine rationis divinitus insito.“ WA 43, S.  265,41–266,1. 109   Im Zusammenhang mit der mosaischen Ältestenverfassung (Ex 19,7) urteilt Luther: „Oportet hic non solum sit aliquis probus, sed etiam geschickt, erfarn, weiss, klug, quia mundanum regnum est rationi humanae subiectum.“ WA 16, S.  408,5–7. „Nonne pulchrum umb kunst rationis, quae regit mundum?“ WA 41, S.  421,9 f. 110   Für die Konjunktur der Drei-Stände-Lehre in der neueren Frühneuzeitforschung sind besonders die Arbeiten von Luise Schorn-Schütte verantwortlich, vgl. etwa: Die Drei-Stände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998, S.  435–461; vgl. auch Reinhard Schwarz, Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen DreiStände-Theorie, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Protestantismus und Neuzeit [Troeltsch-Studien 3], Gütersloh 1984, S.  78–88; vgl. zuletzt auch: Adam S. Francisco, Martin Luther and Islam [History of Christian-Muslim Relations 8], Leiden, Boston 2007, S.  131 ff.; s. auch unten III, §  14, Anm.  65. 111   „Politia et oeconomia est subiecta rationi.“ WA 40/1, S.  305,7 f.; vgl. WA 25, S.  393,45; WA 40/1, S.  18,9 f.; 292,8 ff. „Ratio non contemnenda inn alle andern regimenter.“ WA 44, S.  417,23 f. „Magistratus regunt suum populum secundum rationem, non opus est Evangelio.“ WA 11, S.  202,21 f. In Bezug auf den Hausstand gilt: „[.  .  .] mulier sol an ihr haben die art: timere debet et venerari et obsequi viro; ille diligere et regere ratione debet.“ WA 15, S.  420,28 f.; vgl. WA 29, S.  355,7 f. „Deus dedit rationem, ut regamus corporales res, educare liberos, administrare domos ec. ad hoc non opus scriptura, hoc donum deus proiecit inter omnes gentes.“ WA 16, S.  353,5–7. Für die Herrschaft eines Kaisers reicht die ratio völlig aus! WA 27, S.  418,4. Freilich stößt die Vernunft bei dem Versuch, „seipsum regere“ (WA 29, S.  88,2), an ihre Grenzen. 112   „Non praedicamus Christum secundum rationem, mundi sapientiam et hominum, legem, praecepta hominum, cogitationes proprias, sed ‚secundum scripturam‘ quae solle testimonium sein in cordibus vestris contra omnes oppositiones.“ WA 29, S.  330,14–331,1. Im Horizont des Evangeliums ist die zentrale Funktion der ratio, das iudicare, sistiert: „Ergo non iudicare est opus misericordiae et quando homo vivit sine fide, secundum rationem impossibile est, quod homo sit misericors, quia non potest non iudicare [.  .  .].“ WA 29, S.  407,1–3; vgl. WA 34/1, S.  347,1 ff.; WA 34/2, S.  24,20 ff.; 138,7–9. 113   „Regnum enim rationis humanae longissime separandum est a spirituali Regno.“ WA 40/1, S.  293,16 f.; WA 45, S.  247,3.

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gen Geist scheitert die menschliche Vernunft in „rebus spiritualibus“114, ja erkennt noch nicht einmal die Kirche als Kirche115 ; allein aufgrund des Geistes kann der Christ im Tode Christi den gnädigen Gott erkennen.116 In Glaubensfragen kommt der ratio allenfalls in dem Maße eine Bedeutung zu, als der Heilige Geist ihr eine solche einräumt.117 Sich auf das Wort Gottes einzulassen, ist der ratio aus eigener Kraft unmöglich.118 In Bezug auf die spiritualia ist die Unterscheidung zwischen der Vernunft und dem Worte Gottes das oberste Gebot.119 Ehrenhaft kann die Vernunft als höchste Schöpfergabe für Luther also allein innerhalb der Grenzen der temporalia sein; mit Gott spielt sie „blinde kue“ und „thut eytel feyl griffs und schlecht ymer neben hin“120. Hinsichtlich der Schärfe und der Radikalität, mit der Luther die in der scholastischen Tradition elaborierten Möglichkeiten einer natürlichen Gotteserkenntnis verwarf, stellte seine Position im Spektrum der reformatorischen Theologien eine Art Sonderfall dar.121 Darin freilich, dass er gegen die mittelalterliche Theologie Got­tes- und Trinitätslehre systematisch trennte, die spekulative Entfaltung göttlicher Eigenschaften aus Prinzipien der menschlichen Vernunft ablehnte und die Propria eines christlichen Gottesbegriffs ausschließlich offenbarungstheologisch begrün­ dete, stimmten etwa auch Melanchthon und Calvin mit ihm überein.122

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  WA 14, S.  475,36; vgl. WA 15, S.  554,24 ff.   WA 39/2, S.  149,21 f. 116   „Ita Christianus in media morte cognoscit deum bene volentem; sed hoc non est naturale et secundum rationem et spiritualis cognitio.“ WA 15, S.  536,29 f.; 556,24 f.; 609,5 f.; 610,6. 117   WA 17/1, S.  322,29; 401,3; vgl. WA 18, S.  744,24 f.; WA 20, S.  397,2 f. 118  „Ratio non potest suis viribus se ergeben auffs verbum dei.“ WA 11, S.  70,35 f.; WA 12, S.  439,34; WA 13, S.  200,3 ff.; 201,8–10; 540,1–5; WA 14, S.  189,20–190,1; WA 15, S.  508,21–23; 795,12; 802,16 f. 119   „Disce ergo discernere rationem a verbo Dei [.  .  .].“ WA 47, S.  844,20 f. „Incomparabile est, quod facit divina maiestas ad illud, quod ratio efficit per sese sine verbo.“ WA 14, S.  567,4 f. 120   WA 19, S.  207,4 f. 121   Karl-Heinz zur Mühlen, Art. Luther II, wie Anm.  84, S.  530–567, hier: 535,32 ff., hat betont, dass Luther erkenntnistheoretisch an die ockhamistische Unterscheidung zwischen einer potentia Dei absoluta und ordinata angeknüpft, sie aber „christologisch von der theologia crucis her“ (536,3) uminterpretiert habe. 122  Vgl. Günter Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre bei Melanchthon und Calvin, in: Ders./ Herman J. Selderhuis (Hg.), Melanchthon und der Calvinismus [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 9], Stuttgart – Bad Cannstatt 2005, S.  159–171, bes. 159; 165; vgl. Rohls, Philosophie, wie Anm.  13, S.  277 ff.; ders., Protestantische Theologie der Neuzeit I, Tübingen 1997, S.  44 ff. 115

3.  Melanchthons theologisch-philosophische Vernunftskonzeption

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3.  Melanchthons theologisch-philosophische Vernunftskonzeption Der Ansatzpunkt der Melanchthonschen Loci von 1521, der nova ratio cognoscendi des Wortes vom Kreuz (1 Kor 1,21) entsprechend123 nicht – wie Johannes Damaszenus oder der Lombarde124 – herumzuphilosophieren, sondern Christus aus seinen „beneficia“125 zu erfassen, ging mit einer deutlichen Kritik an den freilich erst im Horizont des Gesetzes erkennbaren Möglichkeiten der Vernunft einher: Der fleischliche Mensch erkenne sich selbst als Gottesignoranten126 ; der Natur als solcher sei die Erkenntnis der Sünde nicht möglich.127 Aus dem Gewissen aber folgert Melanchthon unter Rekurs auf den Apostel (Röm 2), dass das Gesetz den Heiden ins Herz eingeschrieben sei.128 Die lex naturae enthalte ein allen Menschen gemeinsames Wissen, dem sie in dem Maße zustimmten, wie es Gott in eines jeden Herzen eingestiftet habe – um die Sitten zu gestalten.129 Als erstes dieser Naturgesetze gilt Melanchthon das Gebot der Gottesverehrung.130 Dass es unter die leges naturales gehöre, ergebe sich aus dem paulinischen locus classicus Röm 1,19 f. Der Versuchung eines menschlichen Beweisschlusses der Existenz Gottes aber entzieht sich Melanchthon unter Rekurs auf seine einleitenden Bemerkungen gegen die schwatzhafte Spekulation und zugunsten der notwendigen Konzentration auf die beneficia.131 Die Erkenntnis Gottes als des Schöpfers sei keine gewöhnliche Meinung (vulgaris opinio), die auch Heiden und Sarazenen zugänglich wäre; 132 sie sei Heilsglaube, der sich der Gabe des Heiligen Geistes verdanke.133 Die von Gott in sein Schöpfungswerk hineingelegten 123   „Sic et Paulus ad Corinthos scribit deum per stultitiam praedicationis, nimirum nova ratione velle cognosci, cum non potuerit cognosci in sapientia per sapientiam.“ MSA 2/1, S.  6,22–25; vgl. im Ganzen: Wilhelm Maurer, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, Bd.  2 : Der Theologe, Göttingen 1969, ND Göttingen 1997, S.  230 ff.; Ernst Bizer, Theologie der Verheißung. Studien zur theologischen Entwicklung des jungen Melanchthon (1519–1524), Neukirchen 1964, S.  50 ff. 124   MSA 2/1, S.  5,27 ff. 125   MSA 2/1, S.  7,10. 126   „Lex spiritualis est, id est, exigit spiritualia, veritatem, fidem glorificantem deum, amorem dei; ego vero carnalis sum, incredulus, ignorans dei, insipiens, amans mei etc.“ MSA 2/1, S.  78,1–4; vgl. zum Kontext: Wolfgang Matz, Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons [FKDG 81], Göttingen 2001, S.  60 ff. 127   „Nam natura per sese peccati foeditatem non potest cognoscere, tantum abest, ut odisse po­s­ sit.“ MSA 2/1, S.  81,10–12. 128   MSA 2/1, S.  41,28 ff. 129   „Est itaque lex naturae sententia communis, cui omnes homines pariter adsentimur atque adeo quam deus insculpsit cuiusque animo, ad formandas mores accomodata.“ MSA 2/1, S.  41,34– 37. 130   „I. Deus colendus est.“ MSA 2/1, S.  42,30. 131   „Sed ut possit syllogismo humano colligi esse deum, curiosi magis est quam pii disputare, maxime cum rationi humanae non sit tutum de tantis rebus argutari, ut huius compendio principio monui.“ MSA 2/1, S.  43,2–5. 132   MSA 2/1, S.  99,19–23. 133   MSA 2/1, S.  99,23–100,19.

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

Möglichkeiten der Gotteserkenntnis sind durch die Sünde verdunkelt und werden erst im Glauben wirksam. Doch diese erkenntnistheoretische Position der frühen Loci, deren Nähe zu Luther unverkennbar ist, wurde von Melanchthon philosophisch weiterentwickelt. In den frühen 1530er Jahren mehrten sich die Zeugnisse für eine deutlichere Betonung der natürlichen Gotteserkenntnis, die freilich schöpfungstheologisch begründet wurde und nicht im Sinne einer autonomen Vernunftkonzeption interpretiert werden sollte.134 In der Dualität zweier aufeinander folgender Loci „De deo“ und „De tribus personis trinitatis“ in den Auflagen der Loci seit 1535135 hat die Unterscheidung zwischen einer in der Schöpfung grundgelegten, freilich durch den Sündenfall verdunkelten und deshalb der Offenbarung bedürftigen natürlichen und einer speziell christlichen und heilsbegründenden Erkenntnis des dreieinigen Gottes ihren spezifischen Ausdruck gefunden. Die Motive für diese theologische Weiterentwicklung Melanchthons dürften der ja im Laufe des ersten Jahrzehnts der Reformation immer komplexer gewordenen Diskussionslage sowohl im Verhältnis zur humanistischen Tradition und ihrer Fortführung bei einigen der radikalen, insbesondere antitrinitarischen Vertreter der Devianz136, als auch im Gegenüber zu den kontroverstheologischen Akteuren und ihrer Inanspruchnahmen einer natürlichen Theologie im Sinne der scholastischen Tradition zu suchen sein. Melanchthons philosophische Leistungen sind überdies im Kontext des Aufbaus eines reformatorischen Bildungsund Wissenschaftssystems zu interpretieren137, das sich in der Frage der Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Vernunft zu positionieren hatte. In diesem Sinne konnte Melanchthon der Vernunft zugestehen, in den Erkenntnissen der Astronomie „vestigia“138 der Gottheit zu erfassen oder in der Existenz des vernünftigen Men134   Dies hat insbesondere Günter Frank deutlich gemacht, vgl. v. a.: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560) [EThSt 67], Leipzig 1995; ders., Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit [Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 13], Stuttgart – Bad Cannstatt 2003, S.  52 ff. 135   CR 21, Sp.  351–367 (Loci theologici 1535); CR 21, Sp.  607–637 (Loci theologici 1559) = MSA 2/1, 172–214. 136   Vgl. in Bezug auf die trinitarische Diskussionssituation: Sven Grosse, Melanchthons Wendung zur Trinitätslehre, in: KuD 54, 2008, S.  264–289. 137   Vgl. nur: Heinz Scheible, Melanchthons Bildungsprogramm, in: Ders., Melanchthon und die Reformation, hg. von Gerhard May und Rolf Decot [VIEG.B 41], Mainz 1996, S.  99–114; ders., Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, S.  86 ff.; Karl Hartfelder, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae [MGP 19], Berlin 1889, ND Nieuwkoop 21972; vgl. auch weitere Beiträge in dem Sammelband: Günter Frank/Stefan Rhein (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 4], Sigmaringen 1998; zum weiteren Kontext vgl. Herman J. Selderhuis/Markus Wriedt (Hg.), Bildung und Konfes­ sion [SuR N. R. 27], Tübingen 2006. 138   „Quis est autem tam ferreus, tam sine sensu ullo, ut non aliquando suspiciens coelum et pulcherrima in eo lumina intuens, admiretur tam varias vices, quae rustibus conficiuntur, nec cupiat quasi vestigia illorum motuum, videlicet certam rationem divinitus ostensam, cognoscere.“ Vorrede Melanchthons zu Johannes de Sacrobosco, Liber de sphaera, Wittenberg 1531, in: MBW. T 5, Nr.  1176, S.  165,27–30.

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schen einen Beweis für einen vernünftigen Schöpfer zu finden, dessen Plausibilität über die der göttlichen Spuren in der sonstigen Natur hinausgehe.139 Da die menschliche Erkenntnisfähigkeit allerdings infolge der Sünde ernstlich geschwächt sei, hielt es Melanchthon in den Loci für angemessen, die „vestigia Dei“140 in der Schöpfung erst im Anhang seiner Schöpfungslehre zu entfalten.141 Freilich sei die ganze Natur geschaffen, um Gott zu erweisen; 142 der postlapsarisch geschwächten menschlichen Natur könnten allerdings einige „demonstrationes“143 wie der Gottesbeweis aus dem ordo naturae, aus dem Wesen des menschlichen Verstandes, aus dem ordo politicus oder aus der Kausalität des ersten Bewegers nahebracht werden.144 Diese natürliche Gotteserkenntnis bewege sich im Horizont der notitia legis, in der auch die Fähigkeit zur Distinktion von gut und böse begründet sei.145 Die Unterscheidung zwischen der Gottes- bzw. Christuserkenntnis im Horizont des seligmachenden Evangeliums und der natürlichen oder philosophischen Erkennt­ nis Gottes im Lichte des Gesetzes146 bildet den prinzipientheologischen Rahmen, innerhalb dessen Melanchthon seine „ciceronisch-platonische Theorie der ‚notitiae naturales‘“147 entfaltet. Demnach partizipiere der menschliche Geist aufgrund seiner geschöpflichen Disposition an bestimmten Erkenntnisprinzipien, die gemäß der platonischen Urbild-Abbild-Relation von göttlichem und menschlichem Geist in diesen von Gott selbst hineingelegt worden sind. In der Auslegung des locus classicus der natürlichen Gotteserkenntnis Röm 1,19 erörterte Melanchthon in seinem Römerbriefkommentar von 1532, welches die Inhalte der notitiae naturales Gottes seien, 139   Vorrede Melanchthons zu Johannes Regiomontanus, Tabulae directionum, Augsburg 1551; MBW Nr.  6363; CR 7, Nr.  5061, Sp.  950–953, hier: 950: „[.  .  .] in homine lucent testimonia de Deo et de providentia multo illustrioria: impossiblie est enim, naturam intelligentem a non intelligente ortam esse.“ 140   CR 21, Sp.  641 = MSA 2/1, S.  220,7. 141   „Postquam autem mens confirmata est vera et recta sententia de Deo et de Creatione ac prae­ sentia Dei in creaturis et moderatione causarum secundarum ex verbo Dei et illustribus testimoniis, in quibus se Deus generi humano peculiariter patefecit [.  .  .], tunc etiam utile et iucundum est aspicere opificium mundi et in eo vestigia Dei quaerere et demonstrationes colligere, quae testantur hunc mundum non extitisse casu nec volvi casu, sed esse Deum mentem aeternam, conditricem rerum.“ CR 21, Sp.  641 = MSA 2/1, S.  219,24–220,10. 142   „Ideo enim tota natura condita est, ut Deum monstret.“ Ebd. = MSA 2/1, S.  220,10 f. 143   Ebd. = MSA 2/1, S.  220,20. 144  CR 21, Sp.  641–643 = MSA 2/1, S.  220,22–223,21. Als Resümee formuliert Melanchthon: „Haec argumenta non solum testantur esse Deum, sed etiam sunt indicia providentiae, quod Deus respiciat homines, puniat atrocia scelera et aliquibus opituletur, et foecunditas terrae indicat Deum hominum vitae consulere.“ CR 21, Sp.  643 = MSA 2/1, S.  223,22–26. Zu den Gottesbeweisen bei Melanchthon ausführlich: Frank, Die theologische Philosophie, wie Anm.  134, S.  235 ff. 145   CR 21, Sp.  643 = MSA 2/1, S.  223,33 ff. 146   „Nos ad primam admonitionem redeamus, videlicet, assidue mentibus atque oculis intuenda esse illa peculiaria testimonia, in quibus se Deus Ecclesiae patefecit [.  .  .], et deinde addamus verbum per hos traditum et statuamus vere hanc esse Dei voluntatem, quae in eo verbo proposita est, et discernamus Philosophiam seu naturales notitias ab Evangelio, id est, a promissione gratuita remissionis peccatorum donandae propter Filium Dei, ut suo loco dicitur de discrimine Legis et Evangelii.“ CR 21, Sp.  643 = MSA 2/1, S.  223,37–224,11. 147   Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre, wie Anm.  122, S.  160 f.

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nämlich dass Gott existiere, dass er gut und gerecht sei, dass er Gerechtes verlange und Ungerechtes bestrafe und dass er diejenigen erhöre und erhalte, die sein Gesetz beachteten.148 In einer revidierten Version des Römerbriefkommentars stellte Melanchthon dann sogar heraus, dass die Einheit Gottes, seine Allmacht und Weisheit, aber auch seine Eigenschaft als „conditor et conservator naturae“149, dem menschli­ chen Verstand mittels der notitiae naturales zu erkennen möglich und dass auch die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, durch eine von Gott in den menschlichen Geist hineingelegte Erkenntnisstruktur vermittelt sei. Dadurch, dass die notitiae naturales freilich in den Horizont des Gesetzes gerückt und von der Heilserkenntnis des Evangeliums prinzipiell unterschieden wurden, erfuhr die deutliche Aufwertung, die der natürlichen Gotteserkenntnis bei Melanchthon gegenüber Luther zuteil wurde, zugleich eine prinzipielle soteriologische Restriktion. Denn von der geschenkweisen Rechtfertigung, von der Versöhnung um Christi willen, von dem also, was das Heil des Christen begründet, findet die ratio naturalis in ihrem Gewissen nichts.150 Während die notitia naturalis Gottes Erbarmen ausschließlich im Horizont der Gesetzesobservanz zu denken vermag151, ist ihr die Erkenntnis der Erbsünde verborgen.152 Die „notitiae“ der Existenz, der Güte und Gerechtigkeit und der vergeltenden Strafe Gottes hingegen sind dem menschlichen Geist von Gott her eingeboren153 bzw. – gemäß dem „platonische[n] Innatismus“154 – als Voraussetzung (πρόληψις)155 jeder Erkenntnis Gottes eingestiftet. Hinsichtlich der dem menschlichen Verstand möglichen Erkenntnis Gottes bzw. maßgeblicher seiner Eigenschaften und seines Wesens als Schöpfer und Erhalter geht Melanchthon nicht nur über die „spekulativen Explikationen mittelalterlicher Gotteslehren“156, sondern auch über das hinaus, was Luther der ratio zugestanden hatte. 148   „Haec est et argumenti summa, et hanc sententiam his verbis dicit [sc. Paulus]: ‚Deus notus est eis, quatenus cognosci potest‘, videlicet quod sit Deus, quod sit bonus, quod sit iustus, quod requirat iusta, quod puniat impios, quod exaudiat et servet legi oboedientes. Nam hanc notitiam de Deo naturaliter habent homines, quae quidem est notitia quaedam legis, non evangelii.“ MSA 5, S.  70,21–27. Die im CR abgedruckte Version aus der von Peucer edierten Melanchthon-Ausgabe weicht textlich ab (CR 15, Sp.  563), bringt aber doch die präzisierende Erläuterung, dass die „naturales noticiae [.  .  .] nobis in conscientia perpetuo concionantes.“ 149   CR 15, Sp.  563. 150   „Non novit ratio naturalis gratuitam condonationem, aut reconciliationem propter Chri­ stum, sed est legis noticia requirens conditionem nostrae oboedientiae: indicat eos tantum placere Deo, qui sunt sine peccato. Haec est naturalis vox conscientiae.“ CR 15, Sp.  563. 151   MSA 5, S.  71,3 ff. 152   MSA 5, S.  71,18 ff.; vgl. CR 15, Sp.  564. 153   „Prudentissime autem addit [sc. Paulus in Röm 1,19] ‚Deus manifestavit eis‘; significat enim has notitias ‚Deus est‘, ‚Deus est bonus‘, ‚Deus est iustus‘, ‚Deus punit iniustos‘ divinitus insitas esse mentibus humanis.“ MSA 5, S.  71,26–29. 154   Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre, wie Anm.  122, S.  161; ders., Die Vernunft des Gottesgedankens, wie Anm.  134, S.  69 ff. 155   MSA 5, S.  72,1. 156   Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre, wie Anm.  122, S.  162; vgl. auch Gideon Stiening, Deus vult aliquas esse certas noticias: Philipp Melanchthon, Rudolph Goclenius und das Theorem

4.  Zwinglis Rationalitätsoptimismus

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In philosophiegeschichtlicher Perspektive wird die Bedeutung der auf Calvin ausstrahlenden157, an Platon anschließenden158 erkenntnistheoretischen Konzeption Melanchthons darin gesehen, dass die „Gotteserkenntnis nunmehr an die Bedingungen des menschlichen Geistes gebunden“159 und nicht mehr, wie in der mittelalterlich-aristotelischen Tradition, im „Kontext der Wesensmetaphysik diskutiert wurde“160. Darin sei eine „anthropologische Wende des Gottesgedankens“ zu sehen; dieser werde nun „subjekttheoretisch [.  .  .], d. h. allein aufgrund der Bedingungen des menschlichen Geistes expliziert“161.

4.  Zwinglis Rationalitätsoptimismus Stand Melanchthon für eine ‚vermittlungstheologisch‘ kontrollierte, offene Haltung gegenüber der natürlichen Gotteserkenntnis und Luther für deren weitestgehende Restriktion, so ist die Einordnung Zwinglis in dieses Meinungsspektrum mit gewissen Schwierigkeiten verbunden; sie haben sich nicht zuletzt in den kontroversen Interpretationen von Zwinglis Gotteslehre und ihres Verhältnisses zur heidnisch-antiken Tradition niedergeschlagen.162 War für die Autoren der älteren liberalen Zwinglideutung – Zeller, Sigwart, Dilthey und, mit gewissen Einschränkungen, Wernle – der Gottesbegriff des Zürcher Reformators ganz im Banne der neuplatonischen, vor allem durch Giovanni Pico della Mirandola vermittelten Tradition eines rationali­ der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer (Hg.), Melanchthon und die Marburger Professoren, Bd.  2, Marburg 22000, S.  757–787. 157   Vgl. außer Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre: Ders., Die Vernunft des Gottesgedankens, wie Anm.  134, Exkurs I, S.  169 ff.; David C. Steinmetz, Calvin and the Natural Knowledge of God, in: Heiko A. Oberman/Frank A. James (Hg.), Via Augustini. Augustine in the Late Middle Ages, Renaissance and Reformation [SMRT 48], Leiden 1991, S.  141–156; David J. Van Houten, Earthly Wisdom and Heavenly Wisdom. The Concept of Reason in the Theology of John Calvin, Chicago 1993; vgl. auch verschiedene Beiträge in dem Sammelband: Melanchthon und der Calvinismus, wie Anm.  122, und auch in dem Werk: Joseph S. Freedman/Herman J. Selderhuis/Christoph Strohm (Hg.), Späthumanismus und reformierte Konfession [SMHR 31], Tübingen 2006; s. a. Christoph Strohm, Das Theologieverständnis bei Calvin und in der frühen reformierten Orthodoxie, in: ZThK 98, 2001, S.  310–343; Jan Rohls, Calvin, in: Christine Axt-Piscalar/Joachim Ringleben (Hg.), Denker des Christentums [utb 2608], Tübingen 2004, S.  111–143. 158   „Ut autem descriptionem aliquam Dei teneamus, conferam duas: alteram mutilam Platonis, alteram integram, quae in Ecclesia tradita est et ex baptismi verbis discitur. Platonica haec est: Deus est mens aeterna, causa boni in natura.“ CR 21, Sp.  610 = MSA 2/1, S.  176,21–25 (Kursive im Original gesperrt). Diese „humanae mentis cogitationes“ (177,12) über Gott spiegelnde Definition, die auf festen Beweisgründen beruhe, ist gleichwohl defizitär und durch diejenigen Aspekte zu ergänzen, die sich aus Gottes Selbstoffenbarung („qualem se Deus ipse patefecerit“, 177,14 f.) ergeben. Insofern schließt Melanchthon an den ‚vernünftigen‘ Gottesbegriff Platons einen spezifischen christlich-trinitarischen an, MSA 2/1, S.  177,16–31. 159   Frank, Zur Gottes- und Trinitätslehre, wie Anm.  122, S.  165. 160  Ebd. 161  Ebd. 162   Vgl. die forschungsgeschichtlichen Hinweise bei Ulrich Gäbler, Huldrych Zwingli im 20. Jahrhundert. Forschungsbericht und annotierte Bibliographie 1897–1972, Zürich 1975, S.  61–67.

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stischen Theismus, zu interpretieren, der mit biblischen Fundierungen und offenbarungstheologischen Begründungen kaum vermittelt sei, so rückte für die neueren Zwingliinterpretationen Peter Barths, Blankes und vor allem Lochers die Christologie ins Zentrum der Gotteslehre. Heidnisch-philosophische Argumente, wie sie insbesondere an Zwinglis späterer Providenzschrift beobachtet wurden, besäßen gegenüber dem christlich-offenbarungstheologischen Ansatz keine eigenständige und spezifische Bedeutung. Zu einer begründeten Positionierung in der skizzierten Frage wird man nur gelangen, wenn man dem Problem der natürlichen Gotteserkenntnis in den beiden wichtigsten Texten Zwinglis, seinem Commentarius (1525) und eben De Providentia Dei, nachgeht. In Bezug auf den epistemologischen Ausgangspunkt des Commentarius de vera et falsa religione163 kann freilich als unstrittig vorausgesetzt werden, dass Zwingli von der ihm durch die biblische Offenbarung vermittelten wahren Religion her argumentierte: Über die wahre und die falsche Religion der Christen zu schreiben sei nur deshalb nicht schwer, weil die ‚ratio‘ unseres Glaubens nicht aus den Pfützen menschlicher Weisheit, sondern aus dem Regen des göttlichen Geistes, der das Wort Gottes sei, gewonnen werde.164 Da Religion nur als der wahre Zusammenhang, der zwischen Gott und Mensch bestehe, thematisiert werden könne165, ist es nach Zwingli erforderlich, zunächst je für sich über Gott und den Menschen zu handeln. In dem Abschnitt „De deo“ stellte der Zürcher Reformator zunächst voran, dass, was Gott sei, wohl über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehe, die Erkenntnis der Exi­ stenz Gottes aber den menschlichen Verstand nicht übersteige.166 Die Grundlage dieser allgemeinen und natürlichen Gotteserkenntnis, die sich in der Religionsgeschichte in poly- oder monotheistischen Varianten niedergeschlagen habe, bildete auch für Zwingli Röm 1,19.167 Die Pointe seiner Auslegung bestand allerdings darin, dass er die allgemeine notitia Gottes im Sinne einer universalen göttlichen Offenbarung interpretierte: Gott manifestiere sich in der natürlichen Erkenntnis auch der Heiden, weil die Natur selbst Gottes stetiges und unablässiges

163   Eine subtile Rekonstruktion des theologischen Denkweges dieser Schrift hat vorgelegt: Martin Sallmann, Zwischen Gott und Mensch [BHTh 108], Tübingen 1999; eine brauchbare deutsche Übersetzung des Commentarius bietet: Huldrych Zwingli Schriften, Bd.  3, im Auftrag des Zwinglivereins hg. von Thomas Braunschweiler und Samuel Lutz, Zürich 1995, S.  31 ff.; kritische Edition des lat. Originals: CR 90 = Z 3, S.  590–912; zur Frage der Gotteserkenntnis in der reformierten Bekenntnistradition vgl. Jan Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften [utb 1453], Göttingen 1987, S.  53 ff. 164   Z 3, S.  639,3–6: „Facillimum igitur nobis est de vera falsaque Christianorum religione scribere, ac veluti rationem fidei nostrae reddere, quam non ex humanae sapientiae lacunis, sed ex divini spiritus imbre, qui verbum dei est, hausimus.“ 165   Vgl. Z 3, S.  640,21–26; grundlegend noch immer: Gerhard Ebeling, Cognitio Dei et hominis, in: Ders., Lutherstudien, Bd.  1, Tübingen 1971, S.  221–272. 166   „Quid sit deus, fortasse supra humanum captum, verum, quod sit, haud supra eum est [.  .  .].“ Z 3, S.  640,28 f. 167   Z 3, S.  641,10 ff.

4.  Zwinglis Rationalitätsoptimismus

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Wirken (continens perpetuaque dei operatio)168 sei. Während die universale Erkenntnis des „quod deus sit“ also der Natur aufgrund des in ihr wirkenden Gottes erschlossen werde, könne die Erkenntnis des „quid deus sit“ allein im Modus der gnadenhaften Offenbarung durch das Wort erlangt werden.169 Von daher hielt Zwingli eine Attacke auf die cognitio dei naturalis in der scholastischen Theologie für angemessen: Es sei ein Betrug und eine falsche Religion, was die Theologen aus der Philosophie zur Frage, was Gott sei, beigebracht hätten. Denn was die Philosophie an Wahrheit über Gott enthielte, sei nicht aufgrund eigener Möglichkeiten des Menschen wahr, sondern allein deshalb, weil er Samenkörner seiner Erkenntnis (cognitionis suae semina)170 unter die Heiden gesät habe.171 Distinkte christliche Gotteserkenntnis sei allein an die Bibel gewiesen172 ; die in der sonstigen Philosophiegeschichte enthaltenen ‚Richtigkeiten‘ auf die Frage „quid deus sit“ seien immer mit menschlicher ‚Weisheit‘ kontaminiert.173 Der nach Zwingli im Gottesnamen selbst enthaltene primäre Aspekt der Gotteserkenntnis bestehe im Wissen darum, dass Gott der sei, der von Natur sei, der er selbst sei und der von keinem anderen her das Sein empfange.174 In der philosophischen Bezeichnung des göttlichen bonum als „Entelechie“ und „Energie“ werde angemessen zum Ausdruck gebracht, dass Gott keine müßige und untätige Sache sei, sondern jener rastlose Beweger, durch den alles und zu dem hin alles sei.175 Der Begriff Gottes als des sich in die Schöpfung investierenden summum bonum176 impliziert nach Zwingli, dass alles, was geschieht, aufgrund göttlicher Weisheit und Providenz geschieht; 177 angesichts der alles bestimmenden göttlichen Providenz komme ein freier menschlicher Wille nicht ernsthaft in Betracht.178 Zwinglis Einsatz mit einer philosophischen Gotteslehre im Commentarius führt aufgrund der immanenten Logik des Gottesbegriffs auf die Notwendigkeit der infalliblen Offenbarungsurkunde als 168

  Z 3, S.  641,16 f.   „Constat, quod a solo deo discendum, quid ipse sit.“ Z 3, S.  643,13 f. 170   Z 3, S.  643,22. 171   „Fucus ergo est et falsa religio, quicquid a theologis ex philosophia ‚quid sit deus‘ allatum est. Quod si quidam de hoc quaedam vere dixerunt, ex ore dei fuit, qui cognitionis suae semina quaedam etiam in Gentes sparsit, quamvis parcius et obscurius; alioqui verum non esset.“ Z 3, S.  643,20– 24. 172   Z 3, S.  643,19 ff. 173   Z 3, S.  643,25 f. 174   „[.  .  .] hoc esse primum in cognitone dei, ut sciamus eum esse, qui natura est, qui ipse est, et a nullo accipit, ut sit.“ Z 3, S.  644,36–38. 175   Z 3, S.  645,26 ff. „Ipse [sc. Gott] enim et a philosophis, ἐντελέχεια καὶ ἐνέργεια, hoc est: perfecta, efficax, consummansque vis adpellatur, quae, quoniam perfecta est, nunquam desinet, nunquam cessabit, nunquam ambiget, sed continue sic omnia servabit, versabit, reget [.  .  .].“ Z 3, S.  645,30–33. 176   Z 3, S.  647,24 f. u. ö. 177   „[.  .  .] divina sapientia prudentiaque, a qua omnia rite et fiunt et disponuntur.“ Z 3, S.  648,20. Im Folgenden führt Zwingli den Gedankengang mit den Begriffen sapientia und providentia dei (Z 3, S.  648,21 f.) weiter. 178   Vgl. Z 3, S.  649,25; 650,18.; 842,1 ff. 169

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

einziger suffizienter Erkenntnisquelle Gottes. Insofern werden die Grundgedanken von Zwinglis systematisch konzisester, streng deterministischer Spätschrift De providentia Dei bereits im Commentarius präludiert.179 In De providentia Dei setzte Zwingli mit dem hinsichtlich seines Gehaltes nach und nach extrapolierten Begriff des „summum bonum“ ein.180 Dem Begriff wohne seine ontologische Selbstevidenz gleichsam inne, denn er bezeichne jene Entität „supra quod nihil est neque esse cogitari potest.“181 Eigenschaften des summum bonum wie Allwissenheit und Allmacht182 oder Unwandelbarkeit183 deduzierte Zwingli aus dem Begriff des summum bonum als des verum bzw. der prima causa.184 Im dritten Kapitel entfaltete Zwingli dann einen kosmologischen Gottesbeweis: Die Notwendigkeit eines ersten Bewegers folge aus der Struktur des abhängigen, sich selbst nicht hervorgebracht habenden Seienden.185 Mit größter Unbefangenheit identifizierte der Zürcher Reformator den aus der patristisch-scholastischen Tradition weithin bekannten Begriff Gottes als des summum bonum mit dem vor allem aus

179   Urteile wie etwa die Pfisters, der in De providentia nichts anderes als einen „späte[n] Rückfall Zwinglis in den Humanismus“ (Rudolf Pfister, Das Problem der Erbsünde bei Zwingli [QASRG 9], Leipzig 1939, S.  16) sah, oder Karl Barths, der bei Zwingli – und vor allem in dieser Schrift! – die ihm verhasste „modern-protestantische Theologie, wie sie leibt und lebt: ein fadeschmeckender pathetischer Spiritualismus, offenkundige Versöhnung von Glaube und Wissen, Religion und Erfahrung“ etc. (zitiert nach: Christof Gestrich, Zwingli als Theologe [SDGSTh 20], Stuttgart, Zürich 1967, S.  15 Anm.) wahrnahm, dürften durch die neuere Zwingli-Forschung im Wesentlichen obsolet sein. Für die neuere Zwingli-Literatur vgl. auch die aufschlussreiche Bibliografie von Volker Leppin, in: Art. Zwingli, in: TRE 36, 2004, S.  793–809, hier: 805 ff. Während Locher (Gottfried Wilhelm Locher, Zwingli und die schweizerische Reformation [KIG 3 L fg. 1], Göttingen 1982, S.  52) „Wandlungen“ in der Theologie Zwinglis kategorisch abgelehnt, aber auf eine Reihe von Entwicklungen hingewiesen hat, deren letzte die „Wiederaufnahme der Problematik des Humanismus und derjenigen des deterministischen Lebensgefühls der Renaissance“ gewesen sei, sieht Leppin in der Providenzschrift ein Indiz dafür, dass der Zürcher Reformator „in dieser Phase in seiner Relativierung des Äußeren auch die Grundlagen seiner eigenen Reformation, die Schrift [.  .  .] relativieren kann“ (TRE 36, 2004, S.  803,34 ff.). Demnach scheint Leppin, entgegen der neueren Forschung, auch entgegen dem Entwicklungsmodell Daniel Bolligers (Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis [SHCT 107], Leiden, Boston 2003, S.  505 ff.), von einem letzten, substanziellen Entwicklungsschritt seiner Theologie, der mit der Providenzschrift erreicht sei, auszugehen – quod esset demonstrandum. 180   Z 6/3, S.  70,6 ff. (Cap. Primum: Providentiam necessario esse ex eo, quod summum bonum necessario universa curat ac disponit). 181   Z 6/3, S.  218,14 f.; vgl. 219,25–27. Der „Anklang an den [.  .  .] ontologischen Gottesbeweis Anselms“ ist schon Gottfried Wilhelm Locher (Die Theologie Zwinglis im Lichte seiner Christo­ logie I, Zürich 1952, S.  47 Anm.  4d) nicht entgangen. Zu Anselm und der Rezeption des ontologischen Gottesbeweises in der Reformationszeit vgl. Jan Rohls, Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker, Gütersloh 1987, S.  35 ff.; 186 ff. 182   Z 6/3, S.  73,15 f.; 74,2 ff. 183   Z 6/3, S.  73,7 ff. 184   Z 6/3, S.  74,4 ff. 185   Z 6/3, S.  83,27 ff.; 84,11 ff.; 85,10 ff.; vgl. 115,6 ff.; 229,5. „Nam ut philosophos de coelis suis, de sphaeris, de orbibus eorumque potentia disserentes audiamus, consistendum tamen aliquando est in uno solo ac primo κινιτῇ, hoc est: motore. Hic numen est.“ Z 6/3, S.  91,1–3.

4.  Zwinglis Rationalitätsoptimismus

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der paganen Antike belegten „numen“186. Die vom Apostel mit der Aufnahme des Aratus-Wortes (Apg 17,28) ‚wir sind seines Geschlechts‘ programmatisch vollzogene Einbeziehung der Heiden in die alles bestimmende Gottesmacht entsprach Zwinglis eigener theologischer Intention.187 Unproblematisch war die Identifikation des Gotteswissens der Heiden mit der christlichen Erkenntnis des trinitarischen Gottes für Zwingli insofern, als er die Identität des erkenntnistheoretischen Ursprungs im Heiligen Geist voraussetzte.188 Sokrates und Seneca erkannten das „numen unum“189 und suchten ihm mit Reinheit des Verstandes (mentis puritate)190 zu entsprechen. Trotz ihrer Unkenntnis der Offenbarung waren sie frommer und heiliger als alle Dominikaner und Franziskaner!191 Die Religion eines einzigen Gottes, die Platon und Pythagoras vertraten, könne ihnen nur vom göttlichen Geist selbst eingegeben worden sein.192 Gott schenke die Erkenntnis seines Wesens all denen, die er in ge-

186   Locher beraubt diese terminologische Präferenz Zwinglis jedes Anfluges dogmatischer Unkorrektheit, indem er sie als Interpretament der „Gottheit Gottes“ im trinitätstheologischen Zusammenhang verwendet, mithin als Äquivalent für den trinitätstheologischen Gebrauch des οὐσίαBegriffs (Theologie I, wie Anm.  181, S.  123 f.). Die textliche Basis ist allerdings recht schmal (vgl. immerhin Z 6/3, S.  78,2–5). Zwingli spricht etwa vom „numen nostrum“ (Z 6/3, S.  75,4), identifiziert primus motor, numen und „deus noster“, Z 6/3, S.  88,2 (vgl. 91,3; 92,13–15; 218,5 f.) bzw. summum bonum und deus (76,19 f.) bzw. numen (164,3), aber auch natura und numen (97,12 f.) und natura und deus (99,3). Persönlicher Heilsgott und das „Numinose“ sind – gegen Walther Köhler, Zwinglis Glaubensbekenntnis, in: Huldrych Zwingli zum Gedächtnis seines Todes am 11. Oktober 1531, Zürich 1931, S.  18–37, hier: 29 f. – gerade nicht unterschieden! Der Begriff „numen“ ist in der humanistischen Literatur, nicht zuletzt bei Zwingli intensiv vertrauten Autoren wie Erasmus oder Pico della Mirandola, breit zu belegen. Interessanterweise folgt Zwingli Erasmus in dessen lateinischer Version von Acta 17,29, wo dieser – gegen Vulgata [divinum] – τὸ ϑείον mit „numen“ wiedergibt (Erasmus von Rotterdam, Novum Instrumentum, Basel 1516, Faksimile, hg. von Heinz Holeczek, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S.  293; Z 6/3, S.  102,21). Zur Interpretation der Providenzschrift noch immer anregend: Paul Wernle, Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd.  2. Zwingli, Tübingen 1919, S.  246–306. 187   Z 6/3, S.  102,11–22. 188   Vgl. Z 6/3, S.  94,5–10; vgl. Rudolf Pfister, Die Seligkeit erwählter Heiden bei Zwingli, Zürich 1952, S.  26 ff.; vgl. auch: Max Huber, Natürliche Gotteserkenntnis. Ein Vergleich zwischen Thomas von Aquin und Huldrych Zwingli, Bern 1950, S.  75 ff. „Divinis igitur undique oraculis fulti (divinum enim est quicquid verum, sanctum et infallibile; est enim solus deus verax; qui ergo verum dicit, ex deo loquitur. Et qui ratione hac intellectu a sensibilibus ad invisibilis dei contem­ plationem ascendit, Paulo teste [Apg 17,24 ff.], rem deo ac se dignam atque proficuam non sine luce numinis agit.“ Z 6/3, S.  110,12–16. 189   Z 6/3, S.  182,19. 190  Ebd. 191   „Illi [sc. Seneca und Sokrates] enim ut religionem ad verbum et, quod ad sacramenta pertinet, non agnoverint, attamen, quod ad rem ipsam [sc. die Erkenntnis Gottes], aio religiosiores ac sanctiores fuisse quam omnes unquam Dominicastri et Fransiscani.“ Z 6/3, S.  183,3–6. 192   „Si ergo vel apud Platonem vel Pythagoram invenias, quod a divinae mentis fonte promanare odores, non ideo negligendum est, quod mortalis illud monimentis comprehenderit, sed eo magis ad numinis commercium penetrandum, ut veritatis lucem clarius et clarius intueri liceat, cum eos, qui unius dei religionem confiteri non fuerunt ausi, intus tamen habuisse videamus.“ Z 6/3, S.  106,8–13.

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§  11  Theologisch-philosophische Rationalität

heimnisvoller Weise selber belehre.193 In Gottes freier Erwählung gründe auch die Hoffnung auf die Seligkeit edler Heiden.194 Vor dem Hintergrund einer mittels des Gottes- und des Providenzbegriffs systematisch ausgeschlossenen Erkenntnisautonomie der natürlichen Vernunft hat sich Zwingli der noetischen Vollzüge der traditionellen theologia naturalis in einem Maße bedient und den nicht-christlichen Philosophen mit einer Selbstverständlichkeit eine Erkenntnisfähigkeit Gottes zuerkannt, wie kein zweiter reformatorischer Theologe.

5.  Abschließende Bemerkungen Dass der Wittenbergische „Oger“195, wäre er mit diesen Äußerungen Zwinglis zur natürlichen Gotteserkenntnis der Heiden bekannt geworden, eine „spezifisch lutherische“ Reaktion im Sinne Thomas Manns hätte folgen lassen – lutherisch, das ist: „das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe“196 –, kann als unstrittig gelten. Denn mit dem Scharfsinn des Dämonologen hatte Doktor Martinus ja auch erkannt, dass die von Zwingli in der christologischen Debatte des Abendmahlsstreites benutzte rhetorische Figur der Alloiosis197 eine Enkelin der „altten wettermacherynn fraw ver­ nünfft“198 sei. War die Hure Vernunft durch Luther eben erst aus der Theologie ausgetrieben, so begann „des Zwingels geist“199 sogleich mit ihr zu buhlen und der Ehrlosen neue Ehre zu erweisen. So kehrte die Hure Vernunft auf leisen Sohlen zurück

193   „Ut enim unum ac solum numen esse credere eoque fidere omnium est, qui veram religionem habent, ita quomodo aut quale sit numen, id peritorum et illustri intellectu praeditorum, immo familiarius a deo doctorum est.“ Z 6/3, S.  189,5–8. 194   Z 6/3, S.  182,15 ff.; vgl. dazu Pfister, Seligkeit, wie Anm.  188; vgl. auch Erhard Selbmann, Zwinglis Verhältnis zur außerchristlichen Geisteswelt, Diss. phil. masch. Marburg 1941, S.  82 ff. 195   Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: Ders., Essays, Bd.  5 : Deutschland und die Deutschen 1938–1945, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski [Fischer TB 10903], Frankfurt/M. 1996, S.  260–281, hier: 266,19 [Kasus von mir geändert, Th. K.]. 196   A.a.O., S.  266,13–17. 197   Z 5, S.  679,8 f. und Anm.  2 ; vgl. Z 6/2, S.  126. Anm.  21; die erste Reflexion über den Begriff stammt vom 3.  12. 1526, vgl. Z 8, S.  792,14 f.; vgl. auch Locher, Theologie I, wie Anm.  181, S.  129 f.; Z 6/2, S.  127,9 ff.; Z 5, S.  680,1–681,1; 922–928; 564,11 ff.; Z 6/2, S.  126–159; Gäbler, Forschungsbericht, wie Anm.  162, S.  67; W. Peter Stephens, The Theology of Huldrych Zwingli, Oxford 1986, S.  111–118; zum allgemeinen Zusammenhang: Hanns Rückert, Das Eindringen der Tropuslehre in die schweizerische Auffassung vom Abendmahl, in: Ders., Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Tübingen 1972, S.  146–164. 198   WA 26, S.  321,3; Zwinglis Providenzschrift geht auf eine Predigt zurück, die er am 29.  9. 1529 in Marburg gehalten hat; die Wittenberger trafen erst am 30.9. ein, vgl. TRE 22, 1992, S.  76,28 ff.; Z 6/3, S.  1. 199   WA 26, S.  261,19.

5.  Abschließende Bemerkungen

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in die reformatorische Theologie – nicht anders als die Dirnen in manche der evangelisch gewordenen Städte.200

200   Die Toleranz gegenüber Bordellen (lupanaria) „in magnis civitatibus“ (WA 43, S.  60,22) galt Luther als heidnisch; die Juden hätten keine Bordelle gehabt (WATr 5, Nr.  5575, S.  256,6 f.32). Bestrebungen, Bordelle in evangelisch gewordenen Gemeinwesen wieder zuzulassen, stellte er sich entsprechend entgegen (Luther an Hieronymus Weller, 3.  9. 1540, WABr 9, Nr.  3532, S.  228 f., hier: 229,2 ff.; vgl. WATr 6, Nr.  6924, S.  272,34 ff.; vgl. auch Luthers Gutachten von 1539, WABr 12, Nr.  4274, S.  295–298; vgl. WATr 5, Nr.  5470, S.  172,22 f. [Polemik gegen einen protestantischen Juri­ sten, der für die Duldung der Prostitution eintrat ]). Im Falle noch ungefestigter reformatorischer Verhältnisse riet Luther aber dazu, vor der Abschaffung der Bordelle „noch eine kleine zeith gedult zu haben“ „biß das Evangelium fester eingewurzelt und das unkraut ausgerott“ sei (WABr 10, S.  396,2–4 [Sept. 1543, Halle]; vgl. WABr 12, S.  295 Anm.  1). Gegen die traditionelle Berufung auf Augustin (s. Anm.  5) insistierte Luther darauf, dass sich dessen Aussagen auf ‚heidnisches Regiment‘ bezögen und für ein christliches Gemeinwesen nicht in Betracht kämen, WABr 12, S.  297,64 ff. Auch das Argument, dass „durch Hurheuser ander schanden geweret“ (a.a.O., S.  297,34 ff.; vgl. WATr 6, Nr.  6924, S.  273,15 ff.) werde, erkannte der Reformator nicht an. Die Frage einer Vertreibung der Prostituierten sollte nach Melanchthon in der Verantwortung der weltlichen Obrigkeit entschieden werden, MBW 3316.

§  12  Integrale Existenz: Lehre und Leben in der sog. Radikalen Reformation der frühen 1520er Jahre 1.  ‚Doctrina‘ als sperriges Thema bei den „Radikalen“ Die Frage nach Gehalt und Gestalt der ‚Lehre‘ bei den Vertretern der sog. Radikalen Reformation – bei jenen religiösen Gruppen also, die die christliche Religion weitgehend unabhängig von den weltlichen Obrigkeiten autonom gestalten wollten, eine autoritative Prädominanz gelehrter Theologen in konzeptioneller Hinsicht nicht anerkannten und ihre ekklesiologischen Vorstellungen vornehmlich an dem Leitbild der apostolischen Zeit orientierten1 – ist meines Erachtens nur dann sinnvoll zu be1   Das von George Hunston Williams entwickelte Konzept der „Radikalen Reformation“ (The Radical Reformation [Sixteenth Century Essays and Studies 15], Kirksville, Mo 32000) basiert – wie der Vf. in seiner Vorrede zur 3. Auflage verdeutlicht – auf der Anwendung der religionssoziologischen Typologie Ernst Troeltschs. Unbeschadet der Williams selbst bekannten Probleme des Konzepts, die sich ja vor allem aus der Inhomogenität der unter den Begriff der ‚Radikalen Reformation‘ subsumierten Phämone hinsichtlich ihrer Theologie, Sakramentspraxis, des Verhältnisses zur weltlichen Ordnungswelt etc. pp. ergeben, kann doch insofern an der ‚radical Reformation‘ „as an entity“ (S.  9) festgehalten werden, „insofar as in the end, if not at once, they or their successors in their congregations, sects, conventicles, fellowships, communes, and synodal churches for a number of reasons became detached from the primary Magisterial Reformation motif of territorial reform of all the institutions in a given civil jurisdiction [.  .  .].“ Ebd. Insofern ist das Konzept der ‚Radikalen Reformation‘ relationaler Natur; das, was ‚radikal‘ genannt zu werden verdient, ergibt sich aus den jeweiligen historischen Kontexten und Konstellationen. In Bezug auf die Abwehr der ‚Radikalen‘ dürfte deren Anspruch auf ‚religiöse Autonomie‘ eine Schlüsselrolle spielen; zur ‚Radikalität‘ vgl. auch Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit [EdG 20], München 1993, S.  63 ff.; ders., Radikalität der Reformation [FKDG 93], Göttingen 2007, S.  11 ff.; anregend auch Überlegungen Günter Voglers, von ‚Alternativen‘ der Reformation zu sprechen, die sich freilich allererst an den als ‚verbesserungsbedürftig‘ empfundenen Gestaltungen konkretisierten, s. Günter Vogler, Reformation als Alternative – Alternativen der Reformation, in: Ders. (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994, S.  11–22. In literaturwissenschaftlicher Perspektive: Gerhild Scholz Williams, Die radikalen Reformer, in: Werner Röcke/Mariana Münckler (Hg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit [Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1, dtv 4343], München 2004, S.  263–280; als forschungsbilazierendes Überblickswerk ist einschlägig: John D. Roth/James M. Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism 1521–1700 [Brill’s Companions to the Christian Tradition 6], Leiden 2007; vgl. zur neueren Forschung auch: Anselm Schubert/Michael Driedger/Astrid von Schlachta (Hg.), Grenzen des Täufertums / Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen [SVRG 209], Gütersloh 2009.

1.  ‚Doctrina‘ als sperriges Thema bei den „Radikalen“

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arbeiten, wenn man sich die sozialen Orte und kommunikativen Praktiken ihres ‚Lehrens‘ vergegenwärtigt. Denn nicht allein durch die höchst heterogenen inhaltlichen Bestimmungen ihrer ‚Lehre‘ unterschieden sich die ‚Radikalen‘ von den kirchlich verfassten Etablierungsgestalten der Reformation, sondern vor allem wegen ihres Insistierens auf einer unveräußerlichen Korrespondenz von ‚Lehre‘ und ‚Leben‘ sowie durch die Diversität der Begründungs-, Vermittlungs-, Repräsentations- und Inszenierungsformen der ‚Lehre‘. Einen lebhaften Eindruck von der Komplexität der Aufgabe, „Artickel und Leer der Teüffer“2 darzustellen, vermittelt bereits das unter den zeitgenössischen Geschichtswerken gegenüber den ‚Radikalen‘ wohlwollendste: die Chronica des Seba­ stian Franck. Einleitend stellte Franck fest, dass, obschon alle Sekten „in in selbs zerspalten seind / so seind doch sonderlich die Teüffer also undereinander uneynig und zerrissen / das ich nichts gewiss unn endtlichs von in zu schreiben weiß.“3 Die Konsequenz, die Franck aus diesem in der Sache selbst gründenden Darstellungsproblem zog, bestand darin, dass er sich für ein additives Reihungsverfahren entschied: „Ettlich halten iren Widertauff oder tauff so nötig / das sy on den niemandt selig zalen [.  .  .]. Etlich halten in nit so gar für nötig [.  .  .]. Etlich halten den Kindertauff für ein greuel [.  .  .]. Etlich haltens für der Kinder Freyheit / oder lassens ye als ein menschen gebott und vergebnen Tauff geschehen / und wöllen sich um eüsserlich ding nicht so hart eynlegen.“4 Ähnlich pluriform wie in Bezug auf die Taufe stellte sich für Franck die „Leer“ der Täufer in Hinblick auf die Frage der Gütergemeinschaft, der Heiligkeitsvorstellungen, der Wertung des äußerlichen Schriftwortes, die Haltung zum bürgerlichen Leben in den weltlichen Ordnungen, zur Erbsündenlehre u. v. a. m. dar. Allenthalben konstatierte er „ein guten eifer“, der aber „nitt nach der Kunst gericht“5 sei. Einer der wenigen Punkte, in dem die Täufer nach der Darstel2   Sebastian Franck, Chronica, Zeitbuch und Geschichtsbibel, Ulm 1536; ND Darmstadt 1969, T. 3, S.  193v. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf den Abschnitt: „Artickel und Leer der Teüffer / welche all von dem Bapst / und zum teyl auch von andern Secten und glauben als ketzerey verdampt werden.“ S.  193v–201v. Zu Franck vgl. den reichen Sammelband von Jan-Dirk Müller (Hg.), Sebastian Franck (1499–1542) [Wolfenbütteler Forschungen 56], Wiesbaden 1993; Bruno Quast, Sebastian Francks „Kriegsbüchlin des Frides“. Studien zum radikalreformatorischen Spiritualismus [Bibliotheca Germanica 31], Tübingen, Basel 1993, bes. S.  83 ff. (zur Wahrnehmung der Täufer); Alfred Hegler, Geist und Schrift bei Sebastian Franck, Freiburg 1892, bes. S.  252 ff.; JeanClaude Colbus, La Chronique de Sébastian Franck (1499–1542): vision de l’histoire et image de l’homme [Collection contacts: Ser. 3, 66], Bern 2005; Alejandro Zorzin, Das Täufertum in Seba­ stian Francks „Ketzerchronik“ (1531). Eine zeitgenössiche Darstellung aus der Sicht eines Dissidenten, in: Schubert/Driedger/Schlachta, Grenzen, wie Anm.  1, S.  81–104; Edward A. Kline, Spiritus versus Form: Sebastian Franck and the Anabaptists, in: Pennsylvania Mennonit Heritage 27: 1, 2004, S.  2–17, bes. 4–7; Séguenny, Les Spirituels, wie Anm.  113, S.  142 ff. (zu den chronistischen Werken Francks); Ozment, Mysticism, wie Anm.  70, S.  137 ff. 3  Franck, Chronica, wie Anm.  2, S.  193v. 4  Ebd. 5   A.a.O., S.  195v. Sein eigenes, ‚kunstgemäßes‘ hermeneutisch-epistemologisches Konzept entfaltet Franck am Schluss des entsprechenden Passus über die Lehre der Täufer. Die ‚Kunst‘ besteht in einer Korrelation von innerem und äußerem Wort: „Darumb laß sich niemant mit dem buchsta-

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§  12  Integrale Existenz

lung Francks „fast all“ übereinstimmten – außer hinsichtlich ihres verhängnisvollen Separatismus’ –, bestehe in der kritischen Distanz gegenüber den amtlich eingesetzten „predigern“, die sie „mit verachtung“ die „schriftgelerten nennen / und“ nach Francks Ansicht „vil dings zu frevenlich urteylen“6. In dieser Perspektive markierte der Antiklerikalismus7 im Sinne einer fundamental-oppositiven Haltung gegenüber einer den Laien hierarchisch vorgeordneten Amtsgeistlichkeit das deutlichste interne Verbindungsmotiv zwischen den ‚Radikalen‘ der unterschiedlichsten Couleur.

2.  Die frühreformatorische Ausgangskonstellation Das reformationshistoriographische Schlüsselproblem des Verhältnisses zwischen frühreformatorischer Kleruskritik und radikalreformatorischem Antiklerikalismus, das in der Forschung kaum als Problem erkannt, geschweige denn befriedigend geklärt worden ist, stellt das ‚punctum saliens‘ in Hinblick auf Genese und Gehalt der ‚doctrina‘ in der Radikalen Reformation dar. Denn eine ‚Radikale Reformation‘ gab es erst, nachdem eine Distanzierung sowohl von der römisch-‚papistischen‘ als auch von der reformatorischen Amtsgeistlichkeit eingetreten war. Von einer ‚doctrina‘ der ‚Radikalen‘ lässt sich also nur unter der historischen und sachlichen Voraussetzung ihrer Äquidistanz gegenüber den ‚Schriftgelehrten‘ der sich formierenden großkirchlichen Lager sprechen. Die Tatsache, dass Luther im Laufe des Jahres 1522 zumindest vier persönliche Kontakte mit den wichtigsten Protagonisten der sog. Zwickauer ben der schrifft betauben und bezaubern / sunder erweg unn probier vor die schrifft / wie sy sich mit seim hertzen vergleich. Ist sy wider sein gewisen und einwonend wort / so hüt dich bei leib / sy ist nit recht nach dem sinn des geists verstanden und außgelegt / dann die schrifft sol unserm hertzen unn geyst gezeügniß geben / und nit darwider sein / und wie man die geister zuvor probieren soll / also auch den buchstaben der schrifft / ob er nach dem sinn Christi sei außgelegt unn eingefürt. Dann man muß mit dem buchstaben nit sicher sein unn alles vertrawen / weil soviel ketzer darauß werden / sunder den sinn des geysts darinn sorgfeltig mit fort suchen / fassen und annemmen.“ A.a.O., S.  201r. Vgl. außer der Anm.  2 genannten Literatur zu Franck auch: Jan-Dirk Müller, Buchstabe, Geist, Subjekt, in: Modern Language Notes 106, 1991, S.  648–674, sowie die im Ganzen kundige, gelegentlich etwas weitschweifige Darstellung Dejungs im Kommentarband zu den Werken Francks: Christoph Dejung, Sebastian Franck Sämtliche Werke, Bd.   1: Frühe Schriften: Kommentar, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, passim; zum Spiritualismus Francks bes. S.  387 ff.; vgl. auch Hegler, Geist, wie Anm.  2, S.  83 ff.; passim. 6  Franck, Chronica, wie Anm.  2, S.  199r. 7   Vgl. zu diesem in den 1990er Jahren lebhaft debattierten Konzept insbesondere die Beiträge von Hans-Jürgen Goertz (Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987; ders., Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen [Kleine Reihe V&R 1571], Göttingen 1995; ders., Deutschland 1500– 1648. Eine zertrennte Welt [utb 2606], Paderborn 2004, bes. S.  80 ff.; ders., Von der Kleriker- und Laienkultur, in: van Dülmen – Rauschenbach, Macht, wie Anm.  40, S.  39–64, bes. 46 ff.; ders., Radikalität, wie Anm.  1, passim, bes. S.  274 ff.) sowie den Sammelband von Heiko A. Oberman/Peter A. Dykema (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe [SMRT 51], Leiden u. a. 1993 (und dazu meine Analyse in: GGA 247, 1995, S.  112–138); zuletzt: Todt, Kleruskritik, wie Anm.  113, S.  182 ff.

2.  Die frühreformatorische Ausgangskonstellation

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Propheten hatte, die ihn von sich aus aufsuchten und von ihren auf außerbiblische Offenbarungsquellen gegründeten Lehren überzeugen wollten8, lässt es meines Erachtens angemessen erscheinen, die Grenzen zwischen Luther bzw. dem Wittenberger Reformatorenkreis auf der einen und der ‚Radikalen Reformation‘ bzw. ihren frühesten Exponenten auf der anderen Seite noch bis ca. 1522/3 ‚offen‘ zu halten. Da sich die Zwickauer auf Luther berufen hatten9 und auch für Luther und seine Kolle8   Im Dezember 1521 waren Storch, Thomae und ein unbekannter Dritter (nicht: Thomas Drechsel, vgl. meine traditionskritischen Hinweise in: Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010, bes. S.  78 f.) gemeinsam in Wittenberg gewesen und hatten bekanntlich auf Melanchthon und Amsdorf Eindruck gemacht; dies hat sich in verschiedenen Quellen niedergeschlagen, s. Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, Leipzig 21911, S.  129; 136; 139; 144; 160; MBW 192; MBW.T 1, S.  415–417; MBW 193; MBW.T 1, S.  417 f.; WABr 2, Nr.  450, S.  424–428; WABr 13, S.  43; MBW 205; MBW.T 1, S.  433–439. Zu einem Besuch von Marcus Thomae genannt Stübner, dem Studenten im Kreis der Zwickauer, bei Luther kam es Anfang April 1522. Thomae wurde von Martin Borrhaus Cellarius (vgl. über ihn: Irene Backus, Martin Borrhaus [Cellarius], [BiDi 2], Baden-Baden 1981, S.  12; DBETh 1, 2005, S.  167 [Lit.]), seinem Anhänger und Freund, begleitet; vgl. dazu: Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  2 : Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S.  44–46; bisher grundlegend: Paul Wappler, Thomas Müntzer in Zwickau und die „Zwickauer Propheten“ [SVRG 182], Gütersloh 1966, S.  73–79; jetzt: Kaufmann, a.a.O., S.  61 ff.; die wichtigsten Quellen zur Sache sind: Joachim Camerarius, Das Leben Philipp Melanchthons, übers. v. Volker Werner, Leipzig 2010, S.  64–68; WABr 2, Nr.  459, 17.  3. 1522, S.  474 f., hier: 473,8–12; Nr.  472, 12.  4. 1522, S.  492–494, hier: 493,17–30; 495,41–45; zum Eindruck, den die Zwickauer auf Gerhard Westerburg, Karlstadts späteren Schwager, machten, vgl. WABr 2, S.  515,8 ff., und: Wappler, a.a.O., S.  76; Kaufmann, a.a.O., S.  35 f. u. ö.; zu Westerburg vgl. BBKL 23, 2004, Sp.  1565–1569 [Lit.]; DBETh 2, 2005, S.  1407. Die Begegnung Luthers mit Thomae / Stübner vom April 1522 hat einen Niederschlag in folgenden Tischreden gefunden: WATr 1, Nr.  362, S.  153,12 ff. (Erinnerung an Syllogismen, die Thomae verwendet habe und die die Erbsündenlehre aufhöben); WATr 2, Nr.  2049, S.  304,8 ff. (Cellarius sucht Luther davon zu überzeugen, dass dessen vocatio größer sei als die der Apostel, was dieser als superbia abgelehnt haben will, vgl. WATr 3, Nr.  2837a, S.  14,21 f.; WATr 4, Nr.  5018, S.  617,31 ff.); WATr 2, Nr.  2060, S.  306,27–307,8 (ausführliche Schilderung des Gesprächs mit Stübner); WATr 3, Nr.  2837a, S.  13,27–14,10 (Stübners Urteil über den von Luther erreichten Heilsstand); WATr 3, Nr.  2837b, S.  14,32–15,17 (dasselbe); WATr 5, Nr.  5568, S.  249,1 f. (zum prophetischen Selbstbewusstsein Stübners). Storch war Anfang September 1521 in Wittenberg, s. WABr 2, Nr.  535, S.  596 f., hier: 597,26–31; vgl. WATr 2, Nr.  2060, S.  307,9 ff. Möglicherweise spielte Westerburg, der in Köln von einem der Zwickauer Propheten beeindruckt worden war [vgl. WABr 2, S.  515,8 ff.; s. oben II, §  7, Anm.  148], den Luther aber im ganzen positiv einschätzte und auf dem ‚rechten Weg‘ (viam sanam, a.a.O., S.  515,13 [Mai 1522]) sah und dessen Anwesenheit bei dem Gespräch mit Storch gesichert ist (WABr 2, S.  597,3), auch als eine Art ‚Mediator‘ zwischen den Zwickauern und Luther eine Rolle. Der Besuch Müntzers in Wittenberg im Dezember 1521 (Wappler, a.a.O., S.  79) könnte auch aufgrund von WATr 2, Nr.  2060, S.  307,15 f. und WA 15, S.  214,4 f. wahrscheinlich sein; s. allerdings zu den Unsicherheiten auch: Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen 31976, S.  239 ff.; vgl. auch LuStA 3, S.  91 Anm.  32; WABr 2, S.  515,13 f.; zu Luthers Verschränkung der Zwickauer mit Müntzer, s. Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  391,21 ff.; 341,11 f. = Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch, Thomas Müntzer. Briefwechsel [ThMA 2], Leipzig 2010, S.  168,14 ff.; einen möglichen Wittenbergbesuch Müntzers im Januar 1522 habe ich wahrscheinlich zu machen versucht in: Kaufmann, a.a.O., S.  75 ff. 9   So Spalatin in seinen protokollarischen Aufzeichnungen über das Auftreten der Zwickauer von Anfang Januar 1522, in: Müller, Wittenberger Bewegung, wie Anm.  8, Nr.  64, hier: S.  139 f. Die entsprechenden Bemerkungen dürften so zu interpretieren sein, dass sich die „Zwickauer Propheten“ Storch und Stübner bei ihrem Auftreten in Wittenberg im Dezember 1521 generell auf Luther

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§  12  Integrale Existenz

gen nicht fraglich war, dass sie in einem historischen Zusammenhang mit der von Wittenberg ausgehenden Bewegung standen, wird man der Frage nach möglichen Verbindungsmotiven ihrer Lehren eine gewisse Aufmerksamkeit nicht vorenthalten können. Dass eine monogenetische Ableitung etwa der Theologie Müntzers oder der Zwickauer10 aus der frühreformatorischen Wittenberger Theologie11 der Komplexität der traditionsgeschichtlichen Einflüsse humanistischer, mystischer oder taboritischer Provenienz12 nicht gerecht wird, sollte nicht daran hindern, die zeitweilige beriefen, voraus Spalatin die Notwendigkeit ableitete, dass Luther ihre Lehre prüfe. Auch Melanchthon begründete gegenüber Friedrich von Sachsen seine Vorstellung, Luther solle die Zwickauer prüfen, damit, dass diese sich auf ihn beriefen (MBW.T 1, S.  417,19 f. [„ad hunc enim provocant“]). [Ambrosius Wilken] kommentierte den Vorgang in seiner Zeitung aus Wittenberg (Anfang Januar 1522, Müller, a.a.O., Nr.  68, S.  151 ff., hier: 160) folgendermaßen: „[.  .  .] Philipp [sc. Melanchthon] [.  .  .] hat an hertzog [sc. Kurfürst Friedrich von Sachsen] geschriben, er soll Martinum her schicken, er [sc. Thomae/oder Müntzer] hatt sich auff yn beruffen, er muß zu ym kummen, auch gesagt, Martinus hab maystentails recht, aber nicht in allen stucken, es werdt noch ein ander uber yn kummen mit einem höhern gayst ec.“ In Luthers frühester Äußerung über die Zwickauer, seinem Brief an Melanchthon vom 13.  1. 1522 (WABr 2 Nr.  450, S.  424–428; MBW.T 1, S.  433– 439), konstatierte er, dass der Satan in der Frage der Kindertaufe nicht „per papistas“ (WABr 2, S.  427,118; MBW.T 1, S.  439,117) wirke, sondern: „In nobis ipsis et inter nostros molitur hoc gravisimum schisma [.  .  .].“ A.a.O., S.  427,118 f. bzw. 439,117 f. Für Luther war also klar, dass die Zwickauer zunächst in die ‚eigenen Reihen‘ gehörten. Im Frühjahr 1525 bat Melanchthon Camerarius darum, zu recherchieren, ob sich Karlstadt (vgl. MBW.T 2, S.  288,6 mit textkritischem Apparat in Verbindung mit MBW 1, S.  189) und Storch unter den aufständischen Bauern in Franken befänden. Von Storch berichtete Melanchthon, dass dieser Erwartungen zur Übernahme der ‚Weltherrschaft‘ hegte: „Is [sc. Storch] pollicetur sibi imperium orbis terrarum, et ferunt intra quadriennium futurum, ut rerum potiatur et instauret sacra et res publicas tradat sanctis viris tenendas. Sic praedicant apparuisse dem Clasen aliquando angelum, qui dixerit ei his verbis: Du solt sitzen im stul Gabriel. Quibus verbis regnum promissum putant.“ MBW.T 2, Nr.  391, S.  289,9–14; vgl. dazu: Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, S.  69 f.; 80 f.; vgl. auch Max Steinmetz, Philipp Melanchthon über Thomas Müntzer und Nikolaus Storch, in: Philipp Melanchthon. Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae, Berlin 1963, S.  138–173; weitgehend identisch mit: Ders., Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels [LÜAMA R. B., Bd.  4], Berlin 1971, S.  37–71, sowie Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8, bes. S.  95 f. 10  Vgl. Susan Karant-Nunn, Zwickau in Transition, 1500–1547. The Reformation as an Agent of Change, Columbus 1987, S.  106–109; Siegfried Hoyer, Die Zwickauer Storchianer – Vorläufer der Täufer? In: Rott/Verheus (Hg.), Anabaptistes, wie Anm.  22, S.  65–83, zugleich in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 13, 1986, S.  60–78; vgl. Hans-Peter Hasse, Art. Zwickauer Propheten, in: RGG4, Bd.  8, 2005, Sp.  1943; zum Kontext instruktiv: Siegfried Bräuer, Spottgedichte in Zwickau 1520 / 1521, in: Ders., Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation, hg. von Hans-Jürgen Goertz und Eike Wolgast, Leipzig 2000, S.  9 –58, sowie Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8. 11   Zu Müntzer und Wittenberg grundlegend: Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung [SMRT 46], Leiden u. a. 1989; ders., Thomas Müntzers Wittenberger Studienzeit, in: ZKG 99, 1988, S.  168–213; Dieter Fauth, Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990, S.  101–169 (zu den antiken, patristischen und mystischen Hintergründen Müntzers und der Vermittlung Karlstadts). 12   Vgl. nur die besonnen bilanzierende Darstellung in Gottfried Seebaß’ Art.: Müntzer, Th., in: TRE 23, 1994, S.  414–436 [Lit.]; s. auch: Tom Scott, Thomas Müntzer. Theology and Revolution in the German Reformation, Houndmills 1989, bes. S.  26 ff. Haben in Bezug auf die Anfänge der

2.  Die frühreformatorische Ausgangskonstellation

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Koinzidenz der späteren Antipoden auch als rezeptionsgeschichtliches Problem aufzufassen. Denn die Vorstellung einer unmittelbaren Geistbelehrung, die Müntzer aus taboritischen Überlieferungen bekannt war und die er in der Gestalt des von ihm hoch gepriesenen Nikolaus Storch exemplarisch realisiert sah13, ließ sich mit einschlägigen Äußerungen Luthers über das allgemeine Priestertum und die unvermittelte Wirkung des Gottesgeistes in den Gläubigen einigermaßen mühelos amalgamieren. Im Unterschied zu vorsichtigeren Formulierungen hinsichtlich der Verbindung von verbum externum und der Verleihung des Gottesgeistes, wie sie für spätere, bereits durch die Erfahrung mit den ‚Schwärmern‘ im eigenen Lager bestimmte Äußerungen des Wittenberger Reformators charakteristisch werden sollten14, hatte Luther im Sommer 1520 ganz unverblümt festgestellt: „Auch Christus sagt Johan. VI. [45] das alle Christen sollen geleret werden von got, szo mag es yhe geschehen, das der Bapst und die seinen bosz sein, und nit rechte Christen sein, auch von got geleret werden rechten verstand haben, widderumb ein geringer mensch den rechten verstand haben, warumb solt man yhm den nicht folgenn?“15 Und in derselben Schrift – An den christlichen Adel – hatte Luther, abermals unter Berufung auf Joh 6,45, im Kontext des Artikels über die Universitätsreform, bemerkt: „[.  .  .] ich weiß hie keinen andern radt, den ein demuttig gepet zu got, das uns der selb Doctores Theologie gebe: Doctores der Kunst, der Ertzney, der Rechten, der Sententias mugen der Bapst, Keyszer und Universiteten machen, aber sey nur gewisz, eynen Doctorn der heysächsisch-mitteldeutschen Radikalen Reformation vernehmlich Fragen ihrer möglichen Beziehung zu hussitisch-taboritischen Traditionsträgern eine Rolle gespielt, so hat Keller, Reformation, wie Anm.  125, für das schweizerisch-oberdeutsche Täufertum Beziehungen zu den Waldensern postuliert bzw. konstruiert. Der Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Radikalen und der vorreformatorischen „Ketzergeschichte“, insbesondere den Waldensern, kann im Rahmen dieses Kapitels nicht gesondert nachgegangen werden; vgl. dazu aber Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8, S.  107– 120. 13  Abdruck der Quelle in: Johann Karl Seidemann, Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1842–1880), herausgegeben von Ernst Koch, Bd.  1, Leipzig 1990, S.  120; vgl. auch Elliger, Müntzer, wie Anm.  8, S.  122 ff.; Vogler, Thomas Müntzer und die Gesellschaft, wie Anm.  61, S.  60 f.; Neuedition in: Wieland Held/Siegfried Hoyer, Quellen zu Thomas Müntzer [ThMA 3], Leipzig 2004, S.  81 ff.; vgl. Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8, S.  21 ff.; Wappler hat im Anschluss an die reformationszeitliche Chronistik Storchs Spiritualismus mit der auf einen Bauern namens Nik­ las von Wlas´ enic [Wlassenitz] zurückgehenden „Sekte“ der „Nikolaiten“ in Böhmen in Zusammenhang gebracht, die als eine „Art Vorläufer der Quäker“ beschrieben werden, insofern „sie den geistlichen Stand als solchen gänzlich verwarfen und ihren Glauben nicht bloß auf die heilige Schrift, sondern auch auf eine besondere Offenbarung gründeten, womit, wie sie sagten, der heilige Geist die Glieder ihrer Gesellschaft unmittelbar erleuchtete.“ Zitiert nach Wappler, Thomas Müntzer, wie Anm.  8, S.  30. Brecht spricht lediglich von einer Ähnlichkeit der Lehren Storchs und der der böhmischen Nikolaiten, s. Luther, Bd.  2, wie Anm.  8, S.  44; skeptisch auch: Reinhard Schwarz, Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten [BHTh 55], Tübingen 1977, S.  1 mit Anm.  2 ; vgl. zu den Nikolaiten Franz Palacky, Geschichte von Böhmen, Bd.  4 /1, Prag 1857, S.  463; Elliger, a.a.O., S.  123; Kaufmann, a.a.O., S.  15 ff. 14   Der ‚klassische‘ Text ist natürlich: Wider die himmlischen Propheten (1525), 2. Teil, WA 18, S.  134–214, bes. 136,24 ff. 15   An den christlichen Adel (1520), WA 6, S.  411,25–30.

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§  12  Integrale Existenz

ligenn schrifft wirt dir niemandt machenn, denn allein der heylig geyst vom hymel, wie Christus sagt Johan. VI. ‚Sie mussen alle von gott selber geleret sein‘. Nu fragt der heylig geyst nit nach rodt, brawn parrethen, oder was des prangens ist, auch nit, ob einer jung oder alt, ley oder pfaff, munch odder weltlich, Junpfrau odder ehlich sey, ja ehr redt vortzeiten durch ein Eselyn widder den Propheten, der drauff reyt [Num 22].“16 Und an nicht weniger prominenter Stelle, in der Vorrede zu seiner Auslegung des Magnificat, einem auch für Müntzer zentralen Bibeltext17, hatte Luther konstatiert: „Denn es mag niemant got noch gottes wort recht verstehen, er habs denn on mittel von dem heyligen geyst. Niemant kansz aber von dem heiligen geyst habenn, er erfarsz, vorsuchs und empfinds denn, uund yn der selben erfarung leret der heylig geyst alsz yn seiner eygenen schule [.  .  .].“18 Die Liste einschlägiger Äußerungen19 ließe sich mühelos verlängern und bis 1524 fortführen.20 Luthers früher „pneumatologischer Antiklerikalismus“21, der die populäre Polemik gegen die ‚verkehrten Gelehrten‘ aufnahm22, dürfte der publizistisch 16

  WA 6, S.  460, 27–36; s. auch oben II, §  7, Anm.  59 ff.; unten III, §  13, Anm.  41 ff.   Vgl. etwa Thomas Müntzer, Schriften und Briefe, hg. v. Günther Franz [QFRG 33], Gütersloh 1968, S.  282,32–283,2 (= ThMA 1, S.  341,8–12); vgl. auch: Schwarz, Theologie, wie Anm.  13, S.  118 ff.; Christoph Burger, Luther and Müntzer see Mary’s Song through Different Spectacles, in: Christopher Ocker/Michael Printy/Peter Wallace/Peter Starenko (Hg.), Politics of the Reformations: History and Reformation. FS Thomas A. Brady Jr. [SMRT 127], Leiden, Boston 2007, S.  241–253. 18   Das Magnifikat verdeutscht (1521), WA 7, S.  546,24–28; zur Interpretation dieser Passage – auch in kritischer Auseinandersetzung mit harmonisierenden Lesarten: Christoph Burger, Marias Lied in Luthers Deutung [SuR N. R. 34], Tübingen 2007, S.  29 ff. 19  Vgl. nur: WA 8, S.  415,15–24 = 486,18–39; 415,27–38 = 486,31–487,2; WA 11, S.  412,17 f.; 412,34. 20  Vgl. Berndt Hamm, Geistbegabte gegen Geistlose: Typen des pneumatologischen Antiklerikalismus – zur Vielfalt der Lutherrezeption in der frühen Reformationsbewegung (vor 1525), in: Oberman/Dykema, Anticlericalism, wie Anm.  7, S.  378–440, hier: 386–398; ND unter dem Titel: Pneumatologischer Antiklerikalismuns – zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung, in: Ders., Lazarus Spengler (1479–1534) [SuR N. R. 25], Tübingen 2004, S.  118–170, hier: 124–134. 21   Hamm, Geistbegabte, wie Anm.  20, S.  386 (ND S.  124). 22   Vgl. WA 7, S.  591, 5 f.; WA 51, S.  645 Nr.  7 mit Erklärung 665; WATr 6, Nr.  7030, S.  345, 5; ein Beispiel für die Präsenz des Sprichwortes in der frühreformatorischen Flugschriftenliteratur findet sich in: Eynn Dialogus ader gesprech zwischen eynem Vatter unnd Sun dye lere Martini Luthers und sunst andere Sachen des Christlichen glaubens belangende, Erfurt, M. Buchfürer 1523; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  303, Nr.  701; Alejandro Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Flugschriften, in: ARG 88, 1997, S.  77–118, hier: Nr.  79, S.  107; ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  21–50, hier: 36: „Vatt[er] das hab ich in veritate vor nie gehört, dass die grossen beuch mit den rothen baneden [d. i. Baretten] ec. haben allewegen gewölt, got sey mitt in, der sy nie erkant hat [.  .  .]. got hats allewegen mit den armenn gehaltenn. Er sahe auch Mariam die hochwirdige mutter gottes fur andern schönen Juncfrawen an, die da ain arm haußmeidleyn was. darumb sang sie im magnificat Luce 1 [v. 53]: deposuit potentes de sede et exaltavit humiles. Sun. das ist ja war, vater [.  .  .]. gott hat die niderischen erhöcht [.  .  .]. [.  .  .] Vatt[er] meint ich doch, weil die verkertten gelertten die schrifft verstünden, sie würden am ersten selig.“ Vgl. auch: Ernst Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung, Weimar 1900, ND Leipzig o. J., Nr.  7, S.  33 f.; vgl. auch: Heiko A. Oberman, Die Gelehrten die Verkehrten: Popular Response to Learned Culture in Renaissance and Reformation, in: Steven E. Ozment (Hg.), Religion and Culture in the Renais17

2.  Die frühreformatorische Ausgangskonstellation

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einflussreichste Beitrag zu einem neuen religiösen Rollenverständnis der Laien in der frühen Reformation gewesen sein. Mit der bei verschiedenen Flugschriftenautoren aus dem Laienstand geradezu topischen Inanspruchnahme der endzeitlichen Geistausgießung nach Joel 3,1 [vgl. 2,28; vgl. Apk 2,16 ff.] für die Legitimierung ihres öffentlichen Auftretens gegen die gelehrten Repräsentanten des kirchlichen Ancien régime23, die – soweit ich sehe – 24 über das Ensemble der exegetischen Begründungen sance and Reformation [SCES 11], Kirksville, Mo. 1989, S.  43–63; Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondo (Hg.), Forme e destinatione del messagio religioso [Studi e Testi per la storia religiosa del Cinquecento 2], Florenz 1991, S.  229–375; ders., Das Sprichwort ‚Die Gelehrten, die Verkehrten‘ in der Toleranzliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Jean G. Rott/Simon Verheus (Hg.), Anabaptistes et dissidents au XVIe siècle [BiDi Scripta et Studia 3], Baden-Baden 1987, S.  159– 172; ders., Über zwei Sebastian Franck zugeschriebene Reimdichtungen. Stammen „Die Gelehrten, die Verkehrten“ und „Vom Glaubenszwang“ tatsächlich von Franck? In: Müller, Franck, wie Anm.  2, S.  223–238; eine Edition des Lehrgedichts „Die Gelehrten, die Verkehrten“ von Valentin Ickelsamer (vgl. über ihn: Roy L. Vice, Valentin Ickelsamer’s Odyssey from Rebellion to Quietism, in: MQR 69, 1995, S.  75–92) liegt jetzt vor in: Fast/Rothkegel, wie Anm.  67, S.  99–129; vgl. zur Sache auch: Jean Trapman, Surgunt indocti. Augustine’s dictum (Confessiones VIII,8) in the 16th and 17th centuries, in: BHR 59, 1997, S.  51–56. In der Darstellung Agricolas war die Gelehrtenpolemik Müntzers übrigens ein Motiv dafür, dass das Volk an ihm Gefallen fand, s. Fischer, wie Anm.  30, S.  31,12 f.; vgl. a.a.O., S.  91,23 f. Eine besonders profilierte radikal-reformatorische Verwendung des Sprichtwortes findet sich bei Hätzer: „Derhalben / wer die schrifft wöl verstehen / der gehe in die rechte schul Christi / da wirt er sie lernen / er darff weder auff alter noch newer Papisten geschwürm und schulen studirn / da man gar nichts götlicher kunst [s. Anm.  40] lernet noch ergreifft / sonder ie lenger ie erger / ie gelerter ie verkerter / stöltzer und hohmütiger man drauß wirt / daß sind leyder exempel gnug vorhanden.“ Baruch-Vorrede, wie Anm.  70, [4]v. Auch in der anonymen, Johann von Botzheim zugeschriebenen Vorrede zur Übersetzung von Erasmus’ Einleitung in das Matthäusevangelium (Ein schön Epistel Erasmi von Roterdam, Basel, Adam Petri 1522; VD 16 E 2921; Ex. UB Basel F L VII 11 {digit.}, A 2r: „denselben [sc. guten] gelerten kein schaden / und disen verkerten spot [.  .  .] gebirt“) begegnet das Sprichwort, vgl. auch Frank Hieronymus, 1488 Petri Schwabe 1988, Bd.  1, Basel 1997, Nr.  62, S.  156–158, hier: 156; vgl. auch Kessler, Sabbata, wie Anm.  32, S.  537 Anm.  (zu S.  37,3 f.). Vgl. zu dem Diktum auch oben II, §  7, Anm.  315; §  8, Anm.  51; Böcking I, S.  100,88. 23   Einige Beispiele und Literaturhinweise dazu in: Thomas Kaufmann, Pfarrfrau und Publizi­ stin. Das reformatorische „Amt“ der Katharina Zell, in: ZHF 23, 1996, S.  169–218, hier: 202 f. mit Anm.  116; vgl. auch: Hans Sachs, Disputation zwischen einem Chorherren und Schumacher (1524), ed. in: Rudolf Bentzinger (Hg.), ‚Die Wahrheit muss ans Licht‘. Dialoge aus der Zeit der Reformation, Frankfurt/M. 1983, hier: S.  360: „Schuster: Christus spricht Johannis am 6.: Sie werden all von Gott gelehrt. Chorherr: Es muß Kunst auch dasein. Wofür wären die Hohen Schul? Schuster: Uff welcher Hohen Schul ist Johannes gestanden, der so hoch geschrieben hat? [.  .  .] Chorherr: Lieber, dieser hätt den Heiligen Geist, wie Actuum am 2. Schuster: Steht doch Joelis 2: Und es soll geschehen in letzten Tagen, spricht Gott. Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch etc. Wie, wenn es von uns gesagt wär? Chorherr: Nein, es ist von den Aposteln gesagt, wie Petrus anzeucht, Actuum 2. Darumb packt Euch mit dem Geist!“ Vgl. dazu auch: Hamm, Geistbegabte, wie Anm.  20, S.  408; siehe auch 400; vgl. ders., Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, bes. S.  192 ff.; zur Laientheologie in der Reformation s. auch die kompakte Übersichtsdarsellung von Elsie McKee: The Emergence of Lay Theologies, in: Peter Matheson (Hg.), Reformation Christianity [A People’s History of Christianity vol. 5], Minneapolis 2007, S.  212–231; s. auch unten III, §  13. 24   Joel 2,28 bzw. 3,1 wird von Luther etwa 1521 im Zusammenhang mit dem ‚Notmandat‘ weiblicher Rede zitiert, aber dem Subordinationsgebot aus 1 Kor 11,5 f. an Bedeutung nach- bzw. un­

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§  12  Integrale Existenz

der Laienkompetenz bei Luther hinausgeht, erhielt die frühreformatorische Bewegung eine apokalyptische Zuspitzung, die erst nach der definitiven Trennung von kirchlich-magistraler und ‚radikaler‘ Reformation infolge des Bauernkriegs zum Merkmal einiger der ‚Radikalen‘ werden sollte.

3.  Vestimentäre Konversionen Die Dramatik des Rollenkonflikts zwischen gelehrten Geistlichen zunächst des altgläubigen, bald auch des reformatorischen Lagers einerseits, geistbegabten Laien und ‚radikalen Reformatoren‘ andererseits, kann man sich im Modus symbolischer Verdichtung an einem Kleidungsstück wie dem Barett vergegenwärtigen. 1520 hatte Luther dem Barett als Symbol des gelehrten Habitus’ des promovierten Universitätsabsolventen25 eine kühl-distanzierte Absage erteilt26, und in Flugschriften war dazu aufgefordert worden, den „bluthunden“ aus dem geistlichen Stand die Marderschauben und „barett / groß unn kleine / rote braune unnd blaue“27 zu nehmen und sie aus tergeordnet, WA 8, S.  424,38 ff. = 498,1 ff. Angesichts der prominenten Rolle, die der Vers in der frühreformatorischen Flugschriftenliteratur spielt, ist das geringe Gewicht, das ihm bei Luther zukommt, auffällig. Vgl. auch Hamm, Geistbegabte, wie Anm.  20, S.  400; zur Entwicklung der frühreformatorischen Laientheologie Karlstadts vgl. Shiniche Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodensteins von Karlstadt in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005; Sabine Todt, Äußeres und inneres Wort in den frühen Flugschriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt – Das Bild vom Laien, in: Looß/Matthias (Hg.), Querdenker, wie Anm.  120, S.  111–134; Goertz, Radikalität, wie Anm.  1, S.  59 ff. 25   Dass der Kleidung eine wichtige Funktion bei der Schaffung des Gelehrtenstandes zukam, ist in der mediävistischen und frühneuzeitlichen Forschung insbesondere an den akademischen Kleiderordnungen aufgewiesen worden, vgl. Andrea von Hülsen-Esch, Kleider machen Leute. Zur Gruppenrepräsentation von Gelehrten im Mittelalter, in: Otto Gerhard Oexle/dies. (Hg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte [VMPIG 141], Göttingen 1998, S.  225–257; in Bezug auf die Universitätsgeschichte der Frühen Neuzeit: Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit [Symbolische Kommunikation in der Vormoderne], Darmstadt 2006, S.  93 ff.; speziell zu Farbe und Form der Doktorbarette 104 f.; Ders., Talar und Doktorhut. Die gelehrte Kleiderordnung als Medium sozialer Distinktion, in: Barbara Krug-Richter/Ruth Mohrmann (Hg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa [Beihefte zum AKuG 65], Köln u. a. 2009, S.  245–271. In der zeitgenössischen Ikonographie kann der Gelehrte auch mit einer hutartigen Kopfbedeckung gezeigt werden, etwa, ironisch gebrochen, auf Dürers „Der Schulmeister“ (1510), wo er mit „komisch übersteigertem Gelehrtenhut“ (Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum [Bearb.], Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd.  2, München u. a. 2002, Nr.  150, S.  166) dargestellt ist; vgl. auch das mit präzisen ständespezifischen Kopfbedeckungen versehene Bildprogramm des „Teppichs von Michelfeld“, das einen vergleichbaren Lehrer mit großem Hut zeigt, a.a.O., A 22, S.  525–528; ähnlich: Sebald Beham, Ein newer Spruch, s. Anm.  33, in: Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  33, S.  82, Nr.  318. 26   S. oben Anm.  16. 27   Georg Schönichen, Den achtbarn und hochgelerten zu Leypßck / Petro Mosellano Rectori / Ochssenfart Prediger zu S. Nicolao / Andree Camiciano / meynen gunstigen herren und lieben brüdernn ynn Christo Jhesu etc. [Grimma, Jakob Stöckel und Nikolaus Widemar] 1523; VD 16 S 3738; Ex. MF 116 Nr.  313; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  428, Nr.  4120 [B 2r]. Zu den Baretten als pars pro toto des Gelehrten-

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der Stadt zu vertreiben. Als Luther dann im Sommer 1524 im Zusammenhang seiner Visitationsreise durch Ostthüringen28 in Karlstadts Orlamünder Gemeinde kam, brachte er seine Missbilligung gegenüber dem seines Erachtens unter den gefährlichen Einfluss seines früheren Wittenberger Kollegen und Antipoden geratenen Magistrats der Saalestadt dadurch sinnfällig zum Ausdruck, dass er auf deren Willkommensgruß hin „sein rotzypffelich banneth auf seinem haubt“29 ließ und so die gebührende Ehrenbezeugung verweigerte.30 standes s. auch Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  36, zit. oben Anm.  22. Gabriel Zwilling trug übrigens in Eilenburg ein mardernes Barett mit zwei Aufschlägen (WABr 2, S.  506 Anm.  3); Luther setzte voraus, dass dieses Kleidungsstück bei einem monastischen Träger etwas Provozierendes hatte, und riet Zwilling, es in Altenburg nicht zu tragen, WABr 2, S.  506,10; zu Schönichen s. Siegfried Bräuer, „ich begere lauttern vnd reinen wein / So vormischt er mirn mith wasser.“ Der Flugschriftenstreit zwischen dem Eilenburger Schuhmacher Georg Schönichen und dem Leipziger Theologen Hieronymus Dungersheim, in: Jörg Haustein/Harry Oelke (Hg.), Reformation und Katholizismus. FS für Gottfried Maron zum 75. Geburtstag [Reformation und Neuzeit 2], Hannover 2003, S.  97–140. 28   Vgl. zum Kontext nur: Brecht, Luther, Bd.  2, wie Anm.  8, S.  158 ff.; Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  2, 2. unv. Auflage Nieuwkoop 1968, S.  124 ff.; Volkmar Joestel, Ostthüringen und Karlstadt, Berlin 1996, S.  80 ff. 29   WA 15, S.  342,8 30   In dem auf subtile Weise tendenziösen Bericht, der gemeinhin Karlstadts Anhänger Martin Reinhart (s. über ihn Siegfried Hoyer, Martin Reinhart und der erste Druck hussitischer Artikel in Deutschland, in: ZfG 18, 1970, S.  1597–1615; Bräuer/Kobuch, Müntzers Briefwechsel, wie Anm.  8, S.  293 Anm.  2) zugeschrieben wird, besteht das Skandalon des nicht gelüpften Baretts in Folgendem: „und eret [sc. Luther] sy [sc. die Ratsdelegation von Orlamünde, die ihm entgegengegangen war] nit wyder umb.“ WA 15, S.  342,8 f. In einer Polemik gegen Luther, in der sich Karlstadt v. a. wegen seines grauen Rockes (s. u.) verteidigte, ging der Wittenberger Dissident zum Gegenangriff über: „Was schadt mir [sc. Karlstadt] ein gemeyn kleyd / geb ich doch durch einen grawen Rocke kein anzeyg verdechtlicher heyligkeit / als D. Luther mit seyner heyligen Cappen thut.“ Zit. nach: Erich Hertzsch, Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523 bis 1525, Teil  2 [Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 325], Halle 1957, S.  94, 13–15; mit der „Cappen“ ist m. E. nicht Luthers „Mönchskutte“ (so Hertzsch, a.a.O., S.  125 zu S.  94,15) gemeint, sondern – was vom sprachgeschichtlichen Befund her möglich ist – eine Kopfbedeckung, also das Doktorbarett, dessen symbolische Bedeutung im Kontext der Szene in Orlamünde offenkundig war. Denn dass Luther seiner Kutte keine spezifische Bedeutung zuschrieb, war ja gemeinhin bekannt; als er in Orlamünde war, dürfte er sie aber noch getragen haben (s. unten Anm.  47). Will man also Karlstadts Polemik nicht von vornherein ins Leere laufen lassen, muss man sie auf das Anstoß erregende Kleidungsstück des Doktorbaretts beziehen. Luthers demonstratives Verhalten in Orlamünde war eine Folge dessen, dass er sich durch einen Brief der Orlamünder Gemeinde, in dem er ohne akademischen Grad als „bruder in Christo“ (WA 15, S.  343,2) angeredet worden war, ‚verletzt‘ fühlte; er bezeichnete diesen Brief als „einen feindeßbrief [.  .  .], ir gebet mir meinen titel nicht, den mir doch etliche fürsten und herrn, so meine feinde seindt, geben und nicht abbrechen, darumb neme ich ewrn brieff für einen feindts brieff an [.  .  .].“ WA 15, S.  345,11–14. Indem Luther sein Doktorbarett auf dem Kopf ließ, bestand er also auf jener Würde, die ihm die Orlamünder seines Erachtens streitig gemacht hatten. Im Hintergrund steht natürlich die ihrerseits provokativ-demonstrative Preisgabe des Doktorgrades durch den ‚neuen Laien‘ Karlstadt (vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, wie Anm.  28, S.  12 ff.; Kotabe, wie Anm.  24, S.  246 ff.) von 1522/3; s. oben II, §  7, Anm.  184 ff. Bezeichnenderweise sprach Luther Karlstadt in Jena durchweg als „herr Doctor“ (WA 15, S.  335,35; passim) an, behaftete ihn also bei einem von diesem abgelegten Habitus. Auch Müntzer schlug aus der Orlamünder Szene polemisches Kapitel: „Bist du [sc. Luther] aber ein säligmacher, so mustu ye aber warlich ein

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Die frühreformatorische Umformungskrise des Gelehrtenhabitus wurde in konkurrierenden vestimentären Symbolen artikuliert: Während das Doktorbarett als wunderlicher säligmacher sein. Christus gibt den preyß seinem vatter, Johan. 8 [, 54] [.  .  .]. Aber du wilt von den von Orlamünde haben einen grossen titel.“ Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  336, 11–14 (= ThMA 1, S.  391, 15–18). Müntzer wusste um die Wirkung der Barette auf den ‚gemeinen Mann‘: „Das volck hat nie anderst gewehnet und lesset sich auff den heuttigen tag noch also dunkken, die pfaffen wissen den glauben, darumb das sie vill schöner grosser bücher gelesen haben. Derhalben spricht der arm, gemeyn man: Ey, es sind feyne menner mit iren roten und praunen pareten, solten sie es nit wissen, was recht oder unrecht ist?“ Franz, a.a.O., S.  293, 17–27 (= ThMA 1, S.  351, 14–18). In dem [Johann Agricola] zugeschriebenen Dialogus .  .  . zwischen einem müntzerischen Schwärmer und einem evangelischen frommen Bauern (Zorzin, Dialogflugschriften, wie Anm.  22, S.  129; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  26 f., Nr.  59 f. [mit Literaturhinweisen zu Verfasserfragen; ed. in: Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  517–530; 635–638; Ludwig Fischer [Hg.], Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer [Deutsche Texte 39; dtv NR 4270], München – Tübingen 1976, S.  79–96; 181–200) wird das Ansinnen des niederen Standes, Barette zu tragen, als Ausdruck einerseits von luxuria, andererseits von Ständegrenzen infragestellender, aufrührerischer Gesinnung dargestellt: „Das ist auch eben davon ich [sc. der ‚lutherische Bauer‘] sage / ist doch schir nirgent ein armer betler und bauer yn der welt er will ein pireth [=Barett] fur. II. gulden haben mit muscheln. I. hembt fur .I. gulden .I. rock mit bunten ermeln / und ist der hoffart nu mehr unter den gemeinen bawern denn untter den Herren und Fursten [.  .  .].“ Fischer, a.a.O., S.  94, 22–26; Laube, a.a.O., S.  529,31–35. In einer kursächsichen Kleiderordnung von 1546 wurde dem „dritte[n] Stand“ explizit verboten, „auslendische Parett oder Schleplein [zu] tragen / Aber ein gering wüllen schleplein / uber drey groschen nicht wirdig / auch ein scheffene Mützen / Filtz oder Schaubhut [.  .  .]“ (zit. nach Fischer, a.a.O., S.  198 Anm.). In einer Leipziger Kleiderordnung von 1506 wurde dem ratsfähigen Patriziat untersagt, „zcöbelne [d. h. mit Zobelfell gefütterte] mützenn oder Panet [=Barett] [.  .  .] zw tragen“ (zit. nach Otto Clemen, Eine Leipziger Kleiderordnung von 1506, in: Ernst Koch [Hg.], Otto Clemen. Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte [1897–1944], Bd.  2, Leipzig 1983, S.  411– 427, hier: 415). ‚Barett‘ und ‚Filzhut‘ können also als sozio-kulturell hochgradig kodierte Bekleidungssymbole gelten; vgl. zur zeitgenössischen Kleidergesetzgebung etwa: Neithard Bulst/Thomas Lüttenberg/Andreas Priever, Abbild oder Wunschbild? Bildnisse Christoph Ambergers im Spannungsfeld von Rechtsnorm und gesellschaftlichem Anspruch, in: Saec. 53, 2002, S.  21–73; Linda B. Arthur, Religion, Dress and the Body, Oxford 1999; Annemarie Bönsch, Formengeschichte europäischer Kleidung, Wien 2001; zur mittelalterlichen Gelehrtenkleidung, unter der sich die Theologen traditionell durch „größere Einfachheit“ (S.  32) abhoben, vgl. Martha Bringemeier, Priester- und Gelehrtenkleidung. Ein Beitrag zu einer geistesgeschichtlichen Kostümforschung [Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde Beih. 1], Münster 1974, S.  27 ff.; Liselotte Constanze Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700, Göttingen 1962; zur allgemeinen Orientierung in­struktiv: Carsten-Peter Warncke, Rationalisierung des Dekors. Über Kleidung, Schmuck und Verschönerung in der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen, Wien 1998, S.  159–173; Jutta Zander-Seidel, Textiler Hausrat. Kleidung und Haustextilien in Nürnberg um 1500 bis 1600 [Kulturwissenschaftliche Studien 59], München 1990; Julia Lehner, Mode im alten Nürnberg [Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 36], Nürnberg 1984, S.  118, weist darauf hin, dass in Nürnberg kurz nach 1500 vorgeschrieben war, dass nur die Angehörigen der ehrbaren Geschlechter, die Hauptleute und Fähnriche, samtene Barette tragen durften. Luther erinnerte sich an eine Begegnung seines Vaters mit einem Landmann, der ein Barett trug. Hans Luder forderte diesen auf, ihm einen Brief vorzulesen, was dieser aber nicht konnte. Darauf soll Luthers Vater erwidert haben: „so schlach dir das ungluck auff den kopff! Worumb tregstu den ein pirret?“ WATr 3, Nr.  2805, S.  2, 17 f. Bei den Lutherbildnissen gibt es in den frühen 1520er Jahren eine gewisse Häufung der Porträts mit Doktorhut; in den Doppelporträts mit Katharina taucht das weltliche (!) Barett (s. Bringemeier, s. oben, S.  44) seit 1528 zur Unterstreichung der amtlichen Würde wieder auf; allerdings ist Luther auf diesen Darstellungstypus nicht festgelegt. Daneben existieren Darstellungen des barhäuptigen

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Ausdruck des unveräußerlichen Zusammenhangs von Universität und Reformation zum integralen Bestandteil einer Vielzahl von Luther- und anderen ReformatorenReformators in unterschiedlichen Varianten fort, vgl. Kurt Löcher, Humanistenbildnisse – Reformatorenbildnisse. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Stae­helin (Hg.), Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit [AAWG. PH 3, 208], Göttingen 1995, S.  352–390, hier bes. 370 ff.; s. auch oben II, §  8, Abschnitt 3. Ein uneingeschränkt positives Requisit ist das Barett bei alledem nicht geworden. Auch Luther konnte noch kritisch-ironisch oder polemisch auf das Barett als Symbol selbstgerechten Gelehrtentums verweisen (z. B. WA 17/2, S.  79,32 [1525]). In der Abbildung des Papsttums (1545) wurde ein baretttragender Kardinal aufgeknüpft (WA 54, S.  351 zu VII.). Luther erinnerte sich an eine Darstellung des Augustinereremiten Johannes Zachariä auf dessen Epitaph im Erfurter Augustinerkloster, zu der sich auch Staupitz kritisch verhalten habe; s. auch oben I, §  2, Anm.  138. Weil er Hus bei einer Disputation auf dem Konstanzer Konzil der Ketzerei überführt haben soll, wurde er mit dem Ehrennamen „Hussomastix“, Husgeißel, geziert (vgl. Adalbero Kunzelmann OESA, Geschichte der deutschen Augustinereremiten, Bd.  2 [Cassiacum 26], Würzburg 1970, S.  241 ff.; Bd.  5 [Cassiacum 26], Würzburg 1974, S.  47 ff.; 343 ff.; Erich Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis, Bd.  1: 1392–1460 [ETS 14], Leipzig 1964, S.  85; Peter Hilsch, Johannes Hus. Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999, S.  274; Adolar Zumkeller, Die Augustinereremiten in der Auseinandersetzung mit Wiclif und Hus, in: Analecta Augustiniana 28, 1965, S.  5 –56, hier: 26 f. WABr 3, S.  290 Anm.  2 ; als Abb.  13 in: Ulman Weiss, Ein fruchtbar Bethlehem. Luther und Erfurt, Leipzig 1982, ist dieser Grabstein zu sehen; a.a.O., S.  43 auch die Inschrift). Dass sich Luther Zachariä als ein „nachzufolgendes Vorbild gewählt“ (Weiss, a.a.O., S.  43) habe, scheint mir ganz zweifelhaft. Zachariä wird auf dem Epitaph mit einer Rose auf seinem Doktorbarett dargestellt, jener Goldenen Rose (vgl. zur Praxis der vor allem an Adlige bzw. regierende Fürsten gerichteten Verschenkung: Silvio A. Bedini, Der Elefant des Papstes, Stuttgart 2006, S.  79 ff.), die ihm vom Papst für seinen Kampf gegen Hus verliehen worden sein soll. Staupitz hat Luther gegenüber seinen Widerwillen gegen die Rose ausgesprochen, da Zachariä im Kampf gegen Hus mit einer gefälschten Bibel gestritten habe, WATr 5, Nr.  6420, S.  654,1 ff.; vgl. WABr 3, S.  289,6 f. (Staupitz kannte die Geschichte der vexierten Bibelstelle Ez 34,10 von Andreas Proles!) In einem ausführlichen Rekurs auf die Geschichte in der Auseinandersetzung mit Eck (Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen, Oktober 1520, hier: WA 6, S.  590,18–591,11) stellt Luther die Geschichte dar, ohne Staupitz zu erwähnen, zweifellos um ihn zu schützen. Luthers Einleitung: „Ich habe horen sagen von Andres Prolesz“ (WA 6, S.  590,18) kann nicht auf eine persönliche Begegnung Luthers mit dem 1503 verstorbenen Generalvikar der OESA bezogen werden. Als Luther die Geschichte dann im Rahmen einer Ausgabe von Husbriefen (1537) erneut erzählte, flocht er ein, dass auch Staupitz Hus für zu Unrecht verurteilt hielt, WA 50, S.  36,19–37; vgl. WABr 2, S.  42,22 f. In seiner Schrift An den christlichen Adel hatte Luther die „dreyfaltige Kron“ (WA 6, S.  415, 24 = LuStA 2, S.  108, 26 f.) des Papstes, die Tiara, als Symbol der Hoffart scharf kritisiert. Eck hatte daraufhin die Bescheidenheit der päpstlichen Kleidung betont: Wenn der Papst „yn seynem gemach ist, hat er ein schlechts rot bannet auff [.  .  .].“ Adolf Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), Berlin 1997, S.  129, 32 f. In einem volkssprachigen Dialog, der wohl gegen Ende des Jahres 1520 gegen Eck erschien, wurde dann klargestellt: „Wil [sc. Eck] yme [sc. dem Papst] zu sunderlicher demut zumessen/ das er nicht alle stund die uberprechtig Khronn/ sonder ein schlecht rot banet auffm heupt dregt. Weiß aber der arme mensch nicht/ das der Bapst umb beschwerung seines heupts/ die schwehre hoffertig Khronn nichts stetigs dragen magk [.  .  .].“ Cuntz von Oberndorf [pseud.?], Dialogus oder ein gespreche wieder Doktor Ecken Buchlein/ das er zu entschuldigung des Concilii zu Costnitz ec. außgehen hat lassen .  .  . [Leipzig, W. Stöckel 1520]; VD 16 K 2572; WA 6, S.  577; Köhler Bibl., Bd.  1, Nr.  644; Ex. MF 375 Nr.  1043, B 1v (Abdruck des Titelblatts in: Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  277; s. oben II, §  10, Anm.  149). In Momenten seelsorgerlicher Hinwendung und im Eingeständnis eigenen Angefochtenseins legte Luther übrigens sein Barett – offenbar in Form einer ‚Zeichenhandlung‘ – ab, vgl. WATr 2, Nr.  1557, S.  131, 17 f.; vgl. WATr 3, Nr.  3292a, S.  253,27–29: Wer Jakobus und Paulus, Glaubens- und Werkgerechtigkeit zusammenzudenken imstande sei, dem

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bildnissen wurde, brachte Karlstadt seine im Namen der Superiorität und der Unmittelbarkeit des Geistes artikulierte Absage an das weltlich-hierarchische Bildungssystem dadurch zum Ausdruck, dass er sich in den grauen Rock eines gemeinen Landmanns kleidete, als ‚neuer Laie‘ präsentierte und „bruder Andres“ nennen ließ. Im öffentlichen publizistischen Schlagabtausch warfen sich die beiden Antipoden der Wittenberger Theologie denn auch die Symbole ihres geistlichen Rollenverständnisses vor. Sah Karlstadt in Luthers Barett ein „anzeyg verdechtiger heiligkeit“31, so fragte Luther mit unverstellt sardonischem Unterton: „ists nicht eyne feyne newe geistliche demut? Grauen rock und filzhut32 tragen, nicht wollen Doctor heyssen sonwolle Luther sein „pirrett aufsetzen“. Die Praxis des Barettziehens als Ehrenbezeugung gegenüber den Schülern, unter denen künftige Doktoren, Ratsherren etc. seien, ist Luther in seiner frühen Eisenacher Schulzeit bekannt geworden, vgl. WABr 3, S.  13 f.; Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  1: Sein Weg zur Reformation, Stuttgart 21983, S.  31. 31   Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  2, wie Anm.  30, S.  94,14; s. Anm.  30. 32   Karlstadt war bei Luthers Predigt in Jena anwesend (WA 15, S.  334,31 f.) und soll nach dem Bericht Johannes Kesslers (Sabbata, unter Mitwirkung von Emil Egli und Rudolf Schock, hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1902, S.  137, 7 f.; vgl. WA 18, S.  100, Anm.  2) „in ainem Filzhut, damit er nit möcht erkennt werden, by der predig gestanden“ haben. Möglicherweise ist ein ‚Nachklang‘ des Filzhutes Karlstadts in [Hergots] Von der neuen wandlung (s. dazu: Schelle-Wolff, Erwartung, wie Anm.  48; ed. in: Adolf Laube/Hans Werner Seiffert [Hg.], Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin 1975, S.  547–557; s. auch Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, S.  53 f.; 206 s. auch oben II, §  5, Anm.  158 ff.) zu sehen. In einem Textpassus, in dem [Hergot] scharfe Kritik an den „Schriftgelehrten“ übt, die in willkürlicher Weise und unter missbräuchlicher Verwendung der Heiligen Schrift Recht sprächen, stellt er diesen den Heiligen Geist gegenüber: „Er [sc. der Heilige Geist] lernet nichts denn warheyt und gerechtigkeyt, darumb ist er eyn feynd aller schrifftgelerten, widderumb eyn feynd des heyligen geystes [sind die Schriftgelehrten], und alle die nach dem geyst richten wollen und nach der warheyt, halten die schrifftgelerten für narren. Er hat auch keyne machtt zu urteylen, seyn warheyt schneydt [cj. scheint?] vor den schrifftgelerten eben wie eyn filtzhut, aber vor gottes warheyt gilts ewiglich.“ A.a.O., S.  553,21–26. Vielleicht spielt diese Verwendung des Filzhutes als eines Distinktionssymbols zwischen Gelehrten und ‚simplices‘, das der unüberbrückbaren Differenz von Geist und Buchstaben entspricht, auf die entsprechende symbolische Aufladung des Filzhutes im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Luther und Karlstadt an oder setzt diese voraus. In der änigmatischen Schlusssalutatio des Sendbriefes eines jungen Studenten zu Wittenberg an seine Eltern im Schwabenland (ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  3 –20; s. auch oben II, §  7, Anm.  198 ff.) vom März 1523 kündigt der anonyme Verfasser an, dass er demnächst auf den Markt in Leipzig ziehen wolle: „Laßt sich der marckt daselbst wol ann, das ich vil gelts löß, so will ich innerhalb vierwochen wil got hie zu wyttenberg ain braunen fyltzhut kauffenn.“ (A.a.O., S.  18). Möglicherweise liegt hier ein ironisches Sinnspiel nach Art eines Oxymorons vor; nach dem Erwerb vielen Geldes soll eine billige, bäuerliche Kopfbedeckung und nicht ein von den Eltern wohl erwarteter akademischer Grad – mit entsprechendem Magisterhut – erworben werden. Dem Brief des Studenten an seine Mutter war ein offenbar strenges Schreiben seines Vaters an ihn vorangegangen, das er „ettlichen hochgeleerten hayliger geschrifft fürgehalten und [zu] leesen“ (a.a.O., S.  16) gegeben hatte. Der Antwortsbrief formuliert eine Absage an traditionelle Aufstiegserwartungen, wie sie mit einem Studium verbunden waren. Und der Filzhut war das Symbol dieses Traditionsbruchs mit dem überkommenen Bildungssystem. Der einen Filzhut tragende Theologieprofessor Karlstadt verkörperte diesen ‚Bruch‘ in den Jahren 1522/3 wie kein zweiter. Für Justus Jonas symbolisierte sich in der Alternative ‚Filzhut‘ oder ‚Barett‘ die Fundamentaldisjunktion zwischen einer auch den Türken erreichbaren ‚natürlichen‘ und der geoffenbarten Gotteserkenntnis: „Dis sind eitel menschen augen / da Daniel von sagt / denn solche werck helt die vernunfft fur hohen / köstlichen und heiligen Gottes dienst / und ist nicht

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dern bruder Andres und lieber nachbar wie eyn ander baur [.  .  .] und also mit eygener erwelter demut und unterthenickeyt, die Gott nicht gebeut, wollen der sonderlichen Christen eyner gesehen und gerumet seyn, als stünde eyn christlich wesen ynn solchem eusserlichen gauckelwerg [.  .  .].“33 Karlstadt replizierte, indem er zwar einerseits müglich / das die ihenigen / so nicht ein rechten verstand des Evangelij von der gnade Christi haben / nicht solten durch solche gleisnerey betrogen werden / Wie itzund die newen münch / die widerteuffer / die leut betriegen / leren man solle nicht byrret / sondern hüet und grawe röck tragen ec.“ Justus Jonas, Das siebend Capitel Davidis / von des Türcken Gottes lesterung .  .  ., Wittenberg, Hans Lufft [1530]; Ex. MF 481 Nr.  1291, E 2v–3r; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  139 f., Nr.  1789; vgl. zu dieser Schrift und ihrem Entstehungskontext: Kaufmann, Türckenbüchlein, wie Anm.  33, S.  192–194 Anm.  364. Zu Filzhüten bei Appenzeller Täufern vgl. Schubert, Täufertum, wie Anm.  45, S.  128; als typisches Bekleidungselement zur Identifizierung des Bauern begegnet der Filzhut auch in der zeitgenössischen Druckgraphik, vgl. etwa Dürers „Drei Bauern im Gespräch“ (um 1497), in: Rainer Schoch /Matthias Mende/Anna Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd.  1, München u. a. 2001, Nr.  15, S.  58, oder die Gedenksäule zum Bauernkrieg, in: Dies., Bd.  3, München u. a. 2004, Nr.  274.109, S.  225 (s. dazu auch: Hans-Ernst Mittig, Dürers Bauernsäule. Ein Monument des Widerspruchs, Frankfurt/M. 1984); vgl. auch die Bauerndarstellungen im Zusammenhang des „Bundschuhs“, in: Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, Berlin 21984, S.  97 f.; markant auch der Bauer mit Dreschpflegel und Filzhut in: Sebald Beham, Ein newer Spruch / wie die Geystlichkeit und etliche Handtwerker uber den Luther clagen, a.a.O., S.  130; Martin Luther und die Reformation, wie Anm.  33, S.  82, Nr.  318; auf dem Titelblatt der Göttlichen Mühle (vgl. Christine Güttler, Das älteste Zwingli-Bildnis? Zwingli als Bilderfinder: Der Titelholzschnitt zur „Beschreibung der götlichen Müly“, in: Hans-Dietrich Altendorf/Peter Jezler [Hg.], Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation, Zürich 1984, S.  19–39; s. oben II, §  8, Anm.  129; Abb.  18), bei dem Bauern von Wöhrd (s. unten Anm.  42) [vgl. Illustrierte Geschichte, S.  171] bzw. einem entsprechenden Blatt aus der Bauernkrieg (a.a.O., S.  236), sowie (mit Sense) in der „Karsthans“-Figur (Nachweise s. oben II, §  10, Exkurs). Auch Cranachs Aquarell eines Bauernkopfes (um 1515) [gute Abbildung in: Peter Moser, Lucas Cranach. Sein Leben, seine Welt und seine Bilder, Bamberg 2004, S.  89] zeigt einen grau-schwarzen Filzhut. Der Filzhut dürfte das markanteste Bekleidungsrequisit des Bauernstandes gewesen sein. Das Anlegen bäuerlich-laikal-apostolischer Gewandung hat eine Analogie in der visuellen Vergegenwärtigung der biblischen Heilsgeschichte durch die Einkleidung der Figuren mit zeitgenössischer Garderobe in der Kunst der Zeit, die ihrerseits in Spannung zu der Historisierungsstrategie in der Darstellung der Kleidung insbes. in der italienischen Renaissance steht, vgl. dazu: Reiner Haussherr, Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert [AAWLM.G 4, 1984], Mainz 1984, S.  28 ff.; instruktiv auch: Philipp Zitzlsperger, Dürers Pelz und das Recht im Bild. Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008. 33   WA 18, S.  100,27–101,4; vgl. 64, 5 f.; 65,29; s. dazu Ickelsamers Kritik, Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  75,6; 77,4; 77,11–14. Luthers Kritik an einer Veräußerlichung des Reformationswerks bei Karlstadt und den ‚Schwärmern‘ hat eine Parallele in seiner Kritik an Johannes Lichtenbergers Konzeption von ‚reformatio‘: „Und stehet seine [sc. Lichtenbergers] reformation darynn, das man die langen har verschneyte, die schnebel an den schuchen abthut und bretspiel verbrennet: das sind feine Christen, Also das gar eine leibliche weissagung ist von eitel leiblichen dingen.“ WA 23, S.  8,12–16 (Vorrede zu Lichtenbergers Die weissagunge, 1527). Luther spielt an auf das im 34. Kapitel der Lichtenbergischen Weissagung angekündigte Erscheinen eines endzeitlichen Propheten, der gebiete, die Spielbretter zu verbrennen, Haare abzuschneiden und die Schnabelschuhe zu kürzen, mithin in der Tradition der spätmittelalterlichen Bußprediger wie Savonarola, Bernhardin von Siena oder Johannes Capistranus die ‚Eitelkeiten‘ verbrennen zu lassen (s. dazu nur: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Frankfurt/M. 1983, Nr.  145, S.  125); vgl.: Die weissagunge Joannis Lichtenbergers deudsch / zugericht mit vleys. Sampt einer nutzlichen vorrede und unterricht D. Martini Luthers .  .  ., Wittenberg,

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ein meritorisches Verständnis der schmucklosen Bauernkleidung abwehrte34, andererseits jedoch einer dem „Exempel Christi und der Apostel Leben“35 in krasser Weise widerstreitenden luxuria entgegentrat und betonte, dass die Predigt in „einfeltigen kleydern“36 dazu diene, Rezeptionshindernisse des gemeinen Mannes zu überwinden.37 1527; Ex. MF 928 f. Nr.  2309; VD 16 L 1597; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  304 f., Nr.  2186, hier: P 3r/v, bzw.: Prognosticatio Ioannis Lichtenbergers, quam olim scripsit super magna illa Saturni ac Iovis coniunctione .  .  ., [Köln, P. Quentel], 1526; Ex. MF 1643 f. Nr.  4217; VD 16 L 1592; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  304, Nr.  2185, hier: S.  X LVIr/v (= M 2r/v); vgl. zu Lichtenberger zuletzt: Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ im Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008, bes. S.  194 ff. [Lit.]; ders., Luthers „Judenschriften“, Tübingen 2011, S.  55; 76 f. 34   „[W]enn ich [sc. Karlstadt] die säligkeit auff einen grawen rock stellet / Hett ich die Münichs Kappen nitt verspott / noch den Chorrock hyngeworffen / Aber das weyß ich dannocht wol / das man vil einfeltige lewtte mit köstlichen Kleydern betreügt / und das vil narren nach den kleydern / die person / die kunst / und die heyligkeit urteylen [.  .  .].“ Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  2, wie Anm.  30, S.  94, 19–25. Bereits im Dezember 1521, deutlich vor Karlstadts vestimentärer Konversion, ist von dem Prediger von Döbeln, Jakob Seidler, aktenkundig bezeugt, dass er „stetigs in eynem grauen reytrock mit eynem langen messer“ herumlief; „wan er aber predigen will, so lehent yme der organist eynen langen rock.“ Felician Gess (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd.  1, Leipzig 1905, ND Köln 1985 [Mitteldeutsche Forschungen Sonderreihe 6/1 220], S.  220. 35   A.a.O., S.  94,29 f. 36   A.a.O., S.  94, 32 f. Dass die Klagen über unziemliche Kleidung von Klerikern – zu luxuriös, zu schmutzig, in Leinen, nach Bauernart usw. – auch vor der Reformation im Horizont bischöflicher Disziplinierungsanstrengungen lagen, geht aus einem Konstanzer Reformschreiben von 1516 hervor, vgl. Hans Schneider, Zwinglis Anfänge als Priester, in: Ulrich Gäbler/Martin Sallmann/ ders. (Hg.), Schweizer Kirchengeschichte – neu reflektiert [BHSHT 73], Bern u. a. 2011, S.  37–62, hier: 41. 37   „Die auch in einfeltigen kleydern predigen / geben dem wort kein ergernus oder hyndernuß bringen auch nyemandts durch köstlichen bracht zum wort / dem wortt zu schympff / den ich sagen künde / Jr suchet das wort Gottes nitt drumb das warhafftig ist / Sondern darumb / das ir guldene hembder antraget.“ A.a.O., S.  94, 32–37. In der Histori Thomae Müntzers (ed. in: Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  531–544; 638–642; Fischer, Pamphlete, wie Anm.  30, S.  28–42; 135–154; zu Melanchthons Anteil an dieser Schrift differenzierend: Heinz Scheible, Die Verfasserfrage der „Historie Thome Muntzers“, in: Ulman Weiss [Hg.], Flugschriften der Reformationszeit, Tübingen 2001, S.  201–214, ND in: Ders., Aufsätze zu Melanchthon [SMHR 49], Tübingen 2010, S.  328–341) heißt es hinsichtlich des von Müntzer propagierten Weges „zu rechter und christlicher fromkeit“ (Fischer, a.a.O., S.  30,9 f.; Laube, a.a.O., S.  532,33 f.): „[.  .  .] anfänglich must man ablassen von offenlichen lastern / als eebruch / todtschlag / gotslesterung / und der gleichen / dabey must man den leib casteyen unnd martern / mit fasten / mit schlechter kleydung / wenig reden sawr sehen / den bart nicht abschneiden [.  .  .].“ A.a.O., S.  30, 10–14 = 532, 34–37. Möglicherweise sollte die ‚schlechte Kleidung‘ Ausdruck der nach Auffassung des Verfassers der Histori beim „pöfel“ (a.a.O., S.  31,9 = 533,27) so erfolgreichen Polemik gegen die Gelehrten sein. In seiner schlichten Kleidung fühlte sich das Volk demnach viel ‚heiliger‘ als die „studirten“ (31,12 =533,31). Unabhängig von der Frage, ob die Forderung, „schlechte [=einfache]“ Kleidung zu tragen, in Müntzers Verkündigung einen direkten Anhalt hatte, ist gleichwohl evident, dass die Histori Müntzer auch wegen seiner Hinwendung zu den niederen Bevölkerungsschichten diskreditiert sieht. Von Hans Hut ist eine steckbriefartige Beschreibung überliefert: „ein sehr gelehrter, geschickter gesell, einer ziemlichen guten Manneslänge und eine bäurische Person mit einem lichtbraunen, gestutzten Haar und oben unter der Nasen einem falben Bärtchen: seine kleidung sind ein wollener

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Karlstadt löste mit seiner vestimentären ‚Konversion‘ zu grauem Rock und Filzhut grauer, zuweilen ein schwarzer Reitrock, ein grauer breiter Hut und graue Hosen“, zit. nach Gottfried Seebaß, Der Prozeß gegen den Täuferführer Hans Hut in Augsburg 1527, in: Ders., Die Reformation und ihre Außenseiter, hg. von Irene Dingel, Göttingen 1997, S.  227–243, hier: 232; eine ähnliche Beschreibung seiner Kleidung in: Ders., Müntzers Erbe, wie Anm.  97, S.  210 Anm.  47. Zur Stereotypie vergleichbarer älterer und zeitgenössischer steckbrieflicher Beschreibungen s. Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S.  54–60 (zur Beschreibung von Kleidung in Steckbriefen 57 ff.; keinen Steckbrief, sondern das erste Porträt eines Mörders stellt der Holzschnitt des Hans von Berstett dar, der 1540 ein Mädchen verstümmelte, vgl. Sabine Haag/Christiane Lange/Christoph Metzger/ Karl Schütz [Hg.], Dürer Cranach Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500, München 2011, Nr.  148, S.  233–235). Demnach scheint Hut dezidiert in bäuerlich-‚schlechter‘ Kleidung aufgetreten zu sein. In seinem Falle könnte man vielleicht damit rechnen, dass seiner Kleidung auch eine theologisch-symbolische Bedeutung zukam, denn er verstand sich selbst (s. Seebaß, Prozeß, a.a.O., S.  230; ders., Müntzers Erbe, S.  376) als jener „Mann in leinenen Kleidern“, von dem in Dan 12,7 und Ez 9,2–4 die Rede ist und der die Frommen mit dem endzeitlichen Versiegelungszeichnen bezeichnen sollte. Im Zusammenhang der Diskussionen der Augsburger Täufergemeinde vertraten die Schweizer Brüder die Auffassung, dass „man einfeltig in den claidern sollte geen etc.“ Hut vertrat demgegenüber eine ‚liberalere‘ Position: „Solchs er inen auch, durch Got nit verpoten zu sein, anzeigt hette, sonder man sollte jeden lassen geen, wie er wolt etc.“ Zit. nach der Edition des Verhörprotokolls bei Seebaß, Müntzers Erbe, S.  520; vgl. zum Kontext auch: Schubert, Täufertum, wie Anm.  45. Für Luther war der „graw rock“ einerseits Symbol monastischen Lebens (WA 25, S.  511,35), andererseits – im Nachgang der Erfahrung mit den ‚Schwärmern‘ – Sig­ num des Pseudoprophetentums (WA 27, S.  281,14). Gegen die Täufer formulierte er in einer Predigt (26.  3. 1529): „Anabaptistae vendunt sua bona und in griseis Tunicis. Wer ein christ will sein, darff sich nicht verstellen, er darffs nicht da zu, quisque maneat in sua veste, sauer sehen und graw rock non facit Christianum [.  .  .].“ WA 29, S.  231,4–6; vgl. 483,36 f.; insofern kann der graue Rock – gegen Mönche und ‚Schwärmer‘ – für Luther als Inbegriff des geistlichen Hochmutes gelten, WA 41, S.  572,22; zu Luther und den Täufern s. auch meinen Artikel in MennLex 5, s. v. Luther. Einen „Sack“ (Ps 35,13) anzuziehen bedeutet für Luther: „der graw Rock“ (WADB 3, S.  535,25). In Bezug auf den Bauernstand betonte Luther hingegen die spezifische Würde des grauen Rocks. Im Bauernkrieg hätten sich die Bauern einer Missachtung der ständischen Distinktionsmerkmale schuldig gemacht: „Darumb sagten die Bauern in der Auffruhr: wir wollen auch Mardern schauben und gülden Keten tragen und Rephüner fressen.“ (21.  2. 1529, WA 28, S.  517,28–30). Die Aufständischen in Langensalza etwa hatten 1525 in der Tat gefordert, rote Schauben tragen zu dürfen, s. Warncke, Rationalisierung, wie Anm.  30, S.  161 f. Demgegenüber beschwor Luther die Vorzüge, die die in ihrem Stande verbleibenden Bürger und Bauern gegenüber dem Adel hätten: „Die Bürger und Baur sitzen daheim sicher, hinter dem ofen, bey irem Acker [.  .  .], Jtem ein grauen rock oder ein schweissig hembde antragen oder in einem ströern hause mit friden wonen? Es ist ja viel besser denn des Für­ sten Schatz und seine Sammete Schauben oder güldene Keten.“ WA 28, S.  518,12–17. Die Histori Thome Müntzers (s. oben) setzt ebenso wie [Agricolas] Dialogus (s. Anm.  30; vgl. Fischer, Pamphlete, wie Anm.  30, S.  80,9 = Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  517,8; 90,8 ff. = 525,38 ff.; 95,27 ff. = 530,30 ff.) und Agricolas Auslegung des XIX. Psalm. Coeli enarrant / durch Thomas Müntzer, 1525 (ed. in: Fischer, a.a.O., S.  44–78. 155–181; vgl. Köhler Bibl., Bd.  1, S.  20, Nr.  44 f., hier: Fischer, a.a.O., S.  52,34; 55,34) voraus, dass das Tragen langer Bärte eine Art ‚Schibboleth‘ der Aufständischen war. Allerdings muss man wohl ernsthaft damit rechnen, dass es sich bei dieser Überlieferung um eine polemische Transposition einer literarischen Idee Eberlins von Günzburg auf das Bild (oder die Wirklichkeit!) des Allstedter Bundes handelte, vgl. die entsprechenden Hinweise oben II, §  10, Anm.  223. Dass Luther „eyn langen Bart getzogen“ (Müller, Wittenberger Bewegung, wie Anm.  8, S.  170) hatte, als er von der Wartburg zurückkam, stellt ihn an den Anfang dieses kulturellen Traditionsbruchs des priesterlichen Habitus. Auch von Gabriel Zwilling ist bezeugt, dass er „[e]yn baert“ (ebd.) trug. Von Gerhard Westerburg ist später überliefert,

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auch das persönliche Glaubwürdigkeitsproblem eines gut dotierten Weltpriesters38, der nunmehr mittels der Subsistenzsicherung durch eigene körperliche Arbeit eine dem an Adam ergangenen Gebot entsprechende „redliche tödtung des Fleysches“39 zu praktizieren versuchte und so einen äußerlichen Anschluss an die der conditio humana gemäße Lebens- und Bekleidungsweise des gemeinen Laien vollzog. Die von ihm propagierte „kunst gottes“40, sein Verständnis der evangelischen Lehre, implidass er „ein man in eynem rotten bartt“ (Emil Dürr, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jaren 1519 bis Anfang 1534, Bd.  1: 1519 bis Juni 1525, Basel 1921, S.  175,31 f.) war. Zum Bartproblem im frühneuzeitlichen Protestantismus s. auch: Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) [BHTh 123], Tübingen 2003, S.  267 f. Anm.  290; zum Bart als Symbol der Hoffart und Eitelkeit in Spätmittelalter und Reformationzeit s. Frank Gnegel, Bart ab. Zur Geschichte der Selbstrasur. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, hg. vom Westfälischen Museumsamt Münster und Michael Kriegeskorte, Köln 1995, S.  25–28, bes. 25; 26 f. (Geiler von Kaysersberg). Bestehen in Bezug auf Müntzer ernsthafte Zweifel, dass er einen Bart trug (s. die Hinweise bei Fischer, a.a.O., S.  138 f.), so hätte wohl auch Hut – wenn er dem ‚christlichen Bund‘ Müntzers beigetreten (s. dazu Seebaß, Müntzers Erbe, S.  175 f.) war – daraus keine dauerhaften Konsequenzen hinsichtlich seiner Barttracht gezogen, s. den oben zit. ‚Steckbrief‘. 38   „Nu soll D. Luther dartzu wissen / das ich / Gott lob / einen grawen [Rock] hab / gegen dem schmuck / der mich zeytten fast belusten thet / und zu sünden bracht / und ich danck got darumb / wie wol mich kein kleyd verdampt oder heylig machet. [.  .  .] Ein stoltz kleyd das fürdert das stoltz fleysch / das weyß ich wol / Ein köstlicher wandel in Kleydern / ist verdechtig / unnd gibt böß anzeygen des innerlichen gemüets.“ Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  2, wie Anm.  30, S.  94,38–95,10. 39   A.a.O., S.  95,35; Karlstadts von finanziellen Interessen nicht freies Verhalten in Zusammenhang der nachlässigen Wahrnehmung seiner Professur in den Jahren 1522/3 war auch Gegenstand von Luthers persönlichen Invektiven, vgl. bes. den Abschnitt: „Auff die klage D. Carlstads, das er aus dem land zu Sachsen vertrieben ist“, in: Wider die himmlischen Propheten, 1. Teil, WA 18, S.  85– 101; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  28, S.  1 ff.; zu Karlstadts Existenz als Bauer in Wörlitz und Seegrehna 1522/3 s. bes. S.  13 f. Eine primär an differenten systematischen Grundentscheidungen orientierte Darstellung des Verhältnisses zwischen Karlstadt und Luther bietet: Wolfgang Simon, Karlstadt neben Luther. Ihre theologische Differenz im Kontext der „Wittenberger Unruhen“ 1521/22, in: Gudrun Litz/Heidrun Munzert/Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag [SHCT 124], Leiden, Boston 2005, S.  317–334. 40   Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  1, wie Anm.  58, S.  74,5 f.; vgl. Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  228,20 ff.; 298,15 ff. (= ThMA 1, S.  276,16 ff.; 355,24 ff.); Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  680,6 („Gottes kunst“ [Haugk von Jüchsen]); vgl. 676,25 ff. („gayst der kunst“); auch bei Hut begegnet der Begriff „kunst Gottes“, Laube, a.a.O., Bd.  1, S.  688,9. Hätzer konfrontiert „götliche kunst“ und „spitzige kunst und meysterschafft“ (Baruch-Vorrede, wie Anm.  70, [4]r/v; Kasus von mir geändert, Th. K.). Der Begriff „kunst Gottes“ tritt bei einer ganzen Reihe unterschiedlicher Autoren auf und dürfte in seiner spezifischen Bedeutung vom jeweiligen Kontext her zu interpretieren sein. Karlstadt verwendet den Begriff in der Eingangssalutatio seiner Schrift Ob man gemach faren .  .  . soll (Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  1, wie Anm.  58, S.  74,5 f.), wo er so viel wie ‚Erkenntnis durch Christus‘ unter Einschluss der entsprechenden Handlungskonsequenzen bedeuten dürfte; bei Müntzer ist zum einen eine angemessene Schrifthermeneutik hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von AT und NT (ed. Franz, wie Anm.  17, S.  228,21 f.), zum anderen ‚rechter Christusglaube‘ gemeint, a.a.O., S.  298,17, bzw. Gotteserkenntnis im Sinne von scientia Dei in der Vulgata, vgl. Rolf Dismer, Geschichte, Glaube, Revolution: zur Schriftauslegung Thomas Müntzers, Diss. theol. Hamburg 1974, S.  161 ff. Auch bei Luther begegnet „kunst Gottes“, und zwar im Sinne des genitivus subjectivus zur Bezeichnung von Gottes Handeln am Menschen vermittels des verbum externum: „Dieses ist nu eine wunderbarliche kunst Gottes, das er durch das mündliche wort,

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zierte eine dem innerlichen Wandel korrespondierende äußerliche Veränderung des christlichen Habitus’. Für Luther, den Wittenberger Theologieprofessor aus dem Bettelordensstand, wurde die evangelische Lehre, wie er sie verstand, freilich in den wenns geprediget wird, mit uns handelt, den heiligen Geist gibt und schencket [.  .  .].“ WA 16, S.  269,10–12 (1525). Von einem spiritualistischen Verständnis menschlicher „kunst“ im Sinne der Trennung von verbum internum und externum distanziert sich Luther etwa in Vom Abendmahl Christi (1528), WA 26, S.  285,19; vgl. LuStA 4, S.  54,30–55,1 (zwischen „kunst“ und „Gottes“ steht im Originaldruck eine Virgel; WA lässt sie aus und wird dadurch missverständlich, da „Gottes“ genitivus subjectivus des nachfolgenden nominalisierten Verbs „heissen“ ist). Ansonsten kann Luther „kunst Gottes“ auch im Sinne der durch das Evangelium vermittelten „erkentnis Gottes“ explizieren, so WA 31/1, S.  581,25 f.; ähnlich WA 6, S.  41, 30; WA 6, S.  208, 10 f.: „Kunst, zu got [.  .  .] gut vorsicht haben“. „[K]unst“ im Sinne „gotlicher weißheit“ fand Luther in der Theologia deutsch (vgl. die Vorrede zur vollständigen Ausgabe von 1518, WA 1, S.  378,20 f.; s. zur Theologia deutsch auch: Andreas Zecherle, Die „Theologia Deutsch“. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat, in: Hamm/Leppin, Gottes Nähe, s. u., S.  1–96). In diesem vor dem Hintergrund mystisch geprägter Traditionen zu interpretierenden Sinne vermittelte das Büchlein „voller reychthumbs aller kunst der weißheit“ (WA 1, S.  378,5 f.) jene Gotteserkenntnis, in der der Gläubige zu einem „got formige[n] got gebildete[n] mensch[en]“ (so bei Tauler, zit. nach dem Faksimile bei Hasse, Karlstadt und Tauler, wie Anm.  120, S.  243; Kasus von mir geändert, Th. K.) werde. Die Demut verstand Tauler als „ars artium“ (vgl. Henrik Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption [QFRG 75], Gütersloh 2003, S.  102), was die Notwendigkeit des Leidens einschloss (s. auch den Tauler-Text bei Hasse, a.a.O., S.  241). Für die schillernde Bedeutungsvielfalt des Begriffs der „kunst“, in dem natürliche Fähigkeiten des Menschen und übernatürliche Begabungen zusammenkommen, ist die Vorrede von Lichtenbergers Prognosticatio (s. Anm.  33) aufschlussreich. Dort heißt es etwa: „Wer aber kunst [scientiam] und bücher verhelt [occultat] / der thut yderman unr[e]cht / Denn der selbige verbirget nicht das seine / sondern was andern leuten zustendig ist / das stilt er und entzeuchts den selbigen. Drumb gebe yhn Gott guts und lasse sie wol leben / die die kunst lieben [qui scientiam diligunt] [.  .  .].“ Die weissagunge, wie Anm.  33, B 4r; Prognosticatio, wie Anm.  33, iiiir. Die Himmelserscheinungen werden nach Lichtenberger von einigen „aus kunst und lere“ (scientia per doctrinam), von anderen „durch götliche eingebunge“ [ebd.] (per inspirationem divinam) [ebd.] verstanden; beides aber gehe aus demselben Geiste (ab uno et eodem spiritu procedit) hervor. Wie sich die ratio naturalis auf natürliche Dinge beziehe, so die cognitio supranaturalis auf miracula („wunderzeichen“) [ebd.]. Gott bediene sich der mit einer übernatürlichen Erkenntnis begabten Menschen wie der als prophetische Referenzfiguren vorgestellten Weisen Ptolemäus, Aristoteles, Sybilla, Brigitta von Schweden und Reinhard (des Lollarden [s. dazu Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, S.  48; 97; 102; 179; 196]), um der Menschheit verborgene Wahrheiten zu offenbaren. „Daher auch die Meister und erfinder der künste [inventores scientiarum] / viel warhafftigs dinges in den künsten vorhyn gesagt / nicht anders denn aus eingebung des heiligen geistes / wilcher ein geist ist aller warheit.“ Die weissagunge, a.a.O., B 4v; Prognosticatio, iiiir. In der zwischen Luther und den ‚Radikalen‘ letztlich strittigen theologischen Frage, ob der Mensch zur „kunst“, d. h. Erkenntnis Gottes ohne äußere Offenbarungsmittel fähig sei oder nicht, spiegelt sich die im zeitgenössischen Begriff der „kunst“ selbst enthaltene epistemologische Spannung zwischen cognitio naturalis und supranaturalis. Die Kunstfertigkeit der Künstler wird pneumatologisch qualifiziert und erlangt Offenbarungsqualität! Dass es naheläge, von hier aus Verbindungslinien etwa zum inventorischen Selbstverständnis der künstlerischen Persönlichkeit Dürers (vgl. etwa: Heinrich. Th. Musper, Albrecht Dürer, Köln 2003, S.  41 ff.; Martin Warnke, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 1400–1750 [Geschichte der deutschen Kunst 2], München 1999, S.  235 ff.; Karl Schütz, Gestalt und Gott. Albrecht Dürer als Porträtist, in: Haag u. a., Dürer, wie Anm.  37, S.  79–84) zu ziehen, sei nur angedeutet. Auch wenn „kunst“ „allgemein das Handwerk“ „bedeutete“ (Warnke, a.a.O., S.  70), so sind die Übergänge zum ‚Wissen‘ bzw. zur Wissenschaft und zur ‚Weisheit‘ fließend (vgl. etwa die Übersetzungen für „scientia“ bei Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt/M. 1857, ND Darmstadt 1997, S.  518: Wyß-, wissent-, wissenheit; kunst, konst,

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und nicht gegen die Ordnungen der Welt wirksam. Die „hohe newe Kunst Gottes aus der hymlischen stymme“ würden die Wittenberger, die „den glauben und liebe“ lehrten, „nicht verstehen noch wissen konnen, das ist hübsche ‚entgrobung‘, ‚studierung‘, ‚verwunderung‘, ‚langweyl‘, und des gleichen teuffels allfentzerey.“41

4.  Kleidung und „Veränderung“ So unterschiedlich die Umgangsweisen mit Kleidung in der Radikalen Reformation auch waren – immerhin reicht das Spektrum vom grauen Rock der ehemaligen Prie­ ster Karlstadt und Diepold Peringer, des Bauern von Wöhrd42, über den Luther so anstößigen, weil Aufruhr und Militanz insinuierenden Landsknechtsrock Nikolaus Storchs43 bis hin zu den höfisches Leben und fromme Umkehr inszenierenden Bekleidungselementen im Münsteraner Täuferreich44 und dem reichsstädtische Kleiweyssynikait). Insofern erscheint es sinnvoll oder gar notwendig, die Entwicklung der Handwerks‚kunst‘ weitaus stärker in die Entstehungsgeschichte der ‚Wissensgesellschaft‘ einzubeziehen, als dies in dem großen Handbuch Richard van Dülmens und Sina Rauschenbachs (Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u. a. 2004) der Fall ist. Zu Luther und der Mystik s. Berndt Hamm/Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Luther [SMHR 36], Tübingen 2007; Berndt Hamm, Der frühe Luther, Tübingen 2010, S.  200 ff. 41   WA 18, S.  101,6–10. 42   Über den ehemaligen Geistlichen Diepold Peringer, der 1523/4 im Nürnberger Landgebiet für beträchtlichte Aufmerksamkeit sorgte und sich als ein Bauer ausgab, der weder lesen noch schreiben könne und in seinem Gebaren an Hans Böheim, den ‚Pfeifer von Niklashausen‘ (s. oben I, §  5, Anm.  91 ff.) angeknüpft zu haben scheint, vgl. nur Otto Clemen, Der Bauer von Wöhrd, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte aus Büchern und Handschriften der Zwickauer Ratsschulbibliothek H. 2, Berlin 1902, S.  85–96; Günter Vogler, Nürnberg 1524/5, Berlin 1982, S.  135–151; Hamm, Geistbegabte, wie Anm.  20, S.  405 ff.; Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  30, S.  332 f. Abdruck einer Schrift von ihm in: Konrad Hoffmann (Hg.), Ohn’ Ablass von Rom kann man wohl selig werden. Streitschriften und Flugblätter der frühen Reformationszeit, hg. vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Nördlingen 1983, Nr.  6 ; vgl. auch: Hans-Christoph Rublack, .  .  . hat die Nonne den Pfarrer geküßt? Aus dem Alltag der Reformationszeit [GTB 1113], Gütersloh 1991, S.  24 ff.; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  236–241, Nr.  3683–3694. 43   „Fuit apud nos [sc. Luther] princeps prophetarum Claus Storck, incedens more et habitu militum istorum, quos lantzknecht dicimus [.  .  .].“ Luther an Spalatin 4.  9. 1522, WABr 2, Nr.  535, S.  596 f., hier: 597,26 f.; vgl. Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8, bes. S.  95 f. 44   Einzelne Hinweise auf Bekleidung und Insignien der täuferischen Königsherrschaft in Mün­ ster bietet Ralf Klötzer, Herrschaft der Täufer, in: Stadtmuseum Münster (Hg.), Das Königreich der Täufer. Reformation und Herrschaft der Täufer in Münster, Bd.  1, Münster 2000, S.  104– 131; s. auch Nr.  60, S.  162 f.; Nr.  61, S.  164 f.; Nr.  62, S.  166 f.; Nr.  68, S.  175–177; instruktiv auch: Hubertus Lutterbach, Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt [Geschichte des Bistums Münster 3], Münster 2006, S.  222 ff.; neben der königlichen Kleidung und den entsprechenden Insignien im Zusammenhang des Königtums Jan van Leidens (a.a.O., S.  134 ff.; 265 ff.; s. Haag u. a., Dürer, wie Anm.  37, Nr.  154, S.  238–230 [Porträt Heinrich Aldegrevers; s. oben I, §  5, Abb.  1]) begegnet besondere Kleidung als Erkennungszeichen derer, die die Glaubenstaufe vollzogen (a.a.O., S.  204 mit Anm.  135) haben und in Gestalt einer um den Hals getragenen Medaille. Anklänge der Münsteraner Münzen an vergleichbare Vorstellungen, wie sie in [H. Hergots] Von der neuen Wandlung enthalten waren (Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  550,19 ff.),

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derordnungen aufnehmenden und in ein komplexes Symbolsystem überführenden vestimentären Code der täuferisch-kabbalistischen Kleinstgruppe um Augustin Bader45 – so deutlich ist doch, dass die Kleidung für die ‚Radikalen‘ den unverzichtbaren kulturellen Ausdruck einer sei es vollzogenen, sei es gewünschten und geforderten ‚Veränderung‘ darstellte. Für Luther und die Mehrzahl seiner Zeitgenossen waren ‚Wandlung‘ und ‚Veränderung‘, sofern sie nicht von Gottes Gnadenhandeln ausgesagt wurden, böse Worte; 46 für die Radikalen ist das Gegenteil der Fall. Insofern symbolisiert die Veränderung des vestimentären Habitus – bzw. Luthers tastende Zurückhaltung gegenüber einer solchen47 – jene Trennlinie von Reformation und ‚Radikaler Reformation‘ bzw. gesind m. E. evident; s. oben II, §  5, Anm.  163. Im Kontext von täuferischen Spottmessen im desakralisierten Kirchenraum ist das Anziehen von Messgewändern durch Täufer belegt (Lutterbach, a.a.O., S.  259); zu Münster s. auch oben I, §  5, Abschnitt 4. 45   Anselm Schubert, Täufertum und Kabbalah [QFRG 81], Gütersloh 2008, S.  295 ff. 46   Vgl. einige Hinweise in: Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, S.  39; 221 f.; 418 ff.; ders., „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, S.  54 f.; 206 f. Im Zusammenhang seiner Deutung des ‚Mönchskalbs‘ (1523) entnahm Luther diesem Wunderzeichen, dass „groß unfall und verenderung“ (WA 11, S.  380,6) einträten; jedem ‚Aufgang‘ des Evangeliums sei in der Kirchengeschichte „alle mal groß verenderung umb der ungleubigen willen gefolget“ (a.a.O., Z.  12 f.). Ähnlich erläutert Luther die Wendung „ein rechte verenderung“ in einer Predigt von 1523 mit: „in ein ander wesen geschmeltzt werden“ bzw. „muß gantz zu boden geen“ (WA 12, S.  591,12 f.); vgl. auch die Interpretation von „verenderung“ durch „eine grosse plage“ im Zusammenhang mit eschatologischen Vorgängen, WA 24, S.  160,11 f. (1527); vgl. 161,11 („mechtige verenderung“ in Bezug auf die Urgeschichte Gen 6,1 ff.); 167,31 f. („grosse schreckliche verenderung“). Von Gott selbst kann im Anschluss an die klassische metaphysische Tradition das Prädikat der Unveränderlichkeit ausgesagt werden, WA 24, S.  169,29 f. 47   (Das Folgende in geringfügiger Erweiterung auch in: Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  8, S.  96– 98 Anm.  323). Dass Luther wohl noch bis zu seiner Eheschließung im Juni 1525 (Brecht, Luther, Bd.  2, wie Anm.  8, S.  196 ff.) die Mönchskutte trug, scheint vor allem durch die ikonographische Überlieferung (vgl. vor allem das berühmte Cranachsche Gemälde mit Mönchskutte, aber ohne Tonsur [1522–1524], s. Brecht, a.a.O., S.  64, Tafel 4; Kurt Löcher [Bearb.], Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: Die Gemälde des 16. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 1997, S.  135 f.) verbürgt zu sein. 1526 wurde Luther ein auf Kosten des Wittenberger Stadtrates gefertigter Rock aus „purpurianisch [d. h. wohl: aus Perpignon stammend] Tuch“ (Brecht, a.a.O., S.  200, übersetzt: rot) geschenkt. Eine Luther zugeschriebene Augustinerkutte befindet sich im Lutherhaus Wittenberg, Abb. in: Martin Treu, Martin Luther in Wittenberg. Ein biographischer Rundgang, Wittenberg 2003, S.  49; Bringemeier, s. u., wie Anm.  30, vermutet, dass Luther später außerhalb des Gottesdienstes auch farbige Schauben trug; dies hätte jedenfalls der mit seiner Kleidung verbundenen Anpassung an die Kleidung der Laien – einschließlich der Pelzfütterung – entsprochen. Im Vorfelde der Leipziger Disputation hatte Luther Kurfürst Friedrich von Sachsen um eine weiße und eine schwarze Kutte gebeten (WABr 1, Nr.  173, S.  386 f.; vgl. aber schon 1516: WABr 1, S.  78,11). Die schwarze sei ihm bereits vor zwei oder drei Jahren zugesagt worden, aber er habe sie nie erhalten, deshalb habe er sich eine andere beschaffen müssen. Nun aber wolle er das offene Versprechen einlösen. Mit der weißen „Cappe“ (386,11) war wohl die auf dem Körper getragene „camisia“ gemeint, über der dann die schwarze Mönchstunika „cum cuculla“ (vgl. die Constitutiones, zit. WABr 1, S.  68 [Anm.  21]) getragen wurde. Von dem weißen Unterkleid sollte der Mönch zwei besitzen; s. auch Bringemeier, Priester- und Gelehrtenkleidung, wie Anm.  30, S.  22–26. Aus einer Beschreibung des späteren ermländischen Bischofs Johannes Dantiscus, der Luther 1523 in seinem Konvent aufsuchte, geht hervor, dass sich der Reformator innerhalb des Klosters so kleidete, „daß man ihn von einem Hofmanne nicht unterscheiden kann; wenn er jedoch das Haus, in dem er wohnt – es war

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meindereformatorischem Egalitarismus und funktional-hierarchischer Differenzierung zwischen gelehrten Amtspersonen und zu belehrender Gemeinde, die für die früher das Kloster – verläßt, so trüge er, sagt man, die Kutte seines Ordens.“ Zit. nach dem Abdruck des Briefes in: Karl Kaulfuß-Diesch, Das Buch der Reformation geschrieben von Mitlebenden, Leipzig 51917, S.  305–308, hier: 307. Die Ordensbrüder Luthers trugen nach Dantiscus’ Auskunft „Kutten von weißer Farbe, jedoch nach vorgeschriebenem Schnitt“ (a.a.O., S.  306); „in der Haartracht aber“ unterschieden sie sich nicht „von den Bauern“ (ebd.). Sollte es sich bei den weißen Kutten um die Unterkleider gehandelt haben oder schlichtweg um einen Bruch mit den Ordensstatuten bei gleichzeitiger Wahrung der Schnittform?! Zu Dantiscus’ Bericht vgl. Brecht, a.a.O., S.  99 f.; Heinrich Bornkamm (Martin Luther in der Mitte seines Lebens, Göttingen 1979, S.  261) geht davon aus, dass es sich um die häusliche Tracht der Augustinereremiten handelte, diese in der Öffentlichkeit also wie Luther weiterhin die schwarze Kutte trugen. 1516 war Luther übrigens dafür eingetreten, dass Novizen innerhalb wie außerhalb des Klosters in weißer Kutte auftreten dürften und hatte einer Rücksichtnahme auf die Bevölkerung die Berechtigung abgesprochen, vgl. WABr 1, S.  66,59 ff. Dass Eck insbes. mit der „nigra cuculla“ das – seines Erachtens von Luther missachtete – Ethos des Monastischen verband (vgl. WABr 1, S.  322,96 f.), könnte darauf hindeuten, dass man ein öffentliches Auftreten eines Augustinereremiten in einer weißen Kutte als Relativierung der Regelstrenge empfinden konnte oder gar musste. Im Nachgang der Leipziger Disputation warf Eck Luther übrigens „arrogantiam cucullae“ (WABr 1, S.  454,4 f.) vor. Doch warum kleidete sich Luther 1523 wie ein ‚Hofmann‘ (vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, wie Anm.  8, S.  170), also wie auf der Wartburg, und nicht in der ‚häuslichen Kutte‘ wie seine übrigen Ordensbrüder? Die Veränderung der Bekleidungsgewohnheiten setzte im November 1521, mit der sogenannten „Wittenberger Bewegung“, zunächst bei den Mönchen, ein, vgl. Müller, a.a.O., S.  59; 170 f. Allerdings trafen die Augu­ stinereremiten einen Beschluss, ihr Kleid zu behalten (vgl. Andreas Karlstadt, Sendtbrieff .  .  . meldende seiner Wirtschafft .  .  . [Erfurt, Matthes Maler 1522]; VD 16 B 6194; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1908, S.  190; Ex. MF 1194 Nr.  2998, A 2v–3r; vgl. Müller, a.a.O., S.  145 f.). Dass die Veränderung der Bekleidungsgewohnheiten der Mönche der erste und sichtbarste Ausdruck ihres Bruchs mit den Gelübden war, nahm auch der Stiftsherr Johannes Dölsch in Wittenberg (vgl. über ihn nur: MBW 11, S.  359) sensibel wahr, vgl. dessen Brief an Peter Burckhard in Ingolstadt vom 3.  2. 1522, in: Karl Schottenloher, Erfurter und Wittenberger Berichte aus den Frühjahren der Reformation nach Tegernseer Überlieferungen, in: ARG E 5, 1929, S.  71–91, Nr.  4, hier: 91. Am 25.  5. 1524 hatte Luther gegenüber Capito in Straßburg (s. dazu: Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  52, S.  134 ff.) beteuert: Es sei nun genug Rücksicht auf die Schwachen genommen worden; er selbst werde nun endlich damit anfangen, seine Kutte abzulegen („[.  .  .] ego incipiam tandem etiam cucullum reiicere [.  .  .].“ WABr 3, Nr.  748, S.  298–301, hier: 299,23 f.). Dies sei dann im Oktober 1524 geschehen, wo Luther zunächst (9.10.) „sine cuculla“ gepredigt habe; am 16.10. sei er dann bei der Frühpredigt mit, im Hauptgottesdienst dann wieder ohne Kutte aufgetreten, vgl. die entsprechenden Nachrichten Spalatins WABr 3, S.  301, Anm.  6 ; Brecht, a.a.O., S.  99; vgl. zur Schaube als „Protestkleid“ der Reformation, Bringemeier, a.a.O., S.  44 f.; zu Luther in der Schaube s. auch a.a.O., Abb.  29–31. Luthers changierendes Verhalten gegenüber der Kutte in dieser Übergangsphase dürfte vor allem beabsichtigt haben, die Frage der äußeren Bekleidung zu entdramatisieren, was wohl auch vor dem Hintergrund ihrer symbolischen ‚Aufladung‘ durch Karlstadts Verhalten zu interpretieren ist. Für einen Mann wie Bucer fand der lebensgeschichtliche ‚Bruch‘ mit seiner bisherigen Existenz als ‚papistischer‘ Priester einen elementaren Ausdruck in seinem äußeren Erscheinungsbild: „Das ich kein platten [sc. Tonsur] trag noch chorrock, macht, das ich kein papist bin.“ Verantwortung (1523), in: BDS 1, S.  177,24 f. Luthers ‚Konservativismus‘ im Umgang mit geistlicher Kleidung wird in den 1520er Jahren wohl schwerlich stilbildend gewirkt haben. Auch die Wittenberger Augustinermönche hatten ja im Herbst 1521 die Kutten zunächst abgelegt, s. die Nachweise WABr 2, S.  405, Anm.  4. Der ehemalige Augustinereremit Melchior Myritz (s. Kaufmann, Ende der Reformation, wie Anm.  37, S.  24) wurde übrigens „abiecto cucullo“ in sein Magdeburger Pfarramt eingeführt (Luther an Heinrich von Zütphen, 1.  9. 1524, WABr 3, Nr.  772, S.  336–342, hier: 337,6).

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Unterscheidung von radikaler und obrigkeitlicher Reformation charakteristisch werden sollte. Die mit sozialkritischen Tendenzen verbundenen vestimentären Ausdrucksformen ‚innerweltlicher Askese‘ haben dazu Anlass gegeben, insbesondere Teile des Täufertums in einen engeren Zusammenhang mit monastischen Traditionen zu rücken48 ; allerdings dürfte es kaum zufällig sein, dass sich unter den frühen Protagonisten der ‚Radikalen Reformation‘ nur relativ wenige ehemalige Ordensleute finden. Signifikant viel mehr als unter den sonstigen Akteuren der Reformation sind es jedenfalls nicht gewesen. Wer einstmals im härenen Gewand eines Bettelmönchs einherzugehen gewohnt war, mochte vielleicht nicht so ohne weiteres dafür empfänglich 48   Vgl. etwa Lutterbach, Weg, wie Anm.  44, S.  222; Kenneth Ronald Davis, Anabaptism and Ascetism. A Study in Its Intellectual Origins [Studies in Anabaptist and Mennonite History 16], Scottdale (PA) 1974, bes. S.  129 ff. (zu den strukturprägenden Motiven täuferischer Frömmigkeit vor dem Hintergrund monastischen Asketismus’). Angesichts eines Anspruchs wie dem Jan van Leidens, der mit seiner Herrschaft verband, „dem fleisch und werlt [.  .  .] afgestorven“ zu sein (zit. nach Lutterbach, a.a.O., S.  222), sind Motivanalogien zwischen monastischer und täuferischer Askese offenkundig. Freilich sollte man bei der Interpretation einer solchen Aussage aber nicht übersehen, dass etwa auch Luther seinen Eintritt in den Ehestand als ein ‚der Welt Absterben‘ interpretieren konnte, vgl. Bernd Moeller, Wenzel Lincks Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit und Ehe im Umbruch der Reformation, in: Ders., Luther-Rezeption, Göttingen 2001, S.  194–218, hier: 216; zur Interpretation der Reformation als ‚neues Mönchtum‘ s. ders., Die frühe Reformation als neues Mönchtum, a.a.O., S.  141–155, sowie Johannes Schilling, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation [QFRG 67], Gütersloh 1997; in Bezug auf die [Hergot-]Schrift Von der neuen Wandlung und das dort entwickelte Konzept der ‚Welt als Kloster‘ s. Carola Schelle-Wolff, Zwischen Erwartung und Aufruhr. Die Flugschrift Von der neuen Wandlung eynes Christlichen Lebens und der Nürnberger Drucker Hans Hergot [EHS. R. 1, 1549], Frankfurt/M. u. a. 1996, S.  242 ff. Im Umkreis Müntzers sind ehemalige Mönche nachweisbar, etwa Heinrich Pfeiffer (vgl. NDB 20, 2001, S.  319 f.; DBETh 2, 2005, S.  1046; Thomas T. Müller, Müntzers Werkzeug oder charismatischer Anführer? Heinrich Pfeiffers Rolle im Thüringer Aufstand von 1525, in: Günter Vogler [Hg.], Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald [Historische Mitteilungen Beiheft 69], Paderborn 2008, S.  243–259; Vogler, Nürnberg, wie Anm.  42, S.  201 ff.; Fischer, wie Anm.  30, S.  33,24 ff. [Hinweis Agricolas auf Pfeiffers Herkunft aus dem Mönchsstand]; vgl. Elliger, Müntzer, wie Anm.  8, S.  570 ff.) oder Johann Rothmeler (vgl. Bernd Moeller/Karl Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation [AAWG. PH 3/220], Göttingen 1996, S.  143 ff.); auch Peringer (s. oben Anm.  42) könnte ein aus einem schwäbischen Kloster (Clemen, Bauer von Wöhrd, wie Anm.  42, S.  86 f.) oder ein gegebenenfalls aus Augsburg stammender Priester gewesen sein, vgl. Vogler, Nürnberg, a.a.O., S.  136. Leonhard Schiemer, der sich Hut anschloss, war ehemaliger Franziskaner, vgl. über ihn nur: DBETh 2, 2005, S.  1190; BiDi 17, 1995, S.  95–117; zu einigen Mönchen im frühen schweizerischen Täufertum s. Davis, a.a.O., S.  109 ff. (Hans Altenbach; Johannes Krüsigen; Hans Kern; Sebastian Ruggensberger; Wolfgang Ulimann alias Schorant); zu Sattler, einem ehemaligen Benediktiner, s. a.a.O., S.  113 ff.; James M. Stayer, Art. Sattler, M., in: MennLex 5, s.v. [Lit.]. Für die Wahrnehmung des Täufertums durch den römischen Kardinallegaten Lorenzo Campeggio war charakteristisch, dass er die Missbilligung luxeriöser Kleidung als Ausdruck sozialrevolutionärer Gesinnungen sah; in einem Brief an den päpstlichen Sekretär Giovanni Battista Stanga (12.  5. 1530) stellte er die Kleidungsaskese der Täufer in einen unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Verwerfung weltlicher Ordnung überhaupt: „[.  .  .] adeo erga superioritatem ita sunt [sc. die Täufer] exacerbati ut si quempiam viderint qui est paulo latius vestitus: eundem statim interrogant ubi id Evangelio deprehendatur quod tam bona et pulchra tunica indutus incedere debeat [.  .  .].“ Zit. nach der Edition des Textes in: Schubert, Täufertum, wie Anm.  45, S.  325.

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sein, in einen grauen Rock zu schlüpfen und darin ein Symbol seiner radikal ge­ wandelten religiösen Denkungs- und Lebensart zu sehen. Dass in den konsequent am gemeinen Nutzen orientierten Verfassungsentwürfen etwa Eberlin von Günzburgs – die sog. Wolfaria-Stücke innerhalb des Flugschriftenzyklus der XV Bundesgenossen – 49 oder der [Hans Hergot] zugeschriebenen Flugschrift Von der neuen Wandlung50, egalitaristische Kleiderordnungen enthalten waren, die vor allem dem Zweck dienten, die soziale Distinktionsfunktion vestimentärer Symbolik außer Kraft zu setzen, verdeutlicht im Modus eines sozialkritischen Gegenkonzeptes, dass dem asketischen Bekleidungscode der Radikalen eine immense gesellschaftspolitische Sprengkraft innewohnte.

5.  Mit dem Geist wider die ‚Schriftgelehrten‘ An der Bekleidungsfrage zeigte sich auf die vielleicht unmittelbarste gegenständliche Weise, dass es für die ‚Radikalen‘ eine epistemologische Prärogrative der gelehrten Theologen in Bezug auf das Heil bzw. die heilsnotwendige Lehre nicht gab. Die Absage an die altgläubigen ‚Pfaffen‘ ging bei ihnen nahtlos in eine fundamentale Kritik an den ‚neugläubigen‘ ‚Schriftgelehrten‘ über. Dass auch die ‚neugläubigen‘ Theologen von den ‚Radikalen‘ – soweit ich sehe durchgängig – mit dem eindeutig negativ51 konnotierten neutestamentlichen Begriff der ‚Schriftgelehrten‘ bezeichnet wurden, 49  Vgl. Susan Groag-Bell, Johann Eberlin von Günzburg’s Wolfaria – the first protestant Utopia, in: Church History 36, 1967, S.  122–139; zu Eberlin umfassend: Christian Peters, Johann Eberlin von Günzburg [QFRG 60], Gütersloh 1994, bes. S.  107 ff.; zu den XV Bundesgenossen im Kontext frühreformatorischer anonymer Flugschriftenserien vgl. oben II, §  10, Anm.  151 ff.; zu den Utopien der Reformationszeit instruktiv: Hans Rudolf Velten, Utopien im 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa, in: Röcke/Münkler (Hg.), Die Literatur im Übergang, wie Anm.  1, S.  529–571, hier bes. 551 ff.; s. auch oben I, §  5. Die Bestimmungen zur Kleidung finden sich im 11. Bundesgenossen: „Alle farb allerlay klaidung soll jederman gemein sein, doch das under fraw und man ein underschayd sy. Die klaider söllen fraw und man eerlich bedecken. Die frawen söllen zierlich aber doch erlich bekleidt sein.“ Enders, Eberlin, Bd.  1, S.  129. 50   S. Anm.  48; ed. Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  549,14–17: „[S]ie [sc. die Bewohner des ‚gewandelten‘ Staatswesens] werden umb Gots willen nachlassen eygnen nutz unnd gemeynen thun. Sie werden tragen eyn Kleyd, als sie das auff dem flure ertzeugen können, weys, growe, schwartz, blowe [.  .  .].“ Die Bekleidung wird also aus inländischer Produktion hergestellt; darin ist eine implizite Absage an die teuren, soziale Distinktionskraft erzeugenden Textilimporte zu sehen. Zum zeitgenössischen Textilhandel vgl. die oben in Anm.  30 angegebene Lit. 51   Gelegentlich begegnet allerdings auch eine differenzierende Ausdrucksweise. In dem Ludwig Hätzer zugeschriebenen Flugblatt „Kreuzgang“ (s. Alejandro Zorzin, Ludwig Hätzers „Kreuzgang“ [1528/29]: Ein Zeugnis täuferischer Bildpropaganda, in: ARG 97, 2006, S.  137–164, hier: S.  144 f. [Abb.  1 in diesem §]) ist von der „betrüglich verfürisch feder der schrifftgelarten / ich meyn die bösen / den guten wünsch ich alles lieb“, die Rede. Im Gesellschaftsentwurf der Schrift Von der neuen Wandlung sind „Schrifftweysen“ vorgesehen, „die das wort Gottes zu der seele heyl leren und also die seel mit der schrifft erneren, und wird auch eyn ytzlich fluer eynen haben“ (Laube/Seiffert, Bauernkriegszeit, wie Anm.  32, S.  550,11–13). Ansonsten werden die „schrifftweysen“ und die „schrifftgelerten“ (553,33.42; vgl. 550,11 ff.; 552,40; 553,19; 554,2 ff.; 556,3 ff.) einer schonungslosen Kritik unterworfen.

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sollte ihre Hochmütigkeit, definitive Verworfenheit und Christus- bzw. Geistferne indizieren. Vor allem zweierlei warf man den ‚Schriftgelehrten‘ vor: Erstens, dass sie untereinander zerstritten seien und damit die Gemeinden, für die sie verantwortlich wären, in die Irre führten. Insbesondere die Erfahrungen des seit Herbst 1524 offen ausgebrochenen innerreformatorischen Abendmahlsstreites52 standen hinter diesem Urteil.53 Und zweitens, dass aus der Verkündigung der ‚Schriftgelehrten‘ keinerlei sichtbare sittliche Verbesserungen des Gemeinwesens folgten. Balthasar Hubmaier54 etwa konstatierte in Bezug auf die krisenhafte Pluralisierung der Lehrmeinungen seit der Mitte der 1520er Jahre: „Als bald man von einem christenlichen artikel meldung thut, sagt nyemandt: Christus leert und haist unns also, sonder: Der schreibt das, dieser ein anders, und sehen also vil mer auff die menschen, denn auff got selber. Darumb khumbt uber unns die straff der blindhait.“55 Und auch für Hans Denck war klar, dass die sektiererische Vermehrung von Lehrmeinungen unter den Gelehrten eine Folge dessen war, dass man nicht „auff den 52  Vgl. Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992; Amy Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy, Oxford 2011. 53   Vgl. etwa die – kaum mit überzeugenden Gründen! (s. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, S.  204 Anm.  436) – [Dachser] zugeschriebene Schrift Eine göttliche und gründliche Offenbarung, in: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535), Bd.  1, Berlin 1992, S.  772,20–22: „Von denen aber wir hören und leren [=lernen] sollten, die schmähen unnd schelten einander auffs allerhöchst, daß nyemannt verleugnen kann, dann es ist offenbar in der gantzen welt das sy wider ainander sein.“ Vgl. zu der Schrift: Hellmut Zschoch, Gehorsamschristentum. Die „göttliche und gründliche Offenbarung“ des Augsburger Täuferführers Jakob Dachser, in: ZBKG 63, 1994, S.  30–45; ders., Reformatorische Existenz und konfessionelle Identität. Urbanus Rhegius als evangelischer Theologe in den Jahren 1520–1530 [BHTh 88], Tübingen 1995, S.  229 ff. Für eine Schrift wie die anonyme Jeremia-Homilie, die mit der Offenbarung (s. oben) zusammenhängen dürfte (Der Herr spricht / .  .  . bessert ewer wesen [Worms, Peter Schöffer] 1527; Ex. MF 1488 Nr.  3908; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  42, Nr.  1554; zu dieser Schrift s. Werner O. Packull, Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement 1525–1531 [Studies in Anabaptist and Mennonite History 19], Scottdale (PA) 1977, S.  208 f. Anm.  48; er vermutet auch für diese Schrift Dachsers Verfasserschaft. In der Tat dürfte sie denselben Verfasser haben wie die Schrift Eine göttliche und gründliche Offenbarung; vgl. auch John Wenger, Two Early Anabaptist Tracts, in: MQR 22, 1948, S.  34–42, hier: 35; 36–40 [engl. Übersetzung dieses in handschriflticher Form mit einer Vater-unser-Auslegung Eitelhans Langenmantels überlieferten anonymen Textes]), ist die definitive Scheidung von „alle[n] schriftgelerten auff dem gantzen erdrich“ (A 3v) charakteristisch. Der Anonymus bittet darum, dass sich die Adressaten seines Sendschreibens von „keyn Schriftgelerte[n] / vor welchen uns Christus trülich gewarnet hat verfür[en]“ (A 6v) lassen sollen. 54  Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Art. Hubmaier, B., in: RGG4, Bd.  3, Sp.  1921 f.; James M. Stayer, Art. Hubmaier, B., in: MennLex 5, s. v. [Lit.]; grundlegend: Torsten Bergsten, Balthasar Hubmaier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum 1521–1528) [AUV 3], Kassel 1961 (überarb. engl. Übersetzung Valley Fortge 1978); Christof Windhorst, Art. Hubmaier, B., in: TRE 15, 1986, S.  611–613; vgl. die Dokumentation von Mira Baumgartner, Die Täufer und Zwingli, Zürich 1993, S.  63–92; DBETh 1, 2005, S.  682 [Lit.]; in Bezug auf das theologische Profil Hubmaiers unersetzt: Christof Windhorst, Täuferisches Taufverständnis. Balthasar Hubmaiers Lehre zwischen tradtitioneller und reformatorischer Theologie [SMRT 16], Leiden u. a. 1976; MBW 12, S.  331 f. 55  Hubmaier, Gespräch auf Zwinglis Taufbüchlein, zit. nach der Edition in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  609,14–18.

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eynigen Leermayster, den heyligen gayst, achtung hett. Welches leer die schrifft clare zeugniß gibt [.  .  .].“56 Der für die radikalreformatorische Epistemologie entscheidende Rekurs auf den Heiligen Geist als Prinzip der Einheit, Eindeutigkeit und unwiderlegbaren Evidenz religiöser Gewissheit war ihre Antwort auf die als ‚Grundlagenkrise der Reformation‘57 erlebte Erfahrung der Strittigkeit exegetischer Klärungen im evangelischen Lager. Eine Art historischer Nukleus dieser Entwicklung war die zuerst von den Dissidenten der sächsischen Reformation, Müntzer und Karlstadt, lancierte Kritik an den ‚neuen Papisten‘ in Wittenberg58 bzw. an Luther, dem Wittenbergischen Papst59 und „newe[n] Christus“60. Im Falle Müntzers war es ein bereits in seinem Prager Sendbrief  61 enthaltener massiver Antiklerikalismus62, der geradewegs in eine Polemik auch gegen die evangelische Amtsgeistlichkeit überging und mit der Kritik an den Auslegern der Schrift eine Abkehr von der normativen Bedeutung des äußeren Schriftwortes selbst vollzog.63 Die am äußeren Verheißungswort ausgerichtete Wittenberger Theologie erzeugte nach Auffassung des ‚Schwarmgeistes‘ aus Allstedt nichts anderes als jenen „gedichteten“, „unversuchten“ Glauben64, der mit der wah56

 Denck, Wer die Warheit wahrlich lieb hat, zit. nach der Edition in: Walter Fellmann, Hans Denck, Schriften, 2. Teil: Religiöse Schriften [QFRG 24 / QGT 6/2], Güterlsoh 1956, S.  68,6 f.; zu Dencks Polemik gegen die „schrifftgelerten“ bzw. „schriftweysen“ vgl. a.a.O., S.  28,17; 35,32; 51,6 ff.; an Literatur zu Denck vgl. Gottfried Seebaß, Hans Denck, in: Gerhard Pfeiffer/Alfred Wendehorst (Hg.), Fränkische Lebensbilder, Bd.  6, Neustadt / Aisch 1975, S.  107–129; Werner O. Packull, Art. Denck, H., in: TRE 8, 1981, S.  488–490; DBETh 1, 2005, S.  285; vgl. auch die Einführung von Thomas Nauerth, in: Hans Denck, Vom Gesetz und von der Liebe. Zwei Schriften [Täufer Texte 1], Weisenheim a. Bg. 2007, S.  11–30; Geoffrey Dipple, Art. Denck, H., in: MennLex 5, s. v. (Lit.). 57   Vgl. dazu Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm.  52, S.  7; 270; ders., Art. Abendmahl 3. Reformation, in: RGG4, Bd 1, 1998, Sp.  24–28, hier: 25. 58  Karlstadt, Wider die alte unn newe Papistische Messen [Basel, T. Wolff], 1524; Ex. Köhler MF 95 Nr.  256; VD 16 B 6261; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  1970, S.  213 f.; vgl. Erich Hertzsch, Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523 bis 1525, Teil  1 [Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 325], Halle 1956, S.  3, 20 f.; 74; Teil  2, wie Anm.  30, S.  72,14 f.; 83,39 ff. 59  Ed. Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  333,10 = ThMA 1, S.  388,14. 60   Franz, a.a.O., S.  335,31 = ThMA 1, S.  391,3. 61   Vgl. zur Frage der Gattung des Textes bzw. der Fassungen: Günter Vogler, Anschlag oder Manifest? Überlegungen zu Thomas Müntzers Sendbrief von 1521, in: Ders., Thomas Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 4], Mühlhausen 2003, S.  38–54; Ed. in: Franz, a.a.O., S.  491 ff. = ThMA 1, S.  414 ff. 62   Franz, a.a.O., S.  491,15; 499,5 ff. = ThMA 1, S.  415,3 f.; 421,30 ff.; vgl. Hans J. Hillerbrand, Anticlericalism in Thomas Müntzer’s Prague Manifesto, in: Oberman/Dykema, Anticlericalism, wie Anm.  7, S.  441–448; Thomas Kaufmann, Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Johanna Haberer/Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation [SMHR], Tübingen, 2012, S.  11–43. 63  Vgl. Franz, a.a.O., S.  23,12 ff.; 218,19 ff. = ThMA 2, S.  177,16 ff.; ThMA 1, S.  290,16 ff.; zur Schrifthermeneutik Müntzers vgl. nur: Hans-Jürgen-Goertz, Innere und äußere Ordnung der Theologie Thomas Müntzers [SHCT 2], Leiden 1967, bes. S.  49 ff. 64   „Dan alle yre [sc. der „bößwichtischen gelarten“] lere macht, das sich die menschen falschs in einer getichten weise mit unversuchtem glawben auffbrüsten und meynen, sie wöllen aller anfech-

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ren Nachfolge des leidenden Christus nicht ernst machte. Gelehrsamkeit in der Bibel führe nur zu weltförmiger Hoffart und schließe deshalb vom Heil geradezu aus.65 Ähnlich den biblischen Schriftstellern, die noch kein verbum externum gehabt hätten, könne auch heutigentags jemand ohne jeden Kontakt mit der Bibel allein durch den Geist zum wahren Glauben gelangen.66 Dem „valschen und erdichten glauben“67 der untereinander heillos zerstrittenen „Schriftgelehrten“68 entspreche – so Hans Hut – dass aus ihm „gantz und gar kein pesserung volgt.“69 Insofern hingen das Schriftprinzip und die sittliche Wirkungslosigkeit reformatorischer Predigt in der Perspektive der Radikalen innerlich zusammen. Das konsequente Gegenkonzept zur Buchweisheit der ‚Schriftgelehrten‘, und d. h. zu einer durch das äußere Wort evozierten und bekräftigten Frömmigkeit, bestand in dem im „abgrundt“70 der Seele tung mannes genung sein mit yren promissien, so sie doch nicht lernen, wie ein mensche möge dartzu kommen.“ Franz, a.a.O., S.  223,29–32 = ThMA 1, S.  297,2–6; vgl. Franz, a.a.O., 269,1–3; S.  235,12 ff. = ThMA 1, S.  327,16–18; 280,22 ff. Im Fokus der Müntzerschen Kritik steht natürlich die an der Relation von verbum promissionis und fides orientierte, stricto sensu reformatorische Theologie Luthers, s. dazu Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie [FKDG 24], Göttingen 1971 (2.  Aufl. Darmstadt 1989). Die Zerknirschung des jeder eigenen Erkenntnismöglichkeit beraubten, „armgeystig“ (224,28) gewordenen Menschen bildet für Müntzer die Bedingung der Möglichkeit des Heilsempfangs; das Gelehrtentum als Inbegriff menschlichen Hochmuts bedarf deshalb der machtvollen Zerstörung durch den Gottesgeist und von diesem getriebener Akteure, S.  224,24 ff.; 306,37 ff.; 274,15 ff.; 234,4 ff. = ThMA 1, S.  298,3 ff.; 363,24 ff.; 333,5 ff.; 279,8 ff.; vgl. zur Polemik gegen den „gedichteten Glauben“ auch Elliger, Müntzer, wie Anm.  8, S.  394 ff. 65   „Unsere gelerten wolten gern das gezeügnus des geysts Jesu auff die hohen schul bringen. Es wirt in gar weit feylen, nachdem sie nicht drumb gelert sind, das der gemeyn man in durch ire lere soll gleych werden, sondern sie wöllen alleyn den glauben urteylen mit irer gestolnen schrifft, so sie doch gantz und gar keynen glauben wider bey Got oder vor den menschen haben.“ Franz, a.a.O., S.  270,7–19 = ThMA 1, S.  329,4–8. Schon 1521 urteilte Müntzer, dass Studenten und Geistliche dem lebendigen Worte Gottes gegenüber feindseliger wären als andere, insbes. das Volk (499,5 ff.): „Aber am volck zcweiffel ich nicht.“ (500,3). 66   „Wenn eyner nu seyn leben lang die biblien wider gehöret noch gesehen hat, kündt er woll für sich durch die gerechten [= richtige] lere des geystes eynen unbetrieglichen christenglauben haben, wie alle die gehabt, die one alle bücher die heylige schrifft beschriben haben.“ Franz, a.a.O., S.  277,25–33 = ThMA 1, S.  335,22–25; vgl. zur Interpretation auch: Goertz, Ordnung, wie Anm.  63, S.  69 f. 67  Hut, Anfang eines rechten christlichen Lebens, ed. in: Heinold Fast/Martin Rothkegel (Bearb.)/Gottfried Seebaß (Hg.), Briefe und Schriften oberdeutscher Täufer 1527–1555. Das ‚Kunstbuch‘ des Jörg Probst Rotenfelder genannt Maler [QFRG 78 / QGT 17], Gütersloh 2007, S.  169 [Z.  4]; zur Analogisierung der Schriftgelehrten zur Zeit Jesu und in der Gegenwart s. Hut, Christliche Unterrichtung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  689,36 ff. 68   „Man mörkh auf sy [sc. die „Schriftgelehrten“] und erkenn es aus dem, wo zwen oder drey im gleich ein schrift predigen; so ist keines auslegung wie des andern.“ Fast/Rothkegel/Seebaß, a.a.O., S.  169[,5–7]; vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  689,42 ff. 69   A.a.O., S.  169[,4 f.]. 70   Haugk von Jüchsen, Christliche Ordnung, zit. nach der Ed. in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  680,10 ff.: „Darauff sag ich frei dise warheyt imm Herren Gott / das keyn mensch / er sei gelert er immer wölle / eynige schrifft verstehen mag / er hab sie dann zuvor selbst in der warheyt mit der that / imm abgrundt seiner seelen erlernet.“ Zu Jörg Haugk grundlegend: Séguenny, Les Spirituels, wie Anm.  113, S.  75 ff.; vgl. Hätzer, Vorrede zu seiner Übersetzung des Propheten Baruch

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erfahrenen „recht[en] leben“71, dass allein vom Gottesgeist, ohne jede äußerliche Vermittlungsinstanz, eröffnet werde. Die Bibel fungierte in diesem mystisch-spiritualistischen Erlösungskonzept der Müntzer, Hut, Haugk von Jüchsen, Denck u. a. als prinzipiell verzichtbares äußeres Zeugnis einer vorgängigen, innerlich bewahrheiteten Erkenntnis.72 Einen exklusiven Rang besaß die Schrift als Offenbarungsquelle für einen starken Strang unter den ‚Radikalen‘ nicht mehr; Christus selbst habe durch „creaturen“73 gepredigt und nur allein um der Schriftgelehrten willen die Bibel angeführt. Mit der Schriftkultur als kultureller Domäne der Gelehrten wurde bei einigen Exponenten der ‚Radikalen Reformation‘ auch die Heilige Schrift als exklusiver Träger von Offenbarung suspekt bzw. obsolet. Der Selbstruhm derer, die die Blinden führen sollten und doch hochmütig für sich in Anspruch nähmen, „in keinem artickel gefelt zuhaben“74, richte unendlichen Schaden an. Denn ihre Fehlurteile in Bezug auf die Kindertaufe oder ihre gezwungene Auslegung der Abendmahlsparadosis – des est durch significat! – gäbe, so Hubmaier, „ursach den gotlosen, christenliche leer zelestern“75. Dass aus der Verkündigung des reformatorischen Glaubens keine produktive Beförderung der christlichen Sittlichkeit folgte, war für viele ‚Radikale‘ das wohl wichtigste Motiv ihrer Abkehr von den kirchlichen Reformationsprozessen.76 „Ja es wißten die schrifftgelerten die von 1528 (VD 16 B 3727 / B 4171; Ex. SB München Catech. 224/2, Bl.  [4]r). Der Weg im „Creutzgang“ erschließt für Hätzer den Sinn der Schrift. Zum mystischen Hintergrund vgl. nur: Steven E. Ozment, Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the Sixteenth Century, New Haven / London 1973, S.  25 ff. (zur Wormser Ausgabe der Theologia deutsch von 1528); Eric W. Gritsch, Thomas Muentzer and the origins of Protestant Spiritualism, in: MQR 37, 1963, S.  172– 194 (bes. S.  174 ff. zu den Ursprüngen von Müntzers subjektivistischer Geisterfahrung in Luthers früher Theologie); zu Hätzer: Goeters, Hätzer, wie Anm.  146, S.  125 ff.; Alejandro Zorzin, Art. Hätzer, L., in: MennLex 5, s. v. [Lit.]; ders., „Kreuzgang“, wie Anm.  51; ders., Ludwig Hätzer als täuferischer Publizist (1527–1528), in: MGB 67, 2010, S.  25–49; vgl. auch R. Emmet McLaughlin, Apocalyptism and Thomas Müntzer, in: ARG 95, 2004, S.  98–131. Neben dem Motivkomplex der Notwendigkeit des Leidens dürften in Taulers Polemik gegen die Schriftweisen und im Bild der Laien als positivem Gegenbild zu den Geistlichen (s. Otto, Tauler-Rezeption, wie Anm.  40, S.  136 ff.; 139 ff.) deutliche Verbindungsmomente zur Theologie der radikalen Reformatoren zu sehen sein; s. unten III, §  13, Anm.  5. 71   Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  680,11; vgl. 680,14 u. ö. 72   „Es gibt die schrifft nur ain eüsser zeugnuß aines rechten lebens, welchs kain wesen in mir machen kann, darumb muß ich mich, nit auff bücher oder gelert lewt verlassen, dann vil bücher zaygen wenig christen, dann sy füren die menschen auß sich, und nit in sich, das merckt man dabey zur apostel und christus zeyt waren wenig bücher, und vil guter christen. [.  .  .] Man soll auß büchern und den menschen nur ein zeügknuß nemen, aines rechten lebens, und das buch oder den lerer an dem ort lassen faren [.  .  .] der krafft muß man von got im hertzen erwarten [.  .  .]. Was mir die schrifft zayget, da muß ich in mich geen, und sehen ob es auch in mir war sey.“ Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  680,1–21. 73  Hut, Anfang eines rechten christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  186[,10]; vgl. 186[,7 ff.]. 74  Hubmaier, Ein Gespräch, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  605,28. 75   A.a.O., S.  612,35 f. 76   „Also hab ich gelert in meinen Biechlen und beclag mich dar jnn mit wainenden Augen, das die menschen jn vil jaren nit mer gelernet haben, denn das sy sagen: Wir glauben, der glaub mach

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bibel gar maisterlich hinden und fornen, dennocht was ir leer und verstand falsch, wie auch yetzund zu unser zeyt, ob sy schon alle schrifft leren und predigen, dennocht predigt ainer wider den andern, und volgt auß irer lere kain besserung, und sy selbs bessern sich auch nit“77 – so rekapitulierte Hans Hut die tiefen Enttäuschungen über uneingelöste Hoffnungen des frühreformatorischen Aufbruchs. Dass einige reformatorische Prediger auf der Kanzel feststellten: „Ich waiß nit wie es kombt, ye lenger ich predige, ye minder niemant nichts guts thun will“78, erschien den Radikalen als offenes Eingeständnis dessen, dass sie nicht von Gott gesandt, berufen und legitimiert seien. Der Heiligungsernst radikal-reformatorischer bzw. täuferischer Gruppen79, der zumeist mit einer dezidierten Absage an das ‚sola fide‘ des reformatorischen Glauunns selig und ist aber in dieser Zeit briederliche lieb und treu mer veraltet unnd erkaltett jnn unns denn vor niemals [.  .  .].“ Hubmaier, Rechenschaft, in: Gunnar Westin/Torsten Bergsten (Hg.), Balthasar Hubmaier. Schriften [QFRG 29 / QGT 9], Gütersloh 1962, S.  461 f.; bes. eindrucksvoll – auch wegen der impliziten Anknüpfung vor allem an Luthers Freiheitsschrift in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Glauben und Werken: Sebastian Franck, Nachwort zu der von ihm besorgten deutschen Übersetzung der 1530 herausgegebenen (WA 30/2, S.  198–208) Schrift des „Georgius“ genannten Siebenbürgeners De moribus .  .  . Turcorum (ed. von Reinhard Klockow, Georgius de Hungaria, Tractatus de Moribus, Condicionibus et Nequicia Turcorum [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15], Köln u. a. 21994; s. oben I, §  4, Anm.  11 ff.), im Reprint in: Carl Göllner (Hg.), Chronica unnd Beschreibung der Türckey [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 6], Köln u. a. 1983, S.  1–106, hier bes. 102 ff.; Abdruck auch in: Sebastian Franck, Sämtliche Werke, Bd.  1: Frühe Schriften. Text-Redaktion Peter Klaus Knauer, Bern 1993, S.  324,26 ff.; vgl. auch zum Verhältnis Francks zu Luther die instruktiven Bemerkungen Dejungs, wie Anm.  5, S.  379 ff.; Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, S.  208 f. Anm.  465; vgl. auch Karlstadt, in: Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  1, wie Anm.  58, S.  3,20 ff. 77  Hut, Christliche Unterrichtung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  689,39–690,2; zum Vorwurf, die Schriftgelehrten und Prediger seien ehrgeizige ‚Bauchdiener‘ s. Hut, Anfang eines rechten christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel, wie Anm.  67, S.  168[,1 ff.]; 194[,2 ff.]; Müntzer, in: Franz, wie Anm.  17, S.  325, 3 ff.; 238,34 ff.; 239,5 ff.; u. ö. = ThMA 1, S.  381,6 ff.; 285,13 ff.; 285,18 ff.; u. ö. 78  [Dachser], Offenbarung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  777,16 f.; das zitierte Votum eines ungenannten evangelischen Predigers entspricht übrigens der schon in Luthers Brief an die Fürsten zu Sachsen gegenüber analogen Vorwürfen Müntzers exponierten Verhältnisbestimmung von reiner ‚Lehre‘ und ‚Leben‘: So anstößig auch das unzureichende sittliche Zeugnis sein mag, so wenig widerlegt das ‚Leben‘ die wahre ‚Lehre‘, WA 15, S.  217,25 ff. = LuStA 3, S.  100,9 ff. 24 ff.; zum Kontext vgl. Siegfried Bräuer, Zur Vorgeschichte von Luthers „Ein Sendbrief an die Fürsten zu Sachsen vom aufrührerischen Geist“, in: Ders., Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation, hg. von Hans-Jürgen Goertz und Eike Wolgast, Leipzig 2000, S.  59–90. Ähnliche Erfahrungen bilden auch den Hintergrund von Francks Schrift über das Laster der Trunkenheit (1531), in der er sich mit evangelischer Laxheit in ethicis („Nur vol sein [.  .  .] unser etlicher Evangelium“, Franck, Bd.  1, wie Anm.  76, S.  363,38 f.) auseinandersetzt und die evangelischen Prediger rügt, dass sie noch immer, auch nach zehn Jahren Evangeliumspredigt, die ‚Schwachen schonten‘, a.a.O., S.  367,7 ff. Prediger, die keine sittliche Läuterung in ihrer Gemeinde wahrnähmen, hätten diese zu verlassen (S.  369,12 ff.). Die Sauferei ist für Franck ein apokalyptisches Zeichen des nahen Jüngsten Tages, S.  366,11 ff.; 406–408; 370,3 ff.; 388,6 ff. 79   Vgl. etwa [Sattlers] Abgrenzung gegenüber ‚falschen Brüdern‘ des täuferischen Milieus (s. C. Arnold Snyder, The Life and Thought of Michael Sattler [Studies in Anabaptist and Mennonite History 27], Scottdale (PA) 1984, S.  115; 222 Anm.  27), in: Brüderliche Vereinigung, in: Laube, Flug-

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bensverständnisses verbunden war80, basierte auf einem Konzept von doctrina, bei dem ‚Lehre‘ und ‚Leben‘ im selbst verantworteten Lebensvollzug des Einzelnen und der Gemeinschaft aufs Innigste verbunden waren. Der Überbietungsanspruch, den die Radikalen gegenüber den etablierten Reformatoren vertraten, ergab sich sowohl aus der ihres Erachtens überzeugenderen ethisch-sozialen Gestalt der Glaubenspraxis, als auch aus einem epistemologischen Surplus. Denn die ‚Schriftgelehrten‘ kannten den Geist nur durch die textuellen Zeugen des Geistes; ein Hans Denck aber nahm für sich in Anspruch, die Wahrheit aus dem inneren Zeugnis des Geistes selbst empfangen zu haben und nurmehr sekundär am Wortlaut der Schrift beglaubigen zu müssen.81 Auch die Versöhnungstat Christi am Kreuz werde nur für denjenigen wirksam, der den Geist Christi habe82 bzw. dem Leidensweg nachfolge. Der Kritik an den ‚Schriftgelehrten‘ kam eine zentrierende Bedeutung für Entstehung und Gehalt der radikalreformatorischen Lehrbildungen zu, denn sie führte zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Bibel als infallibler Norm der Lehre. Auch wenn sich zahlreiche motivische Analogien zwischen der altgläubigen und der radikalreformatorischen Kritik an der bibeltheologisch begründeten doctrina der magistralen Reformation und ihrer sola fide- bzw. sola scriptura-Prinzipien feststellen lassen, so wird man doch in Bezug auf die wichtigsten intellektuellen Protagonisten der ‚Radikalen‘ voraussetzen können, dass die Enttäuschung über den Verlauf der magistralen Reformation den entscheidenden Anlass für die Ausbildung ihrer eigenen Lehre darstellte. Eine formative, lehrbildende Kraft der mystisch-spiritualistischen Traditionsbestände ist bei der überwiegenden Mehrheit der radikalen Reformatoren jedenfalls erst in einer Entwicklungsphase nachweisbar, in der es zu einem mehr oder weniger offenen Bruch mit den kirchlichen Reformatoren gekommen war. schriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  728,43–729,5; zu Sattler bzw. dem Schleitheimer Bekenntnis s.: Andrea Strübind, Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz, Berlin 2003, S.  547 ff.; vgl. Snyder, a.a.O., S.  114 ff.; ders., The Birth and Evolution of Swiss Anabaptism, 1520– 1530, in: MQR 80, 2006, S.  501–645; ders., Swiss Anabaptism: The Beginnings, 1523–1525, in: Roth/Stayer, Companion, wie Anm.  1, S.  45–81; Stayer, Sattler, wie Anm.  48. 80   Bes. pointiert formuliert in der leidenstheologischen Konzeption Müntzers, ed. Franz, wie Anm.  17, S.  235,29–236,2 (= ThMA 1, S.  281,10–14): „Des ziels wirt weyt gefeylt, so man predigt, der glaub muß uns rechtfertig machen und nicht die werck. Ist ein unbescheidene rede. Da wirt der natur nicht furgehalten, wie der mensche durch gotis werck zum glauben kompt, welchs er muß vor allen und über alle ding wertten.“ A.a.O., S.  235,29–32 = ThMA 1, S.  281,10–13. 81   „Wer die warheit in der warheit hatt, der kann sy on alle schrifft berechnen, das kundten die schrifftgelerten nye, darumb das sy die warheit nitt von der warheit empfahen, sonder von den zeü­ gen der warheit steelen.“ Denck, Vom Gesetz Gottes, ed. Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  59,18–21. Den Schriftgelehrten eignet ‚altes Leben‘: „Sie haben das alte Leben nie verlassen, keyn newes nie aufgenumen, wie sich’s dann schrifftgelerten und phariseern wol gezimet.“ Denck, Ordnung Gottes, a.a.O., S.  89,30 f.; zu Franck vgl. Hegler, Geist, wie Anm.  2, S.  63 ff. 82   „Das Leiden Christi hat gnug gethan für aller menschen sünd, so schon keyn mensch nimmer selig würde, denn es mag sein niemand warnemmen, dann der den geyst Christi hat, der die außerwelten rüstet und waffnet mit sinnen und gedancken, wie Christus gewesen ist.“ Denck, Widerruf, a.a.O., S.  106,20–23.

6.  Medien, Orte und Gehalte radikalreformatorischen Lehrens

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6.  Medien, Orte und Gehalte radikalreformatorischen Lehrens Während die Volkssprache die dominierende Ausdrucksform für die Darlegung der doctrina bei den ‚Radikalen‘ bildete, wiesen die von ihnen benutzten Kommunikationsmittel eine gewisse Bandbreite auf: Neben den in Analogie zu großkirchlichen Usancen gestalteten Katechismen eines Balthasar Hubmaier83 finden sich Lieder84 und Flugblätter85, Traktate, gedruckte Predigten, Visionen, theatralisch-rituelle Praktiken und andere Sujets, mit deren Hilfe die Lehre kommuniziert und dargestellt wurde. Der Diversität der medialen Formen entsprach eine Entgrenzung der kommunikativen Orte: Während die kirchliche doctrina der magistralen Reformation seit den frühen Etablierungsphasen ihren ‚Sitz im Leben‘ im ‚öffentlichen‘ Kirchen-, Universitäts- und Schulraum und in der Sphäre des ‚ganzen Hauses‘ erhielt, indem sie diese Orte eroberte, regulierte und umgestaltete86, fand die Kommunikation der doctrina der ‚radikalen Reformation‘ potenziell an all jenen Orten statt, an denen Menschen überhaupt zusammenkamen: in Feld und Flur, in Kellern und auf Dachböden, in Privat- und in Wirtshäusern, in Mühlen, auf Marktplätzen und Landstraßen. Dass einige der frühen radikalreformatorischen Konzeptionen von doctrina einen besonders engen Zusammenhang zwischen Lehre und Lebenswelt ihrer Adressaten aufweisen, ist mithin als theologischer Reflex der sozio-kulturellen

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  Vgl. etwa: Die zwölf Artikel des christlichen Glaubens (1526/7), in: Westin/Bergsten, wie Anm.  76, S.  215–220; Ein einfältiger Unterricht (1526), a.a.O., S.  284–304; Eine christliche Lehrtafel (1526/7), a.a.O., S.  305–326; die Katechetik in der radikalen Reformation ist ausgeblendet bei: Robert James Bast, Honor your Fathers. Catechism and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany, 1400–1600 [SMRT 63], Leiden u. a. 1997; vgl. hingegen Denis Janz, Three Reformation Catechisms: Catholic, Anabaptist, Lutheran [Texts and Studies in Religion 13], New York 1982, S.  12–14; 17 ff.; 131–178 (Übersetzung des Nikolsburger Katechismus’ von 1526); zum statistischen Anteil radikalreformatorischer Katechismen an der Gesamtproduktion s. Andreas Ohlemacher, Lateinische Katechetik der frühen lutherischen Orthodoxie [FDKG 100], Göttingen 2010, S.  107– 109. 84   Vgl. etwa: Karl Edzard Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu den Anfängen des XVII. Jahrhunderts, Bd.  3, Leipzig 1870, ND Hildesheim 1990, Nr.  498 ff., S.  440 ff.; vgl. Rudolf Wolkan, Die Lieder der Widertäufer, Berlin 1903, ND Nieuwkoop 1965, S.  8 ff. (zu den ältesten Täuferliedern); instruktive Interpretationen täuferischen Liedguts mit matyriologischem Gehalt bietet Burschel, Sterben und Unsterblichkeit, wie Anm.  123, S.  117 ff. 85  Vgl. Zorzin, „Kreuzgang“, wie Anm.  51; zur Interpretation des Blattes s. auch Anselm Schubert, „Heiligung des Namens“. Zu den jüdischen Anfängen täuferischer Martyriumstheologie, in: MGB 67, 2010, S.  9 –23; s. unten Anm.  114; Abb.  1. 86   Zur Sphäre des ‚Hauses‘ vgl. etwa Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt/M. u. a. 1995; Daniel Hess (Hg.), Mit Milchbrei und Rute. Familie, Schule und Bildung in der Reformationszeit [Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum 8], Nürnberg 2005; Notker Hammerstein, Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert [EdG 64], München 2003; ders. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd.  1: 15. bis 17. Jahrhundert, München 1996; weitere Lit. in: Thomas Kaufmann, Théologie, université, societé. Quelques remarques sur le premier protestantisme du point de vue de l’histoire de l’Église, in: Christophe Duhamel/Philippe Büttgen (Hg.), Religion on confession. Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe–XVIIIe siècles), Paris 2010, S.  461–484.

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Bedingungen ihres Lehrens außerhalb der öffentlichen schulischen und kirchlichen Lern- und Lehrorte zu interpretieren. Im Falle Hubmaiers ist der reformatorische Ausgangspunkt seiner Konzeption von doctrina unverkennbar: Nicht die ‚Ungewissheit‘ einer fides aliena der Tauf­eltern oder der Paten – so wandte er gegen die Tauflehre der Reformatoren ein – sondern der eigene, der persönlich angeeignete und im Bekenntnisakt aktualisierte Glaube begründe das Heil und stifte die Kirche: „wann auff unsern eygnen glauben und verjehung [= Bekenntnis] wirdt bauen die kirchen, und nit wir auff der kirchen glauben.“87 Nicht die kirchliche Tradition, sondern die im Bekenntnis des glaubensmündigen Christen konkretisierte Aneignung begründe das Heil. Deshalb sei dem „wort, leer, brauch und exempel Christi und der apostelen“88 und dem Zeugnis des eigenen Gewissens zu folgen; nur wenn die Wahrheit wirklich angeeignet und ihr im Modus des Taufbekenntnisses entsprochen werde, könne der bisherige Zustand, dass „wir [.  .  .] papeyren christen und maul christen gewesen“89 seien, überwunden werden. Für Hubmaier war die äußerliche Zusammenkunft der Gemeinde „in der leer“90, zu Taufe und Abendmahl, ein unveräußerliches Merkmal ihres Wesens. Ein christliches Leben gründe in und beginne mit der „leer“91, denn Christus sei ein Lehrer, dessen grundlegende Botschaft laute: „Enderend oder besserend eurer leben und glaubend dem Evangelio.“92 Aus dem Verständnis des Evangeliums als ethischem Appell zur Nachfolge ergebe sich der Heilsweg des Leidens. In einem dialogisch gestalteten Katechismus Hubmaiers belehrten sich zwei Laien entsprechend: „Leon[hard]. Wölher ist der aller nechst weg, durch den man eingeet in das ewig Lebenn [?]. Hanns. Durch anngst, nott, leyden, truebseligkayt, vervolgung und tödtung von wegen des namen Christi Jesu, wölher hat selbs leyden müssen, unnd also einngeen in sein glori.“93 In deutlichem Unterschied zu Luthers Verständnis des Glaubens als einer seligmachenden Gabe implizierte das von Hubmaier und anderen ‚Radikalen‘ vertretene Konzept christlicher Freiheit den sittlichen Anspruch tätiger Nachfolge: „Welcher 87  Hubmaier, Der alten und gar neuen Lehrer Urteil, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  595,33–35. Dass Hubmaier in seinem publizistischen Agieren mit den Repräsentanten der magi­ stralen Reformation vergleichbar ist und einen Sonderfall im täuferischen Milieu darstellt, hat Alejandro Zorin überzeugend gezeigt: Die Verbreitung täuferischer Botschaft in den Anfangsjahren der „Schweizer Brüder“ (1524–1529). Täuferische Propaganda und reformatorische Publizistik – zwei unterschiedliche Kommunikationsstrategien, in: Mennonitica Helvetica 31, 2008, S.  11–26; zur Fundierung täuferischer Glaubensvorstellungen im „Gemeindeprinzip“ instruktiv: Elsa Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre [RGST 96], Münster 1967, S.  45 ff. 88  Hubmaier, Der alten und gar neuen Lehrer Urteil, in: Laube, a.a.O., S.  597,19 f. 89   A.a.O., S.  597,14 f. 90   Christliche Lehrtafel, in: Westin/Bergsten, wie Anm.  76, S.  315. 91   A.a.O., S.  307. 92   Summe eines ganzen christlichen Lebens (1525), a.a.O., S.  110. 93   Christliche Lehrtafel, Westin/Bergsten, wie Anm.  76, S.  325; vgl. 312. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der ‚Schule Gottes‘ vor allem bei den ‚Radikalen‘ vgl. Dieter Fauth, Lernen in der ‚Schule Gottes‘, dargestellt vor allem an Quellen von Martin Luther und dem Dissidentismus, in: Paedagogica Historica 30, 1994, S.  477–504.

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mensch seinen glaubenn bloß stehen lasst und denselben mit seinem gutten werken nit beklaidet, der selb verabwandelt die christlichen fryhait in ein fleischliche frey­ hait.“94 Christus gebiete, dass wir „nit fleisch Cristen sonnder Creutz Cristen“95 sein sollen. Dieses ‚synergistische‘ Glaubensverständnis markierte die soteriologische differentia specifica insbesondere gegenüber dem ‚sola gratia‘ bzw. dem ‚sola fide‘ der lutherischen Theologie und bildete das organisierende Zentrum radikalreformatorischer Lehrentwürfe. Für Hut und ihm nahestehende Autoren war der Weg des Leidens der in der Ordnung der Schöpfung grundgelegte Weg des Heils. Allein durch Leiden könne eine Kreatur „gebraucht oder zu einem bessern wesen gefürt werden.“96 Gemäß dem Hutschen „Evangelium aller Kreatur“97 erfolgte die als ‚Entgröberung‘98, d. h. als Überwindung der sündhaften Bindung an die kreatürliche Welt zu vollziehende Läuterung und Sublimierung des Menschen auf keinem anderen Weg als ‚sola passione‘.99 Der gekreuzigte Christus sei der Inbegriff des der Schöpfung innewohnenden Heilsprinzips der Erlösung durch Leiden. „Disen Christum predigen, leren alle creaturen.“100 Der universalen Geltung des Leidensprinzips entspreche die im Buch der Natur, also „in allen creaturen“ 101 ‚lesbare‘ Heilserkenntnis. So, wie Christus das Himmelreich und die Kraft des Vaters „alweg anzeigt hab in einer creatur durch gleichnus, durch hantwerk in allen wercken, damit die menschen umgon“102, so erschloss der Prediger Hut die Lehre des „Evangeliums aller Kreatur“ anhand der Lebenswelt seiner Adressaten. Wie ein Baum erst dadurch, dass er das Werk des Zimmermanns erleidet, abgehauen und beschlagen wird, für den Hausbau geeignet sei103, so müsse auch der Mensch, will er denn in das Haus Gottes kommen, „zufor der welt abghoven werden mit allen lussten.“104 Die imitatio Christi105 vollziehe sich als exi­ 94

  Rechenschaft, Westin/Bergsten, wie Anm.  76, S.  463.  Ebd. 96  Hut, Christliche Unterrichtung, in Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  691,15 f. 97  Grundlegend: Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut [QFRG 73], Gütersloh 2003, bes. S.  400 ff.; zu Hut vgl. auch James M. Stayer, Swiss-South German Anabaptism, 1526–1540, in: Roth/ders., Companion, wie Anm.  1, S.  83–117, hier: S.  85 ff.; HansJürgen Goertz, Art. Hut, H., in: MennLex 5, s. v. [Lit.]. 98  Vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  691,14.24: „Ja das geschicht dem menschen nit ain mal in seinem leben, sonder vil mal, das ist denn das urtayl dardurch der mensch entgrobet, behawen und beschnitten wird zum hawß gottes [wie ein Baum beim Hausbau, vgl. a.a.O., S.  691,14 ff.], von aller lust und lieb der welt, und aller creaturen.“ Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  693,29–32. 99   A.a.O., S.  691,16. 100  Hut, Anfang eines christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  175 [,12]. 101   A.a.O., S.  177[,9 f.]; Mk 16,15 in Verbindung im Kol 1,23. 102   A.a.O., S.  178[,2 f.]. 103  Vgl. Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  691,14 ff.; 693,31. 104  Hut, Anfang eines christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  184 [,1 f.]. 105   Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  693,26–28: „gleychförmig christo, gantz trostloß, da er am creütz hieng, und sprach, Mein Gott mein Gott etc. [Mt 27,46].“ 95

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stentielle Realisation des Inhalts des Glaubensbekenntnisses an und im einzelnen Menschen: „Es muß der mensch alle artickel erdulden, in im selber, soll er anderst kommen zum erkandtnuß des höchsten guts. Es muß das wort in im empfangen werden [.  .  .] und flaisch in im werden [.  .  .]. Es muß auch das wort von uns geboren werden [.  .  .].“106 Die kreatürliche Wirklichkeit sei das Buch, „unserr schrift“107, in der all das zu lesen sei, was auch das „geschribene buch“108, also die Bibel, enthalte. Lesbar sei diese Welt für jedermann, auch die Heiden109 ; dieser Zugang zur göttlichen Lehre befreie definitiv von der epistemologischen Macht der ‚Schriftgelehrten‘. Erhebliche Lehrnuancen zeigten sich bei den Radikalen der 1520er Jahren allerdings in Bezug auf die Frage, ob das Leiden des Menschen und aller Kreaturen um des Heils willen notwendig sei110 – so Hut –, ob es ein heilspädagogisches Mittel Gottes sei, um zur Umkehr zu reizen111 – so Haugk von Jüchsen –, oder ob Gottes biblisch kodifizierter Heilswille durch liebende Treue gekennzeichnet sei112, dem Leiden also 106

  Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  692,29–35.  Hut, Anfang eines christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  184 [,7 f.]. 108   A.a.O., S.  184[10]; Kasus vor mir geändert, Th. K. 109   A.a.O., S.  185; vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, wie Anm.  33, bes. S.  49; zu Francks Lehre einer Offenbarung bei den Heiden s. Hegler, Geist, wie Anm.  2, S.  198 ff. 110   „Aus solchen gleichnussen soll der mensch mit fleiß warnemen, wie all creatur des menschen werckh leidenn muß und also durch schmertzen zu irm end komen, darzu sy bschaffen seind, das ouch kein mensch zur seligheit anderst komen mag, dann durch leiden und truebsal, die Got an inen wurckt, wie auch die gantz schrift durch eitl creaturen beschriben.“ Hut, Anfang eines christlichen Lebens, in: Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  180[,14]-181[,3]. Franck, Chronica, wie Anm.  2, T. 3, S.  194v, spricht davon, dass einige Täufer „schier dem Leiden“ zuerkannten, „das die Papisten den wercken / christen der gnad und christo / also das etlich umbs leiden eiffern / das suchen / und dem nachgon.“ Damit dürfte wohl vor allem Huts Position gemeint sein. 111   „Darumb hat Gott unser untrew [.  .  .] umb der creatur willen, in allen lebendigen creaturen anzaigt, die weyl sich schier alle thyer mit list reyssen und würgen, nören, mösten, und werden unzimlich fayßt und glat, läßt im keins an verorteter speyß genügen, warten allein ihres bauchs. Daher fryßt der fuchs hüner, der wolff schaff, der habich tauben etc. Die tyrannen, bede gaystlich und weltlich, fressen mit irem wucher blut und flaysch, krafft und safft, mit aller arbayt der armen [.  .  .], nit das es recht sey, oder daz got den menschen feynd sey, oder ein wolgefallen daran hab [.  .  .].“ Hut, Christliche Ordnung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  669,39–670,6. 112   „Ist das nit ein grosse trew von dem hymlischen vatter, darumb seyt alle ermanet, höret das wort Christi Jesu und thund es nach seinem befelch, so ist alle unrainigkeit hinweg, von innen und von aussen, so will er uns nit tödten mit dem ewigen todt, wie wir die creatur tödten. Ach gott, wer will solcher trew verleugnen künden [.  .  .].“ Göttliche Offenbarung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  788,15–20. Die – ohne durchschlagende Gründe, s. oben Anm.  53 – [Dachser] zugeschriebene Göttliche Offenbarung ist möglicherweise als kritische Auseinanderung mit der Theologie Hans Huts zu interpretieren. Die Schrift spricht mehrfach zu (778,2) und über (778,6; 778,22; 779,40) sog. „urtayler“; überhaupt ist die Schrift mit dem Begriff „urtayl“ bzw. dem entsprechenden Verb (776,38; 778,2 ff.; 784,24 ff.; 788,23; 788,42; 789,40.43 f.; 791,30; 791,38.40) durchzogen. In der Mehrzahl der Belege geht es um die Warnung vor unrechtem Urteilen bzw. davor, Gott in sein Urteil zu greifen. Dieser Sprachgebrauch scheint mir in kritischer Weise auf die prominente Verwendung des Begrifs „Urteil“ bei Hans Hut, der eine systematische Gesamtschau der „Kunst Gottes“ (Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  688,9) in drei „urtaylen“ (688,9; vgl. 688,4; 688,39; 689,33; 690,2.8.11.17; 695,1.12) entwickelte, bezogen zu sein. Zu den ‚sieben Urteilen‘ bei Hut s. Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  97, S.  38; 54; 74; ders., Prozeß, wie Anm.  37, S.  237; bei Müntzer 107

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lediglich eine kontingente Bedeutung zukomme. Aus dem ethischen Impetus der Nachfolgechristologie ergab sich allerdings für viele ‚Radikale‘ eine deutliche Polemik gegen die sittliche Laxheiten begünstigende Sühnopfervorstellung; Christus habe in keiner anderen Weise für uns gelitten, als dass wir „inn sein fußstapffen [.  .  .] wandeln den weg, welchen er zuvor gebanet“113 habe, hieß es etwa bei Jakob Kautz. In begegnet der Begriff „urtail“ gelegentlich auch mit sinntragender Bedeutung, ed. Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  268,14–16 = ThMA 1, S.  326,7 f.; dies scheint auch für Tauler zu gelten, vgl. in der 13. Predigt (als Faksimile bei Hasse, Karlstadt und Tauler, wie Anm.  120, hier: S.  232 [31rb]; 237 [33va/b]; 238 [34rb]). Zum Kontext des Augsburger Täufertums im Jahre 1527, dem Erscheinungsdatum der Göttlichen Offenbarung, vgl. Zschoch, Reformatorische Existenz, wie Anm.  53, S.  218 ff.; grund­ legend: Schubert, Täufertum, wie Anm.  45, S.  44 ff. 113  Kautz, Sieben Artikel, zit. nach Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  703,16 f.; zu Kautz und seiner Rolle im Kontext der Wormser Täuferbewegung vgl. Sabine Todt, Kleruskritik, Frömmigkeit und Kommunikation in Worms im Mittelalter und in der Reformationszeit [Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 103], Stuttgart 2005, S.   297–320; Rothkegel, Täufer, wie Anm.  127, S.  51 ff.; vgl. Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  195; 169 f.; vgl. zur Kritik an der Sühnopfertheologie: Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  53,5 ff.; Fischer, wie Anm.  30, S.  30,22 ff. (Agricolas Referat der Müntzerschen Polemik gegen die Sühnopfervorstellung); auf Müntzers Absage an die Sühnetodvorstellung bezog sich auch die gegen ihn erhobene Kritik, er predige allein das Alte Testament und wolle alle zu Juden machen (Fischer, a.a.O., S.  83,19; 87,21 f.; vgl. 93,28 f.); die Stallbuben wüssten mehr von Christus als er, S.  88. Zu Müntzers Christologie grundlegend: Werner Packull, Thomas Müntzer: Le Christ mystique et militant, in: Blough, Jésus-Christ, s. u., S.  27–50. Zum Antitrinitarismus der frühen Reformationszeit vgl. Williams, Radical Reformation, wie Anm.  1, S.  461 ff.; vgl. WA 59, S.  82 f.; VD 16 L 3482; zum allgemeinen Hintergrund und zu den humanistischen Wurzeln spiritualistischer Christologien grundlegend: André Séguenny, Les Spirituels: Philosophie et religion chez les jeunes humanistes allemands au seizième siècle [BiDi, Scripta et Studia 8], Baden-Baden, Bouxwiller 2000; ders., Le Christ des spirituels allemands: autour de Hans Denck et de Sebastian Franck, in: Neal Blough u. a. (Hg.), Jésus-Christ aux marges de la Réforme [Jésus et Jésus-Christ 54], Paris 1992, S.  91–115; zur weiteren antitrinitarischen Entwicklung s. in demselben Band: Lech Szczucki, La christologie de antitrinitaires polono-lituaniens au XVIe siècle, S.  163–183; eine auf den Vergleich zwischen Bucer, Sattler und Denck fokussierte Darstellung bietet J. Denny Weaver, The Work of Christ: On the Difficulty of Identifying an Anabaptist Perspective, in: MQR 59, 1985, S.  107–129, bes. 112–114 (zu Denck); vgl. Rothkegel, Täufer, wie Anm.  127, bes. S.  68 f.; vgl. auch einzelne Christi vera divinitas abrogierende Hinweise aus den späteren 1520er Jahren in: Manfred Krebs, Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd.  4 : Baden und Pfalz [QFRG 22 / QGT 4], Gütersloh 1951, Nr.  376, S.  392,10 f. [ca. 1528: Christus sei nicht Gott sondern „allein ein prophet“]; a.a.O., Nr.  461, S.  456 [Rhegius’ Urteil über Hätzers Leugnung der Gottheit Christi; ähnlich Nr.  466, S.  459]; vgl. auch Nr.  463, S.  458 f. [Zitat aus Hätzers „Kreuzgang“, s. dazu Zorzin, wie Anm.  51]; Johannes Bünderlin, Ein gemeyne berechnung über der heyligen schrifft inhalt .  .  . [Straßburg, B. Beck] 1529; Ex. MF 1169 Nr.  2950; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  181 f., Nr.  419 (zu Bünderlin: Ulrich Gäbler, in: André Séguenny [Hg.], BiDi 3 [BB Aur 93], Baden-Baden 1982, S.  9 –42; DBETh 1, 2005, S.  202), O 1r/v (Christus ist ein Prophet wie Mose [vgl. O 4v–O 5r]; die Fülle der Gottheit ist in uns ebenso wie in Christus; dass wir Gott nicht so vollständig in uns empfinden wie er, liegt an der Sünde; man solle sich nicht auf die leibliche Person Christi und seinen Tod beziehen, sondern auf die Ursache seiner Sendung, Grund: Joh 6,63, O 2v); März 1527 (oder: so Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  97, S.  269: März 1528): TAE 1, Nr.  79, S.  79 f.; Gerhard Pfeiffer, Quellen zur Nürnberger Reformationsgeschichte [EAKGB 45], Neustadt / Aisch, 1968, S.  442 (aus der Abendmahlsschwärmerei und Taufhäresie habe sich die noch viel schrecklichere Irrung entwickelt, „das Cristus nur ein mensch und nit Got“ sei und „das er fur die sunde der menschen nit gnug gethan hab“); TAE 1, Nr.  81, S.  80 = WABr 4, Nr.  1083, S.  187; TAE 1, Nr.  110 f., S.  133 f. [Verhör des Trinitätsleugners Thomas ]; vgl. a.a.O., Nr.  113 f., S.  135 f.; TAE 1, Nr.  149, S.  183,21 ff.

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dem 1528/9 in Straßburg erschienenen illustrierten Flugblatt vom Kreuzgang Chri­ sti114 (Abb.  1) war die religiöse Akzentverlagerung vom Sühnetod am Kreuzesstamm auf die Leidensnachfolge auf dem Kreuzweg, die in das Geheimnis Gottes hineinführt, mit ikonographisch einzigartiger Prägnanz ins Bild gesetzt worden. Dem ‚Weg‘ des Leidens korrespondierte seine epistemologische Initiation: das duldende Widerfahrnis115 der Gotteserkenntnis, die sich als „eindruckung götlichs willens“116, als Überwältigung des in und aus sich heraus zum Reden unfähigen Menschen117, als Reinigung seines Herzens118, als „innerliche tödtung des fleysches“119 o. ä. beschreiben ließ. Die aus einschlägigen mystischen Traditionen120 gespeiste Anfechtungs-, (Bucer erwähnt Leute, die unter Huts Einfluss in Böhmen die divinitas Christi leugneten); TAE 1, Nr.  178, S.  233,15 ff. (März 1529: Klage der Straßburger Prediger über täuferische Leugnung der Gottheit Christi); TAE 1, Nr.  194, S.  247,211 (August 1529: Straßburger Ratsmandat u. a. gegen die Leugnung der Gottheit Christi). Ergiebige Hinweise auf den Verdacht der Verleugnung der Gottheit Christi, der Sühnopfervorstellung und entsprechend ausweichende Antworten in Täuferverhören in: Karl Schornbaum, Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer, Bd.  2 : Markgrafschaft Brandenburg (Bayern I) [QFRG 16], Leipzig 1934, S.  42,32 ff.; 51,26–36; 63,4 ff.; 65,39 f.; 71,12 ff.; 80,2 ff.; 82,30 f.; 83,31 f.; 84,14 ff.; 86,24 f.; 87,10 f.; 88,10; 89,6; 90,3; 90,27 f.32 f.; 91,33 ff.; 102,30 ff.; 111,4 f.; Bestreitung der Satisfaktionslehre in der Markgrafschaft: Karl Schornbaum, Bayern, Abt. 2: Reichsstädte [QFRG 23 / QGT 5], Gütersloh 1951, S.  259,32–260,1. Die Liste der entsprechenden Zeugnisse ließe sich mühelos verlängern; nicht zuletzt im Spiegel der Täuferverhöre kann als unstrittig gelten, dass die Bestreitung der Sühnopfervorstellung ein prägendes Merkmal devianter Glaubensüberzeugungen bildete und den frömmigkeitstheologischen Nukleus des zeitgenössischen Antitrinitarismus vor der dogmenkritisch und -historisch ansetzenden Position Servets darstellte. 114   S. dazu: Zorzin, Hätzers „Kreuzgang“, wie Anm.  51; Schubert, Täufertum, wie Anm.  45, S.  91 ff.; ders., Heiligung, wie Anm.  85. 115   „Es ist aber nit genug diß erkentnuß Gottes, ob ich schon wayß, das ich ein geschöpff Gottes bin, mit allen creaturen, die da sein, so fälen mir noch zway tayl göttlichs wesens, die mir auch offenbar müssen werden, durch die ernste gerechtigkait des gecreützigten sun Gottes, welche ich erdulden muß in mir [.  .  .].“ Hut, Christlicher Unterricht, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  688,21–26. 116   Haugk v. Jüchsen, Christliche Ordnung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  673, 6. 117   Besonders eindrücklich: Denck, Was geredt ist, in: Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  27,28 ff.: „Ich, Hans Dengk, bekenn mich frey vor allen gottßfirchtigen menschen, das ich meinen mund wider meinen willen aufthu / und ungern vor der welt von Gott rede [.  .  .].“ Vgl. a.a.O., S.  21,3 f.; 31,9 ff.; 32,14–21. 118   Vgl. etwa Hubmaier, Gespräch, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  610,16 f. 119   Etwa bei Karlstadt, Anzeyg etlicher Hauptartickel, in: Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  2, wie Anm.  30, S.  92,19. 120   Vgl. etwa: Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  1, wie Anm.  58, S.  15 f.; 7,28–31; 8,1 ff.; 15, 16 ff.; Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  23,7 ff.; 42,1 ff.; zum Erleiden des Wortes Gottes gegenüber dem „gedichteten glauben“ der weltweisen und wollüstigen Schriftgelehrten bei Müntzer vgl. nur Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  218,8 ff.; 218,23 ff.; 219,5 f.; 220,3 ff.; 227,6–8; 228,3 ff.; 234,3; 298,28 ff.; 300,14 ff.; 338,19 ff. = ThMA 1, S.  290,5 ff.; 290,19 ff.; 291,10 f.; 292,13 ff.; 270,22–271,2; 272,1 ff.; 279,6 f.; 355,29 ff.; 357,21 ff.; 393,22 ff.; vgl. Franck, Chronica, wie Anm.  2, T. 3, S.  188v. Den Zusammenhang von ‚Mystik‘ und Kirchenkritik Müntzers betont auch: Ute Gause, „auff daß der ernst des vatters die gottloßen christen aus dem wege raume“ – Müntzers mystische Kirchenkritik, in: Mariano Delgado/Gotthard Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd.  2 : Frühe Neuzeit [Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 3], Fribourg, Stuttgart 2005, S.  131–148. Zur Mystikrezeption Karlstadts grundlegend: Hans-Peter

6.  Medien, Orte und Gehalte radikalreformatorischen Lehrens

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Abb.  1  Illustriertes Flugblatt: Der Kreuzgang; Text: [Ludwig Hätzer]; Holzschnitt Hans Weiditz; [Straßburg, Johann Prüß d.J.] 1528/9, linke Seite, Holzschnitt; 15,7 x 21,6  cm; Kupferstichkabinett Berlin Inv. Nr.  299–10. Das Blatt visualisiert das ‚radikalreformatorische‘ Konzept einer Nachfolge des leidenden Jesus, die zum Heil führt. In der Bildmitte ist der ungegenständliche Gott mit dem Tetragramm und acht lateinischen und deutschen bzw. einem hebräischen Namen bezeichnet – das transzendente Heilsziel. Der Weg führt in einen mit Buchstabenmedaillons („Crux“) bezeichneten Kreuzweg, auf dem unterschiedliche Tötungsbzw. Martyriumsarten dargestellt sind. Äußere rituelle Vollzüge (Taufe unten links, Predigt unten rechts) bleiben außerhalb des Kreuzweges, wohl auch die waffentragenden Repräsentanten der weltlichen Obrigkeit. Die in zwei Spalten gesetzten Verse unterhalb des Bildes stammen von Ludwig Hätzer und sind möglicherweise als Zeugnis seines ‚Antitrinitarismus‘ zu interpretieren.

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§  12  Integrale Existenz

Widerfahrnis- und Überwältigungsrhetorik Karlstadts, Müntzers, Dencks u. a. repräsentierte – unbeschadet der ‚Authentizitätsproblematik‘ – ein spezifisches Konzept religiöser Autoritätsstiftung121, das die ‚Lehre‘ durch die leidvolle Unmittelbarkeit der Geisterfahrung fundierte und legitimierte. Es war dies ein Konzept spiritualistisch-pneumatologischer Theonomisierung der eigenen Erfahrung, das die Autonomisierung radikal-reformatorischer doctrina gegenüber den etablierten reformatorischen Schriftgelehrten und den Institutionen zeitgenössischer Lehrregulation begründete.

7.  Ethos und Kommunikation Aufgrund des Erfahrungszusammenhanges von ‚Lehre‘ und ‚Leben‘, wie er in der radikalen Reformation gefordert und eingelöst wurde, kam dem Handeln, der praxis pietatis, eo ipso eine Funktion der Bewahrheitung hinsichtlich der Lehre zu.122 Die Leidensgeduld, die „Leidsamkeit“, ja die „predig ihres bluts“123, die nach Sebastian Franck manche Zeitgenossen dazu veranlasste, die verfolgten Täufer für die einzigen Hasse, Karlstadt und Tauler [QFRG 58], Gütersloh 1993; ders., Tauler und Augustin als Quelle Karlstadts: am Beispiel von Karlstadts Marginalien zu Taulers Predigt zum Johannistag über Lk 1,5–23, in: Sigrid Looß/Markus Matthias (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486– 1541). Ein Theologe der frühen Reformation [Themata Leucoreanea], Wittenberg 1998, S.  247–282; Alejandro Zorzin, Gelassenheit gegen Sanftleben: die Umsetzung des neuen Glaubens in einen evangelischen Lebensstil bei Andreas Bodenstein von Karlstadt (1522–1527), in: Ulrich Bubenheimer/Stefan Oehmig (Hg.), Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, S.  229–250; zuletzt, unter systematisierender Profilierung des Gegensatzes zwischen Karlstadts und Luthers Umgang mit der mystischen Tradition im ‚Ringen‘ um das Staupitzsche Erbe, hat die Sache verhandelt: Volker Leppin, Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Christoph Bultmann/ders./ Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe [SMHR 39], Tübingen 2007, S.  153–169, vgl. ders., Die Wittenbergische Bulle. Andreas Karlstadts Kritik an Luther, in: Delgado/Fuchs, a.a.O., S.  117–129. Meines Erachtens wird man der ‚Mystik‘ bei Karlstadt weniger von der Rekonstruktion seines theologischen ‚Ansatzes‘ als von einer detaillierten Interpretation der spezifischen Argumentationskontexte und der jeweiligen ‚Funktion‘ der ‚Mystik‘ als Konzept theologischer Autoritätsstiftung her gerecht. In dem Band von Delgado/Fuchs scheint sich – ähnlich wie bei Hamm/Leppin, Gottes Nähe, wie Anm.  40 – ein Verständnis von Mystik abzuzeichnen, das unbeschadet der Hammschen Präzisierungen – vgl. zuletzt in: Religiosität, wie Anm.  135, S.  470 ff. – sehr allgemein ‚persönliche Frömmigkeit‘ meint. Ob der Begriff „Mystik“ allerdings dann noch einen historiographischen Sinn hat, scheint mir zweifelhaft zu sein. 121   Vgl. dazu unten III, §  15. 122   „Wer göttlicher leer recht und wol gedenckt / der kann nit still stehen / noch müssig oder treg sein / wenn jnen gottes reden zur tadt verpinden und treiben. Helt er still im falh / da er wircken kann und soll / so ist das eyn gewiß zeichen / das er vergessen ist / oder nicht ein solichs gedechtnuß hat / als er haben solt / nemelich auß gantzem hertzen.“ Karlstadt, Ob man gemach faren .  .  . soll, in: Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  1, wie Anm.  58, S.  84,19–24; vgl. 94 f.; 96,13 ff.; Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  106,20–31. 123  S. Franck, Chronica, wie Anm.  2, T. 3, S.  193r; zu Martyrien als „lebendigen Predigten“ s. Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit [Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 35], München 2004, S.  51 ff.

7.  Ethos und Kommunikation

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wahren Christen zu halten, stellte ein für die radikalreformatorischen Vorstellungen von wahrer Lehre notwendiges, ja unveräußerliches Moment dar. Der Weg des Leidens sprach ein letztgültiges Urteil über die Wahrheit der eigenen Lehre und die Verworfenheit der Welt.124 In den 1520er Jahren war der Anteil der Intellektuellen unter den Protagonisten der radikalreformatorischen und täuferischen Gruppen und Bewegungen erheblich größer als in den späteren Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts.125 Dies hat zu einer besonders produktiven Dichte an Formulierungen und Zusammenfassungen radikalreformatorischer vera doctrina geführt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich die Kommunikations- und Mediatisierungsbedingungen der Lehre bei den einzelnen Personen erheblich unterschieden. Während etwa Balthasar Hubmaier sehr bewusst den Weg einer publizistischen Verbreitung seiner Lehre ging und sich in Hinblick auf sein literarisches Rollenverständnis ebenso wenig von anderen Reformatoren in den Städten und Territorien unterschied126 wie er die politischen Obrigkeiten – zunächst den Waldshuter Rat, dann die Landesherrschaft von Nikolsburg127 – als maßgebliche Entscheidungsträger täuferisch geprägter Reformationsprozesse anerkannte, verzichteten andere ‚Radikale‘ darauf, eigene Schriften zu veröffentlichen oder leisteten nur einer Verbreitung solcher Texte durch Dritte Vorschub, die besonders anstößige Lehrinhalte aussparten, also einer gewissen ‚Arkandisziplin‘ Rechnung trugen. Dies gilt etwa für die Einzelheiten seiner Lehre der apokalyptischen Endzeitereignisse, die Hut nur seinen Vertrauten mitteilte128 und die nicht an eine größere Öffentlichkeit gelangen sollten. Der Öffentlichkeitsanspruch seiner Lehre war bei Hubmaier damit verbunden, dass er ihre Schriftgemäßheit erweisen und jedermann demonstrieren zu können 124   Vgl. auch die eindrücklichen Beobachtungen Burschels zu den täuferischen Märtyrerliedern insbes. des späteren 16. Jh., Sterben, wie Anm.  123, S.  133 ff.; 286–288. 125  Vgl. Anselm Schubert, Täufertum und Humanismus. Kurze Anmerkungen zu einer langen Forschungsgeschichte, in: MGB 64, 2007, S.  7–26; zu Ulrich Hugwald, der bereits 1521/2 in Basel Thesen zur Glaubenstaufe vertreten haben soll, vgl. Ludwig Keller, Die Reformation und die älteren Reformparteien, Leipzig 1885, S.  374; 381; Otto Clemen, Beiträge zur Reformationsgeschichte 2, 1902, S.  51 ff.; MBW 12, S.  335 f. [Lit.]; s. oben II, §  7, Abschnitt 12.–15. 126   Konzeptionelle Überlegungen zur Gruppe der Reformatoren in genere in: Thomas Kaufmann, Reformatoren [Kleine Reihe V&R 4004], Göttingen 1998, S.  6 –39, zu den radikalen Reformatoren a.a.O., S.  27–29; vgl. die Sammlung von Biogrammen in: Hans-Jürgen Goertz, Radikale Reformatoren, München 1978; engl. Übers.: Profiles of Radical Reformers 1982. 127  Vgl. zur Nikolsburger Reformation: Jarold K. Zeman, The Anabaptists and the Czech Brethern in Moravia 1525–1628, The Hague / Paris 1969, S.  122 ff.; Martin Rothkegel, Täufer, Spiritualist, Antitrinitarier – und Nikodemit. Jakob Kautz als Schulmeister in Mähren, in: MGB 57, 2000, S.  51–88, hier bes. 62 f.; ders., Die Nikolsburger Reformation 1526–1535: Vom Humanismus zum Sabbatarismus, Diss. theol. Prag 2001, Selbstanzeige in: MGB 59, 2002, S.  181–186; ders., Anbaptism in Moravia and Silesia, in Roth/Stayer, Companion, wie Anm.  1, S.  163–215; vgl. auch die oben Anm.  54 genannte Literatur zu Hubmaier; zu Cochläus’ Polemik gegen Kautz s. Christoph Dittrich, Die vortridentinische katholische Kontroverstheologie und die Täufer [EHS. R. 3, 473], Frankfurt/M. u. a., S.  13 ff. 128   Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  97, S.  317 f.; 47–49.

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§  12  Integrale Existenz

meinte; er zielte also darauf ab, die Allgemeinheit zu überzeugen.129 Für dezidiert als ‚Winkelprediger‘ agierende ‚Radikale‘ wie Hut war hingegen in der Tradition Müntzers130 die Schrift ohne das machtvolle Zeugnis des Geistes bzw. des verbum internum unzureichend. Die klandestine Glaubenspropaganda gegenüber der exklusiven Gruppe des ‚heiligen Restes‘ der Auserwählten, den es ‚jetzt‘, unmittelbar vor dem Ende, zu sammeln und durch die apokalyptische Versiegelungstaufe auszuzeichnen galt, schloss einen breiteren Öffentlichkeitsanspruch und eine entsprechende kommunikative Praxis der ‚Lehre‘ geradezu aus. Einen anderen, geradezu paradoxen ‚Fall‘ repräsentiert Denck; er ging bewusst als Publizist in die Öffentlichkeit, denn Gott habe ihn „auß dem winckel getzogen“; 131 doch die Erwartung, breitere Kreise zu gewinnen, hegte er offenkundig nicht. Denn allein das unverfügbare Wirken des Geistes könne die Erkenntnis des Heils eröffnen. Seit 1526/7, parallel mit der äußeren Verfolgung, wurde die Tendenz unverkennbar, dass sich die radikalreformatorische Publizistik zur Milieuliteratur entwickelte, die vornehmlich auf die engen Beziehungsnetze der eigenen Gruppe ausgerichtet war. Die in Bezug auf radikalreformatorische Publizistik besonders prekäre Überlieferungslage dürfte bestätigen, dass die Druckvolumina der ‚Szeneliteratur‘ häufig unterhalb der gängigen Auflagenhöhen rangierten.

8.  Geistbelehrter Glaube Die Lehrinhalte täuferischer bzw. radikalreformatorischer Autoren der 1520er Jahre sind nicht auf einen einfachen ‚Nenner‘ zu bringen; dies empfand schon Sebastian Franck, im Unterschied etwa zur dezidiert ‚parteilichen‘ Sicht Melanchthons. Für diesen war die „gantze lere der wiederteuffer“ durch „irthumb und blindheit“132 be129   „In meiner leer soll die heylig gschrifft mein richter sein, in weltlicher handlung ein yedliche christennliche obrigkait [.  .  .].“ Hubmaier, Gespräch auf Zwinglis Taufbüchlein, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  608,1 f. 130   Vgl. ed. Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  235,15 ff.; 277,25 ff.; 493,22 ff.; 498,27 ff. = ThMA 1, S.  280,25 ff.; 335,22 ff.; 416,26 ff.; 421,22 ff.; vgl. auch bei Hans Denck, ed. Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  68,7 ff.; 106,1 ff.5 ff.; zu Huts Schriftlehre s. Seebaß, Müntzers Erbe, wie Anm.  97, S.  412 ff.; zur ‚Winkelpredigt‘ Müntzers s. auch LuStA 3, S.  94,19; 95,3. 131   „Will man rechenschafft vom glauben geben denen, so es begeren, so sagen sy, man wölle zwytracht und aufrur im volck machen. Lasset man böse wort für oren geen, so sagen sy, man scheuke das liecht. Wolan, Gott hat mich auß dem winckel getzogen, soll es yemandt zu gutem kommen, das waißt er allein.“ Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  28,5–9. Franck stellt den Gegensatz zwischen Biblizisten und Spiritualisten unter den Täufern folgendermaßen dar: „Den glauben achten etlich / mög man auß keinem buch studieren / noch in keiner predig lernen / sunder kumme on mittel von dem innerlichen waren lebendigen wort gottes [.  .  .]. [.  .  .]. Und seind hart wider die / die da leren / der glaub kumme vom eüssern wort gottes.“ Chronica, wie Anm.  2, T. 3, S.  199 v. 132  Melanchthon, Verlegung etlicher unchristlicher Artikel (1536), in: MSA 1, hier: S.  301,4 f.; zu Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Täufertum vgl. Scheible, Melanchthon, wie Anm.  9, S.  83 ff.; weitere Literaturhinweise in: Wilhelm Hammer, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, Bd.  4 [QFRG 65], Gütersloh 1996, S.  342 (s. v. Täufer); zur Abwehr des Aufruhr-

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stimmt und hatte in der aufrührerischen Verwerfung der weltlichen Obrigkeit ihren Dreh- und Angelpunkt. In den meisten Publikationen radikaler Autoren ist freilich das Bemühen erkennbar, distinkte Lehrformulierungen, konfessorische Summarien, knappe Zusammenfassungen ihrer Doktrinen zu bieten. Die allgemein verbreitete Praxis, die doctrina in Artikeln darzustellen, erfreute sich auch in ihren Kreisen großer Beliebtheit. Eine Orientierung am Apostolikum bzw. den ‚12 Artikeln‘ war nicht unüblich133 ; die apostolische Abkunft dieser elementaren Lehrzusammenfassung war ja unstrittig. Christus habe gelehrt bzw. gepredigt; ihm nachzufolgen bedeute, seiner Lehre gemäß zu lehren bzw. zu predigen und zu unterrichten.134 Selbst wenn der Zusammenhang zwischen ‚Lehre‘ und ‚Leben‘ von den ‚Radikalen‘ betont wurde, war auch ihnen selbstverständlich, dass der christliche Glaube der lehrmäßigen Explikation bedürfe, um lebendig angeeignet zu werden. Auch die ‚Radikalen‘ hatten insofern an dem zeittypischen Hang zu zuspitzend-komprimierenden Formulierungen135 ihres Glaubensverständnisses teil. Hut etwa beschrieb das durch Leiden zu erreichende Heilsziel folgendermaßen: „Do werden ausgeroth und zerprochen alle (begir) und lust [.  .  .]. Also wirt der welt joch aller sunden abgeworffen, das die welt nit mehr (in uns) regiert, sonder christus.“136 Für Haugk von Jüchsen korrespondierten die negative Totalbestimmung des „gantz“ von Gott abgekehrten Sünders137 und die radikale Neubestimmung des ‚allein‘ und ‚völlig‘ Christus Nachfolgenden. Uneindeutigkeiten, dissimulierendes Abwägen, differenzierendes Räsonvorwurfs bei Franck s. Chronica, wie Anm.  2, T. 3, S.  198r. Dieser Intention entspricht es, dass Franck die Geschichte des ‚Münsteraner Täuferreichs‘ nicht im Rahmen der Chronik der römischen Ketzer (T. 3), sondern innerhalb der Chronica der Keyser und weltlichen historien (Teil  2, wie Anm.  2, S.  291rff.) zur Darstellung gebracht hat. Zu Francks Darstellung der Täufer in seiner Chronik s. auch Zorzin, Täufertum, wie Anm.  2. 133  Vgl. bei Hut, Christliche Unterrichtung, in: Laube, Flugschrifen, Bd.   1, wie Anm.   53, S.  690,19 ff.; die ‚drei urteile‘ (a.a.O., S.  688,9; s. oben Anm.  112) werden in einem trinitarischen (688,10) Aufriss in Bezug auf die Eigenschaften des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes (688,12 ff.; 690,21 ff.) entfaltet. Hubmaiers ‚Lehrtafel‘ bzw. Katechismus (Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  608,38) expliziert unter anderem das Apostolikum (Lehrtafel, in: Westin/Bergsten, wie Anm.  76, S.  313; vgl. 216 ff.; 307; 308; 461; 462 ff.), aber auch Vater-Unser (a.a.O., 312) und 10 Gebote (311). 134   ‚Lehre‘ im Sinne von Predigt etwa bei Hubmaier: Der Lehrer Urtail, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  598,3; Unterricht: 598,5.13; auf die Aufnahme der Lehre folgt das Bekenntnis, schließlich die Taufe, 598,66 ff.; s. auch 612; 613,30; Lehre in Artikeln darstellbar: z. B. Westin/ Bergsten, wie Anm.  76, S.  309; 310; 313; 315; Hut, Christliche Unterrichtung, Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  687,34; 690,19.24; 692,29 f.; Lehre / Predigt: 689,42; 695,24; Christus als Lehrer: Göttliche Offenbarung, Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  772,28.30; 776,26; 776,42. 135   Berndt Hamm, Von der spätmitttelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, S.  7–82, hier bes.: 36 ff. (zu den „sola“-Formulierungen); vgl. auch die beiden ersten Kapitel in: Berndt Hamm, Religiosität im späten Mittelalter, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon [SMHR 54], Tübingen 2011. 136   Fast/Rothkegel/Seebaß, wie Anm.  67, S.  198[,1–3]. 137   „Wenn der mensch also sein gantz leben studiert und erforschet hat, so findt er nichts denn ungehorsam und abkören von gott und sieht das er gantz kainen glauben und vertrawens zu got hat [.  .  .].“ Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  681,26–28. „Christo Jesu änlich werden und

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nement trat zugunsten assertorischer Setzungen zurück: „Gottes leer, die uns durch christum jesum seinem lieben sun fürgetragen“138, galt als ebenso unstrittig wie die Berufung auf den Geist, „der alleyn [.  .  .] in aller menschen hertzen redet und zeuget“139. Des Willens Gottes eindeutig inne zu werden140, seiner „Ordnung“ zum Recht zu verhelfen141, den „prediger in unserm hertzen“142, den Geist, gewiss zu vernehmen, die „gantz summ“143 der Bibel oder die „hauptstuck christlicher leer“144 zu erheben – all diese Formulierungen verdeutlichen, dass auch die ‚Radikalen‘ für ihre Lehren eine normative Eindeutigkeit in Anspruch nahmen, keinen Widerspruch duldeten und gegenüber einer von Normenkollisionen, Pluralitäten und ‚gradualistischen‘ Komplexitäten145 bewegten Zeit eine assertorische Festigkeit inszenierten, wie sie auch für andere ‚Evangelische‘ typisch war. Dass die radikalreformatorischen Lehrkonzeptionen in der Berufung auf den Heiligen Geist als Quelle und Prinzip schlechthinniger „eynigkeyt“146 eine wesentliche Gemeinsamkeit aufwiesen, dürfte als Symptom der in diesen Milieus dramatisch gesteigerten Legitimations- und Integrationsbedürfnisse zu interpretieren sein. Denn nur durch die denkbar konsequenteste Steigerung des eigenen Wahrheitsanspruchs und seiner Letztbegründung in Gott, d. h. in seinem Geist, ließ sich die Dissonanz zwischen der Partikularität der eigenen Position im pluralen Stimmengewirr des religiösen Diskurses der 1520er Jahre und der Absolutheit ihres Geltungs- und Wahrheitsanspruchs rhetorisch und ideologisch überbrücken. In dem Maße aber, in dem die Radikalen den ‚menschlichen Faktor‘ bei der Formung und Gestaltung der Lehre konzeptionell in den Hintergrund rückten und die Bildungsbedingungen und Bibelkenntnisse, die theologische Argumentationskunst, all das also, was lern- und lehrbar war in der Religion, gegenüber dem Widerfahrnis gleych gesindt sein, ist die gotseligkeit. Da ruwet alles und ist der recht sabath den gott von uns erfordert, den die gantze welt widerstrebet.“ A.a.O., S.  692,16–18. 138  Kautz, Sieben Artickel, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  703,3. 139   A.a.O., S.  704,1. 140   Z. B. Sattler, Wie die Schrift verstanden werden soll, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  723; 725 ff.; vgl. die Strategie Dencks im Umgang mit einander vermeintlich widerstreitenden Bibelstellen, Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  68 ff. 141   Vgl. nur: Haugk v. Jüchsen, Christliche Ordnung, in: Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  667 ff.; vgl. Göttliche Offenbarung, a.a.O., S.  776,19 ff.; Franz, Müntzer, wie Anm.  17, S.  491,12; 23,22. 142   Laube, Flugschriften, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  787,39 f. 143  [Hätzer], Kreuzgang, wie Anm.  51, Z.  11 f. 144   Hertzsch, Karlstadts Schriften, Teil  2, wie Anm.  30, S.  68,21; ähnlich bei Denck, ed. Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  82,20. 145  Vgl. Berndt Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders./Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien, Göttingen 1995, S.  57–127, bes. 67 ff. 146   „Solche eynigkeyt mochte nit weder ermessen, gedacht, betracht noch erkant werden, denn alleyn von und durch das Eyne, auch etwa in seinem widerspil.“ Denck-Hätzer, Vorrede zur Ausgabe der Theologia deutsch (1528), ed. Fellmann, Denck, wie Anm.  56, S.  110,27 f.; vgl. zu dieser Vorrede auch: J. F. Gerhard Goeters, Ludwig Hätzer (ca. 1500 bis 1529). Spiritualist und Antitrinitarier [QFRG 25], Gütersloh 1957, S.  125 ff.

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des Geistes und der prophetisch-visionären Legitimation an Bedeutung verlor, wurden die Lehre und ihre personellen Träger selbst charismatisiert und ‚sakralisiert‘. Wer nicht versteht, so konstatierten Hätzer und Denck, „dem mangelt deß geysts zeugniß“147. Die soziale Exklusivierung der Lehre der Radikalen, die mit ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung einherging, fand in einer Sakralisierung der doctrina ihren Ausdruck. Es war der Triumph eines heiligen Wissens, das allein der Heilige Geist schenkte. Je disparater und bedrohlicher die Welterfahrung – so möchte man in Bezug auf die radikalreformatorischen Theologien der späteren 1520er Jahre zuspitzen – desto heiliger und eindeutiger die Lehre und ihr Grund: solo spiritu!

147   Fellmann, Denck, wie Anm.  56, Bd.  2, S.  113,20 f. Dass die spiritualistische Neubestimmung des Verhältnisses von Schrift und frommem Subjekt keine fundamentale Abwertung der Schrift, sondern paradoxerweise eine spezifische Restituierung ihrer Bedeutung mit sich brachte, hat JanDirk Müller in Bezug auf Franck betont: „Die Verdammung der Schrift als Wahrheitsinstanz ermöglicht ineins ihre Rettung als subjektiv verbürgtes Zeugnis.“ Müller, Buchstabe, wie Anm.  5, S.  673; vgl. auch Hegler, Geist, wie Anm.  2, bes. S.  223 ff.

§  13  Ekklesiologische Revolution: Das Priestertum der Glaubenden in der frühreformatorischen Publizistik – Wittenberger und Basler Beispiele 1.  Der Laie in der frühreformatorischen Publizistik Dass den Laien in der Reformationszeit zunächst in theologisch-konzeptioneller, sodann in politischer und praktischer Hinsicht eine Schlüsselrolle zukam, kann als Gemeinplatz der reformationsgeschichtlichen Forschung gelten.1 Die Reformation stellte auch in dieser Hinsicht nicht einfach einen radikalen Neueinsatz dar, sondern knüpfte an komplexe frömmigkeits-2, bildungs-3 und sozialgeschichtliche Transformationsprozesse an bzw. machte sich die politischen Dynamiken des Auf- und Ausbaus stadt- und landesherrlicher Kirchenregimente4 und des damit verbundenen 1

  Vgl. etwa Wolfgang Rochler, Martin Luther und die Reformation als Laienbewegung [In­ stitut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge Nr.  75], Wiesbaden 1981, S.  26 ff., der das Problem vor allem im Horizont der Herausforderung durch das marxistische Konzept der Volksreformation entfaltete und im Wesentlichen von Luther ausging; allgemein: Wolf-Dieter Hauschild, Art. Laien II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  18–21, hier: 19 f.; weitere Literatur s. u. 2   Vgl. etwa: Klaus Schreiner (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter [Schriften des Historischen Kollegs 10], München 1992; in vieler Hinsicht anregend sind die Arbeiten von Berndt Hamm, besonders in seinem Sammelband: The Reformation of Faith in the Context of Late Medi­ eval Theology and Piety [SHCT 110], Leiden, Boston 2004; und in: Ders., Religiosität im späten Mittelalter, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon [SMHR 54], Tübingen 2011; in­ struktiv zu inspirierten Laien: André Vauchez, Gottes vergessenes Volk: Laien im Mittelalter, Freiburg/B. 1993, bes. S.  195 ff. 3   Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: ZHF 11, 1984, S.  257–354; Martin Kintziger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003, bes. S.  185 ff.; bes. am Beispiel weiblicher Lese- als Gebetspraxis: Gabriela Signori, Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005, S.  147 ff.; noch immer anregend: Ludger Grenzmann/ Karl Stackmann (Hg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit [Germanistische Symposien, Berichtsbände V], Stuttgart 1989. 4   Vgl. exemplarisch: Manfred Schulze, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation [SuR N. R. 2], Tübingen 1991; Christoph Volkmar, Reform statt Reformation: Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, 1488–1525 [SMHR 41], Tübingen 2008; Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, S.  73 ff.; Bernd Moeller, Kleriker als Bürger, in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S.  35–52. 284–294; Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung [VSWG Beih.

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Einflussgewinns laikaler Handlungsträger zunutze; auch dies dürfte unstrittig sein. Keine eindeutige Klarheit hingegen besteht hinsichtlich der Frage der theologiegeschichtlichen Verbindungen zwischen dem reformatorischen „Priestertum aller Gläubigen“ und der spätmittelalterlichen Theologie.5 Doch nicht dieser Frage soll hier nachgegangen werden; vielmehr geht es im Folgenden darum, ob und inwiefern 177], Wiesbaden 2005, bes. S.  157 f.; 582 ff.; Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550, Wien, Köln, Weimar 2012, S.  624 ff.; Hartmut Boockmann, Bürgerkirchen im späteren Mittelalter, in: Ders., Wege ins Mittelalter, hg. v. Dieter Neitzert, Uwe Israel und Ernst Schubert, München 2000, S.  186–204; ders., Die Stadt im späten Mittelalter, München 31994, S.  191 ff. 5   Anhand eines Taulerzitates, das die ‚Priesterlichkeit‘ des homo interior begründet, hat Volker Leppin die Verbundenheit zwischen mystischen Traditionen und dem reformatorischen Konzept des Priestertums aller Gläubigen behauptet, vgl.: Eine neue Luther-Debatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, in: ARG 99, 2008, S.  297–307, hier: 306 Anm.  37; ders., Streit um Luther? Gerne, in: Luther 97, 2008, S.  49–55, hier: 50 f.; ders., Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten [SSAW.PH 140/4], Stuttgart 2008, S.  33. Zu meinen Einwänden vgl. Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen 12], Mühlhausen 2010, S.  109 f. Anm.  357. In dem zitierten Beitrag stelle ich Überlegungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen ‚waldensischem‘ und radikalreformatorischem Laienprophetismus an. Weiterführend in Bezug auf den Fragenkomplex ‚Reformation und Mystik‘ erscheint mir der Ansatz, nicht primär nach dem Einfluss Taulers auf Luthers Denken zu fragen, sondern dem nachzugehen, inwiefern von Seiten der Rezipienten aus dem Laienstand die Aufnahme reformatorischer Inhalte durch die mystische Literatur begünstigt worden ist, d. h. einen „intellektuellen und religiösen Erziehungseffekt“ ausgelöst hat, „durch den vor allem der Laie jene geistige Mündigkeit erlangte, die ihn befähigte, das reformatorische Angebot frei zu akzeptieren“, Georg Steer, Die Stellung des ‚Laien‘ im Schrifttum des Straßburger Gottesfreundes Rulman Merswin und der deutschen Do­ minikanermystiker des 14. Jahrhunderts, in: Grenzmann/Stackmann, Literatur, wie Anm.  3, S.  653–658, hier: 643. Insbesondere der Umstand, dass Eckhart und Tauler in ihren Predigten „den Menschen nicht in seiner ständischen Bestimmtheit“ anredeten, „sondern als christen menschen“ (a.a.O., S.  652), und sich gelehrtem Wissen gegenüber distanziert äußerten, dürfte in diesem Zusammenhang von Interesse sein. Dass vielleicht Verbindungslinien zwischen Luther und den Ekklesiologien Biels und Ockhams, die die Kirche als „congregatio fidelium, welche Priester und Laien umfaßt“ (Heiko A. Oberman, Spätscholastik und Reformation. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Bd.  1, Zürich 1965, S.  389), verstanden, zu ziehen wären, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Zu Recht hat Leppin auf Ähnlichkeiten zwischen Eckharts Bemühungen um Laienbildung und Ockhams Kritik an einem Klerikalismus, der den simplices die intellektuelle Beschäftigung mit dem Glaubenswissen versagte, hingewiesen: Volker Leppin, Wilhelm von Ockham, Darmstadt 2003, S.  170. Auch in Bezug auf ikonographische Beispiele wie die Gestalt des die Messe zele­ brierenden Bauern in Josef Grünpecks Speculum naturalis coelestis et propheticae visionis (Nürnberg, Georg Stuchs 1508, VD 16 G 3641; Köhler Bibl., Bd.  1, S.  600 f., Nr.  1412; deutsche Ausgaben [1522], S.  610 f.; Nr.  1413 f.; Abbildung in: Franz-Heinrich Beyer, Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit [Mikrokosmos 39], Frankfurt/M. 1994, S.  272, vgl. 38 f., 222 f.), an der die mutatio status christianae republicae illustriert wird, drängt sich der Eindruck einer höchst pluralen Stimmungslage hinsichtlich des Verhältnisses von Klerus und Laien unmittelbar vor der Reformation auf. Die einschlägigste mir bekannte Parallele zu reformatorischen Formulierungen des Allgemeinen Priestertums findet sich beim sogennanten „Oberrheinischen Revolutionär“: „Das mag ein yeder frummer eeman tun, das ampt der mesß offenlich lesen, wan ein yeder christenmendsch ist gecrismet mit dem touff und in der firm, und die firmung dut dar, wie sie ein sig gob vom heiligen geist und bewiset ein standfestigkeit.“ Klaus H. Lauterbach (Hg.), Der Oberrheinische Revolutionär. Das buch-

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§  13  Ekklesiologische Revolution

einige der am frühreformatorischen Diskurs führend beteiligten Theologen in Bezug auf die Bewertung der Laien übereinstimmten, die Konzeption des „Priestertums aller Gläubigen“ mithin einen theologisch kohärenten Sachverhalt darstellte und hinsichtlich der Erwartungen und Forderungen gegenüber den Laien relativ einheitliche Vorstellungen bestanden. Die sicher anfechtbare Auswahl der Textbeispiele beschränkt sich auf die Jahre 1520/1 und Texte des Wittenberger Reformatorenkreises einerseits, einige wohl von Geistlichen verfasste anonyme Flugschriften aus der Basler Offizin Adam Petris andererseits. Sie wurden ausgewählt, weil die Verbindungen zwischen Basel und Wittenberg in den Jahren zwischen 1518/9 und 1521 besonders intensiv und stabil waren6, Basel als Druckort lateinischer und deutscher Schriften und Texte Luthers und Karlstadts eine herausragende Rolle spielte und das personelle und infrastrukturelle Geflecht aus reformwilligen humanistischen Gelehrten7 im Umkreis des Erasmus, Handwerkerkünstlern und gelehrten Druckern in der oberrheinischen Universitätsstadt dichter und im ganzen persistenter gewesen sein dürfte als in vielen anderen Orten im Reich – vielleicht außer Wittenberg. Unter den Basler Druckereien, die sich in den Dienst reformatorischer Propaganda stellten, spielte die Petris eine herausragende Rolle. Von den ca. 65 Drucken Karl-

li der hundert capiteln mit XXXX statuten [MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters 7], Hannover 2009, S.  282, 14–18; zum ‚Oberrheiner‘ s. oben I, §  5, Abschnitt 2. 6   Basel spielte in der Korrespondenz Luthers und Melanchthons eine wichtige Rolle. Christoph Scheurl lancierte Luther betreffende Informationen nach Basel (WABr 1, S.  275, 118); die Basler Druckproduktion war Luther früh ein Begriff (WA 1, S.  148,16). Der wichtigste Korrespondenzpartner in Basel war zunächst Capito (seit ca. Jan. 1518, WABr 1, S.  147,4). Durch Froben wurde Luther die internationale Verbreitung seiner frühen Schriften bekannt gemacht (WABr 1, Nr.  146, 14.  2. 1519, S.  331–335; s. oben II, §  8, Anhang). Luther suchte von sich aus zu Basler Druckern Kontakt (WABr 2, S.  56,10 f. [Cratander]; WABr 2, S.  266,15 [Petri]). Die differenziertesten Informationen aus Basel erhielt er seit Eröffnung ihrer Korrespondenz dann durch Pellikan (WABr 2, Nr.  266, S.  64–70, 16.  3. 1520). Auch die sonstigen ihm zugehenden Äußerungen mussten den Eindruck verstärken, dass Basel ein Vorposten seiner Theologie war (vgl. WABr 2, S.  91, 163 f.). Parallelkorrespondenzen mit den Wittenbergern Luther und Melanchthon führte außer Capito und Pellikan auch Hedio (vgl. WABr 2, S.  129, 23 f. [Brief an Melanchthon verloren]); vgl. im Ganzen WABr 15, S.  25 f. Von Melanchthons Korrespondenz mit Baslern haben sich seit Frühjahr 1519 nur einzelne Stücke erhalten (MBW.T 1, Nr.  57 [Capito an Melanchthon, 17.  5. 1519]). Zu keiner anderen Universitäts- und Druckstadt im Süden unterhielten die Wittenberger so intensive Kontakte wie nach Basel; s. a. auch unten Anm.  91. 7   Instruktive Übersichten bietet: Kaspar von Greyerz, Reformation, Humanismus und offene Konfessionspolitik, in: Georg Kreis/Beat von Wartburg (Hg.), Basel – Geschichte einer städtischen Gesellschaft, Basel 2000, S.  80–109; ders., Basel zur Holbein-Zeit, in: Hans Holbein d. J. Die Jahre in Basel 1515–1532. Mit Beiträgen von Christian Müller, Stephan Kemperdick u. a., München, Berlin, London, New York 2006, S.  72–78; zum Basler Druckwesen siehe: Johann Froben und der Basler Buchdruck des 16. Jahrhunderts. Ausstellung im Gewerbemuseum Basel, Basel 1960; Eugen A. Meier u. a., Andreas Cratander. Ein Basler Drucker und Verleger der Reformationszeit, Basel 1966; Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing [Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51], Wiesbaden 2007, S.  61 ff.

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stadts und Luthers, die zwischen 1517/8 und 1521 in der Rheinmetropole produziert wurden8, kamen etwa zwei Drittel, nämlich 45, in der Offizin des aus Franken stam8   Für die folgenden zwischen 1517/8 und 1521 wahrscheinlich in Wittenberger Urdrucken erschienenen Schriften sind Basler Nachdrucke nachweisbar: Karlstadt: Contra D. Joannem Echium Apologeticae conclusiones [P. Gengenbach, Aug./Sept. 1518]; Zorzin (= Alejandro Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor [GTA 48], Göttingen 1990 [im Folgenden: Zorzin]) Nr.  7a; VD 16 B 6135; dass. in: Ad Leonem X. Pontificem (sog. 1. Luther-Sammelausgabe mit Text Karlstadts [Joh. Froben, Okt. 1518]); VD 16, B 6134; Benzing/Claus, Nr.  3 ; Zorzin Nr.  7b; (vgl. Thomas Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist der frühen Wittenberger Theologie. Zur Verfasserfrage einer anonymen Vorrede zu Thesen Karlstadts in der ersten Sammelausgabe von Schriften Luthers [Okt. 1518], in: ZKG 103, 1992, S.  81–86; zum Kontext auch: Leif Grane, Martinus Noster. Luther in the German Reformation Movement 1518–1521 [VIEG 155], Mainz 1994, S.  45 ff.); dass. in: Contra D. Joannem Eccium .  .  . Apologeticae propositiones [A. Cratander, März 1520]; VD 16 L 3410; Zorzin Nr.  7c; dass. in: Prima pars operum .  .  . Lutheri, A. Petri, Juli 1520; VD 16 L 3411; Zorzin Nr.  7d; Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit [A. Petri, Aug. 1521]; VD 16 B 6241; Zorzin Nr.  24 G; Welche Bücher biblisch sind [A. Petri], 1521; VD 16 B 6260; Zorzin Nr.  27 B; Super coelibatu, monachatu et viduitate [A. Cratander], 1521; VD 16 B 6123; Zorzin Nr.  32 B; sog. 2. Sammlung Wittenberger Thesen [A. Petri, Sept. 1521]; VD 16 C 2306; Benzing/Claus, Nr.  819; Zorzin Nr. [36]; [anonym] Contra papisticas leges [A. Petri], 1521; VD 16 B 6100; Zorzin Nr. (43) C. Mit Karlstadts den Abendmahlsstreit auslösender Publikationsphase vom Okt./Nov. 1524 (vgl. Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  180 ff.; Amy Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy, Oxford 2011, S.  91 ff.) waren die Basler Offizinen Johannes Bebels und Thomas Wolffs verbunden, bei denen der Wittenberger Dissident nun erstmals publizierte (vgl. zum Kontext: Alejandro Zorzin, Karlstadts „Dialogus vom Tauff der Kinder“ in einem anonymen Druck aus dem Jahr 1527, in: ARG 79, 1988, S.  27–57). Neben Straßburg (10) und Augsburg (10) war Basel (10) vor Wien (8) und Leipzig (8) zwischen 1518 und 1521 der wichtigste Ort Karlstadtscher Nachdrucke. 1522 brachte [A. Petri] eine zweite Sammlung mit Wittenberger Thesen Karlstadts, Luthers und Melanchthons heraus, Benzing/Claus, Nr.  59; Zorzin Nr. [51] A; WA 1, S.  639 C, führte also die von Jan Severz [Leiden] inaugurierte Publikationspraxis der Sammelausgaben der akademischen Schriften der Wittenberger Schule fort. Bei Luther handelt es sich um folgende Drucke: a) Sammelausgaben: Ad Leonem X. [Joh. Froben, Okt. 1518]; Benzing/Claus, Nr.  3 ; WA 60, S.  607 f.; Prima Pars Operum [A. Cratander, Mai 1520]; Benzing/Claus, Nr.  6 ; WA 60, S.  609 f.; Martini Luthers.  .  . mancherley büchlin [A. Cratander, Mai 1520]; Benzing/Claus, Nr.  7; WA 60, S.  611 f.; Locubrationum Pars una [A. Cratander, Juli 1520]; Benzing/Claus, Nr.  9 ; Ettlich Sermones .  .  . Lutheri.  .  . [A. Petri], Aug. 1521; Benzing/Claus, Nr.  28; b) Einzelschriften: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (95 Thesen) [A. Petri] 1517; Benzing/Claus, Nr.  89; Ein Sermon von Ablaß und Gnade [P. Gengenbach], 1518; Benzing/ Claus, Nr.  101 und Nr.  102; A. Petri, 1519, Benzing/Claus, Nr.  107; Eine kurze Erklärung der 10 Gebote [A. Petri, 1520]; Benzing/Claus, Nr.  117; Epistolium ad .  .  . Egranum, P. Gengenbach, Aug. 1518; Benzing/Claus, Nr.  126; Sermo de poenitentia [P. Gegenbach, 1518]; Benzing/Claus, Nr.  132; Sermo de digna praeparatione [dt.], A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  153 u. 154; Decem praecepta [dt.], A. Petri, 1520; Benzing/Claus, Nr.  197 u. 198; Acta Augustana [Joh. Froben 1518]; Benzing/ Claus, Nr.  239; Appellatio ad Concilium [Joh. Froben, 1518]; Benzing/Claus, Nr.  246; Sermo de triplici iustitia [A. Cratander, 1519]; Benzing/Claus, Nr.  256; Auslegung deutsch des Vaterunsers, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  271; Eine kurze Unterweisung, wie man beichten soll, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  287; Unterricht auf etliche Artikel, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  300; Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  317; Disputatio .  .  . Eccii et .  .  . Lutheri [A. Cratander, 1519]; Benzing/Claus, Nr.  349; Ein Sermon von dem ehelichen Stand, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  369; Resolutio Lutheriana [Joh. Froben, 1519]; Benzing/Claus, Nr.  393; Ein Sermon gepredigt zu Leipzig, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  404;

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§  13  Ekklesiologische Revolution

menden Neffen des hiesigen Frühdruckers Johannes Petri heraus.9 Adam Petri war also der Marktführer in Bezug auf die von Basel aus betriebene Verbreitung der Wittenberger Theologie.10 Bei den uns hier besonders interessierenden anonymen Schriften, die ursprünglich aus seiner Presse hervorgegangen sind11 – Von dem In epistolam .  .  . ad Galatas, [A. Petri] 1520; Benzing/Claus, Nr.  419; Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, A. Petri, 1520; Benzing/Claus, Nr.  451; Operationes in Psalmos, A. Petri, März 1521; A. Petri 1521; A. Petri, 1522; Benzing/Claus, Nr.  517, 518, 519; Eine kurze Form das Paternoster zu verstehen, A. Petri, 1519; Benzing/Claus, Nr.  543; (Grosser) Sermon von dem Wucher, A. Petri, 1520; Benzing/Claus, Nr.  567 u. 568; Ein Sermon von dem Bann, A. Petri, 1520; Benzing/Claus, Nr.  579; Tessaradecas consolatoria [A. Petri, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  596; Confitendi ratio [Val. Curio, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  621; Von den guten Werken, A. Petri, 1520; Benzing/Claus, Nr.  639; Von dem Papsttum zu Rom [A. Petri, 1520]; Benzing/Claus, Nr.  662; Ein Sermon von dem Neuen Testament, A. Petri, 1520; Benzing – Claus, Nr.  678; An den christlichen Adel [A. Petri, 1520]; Benzing/ Claus, Nr.  690; [A. Petri, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  694; Erbieten [A. Petri, 1520]; Benzing/ Claus, Nr.  702; De captivitate Babylonica [A. Petri, 1520]; Benzing/Claus, Nr.  708; Von den Eckischen Bullen [A. Petri, 1520]; Benzing/Claus, Nr.  723; Adversus .  .  . Antichristi bullam [A. Petri] 1520; Benzing/Claus, Nr.  726; Von der Freiheit eines Christenmenschen, A. Petri, 1521; Benzing/ Claus, Nr.  746; Epistola ad Leonem Decimum [A. Petri], 1521; Benzing/Claus, Nr.  759 u. 761; Assertio omnium articulorum [A. Petri] März 1521; Benzing/Claus, Nr.  781 u. 782; Eine kurze Form der 10 Gebote [Val. Curio, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  810; Quaestio circularis de signis gratiae [A. Petri] Sept. 1521; Benzing/Claus, Nr.  819; Ein Unterricht der Beichtkinder [A. Petri] 1521; Benzing/ Claus, Nr.  838; Enarrationes epistolarum et evangeliorum, quas Postillas vocant, A. Petri, 1521; Benzing/Claus, Nr.  850; Das Magnificat, A. Petri [1521]; Benzing/Claus, Nr.  860; [Val. Curio, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  861; Ad librum .  .  . Ambrosii Catharini [A. Petri] Juli [1521]; Benzing/Claus, Nr.  882; Verhandlungen .  .  . auf dem Reichstag zu Worms [A. Petri, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  923; [P. Gengenbach] 1521; Benzing/Claus, Nr.  936; Evangelium von den 10 Aussätzigen [A. Petri, 1521]; Benzing/Claus, Nr.  987. 9   Knappe biografische Informationen bietet: Reske, Buchdrucker, wie Anm.  7, S.  65 f.; zur Familie Petri vgl. Karl Cullmann, Familiengeschichte der Petri 1391–1913, Nürnberg 1913; Frank Hieronymus, 1488 Petri – Schwabe 1988: eine traditionsreiche Basler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke, 2 Hlbbde. Basel 1997, einschlägig vor allem Bd.  1. 10   Hieronymus, 1488, wie Anm.  9, geht von einem Produktionsvolumen der Petrischen Offizin von ca. 300 Drucken aus. Auch über den entsprechenden Registerband des VD 16 lässt sich ein gewisser Überblick über die zwischen 1507 und 1527 liegende Produktion gewinnen. Adam Petris Witwe heiratete übrigens 1530 den Hebraisten Sebastian Münster (vgl. Karl-Heinz Burmeister, Sebastian Münster. Versuch eines biographischen Gesamtbildes [Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 91], Basel, Stuttgart 21969, S.  62), was später in Bezug auf dessen Haltung gegenüber der Drucklegung der Biblianderschen Koran-Ausgabe durch den Basler Konkurrenten Johannes Oporin von Bedeutung wurde, vgl. dazu nur: Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 22013, S.  108 f., Anm.  110 f. [Lit.]; Hartmut Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation [Beiruter Texte und Studien 42], Beirut 1995, S.  208; s. oben I, §  4. Das Lied Von dem Luther (wie Anm.  11; Ex. BSB München Res. Asc. 3203/Beibd. 13) spiegelt eine Perspektive, die Luther und Karlstadt gemeinsam als ‚Vorkämpfer‘ des antirömischen Kampfes beurteilt: „Hapt eynigkeyt [sc. die Fürsten und Herren des Reichs] / und sind bereyt / daß mit begerd / gehalten werd ein Concilium meren. Wie Luther und der Bodenstein / täglichen darnach schreyen / und sunst mench Lerer groß und klein / die yn ouch wonend beye / das der groß geyt / wird ußgerût [.  .  .].“ [A 4v]. 11   Folgende anonyme Schriften reformatorischen Gehaltes werden der Petrischen Offizin der Jahre 1520/1 zugeschrieben: 1.  Sendbrief an Pfarrer von Hohensynnen Doktor Martin Luthers Lehre betreffend [1520]; VD 16 E 143; zur Frage der Zuschreibung an Eberlin von Günzburg: Christian Peters, Johann Eberlin von

1.  Der Laie in der frühreformatorischen Publizistik

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Pfründmarkt der Curtisanen, Das Wolffgesang und Vom alten und nüen [neuen] Gott, Glauben und Ler – wird man damit zu rechnen haben, dass sie in einem spezifischen Verhältnis zum ‚Wittenbergischen‘ Profil der Druckproduktion Petris standen und dass der ‚Schutz‘ der Anonymität12 auch dazu dienen sollte, unverblümter zu reden, forcierter zu agitieren und unmissverständlicher gegen die ‚Feinde des Evangeliums‘ Partei zu ergreifen. Die anonyme Reformationspublizistik, die im Jahre 1521 ihren quantitativen Höhepunkt erreichte13 und hinter der in aller Regel gelehrte Verfasser gestanden haben dürften, ist für den reformatorischen Diskussionszusammenhang nicht zuletzt deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie gleichsam literarisch imaginierte, was bald darauf auch von nicht-gelehrten Akteuren ‚ins Werk gesetzt‘ und ‚praktiziert‘ wurde, nämlich neuartige Kommunikationsbeziehungen zwischen ‚Laien‘ und reformatorisch gesinnten Geistlichen, Schriftauslegungen gewitzter oder inspirierter Bauern, die Infragestellung klerikaler Autorität im Namen eines gemeinchristlichen Egalitarismus14 oder die modellhafte Vergemeinschaftung all der ‚christlichen Bundes­ genossen‘15, die sich durch Luthers epochalen Appell An den christlichen Adel zur Verbesserung des ‚christlichen Standes‘ berufen fühlten. In der Vielstimmigkeit der zumeist fingierten laikalen ‚Autorschaft‘ volkssprachlicher Texte, die sich in der frühreformatorischen Flugschriftenliteratur wahrnehmen lässt, vollzieht sich eine ‚Entgrenzung‘ der traditionell segregierten, im Humanismus zumeist konservierten16 Günzburg ca. 1465–1533 [QFRG 60], Gütersloh 1994, S.  29, bibliografisch: 372 Nr.  1; s. unten Anm.  94 f. (zur Fraglichkeit der These eines Petrischen Urdrucks). 2.  Von dem Luther ein neu Lied [1521]; VD 16 V 2510. 3.  Litaneia Germanorum [1521]; VD 16 L 2061. 4.  Das Wolffsgesang [1521]; VD 16 N 320 (s. dazu unten Anm.  98 und Abb.  5). 5.  Vom alten und nüen Gott, 1521; VD 16 N 307 (s. dazu unten Anm.  99 und Abb.  6). 6.  Von dem pfründtmarkt der Curtisanen, 1521; VD 16 M 5120 (s. dazu unten Anm.  102 und Abb.  7). 7.  Zwei Drucke des Karsthans, VD 16 K 131 f. 8.  Ein neuw lyed gemacht von dem Bapst Leo und den eidgenossen [1521]; VD 16 N 1225. 12   Vgl. zur anonymen Flugschriftenliteratur oben II, §  10; aus der älteren Literatur sei verwiesen auf: August Baur, Deutschland in den Jahren 1517–1525. Betrachtet im Lichte gleichzeitiger anonymer und pseudonymer Volks- und Flugschriften, Ulm 1872. Eine mustergültige kontextuelle Analyse anonymer Spottgedichte aus dem Kontext der frühen Zwickauer Reformation hat Siegfried Bräuer vorgelegt: Die Zwickauer Spottgedichte von 1521, in: Ders., Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation, hg. v. Hans-Jürgen Goertz und Eike Wolgast, Leipzig 2000, S.  9 –58; zu Zwickau zuletzt: Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  5. 13   S. oben II, §  10. 14   Vgl. zu meinem Versuch, bestimmte Aktions- und Inszenierungsformen der reformatorischen Bewegung aus der Prävalenz und Priorität ‚fiktionaler‘ Texte heraus zu verstehen: Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Berlin 22010, S.  320 ff. 15   Zu Eberlins Flugschriftenzyklus vgl. Peters, Eberlin, wie Anm.  11, S.  33 ff.; s. oben II, §  10, Anm.  151 ff. 16   Vgl. etwa: Eckhard Bernstein, Humanistische Standeskultur, in: Werner Röcke – Marina Münkler (Hg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit [Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1] [dtv 4343], München, Wien 2004, S.  97–129, bes. 100 ff.; ders., Humanistische Intelligenz und kirchliche Reformen, a.a.O., S.  166–197, bes. 185 ff.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

Sprach- und Lebenswelten der literati und der illiterati, der docti und der indocti.17 Die bildungs- und wissensgeschichtliche Evolution „[v]on der Priester- zur Laienkultur“18 wurde nicht zuletzt dadurch befördert, dass auch literarisch agile Geistliche maßgeblich daran beteiligt waren, die traditionelle Wertungshierarchie von Klerus und Laien in Frage zu stellen und durch alternative Konzepte des Miteinanders zu ersetzen. Für den frühreformatorischen Diskurs über die Laien blieb einerseits die seit der Spätantike geläufige Bezeichnung des Nicht-Klerikers ebenso wie des Ungelehrten als „Laie“ bzw. „laicus“ bestimmend, wurde andererseits aber die traditionell negative Konnotation des Begriffs im Sinne des Rohen, Ungeschlachten, ja Barbarischen transformiert. Für einen Autor wie Karlstadt etwa war an der communio sub una der Laien anstößig, dass ihr die Vorstellung einer klerikalen Suprematie zugrunde lag, nach der der Papst „und seine Pfaffen / hoher geacht werden / dan leyhen“19. Und auch Luther attackierte die kultisch und sakralrechtlich fundamentierte Trennung der Christenheit, die dazu geführt habe, „das pfaffen, münich, leyen unterander feynder worden seyn, dan Turcken und Christenn“20. Die Folge dieser segregationalistischen Ideologie bestehe nicht nur in der permanenten Zwietracht zwischen „pfaffen unternander, münich unternander“21, sondern sie führe „auch zur verstörung Christlicher lieb und eynickeit, hanget eyn yglicher an seyner secten mit vorachtung der andern, dan die leyen achten sie [sc. die Priester] ßam [= als ob] sie nit Christen weren: der yamer kompt aus den gesetzen.“22 Der laikale Priesterhass23 korrespondierte nach Luther mit einer kirchenrechtlich legitimierten klerikalen Repression der Laien, die zu überwinden einen entscheidenden Grundantrieb der frühreformatorischen Theologen darstellte. 17

  Zur älteren Tradition vgl. Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: AKuG 40, 1958, S.  1–65. 18   Hans-Jürgen Goertz, Von der Kleriker- zur Laienkultur, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln, Weimar, Wien 2004, S.  39–64, hier: 44 (wiederabgedruckt in: Ders., Radikalität der Reformation [FKDG 93], Göttingen 2007, S.  238–266, hier: 243); zu spätmittelalterlichen Dynamiken im Verhältnis von Priestern und Laien vgl. exemplarisch: Christoph Burger, Direkte Zuwendung zu den ‚Laien‘ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Berndt Hamm/Thomas Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis [SuR N. R. 15], Tübingen 2001, S.  85–109. 19   Andreas Bodenstein von Karlstadt, Von beiten gestaldten der heiligen Messze, Wittenberg, Nickel Schirlentz 1521; VD 16 B 6219; Zorzin Nr.  41 A; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  199, Nr.  1936; Ex. MF 131 Nr.  353, D 4r. 20   Sermon von dem Neuen Testament (1520), WA 6, S.  354,11 f. 21   WA 6, S.  354,12 f. 22   WA 6, S.  354,14–17. 23  Vgl. Thomas A. Brady, „You hate us Priests“. Anticlericalism, Communalism and the Control of Women of Strasbourg in the Age of the Reformation, in: Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe [SMRT 51], Leiden u. a. 1993, S.  167–208; vgl. dazu meine Rezension in: GGA 247, 1995, S.  112–130; vgl. zur Sache auch: HansJürgen Goertz, Antiklerikalismus und Reformation, Göttingen 1995; ders., Radikalität, wie Anm.  18.

2.  Luthers Theologie des Laien

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2.  Luthers Theologie des Laien In seinen publizistisch wirksam gewordenen Schriften war Luther seit Herbst 1517 immer wieder einmal auf die Laien zu sprechen gekommen. In den 95 Thesen24 hatte er eine Reihe von scharfsinnigen Fragen der Laien (argutis questionibus laicorum) 25 ‚referiert‘, die die geistliche Glaubwürdigkeit des Ablasswesens und des dafür letztlich verantwortlichen Papstes grundsätzlich problematisierten. Auch wenn Einwände wie die, warum der Papst nicht um der Liebe willen alle, sondern nur um des Geldes willen wenige aus dem Fegefeuer befreie26 oder warum weiterhin Seelenmessen gelesen würden, wenn die Verstorbenen doch durch den Ablass umgehend zum Heil gelangen könnten27, möglicherweise von Luther als einem jener Theologen, denen es schwer werde, den Laien den Ablass zu erklären28, formuliert und ‚konstruiert‘ wurden und sich keinem unmittelbaren Austausch mit dem zum Pfaffenhass aufgestachelten ‚gemeinen Mann‘ verdankten29, so bezeugten sie doch, dass der Wittenberger Augustinermönch dem Urteilsvermögen der Laien vom Beginn seines ‚reformatorischen Wirkens‘ an theoretisch eine entscheidende Bedeutung zuerkannte. Von römischer Seite wurde in diesen laikalen Einwänden eine gravierende Infragestellung der papalen Gewalt gesehen.30 24   Zum Kontext zuletzt verschiedene Beiträge in: Joachim Ott/Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion [Schriften der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9], Leipzig 2008; s. oben II, §  6. 25   WA 1, S.  237,20 f.; vgl. 238,9. Die Thesen 82–89 haben demnach als Referat laikaler Einwände gegen die Ablasspraxis zu gelten, von denen Luther voraussetzt, dass es für gelehrte Männer (doctis viris, WA 1, S.  237,20) schwer werde, ihnen gegenüber des Papstes Ehre und Würde zu verteidigen; vgl. auch WA 1, S.  313,1 f. 16 ff. 26   WA 1, S.  237,22–26. 27   WA 1, S.  237,26–28. 28   Vgl. WA 1, S.  234,23 f.; 235,18 f. „Difficillimum est etiam doctissimis Theologis simul extollere veniarum largitatem et contritionis veritatem coram populo.“ WA 1, S.  235,14 f. 29   „Qui autem me [sc. Luther] iudicat, dominus est, licet nihil mihi conscius sim, Et ideo istas positiones omnes coegit me ponere, quod viderem alios falsis opinionibus infici, alios per tabernas ridere et sanctum sacerdotium Ecclesiae manifesto ludibrio habere, occasione tam effusae licentiae praedicandarum veniarum. Non erat vulgus laicorum ampliore occasione in odia sacerdotum excitandum, quod iam a multis annis propter avaritiam et pessimos mores nobis offensum [.  .  .] honorat sacerdotium.“ Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, Conc. 81, WA 1, S.  625,28–35. 30  Vgl. etwa Prierias’ Dialogus de potestate papae, in: Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 1. Teil [CCath 41], Münster 1988, S.  100 ff.; vgl. WA 1, S.  684,10–12; 685,32 f.; 686,18 f. In der Auseinandersetzung mit Cajetan bestritt Luther die kanoni­ stische These, dass das Priestertum Christi auf den Papst übertragen worden sei (WA 2, S.  19,3 ff.; vgl. Charles Morerod [Hg.], Cajetan et Luther en 1518. Edition, traduction et commentaire des opuscules d’Augsbourg de Cajetan, 2 Bde., Fribourg 1994, Bd.  1, S.  68 f.; 114 ff.; Bd.  2, S.  530 ff.) und bereitete damit die Auffassung vor, dass die Apostel „leyen und schlecht ungelerdt leutt [.  .  .] der schrifft unkundig“ (WA 10 I, S.  272,5 f. [1522]) gewesen seien; vgl. WA 16, S.  96,20: Petrus, „der Leie und arme Fischer“; ähnlich WA 41, S.  254,28. Durch Christi Verheißung: „Wer euch hört, hört mich“ (Lk 10,16) seien „die lieben fischer und ungelerten leyen herrlich zu Doctores gekronet, ja zu Priestern odder Bischoven geweihet [.  .  .].“ WA 28, S.  170,26 f. Der Nukleus dieser theologischen Entwicklung dürfte in Luthers Widerspruch gegen eine exklusiv petrinische Auslegung von Mt 16,13 ff.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

Im Fortgang seiner theologischen Klärungen wurde das Christsein von Luther als eine Wirklichkeit verstanden, die nicht nur die sozialen, ethnischen und biologischen Differenzen überbot und relativierte, sondern auch die Trennung zwischen Mönchen und Weltpriestern, Klerikern und Laien aufhob.31 In der Kontroverse mit Eck schließlich äußerte Luther die Überzeugung, dass einem einfachen, d. h. ungelehrten Laien, der die Schrift anführte, mehr zu glauben sei als einem Papst oder einem Konzil, die dies nicht täten.32 Damit war die für das Christsein als solches konstitutive Bindung an die Schrift gegen die sakralhierarchische Unterscheidung der Chri­ stenheit in zwei „genera“33, die Kleriker und die Laien, zur Geltung gebracht. Unterschiedliche und hierarchisch aufeinander bezogene „genera“ von Christen gab es für Luther, der in dieser Hinsicht mit einer über 1000-jährigen Tradition der lateinischen Kirche brach, nicht mehr. Seine erstmals im Herbst 1519 erhobene Forderung, „das man allen menschen beyder gestalt gebe, wie den priestern“34, formulierte die aus der Einsicht, dass es nur ein ‚genus‘ von Christen gebe, resultierende Konsequenz in Bezug auf die rituelle Gestaltung des Altarsakraments.35 Einen prinzipiellen sittlichen Vorrang der klerikalen oder monastischen gegenüber einer laikalen Lebensweise hat Luther schon im Jahr vor seiner Verurteilung durch die Papstkirche bestritten.36 zu sehen sein. Prierias setzte er entgegen, dass „etiam in laicis spiritus Christi“ (WA 2, S.  189,27 f.) sei. 31   „Igitur Christianus verus [.  .  .] nec est liber neque servus, neque Iudeus neque Gentilis, neque masculus neque femina, neque clericus neque laicus, neque religiosus neque secularis [.  .  .], sed ad omnia prorsus indifferens est [.  .  .].“ WA 2, S.  479,1–4 (In epistolam .  .  . ad Galatas [1519]). 32   „Quod plus sit credendum simplici laico scripturam alleganti quam Papae vel concilio scripturam non alleganti.“ WA 2, S.  649,2 f. Ähnlich formulierte Luther in der Leipziger Disputation (vgl. dazu oben I, §  2, Abschnitt 3.; Anselm Schubert, Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105, 2008, S.  411–442): „meliorem esse posse unam orationem dominicam laici quam omnes horas canonicas unius sacerdotis.“ WA 59, S.  558,3936 f.; vgl. WA 47, S.  412,4. Laien können wie Geistliche auch „organa“ des Heiligen Geistes sein, WA 5, S.  261,5. 33   „Duo sunt genera Christianorum. Est autem genus unum, quod mancipatum divino offitio, et deditum contemplationi et orationi [.  .  .], ut sunt clerici [.  .  .]. Hi namque sunt reges, id est se et alios regentes in virtutibus, et ita in Deo regnum habent. [.  .  .] Aliud vero est genus Christianorum, ut sunt laici. [.  .  .] His concessum est uxorem ducere, terram colere [.  .  .], oblationes super altaria ponere, decimas reddere, et ita salvare poterunt, si vicia tamen benefaciendo evitaverint.“ Decretum Gratiani, Secunda pars, C. XII, q. I c. 7, in: Aemilius Friedberg (Hg.), Corpus iuris canonici, pars I, Leipzig 1878, ND Graz 1955, S.  678. 34   Sermon von dem hochwirdigen Sacrament des heyligen waren leychnams Christi, WA 2, S.  742,25 f. 35   Im Unterschied zu Luther (WA 2, S.  742,26 ff.; WA 6, S.  374,20 ff.; WA 6, S.  145,6 ff.) vertrat Karlstadt seit November 1521 die These, dass es für die Laien heilsnotwendig sei, sub utraque zu kommunizieren. Er begründete diese von Luther zurückgewiesene These (WA 10/3, S.  40,20 ff. = LuStA 2, S.  547,26 ff.) damit, dass jedem der beiden Elemente bestimmte Zusagen und Heilswirkungen – dem Wein die Vergebung der Sünden, dem Brot die Auferstehung des Fleisches – zugewiesen würden, vgl. Karlstadt, Von beiten gestaldten der heyligen Messze, wie Anm.  19, E 3r/v; vgl. Thomas Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität in der frühen Reformation, in: Martin Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität [Questiones disputatae 221], Freiburg/B., Basel, Wien 2007, S.  194–210, hier: 202 f. 36  Vgl. seine Äußerung im Kontext der Wittenberger Franziskanerdisputation (4.  10. 1519):

2.  Luthers Theologie des Laien

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In den mentalen Prägungen des Wittenberger Bettelmönchs war ein Aspekt der Kritik an den Kirchenfürsten tief verwurzelt, der dann insbesondere in der Adelsschrift eine Rolle spielen sollte; er bestand darin, dass er den Klerikern, die eigentlich zur sittlichen Vorbildlichkeit verpflichtet seien, vorwarf, dass sie den fürstlichen Laien in Hinblick auf weltliche Pracht- und Machtentfaltung nachgeeifert hätten.37 Doch weil es bei Gott kein Ansehen der Person gäbe, seien der Papst und ein einfacher Laie, der Kaiser und ein Bettler vor ihm gleichwertig.38 Denn nicht der Priester oder der Laie als solcher, sondern jeder, sofern er glaube, werde gerettet.39 Die religiöse Egalisierung der ständischen Differenz zwischen Klerus und Laien gründete für Luther in der rechtfertigungstheologischen Exklusivierung des Gottesverhältnisses im Glauben; sie war in der theologischen Entwicklung des Wittenbergers seit dem Beginn des Ablassstreites angelegt.40 „Laici quidem in suis laboribus ad prolis et suam necessitatem levandam sub praeceptis viventes perfectiores sunt nobis religiosis hanc necessitudinem non habentibus.“ WA 59, S.  685,32–34. Bei Luther beschränkte sich diese größere ‚perfectio‘ der Laien aber auf einen bestimmten Aspekt, während für Karlstadt charakteristisch werden sollte, dass er den Laien per se eine größere Vollkommenheit als den Geistlichen zuzuerkennen bereit war. 37   „Utinam ecclesiastici magnates, quos harum rerum exempla maxime praestare oportet laicis principibus, saltem laicorum exempla imitarentur; scilicet adeo infeliciter cessit opulentia et potentatus ecclesiae!“ Operationes in Psalmos, WA 5, S.  20,23–25 = AWA 2, S.  7, 7–9. 38   „In hoc enim nomine non differunt papa et laicus, imperator et mendicus, hostis et amicus, sapiens et indoctus, sanctus et peccator, sanus et egrotus, vivus et mortuus. Idem dominus omnium et aequaliter omnia sunt illius.“ WA 5, S.  279,13–16 = AWA 2, S.  497,14–17. 39   „Non sacerdos, non monachus, non monialis, non laicus, non denique ullus homo iustus aut sanctus esse potest. Sed fidelis sacerdos, fidelis monachus, fidelis monialis, fidelis laicus, fidelis denique quisque fuerit iustus est et salvus erit.“ WA 6, S.  380,16–19 (Conclusiones XVI de fide et ceremoniis). 40   Als weiteren Beleg für das „Allgemeine Priestertum der Glaubenden“ ist unter den Druckschriften im Anschluss an Bernd Moeller (Klerus und Antiklerikalismus in Luthers Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘ von 1520, zuletzt in: Ders., Luther-Rezeption, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S.  108–120, hier: 117 Anm.  72) und Bernhard Lohse (Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S.  308 ff.) zu verweisen auf den Sermon vom Neuen Testament (hier: WA 6, S.  370,16 ff.) vom Frühjahr 1520 (s. auch Anm.  51); vgl. in der Auslegung deutsch vom Frühjahr 1519: WA 2, S.  118,3. Sodann klingt das Konzept in zwei Briefen (18.  12. 1519 an Spalatin, WABr 1, Nr.  231, S.  595,28 ff. [unter Anführung der in der Adelsschrift, WA 6, S.  407,22 ff., angegebenen Schriftzeugnisse 1 Petr 2,9 und Apk 5,10]; 27.  4. 1520 an Heß, WABr 2, Nr.  280, S.  86,10–12 [Aufhebung der Differenz von Priester und Laien in Bezug auf den Gebrauch der Messe; vgl. WA 6, S.  525,12 = Lu­StA 2, S.  206,14; WA 6, S.  566,26 f. = LuStA 2, S.  252,6 f.; WA 6, S.  563,10 ff. = LuStA 2, S.  248,21 ff.) an. Allerdings wird man schon in Bezug auf Luthers gegenüber Eck erhobener Forderung, die Universitäten in Erfurt und Paris sollten in toto urteilen, nicht nur die Theologen und die Kanonisten (vgl. den Disputationskontrakt in: Felician Geß [Hg.], Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd.  1, Leipzig 1905, ND Köln, Wien 1985, Nr.  123, S.  91 f., hier: 91,37–92,3 = WABr 1, Nr.  187, S.  429,41–44 [die definitive Entscheidung solle beim Herzog liegen!]; vgl. zum Kontext: Martin Brecht, Martin Luther, Bd.  1, Stuttgart 21983, S.  297), voraussetzen müssen, dass die von ihm proponierte theologische Urteilskompetenz der (gelehrten) Laien auf seinem rechtfertigungstheologisch fundierten Verständnis des Christseins basiert. Eck hat die Implikationen dieser Forderung klar erkannt. Gegenüber Kurfürst Friedrich stellte er fest: „Beschwert sich Bruder Ludder, daß ich auf den Universitäten nit hab wöllen lassen urteilen die Arzet, Legisten und Arti­

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§  13  Ekklesiologische Revolution

In seinem epochalen Reformappell An den christlichen Adel (Abb.  1–4) leitete Luther aus den zentralen theologischen Überzeugungen, die er im Zuge der mit dem Ablassstreit beginnenden Auseinandersetzungen gewonnen hatte, Argumente und Motive ab, die die Christen des weltlichen Standes – „Fursten, Hern, handtwercks und ackerleut“41 – gemeinsam mit den Klerikern als „warhafftig geystlichs stands“42 erwiesen. Denn „alle Christen“43 seien geistlichen Standes, weil sie Glieder des geistlichen Körpers Christi seien. Die Unterschiede bezögen sich lediglich auf die Funktionen [„denn des ampts halben allein“] 44, in der ein Glied dem anderen in wechselseitiger Dienstbarkeit ergeben sei. Der Grund der geistlichen Egalität aller Christen liege in dem, was einen Christen zum Christen mache: „das wir eine tauff, ein Evangelium, eynen glauben haben, unnd sein gleyche Christen, den die tauff, Evangelium und glauben, die machen allein geistlich und Christen volck.“45 Aus dem im Gnadenhandeln Gottes begründeten gemeinchristlichen Priestertum der Glaubenden und Getauften46 folgte für Luther einerseits, dass die klerikalen Prärogativen in Gestalt eines papalen Auslegungsprimates über die Heilige Schrift47 und einer Überordnung des Papsttums über die Konzilien48 hinfällig würden, andererseits, dass die Glieder des weltlichen Standes berechtigt und verpflichtet seien, das von seiner hierarchischen Spitze her tiefgreifend korrumpierte Kirchenwesen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln von Grund auf zu reformieren. Auch wenn unverkennbar ist, dass Luther primär die politischen Verantwortungsträger im Reich zu reformerischen Aktivitäten veranlassen wollte, ist die Schrift An den christlichen Adel mit Äußerungen durchzogen, die auch Christenmenschen im Handwerker- oder Bauernstand ansprechen und zu einer Revision ihrer Handlungs- und Denkungsart motivieren konnten.49 In der Adelsschrift hat die herausragende theologie-, kirchen- und sten die Theologos und Canonisten. Ist ein Wunder, daß D. Ludder auch nit begehrt hat Schuster und Schneider oder daß ers auf ein landtag hätt anbracht. Also ist die Sach geschaffen, genädiger Herr! D. Ludder wollt gern mit der Menige, die der Sach nit verständig wären, sein Irrsal hinausbrechen.“ (WABr 1, S.  498,717–722). Eine sehr ausführliche, freilich in Bezug auf historisch-genetische Fragen unergiebige Studie zum Thema stellt dar: Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther [MThS 46], Marburg 1997; zur Rolle der Laien als Richter s. Junghans, Laie, wie Anm.  155. 41   WA 6, S.  407,11. 42   WA 6, S.  407,13 f. 43   WA 6, S.  407,13. 44   WA 6, S.  407,14 f. 45   WA 6, S.  407,17–19. 46   „Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet, wie sanct Peter I. Pet. ii. sagt ‚yhr seit ein kuniglich priesterthum, und ein priesterlich kunigreych‘, und Apoc. ‚Du hast uns gemacht durch dein blut zu priestern und kunigen‘.“ WA 6, S.  407,22–25. 47   WA 6, S.  411,8 ff. (die zweite Mauer). 48   WA 6, S.  413,1 ff. (die dritte Mauer). 49   Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Aspekte genannt: Das jedem Christen zukommende Recht, die Nottaufen und die Absolution zu spenden (WA 6, S.  408,1 ff.) bzw. von falschen Gelübden zu dispensieren (WA 6, S.  443,20 f.); die Wahl der Bischöfe und Priester durch die Gemeinde nach dem Vorbild der alten Kirche (WA 6, S.  408,4 ff.; 440,21 ff.); die Abschaffung der Wallfahrten ‚einfältiger Christen‘ (WA 6, S.  437,1–438,13); die im Christsein selbst wurzelnde

2.  Luthers Theologie des Laien

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Abb.  1  Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation .  .  . [Wittenberg, Melchior Lotter d.J. 1520]; VD 16 L 3758; Benzing/Claus, Nr.  683; Titelblatt; Erstdruck der ersten Fassung (WA 6, S.  397 f.: Druck A); Ex. HAB Wolfenbüttel Li 5530; Titelblatt.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

Abb.  2  Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation .  .  . [Wittenberg, Melchior Lotter d.J. 1520]; VD 16 L 3759; Benzing/Claus, Nr.  684; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2293, S.  347 f.; Erstdruck der ersten von Luther korrigierten vollständigen Ausgabe (WA 6, S.  398: Druck B); Titelbordüre von Lukas Cranach; oben Stadtwappen Wittenbergs, unten Wappen des Druckers; verwendet auch VD 16 B 5070; L 2989; L 7140; vgl. WADB 10/2, s. Cf. Aufbauend auf Säulenstümpfen erscheinen in Ästen und Blättern kämpfende Figuren und Tiere, die auf der rechten und linken Seite jeweils miteinander korrespondieren; am unteren Bildrand bewegen sich zwei Landsknechte friedlich aufeinander zu; sie sind als Halter des Cranachschen Wappenschildes postiert.

2.  Luthers Theologie des Laien

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Abb.  3  Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation .  .  . [Leipzig, Valentin Schumann 1520]; Benzing/Claus, Nr.  687; VD 16 L 3753; Köhler Bibl., Bd.  2, Nr.  2291, S.  347; Ex. MF 141 Nr.  387; BSB München 4 H Ref 488a {digit.}; Titelblatt mit Darstellung eines bekränzten Ritters in voller Rüstung mit Schwert und Fahne in offener Landschaft. Das Bild dokumentiert die Festlegung auf eine ständisch verstandene adlige Rezipientenschaft.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

Abb.  4  Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation .  .  . [Straßburg, Martin Flach d.J. 1520]; VD 16 L 3756; Benzing/Claus, Nr.  691; WA 6, S.  399: Druck I; Ex. SUB Göttingen Autogr. Luth. 270. Titelblatt mit zwölf Wappenbildern, die eine fürstliche oder ritterschaftliche Person mit Wappenschild darstellen; die Rezeption des Textes ist im Spiegel des Titelblattes ganz auf eine adlige Klientel im ständischen Sinne fokussiert.

2.  Luthers Theologie des Laien

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gesellschaftspolitische Rolle, die den Laien in der Theologie Luthers zugewachsen war, ihre prominenteste und wirkungsreichste Ausarbeitung und Propagierung erfahren. Auch in späteren Äußerungen lag Luther vor allem daran, dass der heiligste Stand des Christseins, der Glaube, die elementare Gleichheit „gemeiner Christenheit“50, gleichviel ob „leye odder pfaffe“51, coram deo begründe und es keine besonderen, vielmehr allein einen Weg zum Heil gäbe.52 Der elementare kulturelle Sachverhalt einer explosiven Zunahme der Laienbildung in den Dezennien vor dem Beginn der Reformation spielte für Luthers theologisches Verständnis des Laien und des Christseins freilich keine zentrale Rolle.

Berechtigung, dem in seelischer Not lebenden ‚Konkubinarier‘ beizustehen (WA 6, S.  442,26 f.); die Beteiligung daran, „[d]as die wilden Capellen und feltkirchen wurden zu poden vorstoret“ (WA 6, S.  447,17 f.); die Abschaffung aller Ungleichheiten und vom Papst aufgerichteter Ungerechtigkeiten, die „ein grosz unterscheyd machen unter den Christen, die alle gleich tauff, wort, glaub, Christum, got unnd alle ding haben“ (WA 6, S.  449,26 f.); die im eigenen Leben jedes Christen zu realisierende Absage an das kirchliche System Roms („[.  .  .] das ein yglich frum Christen mensch sein augen auff­ thu, unnd lasz sich mit den Romischen bullen, siegel und der gleysserey nit yrrhen, bleib daheymen in seiner kirchen, und lasz yhm tauff, Evangeli, glaub, Christum und got, der an allen ortten gleich ist, das beste sein, und den Bapst bleyben einen blinden fürer der blindenn.“ (WA 6, S.  450,1–6). Dass Luthers ganz an den erwählenden Gottesgeist gebundenes Verständnis des theologischen Doktorates, um die die Christenheit beten solle (WA 6, S.  460,20–40), in Bezug auf laienprophetische Aneignungen eminent ‚anschlussfähig‘ war, habe ich an anderer Stelle (vgl. Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  5 ; s. auch oben II, §  7, Anm.  50 ff.; III, §  12, Anm.  15 ff.) ausgeführt. Hinsichtlich der intendierten Adressaten der Schrift An den christlichen Adel ist MacCullochs Auskunft, „[d]ie ‚Nation‘ im Titel der Schrift“ beziehe sich „auf die ehrwürdige mittelalterliche Institution des Heiligen Römischen Reiches und dessen privilegierten Adel, nicht auf die Gesamtheit der Deutsch sprechenden Bevölkerung in Europa“ (Diarmaid MacCulloch, Die Reformation 1490–1700, München 2008, S.  184) meines Erachtens revisionsbedürftig. Die Schrift An den christlichen Adel ist in ihrem historischen Kontext weitaus mehr als eine reformatorische Legitimationstherorie des bekanntlich ja vor der Reformation eingesetzt habenden landesherrlichen Kirchenregiments (vgl. dazu außer Schulze, Fürsten, wie Anm.  4, den Art. Kirchenregiment, Landesherrliches, in: TRE 19, 1990, S.  59–68 von Hans-Walter Krumwiede, und auch: Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte [Schriften zum Staatskirchenrecht 1], Frankfurt/M. u. a. 2000, S.  12 ff.; Heinrich de Wall, Art. Landesherrliches Kirchenregiment, in: EStL 2006, Sp.  1380– 1386). Die Adelsschrift ist ein Appell an jeden Christenmenschen gleich welchen Standes, sich der Not der Kirche anzunehmen und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten auf ihre Überwindung hinzuwirken. Zu meinem Versuch, durchaus disparatere rezeptionsgeschichtliche Linien der Reformation auf die Adelsschrift zurück zu beziehen vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  14, S.  271 ff.; 300 ff. u. ö., sowie meinen Kommentar: An den christlichen Adel [KSLuth 3], Tübingen 2014. 50   WA 10/2, S.  89,35 (1522). 51   „Es gillt ym [sc. Gott] glauben gleich viel, du seyst arm odder reich, iung odder allt, hübsch odder heslich, gelert odder ungelert, leye oder pfaffe.“ WA 12, S.  130,6–8 (1523). Schon 1520: „Dan der glaub muß allis thun. Er ist allein das recht priesterlich ampt, und lesset auch niemant anders seyn: darumb seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pfefyn, es sey junck oder alt, herr oder knecht, fraw oder magd, geleret oder leye.“ WA 6, S.  370,24–27; vgl. WA 10/3, S.  71,13–15. 52   Vgl. WA 10 I 1, S.  485,5 ff.; 486,18 ff. (1522); WA 11, S.  249,18–22.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

3.  Karlstadts Konzeption laikaler Vollmacht Während bei Luther die Differenz von Klerikern und Laien im Sinne ihrer prinzipiellen Gleichwertigkeit dem durch Taufe und Glauben konstituierten Stand des Christen ein- und untergeordnet wurde, stellt sich Karlstadts theologische Positionierung in Bezug auf das Verständnis des Laien deutlich anders dar.53 In seiner literarischen Auseinandersetzung mit Johann Tetzel und Johannes Eck im Vorjahr der Leipziger Disputation54 kam Karlstadt im Zusammenhang der Ausbildung seiner Lehre von der Schriftautorität55 auf Häretiker zu sprechen; im Anschluss an das Decretum Gratiani, das auch Tetzel zitiert hatte56, bestimmte Karlstadt einen Häretiker als jemanden, der die Bibel anders verstehe, als der Heilige Geist es verlange.57 Mit Augustin und dem Kirchenrecht58 charakterisierte er einen Ketzer dadurch, dass er um irdischer Vorteile oder eitler Ehre willen oder zur Verteidigung eines Irrtums oder einer Machtposition neue, die Bibel verkehrende Meinungen hervorbringe.59 In 53  Grundlegend: Shinichi Kotabe, Das Laienbild Andreas Bodensteins von Karlstadt in den Jahren 1516–1524, Diss. theol. München 2005; vgl. zu Karlstadts Entwicklung sodann die grundlegende Arbeit von Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation [Jus Eccl 24], Tübingen 1977; Ernst Kähler, Karlstadt und Augustin [HM 19], Halle 1952; Hans-Peter Hasse, Karlstadt und Tauler [QFRG 58], Göttingen 1993; Roland J. Sider, Andreas Bodenstein von Karlstadt. The Development of this Thought 1517–1525 [SMRT 11], Leiden 1974, sowie einzelne Beiträge in den Sammelbänden: Ulrich Bubenheimer/Stefan Oehmig (Hg.), Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001; Sigrid Looß/Markus Matthias (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541). Ein Theologe der frühen Reformation [Themata Leucoreana], Wittenberg 1998; zuletzt: Volker Leppin, Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe [SMHR 39], Tübingen 2007, S.  153–169; im Kontext der Wittenberger Diskurse: Jens-Martin Kruse, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 [VIEG 187], Mainz 2002; zum historisch-biografischen Hintergrund unersetzt: Ulrich Bubenheimer, Art. Karlstadt, in: TRE 17, 1988, S.  649–657; Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd.  1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Leipzig 1905, 2. unv. Aufl. Nieuwkoop 1968. 54  Vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  117 ff.; Joseph Greving (Hg.), Johannes Eck, Defensio contra amarulentas D. Andreae Bodenstein Carolstatini Invectiones (1518) [CCath 1], Münster 1919. Karlstadts Thesen, die auch bei Löscher (Reformations-Acta 2, S.  66–104) abgedruckt sind, zitiere ich nach dem Erstdruck (Zorzin Nr.  7 A; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  194, Nr.  1919): CCCLXX: Et Apologeticae Conclusiones pro sacris literis .  .  ., Wittenberg, Joh. Rhau – Grunenberg 1518; VD 16 B 6203; Ex. MF 987, Nr.  2504. 55  Vgl. Bubenheimer, Consonantia, wie Anm.  53, S.  126 ff.; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  53, S.  153 ff. 56   „Docendi sunt Christiani, quod omnes scripturam sacram male et non ut sensus sancti spiritus efflagitat, a quo scripta est, interpretantes haeretici rectissime appellari possunt.“ [C 24 q. 3 c. 27; Friedberg, wie Anm.  33, S.  997 f.]; Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  30, S.  372 (These 24); vgl. Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  83. 57   „Hereticus est quicumque aliter scripturam intelligit / quam sensus Sancti spiritus efflagitat.“ (These 349), Apologeticae Conclusiones, wie Anm.  54, E 1v; KGK I, 2, S.  853,6 f. 58   Fabisch/Iserloh, Dokumente, 1. Teil, wie Anm.  30, S.  373 f.; Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  84. 59   „Hereticus est / qui alicuius temporalis commodi: utpote pecuniae vel vani honoris: aut de-

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Bezug auf die Laien, das ‚einfache Volk‘, bedeutete dies, dass sie durch häretische Prediger – im zeitgenössischen Horizont etwa Leuten wie Tetzel – mit einer Einbildung von Wahrheit getäuscht60 würden; wenn Ketzer sei, wer Falsches glaube61 und verteidige und genauso wie der, der Falsches säe62, also der häretische Prediger, zugrunde gehe, wird deutlich, dass die ‚einfältigen Laien‘ nach Karlstadts Überzeugung durch die Lehren der Scholastiker eminent gefährdet sind. Die in der kirchenrechtlichen Tradition vorgeprägte Vorstellung einer schuldhaften Verstrickung der verführten simplices63 bildete den Ausgangspunkt einer gedanklichen Entwicklung Karlstadts, die in der Idealisierung der die elementaren Wahrheiten der Schrift erfassenden ‚einfältigen Laien‘ und in der ‚Selbstlaisierung‘ des ehemaligen Karrieregeistlichen gipfeln sollte. Bei dieser Entwicklung blieb der Fundamentalgegensatz zwischen Laien und gelehrten Theologen leitend, obschon er freilich gegenüber der traditionellen Wertigkeitshierarchie invertiert wurde. Gegenüber der Nivellierung von Klerus und Laien in dem einen Stand der Christenheit, wie sie Luther vertrat, repräsentiert dieses Konzept Karlstadts einen völlig eigenständigen Ansatz. In dem illustrierten Flugblatt des „Fuhrwagens“64 bzw. der dieses erläuternden Flugschrift Auszlegung und lewterung etlicher heiligen Geschriften65 konfrontierte Karlstadt den philosophische Weisheit und göttliche Lehre ‚vermischenden‘ scholastischen Theologen mit dem zum Exempel des Glaubens stilisierten ‚einfälfensionis sui erroris / principatusque sui gratia: novas opiniones: potissimum sacrae Bibliae difformes / gignit.“ (These 350), Apologeticae Conclusiones, wie Anm.  54, E 1v; KGK I, 2, S.  853,8–10. 60   „Populus autem simplex: qui huismodi predicatoribus credidit / imaginatione quadam veritatis illusus est.“ (These 351), a.a.O., E 1v; KGK I, 2, S.  853,12 f. 61   „Qui falsa credit / hereticus est.“ (These 352), a.a.O., E 1v; KGK I, 2, S.  853,14 (im Anschluss an Augustin). 62   „Hereticus est, & extra ecclesiam animo existit, licet corporaliter intus videatur: qui falsa credit (multo magis qui seminat) de aliqua parte doctrinae / ad edificationem fidei pertinente / multas tales ecclesia portat.“ (These 353), ebd.; KGK I, 2, S.  854,2–4 (im Anschluss an Augustin). „Hereticos illos qui ita falsitatem sententiae suae defendunt: ut intentam faciant multitudinem / ecclesia pellit, eliminatque.“ (These 354), ebd.; KGK I, 2, S.  854,5 f. (im Anschluss an Augustin). 63   In seinen Conclusiones .  .  . contra D. Joannem Eccium Lipsiae XXVii Junii tuende, ([Joh. Rhau – Grunenberg, Wittenberg], 1519; VD 16 B 6129; Zorzin Nr.  13a; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  171, Nr.  1862; Ex. MF 130 Nr.  350; zum Kontext: Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  133 ff.) warf Karlstadt Eck vor, dass er sich an den ‚Einfältigen‘ schuldig mache: „[.  .  .] ut simplices, qui literaria negocia expendere nequeunt, tuo [sc. Eck] veneno inficias, iis enim ecclesiasticos citas, qui muccosiori nare dijudicare non valent, quae sint autoritatibus firmanda, & quae non, quique putant, sat esse testimonia utcumque assumere, sed quia urgentia, & quia congrua dissecandis nodis sint cooptanda, non pensiculant, quo vicio persaepe capiunt multi.“ A 1v. 64   Vgl. zuletzt: Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  92 ff.; Hans Georg Thümmel, Karlstadt und Cranachs „Wagen“ von 1519, in: Jörg Haustein/Harry Oelke (Hg.), Reformation und Katholizismus. FS Gottschrift Maron [Reformation und Neuzeit 2], Hannover 2003, S.  66–96; Abb. zuletzt in: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  14, S.  238 f. 65   Andreas Bodenstein von Karlstadt, Auszlegung unnd lewterung etzlicher heyligenn Geschriften / so dem menschen dienstlich und erschieszlich seint zu Christlichem leben. Kurtzlich berurth und angezeichent in den figuren und schrifften der wagen .  .  . [Leipzig, M. Lotter] 1519; Zorzin Nr.  12 A; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  168, Nr.  1854; VD 16 B 6113; Ex. MF 1011 Nr.  2564. Das Postskript der Schrift ([F]1v–2r) ist auf den 18.  4. 1519 datiert.

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tigen Laien‘66. Die unter starkem Einfluss der Tauler-Lektüre67 entwickelte Heilskonzeption des „Fuhrwagens“ bzw. seiner Auslegung stellt in der der Lebensweise der Schriftgelehrten entgegengesetzten abnegatio sui, der demütigen Gelassenheit, die einem idealen Laien entsprechende Glaubenshaltung paradigmatisch vor Augen. In dieser Hinsicht gehen die ungelehrten Laien den „vermischten Theologen“ voraus.68 Karlstadts Auszlegung schloss mit der im Anschluss an Erasmus69 erstmals von einem Wittenberger Theologen erhobenen Forderung nach der volkssprachlichen Bibel. Als Begründung dafür gab Karlstadt an, dass ja auch Predigten in der deutschen Sprache gehalten würden, dass die Bibel allen Christen gehöre und deshalb von jedermann täglich daheim gelesen oder gehört werden solle und dass ja auch die Sa-

66   Entsprechend dem seit 1517 offen geführten Kampf der Wittenberger Theologen ‚contra scholasticam theologiam‘ hat man die „vormueschten Theoligen“ (Auszlegung, wie Anm.  65, A 1v), von denen Karlstadt behauptet, dass sie ihn „von rechtem vorstandt heiliger schriefften vorhindert und abgetzogen haben“ (ebd.), mit den Scholastikern zu identifizieren, vgl. [F]1r: „die vermengte[n] Theologen [.  .  .] vermuschen die schrifft [.  .  .] / das man vil meer heydnisch dan heylig biblischen lerenn in iren bochern vor augen liest.“ (Ebd.). Die Polemik gegen eine Vermischung der Lehre Christi und etwa des Aristoteles findet sich übrigens auch bei Erasmus, vgl. nur: Paraclesis (Vorrede zum Novum Instrumentum), in: Werner Welzig (Hg.), Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd.  3, Darmstadt 1967, hier: S.  10 ff. 67   So schon Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  147 und seither vor allem Hasse, Karlstadt und Tauler, wie Anm.  63, bes. zur 13. Predigt, S.  38 ff.; Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  102 ff.; instruktiv auch: Hans-Peter Hasse, „Von mir selbst nicht halden“. Beobachtungen zum Selbstverständnis des Andreas Bodenstein von Karlstadt, in: Bubenheimer/Oehmig, Querdenker, wie Anm.  53, S.  49–74; ders., Tauler und Augustin als Quelle Karlstadts: am Beispiel von Karlstadts Marginalien zu Taulers Predigt zum Johannistag über Lk 1,5–23, in: Looß/Matthias, Karlstadt, wie Anm.  53, S.  247–282. 68   „Dartzu hastu clare underrichtung / das dem menschen verlyhen genad tzuwenig und ungnug / Darumb sol er sein hertz und krefften in goth auffwerffen / und seyner gnadenn meher begeren. Daraus volget / das die ungelarten einfeltige leyhen / eins hochern verstants seindt / dan dye gelarten vermuschten Theologen.“ Auszlegung, wie Anm.  65, E 4v. Die Argumentation wird von Karlstadt unter Rekurs auf 1 Kor 1 kreuzestheologisch zugespitzt: Gott erwählt die Unverständigen und macht die Weisheit der Welt zuschanden, vgl. ebd. Der Begriff der „alten und zuvil vermisten theologi mit heidyscher leer und ynzug und überflüssiger subtilikeit“ begegnet übrigens (gegen die Erläuterung mit „sich zu sehr überschätzen“, so Laube, Flugschriften, Bd.  1, S.  535 Anm.  v) auch 1520 bei [Faber / Erasmus], Ratschlag, Laube, a.a.O., S.  535,17 und entspricht dem lat. Äquivalent „veteris ac nimium ad sophisticas argutias prolapsae theologiae“, vgl. Wallace K. Ferguson, Erasmi opuscula, Den Haag 1933, S.  359,114 f., d. h. ‚der alten und auf sophistische Spitzfindigkeiten verfallenen Theologie‘. 69   Zur zentralen Bedeutung des Erasmus im Zusammenhang mit der Forderung nach der Laienbibel in der Volkssprache vgl. oben I, §  3, Abschnitt 2. Karlstadt nimmt 1519 öffentlich für Erasmus als den Kirchenvätern „par vel superior“ einzustufendem „omnium theologorum praecipuus“ (Karlstadt, Epistola .  .  . adversus ineptam & ridiculam inventionem .  .  . Eckii .  .  . [Leipzig, V. Schumann, 1519]; VD 16 B 6153; Ex. MF 105 Nr.  272, C 1r) Stellung. Dass Karlstadt Tauler gleichsam mit ‚erasmianischen‘ Augen las, ergibt sich meines Erachtens aus dem bei Hasse, Karlstadt und Tauler, wie Anm.  53, S.  39 Mitgeteilten. Bei Erasmus kann man übrigens auch lesen, dass sich der Geist als Lehrer niemandem lieber mitteilt als den Einfältigen: „Ipse [sc. die Philosophie Christi] suppeditat doctorem spiritum, qui nulli sese libentius impartit quam simplicibus animis.“ Ed. Welzig, Bd.  3, wie Anm.  66, S.  12.

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kramente allen Christen ‚gemein‘ seien.70 Dass er die Pointe der ihm bekannten erasmischen Paraclesis, derjenige sei ein wahrer Theologe, der, vom Geiste Christi getrieben, wahrhaft fromm lebe71, auch wenn er ein Ackermann oder Weber sei, gleichwohl in der volkssprachlichen Auszlegung nicht explizit aufnahm, deutet darauf hin, dass er sich der Brisanz dieser das bisherige religiöse Wertungsgefälle zwischen Klerus und Laien konterkarierenden Bestimmung der ‚simplices‘ sehr bewusst war. In seiner Schrift Verba Dei72, der zweiten literarischen Attacke gegen Eck im Nachgang der Leipziger Disputation, führte Karlstadt seine Überlegungen zur führenden Rolle der ‚einfältigen Laien‘ systematisch aus. Den Anlass hatte Eck durch eine Äußerung geliefert, die er am Morgen des 14.  7. 1519, vor Beginn seiner Disputation mit Luther, gegenüber Karlstadt getan hatte. Demnach soll dieser, von Karlstadt darauf angesprochen, warum er auf der Kanzel einen Hieronymus nachgewiesenermaßen zu Unrecht zugeschriebenen Brief, der eine Aussage über die menschlichen Kräfte beim guten Werk enthielt, unter der Autorität des Kirchenvaters angeführt hatte73, geantwortet haben, dass man ungebildeten Christen gegenüber anderes sagen und auf andere Weise reden dürfe als gegenüber den Gelehrten in den Universitäten. Karlstadt könne doch nicht so töricht sein, die Lehren, die die Theologen aufgrund der Schrift im Hörsaal erörterten, auf der Kanzel vor das Volk zu tragen.74 Kollege Luther teilte Karlstadts Empörung über diese Doppelmoral des versierten Disputators Eck und sah darin eine Monstrosität.75 Für Karlstadt war unstrittig, dass Eck als verworfener, schismatischer Irrlehrer zu gelten habe; doch er fürchtete auch, dass das

70   Auszlegung, wie Anm.  65, [F] 1v. Die einzelnen Argumente finden sich in Erasmus’ Paraclesis; zum Vergleich mit den Sakramenten etwa heißt es: „Cur professionem omnium communem ad paucos contrahimus? Neque enim consentaneum est, cum baptismus ex aequo communis sit Chri­ stianorum omnium, in quo prima Christianae philosophiae professio est, cum sacramenta cetera, denique cum praemium illud immortalitatis ad omnes ex aequo pertineat, sola dogmata in pauculos istos esse releganda, quos hodie vulgus theologos aut monachos vocat [.  .  .].“ Ed. Welzig, Bd.  3, wie Anm.  66, S.  14–16. 71   „Haec [sc. an der Bergpredigt orientierte religiöse Tugenden] inquam et huiusmodi si quis afflatus spiritu Christi praedicet, inculcet, ad haec hortetur, invitet, animet, is demum vere theologus est, etiamsi fossor fuerit aut textor.“ Ed. Welzig, Bd.  3, wie Anm.  66, S.  16. 72   Andreas Bodenstein von Karlstadt, Verba Dei quanto candore & quam sincere praedicari, quantaque solicitudine universi debeant addiscere .  .  ., Wittenberg, M. Lotter 1520; VD 16 B 6210; Zorzin Nr.  17; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  196, Nr.  1924; Ex. MF 1048 Nr.  2650; vgl. zum Kontext: Zorzin, S.  182 ff.; Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  172 ff.; Kruse, Universitätstheologie, wie Anm.  53, S.  230 f. 73   Vgl. die Einzelheiten bei Zorzin, S.  183 f. mit Anm.  13. Das Gespräch erfolgte in Anwesenheit Johannes Langs, der als Zeuge [„testis“, A 3r] erwähnt wird, Verba Dei, wie Anm.  72, A 2v; A 3r. 74   „Putas tu [sc. Karlstadt], eadem populo dicenda, quae in scholis Theologicis tractamus & concludimus? Non sunt, inquit [sc. Eck], vulgariis Christianis, & illiteratis semina inculcanda, quae in eruditam humum, doctosque auditores, & assectatores, iacimus. Tu ne usque adeo ineptis, ait, qui plebeos Christianos e pulpito Ecclesiae, doctrinis illiusmodi dignaris, quas in scholis, ex scripturae faucibus, vel derivamus vel elicimus. [.  .  .] Theologo fas esse, ut aliud in declamatorio sermone expromat, aliud in scholis asserat.“ Verba Dei, wie Anm.  72, A 2v–A 3r; vgl. C 3r. 75   WABr 1, Nr.  187 (20.  7. 1519, Luther an Spalatin), S.  423,94.

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Volk, das diese Art Prediger höre, an ihrer Verwerfung teilhabe.76 Da das Volk um des Glaubens willen auf die Predigt des Wortes angewiesen sei, komme ihm auch die Aufgabe zu, seine Prediger entsprechend zu überprüfen.77 Weil falsche Propheten die ‚simplices‘ zugrunde richten könnten, müsse sich das Christenvolk (Christianorum plebs) 78, die Kinder und die Heranwachsenden, eine solide Kenntnis der Bibel aneignen.79 Die für Karlstadt zentral wichtige Urteilskompetenz der Laien gründet nicht in ihrer durch Taufe und Glaube konstituierten christlichen Existenz als solcher, sondern im Erwerb bestimmter geistiger Fertigkeiten; die Schrift hilft, die falsche Lehre zu erkennen und zu Christus zu führen80 ; mittels der Bibel könne jeder Bauer – so formulierte Karlstadt im Herbst 1520, nach der Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle – dem Konzil Paroli bieten.81 In seiner Schrift Von Bepstlicher heylickeit (Okt./Nov. 1520) 82, in der Karlstadt seinen definitiven Bruch mit der Papstkirche und mit seiner eigenen klerikalen Existenz vollzogen hat, brachte er seinen theologischen Klärungsprozeß zu Rolle und 76   „Sed & plebs tales concionatores audiens, de anathemate partem domi ferens [.  .  .]. Quando isti qui de anathemate participant, abhominabiles deo fiunt [.  .  .].“ Verba Dei, wie Anm.  72, B 2r. 77   „fides enim per verbum Christi [vgl. Röm 10,7], Non dicit [sc. Paulus] per verbum Aristotelis, per verbum nostri cordis, per verbum hominum, sed per verbum Christi. Fides est ex auditu, Proinde nemo recte & syncere credit, nisi qui recte et syncere audit. Hoc autem factu impossibile est, nisi sit concionator, qui ita praedicat, sicut auditores oportet audire, Caveant igitur populi, quorum refert credere, ut habeant declamatores, non somniorum humanorum, sed verbi dei, Christus eos damnationi adiudicat, qui non credunt.“ Verba Dei, wie Anm.  72, B 3v. 78   Verba Dei, wie Anm.  72, C 2v. 79   In allegorischer Auslegung des Salzwortes Mk 9,49 f. stellt Karlstadt fest: „Ich sage / das teglicher gebrauch des saltze / tegliche lernung / gottis wort bedeut / und gemeyne ubung des saltz / gemeyn leer deutet / das ist / alle leyhen sollen / alle tag / das wort gottis lernen / die Biblien selber leeßen oder hören leßen / domit sie / yhr opffer / yr leben / und yhr sitten / mit dem saltz warhafftiger weyßheyt / eynsaltzen / dz sie nit / an den gleißnern / an den holtzschugern hangen [.  .  .].“ Karlstadt, Von geweychtem Wasser und Salz .  .  ., Wittenberg, Joh. Rhau-Grunenberg 1520 (Widmung: 15.8.); VD 16 B 6250; Zorzin Nr.  21; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  209, Nr.  1959; Ex. MF 46 Nr.  127, C 1v; vgl. Sabine Todt, Äußeres und inneres Wort in den frühen Flugschriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt – Das Bild vom Laien, in: Bubenheimer/Oehmig, Querdenker, wie Anm.  53, S.  111–134, hier: 132. 80   Vgl. bes. Auszlegung, wie Anm.  65, D 4rf. Die Schrift weist in den Weg der Kreuzesnachfolge ein. „In disem weg kumpt der mensch yn schandt und handt dan dye schrifft menighlichen under dye sundt beschleust. Alßo hath der mensch in der geschrifft keyn trost / und weiß das er allein durch Christum wurt erlost.“ A.a.O., D 4v. 81   „[.  .  .] sag ich [sc. Karlstadt] / unnd ist war / das Biblische schrifft / ein gemeyn Concilium uberwindt / unnd szo ein pawr vom pflug / dem Concilio ein schrifft kond zeygen / das sein synn gut / und das Concilii boesz were / szo solt das Concilium dem pawren weychen und ehr geben / von wegen Biblischer schrifft.“ Karlstadt, Welche bucher Biblisch seint .  .  . [Wittenberg, M. Lotter] 1520; VD 16 B 6259; Zorzin Nr.  27; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  212, Nr.  1967; Ex. MF 131 Nr.  351, C 3r (Datum der Vorrede: 4.  11. 1520); zur laikalen Schriftlektüre s. auch WA 6, S.  461,11 ff. = LuStA 2, S.  157,40 ff. 82  Karlstadt, Von Bepstlicher heylickeit .  .  ., Wittenberg [M. Lotter 1520]; Zorzin Nr.  25; VD 16 B 6253; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  210 f., Nr.  1962; zum Kontext vgl. nur: Barge, Karlstadt, Bd.  1, wie Anm.  53, S.  230 ff.; Zorzin, S.  90 ff.; 141 ff.; Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  193 ff.

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Bedeutung der Laien zu einem gewissen Abschluss. In Rom und bei den Prälaten stehe die Bibel nur in geringem Ansehen; demgegenüber seien die „leyhen [.  .  .] disse zeit verstendiger / geschickter / und gelarter in der heyligenn schrifft [.  .  .].“83 Karlstadt verwarf nun die kirchenrechtlichen Grundlagen der unerträglichen Marginalisierung der Laien84, bekräftigte seine Bereitschaft, seine Lehre nur „vor leyhen unnd pfaffen“85 zu verantworten und schärfte – in offenkundigem Anschluss an Luthers Schrift An den christlichen Adel – ein, dass alle Christen „pfaffen“86 sein, da sie sich auf Christus gründeten. Der Appell an die weltlichen Verantwortungsträger, die Christenheit von der leidigen Bestie in Rom zu befreien, ergäbe sich aus der in den Sakramenten eingegangenen Eidesverpflichtung zur christlichen militia.87 Die Taufe als sakramentales Konstitutionsmerkmal des allgemeinen Priestertums der Christen erwähnte Karlstadt im Unterschied zu Luther nicht. Für ihn war die zentrale Rolle der Laien entscheidend mit ihrer Berechtigung, Befähigung, ja Verpflichtung zur Bibellektüre verbunden.88 Die Laien waren für Karlstadt die entschie83

  Von Bepstlicher heylickeit, wie Anm.  82, H 1r.  Ebd. 85   A.a.O., H 1r/v. Diese Bereitschaft entspricht der prinzipiellen Gleichberechtigung von Klerikern und Laien in Bezug auf die Auslegung der Bibel: „Ich weyß wol / und sag das unverholen / das der Bapst unnd alle Christen / sie sint geistlich odder weltlich / heylige schrifften mugen außlegen / ercleren / erleuchten / ßo sie dortzu geschickt seint / und vermuglich.“ A.a.O., G 1r. Die prinzipielle Gleichberechtigung in Bezug auf die Schriftauslegung ändert an der faktischen Überlegenheit der Laien in Bezug auf die Schriftauslegung in der aktuellen Situation natürlich nichts. 86   „Szo folget / das die pfaffen den knechten dienen mussen. Dan alle Christen seint pfaffen / dan sie seint auff einen steyn gepawet / der sie zu pfaffen macht. Christus ist derselbich außerwelt steyn / auff den selben sollen alle Christen (nicht allein etzliche) gesetzt unn erbawet werden / szo werden sie ein geistlich hauß / ein heylig priesterschafft / ein geystliche hostien zuopffern / der selb stein ist ein grund und adelkeit / aller deren / ßo in ynn glauben. Sanct Peter beschleußt alßo / Ir seint ein außerweltes volck / ein konigliche Priesterschafft / einn heylig volck [1 Petr 2,9]. [.  .  .]. Darauß folget / das der glaub in Christum alle glaubigen zu priestern odder pfaffen macht [.  .  .].“ Von Bepstlicher heylickeit, wie Anm.  82, D 3v–4r. 87   „Steend auff yhr herren und machent uns / von den greulichen bestien ein mal ledig / und vorthehdiget den glauben / dartzu yhr und wir alle / uns mit sacramenten unnd eyden haben verpflicht.“ A.a.O., E 2r; vgl. E 2v; B 2v; F 1r. Im Hintergrund steht natürlich ein antik-patristisches Verständnis von sacramentum als Eid bzw. menschliche Verpflichtung gegenüber Gott und der Gemeinde, wie es Erasmus reaktiviert hatte (vgl. etwa: Enchiridion militis christiani, in: Ausgewählte Schriften, hg. v. Werner Welzig, Bd.  1, Darmstadt 1968, S.  213) und im Kontext der Sakramentsdebatten der Reformationszeit für erhebliche Auseinandersetzungen sorgte (vgl. nur: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  14, S.  522 ff.; 542 ff.; Gottfried Hoffmann, Kirchenväterzitate in der Abendmahlskontroverse zwischen Oekolampad, Zwingli, Luther und Melanchthon. Legitimationsstrategien in der inner-reformatorischen Auseinandersetzung um das Herrenmahl [Oberurseler Hefte Ergänzungsbände 7], Göttingen 22011, S.  32 ff.). 88   Die Heilige Schrift ist für Karlstadt das wirksamste Mittel der Gottesbegegnung und in dieser Hinsicht – so möchte man interpretierend hinzufügen – den Sakramenten deutlich überlegen. „Die heylige geschrifft ist got nichts mynder voreynet und eygen gemacht / dan ein kelch odder altar / und konden in der schrifft leßen / odder horen leßenn alles das / das uns von noten / unn mugen auch dem rechten geyst Christi durch fleyssig lesung oder anhorung schopffen / versuchen unn schmecken. Uns ist auch yhe kein zweiffel / das die schrifft heyliger und got neher ist / dan ein kelch / altar unn messegwand.“ Von Bepstlicher heylickeit, wie Anm.  82, E 4r; vgl. auch Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  152. 84

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§  13  Ekklesiologische Revolution

den besseren Christen; ihr Allgemeines Priestertum aber drängte auf Bewährung, war weniger Gabe als vielmehr Aufgabe. Der geistliche Stand sei zutiefst verkommen; die Führungsrolle der Christenheit komme den Laien zu. Sie wollte Karlstadt aktivieren.89 Auch wenn es bis zur demonstrativen Konversion Karlstadts in den Stand eines ‚neuen Laien‘90 noch ein gutes Jahr dauern mochte und die ersten Erfahrungen des Konflikts mit Luther für seine Entwicklung bedeutsam werden sollten – die entscheidenden Motive seines theologischen Verständnisses des Allgemeinen Priestertums der Gläubigen waren Ende 1520 ausgebildet.

4.  Drei anonyme Basler Flugschriften – Datierungs-, Verfasserfragen und Druckgeschichtliches Nun zu den anonymen Basler Schriften aus der [Petrischen] Offizin: Von dem Pfründmarkt, Das Wolffgesang und Von dem alten und neuen Gott. In seiner Familienchronik erinnerte sich Konrad Pellikan, der seit Pfingsten 1519 als Guardian des Basler Franziskanerklosters in der Druckmetropole lebte, dass Adam Petri davon profitiert hatte, dass Froben „auf mehrfaches schriftliches Andringen des Erasmus von Rotterdam nichts Lutherisches mehr“91 herausbrachte. 89   „Ich weyß / und wir sehens alle vor augenn / das der Bapst auß seinen Decretalen urteylet / und geystliche unn weltliche sachen durch sein eygens gesetz vordreget / das allein / weer den vorstendigen Christen gnug / widder den Bapst aufftzustehenn / yhnen zu reformirenn. Damit aber auch der gemein man keck und unvortzagt werde / wil ich alte und newe schrifften / beyder testamenten gebrauchen / mit den selben beweysen / das der Bapst yrren kan / und sol nit gehoret werden / wan er etwa furnympt / dan die heylige Biblienn mit brenget odder leyden kan.“ Von Bepstlicher heylickeit, wie Anm.  82, B 2v. Die gezielte Aktivierungsperspektive in Richtung auf den „gemeinen Mann“ scheint mir im Zusammenhang mit Luthers Schrift An den christlichen Adel bemerkenswert zu sein. 90   So erstmals auf der Flugschrift Von Mannigfaltigkeit des einfältigen, einigen Willens Gottes (13.  3. 1523), Zorzin, S.  97 f.; Nr.  53; zu Karlstadts Selbstinszenierung als ‚Bruder Andres‘ und ihren vestimentären Ausdrucksformen s. oben III, §  12, Abschnitt 3.; Kaufmann, Müntzer, wie Anm.  5 ; Goertz, Radikalität, wie Anm.  18, S.  59 ff.; Kotabe, Laienbild, wie Anm.  53, S.  243 ff. 91   Theodor Vulpinus, Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit, Straßburg 1892, S.  76 = Bernhard Riggenbach (Hg.), Das Chronikon des Konrad Pellikan, Basel 1877, S.  75; vgl. dazu: Johannes Beumer S. J.: Aus der Chronik des ehemaligen Franziskaners Konrad Pellikan (1476–1556), in: FS 55, 1973, S.  258–273; zum ordensgeschichtlichen Kontext vgl. Paul L. Nyhus, The Franciscans in South Germany, 1400–1530: Reform and Revolution, in: Transactions of the American Philosophical Society, N. S.  Vol.  65, part, 8, Philadelphia 1975, S.  18 ff.; Walter Ziegler, Die deutschen Franziskanerobservanten zwischen Reformation und Gegenreformation (1987), zuletzt in: Ders.: Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther [RGST 151], Münster 2008, S.  315–351; zu Pellikan vgl. Siegfried Raeder, Art. Pellikan, Konrad, in: RGG4, Bd.  6, 2003, Sp.  1086; Hans R. Guggisberg, Art. Conradus Pellicanus, in: Peter G. Bietenholz (Hg.), Contemporaries of Erasmus, Bd.  3, Toronto u. a. 1987, S.  65 f.; Helvetica Sacra Abt. 5, Bd.  1: Der Franziskanerorden, Bern 1978, S.  133–135; Alfred Hartmann (Hg.), Die Amerbachkorrespondenz, Bd.  1, Basel 1943, S.  177; Bd.  2, Basel 1943, S.  222. Pellikan lieferte Luther eine detallierte Beschreibung der Basler Druckerszene in Hinblick auf die Verbreitung seiner Schriften, 16.  3. 1520, WABr 2, Nr.  266, S.  65–68, zu Petri besonders 65,18 ff.; zur von Luther beanstandeten

4.  Drei anonyme Basler Flugschriften

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Daraufhin sei Petri zum wichtigsten Basler Drucker Wittenberger Schriften avanciert; „[n]ach und nach (bis 1525) druckte er übrigens schier alle Schriftchen, die er aus Wittenberg bekommen konnte, mit Anmerkungen aus meiner Feder.“92 Ob Pellikan auch mit der übrigen Petrischen Druckproduktion in Verbindung stand, etwa gar an der Abfassung oder Drucklegung gewisser anonymer oder pseudonymer Flugschriften reformatorischen Inhalts direkt oder indirekt beteiligt war, ist bisher nicht erwogen worden, besitzt aber, wie im Folgenden dargelegt wird, eine gewisse Wahrscheinlichkeit. In Bezug auf den 1520/1 mit reformatorisch gesinnten lateinischen Schriften bei Petri hervorgetretenen Humanisten Ulrich Hugwald93, der in dessen Offizin als KorPetrischen Ausgabe der Operationes in Psalmos vgl. WABr 2, Nr.  379 (Luther an Pellikan [Ende Febr. 1521]), S.  272–274; vgl. WA 5, S.  9 f.; AWA 1, S.  236 ff.; 571 ff.; 582 f.; AWA 2, S.  X LIV ff.; zu Pellikan allgemein auch: Kurt Maeder, Die Via Media in der Schweizerischen Reformationsgeschichte [ZBRG 2], Zürich 1970, S.  134 ff.; Christoph Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526– 1556 [ZBRG 4], Zürich 1975, S.  21 ff.; 237 ff. (zu Pellikans Beziehung zu Erasmus); Paul L. Nyhus, Caspar Schatzgeyer and Conrad Pellican: The triumph of Dissension in the early sixteenth century, in: ARG 61, 1970, S.  170–204; AWA 1, S.  250–257 (zu Pellikan als Korrektor bei Petri). Zu Erasmus’ Interventionen gegen den Druck reformatorischen Schrifttums vgl. Allen 4, S.  345; Allen 5, S.  602; vgl. 612. Repressionen seitens des Rates waren Basler Drucker von Lutherschriften, wie es scheint, nicht ausgesetzt. Zu einer eidgenössischen Versammlung in Zürich ließ der Basler Rat eine Gesandtschaft mit der Instruktion reisen: „Wan ouch vonn den druckenn der biechlein, vom Luter gemacht, gehandelt würt, sollen sich unser botten des selbigen gar nut beladen, sunder drucks unnd koufs, wer do well.“ Emil Dürr, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd.  1, 1519 bis Juni 1525, Basel 1921, Nr.  57, S.  18; vgl. AWA 1, S.  241 f. Anm.  82. 92   Vulpinus, Hauschronik, wie Anm.  91, S.  76 = Riggenbach, Chronikon, wie Anm.  91, S.  75; dass sich die Verhältnisse nach 1525 anders entwickelten, dürfte mit der Affäre um Bucers Übersetzung von Bugenhagens Psalter, die bei Petri – unter Beteiligung Pellikans – erschien, zusammenhängen, vgl. Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, S.  310 ff. Namentlich an der im Juli 1520 bei Petri erschienenen Luther-Sammelausgabe war Pellikan beteiligt (Vulpinus, a.a.O., S.  77; Benzing/Claus, Nr.  9 ; WA 60, S.  446 ff.; 456–458; 610 f.; AWA 1, bes. S.  255 f.). Dass nichts häufiger gekauft und begieriger gelesen würde als diese Folioausgabe, bezeugt ein Brief Spalatins an Mutian (21.  9. 1520, zit. WA 60, S.  446 Anm.  63). Auch am Petrischen Druck von Luthers Operationes in Psalmos war Pellikan beteiligt (Vulpinus, a.a.O., S.  79 = Riggenbach, a.a.O., S.  78; s. Anm.  91). Zu allen Büchern, die bei Petri erschienen sind, verfasste Pellikan die Inhaltsverzeichnisse, vgl. AWA 1, S.  255. 93   S. oben II, §  7, Abschnitte 12.–15.; vgl. zu Hugwald ansonsten: J[ohann] G[eorg] Kreis, Das Leben und die Schicksale des Thurgauers Ulrich Hugwald, genannt Mutius, in: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte 41, 1901, S.  140–169; 42, 1902, S.  4 –70; Otto Clemen, Der Wiedertäufer U. Hugwald, in: Ders., Beiträge zur Reformationsgeschichte aus Büchern und Handschriften den Zwickauer Ratschulbibliothek 2, Berlin 1902, S.  45–85; Hieronymus, 1488, wie Anm.  9, S.  331 ff.; weitere Hinweise in: Z 7 [= CR 94], S.  500 f. Anm.  3 ; Böcking, Bd.  5, S.  511 f.; die These, Hugwald sei der Verfasser von Vom alten und neuen Gott stammt von Hans-Georg Hof­ acker, „Vom alten und nüen Gott, Glauben und Ler“. Untersuchungen zum Geschichtsverständnis und Epochenbewußtsein einer anonymen reformatorischen Flugschrift, in: Josef Nolte/Hella Tompert/Christof Windhorst (Hg.), Kontinuität und Umbruch [SMAFN 2], Stuttgart 1978, S.  145–177, hier: 174 ff. Kritisch dazu: Gerhard Hammer, AWA 1, S.  265. Hugwald hat seit 1520 lateinisch bei Petri unter seinem Namen publiziert, VD 16 H 5858; 5859; 5862; s. oben II, §  7, Anm.  244 ff.; im Frühjar 1521 hatte er in Basel „nicht näher verifizierbare – ernsthafte Schwierigkeiten“ (AWA 1, S.  241); zu Hugwald als Korrektor bei Petri s. AWA 1, S.  257–268; 257 Anm.  136

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rektor tätig war, ist ein Zusammenhang mit der ‚Judas Nazarei-Schrift‘ Vom alten und neuen Gott behauptet worden. Ob der Sendbrief an Pfarrer von Hohensynn, der mit instruktiven sprachlichen Argumenten für Eberlin von Günzburg in Anspruch genommen wurde94, in seinem mutmaßlichen Erstdruck 95 bei Petri erschien, muss freilich als sehr zweifelhaft gelten. Damit aber entfällt ein zwingender Grund dafür, Eberlin, der ansonsten bei Gengenbach in Basel publizierte, mit den anonymen Schriften Petris in Verbindung zu bringen. Die Zuschreibung der Judas NazareiTexte an den St. Gallener Gelehrten Vadian, die einstmals mit viel Leidenschaft diskutiert worden ist, kann wohl als obsolet gelten.96 Außer den bei Petri im Urdruck erschienenen Schriften Das Wolffgesang und Vom alten und neuen Gott sind noch weitere mit dem Pseudonym „Judas Nazarei“ bzw. dem Kürzel „J. N.“97 ausgestattete Drucke mit entsprechenden Verfasserhypothesen [Lit.]. Hugwalds sehr eigenwilliger literarischer Stil (vgl. Clemen, a.a.O, S.  54 f.; Hammer, AWA 1, S.  249), insbesondere die massive Beschwörung der deutschen Nation (s. die Vorrede zur ersten Pe­ trischen Ausgabe der Operationes im März 1521, in: AWA 1, S.  571–581) und die kompilatorische Einfügung antik-heidnischer Literatur unterscheidet sich vom Duktus der pseudonymen bzw. anonymen volkssprachlichen Drucke Petris deutlich. Ob Hugwald mit dem wohl nicht bei Petri gedruckten, undatierten Ein kurz gedicht so neulich ein Thurgauischer Bauer Doctor Martin Luther und seiner ler zu lob .  .  . gemacht hat (ed. in: Schade, Satiren, Bd.  2, wie Anm.  98, S.  160–164; 340–344) in Zusammenhang steht – wie in der Forschung gelegentlich vermutet (s. die Nachweise in: AWA 1, S.  264 Anm.  171) –, ist zumindest zweifelhaft. Der in Spannung zum Titel stehende Hinweis auf zwei Schweizer Bauern, die dies Gedicht gemacht hätten (Schade, a.a.O., S.  164, 276 f.), scheint mit dem Titelblatt der Schrift Die Göttliche Mühle (Schade, Satiren, Bd.  1, S.  19; vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  14, S.  311 ff.; s. oben II, §  8, Abb.  18; Z 7 [= CR 94], S.  457,2 ff.) zu korres­ pondieren. Sollten die beiden Thurgauer Landsleute Hugwald und Hätzer, die die Stiftsschule in Bischofszell besucht hatten (AWA 1, S.  275; s. oben II, §  7, Anm.  241), hier involviert gewesen sein? 94   Alfred Goetze, Ein Sendbrief Eberlins von Günzburg, in: ZDP 36, 1904, S.  145–154; ohne Entscheidung: Peters, Eberlin, wie Anm.  11, S.  29 f.; 372 f. 95   Vgl. die kritische Edition Goetzes, Sendbrief, wie Anm.  94 (allerdings ohne Identifizierung der Offizin des von ihm als Druck B bezeichneten ersten Nachdrucks); Zuschreibung an [A. Petri]: VD 16 E 143; Zuschreibung an [S. Grimm – M. Wirsung, Augsburg 1520] bei Köhler Bibl., Bd.  3, S.  455, Nr.  4182. Peters’ (s. Anm.  94) Bewertung als Urdruck überzeugt mich ebensowenig wie seine Zuschreibung an Petri; Ex. MF 618 Nr.  1595. 96   Vgl. außer Hofacker, Gott, wie Anm.  93, bes. Heinz Scheible, Das reformatorische Schriftverständnis in der Flugschrift „Vom alten und neuen Gott“, zuletzt in: Ders., Melanchthon und die Reformation, hg. v. Gerhard May und Rolf Decot [VIEG. B. 41], Mainz 1996, S.  470–480. Die Zuschreibung an Vadian geht zurück auf Eduard Kück (Hg.), Judas Nazarei, Vom alten und neuen Gott, Glauben und Lehre (1521) [Flugschriften der Reformationszeit 12 / Neudrucke deutscher Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts Nr.  142/143], Halle 1896, bes. S.  70 ff. Methodisch vorbildlich: Traugott Schiess, Hat Vadian deutsche Flugschriften verfaßt? In: Festgabe des Zwingli-Vereins zum 70. Geburtstag seines Präsidenten Hermann Escher, Zürich 1927, S.  66–97; vgl. ders., Drei Flugschriften aus der Reformationszeit, in: ZSG 10, 1930, S.  298–348, bes. 316 ff. (zum Schlüssel Davids). 97   Dies gilt für die gleichfalls bei A. Petri erschienene Schrift Der Schlüssel Davids [1523], die am Schluss mit den Lettern J N gekennzeichnet ist. Alfred Goetze hat die Buchstaben als „Judas Nazarei“ aufgelöst und Vadian zugeschrieben, Eine vadianische Flugschrift (Der Schlüssel Davids), in: BGDS 28, 1903, S.  236–242; kritisch dazu im Kontext der Edition der Schrift: Laube, Flugschriften, Bd.  2, S.  797–814, hier: 811 und früher: Schiess, Drei Flugschriften, wie Anm.  96, S.  324 ff.; 339 ff.; Hieronymus, 1488, wie Anm.  9, S.  326 Nr.  121. Auch die zuerst in [Wittenberg] erschienene Schrift

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in Verbindung gebracht worden, ohne dass die Diskussion bisher zu plausiblen Ergebnissen geführt hätte. Doch wegen der Stellung des Namenszuges „Judas Nazarei“ im Wolffgesang98 und in Vom alten und neuen Gott99, nämlich jeweils am Ende des Von der rechten erhebung Bennonis (ed. Laube, a.a.O., S.  1343–1347; Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  185–209; zur Sache: Kaufmann, Geschichte der Reformation, wie Anm.  14, S.  354 ff.; Christoph Volkmar, Die Heiligenerhebung Bennos von Meißen [1523/24] [RGST 146], Münster 2002, bes. S.  172 ff.) weist am Ende der an einen ungenannten Konstanzer Bürger gerichteten Dedikationsepistel das Kürzel „J. N.“ auf, und ist deshalb mit dem Textkomplex der anderen „Judas Nazarei“Schriften in Verbindung gebracht worden (vgl. die entsprechende Literaturdiskussion bei Schiess, Hat Vadian, wie Anm.  96, S.  91 f. Anm.  15) – schwerlich zu Recht. 98   Das Wolffgesang. [Basel, A. Petri 1521]; VD 16 N 320; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  130 f., Nr.  3443; Ex. MF 465 f. Nr.  1259; HAB Wolfenbüttel 108. 5 Quodl. 4 (12) {digit.} (s. Abb.  5 ; zur Interpretation des Titelblattes s. Scribner, Sake, wie Anm.  99, S.  76); Ed. der Schrift in: Oskar Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd.  3, Hannover 21863, ND Hildesheim 1966, S.  1–35. 221–238; Hieronymus, 1488, wie Anm.  9, S.  327 f. Nr.  122. Der Namenszug „Judas Nazarei“ findet sich am Schluss des Prosatextes in deutlich größer gesetzten Buchstaben [E 5r = Schade, Bd.  3, S.  34,23]. Auf der Versoseite folgt ein 28-zeiliges Versgedicht, das in der Art eines Werbetextes die mit der Lektüre verbundenen Erkenntnisse anpreist. Vom typografischen Befund her gewinnt man den Eindruck, dass das Versgedicht als Zusatz zu bewerten ist, der dem Druck beigefügt wurde, weil die Rückseite noch frei war; bei dem Petrischen Druck von Vom alten und neuen Gott verhält es sich ähnlich (s. Anm.  99). In den Bibliothekskatalogen variieren die Datierungen des Wolffgesangs zwischen [1520] und [1521]; auch Schade [Bd.  3, S.  238] ist für das Spätjahr 1520 eingetreten. Einen eindeutigen Datierungshinweis enthält die Schrift nicht. Allerdings ist auf dem Titelblatt die Katze Murner zu erkennen; dies setzt meines Erachtens die im Dez. 1520 / Jan. 1521 einsetzende Straßburger Anti-Murner-Kampagne (siehe dazu oben II, §  10, Exkurs) voraus. Vom Wolffgesang erschien ein [Augsburger] Nachdruck [E. Oeglin Erben 1522]; VD 16 N 321; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  131, Nr.  3444; Ex. MF 1949 Nr.  4972. In den Zusammenhang der Heroisierung Luthers ordnet den Wolff­ gesang ein: Ilonka van Gülpen, Der deutsche Humanismus und die frühe Reformations-Propaganda 1520–1526 [Studien zur Kunstgeschichte 144], Hildesheim 2002, S.  321 f. 99   Aufgrund der Edition Kücks (s. Anm.  96, S.  V I,1) hat als Urdruck zu gelten: Vom alten und nüen Gott / Glauben / und Ler. [Basel, A. Petri] 1521; VD 16 N 307; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  127 f., Nr.  3436; Ex. MF 625 Nr.  1621; s. Abb.  6. Am Schluss des Prosatextes [K 3r] findet sich der Namenszug „Judas Nazarei.“ in größeren Typen gesetzt und danach der Vermerk „Getruckt im iar nach der geburt Christi M. D.xxj.“ Das 22-zeilige Schlussgedicht [K 3v] hat – wie im Fall des Wolffgesang – als Werbetext zu gelten, der wesentliche Themen der Schrift nennt und den Gewinn der Lektüre avisiert. Dass das Gedicht als verzichtbar gelten konnte, zeigt sich an dem besonders ökonomisch gesetzten Druck [Augsburg, Ramminger] 1521: VD 16 N 306; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  127, Nr.  3435; Ex. MF 623 Nr.  1613 und der lateinischen Übersetzung: Wittenberg [M. Lotter 1522]; VD 16 N 319; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  126 f., Nr.  3434; Ex. MF 953 Nr.  2373, die auf das Schlussgebet verzichten, den Namen „Judas Nazarei“ aber an der Stelle bringen, an der überlicherweise das Kolophon steht. Einzig der Straßburger Drucker Wolfgang Köpfel (VD 16 N 312; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  129 f., Nr.  3441; Ex. MF 1007 Nr.  2558) behandelt „Judas Nazarei“ als eine Art Überschrift (oder Verfasserangabe) für das Gedicht und fügt ein eigenes Kolophon („Getruckt zum Steinburgk durch Wolff Köpffel. Im jar. M. D.xxjjj.“ [i 4r]) an. Im Wittenberger Druck [Klugs] von 1526 (VD 16 N 313; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  130, Nr.  3442; Ex. MF 465 f. Nr.  1259) ist dann der Namenszug „Judas Nazarei“ und das Gedicht an den Anfang des Druckes gewandert (A 1v), sodass nun der Eindruck einer Autorenangabe entstanden ist. Dies hat vielleicht als Folge dessen zu gelten, dass der Bogen F mit Bl.  7r und der Schlusszeile „Gott sey lob und ehre“ beendet wurde und das Bedrucken des Hinterblattes als unschön galt. Die Sichtung des typografischen Umgangs mit dem Namen „Judas Nazarei“ lässt meines Erachtens keinen Zweifel daran, dass die Zeitgenossen ihn vorwiegend als pseudonyme Druckerangabe auffassten. Dies erklärt auch, warum dieser Name in den einschlägigen Korrespondenzen nirgends auftaucht. Bei der Flugschrift Vom alten und neuen Gott handelt es sich um eine der

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Abb.  5  Das Wolffgesang [Basel, Adam Petri 1521]; VD 16 N 320; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  130 f. Nr.  3443; Ex. MF 4655 f. Nr.  1259, Titelholzschnitt. Als Kleriker verkleidete Wölfe spannen ein Netz, in dem sich Gänse verfangen. Auf einem Thron sitzt ein mit der päpstlichen Tiara gekennzeichneter Wolf; neben ihm stehen mit Kardinalshüten ausgestattete Tiere, rechts steht ein mit einer bischöflichen Mitra bekleideter Wolf. Auf der linken Seite sind ein katzenköpfiger (Murner) und ein eselsköpfiger Kleriker mit Sackpfeife zu erkennen. Einzelne Gänse sind schon in die Gewalt der Wölfe geraten. Unterhalb des Bildes stehen drei gereimte Zeilen, die es erläutern und zur Lektüre auffordern.

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Abb.  6  Vom alten und nüen Gott / Glauben / und Ler. [Basel, Adam Petri 1521]; VD 16 N 307; Köhler Bibl., Bd.  3, S.  127 f. Nr.  3436; Ex. MF 625 Nr.  1621, Titelholzschnitt. Das mittig geteilte Bild zeigt auf der linken Seite den Herrschaftbereich des päpstlichen Antichristen, der von Gelehrten und Klerikern getragen wird („T“ wohl: Thomas von Aquin; Aristoteles namentlich gekennzeichnet); in der unteren Bildhälfte links, die den „nw Gott“ zeigt, sind namentlich fünf Personen gekennzeichnet (N, Ambrosius Catharinus, Faber, Eck [Leccius] und Sylvester Prierias). Auf der den wahren, alten Glauben zeigenden rechten Bildhälfte dominiert die Trinität mit dem auferstandenen Christus in der Mitte, umringt von den Symbolen der vier Evangelisten und einigen Propheten. Am äußersten rechten Bildrand steht ein auf Christus verweisender Mönch, wohl Luther.

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§  13  Ekklesiologische Revolution

Druckes, auch von der Positionierung der Majuskeln J und N in Der Schlüssel Davierfolgreichsten reformatorischen Flugschriften überhaupt. Kück hat (a.a.O., S.  V I–XI) elf hoch-, vier niederdeutsche, eine lateinische, eine ostfriesisch-niederländische, zwei flämische, eine dänische und eine englische Ausgabe nachgewiesen, die zwischen 1521 und 1556 erschienen sind. In Bezug auf die Datierung der Schrift innerhalb des Jahres 1521 ist es allenfalls aufgrund einer Namensinschrift auf dem Titelholzschnitt (s. Abb.  6 ; zur Interpretation instruktiv: Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Progaganda for the German Reformation. Oxford 1981, ND 1994, S.  69 f.) möglich, relative Angaben zu machen. Das untere Bildsegment des den „Nw Gott“ darstellenden negativen – vom Betrachter aus linken – Bildteils zeigt fünf Welt- und Ordensgeistliche, die durch eine Inschrift identifiziert werden („N.  Caterin Faberi Leccius Silvester“, A. 1r). „N.“ dürfte der numerischen Entsprechung der Figuren und der Namen geschuldet sein; die Namen Ecks und Sylvester Prierias’ beziehen sich auf ältere Kontroversen. Luthers Antwort auf einen im Dezember 1520 in Florenz erschienenen literarischen Angriff des Dominikaners Ambrosius Catharinus (WA 7, S.  700 f.; Josef Schweizer [Hg.], Ambrosius Catharinus Politus O.Pr., Apologia pro veritate catholica et apostolicae fidei .  .  . [1520] [CCath 27], Münster 1956, bes. S.  X VIII ff.; zu Druck A der Catharinusschrift S.  XXII f.) war am 1.  4. 1521 im Manuskript vollendet (WA 7, S.  700; 778,22; WABr 2, Nr.  394, S.  295), scheint aber erst im Juni (so WA 7, S.  700) im Druck vorgelegen zu haben. [Petris] Nachdruck kam bereits im Juli heraus (Benzing/Claus, Nr.  882; WA 7, S.  702 C; Köhler Bibl., Bd.  2, S.  340, Nr.  2274; Ex. MF 1704 f. Nr.  4405), und zwar mit einer Vorrede Hugwalds (A 1v, abgedruckt in: Böcking, Bd.  4, S.  691 f. mit den korrigierenden Hinweisen in: Böcking, Bd.  5, S.  511 f.) und Randglossen [Pellikans