Der Abgrund im Spiegel: Mise en abyme - zur Aufhebung der ontologischen Dichotomien von Kunst und Wirklichkeit 9783839447222

Art and reality seen as in a network of reciprocal references: This volume examines the fascinating form of mise en abym

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German Pages 160 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme
3. Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte
4. Literatur im Kontext – M. Zusaks The Book Thief
5. Künstlerische Wirklichkeiten – A. Huxleys Point Counter Point
6. Fazit
Literatur
Anhang
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Der Abgrund im Spiegel: Mise en abyme - zur Aufhebung der ontologischen Dichotomien von Kunst und Wirklichkeit
 9783839447222

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Charlotte Gauger Der Abgrund im Spiegel

 | Band 57

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Marie-Luise Angerer, Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Charlotte Gauger (M.A.), geb. 1990, ist in der Verlagsbranche tätig und lebt in Berlin. Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Mainz sowie Vergleichende Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam.

Charlotte Gauger

Der Abgrund im Spiegel Mise en abyme – zur Aufhebung der ontologischen Dichotomien von Kunst und Wirklichkeit

Gefördert mit finanzieller Unterstützung der Universität Potsdam.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: droste effect © designelements / fotolia.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4722-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4722-2 https://doi.org/10.14361/9783839447222 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einleitung | 7

2

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 13

2.1 Der Spiegel und der Abgrund – eine kleine Begriffsgeschichte der Mise en abyme | 14 2.2 Spiegel und Spiegelungen – Dällenbachs Typologie der Mise en abyme | 17 2.3 Zeichen und Ikonizität – Semiotische Ansätze zur Mise en abyme | 20 2.4 Kontextualität | 26

3

Spiegelungen in Spiegelungen M. Endes Die Unendliche Geschichte | 37

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Einleitendes | 37 Das Buch im Buch im Buch | 39 Die Welt in der Welt in der Welt | 43 Die Lektüre als Vermittlung zwischen den Welten | 51 Die Unendlichkeit der Unendlichen Geschichte | 59 Zusammenfassung | 62

4

Literatur im Kontext M. Zusaks The Book Thief | 65

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Einleitendes | 65 Das pragmatische Buch – The Gravedigger’s Handbook | 67 Das politische Buch – The Shoulder Shrug und Mein Kampf | 70 Die ästhetischen Bücher – Die Texte von Max Vandenburg | 75 Zusammenfassung | 88

5

Künstliche Wirklichkeiten A. Huxleys Point Counter Point | 91

Einleitendes | 91 Wirklichkeit und Kunst | 94 Der ungeschriebene Roman – Philip Quarles’ Romanprojekt | 98 Intermediale Mise en abyme – zwischen Musik, Zeichnung und Literatur | 107 5.5 Zusammenfassung | 119 5.1 5.2 5.3 5.4

6

Fazit | 121

Literatur | 131 Anhang | 137

1 Einleitung

»›[...] Dieses Buch ist ganz Phantásien und du und ich.‹ ›Und wo ist dieses Buch?‹ ›Im Buch‹, war die Antwort, die er schrieb. ›Dann ist es nur Schein und Widerschein?‹ fragte sie. Und er schrieb und sie hörte ihn sagen: ›Was zeigt ein Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt? Weißt du das, Goldäugige Gebieterin der Wünsche?‹«1

Diese kurze Passage in Michael Endes Die Unendliche Geschichte ver­ knüpft das Bild der sich spiegelnden Spiegel – und damit den virtuellen Abgrund – mit dem Phänomen des Buches im Buch. Im Zusammenspiel dieser Bilder wird ein Phänomen umrissen, das in der kunst- und literatur­ wissenschaftlichen Forschung unter dem Begriff der Mise en abyme gefasst wird. Die Mise en abyme ist eine Einlagerungs- und Spiegelungsfigur und kann im weitesten Sinne als die Einlagerung eines Kunstwerks 2 in ein an­ deres verstanden werden, die sowohl einander spiegeln als auch eine werk­ immanente Tiefenstruktur, einen Abgrund, konstituieren. Die Mise en abyme verschmilzt damit Spiegel- und Kunstbild und überträgt die beinahe mythisch anmutende Ungewissheit bezüglich des ontologischen Status’ von 1

Ende, Michael (1979): Die Unendliche Geschichte. Von A bis Z mit Buchstaben und Bildern versehen von Roswitha Quadflieg. Stuttgart: Thienemann, S. 184.

2

Der Begriff des ›Kunstwerks‹ wird hier in Anlehnung an Gide verwendet, der in diesem Zusammenhang von »Œuvre d’art« spricht. Vgl. Gide, André (1996): Journal. Bd. I, hg. v. Eric Marty. Paris: Gallimard, S. 171. Für Gides Bedeutung in der Be­ griffsgeschichte der Mise en abyme vgl. Kapitel 2.1 dieser Arbeit. In diesem Kontext wird der Begriff des Kunstwerks als offener Begriff für künstlerische Erzeugnisse jedweder Medialität verwendet.

8 | Der Abgrund im Spiegel

Spiegeln, auf die in der oben zitierten Passage Bezug genommen wird, auf die künstlerische Form. In der Frage nach dem Wesen optischer Spiegel schwingt die Frage nach dem Wesen der Kunst, aber ebenso nach demje­ nigen der Realität mit – und suggeriert durch den virtuellen Abgrund, der sich aus den aufgestaffelten Spiegelbilder ergibt, zugleich eine Aufhebung der ontologischen Dichotomien von Wirklichkeit und Kunst. In der Forschung wurde insbesondere das Spiegelungsverhältnis zwi­ schen dem einlagernden und dem eingelagerten Kunstwerk als wesentliche Charakteristik der Mise en abyme hervorgehoben. Die Fokussierung auf das selbstreflexive Potenzial der Figur hat zu einer Einordnung der Mise en abyme als Verfahren extremer Selbstbezüglichkeit und gar als ›narzissti­ sches‹ Verfahren geführt.3 Diese Betrachtungsweise ist berechtigt und er­ scheint doch zugleich als eine Reduktion, die der Mise en abyme in ihrer Komplexität nicht gerecht wird. Lässt sich die Reflexion des eigenen Mediums in sich selbst nicht zuallererst als eine Aufforderung an die Rezi­ pierenden verstehen, die eigene Betrachtungsperspektive zu reflektieren? Ergibt sich der namengebende ›Abgrund‹ nicht erst dadurch, dass das ein­ gelagerte, aber souveräne Kunstwerk ein Kunstwerk zweiter Potenz ist, also dadurch, dass ihm eben eine andere Betrachtungssituation schon voraus­ geht? Lässt das Spiegelungsverhältnis nicht erst deutlich zu Tage treten, dass ein Kunstwerk in Kontexte eingelagert ist, die das Werk bedingen und formen? In der Selbstbezüglichkeit der Mise en abyme scheint immer schon das Moment der Inklusion der Rezipierenden gegeben und damit die Einholung seiner/ihrer Lebensrealität. 4 Die werkimmanente Spiegelung lässt die Frage nach der Spiegelung der eigenen Lebenswirklichkeit im Kunstwerk und vice versa hervortreten. Wird durch die Mise en abyme zunächst die werk­ 3

Vgl. bspw. Scheffel, Michael (2007): »Metaisierungen in der literarischen Narration. Überlegungen zu ihren systematischen Voraussetzungen, ihren Ursprüngen und ihrem historischen Profil«. In: Hauthal, Janine u.a. (Hgg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Berlin/New York: de Gruyter, S. 155-171 und Hutcheon, Linda (1980): Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. London/New York: Methuen. Hutcheon beschreibt die Mise en abyme als »one of the major modes of textual narcissism« (ebd. S. 4).

4

Die Begriffe der ›Lebensrealität‹ bzw. ›-wirklichkeit‹ sollen an dieser Stelle schon implizieren, dass diese nicht in einem Gegensatz zum Kunstwerk gedacht werden, sondern ebenfalls Konstruktionsmechanismen unterliegen.

Einleitung | 9

interne Spiegelung priorisiert, wird nicht nur Selbstbezüglichkeit inszeniert, sondern vor allem auch gezeigt, inwiefern die Produktion respektive Re­ zeption künstlerischer Zeichen nicht nur von Kontexten geprägt ist, sondern diese auch verschiebt, verändert. In der Pointierung des Verhältnisses zwi­ schen rahmendem5 und eingelagertem Kunstwerk scheint daher zugleich das Verhältnis zwischen Kunst und Welt 6 metaphorisch widergespiegelt. Dies ist die Annahme, auf die sich diese Arbeit stützt. In diesem Sinne stellt die Mise en abyme ein doppeltes Spiegelungsverhältnis vor: Zum einen ein ihr inhärentes, da sie sich aus der Spieglung zwischen einem eingelagerten und einem rahmenden Kunstwerk konstituiert, zum anderen in einer Einheit von Rahmung und Mise en abyme, die die Interaktion und Verankerung von Kunst in der Welt metaphorisch reflektiert. Mit einem rein literaturwis­ senschaftlichen Instrumentarium lässt sich die Interaktion und reziproke Beeinflussung von Kunst und Welt nicht beschreiben – die Mise en abyme ermöglicht es aber, sich dem einen Verhältnis durch die Beschreibung des anderen, werkimmanenten, zu nähern. In anderen Worten: Durch die Beob­ achtung des Spiegelungsverhältnisses innerhalb eines Werks, das dasjenige zwischen Kunst und Welt spiegelt, kann letzteres bedingt eingeholt werden. Kunst bzw. die Betrachtung von Kunst ist abhängig von einer Vielzahl von Kontexten, die entweder selbst vom Kunstwerk evoziert werden oder durch die Rezeption und Produktion in die Interaktion eingebracht werden. 7 An­ hand der Mise en abyme kann das reziproke Beziehungsgeflecht dadurch aufgezeigt werden, dass bereits textintern8 zwei Betrachtungsebenen be­ stehen, die sich bezüglich des ihnen beigemessenen ontologischen Status’ 5

Die Beschreibung des einlagernden Kunstwerks als ›rahmendem Kunstwerk‹ scheint dessen relatives Gewicht zu marginalisieren – dennoch wird in dieser Arbeit auf diese Begrifflichkeit zurückgegriffen, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Sie soll jedoch keine Reduktion auf eine rein rahmende Funktion suggerieren.

6

Die sehr globalen Begriffe ›Kunst‹ und ›Welt‹ werden verwendet, um die durch sie implizierte Opposition als vorläufige Konstruktion zu markieren.

7

Wie Corbineau-Hoffmann herausstellt, lässt sich die Art und Weise, wie diese Kon­ textualisierung erfolgt, nicht mit wissenschaftlichen Methoden erfassen. Es kann also nur eine spekulative Annäherung an die mit der Kontextualisierung verbundenen Pro­ zesse erreicht werden, die durch die Betrachtung der Mise en abyme, wie im Fol ­ genden dargelegt werden wird, ein textuelles Fundament erhält. Vgl. Corbineau­ Hoffmann, Angelika (2017): Kontextualität. Einführung in eine literaturwissen­ schaftliche Basiskategorie. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 211.

10 | Der Abgrund im Spiegel

unterscheiden. Wie bereits angedeutet, wird das Verhältnis zwischen den beiden Ebenen nicht als ein statisches betrachtet, sondern vielmehr als ein prozessuales. Die Ähnlichkeit, die die beiden Ebenen primär zueinander ins Verhältnis setzt, wird in ihrer Intensität ebenfalls durch die Interaktion be­ stimmt. In der Untersuchung dieser These gilt es, die Mechanismen der Texte hinsichtlich dieser Interaktion zu beleuchten. Als Phänomen, das in Literatur und Bildender Kunst gleichermaßen be­ heimatet ist, aber ebenso im Film, im Theater oder der Oper auftritt, weist die Mise en abyme ein erhebliches Potenzial an realisierten oder auch nur denkbaren Ausgestaltungsformen auf. Vieles ist der Figur medienübergrei­ fend gemein, ebenso viel unterliegt aber auch medialer Spezifik. Um ange­ sichts der ausufernden Flut an Phänomenen, die durch den Begriff der Mise en abyme beschrieben werden können, eine differenzierte Betrachtung zu gewährleisten, ist an dieser Stelle eine thematische Einschränkung zu treffen: In dieser Arbeit wird der Fokus auf Mise en abyme in fiktionalen Erzähltexten liegen – insbesondere aber solchen, die zugleich mit inter­ medialen Komponenten spielen, um auf diese Weise die visuelle Kompo­ nente der Figur zumindest bedingt wieder einzuholen. Vor dem Hinter­ grund der oben vorgestellten These werden drei sehr heterogene Texte analysiert, die, wie zu sehen sein wird, das visuelle Element der Mise en abyme9 auf jeweils sehr spezifische Weise in den Text aufnehmen. Nach ei­ nigen theoretischen Überlegungen zur Mise en abyme und zur Kontextua­ lität, anhand derer die Komplexität der Figur aufgezeigt und deren Ver­ ständnis für diese Arbeit geschärft werden soll, werden die Mise en abyme der Texte eingehend analysiert. Dabei gilt es in einem steten Hin und Her zwischen der Betrachtung textueller Details und einer holistischeren Per­ spektive, die das Textganze fokussiert, die Mise en abyme in ihrem textu­ ellen Kontext zu greifen. 8

Der Textbegriff wird hier in Anlehnung an Roland Barthes’ Textbegriff als ein medienübergreifender verstanden. Da für die Betrachtung der Mise en abyme die bedingte Abgeschlossenheit von Kunstwerken hilfreich erscheint, sei die Anwendung von Barthes’ Textbegriff vorläufig auf diesen Aspekt beschränkt. Vgl. Barthes, Roland (1973): »Texte (théorie du)«. In: ders.: Œuvres complètes: Édition établie et présentée par Éric Marty. Hg. von Éric Marty. Bd. II. Paris: Seuil, S. 1677-1689.

9

Wie in Kapitel 2.1 zu sehen sein wird, dienen im Wesentlichen zwei Metaphern zur Beschreibung der Mise en abyme, die die ihr eingeschriebene Visualität verdeutli­ chen.

Einleitung | 11

Den Beginn der Textanalysen bildet Die Unendliche Geschichte von Michael Ende. In einmaliger Weise inszeniert der Text eine potenziell un­ endliche literarische Mise en abyme und führt darin die diversen Spiege­ lungen, die als zentrales Kompositionselement den Text durchziehen, zu einem paradox erscheinenden Höhepunkt. In der Spiegelung der Spiege­ lungen in und durch die Mise en abyme offenbaren sich die spezifischen Mechanismen literarischer Spiegelungen im Gegensatz zum optischen Pen­ dant. Die innerfiktionale Grenze zwischen der Realität des Protagonisten und dem darin eingelagerten fiktionalen Text, wird durch die Entstehung einer Unendlichkeitsschleife unterlaufen und verschoben. Die Spiralwir­ kung in den Text hinein – der namengebende ›Abgrund‹ der Mise en abyme – suggeriert jedoch zugleich eine Bewegung aus dem Text heraus: Die Lesenden der Unendlichen Geschichte werden als vorläufig letzte Ebene vom Text eingeholt und damit potenziell ebenfalls zur schriftlichen Existenz. Lesen als Eintritt in die fiktionale Welt wird hier wörtlich ge­ nommen – die Erschaffung dieser Welt im Akt der Rezeption wird hier zur Notwendigkeit. Sprache wird nicht nur als Mittel des Verweisens insze­ niert, sondern als Träger erschaffender Macht. The Book Thief, ein Roman von Markus Zusak, zeigt das Lesen, Schreiben und nicht zuletzt Stehlen von Büchern als zentrale, den Text strukturierende Momente. Vor dem historischen Hintergrund des National­ sozialismus in Deutschland zeigt der Roman sprachliche Zeichen und Sym­ bole als Instrumente der Macht: Das Lesen und das Schreiben werden zu Mitteln der Selbstermächtigung, zu Zeichen des Widerstands. Die darge­ stellte Welt durchzieht und prägt als Kontext die Interaktion mit Büchern. Doch die Wirkungsweisen erscheinen reziprok: Lesen und Schreiben bzw. Zeichnen, die Rezeption und Produktion künstlerischer Ausdrucksformen, werden zum Mittel der Wirklichkeitsaneignung und -bewältigung. Der Tod selbst, der die Geschichte erzählt – und der, wie auch die Protagonistin, sich zumindest eines Bücherdiebstahls schuldig gemacht hat – wird erst durch die Lektüre selbst zum Textproduzenten. Er stiehlt ein von der Pro­ tagonistin Liesel geschriebenes Buch und gibt sich, während er ihre Ge­ schichte nach- und miterzählt, gleichsam selbst eine Stimme. Der dritte und letzte Text, der in dieser Arbeit betrachtet werden soll, ist Aldous Huxleys Point Counter Point. Dieser Text, der etwa zur gleichen Zeit wie Gides Les Faux-Monnayeurs erschien, fasst das intellektuelle Leben der 1920er Jahre ins Auge und zeigt in einer diskontinuierlichen

12 | Der Abgrund im Spiegel

Narration die Verschmelzung von Lebenswirklichkeiten und Kunstauffas­ sungen. Künstlerische Ausdrucksformen jedweder Medialität prägen die in­ dividuellen wie auch das gesellschaftliche Leben. Durch die Konzeption eines Romanprojekts innerhalb des Textes wird eine Metaebene eröffnet, die nicht nur in Form kognitiver Selbstreflexion Point Counter Point spie­ gelt, sondern zugleich einen anderen Roman virtuell in den Text einlagert. Diese poetologischen Überlegungen werden ergänzt durch eine Vielzahl an Musikstücken, Malereien, Zeichnungen und literarischen Werken, die Point Counter Point zu einem Dickicht abyssischer Strukturen machen. Die drei Texte zeigen eine Bandbreite möglicher Ausgestaltungsformen literarischer Mise en abyme. Auf unterschiedlichste Weisen zeigen sie, wie künstlerische Zeichen und Lebensrealitäten einander beeinflussen und prägen. Bevor en détail auf diese Texte eingegangen wird, gilt es, die Mise en abyme als solche, als theoretisches Konstrukt näher zu betrachten.

2 Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme

Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Mise en abyme verfolgt im Wesentlichen eine definitorische Bodensicherung. Die bestän­ dige Klage lautet, der Begriff sei durch inflationären und vor allem undiffe­ renzierten Gebrauch zu einer Art Leerformel geworden. 1 Wie Jessen jedoch treffend herausarbeitet, ist die definitorische Unsicherheit kein Produkt der vielfältigen Verwendung für alle Arten von Spiegelungseffekten in einem Kunstwerk, vielmehr beinhalte der Begriff schon seit seiner Einführung als wissenschaftlicher Fachterminus eine Unschärfe und Ambivalenz. 2 Im Fol­ genden sollen, nach einer kurzen Skizzierung der Begriffsgeschichte, Aspekte ausgewählter Ansätze der Forschungsdebatte wiedergegeben werden – nicht um durch sie zu einer fundierten, aber starren Arbeitsdefini­ tion zu gelangen, sondern vielmehr um eine Annäherung an wesentliche Charakteristika und Wirkungsweisen der Mise en abyme zu gewinnen.3

1

Vgl. bspw. Livingston, Paisley (2003): »Nested Art«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 61, No. 3 (Summer), S. 233-245, hier S. 240; Wolf, Werner (2001): »Formen literarischer Selbstbezüglichkeit in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ›mise en cadre‹ und ›mise en reflet/série‹«. In: Helbig, Jörg (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, S. 49-84, hier S. 62, Anm. 33; Bal, Mieke (1978): »Mise en abyme et iconicité«. In: Littérature, Nr. 29, S. 116-128, hier S. 116.

2

Vgl. Jessen, Herle-Christin (2014): Durch den Spiegel. Die mise en abyme in Dramen von Genet, Chaurette und Reza. Tübingen: Narr, S. 4.

14 | Der Abgrund im Spiegel

2.1

DER SPIEGEL UND DER ABGRUND – EINE KLEINE BEGRIFFSGESCHICHTE DER MISE EN ABYME

Der literatur- und kunstwissenschaftliche Begriff Mise en abyme wurde aus der Heraldik entlehnt, wo durch ihn die Einlagerung eines Wappenschildes in ein anderes bezeichnet wird.4 Der namengebende Abgrund – ›abyme‹ ist die altfranzösische Schreibweise für ›abîme‹ und lässt sich etymologisch auf das griechische ›ἄβυσσος‹ (abyssos, ›ohne Boden‹) zurückführen 5 – verweist auf die Tiefenstruktur, die sich aus der virtuell unendlichen Kette der Einlagerung immer kleinerer Repliken ergibt. 6 In der Reduplikation be­ gründet der Abgrund zugleich im rahmenden Schild eine Leerstelle: Der von der Miniatur überdeckte Bereich des Schildes, der die Leerstelle in diesem bildet, wird als Resultat einer visuellen Logik in der Wiederholung fortgesetzt, vertieft.7

3

Für eine kohärente Darstellung der Begriffs- und Forschungsgeschichte sowie der Verortung der Mise en abyme als Spielart der Selbstreferentialiät und Metafiktion vgl. die sehr zugänglichen Ausführungen von Jessen (ebd., S.10-81).

4

Gide stützte seine Beschreibung des Phänomens, das heute als literarische Mise en abyme bezeichnet wird, auf die heraldische Einlagerungsfigur. Vgl. Gide, Journal, S. 171. In seinen Tagebüchern ist die Analogie jedoch auf einen eher lapidaren Ver­ merk reduziert, sodass er als eher ungeschickt bezeichnet wurde. Für eine prägnante Diskussion des heraldischen Erbes und seiner Rechtfertigung, vgl. Jessen, Durch den Spiegel, S. 76-81.

5

Vgl. Bloch, Oscar/Wartburg, Walther von (1964): Dictionnaire étymologique de la langue française. 4. Aufl. Paris: Presses Universitaires de France, hier S. 2.

6

Ron weist darauf hin, dass die miniaturisierte Replik im Schild eine Miniaturisierung des Rahmens darstellt und keine Reduktion der symbolischen Dimension. Vgl. Ron, Moshe (1987): »The Restricted Abyss. Nine Problems in the Theory of Mise en Abyme«. In: Poetics Today, Vol. 8, No. 2, S. 417-438, hier S. 420.

7

Dällenbach bemerkt zu diesem Phänomen, dass eine solche Einlagerung nicht nur Hinzufügung sondern immer auch eine Subtraktion beinhaltet. Vgl. Dällenbach, Lucien (1977): Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. Paris: Seuil, S.143f.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 15

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Mise en abyme in der Heraldik

In Anlehnung an dieses Phänomen der Heraldik, beschrieb André Gide 1893 in seinen Tagebüchern das Phänomen des Kunstwerks im Kunstwerk als »en abyme«. 8 60 Jahre später, 1953, führte Claude- Edmonde Magny unter Rekurs auf Gide den Begriff »Mise en abyme« als Fachterminus in die Forschung ein.9 Die beibehaltene begriffliche Fokussierung auf den Ab­ grund, obschon er sich nur in Extremformen der Mise en abyme zeigt, spie­ gelt die intuitive Faszination an der Unbestimmtheitsstelle. Das Bild des bodenlosen Abgrunds bzw. der durch diesen hervorgerufene Effekt er­ scheint auch in weniger expliziten Umsetzungen eine zentrale Position im Verständnis der Mise en abyme zu beanspruchen. Die Metapher des Ab­ grunds wird durch diejenige des Spiegels ergänzt, die ebenfalls seit den An­ fängen bei Gide, der die Mise en abyme als »petit miroir convexe et sombre«10 bezeichnet, zu ihrer Beschreibung. Hält sich das Bild des Ab­ grunds insbesondere durch den Begriff ›Mise en abyme‹, so dient die Meta­ pher des Spiegels selbst in hoch theoretischen Arbeiten zur Beschreibung der auf Ähnlichkeit beruhenden Objektrelation zwischen einem einge­ lagerten und einem es umgebenden Kunstwerk. Die beiden Metaphern er­ scheinen jedoch ein Paradox zu begründen, verweist doch der Abgrund auf eine Vertiefung in sich selbst hinein, während der Spiegel eine Umkehrung

8

Vgl. Gide, Journal, S. 171.

9

Vgl. bspw. Dällenbach, Le récit spéculaire, S. 33 (Anm. 1). Wie Dällenbach dort anmerkt, hat sich der von Magny eingeführte Begriff gegen andere ›en abyme‹ Kon ­ struktionen, wie »composition en abyme«, »construction en abyme« (beide Lafille) oder auch »structure en abyme« (Genette) durchgesetzt.

10 Gide, Journal, S. 171.

16 | Der Abgrund im Spiegel

der Richtung des Bedeutens versinnbildlicht. 11 In dem Spannungsfeld zwi­ schen Spiegel und Abgrund liegt die Faszination der Mise en abyme be­ gründet – ebenso wie die Schwierigkeit ihrer definitorischen Fassung und die schwer zu benennende, unbefriedigende Wirkung von ausdifferen­ zierten Typologisierungen. Trotz ihrem unumstrittenen Wert für die For­ schung, ist in diesem Sinne auch Lucien Dällenbachs Anstrengung, die Mise en abyme durch eine umfassende und fein nuancierte Typologie zu beschreiben, in gewisser Weise unzulänglich. Als einziges Referenzwerk zur literarischen Mise en abyme12 verschafft Dällenbachs Le récit spécu­ laire ohne Zweifel einen systematischen Ansatz und Überblick über die verschiedenen Spielarten der Mise en abyme und auch über die verschie­ denen Arten reflexiver Bezugnahmen. Das Spannungsfeld, das durch das Zusammenspiel der beiden Metaphern – dem Abgrund und dem Spiegel – beschrieben werden soll, wird jedoch durch diesen Ansatz nur begrenzt ab­ gebildet.13 Dennoch unterstützen die Differenzierungen Dällenbachs und die von ihm eingeführte Terminologie systematische Überlegungen bezüg­ lich der kritischen Betrachtungsebenen der Mise en abyme und sollen daher im folgenden Kapitel ausschnittsweise und in aller Kürze wiedergegeben werden.

11 Gottfried Gabriel, der die Möglichkeiten literarischer Erkenntnis untersucht, konsta­ tiert für literarische Texte, dass sie über sich hinausweisen und damit eine »Umkeh­ rung der Richtung des Bedeutens« bewirken, die die »reflektierende Urteilskraft« in Gang setze. Vgl. Gabriel, Gottfried (1991): »Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit literarischer Erkenntnis«. In: ders.: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart: Metzler, S. 2-18, hier S. 10 und 16. 12 Vgl. Jessen, Durch den Spiegel, S. 5. 13 Dällenbach wendet sich dezidiert gegen eine solche, wie er es nennt, metaphysische Perspektive. In der Auseinandersetzung mit Magnys Forschung macht er dies mehr als deutlich, wenn er beklagt: »victime de ses connotations, le mot abyme (terme technique) a subi la contagion de son sens métaphysique et s’est trouvé convoquer les schèmes qui étaient le mieux à même d’en fournir l’équivalent : infini mathématique, ›infinité de miroirs parallèles‹, etc.« Dällenbach, Le récit spéculaire, S. 35.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 17

2.2

SPIEGEL UND SPIEGELUNGEN – DÄLLENBACHS TYPOLOGIE DER MISE EN ABYME

Ausgehend von seiner eigenen sowie Magnys und Lafilles Lektüre von Gides Tagebüchern abstrahiert Dällenbach folgende, pluralistische Mi­ nimaldefinition der literarischen Mise en abyme: »mise en abyme [est] tout miroir interne réfléchissant l’ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse.« (51f.)14 Reflexion und Einlagerung werden in dieser Definition als die grundlegenden Eigenschaften der Mise en abyme gekenn­ zeichnet. Während der Aspekt der Einlagerung zunächst weniger nach einer Spezifizierung verlangt – dieser bedingt, dass das spiegelnde Element Teil der Diegese, d.h. intra- oder metadiegetisch im raum-zeitlichen Universum der Erzählung angesiedelt sein muss (vgl. 70 und 74) – bedarf der Aspekt der Reflexion einiger Präzisierungen. Das Subjekt der Spiegelung, das in der obigen Definition – die Wirkung desselben bereits antizipierend – als »miroir«, bezeichnet wird, verschleiert zunächst die Tatsache, dass es sich dabei ebenfalls um eine sprachliche Äußerung (l’énoncé) handelt (vgl. 62). Als eine solche wirkt sie zum einen als ein bedeutendes Element, wie an­ dere Äußerungen der Erzählung auch, zum anderen wirkt sie reflexiv und ermöglicht damit der Erzählung sich selbst zu thematisieren (vgl. 62). Däl­ lenbach betont, dass der reflexive Charakter nicht per se ist, sondern viel­ mehr wird: einerseits durch die progressive Aneignung der rahmenden Er­ zählung und andererseits durch die Wahrnehmung eines »décodeur« (63). Das Objekt der Spiegelung dagegen, das in der Definition noch pau­ schal als »l’ensemble du récit« bezeichnet wird, lässt sich nach Dällenbach weiter differenzieren: Unter Rückbezug auf Roman Jakobson, kann sich die Spiegelung auf ›l’énoncé‹, ›l’énonciation‹ oder ›le code du récit‹ beziehen (vgl. 62). Entsprechend dieser Dreiteilung abstrahiert Dällenbach drei Grundformen der Mise en abyme, die er als »mise en abyme élémentaires« bezeichnet:15 Die ›mise en abyme fictionelle‹, die sich auf die Ebene der er­ 14 Für eine bessere Lesbarkeit werden in diesem Unterkapitel, das sich ausschließlich mit Dällenbachs Typologie beschäftigt, die Quellenangaben in Form von Seitenan­ gaben direkt in den Fließtext eingearbeitet. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe des Le récit spéculaire von 1977. 15 Dällenbach unterscheidet fünf Grundformen der Mise en abyme: ›mise en abyme fic­ tionelle‹, ›mise en abyme énonciative‹, ›mise en abyme textuelle‹, ›mise en abyme

18 | Der Abgrund im Spiegel

zählten Geschichte (›l’énoncé‹) bezieht (vgl. 76), die ›mise en abyme énon­ ciative‹, die die Ebene der Produktion und Rezeption (l’énonciation) reflek­ tiert (vgl. 100) sowie die ›mise en abyme (méta)textuelle‹, die die Ebene des Codes wiederspiegelt (vgl. 123 und 128). Eine literarische Reflexion – die Dällenbach als »un énoncé qui renvoie à l’énoncé, à l’énonciation ou au code du récit« (62) definiert – kann wiederum gemäß einer von drei Spie­ gelungsarten ausgestaltet sein, die in der oben wiedergegebenen Definition der Mise en abyme bereits anklingen: eine einfache Spiegelung (réduplica­ tion simple), eine wiederholte bzw. endlose (réduplication à l’infini) sowie eine an ein Möbiusband erinnernde paradoxale, die Dällenbach als »rédu­ plication aporisitique« bezeichnet (vgl. 51 und 142). Die Differenzierung dieser Spiegelungsarten kann dabei zur Beschreibung des Ähnlichkeits­ maßes zwischen einem rahmenden und einem eingelagerten Kunstwerk dienen, die von Dällenbach als ›similitude‹ (réduplication simple), ›mimétisme‹ (réduplication à l’infini) und ›identité‹ (réduplication aporis­ tique) bezeichnet werden (vgl. 142). Zuletzt soll noch einmal der Aspekt der Einlagerung in seiner texträumlichen Dimension im Zusammenhang mit dem Objekt der Spiegelung in einer letzten Differenzierung eingeholt werden. Durch die Position des spiegelnden Elements in der Chronologie der Erzählung kann zwischen drei Formen unterschieden werden, die je­ weils den zeitlichen Bezug zum Gespiegelten fokussieren: die ›mise en abyme prospective‹, die die Elemente, die sie spiegelt, vorweg nimmt, die ›mise en abyme rétrospective‹, die ebendiesen Elementen im zeitlichen Ab­ lauf der Erzählung folgt und schließlich die ›mise en abyme rétro-prospec­ tive‹ die gewissermaßen die beiden erstgenannten Formen verbindet (vgl. 83).16 métatextuell‹ und schließlich die ›mise en abyme transcendentale‹ (vgl. S. 141). Da die ›mise en abyme métatextuelle‹ eine Form der ›mise en abyme textuelle‹ ist, da bei letzterer der Fokus auf der Struktur und der Funktionsweise liegt, werden die beiden Formen in dieser Arbeit weitgehend zusammengefasst. Die ›mise en abyme transcen­ dentale‹ ist wiederum eine Unterkategorie der ›mise en abyme métatextuelle‹ und wird daher nicht separat beschrieben. Da Dällenbach selbst einschränkend bemerkt, dass die Unterscheidung der diversen Grundformen der Mise en abyme eine rein theoretische ist, werden den spezifischen Eigenschaften der einzelnen Typen nur in begrenztem Rahmen Rechnung getragen (vgl. S. 139). 16 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese Einteilung gemäß des zeitlichen Bezugs eine Besonderheit zeitgebundener künstlerischer Formen ist. Während die literarische

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 19

Ein Aspekt, auf den Dällenbach in seiner Arbeit nur am Rande explizit eingeht, ist die künstlerische Gestaltung des Subjekts der Spiegelung. Zwar verweist er auf die besondere Wirkungsmacht einer Reflexion, die sich auf eine Realität bezieht, die der eigenen ähnlich ist – und damit eben ein Kunstwerk (vgl. 95) – doch erscheint dieser Verweis nur periphere Bedeu­ tung zu haben. Bei der Thematisierung der ›mise en abyme textuelle‹ kommt dieser Aspekt in den Überlegungen zur Beschaffenheit literarischer Äußerungen zum Vorschein: Die Spiegelung kann sich nicht nur bezüglich des Objekts der Spiegelung auf verschiedene Textebenen beziehen, die Spiegelung selbst kann sich auch auf unterschiedlichen textuellen Ebenen manifestieren. Die Reflexion des rahmenden Kunstwerks kann sich durch die referenzielle Ebene, die erzählte Geschichte des internen Kunstwerks vollziehen, oder aber durch dessen textuellen Aspekt als Organisation von Bedeutung (vgl. 123f.). Impliziert diese Überlegung noch nicht per se einen künstlerischen Anspruch, so ist letzterer Aspekt doch in pragmatischen Äu­ ßerungen nur selten Gegenstand der Betrachtung bzw. wird nicht vorrangig als bedeutungstragend identifiziert. Der Paradigmenwechsel bezüglich der Beschreibung der Mise en abyme als Kunstwerk im Kunstwerk hin zur Spiegelung scheint gleichsam die Selbstbezüglichkeit der Figur vor das Bild des ›Abgrunds‹ zu schieben und damit eine werkimmanente Perspektive vor einer rezeptionsästheti­ schen zu favorisieren. Wie bereits angedeutet, soll in dieser Arbeit der Ver­ such unternommen werden, beide Bilder, das des Spiegels und dasjenige des Abgrunds, miteinander zu versöhnen, indem das interne Spiegelungs­ verhältnis hinsichtlich seiner außertextuellen Wirksamkeit perspektiviert wird. Dazu seien an dieser Stelle einige Überlegungen wiedergegeben, die die Betrachtung der Mise en abyme um bisher nicht oder weniger beachtete Dimensionen erweitern.

Mise en abyme zwingend anachronistisch ist, da eine gleichzeitige Darstellung von Spiegelndem und Gespiegeltem nicht möglich ist, kann eine solche Differenzierung etwa im Bereich der Bildenden Kunst nicht vorgenommen werden.

20 | Der Abgrund im Spiegel

2.3

ZEICHEN UND IKONIZITÄT – SEMIOTISCHE ANSÄTZE ZUR MISE EN ABYME

Eine Betrachtungsweise, die die Verschiebung des ontologischen Status’ der Mise en abyme bezüglich der rahmenden Erzählung reflektiert, stellt Bals semiotischer Ansatz dar. Aus der Auseinandersetzung mit Dällenbachs Typologie resultiert ihre abgewandelte Definition der Mise en abyme: »est mis en abyme tout signe ayant pour réfèrent un aspect pertinent et continu du texte, du récit ou de l’histoire qu’il signifie, au moyen d’une ressem­ blance, une fois ou plusieurs fois.« 17 Der eklatante Unterschied besteht in der Identifizierung der Mise en abyme als einem Zeichen anstelle eines Spiegels.18 Diese Verschiebung perspektiviert die Mise en abyme in ver­ schiedenster Hinsicht neu. In der Metapher des Spiegels schwingt die Ei­ genschaft optischer Spiegel mit, die Existenz und gegenwärtige Anwesen­ heit eines Objekts zu garantieren.19 Sind literarische Spiegel zwar diesem Zusammenhang enthoben, implizieren sie doch eine Parallelität, ein homo­ morphes Abbildungsverhältnis, zwischen spiegelnden und gespiegelten Äu­ ßerungen, ohne eine Selektion und damit eine Gewichtung bezüglich der Bedeutung der gespiegelten Elemente zu suggerieren. Die Charakterisie­ rung der Mise en abyme als Zeichen fokussiert dagegen stärker eine gerich­ tete Lenkung – eine strukturierte und strukturierende Bezugnahme. Da­ durch wird die Mise en abyme aus einem einfachen Duplikationsverhältnis herausgelöst und zum Träger eines Potenzials, einer aktiven Ordnungs- und damit Erschaffungsinstanz. Die oben wiedergegebene Definition macht bereits deutlich – und Bal führt diesen Gedanken umfassend aus – dass das Zeichen, die Mise en abyme, durch die beschriebene Art der Signifizierung als ein ikonisches

17 Bal, Mise en abyme et iconicité, S. 123. 18 Dällenbach rückt in späteren Arbeiten, wie bspw. seinem Aufsatz Reflexivity and Reading, von einer Beschreibung der Mise en abyme als Spiegel ab und bezeichnet sie ebenfalls als Zeichen. Vgl. Dällenbach, Lucien (1986): »Reflexivity and Reading«. Übers. v. Annette Tomarken. In: Evans, Tamara (Hg.): Mirrors and After. Five Essays on Literary Theory and Criticism by Lucien Dällenbach. New York: Graduate School and Univ. Center, City Univ., S. 9-23. 19 Vgl. Eco, Umberto (2011): »Über Spiegel«. In: ders.: Über Spiegel und andere Phä­ nomene. Übers. von Burkhart Kroeber. 8. Aufl. München: dtv, S. 26-61, hier S. 46.

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Zeichen zu verstehen ist.20 Gemäß Peirce, auf den sich Bal in diesem Kon­ text bezieht, weist sich ein ikonisches Zeichen bzw. ein Ikon dadurch aus, dass es dieselben Qualitäten besitzt, wie das bezeichnete Objekt. 21 Durch diese spezifische Zeicheneigenschaft wird der durch die Metapher des Spie­ gels hervorgehobene Aspekt der Ähnlichkeit zwischen dem eingelagerten und dem rahmenden Kunstwerk in der Sichtweise der Mise en abyme als Zeichen wieder eingeholt. Verweist Dällenbach bezüglich der sprachlichen Verfasstheit dieser spiegelnden Äußerung auf deren »double entente« 22 – also auf die reflexive Bedeutung, die neben der referenziellen, wörtlichen Bedeutung besteht – liegt dieser Aspekt in Bals Überlegungen schon in der Zeichenhaftigkeit selbst begründet: Während bei Dällenbach die reflexive Bedeutungsebene als zusätzliche gegeben ist, wird sie bei Bal dadurch ge­ griffen, dass die Mise en abyme als ein Zeichen verstanden wird, das sich durch ähnliche Qualitäten auszeichnet, wie das Objekt respektive der Refe­ rent23, auf das es verweist. Zusätzlich zu der referenziellen Funktion der einzelnen sprachlichen (und vornehmlich symbolischen) Zeichen, die die Mise en abyme konstituieren, fungieren diese in ihrem Zusammenhang wiederum als ein verweisendes ikonisches Zeichen. Diese Interpretation der Mise en abyme als eine bedeutende Einheit setzt die Mise en abyme in ein Abhängigkeitsverhältnis bezüglich eines erkennenden Subjekts: dem oder der Rezipierenden.24 Seine oder ihre Überzeugung, dass etwas eine Mise en abyme, also ein ikonisches Zeichen sei, basiert auf textuellen Symptomen, die darauf hindeuten, dass das fragliche Textfragment als Ganzes etwas be­ deutet bzw. bedeutend wirkt. Diese Symptomatik basiert auf der Ähnlich­ 20 Vgl. Bal, Mise en abyme et iconicité, S. 123f. 21 Vgl. Peirce, Charles S. (1998): »Neue Elemente«. In: Mersch, Dieter (Hg.): Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida. München, S. 3756, hier S. 41. 22 Dällenbach, Le récit spéculaire, S. 63. 23 Obschon der Begriff des ›Referenten‹ für die Reflexion semiotischer Zusammen­ hänge treffender wäre, wird hier der Begriff des ›Objekts‹ bevorzugt, um die entspre ­ chenden Parallelen zu Dällenbachs Überlegungen hervorzuheben. 24 Vgl. Bal, Mise en abyme et iconicité, S. 123. Bal kritisiert unter anderem an Dällen­ bachs Ansatz seine implizite Fokussierung auf die Autorenintention bzgl. der Refle­ xivität der Mise en abyme (vgl. Mise en abyme et iconicité, S. 118f.). Bal ersetzt in ihrer Konzeption die Intention des Autors/der Autorin durch die Wahrnehmung der Rezipierenden.

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keit zwischen dem eingelagerten und dem rahmenden Kunstwerk. Erst im ikonischen Charakter liegt die Zeichenhaftigkeit begründet, da das Zeichen durch die Ähnlichkeit sein Objekt, also im Falle der Mise en abyme das rahmende Kunstwerk, denotiert. Bal verwendet in ihrer Definition, trotz ihres Rückbezugs auf Peirce den Begriff des Zeichens und nicht den spezifischeren des Ikons. Wie White bemerkt, beinhaltet die Betrachtung der Mise en abyme als Zeichen und nicht als Ikon eine Offenheit, die die graduelle Abstufung von Ähnlich­ keit und Differenz in den Vordergrund rückt. 25 Dieser Aspekt wird durch den Begriff der Ikonizität gefasst.26 Ikonische Zeichen verweisen auf die Ähnlichkeit als einem Kontinuum an Abstufungen und tragen damit dem Umstand Rechnung, dass Ähnlichkeit keine logische Größe, sondern viel­ mehr eine kognitive Konstruktion ist, die in ihrem Ausmaß von subjektiver Wahrnehmung und kultureller Konvention abhängt. 27 Ähnlichkeit kann an­ 25 Vgl. White, John J. (2001): »The Semiotics of the mise-en-abyme«. In: Fischer, Olga/Nänny, Max (Hgg.): The Motivated Sign. Iconicity in Language and Literature, Bd. 2, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 29-53, hier S. 44f. 26 Vgl. ebd., S. 45. Peirce unterscheidet zwischen Ikons und ikonischen Zeichen bzw. Hyperikons. Während reine Ikons lediglich potenzielle Zeichen darstellen, da sie keine semiotische Triade bilden, sondern vielmehr eine monadische Struktur haben (sie hängen weder von einem bezeichneten Objekt noch von einem Interpreten ab), sind ikonische Zeichen konkret realisiert. Der Unterschied zwischen beiden Formen ist allerdings ein gradueller. Ikons sind in diesem Sinne extreme Formen ikonischer Zeichen. Vgl. Nöth, Winfried (2000): »Ikon und Ikonizität«. In: ders. (Hg.): Hand­ buch der Semiotik. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler Verlag, S. 193-198, hier S. 193ff. 27 Vgl. ebd., S. 195ff. Während die Vorstellung, dass das der Ikonizität eingeschriebene Ähnlichkeitsverhältnis eine graduelle Eigenschaft darstellt, auf Morris zurückzu­ führen ist, ist der Aspekt der kulturellen Konvention eine Präzisierung, die insbeson­ dere Umberto Eco herausarbeitet. Nöth stellt jedoch heraus, dass Versuche, den Grad des Ikonischen quantitativ zu bewerten, aufgrund der Multidimensionalität des Ikoni­ schen problematisch sind. Vgl. Morris, Charles W. (1971): »Signs, Language, and Behavior«. In: ders.: Writings on the General Theory of Signs. The Hague: Mouton, S. 73-398, hier insb. 273.; Eco, Umberto (1987): Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Übers. von Günter Memmert. München: Fink., insb. S. 204.; Nöth, Ikon und Ikonizität, S. 197.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 23

gelegt sein, doch das Ausmaß an Ähnlichkeit, insofern keine absolute Ähn­ lichkeit (Identität) vorherrscht, ist immer auch eine beigemessene. 28 Damit wird im Gegensatz zur Verwendung der Spiegelmetapher oder des Begriffs des Ikons nicht nur die grundsätzliche Ähnlichkeitsrelation fokussiert, son­ dern der aus dem Grad der Ähnlichkeit resultierende Grad der Abweichung als Bedeutungsebene der Mise en abyme rehabilitiert. Die Mise en abyme verhält sich gemäß White in einem doppelten Be­ zugsverhältnis. Der Grad an Ähnlichkeit und Abweichung be- oder entsteht nicht nur bezüglich des umgebenden, rahmenden Textes der Rahmung (en­ dophorische Ikonizität), sondern auch bezüglich einer extratextuellen Di­ mension (exophorische Ikonizität).29 Ikonizität bedeutet aus dieser Perspek­ tive nicht eine Bezeichnung eines individuellen Referenten, sondern vielmehr der Verweis auf ein generisches Objekt. Darin liegt gemäß White die Fähigkeit der Mise en abyme über das rahmende Werk hinaus auf die Welt hinter der Fiktion zu verweisen. 30 Scheint diese Perspektive geeignet, die Mise en abyme gegen Vorwürfe reiner Selbstreferenzialität, so ist es dennoch die endophorische Ikonizität, die die Mise en abyme bedingt. 28 Um ikonische Zeichen, bzw. die Validität der Kategorie des Ikonischen, rankt sich eine kontroverse Debatte. Insbesondere Ecos Ikonizitätskritik hat viel Aufmerksam­ keit erfahren. Seiner Position zufolge können selbst Spiegel keine ikonischen Zeichen produzieren, da ikonische Zeichen nicht durch eine spezifische Objektrelation cha­ rakterisiert seien, sondern vielmehr auf einem Verhältnis zwischen einem Bild und einem kulturell festgelegten Inhalt basieren. Die Produktion von Spiegelbildern unterliege keinen Konventionen, daher seien diese nicht unter der Kategorie des Iko­ nischen zu fassen. Nöth stellt die Positionen, die die Kategorie der ikonischen Zei­ chen allgemein für verzichtbar halten und ebenso diejenigen, die die Ikonizität gegen diese Kritik verteidigen, prägnant dar. Auf eine Darstellung der Debatte wird daher an dieser Stelle verzichtet. Vgl. Nöth, Ikon und Ikonizität, S. 196f. 29 Vgl. White, Semiotics of the mise-en-abyme, S. 40. Die Begriffe ›endophorisch‹ und ›exophorisch‹ sind Winfried Nöths Forschungen entliehen. Während exophorische (oder referenzielle) Ikonizität in Anlehnung an Jakobson eine Signifikant-SignifikatRelation beschreibt, betrifft endophorische Ikonizität eine Signifikant-SignifikantBeziehung. Für genaue Begriffsdefinitionen und eine eingehende Auseinanderset­ zung mit insbesondere endophorischer Ikonizität in Sprache, vgl. Nöth, Winfried (1999): »Peircean Semiotics in the Study of Iconicity in Language«. In: Transactions of the Charles S. Peirce Society, Vol. 35, No. 3 (Summer), S. 613-619, hier S. 614. 30 Vgl. White, Semiotics of the mise-en-abyme, S. 50.

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Diese endophorische Ikonizität beruht auf der Schnittmenge der durch die Mise en abyme und das rahmende Kunstwerk geteilten Qualitäten. Bal defi­ niert diese Schnittmenge, wie oben bereits zitiert, als »un aspect pertinent et continu du texte, du récit ou de l’histoire« und spezifiziert damit Dällen­ bachs Differenzierung der gespiegelten Objekte. Erscheint diese Spezifizie­ rung auch als rein definitorische Setzung, die insbesondere bezüglich der implizierten besonderen Relevanz nicht unproblematisch erscheint, ver­ deutlicht diese Definition in ihrer prinzipiellen Stoßrichtung doch eine Dif­ ferenz, die durch die ikonische Bezugnahme ermöglicht wird: Durch die Mise en abyme wird der kontinuierlichen Entwicklung, dem Verlauf des Diskurses, eine Bewegung der Verräumlichung entgegengesetzt. 31 Die suk­ zessive Entwicklung eines sich durch den Text ziehenden Elements wird in der ikonischen Bezugnahme, die texträumlich weit voneinander entfernte Elemente aufeinander bezieht, in Simultanität transformiert. Die innerfik­ tionale Transformation von der zeitlichen Dimension in eine räumlichtextuelle verweist darauf, dass die literarische Zeitlichkeit vielmehr eine Zeitlichkeit der Lektüre und der fiktiven Erzählsituation darstellt, die der Simultanität des Textes gegenübersteht.32 Damit ist in der Mise en abyme die Vergegenwärtigung der textuellen Struktur, der eigenen Materialität an­ gelegt – diese Vergegenwärtigung ist zunächst als eine rein perzeptive zu verstehen bzw. in der Terminologie Werner Wolfs als selbstreferenzielles Verweisen.33 Darüber hinaus kann jedoch eine semantische Dimension, ein

31 Vgl. auch Dällenbach, Le récit spéculaire S. 77f. und Dällenbach, Reflexivity and Reading, S. 442. 32 Zur Zeitlichkeit der Lektüre vgl. Dällenbach, Reflexivity and Reading, S. 439 und 442; bzgl. der Zeitlichkeit des Erzählens vgl. Scheffel, Metaisierungen in der literari­ schen Narration, S. 156. 33 Vgl. Wolf, Werner (2007): »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen. Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien«. In: Hauthal, Janine u.a. (Hgg.): Metaisierung in Lite­ ratur und anderen Medien. Berlin/New York: de Gruyter, S. 25-64, hier S. 32. Wolf ordnet in seiner Systematik literarischer Referenz in der Erzählkunst die Mise en abyme als Verfahren intratextueller, direkter Selbstreferenz mit nicht (dominant-) kognitivem Selbstbezug ein, da der Selbstbezug primär durch Ähnlichkeit hergestellt werde und damit auf einer Wahrnehmungsebene zu verorten sei. Kognitive Verfahren der Selbstreferenz bezeichnet er dagegen als Selbstreflexion. Vgl. Wolf, Formen lite­

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 25

kognitiver Verstehensprozess initiiert werden, der der Mise en abyme selbst- und metareflexives Potenzial verleiht – in Abgrenzung zum selbst­ referenziellen Verweisen, fasst Wolf diesen Aspekt unter dem Begriff des selbstreferenziellen Bedeutens.34 Bedeutet die Metareflexivität35, also die Reflexion des eigenen semioti­ schen Systems, einen die Werkgrenzen übertretenden Verweischarakter, ist damit schon eine Bewegung angelegt, die auch durch das nächste Kapitel in anderen Dimensionen ausgeleuchtet werden soll: Eine Bewegung des Ver­ webens, der Kontextualisierungen, durch die die werkimmanente Verweis­ struktur der Mise en abyme als nur eine, wenn auch zentrale, Facette ge­ kennzeichnet wird.

rarischer Selbstbezüglichkeit, S. 61f. und S. 77. Diese Arbeit folgt nicht stringent dieser begrifflichen Differenzierung. 34 Vgl. Wolf, Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen, S. 32f. Scheffel unterscheidet zwei Typen der Selbstreflexion in fiktionalen Erzähltypen: einerseits Selbstreflexion im Sinne von Betrachtung, die sowohl auf der Ebene des Erzählens als auch der des Erzählten möglich ist, andererseits Selbstreflexion im Sinne von Spiegelung, die auf die Ebene des Erzählten beschränkt ist. In Anlehnung an diese Differenzierung unterscheidet Wolf zwischen selbstreferenziellem Ver­ weisen und selbstreferenziellem Bedeuten. Im Unterschied zu Scheffel reserviert er den Begriff der Selbstreflexion für den Aspekt des Sich-selbst-Betrachtens und damit primär für den Aspekt des selbstreferenziellen Bedeutens. Die Grenze zwischen selbstreferenziellem Verweisen und Bedeuten sei jedoch fließend – denn das selbstre­ ferenzielle Bedeuten kann sich der Verfahren des selbstreferenziellen Verweisens bedienen, d.h. Selbstreflexion im Wolf’schen Sinne kann durch bspw. die Mise en abyme, als Verfahren selbstreferenziellen Verweisens, initiiert werden. Vgl. ebd., und Scheffel, Michael (1997): Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer, S. 53f. 35 Metareflexivität (bzw. Metareferenzialität oder Metamedialität, die gemäß Wolf alle als synonym zu begreifen sind und von ihm unter dem Begriff der Metareferenz gefasst werden) ist nach Wolf eine Sonderform der Selbstreflexivität, »bei der inner­ halb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen [...] über dieses System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden.« Wolf, Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen, S. 38.

26 | Der Abgrund im Spiegel

2.4

KONTEXTUALITÄT

In den bisherigen Ausführungen wurden die primären Charakteristika und Wirkungsweisen der Mise en abyme betrachtet, die zu ihrer Konstitution unmittelbar beitragen, bzw. diese bedingen. Im Folgenden soll der dahinter­ liegenden Mechanik Aufmerksamkeit geschenkt werden, d.h. der Art und Weise, wie Ähnlichkeit und Reflexivität entstehen und sich manifestieren. Dazu werden zwei Größen eingehend betrachtet, die in den bisherigen Aus­ führungen nur am Rande angesprochen wurden: diejenige des Kontexts sowie die damit verbundene Leistung der Lesenden. Der Fokus der Ausfüh­ rungen verschiebt sich damit auf Bereiche, die den prozesshaften Charakter der Mise en abyme bedingen und anhand derer zugleich aufgezeigt werden kann, inwiefern eine Interpretation der Mise en abyme als reine Selbstrefe­ renzialität zu kurz greift. Kontexte stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Mise en abyme, basiert diese doch auf der Betrachtung eines Kunstwerks im Kon­ text eines anderen. Die Mise en abyme ist als eine ästhetisch-autonome Einheit zugleich Teil des Kunstwerks, in das sie eingebettet ist. Sie befindet sich in Differenz zu einem Ganzen, das sie jedoch mit konstituiert – sie ist nicht nur Reflexionsfläche, sondern bedingt zugleich eine Tiefenstruktur, die bereits in einer einfachen Spiegelung eine Bewegung der Unendlichkeit potenziell beinhalten kann.36 Die Fokussierung der Mise en abyme hinsicht­ lich ihrer Einlagerung in ein anderes Werk rückt diese Tiefenstruktur wieder in das Zentrum der Betrachtung und verdeutlicht zugleich die Kom­ plexität des dadurch resultierenden Beziehungsverhältnisses. Corbineau-Hoffmann erschließt in ihrem Text zur Kontextualität als li­ teraturwissenschaftlicher Basiskategorie verschiedene Perspektiven auf den Begriff. Im Zusammenhang mit literarischen Mise en abyme scheint zu­ nächst ein Begriffsverständnis von Kontext ausreichend zu sein, das diesen als »die textinterne und die textexterne ›Umgebung‹ einer sprachlichen Äu­ ßerung«37 begreift. Kontexte steuern die Bedeutung einer Äußerung 38 – für 36 Vgl. White, Semiotics of the mise-en-abyme, S. 49. 37 Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 31. 38 Vgl. ebd.. Corbineau-Hoffmann spitzt diese Feststellung weiter zu: »Keine Bedeu­ tung ohne Kontext« (ebd., S. 32) schreibt sie, und verweist damit auf die bedeutungs­ determinierende bzw. sinnkonstituierende Funktion von Kontexten für sprachliche Äußerungen.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 27

das Verständnis sprachlicher Äußerungen sind also neben Kenntnissen der Grammatik, der Syntax und der Lexik einer Sprache, auch das Wissen um situative Bedingungen und wirksame kulturelle Kontexte notwendig. 39 Gemäß Aschenberg können diese Kontexte drei elementaren Kontexttypen zugeordnet werden: Der Sprechsituation, dem sprachlichen Kontext (Redebzw. Diskurskontext) sowie – ganz pauschal – dem Wissen.40 Im Unterschied zu mündlicher Kommunikation oder pragmatischen Texten sind literarische und insbesondere fiktionale Texte in der Regel si­ tuativen Kontexten41 enthoben.42 Literarische Texte entstehen, wie die meisten Fälle schriftlicher Kommunikation, nicht in einer konkreten Begeg­ nungssituation zwischen einem Sender und einem Empfänger, durch die die Bedeutung einer Nachricht bestimmt bzw. konkretisiert wird. Mehr noch, der Sender – der reale Autor/die reale Autorin – äußert sich nicht als er/sie selbst und adressiert auch keine spezifische (reale) Leserschaft. Doch mit einer solchen Negation der Funktionen des Senders und des Empfängers nicht genug: in der Fiktion wird der unmittelbare Referenzbezug jeglicher Äußerung zu einer außertextuellen Wirklichkeit explizit außer Kraft ge­ setzt.43 Diese Dekontextualisierung, dieser ›Mangel‹ an Kontexten, wird in 39 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 30. 40 Vgl. Aschenberg, Heidi (2001): »Sprechsituation und Kontext.« In: Haspelmath, Martin u.a. (Hgg.): Sprachtypologie und sprachliche Universalien. Ein internationales Handbuch, Bd. 1, Berlin/New York: de Gruyter, S. 435-444, hier S.442. Aschenberg arbeitet diese Typen als gemeinsame Schnittmenge der unterschiedlichen Ansätze der Kontextklassifikation heraus. Sie bezeichnet sie als elementare Typen, da sie sich in einer ontologischen Differenz zueinander verhalten und, obschon konstitutiv, nicht aufeinander rückführbar sind. Vgl. ebd. 41 Unter situativen Kontexten wird in diesem Zusammenhang die Einbindung einer sprachlichen Äußerung in bestimmte Situationen verstanden. Vgl. Corbineau-Hoff­ mann, Kontextualität, S. 199. Entsprechend interaktionaler Ansätze in der Soziolin­ guistik ist das Verhältnis zwischen sprachlichen Äußerungen und Situationen als ein dynamisches zu beschreiben – als ein reziprokes Verhältnis, in dem sprachliche Äußerungen und Situationen aufeinander einwirken. Vgl. Aschenberg, Sprechsitua­ tion und Kontext, S. 439. 42 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 253. Corbineau-Hoffmann weist zudem auf literarische Spielarten hin, die direkt oder indirekt in situationsgebundene Kon­ texte eingebunden sind, wie bspw. Epigramme oder Leichenreden. Vgl. ebd., S. 200. 43 Vgl. ebd., S. 253.

28 | Der Abgrund im Spiegel

literarischen Texten auf verschiedene Arten und Weisen kompensiert: Zum einen durch die eigentümliche Verbindung von Inhalts- und Ausdrucks­ ebene, die einander gegenseitig einen Kontext bilden, indem, wie Corbi­ neau-Hoffmann anfügt, »beide wechselseitig Sinn bildend wirken«. 44 Zum anderen durch den Lesenden/die Lesende, der/die in einem kreativen Akt die Signale des Textes zur Kontextualisierung erkennt und Kontexte an den Text anfügt.45 Insbesondere durch textuelle Unbestimmtheits- bzw. Leer­ stellen wird die Aktivität des/der Lesenden stimuliert, der/die diese weitge­ hend unbewusst und automatisiert füllt. 46 Diese Leerstellen wiederum sind doppelt durch Kontextualisierungen bestimmt: Wie Corbineau-Hoffmann feststellt, kann »das Erkennen und das Ausfüllen der Leerstellen [...] nur im Kontext (was das Erkennen anbelangt) und durch Kontextualisierung (im Hinblick auf das Ausfüllen) vollzogen werden.« 47 Diese Leistung des/der Lesenden beruht zum einen auf seinem/ihrem individuellen Wissen, sei­

Die Negation einer referenziellen Beziehung zur Wirklichkeit bezieht sich auf eine direkte Verweisstruktur und nicht auf eine vollkommene Loslösung. Umberto Eco spricht bzgl. fiktionaler Erzähltexte von einem »parasitären« Verhältnis, in dem sich die Fiktion zur Wirklichkeit befände. Unter einem parasitären Verhältnis versteht er dabei Folgendes: »alles, was im Text nicht ausdrücklich als verschieden von der wirklichen Welt erwähnt oder beschrieben wird, muß als übereinstimmend mit den Gesetzen und Bedingungen der wirklichen Welt verstanden werden« (Eco, Umberto (1996): Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Übers. von Burkhart Kroeber. 3. Aufl. München: dtv, S. 112; vgl. auch ebd. S. 124.) Verwendet Eco an dieser Stelle auch den Ausdruck »wirkliche Welt«, macht er doch zugleich deutlich, dass er ebendiese – unter Verweis auf Nelson Goodman und andere – als abhängig von Erfahrungen und Darstellungsweisen begreift (vgl. ebd. S. 118ff.). 44 Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 248. 45 Vgl. ebd., S. 211. 46 Vgl. Iser, Wolfgang (1976): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2. durchgesehene und verbesserte Auflage. München: Wilhelm Fink, S. 283f. und auch Dällenbach, Reflexivity and Reading, S. 438. Iser verwendet den Begriff der Leerstelle im Unterschied zur Unbestimmtheitsstelle »weniger als eine Bestim­ mungslücke des intentionalen Gegenstands bzw. der schematisierten Ansicht als viel­ mehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers« (ebd., S. 284.). 47 Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 218.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 29

nem/ihrem Reservoir an Kontexten,48 sowie seiner/ihrer Fähigkeit zur Ima­ gination, mithilfe derer er/sie eine kreative Verbindung zwischen den vom Text aufgerufenen und seinen/ihren selbst hinzugefügten Kontexten schafft.49 Er/sie erschafft damit auf der Grundlage des Textes eine eigene Welt – aus der Dekontextualisierung fiktionaler literarischer Texte resul­ tiert die Vieldeutigkeit der künstlerischen Zeichen, das reichhaltigere Sinn­ potenzial im Vergleich zu pragmatischen Texten, und damit letztendlich die Möglichkeit des/der Lesenden in einem kreativen Akt den Text zu re-kon­ textualisieren.50 Julia Kristeva fasst das Spannungsverhältnis zwischen Text, in seiner idealen poststrukturalistischen Vorstellung,51 und der konkreten Rekontex­ tualisierung und Realisierung im Akt der Lektüre, als eine spezifische Funktion des Textes auf, die sie durch den Begriff des Ideologems be­ 48 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 225. 49 Vgl. ebd., S. 225f. und 249. 50 Vgl. ebd., S. 257. Die Bedeutung und Rolle der Lesenden kann hier nur angerissen werden – für eine tiefergehende Betrachtung der Kontextualität im Zusammenhang rezeptionsästhetischer und hermeneutischer Ansätze vgl. ebd., S. 214-227. 51 Roland Barthes beschreibt Text zugleich als ein Gewebe, eine Textur, die sich aus ineinandergreifenden Signifikanten bildet und als eine Praxis, eine Produktivität in der Erstellung von Bedeutungen. Zentrales Charakteristikum, beziehungsweise kriti­ scher Wert eines solchen Textbegriffs ist daher ein »débordement signifiant« (Bar­ thes, Texte (théorie du), S. 1686), das in gewisser Weise das Potenzial der Signifi­ kanten kennzeichnet, die Produktion von Bedeutungen zu ermöglichen. Der Leser produziert während der Lektüre den Text, indem er Bezüge entdeckt und Bedeu­ tungen erstellend mit den Signifikanten zu spielen beginnt. Mit dem Leser ist bei Barthes jedoch nicht der empirische gemeint, sondern ein »Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.« (Bar­ thes, Roland (2000): »Der Tod des Autors.« In: Jannidis, Fotis u.a. (Hgg.): Texte zur Autorschaft. Stuttgart: Reclam Verlag, S. 185-193, hier S. 192.) Dem Textbegriff ist damit das Bewusstsein über die instabile Verbindung zwischen Signifikanten und Signifikaten eingeschrieben; Bedeutungen erscheinen in diesem Sinne nicht als eine feste, an Signifikante geknüpfte Größe, sondern vielmehr als vielschichtiges, dynami­ sches Prinzip. Im Prozess der Lektüre werden Bedeutungen produziert, die sich zugleich verschieben und verwandeln. Vgl. Barthes, Texte (théorie du), S. 1680ff. und S. 1686.

30 | Der Abgrund im Spiegel

schreibt. Es sei diese Funktion, »die während der Lektüre auf den verschie­ denen Ebenen einer jeden Textstruktur ›Gestalt annimmt‹, die den Text bei seiner Entfaltung begleitet und das sozio-historische Koordinatensystem liefert, in dem er entsteht.«52 Trotz der Einbeziehung kontextueller Fak­ toren, oder gerade auch durch diese, bleibt die fließende Struktur des Textes bestehen. Es ist das Bewusstsein um die zeitliche Gebundenheit und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Lektüre, das auf die prinzipielle Unabhängigkeit der Signifikanten verweist. Die durch kontextuelle Fak­ toren beeinflusste Lektüre wird als nur momentane Verfestigung der Sinn­ strukturen bzw. als eine bestimmte Lesart bezüglich des eigenen Kontextes wahrgenommen und anwendbar gemacht. Der Begriff des Ideologems be­ schreibt damit die Funktion des Textes, die das Spiel mit den Signifikaten ermöglicht, bei gleichzeitiger Bewusstwerdung über die dieses Spiel beein­ flussenden Faktoren. In den Worten Julia Kristevas: »Das Ideologem eines Textes ist der Brennpunkt, in welchem der erkennenden Ratio die Umformung der Aussagen (transformation des énoncés) (auf die der Text nicht reduziert werden kann) als Gesamtheit (als Text) erscheint, wobei auch die Einbet­ tung dieser Totalität in den historischen und gesellschaftlichen Text zutage tritt.« 53

Kristeva trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Lektüre in einem spezifischen sozio-historischen, kulturellen Umfeld stattfindet und durch individuelle Parameter wie auch überindividuelle geprägt wird. Die Ver­ flechtung von Text und Kontext in der individuellen Lektüre ist jedoch nicht als reine Leistung eines/einer Lesenden zu verstehen, da Kontexte auch vom Text selbst produziert bzw. evoziert werden.54 Unter Bezug­ nahme auf Foucault geht Corbineau-Hoffmann dem Zusammenspiel von

52 Kristeva, Julia (1977): »Der geschlossene Text«. In: Zima, Peter V. (Hg.): Textse­ miotik als Ideologiekritik. Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp, S. 194-229, hier S. 195. 53 Ebd. 54 Vgl. Aschenberg, Sprechsituation und Kontext, S. 437. Aschenberg verweist unter Bezugnahme auf Georg Kleibers Konzeption von Kontexten darauf, dass Kontexte nicht den Sinn einer Äußerung festlegen, sondern vielmehr ebendiese Äußerung auf Kontexte verweise bzw. vorgebe »welches kontextuelle Modell zu wählen sei« (ebd.).

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 31

Literatur, Kontexten und Diskursen nach. 55 Verweisen fiktionale literari­ sche Texte zwar nicht direkt auf eine außertextuelle Wirklichkeit, so sind sie dennoch in ihr verankert. Diskurse – im Sinne Foucaults 56 – können als Kontexte in literarische Texte eingehen; sie bewegen sich zu ihnen jedoch immer in einem Differenzverhältnis, da Literatur gemäß Foucaults Darle­ gungen keinen festgelegten Diskursregeln folgt.57 Damit befindet sich die Literatur außerhalb der Grenzen des Diskurses – außerhalb dessen Restrik­ tionen bezüglich des Sagbaren – und ist doch zugleich mit ihm verwoben. In diesem Spannungsverhältnis scheint die Möglichkeit der Literatur be­ griffen, auf Diskurse einzuwirken und deren Grenzen zu verschieben. Neben diesen vornehmlich extratextuellen Kontexten gilt es im Fol­ genden sprachlich-textuelle Kontexte bezüglich ihrer spezifischen Wir­ kungsweise in literarischen Texten zu konkretisieren und zu differenzieren. Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive definiert Danneberg Kon­ text als »[d]ie Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Be­ züge.«58 Kontext wird dabei als ein »zumindest dreigliedriger relationaler

55 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 163-178. 56 Der Diskursbegriff fasst gemäß Foucault »Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« (Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 74). Auf der Ebene der sozialen Ordnung sind dies Meinungen und Äußerungen, die bestimmten, für den jeweiligen Diskurs spezifischen Regeln unterliegen. Durch dem Diskurs inhärente, interne Strukturen wird bestimmt, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit sagbar ist und was nicht, wie man sich und die Wirklichkeit zu einer jeweiligen Zeit ver ­ ständlich machen kann und wer dazu jeweils autorisiert ist. Jeder Diskurs kann dabei, entsprechend der geschichtlichen Formation, eigene Wahrheiten und Werte etablieren (vgl. Ruoff, Michael (2009): Foucault-Lexikon. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 92). Die Inhalte eines Diskurses konstituieren sich in verschiedenen diskursiven Prak­ tiken, also Handlungsweisen, Institutionen und dem alltäglichen Verhalten, und kon­ struieren dadurch soziale Wirklichkeit. 57 Vgl. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. 22. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 76; Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 164. 58 Danneberg, Lutz (2000): »Kontext«. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deut­ schen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Litera­ turgeschichte. Bd. 2, 3. neubearb. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter, S. 333-337, hier S.333.

32 | Der Abgrund im Spiegel

Ausdruck«59 verstanden, durch den zwischen zwei Elementen hinsichtlich eines dritten eine Verbindung geschaffen werde (»A ist Kontext für B in Hinsicht auf C«60). Dabei unterscheidet Danneberg, entsprechend dem Ver­ hältnis zwischen dem betrachteten Ausdruck und dem kontextualisierenden Element, vier verschiedene Arten der literarischen Kontexte: Sowohl der intra- als auch der infratextuelle Kontext beschreiben ein Verhältnis zwi­ schen zwei Texteinheiten desselben Textes, wobei der intratextuelle Kon­ text (auch Kotext genannt) auf die Verbindung zwischen zwei spezifischen Textstellen verweist, während der infratextuelle Kontext den gesamten Text als Kontext einer Passage fasst. Neben den grammatischen und syntakti­ schen Kontexten, die die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung unmit­ telbar beeinflussen, sind damit auch weiter gefasste Verbindungen zwi­ schen Äußerungen abgebildet. Innerhalb eines Textes können auch weiter voneinander entfernt liegende Textteile als Kontexte einer Äußerung dienen und so deren Bedeutung steuern. Im Gegensatz dazu wird durch den inter- und den extratextuellen Kontext ein Verhältnis zu Elementen be­ schrieben, die außerhalb des betrachteten Werks liegen: Diese können zum einen andere Texte sein (intertextueller Kontext) oder aber auch nicht-tex­ tuelle Phänomene (extratextueller Kontext).61 Der Prozess, durch den ein Element für ein anderes zum Kontext wird, beruht auf einem Prinzip der gleichzeitigen Analogie und Differenz zwischen dem betrachteten Element und den möglichen Kontexten. Erst durch eine Analogie tritt ein Element zu einem anderen in ein Verhältnis, erst durch eine elementare Differenz wird die Kontextualisierung sinnstiftend.62 Betreffen die vorhergehenden Darlegungen Kontextualisierungen in li­ terarischen Texten im Allgemeinen, sollen im Folgenden diese Erkennt­ nisse auf die Betrachtung der Mise en abyme rückbezogen werden. Als Phänomen einer Einlagerung, als künstlerisch eigenständiges Textelement in einem literarischen Text, gelten für die Mise en abyme nicht nur die für literarische Texte allgemein wirksamen Kontextualitätsmechanismen: Der Mise en abyme ist fiktional ein weiterer Kontext unmittelbar gegeben – ein Kontext, der dem rahmenden Kunstwerk in dieser Art und Weise fehlt. Durch die Einlagerung wird der rahmende Text in seiner Gesamtheit zur 59 Danneberg, Kontext, S. 333. 60 Ebd. 61 Vgl. ebd., S. 333f. 62 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 37f., 62, 81 und 225.

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 33

Folie für den eingelagerten Text; er bildet dessen unmittelbaren Kontext. Der textinterne – oder spezifischer: der infratextuelle – Kontext wird fik­ tional zu einem textexternen, einer Art möglichem situativen Kontext, der die Bedeutung des eingelagerten Kunstwerks steuert. Die fiktionale Welt des rahmenden Textes legt in gewisser Weise die Bedingungen der Rezep­ tion in diesem spezifischen Zusammenhang fest. Damit erscheint die Mise en abyme als eine werkimmanente Inszenierung von sowohl extratextuellen als auch intertextuellen Kontextualisierungen. Das zunächst nur durch die Definition begründete Ähnlichkeitsver­ hältnis zwischen rahmendem und eingelagertem Kunstwerk, kann durch die Kategorie der Kontextualisierungen neu perspektiviert werden. Die Ähn­ lichkeit erscheint nun nicht mehr primär als statische Größe, die intentional angelegt ist, sondern vielmehr als ein Resultat der reziproken Kontextbil­ dung von Rahmung und Mise en abyme. Textuelle Signale erscheinen in dieser Betrachtungsweise nur einen Prozess zu initiieren, der im Akt der Lektüre durch die Lesenden vollzogen wird. Wirken rahmendes und einge­ lagertes Kunstwerk einander gegenseitig als Kontext, ergibt sich für beide eine Bedeutungslenkung hinsichtlich des jeweils anderen. Das Ausmaß der Ähnlichkeit liegt somit in der Fähigkeit des/der Lesenden begründet, Kon­ texte als bedeutungslenkende Elemente zu erkennen und einzusetzen. Die dem diskursiven Verlauf der Erzählung folgende Lektüre erschafft und be­ stimmt in wesentlichen Teilen den Grad der Ähnlichkeit zwischen dem ein­ gelagerten und dem rahmenden Kunstwerk, indem die Rezeption des einen hinsichtlich des anderen erfolgt. Führt eine solche Lenkung der Rezeption auch in gewissen Aspekten zu einer Reduktion der Vieldeutigkeit der litera­ rischen Zeichen,63 indem Leerstellen des Textes durch die unmittelbare Kontextualisierung gefüllt werden, so wird durch die Verknüpfung der Textelemente im selben Moment weiteres Bedeutungspotenzial hinzuge­ fügt. Obschon die Ähnlichkeitsstruktur eine graduelle thematische Verein­ heitlichung der rahmenden Erzählung erzeugt, wird im gleichen Zug durch

63 Dällenbach verweist in diesem Zusammenhang auf den Modellcharakter, den eine Mise en abyme bzgl. des rahmenden Kunstwerks innehaben kann. Als eine Miniatur, die als Modell das ›größere‹ Kunstwerk abbildet, stellt die Mise en abyme in dieser Funktion eine Reduktion dar, die lediglich die als wesentlich angesehenen Aspekte des umgebenden Textes bündelt. Vgl. Dällenbach, Reflexivity and Reading, S. 442.

34 | Der Abgrund im Spiegel

die mit der Ähnlichkeit korrelierende Differenzstruktur die Polysemie wieder eingeholt.64 Beklagt Corbineau-Hoffmann, dass sich die Kontextualisierung durch den Lesenden – im Sinne einer Verknüpfung zwischen dem Gelesenen und der eigenen Lebensrealität – dem Zugriff der (Literatur-)Wissenschaft ent­ zöge,65 kann auf dieses Ineinanderwirken durch die Betrachtung der Mise en abyme und der werkintern angelegten Kontextualisierungen potenziell ein wenig Licht geworfen werden. Geht man davon aus, dass die Lebens­ realitäten der Rezipierenden Konstruktionsmechanismen unterliegen, die durch diverse Kontextualisierungen gesteuert werden,66 verweben sich Kunst und Lebensrealität im Akt der Rezeption. In einem reziproken Ver­ 64 Dällenbach führt in seiner Untersuchung Reflexivity and Reading aus, dass die Mise en abyme nicht nur zum Füllen von Leerstellen geeignet sei, sondern auch dazu, Leerstellen zu produzieren. Durch die selbstreflexive Charakteristik der Mise en abyme würde das Lesen selbst problematisiert. Im Akt der Rezeption könne die Mise en abyme entsprechend der rahmenden Erzählung verschiedenen Zwecken dienen: »only a perforated text lends itself to reading. [...] [T]he ambigous tool, mise en abyme, permits us to fill in ›blanks‹ when abundant, form them when scarce, or hollow them out by filling them. [...] [R]ebalancing is achieved by inverting the reception programmed into the initial narrative.« (Ebd., S. 445.) 65 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Kontextualität, S. 211. 66 Eine dezidierte Thematisierung relativistischer bzw. konstruktivistischer Positionen erscheint für den Kontext dieser Arbeit weder notwendig, noch weiterführend. Es sei daher an dieser Stelle auf Wolfgang Welschs »Verteidigung des Relativismus« ver­ wiesen, der übersichtlich und prägnant relativistische Positionen kultur- und philoso­ phiegeschichtlich verortet und argumentiert. Aufbauend auf der elementaren kon­ struktivistischen Idee, dass es keine deutungsunabhängige Wirklichkeit gäbe bzw. ein unmittelbarer Bezug auf eine solche Wirklichkeit unmöglich ist, werden wir alle zu ›Welterzeugern‹ im Sinne Nelson Goodmans (vgl. Goodman, Nelson (1990): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp). Die Konstruktion erfolgt jedoch nicht rein individuell, sondern in Relation zu einem kulturellen Bezugssystem. Zusammenfassend formuliert Welsch: »Die logische Struktur des Relativismus beruht auf zwei Pfeilern: auf der Relativität aller Aussagen bzw. Handlungen im Ver­ hältnis zu einem bestimmten Rahmen und auf der Unmöglichkeit eines überlegenen Metastandpunkts.« (Welsch, Wolfgang (2000): »Verteidigung des Relativismus«. In: Fischer, Hans R./Schmidt, Siegfried J. (Hgg.): Wirklichkeit und Welterzeugung. In memoriam Nelson Goodman. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, S. 29-50, hier S. 40).

Theoretische Vorüberlegungen zur Mise en abyme | 35

hältnis werden sich Lebensrealität und Kunst gegenseitig zum Kontext. Diese gegenseitige Beeinflussung und Steuerung scheint in der Einbettung einer Mise en abyme in ein Kunstwerk metaphorisch gespiegelt. Insbeson­ dere jene Formen der Mise en abyme, die in fiktionalen Welten als Kunst­ werke angelegt sind, können diesen Zusammenhang beleuchten, indem ihnen gewissermaßen Vehikel – in Form von Kunstrezipierenden oder -pro­ duzierenden – zugeordnet sind, deren Interaktion mit der Mise en abyme analysiert werden kann.

3 Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte

3.1

EINLEITENDES 1

Michael Endes Die Unendliche Geschichte erschien erstmals 1979 und hat sich seitdem zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur ent­ wickelt.2 Erzählt wird die Geschichte von Bastian Baltharsar Bux, einem etwa elfjährigen Jungen, der sich als sozialer Außenseiter in die Welt der Geschichten und Bücher flüchtet. Mit seinem Eintritt in das Antiquariat von Karl Konrad Koreander beginnt die wundersame Geschichte: Von einem Buch wie von einer unbekannten Kraft angezogen, wird er zum Diebstahl verleitet. Das Buch trägt den Titel Die Unendliche Geschichte und er­ scheint Bastian wie das Buch seiner Wünsche, ein Buch, das nie zu Ende geht. Im Bewusstsein um die begangene Straftat, entscheidet er sich zu fliehen: Auf den Dachboden seiner Schule, wo er ungestört zu lesen be­ ginnt und in die im Buch geschilderte Welt, die Welt Phantásiens, ein­ taucht. Während die Geschehnisse um Bastian in roter Schriftfarbe abge­ druckt sind, ist die Geschichte Phantásiens in grüner Schriftfarbe in das Buch eingelassen, sodass die Lesenden simultan mit Bastian die Geschichte 1

Dieser Arbeit liegt die Originalausgabe von 1979 zugrunde. Aus Gründen der Ver­ einfachung werden Quellenangaben, die sich auf diesen Text beziehen, in den Fließ­ text eingearbeitet.

2

Auf die Problematik, Die unendliche Geschichte als Kinder- und Jugendbuch zu klas­ sifizieren weist unter anderen auch Carola Fuchs hin. Vgl. Fuchs, Carola (2012): Die Mise en abyme im Werk Michael Endes. Dresden: Neisse, S. 8 und 51. Die literatur­ wissenschaftliche Forschung hat sich dem Text dennoch beinahe ausschließlich im Kontext dieser Kategorisierung gewidmet.

38 | Der Abgrund im Spiegel

rezipieren.3 Geschildert wird eine phantastische Welt – eine Welt die je­ doch von der Auslöschung durch ein rätselhaftes Nichts bedroht wird. Un­ zweifelhaft erscheint einzig, dass diese Bedrohung mit der nicht minder rät­ selhaften Krankheit der Kindlichen Kaiserin, der Herrscherin über ganz Phantásien, zusammenhängt. Atréju, ein Junge in etwa in Bastians Alter, wird mit der Mission betraut, die Ursache der Erkrankung und ein Heil­ mittel zu finden und damit ganz Phantásien zu retten. Die beiden handlungsrelevanten Ebenen der Unendlichen Geschichte, die fiktiv-reale Welt Bastians und die fiktiv-phantastische Welt Phantá­ siens, erfahren im Laufe der Geschichte punktuelle Durchbrechungen, es zeichnet sich ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis der beiden Ebenen ab. Die Kindliche Kaiserin kann nur aus der Welt Bastians Heilung er­ warten, durch eine/n Lesenden, der/die ihr einen neuen Namen gibt. In einem dramatischen Höhepunkt zwingt die Kindliche Kaiserin Bastian zur Hilfe: Sie sucht den Alten vom Wandernden Berge auf, den Chronisten Phantásiens, der alles was geschieht in ein Buch schreibt – ein Buch, das demjenigen exakt gleicht, das Bastian im Antiquariat gestohlen hat. Die Kindliche Kaiserin überredet den Alten, die Geschichte Phantásiens, die er in seinem Buch festgehalten hat, zu erzählen und damit erneut zu schreiben – und initiiert damit eine unendliche Wiederholungsschleife, in der auch Bastian gefangen ist. Denn der Alte beginnt die Geschichte nicht in der grauen Vorzeit Phantásiens, sondern vielmehr mit Bastians Eintritt in das Antiquariat und endet – ohne Ende, gewissermaßen – mit dem Beginn der Wiedererzählung der gesamten Geschichte. Ein Prozess der unendlichen Wiederholung scheint in Gang gesetzt, bis Bastian schließlich den neuen Namen der Kindlichen Kaiserin – Mondenkind – herausschreit und damit in die fiktionale Welt der Binnenerzählung eintritt. Doch diese Welt exis­ tiert nicht mehr – vielmehr muss und kann Bastian sie nach eigenen Wün­ schen, nach seinem wahren Willen, neu erschaffen. Doch die Aufgabe ist keine einfache. Die Wirkungen seiner Wünsche, die letzten Konsequenzen, kann er nicht antizipieren. Atréju und der Glücksdrache Fuchur stehen ihm als Freunde beratend zur Seite, doch Bastian erliegt der Hybris, berauscht 3

Leider können in dieser Arbeit die Zitate nicht in den unterschiedlichen Schriftfarben wiedergegeben werden. Um die Unterscheidung auf andere Art zu markieren, werden alle in grün gedruckten Passagen mit einer Punktlinie unterzeichnet, auch wenn dies den Effekt, der durch die unterschiedlichen Schriftfarben erzeugt wird, nur unzurei­ chend wiedergibt.

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 39

sich an seiner Macht und verliert mit jedem Wunsch ein Stückchen seiner Erinnerungen, ein Stückchen seines Selbst. Die Rückkehr in seine Welt ist schließlich der einzige Wunsch für den er noch ein Stückchen seines alten Selbst übrig hat. Mit Atréjus und Fuchurs Hilfe findet er schließlich eine Möglichkeit zur Rückkehr. Doch er ist nun ein anderer – er ist selbstsi­ cherer und findet einen Weg sich selbst zu helfen. Er kittet die Beziehung zu seinem Vater, der nach dem Tod von Bastians Mutter vergessen zu haben schien, dass er einen Sohn hat, der ihn braucht.

3.2

DAS BUCH IM BUCH IM BUCH

Die unendliche Wiederholungsschleife kann wohl als zentrale Mise en abyme der Unendlichen Geschichte bezeichnet werden. Sie baut jedoch auf einem Fundament von Einlagerungen und Spiegelungsverfahren auf, die zunächst lediglich kurios wirken und erst im Fortlauf der Geschichte retro­ spektiv ihr ganzes, verunsicherndes Potenzial entwickeln. Diese Spiege­ lungen sind in die Geschichte verwoben, sie durchziehen den Text und of­ fenbaren die Spiegelung selbst als zentrales Kompositionselement des Textes und damit als jenen »aspect pertinent et continu«, den Bal als Zei­ chenobjekt der Mise en abyme einfordert. Daher soll zunächst diesen Spie­ gelungen Aufmerksamkeit gewidmet werden – nicht nur zur Untermaue­ rung der zentralen Mise en abyme, sondern auch um die Komplexität literarischer Spiegelungen im Allgemeinen zu verdeutlichen. Schon der erste Blick in den Text konfrontiert die Lesenden mit spie­ gelverkehrten Lettern, die den Text eröffnen und prophetisch die noch kommenden Spiegelungsphänomene vorausdeuten. Es ist die Aufschrift auf der Ladentür des Antiquariats, die bereits auf die metaphorische Dimension von literarischen Spiegeln und Spiegelungen verweist, indem der Effekt op­ tischer Spiegel auf Schriftzeichen demonstriert wird. Die optische Spiege­ lung erweist sich als unzulänglich für den Bereich der Literatur – mehr noch, auf scheinbar kindlich naive Weise wird die Unmöglichkeit einer un­ mittelbaren literarischen Spiegelungserfahrung vorgeführt, indem die ge­ spiegelten Schriftzeichen zu einem primär graphischen Zeichen werden. Die Graphik stellt ein ikonisches Zeichen der Aufschrift auf der Ladentür vor, ein kongruentes Abbild, das erst durch die Lesenden als ›verkehrt‹

40 | Der Abgrund im Spiegel

wahrgenommen wird, indem die erwartete Lesbarkeit gestört wird. 4 In der Störung der Lesbarkeit liegt jedoch zugleich die Möglichkeit, Literatur in ihrer visuellen Qualität wahrzunehmen: Die Buchstaben werden in ihrer spiegelbildlichen Verkehrung nicht nur als verweisendes Zeichen, sondern als Zeichenträger selbst sichtbar. Durch den Verlust ihrer bezeichnenden Funktion dienen sie nicht mehr als Kanal, der »den Durchlauf von Informa­ tion erlaubt«5, wie Eco es in Bezug auf Spiegel, die er gleichsam als Kanäle charakterisiert, beschreibt. Die Buchstaben werden für einen Moment opak und ermöglichen so die Wahrnehmung ihrer visuellen Gestalt. 6 Dergestalt für die Eigentümlichkeit literarischer Spiegel sensibilisiert, die sich gewisse qualitative Merkmale mit ihren optischen Pendants teilen, werden die Lesenden unmittelbar nach Bastians Eintritt in das Antiquariat mit einer ersten Mise en abyme konfrontiert: dem Buch im Buch. Dieses Buch entspricht in Titel sowie in seiner haptischen und optischen Erschei­ nung ebenjenem, das die Lesenden selbst in Händen halten. 7 Die entspre­ chende Textstelle zeigt zugleich einige Abweichungen in der Typographie und im Satz, wie die in Abbildung 2 wiedergegebene Passage zeigt.

4

Eco verdeutlicht in seinen Überlegungen zu Spiegeln und Spiegelbildern, dass die spiegelbildliche Verkehrung Resultat der Wahrnehmung der Betrachtenden ist. Das Spiegelbild selbst sei ein absolut kongruentes Abbild des Gespiegelten. Vgl. Eco, Über Spiegel, S. 30 und S. 32.

5

Ebd., S. 35.

6

Der Verlust des Informationsgehalts wird insbesondere in der werkimmanenten ›Widerspiegelung‹ dieser Passage deutlich – sprich in der Wiedererzählung der Unendlichen Geschichte durch den Alten vom Wandernden Berge, die Bastian nun­ mehr akustisch wahrnimmt. Die erzählerische Umsetzung der spiegelverkehrten Let­ tern wird für Bastian zu der vollkommen unverständlichen Äußerung »Tairauqitna rednaerok darnok lrak rebahni« (S. 187), da die im Grunde unsagbaren spiegelver­ kehrten Buchstaben nicht als Wörter, sondern als einzelne Elemente in schriftliche Zeichen retransformiert werden.

7

Die Gleichheit der beiden Bücher ist zumindest in der Originalausgabe von 1979 gewährleistet.

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 41

Abbildung 2: Auszug aus Michael Endes Die Unendliche Geschichte, S. 10

Die typographische Abweichung des Titels und die vom Blocksatz abwei­ chende, zentrierte Formatierung verleihen diesem die Qualität eines graphi­ schen Zeichens, das nicht nur die Entsprechung zwischen Bastians Band und desjenigen der Lesenden betont, sondern die Existenz des fiktionalen Buches zu beglaubigen sucht. Es simuliert insofern die Eigenschaft von op­ tischen Spiegeln, als Garanten für die Existenz und gegenwärtige Anwesen­ heit eines Objekts zu wirken.8 Der Titel, der das Buch repräsentiert bzw. als Eigenname denotiert, wird durch die spezifische Typographie zum Stellver­ treter für das Buch in seiner materiellen Qualität. Die Signalwirkung der Titelidentität erfährt durch die Abweichung der Typographie und der For­ matierung eine Unterstützung, die sich insbesondere in der mehrfachen Wiederholung des Zeichens manifestiert. Unmittelbar bevor Bastian die Lektüre beginnt, wird erneut der Titel des Buches grafisch inszeniert und damit das Buch in seiner materiellen Dimension betont (vgl. Abbildung 3). Im Unterschied zu der in Abbildung 2 wiedergegebenen Textstelle hebt sich der Titel durch grüne Schriftfarbe vom umgebenden, rot gedruckten Text ab und begründet damit nicht nur eine Wiederholungsstruktur, son­ dern zugleich eine Abweichung. Die grüne Schriftfarbe, die den Gescheh­ nissen der fiktiv-phantastischen Welt vorbehalten ist, scheint hier als Indi­ kator zu fungieren, die im Buch erzählte fiktionale Welt von der materiel­ len Präsenz des Buches zu unterscheiden. In dem Zusammenspiel von Ty­ pographie und Schriftfarbe werden hier das Buch und die erzählte Welt als eine Einheit vorgestellt und doch zugleich als verschiedene markiert.

8

Vgl. Eco, Über Spiegel, S. 46.

42 | Der Abgrund im Spiegel

Abbildung 3: Auszug aus Michael Endes Die Unendliche Geschichte, S. 16

Der in grüner Farbe gesetzte Titel verweist an dieser Stelle schon pro­ spektiv auf jenes andere Buch, das – wie die minutiöse Beschreibung des Erzählers erkennen lässt – ebenfalls jenen gleicht, die die Lesenden und Bastian in Händen halten: Das Buch des Alten vom Wandernden Berge, das Buch im Buch im Buch. Auch dieses Buch wird durch die spezifische Typographie und die vom Blocksatz abweichende Formatierung als ein ma­ terielles Objekt ins Auge gefasst (vgl. 183). Die Unterscheidung zwischen dem Buch als dinglichem Objekt der fiktiv-realen Erzählebene und der darin enthaltenen erzählten Welt erscheint mit diesem nochmaligen Vor­ kommnis zugleich bestätigt wie unhaltbar. Auch hier verweist die grüne Schriftfarbe auf die Welt hinter den Buchstaben. Damit wird die Konstruk­ tion des Buches im Buch im Buch, die immer wiederkehrende und nur in Details abweichende Beschreibung dieser unterschiedlichen und doch op­ tisch gleichen Bücher ergänzt durch die Spiegelungen der erzählten Welten, die im nächsten Kapitel betrachtet werden sollen. Materielles Objekt und erzählte Welt eröffnen unterschiedliche Dimen­ sionen der Mise en abyme, die zugleich als verschiedene und als dieselben gezeigt werden. Die Unendliche Geschichte inszeniert dieses Ineinander­ greifen von Schrift und erzählter Welt und verweist damit auf die Untrenn­ barkeit der Ebenen der Signifikate und Signifikanten in der Literatur. Das Eintauchen in die fiktionale Welt im Akt der Rezeption ist ein Blick durch die Buchstaben und Wörter hindurch, die diese Welt formen und struktu­ rieren, ohne in ihrer eigenen Materialität und ihrer eigenen Regelhaftigkeit wahrgenommen zu werden. Verdeutlichen, wie oben erwähnt, die gespie­ gelten Buchstaben der Anfangsgraphik diesen Zusammenhang, so wird auch im Text selbst durch primär visuelle Elemente die Aufmerksamkeit auf das Buch als physisches Objekt zurückgelenkt. Jedem Kapitel ist eine seitenfüllende und mit Illustrationen versehene Initiale des jeweils ersten Wortes vorangestellt – diese Initialen umfassen alle Buchstaben des lateini­ schen Alphabets in alphabetischer Reihenfolge. Ersetzt diese Anordnung

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 43

die Durchnummerierung der Kapitel, so verdeutlicht diese alphabetische Reihenfolge zugleich die Dominanz der Buchstaben bei der Formung der einzelnen Kapitelanfänge. Anhand der Kapitelanfänge wird damit die Strukturierung der Signifikate durch die Signifikanten spielerisch und in­ tuitiv nachvollziehbar vorgeführt. Gleichzeitig impliziert das Alphabet ge­ radezu sprichwörtlich Vollständigkeit und damit Anfang und Ende. Diese Gegensätzlichkeit von Unendlichkeit und klarer Begrenzung bildet ein Pa­ radox, das durch Titel und Untertitel des Romans abgebildet wird: Die Un­ endliche Geschichte. Von A bis Z mit Buchstaben und Bildern von Ros­ witha Quadflieg. Der Roman, bestehend aus nur 26 Buchstaben, die in verschiedenen Reihenfolgen und Kombinationen auf Papier gedruckt sind, das Buch in seiner materiellen Dimension, ist begrenzt und linear.9 Die Be­ deutungen der Wörter, die Welt hinter den Buchstaben verhält sich anders: So muss Atréju, der Protagonist der Binnengeschichte, sich von den eher starken als gebildeten Windriesen fragen lassen »Wer bist denn du, der du […] nicht weißt, daß Phantásien grenzenlos ist?« (126).

3.3

DIE WELT IN DER WELT IN DER WELT

Die Konstruktion eines Buches im Buch im Buch, die alle gleichartig er­ scheinen und lediglich aufgrund der verschiedenen Schriftfarben ein Irrita­ tionsmoment für die Lesenden beinhalten,10 wird durch die Entfaltung der darin jeweils entwickelten Welten in eine zugleich abyssische als auch pa­ radoxe Struktur überführt. Das Buch des Alten vom Wandernden Berge – 9

Explizit zeigt sich dieser Zusammenhang im »Beliebigkeitsspiel« in der Alte Kaiser Stadt: Dort werden von den Menschen, die in Phántasien ihr Selbst vollkommen ver­ loren haben, zum Zeitvertreib Buchstaben gewürfelt. Die Buchstabenreihen sind voll­ kommen zufällig und nur selten bildet sich aus den Buchstaben ein Wort. »Wenn du [Bastian, Anm. Ch. G.] einmal nachdenkst, dann mußt du zugeben, daß alle Geschichten der Welt im Grunde nur aus sechsundzwanzig Buchstaben bestehen. Die Buchstaben sind immer die gleichen, bloß ihre Zusammensetzung wechselt.« (S. 367)

10 Bastian beschreibt die unterschiedlichen Schriftfarben in seinem Exemplar der Unendlichen Geschichte. Da diese in Endes Roman die Ebenen der Rahmen- und der Binnenerzählung visualisieren, stellt eine Differenzierung der Schriftfarben in Bas­ tians Buch – eine Übereinstimmung mit Endes Roman unterstellt – eine unmögliche Verschlingung der Erzählebenen dar.

44 | Der Abgrund im Spiegel

das Buch, das innerhalb der Binnenerzählung, innerhalb der fiktionalen Welt Phantásiens geschrieben wird – wird rückgekoppelt an das Buch, das Bastian liest und mehr noch an das Buch, das die Lesenden in den Händen halten. Die Lesenden folgen einer im Entstehen begriffenen Erzählung und werden dabei mit der Inszenierung der literarischen Kommunikations­ struktur konfrontiert: Erscheinen die ineinander eingelagerten Bücher zu­ nächst als abgeschlossene, dingliche Objekte, so werden sie durch die Ein­ führung des Alten vom Wandernden Berge rückwirkend ebenfalls zu prozessualen, zu gerade im Entstehen begriffenen, transformiert. In der Figur des Alten vom Wandernden Berge scheint die körperlose Erzählin­ stanz personifiziert, der in der Kindlichen Kaiserin der personifizierten Fik­ tion, der personifizierten Diegese, begegnet.11 Doch scheint der Alte mittels des von Genette verfassten Modells der Struktur narrativer Texte und der von ihm verwendeten Terminologie kaum zu fassen.12 Im Verlauf der Er­ zählung verschiebt sich seine Position und führt zu einer scheinbar unmög­ lichen Verschlingung. Wirkt er zunächst als intradiegetischer heterodiegeti­ scher Erzähler, der die Welt Phantásiens für Lesende der fiktiv-realen Welt Bastians vermittelt,13 wird er durch die Begegnung mit der Kindlichen Kai­ 11 Die Kindliche Kaiserin wird in der Forschung oftmals als Personifizierung der Phan­ tasie oder des ewig Kindlichen interpretiert. Vgl. Müller, Linda (2013): Einmal Phantásien und zurück. Michael Endes Unendliche Geschichte. Hintergründe, litera­ rische Einflüsse und Realitätsbezüge. Studien zu Literatur und Film der Gegenwart, Bd. 6. Marbach: Tectum, S. 58. Zweifelsohne haben derartige Interpretationen ihre Berechtigung. Allerdings erscheint mir der Aspekt ihrer spezifischen Macht weitaus prägnanter: Die Macht der Kindlichen Kaiserin erscheint nicht als kreative, schöpfe­ rische Macht – dies ist eine Macht, für die sie der Kraft eines Menschenkindes bedarf – sondern vielmehr als eine, die aus der Imagination Wirklichkeit werden lässt, die ausbaut und konkretisiert. 12 Vgl. Genette, Gérard (1994): Die Erzählung. Übers. von Andreas Knop. München: Fink, insb. S. 174f. und 249f. 13 Der Erzähler Phantásiens erscheint zunächst eindeutig außerhalb der Binnenerzäh­ lung verortet. Als Beispiele können seine Beschreibung des Vehikels des Felsen­ beißers mittels Vergleichen zu Fahrrädern und Dampfwalzen (S. 20) dienen, oder auch die Versammlung der Ärzte im Elfenbeinturm: »Nun darf man sich eine solche Versammlung natürlich nicht so vorstellen wie einen menschlichen Ärztekongreß. Zwar gab es in Phantásien sehr viele Wesen, die in ihrer äußeren Gestalt mehr oder

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serin zum ungewollt metadiegetischen homodiegetischen Erzähler. Durch den Beginn der Wiederholungsschleife erscheint seine Position retrospektiv als eine extradiegetische, die Bastians Welt sowie die Welt Phantásiens ver­ mittelt, obschon er zugleich eine Figur der metadiegetischen Ebene bleibt. Obwohl er als literarische Figur einen Namen und ein äußeres Erschei­ nungsbild erhält, bleibt er dennoch mehr eine Funktion denn eine Figur der Narration und versucht seiner heterodiegetischen, distanzierten Erzählhal­ tung treu zu bleiben. Die Simultanität von Erzählung und Niederschrift ver­ deutlicht die funktionale Charakteristik des Alten, ist doch seine Erzählung, obwohl akustisch wahrnehmbar, keines oralen Ursprungs und erfolgt si­ multan mit der Niederschrift des Textes: »Das Eigenartige war, daß der Alte vom Wandernden Berge den Mund nicht geöffnet hatte. Er hatte ihre und seine Worte hingeschrieben, und sie hatte sie so gehört, als ob sie sich nur erinnere, daß er eben gesprochen habe.« (S. 184) Das Erzählen des Alten vom Wandernden Berge, der sich selbst als Chronist Phantásiens begreift, wird in der Unendlichen Geschichte nicht als ein kreativer, erschaffender Akt inszeniert, sondern vielmehr als ein Akt der rein mimetischen Abbildung der Geschehnisse. Niederschrift und Ge­ schehen der Ereignisse sind in der Unendlichen Geschichte simultane Akte, die in ihrer Gleichzeitigkeit keine Hierarchie bezüglich ihrer Abfolge er­ kennen lassen: »›Alles, was geschieht‹, sagte sie, ›schreibst du auf.‹ ›Alles, was ich aufschreibe, geschieht‹, war die Antwort.« (184). Der Mimesis-Be­ griff scheint damit hinfällig geworden; Erzählen und Erzähltes – die Entste­ hung einer fiktionalen Welt und das Erzählen von dieser fiktionalen Welt – fallen in eins. Es ist die Gleichzeitigkeit eines Spiegelbilds, die durch diesen Erzähler in den Bereich der Literatur überführt wird, ohne eine Ent­ scheidung bezüglich Spiegel und Gespiegeltem treffen zu können. Der Chronist, der durch den Besuch der Kindlichen Kaiserin selbst in die Diegese überführt wird, muss nun auch seine eigenen Handlungen er­ zählen/niederschreiben. Die Spiegelung eines Spiegels, der unendliche Re­ gress, scheint zu drohen: »Die Kindliche Kaiserin las, was da stand, und es war genau das, was in diesem Augenblick geschah, nämlich: ›Die Kind­ liche Kaiserin las, was da stand . . .‹« (184). Müsste eigentlich schon an dieser Stelle die unendliche Schleife einsetzen, deren logische Auslassung hier durch die drei Punkte angedeutet wird, wird die Erzählung weiterge­ weniger menschenähnlich waren, aber es gab mindestens ebensoviele die Tieren oder überhaupt völlig anders gearteten Geschöpfen glichen.« (S. 33)

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führt, um schließlich in der potenziell wörtlichen Wiedererzählung der Un­ endlichen Geschichte zu münden – inklusive aller darin bereits enthaltenen Bücher und Erzählebenen. Die wörtliche Wiedergabe wird zugunsten einer immer stärkeren Paraphrasierung aufgegeben, um schließlich in der fol­ genden zusammenfassenden Beschreibung zu münden: »Und hier fing alles wieder von vorne an – unverändert und unabänderlich – und wiederum en­ dete alles bei der Begegnung der Kindlichen Kaiserin mit dem Alten vom Wandernden Berge, der abermals die Unendliche Geschichte zu schreiben und zu erzählen begann . . .« (190) Angesichts der implizierten Identität der Unendlichen Geschichte des Chronisten und jener Bastians könnte man diese erzählerische Vermittlung als einen Bruch in der Erzähllogik bezeichnen. Dessen zunächst einmal un­ geachtet, scheint diese Verkürzung der Erzählung (nicht des Erzählten) als eine Umsetzung der optischen, perspektivischen Verkleinerung im Bereich der visuellen Mise en abyme. 14 Die literarische Spiegelung erweist sich somit nur zum Teil bzw. rein fiktional als wörtliche Duplikation, sondern wird, das Potenzial literarischen Erzählens ausnutzend, zu einer geschil­ derten Wiederholung. In der Wiederholung selbst liegt zugleich auch das Moment der Verschiebung: Es ist nicht dasselbe, das wieder geschieht, denn die Rahmenerzählung ist nun in die Binnenerzählung eingelagert und mit ihr die Binnenerzählung selbst, in die wiederum in einer unendlichen Verkettung Rahmen- und Binnenerzählung enthalten sind. Durch die struk­ turelle Verschiebung wird die ›réduplication aporistique‹ mit der Spiege­ lungsart ›réduplication à l’infini‹ verschmolzen und entsprechend das Ähnlichkeitsmaß von ›identité‹ zu ›mimetisme‹ transformiert. Die Wieder­ holung bedeutet keine Auslöschung des Gewesenen – ungleich einem Ton­ band, das man zurückspult und das wieder so beginnt wie zuvor – es ist ein Zitat, eine Verdopplung, eine erneute Wiedergabe.15 In der Reproduktion wird das Gewesene zu einer Inszenierung, der Bastian beiwohnen muss. 14 Die zeitliche und lineare Beschränkung von Literatur sei, so Cohn, der Grund dafür, dass es in literarischen Texten keine »pure mise en abyme« geben könne. Unter ›pure mise en abyme‹ scheint sie eine Mise en abyme zu verstehen, die sich gemäß Dällenbachs Terminologie durch eine ›réduplication à l’infini‹ auszeichnet. Die erzählerische Vermittlung durch eine »increasingly rapid summary« könne nur der Suggestion eines derartigen Effekts dienen. Vgl. Cohn, Dorrit (2012): »Metalepsis and Mise en Abyme«. Übers. v. Lewis Gleich. In: Narrative, Vol. 20, No. 1 (Janu­ ary), S. 105-114, hier S. 109.

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Die Inszenierung dient dabei weniger der Darstellung des Erzählten, son­ dern scheint vielmehr als eine Demonstration künstlerischen Selbstbewusst­ seins im wörtlichen Sinn: Der literarische Text, der sich seiner selbst, seiner Medialität, seiner Funktionsweise bewusst ist, nutzt aus sich selbst heraus die ihm gegebenen Mittel. Bastian wird aus der empathischen, aber den­ noch neutralen Rezeptionshaltung herausgerissen und muss – willentlich oder nicht – seine eigene Geschichte hören. Ist das Erzählte selbst weder für die Lesenden noch für Bastian neu, so ist die Erzählung an sich für Bas­ tian eine erste Erfahrung. Während für die Lesenden mit der Wiederholung eine Identität zwischen dem Buch des Alten vom Wandernden Berge und dem Roman von Ende impliziert wird, wird für Bastian eine Erschütterung seines Weltverständnisses initiiert: Er wird zum Rezipienten seiner eigenen Geschichte, mehr noch, er ist selbst ein Erzählter, eine literarische Figur. Es hat ein Ebenenwechsel stattgefunden, der aus der fiktionsinternen Perspek­ tive der Rahmenerzählung einem Wechsel des ontologischen Status’ gleichkommt. Der innerfiktional extratextuelle Kontext – die fiktiv-reale Ebene der Welt von Bastian – wird zugleich zu einem innerfiktional intra­ textuellem, der der wörtlichen Übereinstimmung zum Trotz in der Wieder­ holung vollkommen verschieden zu bewerten ist. In der Identität, der abso­ luten Ähnlichkeit von einlagerndem und eingelagertem Text, liegt damit der Ausgangspunkt für die Differenz, die die Verschiebung in die Tiefe be­ wirkt und damit nicht nur die Komplexität des Textes erhöht, sondern Be­ deutungspotenzial hinzufügt. Wähnte Bastian sich eben noch als Mensch in einer realen Welt, ist er plötzlich eine literarische Figur und als Rezipient zum Bestandteil Phantásiens geworden. Der Text zwingt Bastian seine neu­ 15 John Barth eröffnet seine Kurzgeschichtensammlung Lost in Funhouse mit der ›Erzählung‹ Frame Tale, die eine wahrhaft unendliche Wiederholungsschleife kre­ iert, ohne zugleich eine Tiefenstruktur zu entwickeln. Befolgt man die Bastelanlei­ tungen korrekt, besteht die Erzählung aus einem Möbius-Band, auf dem in unendli­ cher Wiederholung »ONCE UPON A TIME THERE WAS A STORY THAT BEGAN« zu lesen ist. Ist die Einordnung dieses Textes als Erzählung bereits frag­ würdig und zudem vornehmlich der vorhergehenden Bastelarbeit geschuldet, so ver­ deutlicht diese postmoderne Spielerei dennoch, weshalb die Wiederholungsschleife in der Unendlichen Geschichte nicht als reine Wiederholung sondern als Einlagerung verstanden werden kann. Bei Barth ist die Tiefenstruktur eine imaginäre, die auf dem wieder- und wiederlesen der identischen Buchstaben beruht. Vgl. Barth, John (1988): »Frame Tale«. In: ders.: Lost in Funhouse. New York: Anchor Books ed., S. 1-2.

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trale Haltung aufzugeben, denn die Probleme Phantásiens sind mit einem Mal seine eigenen – oder vielmehr diejenigen seines in der Mise en abyme vervielfachten Selbst. Der Wechsel der Schriftfarbe in der Wiederholung der gleichen Ereignisse, drückt diesen Wechsel aus und eröffnet zugleich ein Dilemma: »Der Alte vom Wandernden Berge […] begann die Unendliche Geschichte von An­ fang an zu erzählen. In diesem Augenblick wechselte der Lichtschein, der aus den Seiten des Buches strahlte, die Farbe. Er wurde rötlich wie die Schriftzeichen, sie sich jetzt unter dem Stift des Alten bildeten. […] Und während er schrieb, erklang zugleich seine tiefe Stimme. Auch Bastian hörte sie ganz deutlich. Dennoch waren ihm die ersten Worte, die der Alte sprach, unverständlich. Sie klangen etwa wie ›Tairauqitna rednaerok darnok lrak rebahni‹. […] Die Stimme des Alten fuhr fort und Bastian mußte ihr folgen. ›Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmrigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte […].‹« (187)

Die Schriftfarben in dieser Passage ermöglichen zwei verschiedene Inter­ pretationen: Zum einen scheint die Differenzierung weiterhin eine Diffe­ renzierung der Erzählebenen darzustellen. Der Bastian, der wieder alles er­ neut erlebt, ist nun innerhalb der Binnenerzählung und nicht mehr außerhalb und daher ist diese Geschichte in grüner Farbe wiedergegeben. Allerdings schreibt der Alte, wie deutlich gemacht wird, Buchstaben roter Farbe. An dieser Stelle könnte die konstruierte Identität des Buches des Alten vom Wandernden Berge und desjenigen der Lesenden 16 – einer Iden­ tität über eine optische Gleichheit hinaus – aufgegeben worden sein. Zum anderen folgt dem geschilderten Wechsel der Schriftfarbe tatsächlich eine in Rot gedruckte Passage. Schreibt der Alte vom Wandernden Berge nun parallel die Geschichte des rezipierenden Bastian und desjenigen, der alles von neuem erlebt? Dem widerspricht, dass diese Ebene Teil der nächsten Wiederholung, der nächsttieferen Schicht werden müsste, doch ohne eine 16 Auch Bastians Version der Unendlichen Geschichte könnte hier zu nennen sein – doch werden die in rot gedruckten Passagen in seinem Buch, für die Bastian merk­ würdig blind zu sein scheint, nicht weiter kommentiert und erscheinen daher unge­ eignet, in die Argumentation integriert zu werden.

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solche Verschiebung »fing alles wieder von vorne an – unverändert und un­ abänderlich« (190). Das Dilemma, das der Text damit eröffnet, entspringt der Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten der Inkonsistenz. 17 Diese möglichen Inkonsistenzen erscheinen jedoch als Resultat einer Per­ spektive, die die literarische Erzählung aufgrund ihrer schriftlichen Fixie­ rung als abgeschlossene und festgelegte erachtet. Die Unendliche Ge­ schichte stellt aber eine ganz andere Art von Literaturverständnis vor und erzwingt geradezu eine andere Rezeptionshaltung. Durch die Mise en abyme wird verdeutlicht, dass der Text als literarische Erzählung, in seiner Ganzheit aus Rahmen- und Binnenerzählung, sich im Inneren der Erzäh­ lung erst selbst erschafft. Der fiktionalen Logik folgend, sind Geschehnis und Niederschrift als simultane Akte zu verstehen – erst mit Bastians Ein­ tritt in das Antiquariat wird dieser Eintritt erzählt und niedergeschrieben. Die Niederschrift der Unendlichen Geschichte, die Bastian liest, geschieht parallel zu seiner Lektüre. Die Form der Binnenerzählung, die die Lesen­ den wahrnehmen, ist keine statische, wie die Fokussierung auf das Buch als materielles Objekt zunächst suggeriert, sondern Resultat der Interaktion Bastians mit dem Text. Bastians Handlungen und die Geschehnisse in Phantásien unterscheiden sich nicht durch Statik und Abgeschlossenheit ge­ genüber prozessualem Charakter und Unendlichkeit, sondern erscheinen als parallele, aber weitgehend getrennte Sphären, die einander bedingen und komplementieren.18 Beide erscheinen nicht prädeterminiert, sondern ver­ weisen auf Geschehnisse, die vom Chronisten zeitgleich erzählt und ge­ schrieben werden; in beiden Sphären ist selbstbestimmtes Handeln glei­ 17 Die auf den verschiedenen Schriftfarben aufgebaute Logik bzgl. der verschiedenen Erzählebenen wird bereits in der ersten Begegnung der Kindlichen Kaiserin mit dem Alten vom Wandernden Berge unterlaufen. Die vom Alten verwendete Schriftfarbe wird durch den Lichtschein, der vom Buch auf sein Gesicht fällt, verdeutlicht. Bei der ersten Beschreibung des Alten ist bspw. von einem roten Lichtschein die Rede, obwohl gemäß der Simultanität von Niederschrift und Geschehnis, die Schriftfarbe grün sein müsste (vgl. S. 183). 18 Gassenbauer fokussiert in ihrer Untersuchung das spezifische Verhältnis von fiktiver Realität zur Parallelwelt Phantásiens sowie den Einfluss dieser Welten auf Bastians Identitätsbewusstsein. Vgl.Gassenbauer, Iris (2013): »Neue HeldInnen. Identitätsver­ lust und Identitätsfindung zwischen den Welten«. In: Komparatistik Online, hg. von Laura Muth u. Annette Simonis, S. 36-48, elektronisch verfügbar unter: http://www. komparatistik-online.de/jahrgaenge/2013 [zuletzt aufgerufen am 10.10.2017].

50 | Der Abgrund im Spiegel

chermaßen möglich. Die narrativen Metalepsen inszenieren dabei insbeson­ dere die Handlungsmacht der Fiktion, die in der Figur der mythisch anmu­ tenden Kindlichen Kaiserin personifiziert zu sein scheint. Atréjus Aben­ teuer, die er auf Geheiß der Kindlichen Kaiserin erlebt, dienen einzig der Verführung Bastians, dienen dazu, ihn in die Binnenerzählung hineinzulo­ cken (vgl. 167). Die durch die Kindliche Kaiserin herbeigeführte Endlos­ schleife aus Erzählung und Wiedererzählung, die Bastian gefangen hält und schließlich mürbe machen soll, verdeutlicht gleichermaßen die eigenstän­ dige Aktivität der Fiktion. Die Gleichzeitigkeit von Geschehnis und Niederschrift begründet das Spannungsverhältnis zwischen dem Buch als finitem dinglichen Objekt und dem prozessualen Charakter des Erzählten. Sein und Werden stellen keine Oppositionen dar, sondern erscheinen vielmehr als eigentümliche Onto­ logie literarischer Welten. Der Ausspruch der Kindlichen Kaiserin »Ewig ist der Augenblick« (197) scheint diesem Moment, dieser Unvergänglich­ keit eines jeden Geschehnisses, das sich unaufhörlich wieder erneuert, Rechnung zu tragen. Die stündlich schlagende Turmuhr (25, 38, 45, 54, 66, 79, 93, 101, 113, 127, 137, 145, 155, 162, 174, 190) in Bastians Welt, scheint demgegenüber zunächst eine Differenz zu konstituieren, indem die Zeit als stetige und unaufhaltsam vergehende pointiert wird. Erst durch die Überführung der Rahmenerzählung in die Binnenerzählung erscheint diese Differenz retrospektiv aufgehoben. Die Wahrnehmbarkeit der Ewigkeit des Augenblicks erfolgt jedoch um den Preis der Erstarrung: Die Wiederholung in der Mise en abyme lässt zwar das Geschehene unaufhörlich wiederge­ schehen, doch nun als determinierte Abfolge. Die Interaktion zwischen dem lesenden Bastian und der Welt Phantásiens – seine Lektüre – wird innerfik­ tional fixiert und damit »unverändert und unabänderlich« (190). Diese Lek­ türe erscheint als ein erstarrtes (Spiegel-)Bild und konstituiert damit einen Gegensatz zu der Fluidität des Textes, die erst im Moment der Erstarrung deutlich zutage tritt. Im nächsten Kapitel soll diesem Aspekt dezidiert Auf­ merksamkeit geschenkt werden, indem Bastian als Leser und der Text in Beziehung zu seiner Lektüre fokussiert wird.

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3.4

DIE LEKTÜRE ALS VERMITTLUNG ZWISCHEN DEN WELTEN

»›Ich möchte wissen‹, sagte er [Bastian, Anm. Ch.G.] vor sich hin, ›was eigentlich in einem Buch los ist, solange es zu ist. Natürlich sind Buchstaben drin, die auf Pa­ pier gedruckt sind, aber trotzdem – irgendwas muß doch los sein, denn wenn ich es aufschlage, dann ist da auf einmal eine ganze Geschichte. Da sind Personen, die ich gar nicht kenne, und es gibt alle möglichen Abenteuer und Taten und Kämpfe […]. Man muß es lesen, damit man’s erlebt, das ist klar. Aber drin ist es schon vorher. Ich möcht’ wissen, wie?‹« (16)

Diese Frage leitet Bastians Lektüre seiner Unendlichen Geschichte ein. Die literarischen, fiktionalen Welten scheinen Bastian in gewisser Weise hinter den Buchstaben versteckt und in diesen Welten geschehen Dinge, die der Statik der Buchstaben diametral entgegenzustehen scheinen. Damit reflek­ tiert Bastian die Struktur literarischer Zeichen selbst, die sich aus starren Signifikanten und fluiden Signifikaten speist. Im Akt des Lesens – Bastian stellt es heraus – werden Signifikanten mit Signifikaten verknüpft, die ver­ meintliche Differenz wird überbrückt und das darin eingeschriebene Poten­ zial realisiert. Diese Form der Überbrückung ist ein individueller Akt, eine Interaktion mit dem Text, durch die die Bedeutungen der Schriftzeichen konstituiert werden und der literarische Text zum Spiegel von Lebenswirk­ lichkeiten werden kann.19 3.4.1 Die Verschmelzung der Welten Durch die zentrale Mise en abyme wird dieser Zusammenhang vorgeführt, indem die Rahmen- und Binnenerzählung als untrennbare Elemente insze­ niert werden. Die Binnenerzählung ist Teil der Rahmenerzählung und zu­ gleich wird die Rahmenerzählung zum Teil der erzählten Welt Phantásiens. Beide Ebenen, Rahmen- und Binnenerzählung, sind gleichermaßen Bas­ tians Geschichte: denn der Text, den Bastian liest, wird durch seine spezifi­ sche Lektüre wahrhaft zu seinem Text. Bastians Teilhabe an der Entstehung eines neuen Phantásiens erscheint daher als Inszenierung, als Mise en scène eines Verhältnisses von Wechselwirkungen, das schon seine Lektüre der Unendlichen Geschichte kennzeichnet. Die Mechanismen der Auflösung 19 Vgl. Iser, Der Akt des Lesens, S. 39.

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der Grenze zwischen Rezeptions- und Produktionsebene 20 im Akt der Lek­ türe werden dabei szenisch durch narrative Metalepsen in ihrem Effekt um­ gesetzt. Zunächst sind es vereinzelte Gerüche und Geräusche aus der Welt Phantásiens, die Bastian sinnlich wahrnimmt, aber sofort seiner ausge­ prägten Vorstellungskraft zuschreibt (vgl. 26 und 89). Erst als er die Kind­ liche Kaiserin optisch wahrnimmt (vgl. 160f.), greift schließlich kein Erklä­ rungsschema mehr und das Buch beginnt ihm unheimlich zu werden. Doch die Einwirkung ist reziprok: Bastians Schrei, den er beim Lesen ausstößt, hallt in Ygramuls Schlucht (vgl. 70), Atréju sieht Bastian im Zauber Spiegel Tor (vgl. 99) und schließlich scheint es so, als würde Bastian den seines Willens beraubten Atréju gemäß seinen eigenen Wünschen und seinem Willen lenken (vgl. 101). Diese Brüche der fiktionalen Logik werden durch subtilere Formen der Einwirkung angebahnt. Von Beginn an scheint Bastian unbewusst den Text, den er liest zu formen – oder vielmehr, der Text selbst scheint fluide auf seinen Rezipienten und damit auf die von ihm eingebrachten Kontexte zu reagieren. Die Unterrichtsstunden beispielsweise, die Bastian aufgrund seiner Lektüre verpasst, prägen ex negativo die parallel gelesenen Textpas­ sagen. Die faktischen und trockenen Unterrichtsinhalte, denen Bastian nur wenig abgewinnen kann, erscheinen dabei neben der üppigen Farbigkeit Phantásiens merkwürdig inadäquat und irrelevant. Denkt Bastian etwa dar­ über nach, dass seine Mitschüler im Naturkundeunterricht gerade wahr­ scheinlich Blütenstände und Staubgefäße aufzählen müssen, folgt darauf eine Beschreibung der üppigen und phantastischen Gärten der Kindlichen Kaiserin (vgl. 26f.). Hat die Klasse gerade Erdkunde, folgt Bastian Atréju auf seiner Reise durch Phantásien zu den sonderbarsten Orten und Land­ schaften (vgl. 49f.).21 Die Unendliche Geschichte, die Bastian liest, ent­ 20 Vgl. Bhadury und Stoyan, die beide Bastian sowohl als Rezipienten als auch Produ­ zenten im Sinne einer Autorfigur verstehen. Bhadury, Poushali (2013): »Metafiction, Narrative Metalepsis, and New Media Forms in The Neverending Story and the Ink­ world Trilogy«. In: The Lion and the Unicorn, Vol. 37, No. 3 (September), S. 301326, hier S. 310; Stoyan, Hanja (2004): Die phantastischen Kinderbücher von Michael Ende. Mit einer Einleitung zur Entwicklung der Gattungstheorie und einem Exkurs zur phantastischen Kinderliteratur der DDR. Frankfurt a. M. u.a.: Lang, S. 132. 21 An einigen Stellen erscheinen Bastian und der Text beinahe in einem dialogischen Verhältnis, wie die folgende Textstelle verdeutlicht: »Was mochte dieses seltsame

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spricht nicht nur exakt Bastians literarischen Vorlieben (vgl. 11 und 25f.), sondern befriedigt seine tiefgreifenden Bedürfnisse nach Anerkennung und Freundschaft: Wird Bastian von seinen Mitschülern ausgegrenzt, von seinen Lehrern drangsaliert und von seinem Vater vernachlässigt, wird er in der Welt Phantásiens gebraucht. Die Kindliche Kaiserin selbst bittet ihn um Hilfe, Atréju und Fuchur nehmen jede Anstrengung und Gefahr auf sich, um zu ihm zu gelangen. Bastian, der gerne Wörter erfindet und Ge­ schichten erzählt und deshalb von seinen Mitschülern ausgegrenzt wird, ist nun mit einem Text konfrontiert, der seine Neigung als eine besondere Qualifikation honoriert, die entscheidend über Fortbestand oder Untergang einer ganzen Welt ist. Die Trennung von Rahmen- und Binnenerzählung, die durch die Diffe­ renzierung der Schriftfarben hervorgehoben wird und die Unabhängigkeit des Textes von der Rezeption demonstrieren soll, scheint nur ihrer allmähli­ chen Dekonstruktion zu dienen. Mit dem Einsetzen der Wiederholungs­ schleife wird diese Trennung endgültig als unhaltbares Konstrukt offenbart. Diese Auflösung in der Wiederholung führt zugleich zu einer (spiegelbildli­ chen) Umkehrung der Rezeptionshaltung. Bastian muss die Haltung der »willing suspension of disbelief«22, dem willentlichen Aussetzen des Zwei­ fels bei der Lektüre fiktionaler Texte, aufgeben und unwillentlich den Glauben wiedereinstellen: »Jetzt bekam Bastian es mit der Angst. Er hatte plötzlich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Er fühlte sich wie in einem unsichtbaren Gefängnis einge ­ schlossen. Er wollte aufhören, wollte nicht mehr weiter lesen. Aber die tiefe Stimme des Alten vom Wandernden Berge fuhr fort zu erzählen, und Bastian konnte nichts dagegen tun. Er hielt sich die Ohren zu, aber es nützte nichts, denn die Stimme klang in seinem Inneren. Obwohl er längst wußte, daß es nicht so war, klammerte er sich noch an den Gedanken, daß diese Übereinstimmung mit seiner eigenen Geschichte vielleicht doch nur ein verrückter Zufall war, aber die tiefe Stimme sprach unerbittlich weiter« (188f.)

Zeichen wohl bedeuten? Jeder in ganz Phantásien wußte, was dieses Medaillon bedeutete« (S. 37). 22 Coleridge, Samuel T. (1967): Biographia literaria. 2 Bde. Hg. von John Shawcross. Oxford u.a.: Oxford UP, S. 6.

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Bastians Versuch, sich der für ihn unglaublichen und unheimlichen Situa­ tion zu entziehen, indem er die Lektüre beendet, scheitert. Die innerfik­ tional getrennten ontologischen Ebenen, die mediale Differenz ist aufge­ hoben. Bastian nimmt nun nicht mehr durch die Schriftzeichen vermittelt wahr, sondern unmittelbar auditiv. Dieser Wechsel der Sinneswahrneh­ mung kennzeichnet Bastian als Teil derselben Welt, der auch der Alte vom Wandernden Berge angehört. Erscheint diese Aufhebung der Grenze aus einer außerfiktionalen Perspektive lediglich als Bewusstwerdung einer lite­ rarischen Figur um die eigene Fiktionalität und Textualität, so erscheint diese aus einer innerfiktionalen Perspektive als Fortführung des Annähe­ rungs- und Verschmelzungsprozesses der Lektüre. Die Unendliche Ge­ schichte inszeniert damit die fiktionalen Welten als eine Symbiose aus lite­ rarischem Text und Lektüre – der Text, der starre, visuelle Signifikante und fluide, polysemantische Signifikate vereint, wird erst durch die Lektüre zu einem Kosmos, der fiktionale Welten und die Welten der Lesenden über­ brückt. Das Buch, das Gewebe der auf Buchseiten abgedruckten Lettern, wird damit als ein literarischer Spiegel inszeniert, der über die Signifikate hinaus auch auf diejenigen verweist, die in ihn hineinblicken.23 3.4.2 Der geschriebene Text als Spiegel und Durchgang Der Anschein des Buches als finitem dinglichen Objekt wird in der Unend­ lichen Geschichte aufgebrochen, zugunsten einer Verschmelzung zweier Welten im Akt der Lektüre. Der geschriebene Text wird nicht nur Durch­ gang zwischen diesen zwei Welten, sondern zugleich zum Spiegel. Die Un­ endliche Geschichte entwirft selbst ein Bild davon, wie dieser Blick auf das spiegelnde Textgewebe vorstellbar ist: Das Zauber Spiegel Tor, das Atréju auf seiner Suche nach einem Heilmittel für die Kindliche Kaiserin durch­ schreiten muss, bereitet jenen, die in es hineinblicken eine Erfahrung, die der Gnom Engywuck – ein Experte auf dem Gebiet – wie folgt beschreibt:

23 Die Inszenierung des Textes als Spiegel in der Unendlichen Geschichte erscheint in diesem Zusammenhang als eine einfache, aber klare Metapher für die Umkehrung der Richtung des Bedeutens, die Gottfried Gabriel als Eigenschaft literarischer Texte konstatiert. Vgl. Gabriel, Über Bedeutung in der Literatur, S. 10 und 16.

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»Es handelt sich dabei um einen großen Spiegel oder so was, obwohl die Sache weder aus Glas noch aus Metall besteht. […] Jedenfalls, wenn man davorsteht, dann sieht man sich selbst – aber eben nicht wie in einem gewöhnlichen Spiegel, versteht sich. Man sieht nicht sein Äußeres, sondern man sieht sein wahres inneres Wesen, so wie es in der Wirklichkeit beschaffen ist. Wer da durch will, der muß – um es mal so auszudrücken – in sich selbst hineingehen.« (94f.)

Das Zauber Spiegel Tor, das »sowohl offen als auch geschlossen« (94) ist, bildet einen Durchgang zwischen zwei Welten und ist zugleich reflexiv. Es wirft das Bild desjenigen/derjenigen zurück, der/die in es hineinblickt – doch nicht in einer optischen, sondern vielmehr in einer wesenhaften Ent­ sprechung. In anderen Worten: der Durchgang in die andere Welt ist ver­ knüpft mit dem eigenen Bild. In der Unendlichen Geschichte wird Atréju, der durch das Tor hindurch muss, mit dem Bild des lesenden Bastian kon­ frontiert (vgl. 99) – und damit Bastian, der Atréju lesend folgt, mit seinem eigenen Bild. Atréjus »wahres inneres Wesen« (s.o.) liegt in Bastian be­ gründet, es ist Bastians spezifische Lektüre und seine Identifikation mit dem Helden des Buches, das er liest, die Atréju bestimmen. Zugleich ist es jedoch auch Bastians eigener Blick durch den Spiegel, in dem er sich selbst erblickt. Das Zauber Spiegel Tor kann in diesem Sinn als eine Metapher ge­ lesen werden, die Die unendliche Geschichte für ihr spezifisches Text- und Lektüreverständnis entwirft. Der Text selbst wird zu einem spiegelnden Durchgang, der durch die Lesenden bedingt wird und zugleich den Eintritt in eine andere Sphäre erlaubt, in der die eigene Subjektivität scheinbar in Vergessenheit gerät. Eine Eigenschaft, die Bastian besonders an der Lek­ türe schätzt. Doch auch Atréju macht solch eine Erfahrung als er das Zauber Spiegel Tor durchschreitet: »Als er [Atréju, Anm. Ch.G.] nämlich auf der anderen Seite des Zauber Spiegel Tors stand, da hatte er jede Erin­ nerung an sich selbst, an sein bisheriges Leben, an seine Ziele und Ab­ sichten vergessen […] und kannte nicht einmal mehr seinen eigenen Namen. Er war wie ein neugeborenes Kind.« (100) Die Vorstellung des Textes als spiegelndem Durchgang macht deutlich, dass der Text nicht nur durch die Lektüre zum Bestandteil von Bastians Le­ bensrealität wird, sondern dass die Geschichte, die Bastian liest, in ihm selbst begründet liegt. Doch mehr noch – das Zauber Spiegel Tor präsen­ tiert dem lesenden Bastian sich selbst als literarische Figur, wenn auch nur für den kurzen Moment, in dem Atréju in den zauberhaften Spiegel blickt.

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Bastians Lebensrealität und die Wirklichkeit der Welt hinter den Buch­ staben spiegeln sich gegenseitig und führen zu einer Ununterscheidbarkeit zwischen ›Original‹ und ›Duplikat‹, zwischen ›Gespiegeltem‹ und ›Spie­ gelbild‹. Die Bewegung in den Text hinein, auf immer tieferliegendere Ebenen, wird zugleich zu einer potenziell aus diesem herausführenden. Die empirischen Lesenden der Unendlichen Geschichte sind Lesende auf einer vorgelagerten Stufe, die nicht weniger ungewiss erscheint: »Er, Bastian, kam als Person in einem Buch vor, für dessen Leser er sich bis jetzt ge­ halten hatte! Und wer weiß, welcher andere Leser ihn jetzt gerade las, der auch wieder nur glaubte, ein Leser zu sein – und so immer weiter bis ins Unendliche!« (188) Die Welten im Text und die Welten der Lesenden erscheinen als Ab­ folge von Simulakren,24 ohne hierarchisierende Ordnung im Sinne von Rea­ lität und ihrer Nachahmung, von Originalität und Widerspiegelung. Die Be­ zugnahme künstlerischer Zeichen auf eine Realität als feste Bezugsgröße wird nicht nur in Frage gestellt, sondern zusammen mit der hierarchischen Ordnung, die eine solche Bezugnahme impliziert, als Illusion entlarvt. 25 Zu­ sammen mit der Verschiebung der fiktionalen Realität, die als fiktionaler extratextueller Kontext erschien, wird nun auch der scheinbar tatsächliche extratextuelle Kontext der Lesenden in Frage gestellt. Dabei erscheint diese Infragestellung nicht nur als Spielerei des Textes, sondern als Resultat der inszenierten Erzähllogik, die die erzählte Welt als eine Symbiose aus Le­ senden bzw. der Lektüre und den Schriftzeichen präsentiert. 24 Anders als bei Baudrillard wird an dieser Stelle der Unendlichen Geschichte die Referenzlosigkeit der Zeichen (bzgl. eines Realen) nicht als zirkuläre Bewegung vor­ gestellt, sondern Abgrund, der weder Ausgangspunkt noch Boden zu haben scheint. Vgl. Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Übers. von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer. Berlin: Merve, S.14. 25 Die Abfolge verschiedener Welten, die als Simulakren ohne Ursprung und Kausalität einander bedingen, wird durch Bastians Erläuterungen bzgl. des Wesens Phántasiens wieder aufgegriffen: Er antwortet dreigliedrig auf die entsprechende Frage der drei ›Tief Sinnenden‹: Phantásien sei Die Unendliche Geschichte, die in einem Buch geschrieben stehe, das in kupferfarbene Seide gebunden sei und sich auf dem Spei­ cher eines Schulhauses befände (vgl. S. 332f.). Die sukzessive Herleitung impliziert eine Abfolge, die zunächst durch eine Verortung in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende und der Lebensrealität des/der Lesenden vervollständigt werden könnte, potenziell aber weitere Ebenen und weitere Bücher und Welten suggeriert.

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 57

3.4.3

Der Eintritt durch den Spiegel – die Neu-Erschaffung Phantásiens

Die bisherigen Ausführungen fokussierten insbesondere jenen Teil der Un­ endlichen Geschichte, in dem Bastian als Lesender präsentiert wird, bevor er die vermeintlich unendliche Wiederholungsschleife durchbrechend, Phantásien leiblich betritt. Im Folgenden soll dagegen diesem ›zweiten Teil‹ Aufmerksamkeit geschenkt werden, der weitere Dimensionen der lite­ rarischen Reflexivität und des eigentümlichen Zusammenhangs von Signi­ fikaten und Signifikanten in der Unendlichen Geschichte offenbart. Trotz der leiblichen Erfahrbarkeit bleibt die Welt Phantásiens für Bas­ tian eine sprachliche Welt, eine Geschichte. Nach seinem Eintritt in die Welt hinter den Buchstaben obliegt es ihm, diese Welt durch sprachliche Bezeichnungen neu zu erschaffen. Doch der Akt der Erschaffung folgt einer besonderen zeitlichen Logik: Indem er den Dingen Eigennamen ver­ leiht, erschafft er nicht nur ihre gegenwärtige, sondern eine fortwährende und immer schon da gewesene Präsenz: »›Von dem Augenblick an, da du [Bastian, Anm. Ch. G.] ihm [dem Nachtwald Perelín, Anm. Ch. G.] seinen Namen gabst […] hat er seit jeher bestanden.‹« (225). Die Eigennamen haben damit in der literarischen Welt Phantásiens nicht nur bedeutenden, verweisenden Charakter, sondern konstituieren die Dinge selbst. Sie kon­ zentrieren in einem Brennpunkt eine überzeitliche Identität der Dinge und Wesen. Sprache und Sein werden nicht in einem Verweisungszusammen­ hang präsentiert, sondern in eine simultane Präsenz bzw. Ko-Präsenz über­ führt. Die Eigennamen stehen dabei stellvertretend für die unauflösliche symbiotische Beziehung zwischen dem Erzählten und seiner sprachlichen Fassung ein. Die Simultanität von Erzähltem und Erzählen, durch die die zentrale Mise en abyme konstituiert wurde, erfährt hier eine neue Qualität: Anders als der Alte vom Wandernden Berge erschafft Bastian durch das Benennen – Erzählen und Erzähltes werden in einen Ursache-WirkungsZusammenhang gestellt. In der Sprache, in den Signifikanten, liegen wie in einer Keimzelle die räumlichen und zeitlichen Dimensionen der fiktionalen Welt begründet. Und Bastian wird mit seinem körperlichen Eintritt in die hinter den Buchstaben liegende Welt eine schier ungeheure Macht ver­ liehen. Die literarische Welt, die eine sprachliche ist, entsteht und entwi­ ckelt sich gemäß seiner Erzählungen. Doch diese Erzählung ist geleitet durch ihre sprachliche Verfasstheit – und damit unabhängig von Bastians

58 | Der Abgrund im Spiegel

Intentionen: Er vergießt Tränen ob der Tatsache, das Graógramán, der Herr der Farbenwüste, jede Nacht versteinern, sterben muss (vgl. 218) – ein Re­ sultat seiner Bezeichnung und Erschaffung des Perelín als Nachtwald, der am Tag zur Farbenwüste wird. Er erschafft spontan die Acharai, »auch die ›Immer-Weinenden‹ genannt, weil sie vor Kummer über ihre eigene Häß­ lichkeit ununterbrochen Tränen vergießen« (259), und ist, als er ihnen tat­ sächlich begegnet, entsetzt. Aus Mitleid verwandelt er sie in »Schlamuffen, die Immer Lachenden« (281) – eine Entscheidung, deren Folgen er wie­ derum nicht antizipieren kann, und die sich langfristig weder für die Schla­ muffen, noch für Bastian selbst, als glücksverheißend erweist (vgl. 407ff.). Die Geschichten entwickeln eine eigene Dynamik, die unabhängig von Bastian ist. Es sind die Leerstellen in Bastians Erzählung, die die Ge­ schichte nun selbsttätig ausfüllt. Damit deutet sich eine doppelte spiegel­ bildliche Umkehrung an, die sich durch Bastians Eintritt in die Welt hinter den Buchstaben, dem Eintritt in den Spiegel, vollzieht: Konstruiert Bastian als Leser den Text, indem er kontextualisierend die polysemantischen Zei­ chen lenkt, wird er nach seinem Eintritt in die Welt Phantásiens zum Produ­ zenten der literarischen Zeichen, die durch den Text mit Kontexten, mit raum-zeitlichen Dimensionen versehen werden. Der Text füllt die Leer­ stellen und knüpft Verbindungen aus einer eigenen Dynamik heraus. Sam­ melt Bastian durch die Lektüre neue Erfahrungen, bezahlt er in Phantásien mit seiner Erinnerung, mit Bestandteilen seines Selbst, für jeden Wunsch, für jede Erzählung.26

26 Der literarische Raum erscheint damit nicht als risikofreier Spielraum, in dem sich Lesende ausprobieren können, wie Pfennig die Konzeption von Parallelwelten in der phantastischen Gegenwartsliteratur begründet. Der Verlust des Selbst verschärft innerfiktional nur die Zwangslage, in die Bastian durch seine Lektüre geraten ist. Bhadury verweist auf die Ambivalenz der metaleptischen Struktur des Textes, auf die auffällige Brechung der prinzipiell positiven Metapher, die zur Wertschätzung von Büchern einlädt, durch negative, gefährliche Aspekte. Vgl. Bhadury, Metafiction, S. 312 sowie Pfennig, Daniela (2013): Parallelwelten. Raumkonzepte in der fantasti­ schen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Studien zu Literatur und Film der Gegenwart, Bd. 5. Marburg: Tectum, S. 39.

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 59

3.5

DIE UNENDLICHKEIT DER UNDENDLICHEN GESCHICHTE

Der Aspekt der Unendlichkeit, auf den der Titel des Romans verweist, er­ scheint in der Unendlichen Geschichte auf verschiedene Arten und Weisen als Interaktion von Text und Lektüre angelegt. Die Mise en abyme, die durch die Wiederholungsschleife den Text wörtlich nicht enden lässt, er­ zeugt eine Tiefenstruktur ebenso in den Text hinein, wie aus diesem wieder heraus. Ist diese Mise en abyme darauf angelegt, den Text zum Stillstand zu bringen, etabliert Bastian in der Welt Phantásiens eine ganz andere Mise en abyme, die produktiv neue Geschichten generiert: Er erzählt eine Ge­ schichte, in der alle Geschichten, die er sich je ausgedacht hat oder die er noch erzählen wird, in einer Bibliothek enthalten sind – Die Geschichte der Bibliothek von Amargánth (vgl. 258ff). Durch die Mechanik der Welter­ schaffung innerhalb Phantásiens, entstehen mit der Schaffung dieser Biblio­ thek gleichzeitig alle darin enthaltenen Geschichten. Wurde der Modus des Erzählens in der zentralen Mise en abyme als ein Verfahren der Verkür­ zung interpretiert, das an die optische perspektivische Verkleinerung erin­ nert, erscheint die erzählerische Vermittlung an dieser Stelle nicht das Er­ zählte zu paraphrasieren, sondern vielmehr die Mechanik der Simultanität von Benennung und tatsächlicher, überzeitlicher Präsenz auszuspielen. Durch die Erzählung, wird die Bibliothek stoffliche Wirklichkeit, in der die Bücher gelesen werden können, die Bastian erzählend geschaffen hat. Durch das Nebeneinander einer Vielzahl an Geschichten, die zwar jeweils für sich genommen wiederum eine eigene erzählerische Ebene begründen, wird im Unterschied zur zentralen Mise en abyme eine horizontale Aus­ breitung der Geschichte bewirkt. Diese Horizontale wird auch dadurch pointiert, dass die Bibliothek und die darin enthaltenen Bücher als reine Speichermedien inszeniert werden, das heißt, dass die darin enthaltenen diegetischen Ebenen rein virtuell sind.27 Sie dienen fiktional als Grundlage 27 Aufgrund dieser Virtualität sind diese eingelagerten Geschichten gemäß einiger Ansätze nicht als Mise en abyme zu bewerten. Gemäß dieser Ansätze ist der Begriff einzig ›nested art‹-Phänomenen vorbehalten. Scheffel bspw. versucht durch diese Eingrenzung den Begriff gegen verwandte Phänomene zu schärfen. Livingston geht sogar noch weiter, indem sie vorschlägt, den Begriff der Mise en abyme auf einzig jene Phänomene zu beschränken, in denen neben einer Einlagerung im Sinne von ›nested art‹ auch noch Titelidentität zwischen dem eingelagerten Text und dem Titel

60 | Der Abgrund im Spiegel

der mündlichen Wiedererzählung durch die Liedersänger und Geschichten­ erzähler von Amargánth. Sie dienen der Aufbewahrung und Reaktualisie­ rung und unterstreichen die Relevanz von Erinnerungen und Erzählungen für die kulturelle Identität der Bewohner von Amargánth. 28 Durch das Wie­ dererzählen dieser Geschichten werden diese in der kulturellen Welt Phantásiens verankert, wodurch die potenzielle Tiefenwirkung der Einlage­ rung abgeflacht oder vielmehr der reflexiven Eigenschaft der Mise en abyme vor der Vertiefung in den Text hinein der Vorzug gegeben wird. Die inhaltlichen Ebenen dieser Geschichten werden ausgespart, wodurch der Fokus auf ihre Funktionalität für die Bewohner von Amargánth unabhängig von ihrem spezifischen Inhalt gelegt wird – sie werden damit als ›mise en abyme énonciative‹ eingeführt, indem sie auf Rezeptions- und Produktions­ kontexte verweisen. Die gesellschaftliche und individuelle Relevanz von Literatur, die damit betont wird, stellt diese Mise en abyme nicht nur in ein ikonisches Verhältnis zu der sie rahmenden Erzählung, sondern verweist in exophorischer Ikonizität auf die Rolle von Literatur im Allgemeinen. Die Geschichte von der Bibliothek von Amargánth, die Bastian erzählt, verschränkt den erzählten Raum und den Raum des Erzählens und zieht damit Linien nach, die der Erzähler der Unendlichen Geschichte selbst an­ gelegt hat: In einer refrainartigen Wiederholung der Phrase »doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden« (vgl. bspw. 30, 49, 117, 325, 428)29 wird die Pluralität der Geschichten innerhalb einer Welt der Geschichten betont, indem die Fokussierung auf einen Erzähl­ strang als künstlerische narrative Entscheidung inszeniert wird. 30 Die Aus­ dehnung Phantásiens wird somit in einem Geflecht aus verschiedenen Ge­ des Werks, in das es eingelagert ist, gegeben ist. ›Nested art‹ stellt in Livingstons Terminologie eine Unterkategorie der Einlagerung (›embedding‹) dar und bezeichnet die tatsächliche Präsenz eines Kunstwerk in einem anderen, durch die den Rezipie­ renden – im Unterschied zu nur beschriebenen Kunstwerken – die Möglichkeit gege­ ben wird, das Kunstwerk als autonome Einheit in seinem Verhältnis zum umgeben­ den Kunstwerk zu bewerten und ästhetisch zu beurteilen. Vgl. Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S.75f.; Livingston, Nested Art, S. 238 und 240. 28 Vgl. auch Müller, Einmal Phantásien und zurück, S. 66f. 29 An einigen Stellen wird die Frage durch »aber« statt »doch« eingeleitet. Auch die Groß- und Kleinschreibung des ersten Wortes variiert. Aufgrund der überwiegenden Übereinstimmung werden auch diese Textstellen als Referenz eingefügt, um zu ver­ deutlichen, dass diese Phrase den Text von Anfang bis buchstäblich Ende durchzieht.

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 61

schichten, die virtuell in der Geschichte enthalten sind, gespiegelt. Die Un­ endliche Geschichte ist damit sowohl in ihrer vertikalen als auch ihrer hori­ zontalen Dimension eine unendliche. Die intertextuellen Verweise, die Die Unendliche Geschichte durchziehen – besonders deutlich ist ein Verweis auf die Homer’sche Odyssee in der Begegnung Atréjus mit dem Werwolf Gmork zu erkennen, in der sich Atréju als »Niemand« vorstellt – komple­ mentieren diese horizontale Ausdehnung der Unendlichen Geschichte, indem sie die Verankerung des Textes in der Kunst- und Kulturgeschichte der Welt der Lesenden deutlich hervorheben.31 Wie auch die Bibliothek, ist das Antiquariat Karl Konrad Koreanders, das den Ausgangs- und Endpunkt der Unendlichen Geschichte bildet, ein Raum der Bücher und damit symbolisch ein Raum der Texte bzw. des Textes. Bastians Eintritt in einen solchen Raum des Textes zu Beginn der Unendlichen Geschichte kann ebenfalls als symbolischer verstanden werden, der denjenigen der Lesenden, die die Lektüre beginnen, entspricht und mit Bastians Verlassen desselben Antiquariats zum Ende des Romans, das Verlassen der gelesenen fiktionalen Welt verdeutlicht. Die spiegelver­ kehrten Buchstaben, die zu Beginn der Analyse als optische Spiegelung, als primär graphisches Element betrachtet wurden, können im hier vorge­ stellten Zusammenhang als Verweis auf die erzählerische Perspektive ver­ standen werden: Die Aufschrift ist lediglich dem Effekt nach als eine ge­ spiegelte zu verstehen – tatsächlich handelt es sich um den Blick der 30 Bhadury argumentiert, dass diese angedeuteten anderen Erzählstränge eine überge­ ordnete Erzählinstanz suggerieren, die die verschiedenen diegetischen Ebenen über­ spannt. Die Wiederholung der Phrase versteht sie damit als auktoriale Machtdemons­ tration gegenüber Bastians Übernahme der textproduzierenden Funktion als privile­ giertem Leser. Vgl. Bhadury, Metafiction, S. 319. 31 Für eine Analyse der intertextuellen Verweise und ideengeschichtlichen Quellen in der Unendlichen Geschichte vgl. Müller, Einmal Phantásien und zurück, S. 103-194 und Stoyan, Die phantastischen Kinderbücher, S. 116-174. Im Zusammenhang mit der Mise en abyme ist insbesondere das Bergwerk der Bilder (S. 399-407) erwäh­ nenswert. Innerfiktional werden die Bilder im Bergwerk als vergessene Traumbilder beschrieben, einige der Bilder scheinen aber Werke der Bildenden Kunst oder bild­ liche Adaptionen literarischer Werke unserer Welt zu spiegeln. Stoyan arbeitet diese Verweisstruktur im Einzelnen heraus (vgl. ebd., S. 158f.). Damit erscheint ganz Phantásien als eine Welt, die auf künstlerischen Ausdrucksformen jeglicher Media­ lität basiert.

62 | Der Abgrund im Spiegel

erzählenden Instanz aus dem Antiquariat heraus durch das Glas der Laden­ türe. Es ist der Blick des Erzählers, die Perspektive des Textes selbst, der aus dem symbolischen Textraum des Antiquariats heraus, den Auftritt seines Protagonisten erwartet. Es ist der Blick aus einer Welt heraus, die hinter den Buchstaben liegt – die vermeintliche spiegelbildliche Verkeh­ rung erscheint als Inszenierung einer solchen, der fiktionalen Welt eigenen Perspektive, die durch eine transparente Grenze, wie die der Glastür, von einer anderen Welt getrennt ist. Die Inszenierung dieser Perspektive deutet prophetisch voraus, was erst in der Wiederholungsschleife zur Gewissheit wird: Bastians Eintritt in eine erzählte Welt beginnt, ebenso wie derjenige der Lesenden, mit Bastians Eintritt in das Antiquariat. Der buchstäbliche Eintritt in die erzählte Welt Phantásiens ist nur der Eintritt in eine weitere Welt, der vielen Welten, die wie die Bücher des Antiquariats nebenein­ ander stehen: »›Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher. Viele Leute merken nichts davon. Es kommt eben darauf an, wer ein solches Buch in die Hand bekommt.‹« (427) In der Unendlichen Geschichte ist ein solcher Eintritt Gegenstand der Erzählung – es gibt eine eingelagerte, tieferliegende Erzählung in der Er­ zählung, von deren Betreten berichtet wird, wodurch sich die Verkettung der Welten erst offenbart.

3.6

ZUSAMMENFASSUNG

Die Unendliche Geschichte ist das Buch eines Lesenden – es ist eine Insze­ nierung der Lektüre, eine Inszenierung eines buchstäblichen Eintritts in fik­ tionale Welten, eine Inszenierung von Kontextualitätsmechanismen. Das Buch und die Buchstaben erscheinen dabei als transparenter und zugleich spiegelnder Durchgang, der einen unvermittelten Blick auf und einen Ein­ tritt in fiktionale Welten ermöglicht. Die fiktionale Illusion wird zur Reali­ tät – die Realität zur Fiktion. Die Mise en abyme erlaubt es dabei, die lite­ rarische Kommunikationsstruktur fiktional offenzulegen und die besonderen, symbiotischen Beziehungen zwischen Signifikaten und Signifikanten in literarischen Texten zu betrachten und zu reflektieren. Dabei erscheinen sowohl die fiktiv-reale Welt der Rahmenerzählung als auch die fiktiv-phan­ tastische Welt Phantásiens als Erzählung des Alten vom Wandernden

Spiegelungen in Spiegelungen – M. Endes Die Unendliche Geschichte | 63

Berge, deren Wahrnehmung auf der sprachlichen, erzählerischen Vermitt­ lung beruht. Damit verweist die potenziell unendliche Mise en abyme über ihre paradoxe Spiegelungsfunktion hinaus auf die realitätskonstituierende Funktion von Sprache, von Literatur.32 Die verschiedenen Mise en abyme verdeutlichen unterschiedliche Aspekte der Durchdringung der Welt von künstlerischen Ausdrucksformen, die den Dingen ihre Form geben, sie wahrnehmbar machen und die identitätsstiftende Funktionen erfüllen. Spei­ cherorte wie die Bibliothek von Amargánth, aber auch das Antiquariat von Karl Konrad Koriander, verdeutlichen diese Durchdringung und Konstitu­ ierung der Welt durch Erzählungen, die von einer Gemeinschaft geteilt und erfahren werden auf einer sehr konkreten Ebene. Die Unendliche Ge­ schichte zeigt aber auch die weniger intuitiv erfassbaren Facetten dieser sprachlichen Durchdringung und Konstituierung: Die Lektüre wird als ein Prozess der Welterzeugung gezeigt – als ein Prozess der unbewusst ver­ läuft, als ein Prozess, der unserer Wahrnehmung den Anschein von Objek­ tivität verleiht. Basitans Erfahrung mit der scheinbar unabhängig von ihm existierenden Geschichte, die durch Schriftzeichen auf Papier fixiert und abgeschlossen ist, stellt diese Annahme in Frage. Wie die Welt Phantásiens kann auch die fiktiv-reale Ebene sowie die Welten der Lesenden als kultu­ rell geprägte Wirklichkeiten angenommen werden, die von wahrnehmen­ den Subjekten geformt werden.33 Damit wird die Wahrnehmung der Wirk­ lichkeit zu einem konstitutiven Akt analog zu demjenigen des Lesens. Beide basieren auf Zeichensystemen, die von einer Gemeinschaft geteilt werden und der Flut an wahrgenommenen Reizen Struktur geben – Sprache erscheint damit als das Element, das die getrennten diegetischen Ebenen zu überbrücken vermag.34

32 Vgl. auch Müller, Einmal Phantásien und zurück, S. 70. 33 Vgl. Huse, Nancy (1988): »The Blank Mirror of Death. Protest as Self-Creation in Contemporary Fantasy«. In: The Lion and the Unicorn, Vol. 12, No.1 (June), S. 2843, hier S. 31. 34 Vgl. ebd., S. 39.

4 Literatur im Kontext – M. Zusaks The Book Thief

4.1

EINLEITENDES

Initiierte in der Unendlichen Geschichte ein Bücherdiebstahl das Gesche­ hen, wird im nächsten zu analysierenden Roman der Diebstahl von Büchern zum titelgebenden Element erhoben: Der Titel von Markus Zusaks Roman, The Book Thief1, ist ambivalent – eine Ambivalenz, die in der deutschen Übersetzung durch die geschlechtsspezifische Bestimmung leider verloren geht – und verweist sowohl auf den Erzähler des Romans, den personifi­ zierten Tod, als auch auf die Protagonistin Liesel Meminger. Es ist Liesels Geschichte, die der Tod erzählt, doch beruft sich diese Erzählung nicht auf eine Zeugenschaft, sondern erweist sich als die Nacherzählung einer von Liesel selbst verfassten Geschichte ihres Lebens, die ebenfalls den Titel The Book Thief trägt. Der Tod stiehlt dieses Buch und liest es, wie er ein­ gangs bemerkt, über die Jahrzehnte wieder und wieder (15). Liesel und der Tod teilen damit nicht nur eine Vorliebe für das Stehlen und Lesen von Bü­ chern, sondern auch das Erzählen von Geschichten, was zu einer Struktur der Überlagerung von Erzählstimmen in Zusaks Roman führt. Für den Tod ist das Lesen von Büchern durch den Versuch motiviert, »to prove to me that you, and your human existence, are worth it« (16). Bleibt an dieser Stelle auch offen, worauf sich dieses »worth it« bezieht, so impliziert es im Kontext der historischen und geographischen Situierung des Romans – das nationalsozialistische Deutschland – eine humanistische Gesinnung des Er­ 1

The Book Thief erschien erstmalig 2005. Der Analyse liegt die folgende Ausgabe zugrunde, auf die sich auch die im Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen: Zusak, Markus (2016): The Book Thief. London: Definitions.

66 | Der Abgrund im Spiegel

zählers, der angesichts der gesellschaftspolitischen Umstände ins (Ver-) Zweifeln gerät. Liesels Geschichte erscheint ihm als Hoffnungsschimmer und daher würdig wiedergelesen und wiedererzählt zu werden. Liesels Geschichte beginnt im Januar 1939: Sie ist mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder mit dem Zug unterwegs nach München, um dort in die Obhut von Pflegeeltern gegeben zu werden. Ihre Mutter ist zu diesem Schritt gezwungen, die finanzielle Lage ist prekär und der Vater der Kinder wird seit Jahren vermisst – die neunjährige Liesel kann sich nicht an ihn er­ innern und verbindet nur das für sie rätselhafte Wort ›Kommunist‹ mit ihm. Liesels kleiner Bruder überlebt die eisige Kälte und die Entbehrungen der Fahrt nicht. Auf der improvisierten Beerdigung in einem namenlosen Dorf auf der Strecke begeht die analphabetische Liesel ihren ersten Bücherdieb­ stahl: The Gravedigger’s Handbook. »[T]he beginning of an illustrious career« (29), wie der Erzähler bemerkt. Die Erzählung fokussiert Liesels alltägliches Leben in der Himmel­ straße in Molching bei ihren Pflegeeltern, den Hubermanns. Die Alb­ träume, die Liesel Nacht für Nacht heimsuchen, werden zum Anlass für Liesels allmählich Alphabetisierung. Liesels Pflegevater Hans, der die nächtlichen Albträume mit ihr durchsteht, lehrt Liesel das Lesen anhand von The Gravedigger’s Handbook. Langsam, sehr langsam lesen sie ge­ meinsam jede Nacht ein Stück des gestohlenen Buches und schließlich all die anderen, die Liesel im Laufe der Geschichte in ihren Besitz bringt. Und sie üben gemeinsam das Schreiben, indem sie mit Wandfarbe – Hans ist Maler – Buchstaben und Wörter auf die Wände des Kellers schreiben. Doch der Keller bleibt nicht lange ihr privates Refugium: Die Hubermanns gewähren Max Vandenburg, dem Sohn eines jüdischen Freundes von Hans, Unterschlupf – und Liesel findet in ihm nicht nur einen Freund, sondern zu­ gleich einen Menschen, der wie sie, den Verlust von geliebten Menschen und die nächtliche Heimsuchung von Albträumen kennt. Die Tage ver­ bringt Liesel in der Schule oder setzt sich gegen die Nachbarsjungen im Fußball auf der Himmelstraße durch. Sie liefert die Wäsche aus, die ihre Pflegemutter Rosa für reichere Familien wäscht, und wird stets begleitet von ihrem besten Freund Rudi. Doch der Einfluss des nationalsozialisti­ schen Regimes und die Entbehrungen der Kriegszeit werden immer stärker spürbar. Max flieht schließlich, um die Hubermanns nicht weiter zu ge­ fährden, und Liesel sieht ihn erst in einem Gefangenentransport, der durch die Straßen Molchings nach Dachau führt, wieder. Bei einem verheerenden

Literatur im Kontext – M. Zusaks The Book Thief | 67

Bombenangriff auf Molching kurz vor Kriegsende kommen die Huber­ manns und auch Rudi ums Leben – nur Liesel überlebt durch einen Zufall: Während des überraschenden Angriffs schrieb sie an dem Buch, das der Tod nach Liesels Befreiung aus dem verschütteten Haus stiehlt. Auch Max überlebt den Krieg und findet Liesel nach der Befreiung des Konzentrati­ onslagers wieder. Erst im hohen Alter trifft Liesel erneut auf den Tod, der sie nach einem langen Leben mit sich nimmt. Der Roman ist in zehn Teile zuzüglich Prolog und Epilog unterteilt, die jeweils nach einem oder mehreren Büchern benannt sind. Es sind die Bü­ cher, die Liesel im Laufe der Zeit stiehlt oder geschenkt bekommt, und die ihre Geschichte strukturieren und bestimmen – ihre Lebensgeschichte, die Geschichte, die sie selbst schreibt, und damit ebenso die Geschichte, die der Tod über sie erzählt. Mitunter sind die Bezüge zu den jeweiligen Bü­ chern innerhalb der Kapitel peripher und scheinen vielmehr als Indikatoren für bestimmte Lebensabschnitte zu dienen. Es ist eine sehr heterogene Aus­ wahl an Büchern und Textgattungen, die unterschiedliche textuelle Ebenen betonen und sich in der ihnen beigemessenen Bedeutung stark unter­ scheiden. Einige dieser Texte und die entsprechenden Kapitel sollen im Folgenden betrachtet werden.

4.2

DAS PRAGMATISCHE BUCH – THE GRAVEDIGGER’S HANDBOOK

Wurde in der Unendlichen Geschichte eine Opposition zwischen dem Buch als materiellem Objekt und den darin verborgenen fiktionalen Welten auf­ gebaut, um diese schließlich wieder zu unterlaufen, zeigt sich in The Book Thief zunächst eine viel pragmatischere Perspektive auf Texte. Das erste Buch, das Liesel auf der Beerdigung ihres Bruders stiehlt und mit dem sie ihre Bücherobsession begründet, ist ein Handbuch – »A twelve-step guide to gravedigging success. Published by the Bayern Cemetery Association« (28). Dennoch lässt sich auch dieses Buch – als Inbegriff eines pragmati­ schen Textes, der der mitunter sentimentalen Poetizität von The Book Thief diametral entgegensteht2 – im Kontext der Mise en abyme betrachten. Ent­ 2

Buckland beschreibt die Erzählweise des Todes als »at once ironic, whimsical, com­ passionate and deadly serious […]. He presents a startling and admonishing view of human events through piercing metaphors and his intense perceptions of colour, the

68 | Der Abgrund im Spiegel

zieht sich Liesels Faszination an diesem Buch auch einer rationalen Be­ gründung, kann sie durch den situativen Kontext der Buchbeschaffung an­ näherungsweise gegriffen werden:3 Liesel erwacht aus einem Traum in just jenem Augenblick, als ihr Bruder stirbt. »One eye open, one still in a dream« (21) – im Traum hatte sie einer Rede von Hitler gelauscht, »the tor­ rent of words that was spilling from his mouth« (21). Die Rede scheint Liesel mehr als akustische Überflutung, denn als Kommunikation von In­ halten wahrzunehmen. Sie richtet sogar selbst das Wort an ihn, doch ihr sprachlicher Ausdruck wird als inadäquat gekennzeichnet: »She hadn’t learned to speak too well, or even to read, as she had rarely frequented school« (21).4 Angesichts des Traumas des Verlusts erscheint das Buch als Schlüssel zum Verstehen. Intuitiv verknüpft sich die Beherrschung von Sprache, von Schrift mit dem Verständnis und der Beherrschbarkeit der Umstände. Die nächtlichen Albträume, in denen sie in den Zug und zu dem sterbenden Bruder zurückkehrt, werden durch das Lesenlernen mit diesem spezifischen Buch gebannt. Das Buch stellt eine Verbindung zu dem Ge­ schehnis dar, das sie in ihren Träumen plagt, und eröffnet zugleich eine Ausflucht. Als Totengräberhandbuch, sowohl als Textform als auch durch die Morbidität, denkbar ungeeignet als Lesefibel, verdeutlicht es in seiner Absurdität und Tragikomik zum einen Liesels Analphabetismus – sie weiß zum Zeitpunkt des Diebstahls nicht, um welche Sorte Text es sich handelt –, zum anderen aber auch das allgemeine Verlangen nach Verständnis und dem Zugang zu Wissen, dem Zugang zu der ihr unverständlichen Welt. Das Handbuch wird zum Symbol für die Aneignung der Fähigkeit Schriftzei­ chen Bedeutungen zuzuordnen. Die unmittelbare intratextuelle Kontextuali­ sierung von der geträumten Rede von Hitler, dem Tod des Bruders und colours of carnage and of emotion.« Buckland, Corinne (2011): »Transcendent his­ tory. Markus Zusak’s ›The Book Thief‹«. In: Wąsik, Zdzisław u.a. (Hgg.): Exploring the Benefits of the Alternate History Genre. Philologica Wratislaviensia, Acta et Studia, Vol. 5. Wrocław: Wydawnictwo Wyższej Szkoły Filologicznej, S. 71-82, hier S. 72. 3

»As for the girl, there was a sudden desire to read it that she didn’t even attempt to understand. On some level, perhaps she wanted to make sure that her brother was buried right. Whatever her reasons, her hunger to read that book was as intense as any ten-year-old human could experience.« (S. 68)

4

Ob der Erzähler oder sie selbst die Unangemessenheit ihres Ausdrucks bemerkt, ist auf Grund der gedoppelten Erzählsituation unmöglich zu beurteilen.

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schließlich dem Diebstahl des Handbuches, verknüpft den Wunsch nach der Beherrschung von Sprache und Schrift mit den politischen Umständen, die wiederum in Zusammenhang mit dem persönlichen Verlust der Familie gebracht werden. Das Handbuch erweist sich damit als reines Träger­ medium als Mise en abyme: »[S]he had no idea what any of it was saying. The point is, it didn’t really matter what that book was about. It was what it meant that was more important« (39). Es ist ein Buch im Buch, ein rein ma­ terielles Objekt, das – den Verlust ihrer Familie symbolisierend – das Nicht-Verstehen verdeutlicht und als Stellvertreter für die Transformation von Nicht-Verstehen zu Verstehen einsteht. Zugleich stellt das Handbuch Begräbnisse als eine Handwerkskunst dar – als »funerary arts« (94) – und markiert damit einen Gegensatz zwischen individueller Bestattung und den Verbrennungsöfen und Massengräbern, der maschinellen und auf Massen optimierten Beseitigung von Leichen, deren Bilder die kollektive Erinne­ rung an diese Epoche dominieren. Hans Hubermanns Reaktion, nachdem er das Buch zwischen Liesels Laken findet, verdeutlicht diesen Zusammen­ hang: »›Well promise me one thing, Liesel. If I die anytime soon, you make sure they bury me right. […] No skipping Chapter Six, or Step Four in Chapter Nine‹« (68). Das angemessene, regelkonforme, das ›richtige‹ Beer­ digen, das in unmittelbarer Folge zweimal erwähnt wird (nicht nur in Form des humoristischen Kommentars von Hans, sondern auch als Ausdruck der Sorge Liesels bezüglich der Beerdigung ihres Bruders, vgl. Fußnote 3), ver­ spricht durch Sorgfalt und Wertschätzung eine menschenwürdige Beendi­ gung des Lebens. Der leibliche Aspekt des Todes wird damit zur profanen Vervollständigung des transzendentalen, das der als Erzähler anthropomor­ phisierte Tod vorführt.5 Wenn der Tod Liesels Bruder, seine Seele, abholt, liegt darin das Moment der Heilung: »He warmed up soon after, but when I 5

Auch dieser transzendentale Aspekt des Todes erscheint als individuelle Würdigung: Der erzählende Tod ordnet jedem Individuum, das er holt, die Farbe des Himmels zum Zeitpunkt seines Todes zu, der individuell wie ein Fingerabdruck wirkt: »The question is, what colour will everything be at that moment when I come for you? What will the sky be saying? […] I do, however, try to enjoy every colour I see – the whole spectrum. A billion or so flavours, none of them quite the same […] People observe the colours of a day only at its beginnings and ends, but to me it’s quite clear that a day merges through a multitude of shades and intonations, with each passing moment. A single hour can consist of thousands of different colours. In my line of work, I make it a point to notice them.« (S. 4f.)

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picked him up originally, the boy’s spirit was soft and cold, like ice-cream. He started melting in my arms. Then warming up completely. Healing.« (21) Die Beerdigung des Körpers wird dagegen zum Ausgangspunkt der Heilung der Hinterbliebenen. Die Verhandlung des ›to make it right‹, in der das Gegenteil des ›to make it wrong‹ mitschwingt, erscheint eine den Text durchziehende Kon­ stante. Die moralische Komponente auf der Makroebene, die die individu­ elle Positionierung zum umgebenden politischen System umfasst, wird durch alltägliche Verhandlungen des Richtigen und des Falschen gerahmt. Durch die Wiederholung des ›to make it right‹ wird diese Verhandlung schließlich auch an Liesels Schreiben geknüpft, das durch dieselbe Phrase eingerahmt wird: Sie beginnt ihr Schreiben »not knowing how she was ever going to get this right« (557) und beendet es schließlich mit den Zeilen »I have hated the words and I have loved them, and I hope I have made them right« (562). In seiner spezifischen Bedeutung für Liesel wird The Gravedigger’s Handbook nicht nur zum Ausgangspunkt für eine anhaltende, die Ge­ schichte strukturierende Obsession, sondern umreißt und spiegelt bereits die thematischen Schwerpunkte und grundlegenden Fragestellungen des ge­ samten Romans. Die Ähnlichkeit, die auf diese Weise zwischen diesem eingelagerten Buch und The Book Thief entsteht, basiert auf dem ihm bei­ gemessenen Wert, auf Projektionen, und verdeutlicht damit die Kontextbe­ zogenheit und Varianz individueller Lektüre. Zugleich verdeutlicht diese produzierte Ähnlichkeitsbeziehung, wie die Bewertung der eigenen Le­ benswirklichkeit von der individuellen Rezeption von Texten bzw. der In­ terpretation von Zeichensystemen geprägt werden kann, die als Erfahrungs­ schatz, als Kontext dienen und fruchtbar gemacht werden können.

4.3

DAS POLITISCHE BUCH – THE SHOULDER SHRUG UND MEIN KAMPF

Bevor in Kapitel 4.4 auf die kleinen illustrierten Texte von Max Vanden­ burg eingegangen wird, die als einzige Mise en abyme ohne erzählerische Vermittlung direkt in den Textkorpus eingelagert sind, soll durch die Be­ trachtung der nächsten beiden Bücher, die The Book Thief strukturieren, ein Übergang geschaffen werden. Sie bilden die Folie für die nachfolgenden

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und konkretisieren, wie schon The Gravedigger’s Handbook, aufgrund der ihnen beigemessenen Bedeutung die in The Book Thief angelegte Struktur der Mise en abyme. Das erste dieser Bücher ist The Shoulder Shrug – ein Buch, das Liesel bei der Bücherverbrennung anlässlich Hitlers Geburtstags aus dem verlö­ schenden Feuer stiehlt. »When she looked back, Liesel was not ashamed to have stolen it. On the contrary, it was pride that more resembled that small pool of felt something in her stomach. And it was anger and dark hatred that had fuelled her desire to steal it. […] The question, of course, should be why? […] In short, the answer travelled from Himmel Street, to the Führer, to the unfindable locations of her real mother, and back again.« (90f.)

Das Stehlen des Buches ist ein Akt des nicht rational bewussten Aufstands. Die Rede, die anlässlich der Feierlichkeiten gehalten wurde, verknüpft durch ein Wort alles, was Liesel zu erleiden hatte, mit einem Grund: »›Today is a beautiful day […] Not only is it our great leader’s birthday, but we also stop our enemies once again. We stop them reaching into our minds … […] We put an end to the disease […]. The immoral! The Kom ­ munisten!‹ That word again. That old word. Dark rooms. Suit-wearing men. ›Die Juden – the Jews!‹« (119) Das Wort ›Kommunisten‹, das sie nie verstanden hatte, aber untrennbar mit ihren leiblichen Eltern verwoben ist, erhält plötzlich eine Bedeutung. Es ist nicht eine Bedeutung, wie sie in Wörterbüchern verzeichnet wäre, sondern eine, die die Positionierung im bzw. das Verhältnis zum gegenwär­ tigen gesellschaftspolitischen System verdeutlicht. Über die Position ihrer Familie ändert sich ihr eigener Standpunkt zum System: »She saw it all so clearly: Her starving mother, her missing father. Kommunisten. Her dead brother. ›And now, we say goodbye, to this rubbish, this poison.‹« (120) Die Bücherverbrennung ist ein beinahe kriegerischer Akt der Zerstö­ rung der im nationalsozialistischen System als feindlich angesehenen Ideo­ logien – der Versuch das kulturelle Gedächtnis, das sich in Schriftstücken und künstlerischen Produktionen manifestiert und gespeichert wird, auszu­ löschen. Liesel, die sich plötzlich in einer Widerstandshaltung zu diesem

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System befindet (»›I hate the Führer‹ she said. ›I hate him.‹«, 124),6 lehnt sich durch ihren Diebstahl im Verborgenen gegen die herrschenden Ver­ hältnisse auf und sichert symbolisch den Fortbestand der der Vernichtung anheim gestellten Kultur. Im Unterschied zum Diebstahl von The Grave­ digger’s Handbook ist es damit bei The Shoulder Shrug indirekt auch der Inhalt des Buches, der ihr Handeln bestimmt: Liesel unterläuft die mit der Bücherverbrennung verbundene Absicht, den ›Feinden‹ des NS-Regimes einen Schlag zu versetzen. Sie verschafft sich Zugang zu einem Teil der zu zerstörenden Werke und mehr noch, entscheidet sich, das gestohlene Buch als herausragend zu bewerten: »The Shoulder Shrug, she decided, was ex­ cellent. […] The authorities’ problem with the book was obvious. The pro­ tagonist was a Jew, and he was presented in a positive light.« (155) Im Unterschied zu The Gravedigger’s Handbook ist The Shoulder Shrug ein literarischer Text, ein Roman. Er handelt von einem Mann, der beschließt, die Geschehnisse, die in der Welt um ihn herum passieren, nicht mehr mit einem Schulterzucken zu quittieren. Durch die Einbettung in The Book Thief lässt sich die dargestellte Handlung direkt auf Liesels Ge­ schichte, auf ihre Entwicklung und die Positionierung eines Individuums zur gesellschaftspolitischen Situation der Zeitgeschichte übertragen. Doch das in The Shoulder Shrug Erzählte wird in The Book Thief mit nur einem Satz erwähnt (vgl. 155) – der Kontext seiner Beschaffung scheint dessen Bedeutung für Liesel zu dominieren. Neben dem Willen zum Widerstand gegen das herrschende System veranschaulicht das Buch auch den Selbst­ wert von Literatur und Büchern, den Liesel zunehmend erkennt. Die Be­ schreibung der optischen Qualitäten des Buches, als Liesel es aus der schwelenden Asche zieht, verdeutlicht die ästhetische Wertschätzung des Gegenstands (129) – und bereitet zugleich den Boden für die Wirkung, die die private Bibliothek von Ilsa Hermann, der Frau des Bürgermeisters, auf Liesel hat: »It was one of the most beautiful things Liesel Meminger had ever seen. With wonder, she smiled. That such a room existed!« (145) Die haptische und optische Qualität der Bücher erscheint jedoch nur als ein Versprechen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Wörter. Die instru­ mentelle Funktion von Büchern, wie sie in der bisherigen Analyse darge­ legt wurde, rückt immer weiter in den Hintergrund: »When she came to 6

Vgl. auch folgende Textstelle: »The word communist + a large bonfire + a collection of dead letters [Briefe an Liesels leibliche Mutter, die unbeantwortet blieben, Anm. Ch.G.] + the suffering of her mother + the death of her brother = The Führer.« (124)

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write her story, she would wonder exactly when the books and the words started not just to mean something, but everything.« (30) Zugleich verbin­ det sich für Liesel das Lesen mit einem Gefühl der Macht. Es ist die Macht des Verstehens, aber auch das Verständnis darüber, was Worte im gege­ benen gesellschaftspolitischen Klima bedeuten. »Once, words had rendered Liesel useless, but now, when she sat on the floor, with the mayor’s wife at her husband’s desk, she felt an innate sense of power. It hap­ pened every time she deciphered a new word or pieced together a sentence. She was a girl. In Nazi Germany. How fitting that she was discovering the power of words.« (159)

Der Verweis auf ›Nazi Germany‹ ruft direkt den Kontext der absoluten Dis­ kurshoheit der Nationalsozialisten auf – und mithin die geträumten und die bei der Bücherverbrennung tatsächlich erlebten propagandistischen Reden, die als akustische Naturgewalten dargestellt werden (vgl. »torrent of words« 21; »Waterfalls of words« 120). Zugleich ist in dieser Passage auch ein Verweis auf die festgelegten Geschlechterrollen verwoben: In einem doppelten Relationsbezug, wird Ilsa Hermann in Abhängigkeit von ihrem Mann bestimmt, der der scheinbar nicht kausal eingebundenen Bemerkung »[s]he was a girl« einen Kontext gibt. Die Macht der Worte, die Liesel ent­ deckt, wird somit aus einem rein individuellen Kontext heraus in einen ge­ sellschaftspolitischen übertragen. Im Kontext der ideologischen Aufladung von Sprache entsteht aus der Rezeption von Literatur Liesels Gespür für deren wirklichkeitsformende Macht, als auch eine Wertschätzung für die ihnen eigene Ästhetik.7 Die bereits zitierten letzten Zeilen des Buches, das sie schreibt, verdeutlichen diesen Zusammenhang: »I have hated the words and I have loved them, and I hope I have made them right« (562). Sprache wird nicht als ein neutrales Kommunikationsmittel dargestellt, als ein funk­ 7

Gemäß Eco stellt eine Ideologie eine Weltanschauung, ein globales semantisches System dar, das eine Wirklichkeit gliedert. Eine ideologische, da ›erstarrte Nachricht‹ wird zu einem rhetorischen Subcode, der Bedeutungsdimensionen verschleiert, anstatt sie zu offenbaren. Vgl. Eco, Semiotik, S. 54. Literatur hingegen, Text im post­ strukturalistischen Verständnis als Praxis des Signifizierens, des Spiels mit den Signifikanten, erweist sich in dieser Hinsicht als ideologiefern. Vergleiche dazu auch die Ausführungen im Theorieteil bzgl. Kristevas Konzept des Ideologems.

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tionaler Kanal, sondern vielmehr als ein ambivalentes, machtvolles Instru­ ment. Die Ambivalenz wird in der Konfrontation von instrumentalisierter Sprache und selbstzweckhafter, literarischer vorgeführt. Dabei ist diese Ambivalenz nicht nur eine Frage der Produktion, sondern vielmehr auch der Rezeption: Die Verbrennung und Verbannung bestimmter Texte stellt weniger eine Verbrennung von Literatur dar, als eine Verbrennung be­ stimmter Ideologien. The Shoulder Shrug als Roman, steht für das Aufein­ anderprallen zweier unterschiedlicher, höchstgradig kontextabhängiger Lesarten ein, die jeweils durch das fiktional extratextuelle, ideologisch ge­ prägte semantische System des Nationalsozialismus geprägt sind. Die aus­ schließlich erzählerisch vermittelte Einlagerung des Textes, die den Le­ senden von The Book Thief keine eigene Perspektive auf den Text ermöglicht, verdeutlicht diesen Zusammenhang. Während die systemkon­ forme Lesart den Text auf die ethnische Zuordnung des Protagonisten redu­ ziert, stellt Liesels Lektüre eine Art Negativ dar, das auf der Ablehnung des herrschenden Systems basiert und zu der Entscheidung führt, das Buch stark positiv zu bewerten. Anhand von The Shoulder Shrug führt The Book Thief vor, wie ästhetische, selbstbezügliche literarische Zeichen durch die Rezeption in extratextuelle Kontexte eingebettet sind, durch diese bestimmt werden, aber auch reziprok auf diese einwirken. Texte werden zu Zeichen der Relation zum herrschenden System – zum Zeichen der Konformität oder im Falle von The Shoulder Shrug der Nicht-Konformität. Hans Huber­ mann, durch Liesels Diebstahl von The Shoulder Shrug auf den Gedanken gebracht, macht sich diesen Mechanismus zunutze, um ihn gegen das NaziRegime auszuspielen: Er instrumentalisiert Hitlers Mein Kampf, um – eine Schuld aus dem Ersten Weltkrieg begleichend – dem jüdischen Max Van­ denburg nicht nur den Schlüssel zum Hubermann’schen Haus zukommen zu lassen, sondern auch einen gewissen Schutz während der Reise dorthin zu gewährleisten: »Mein Kampf. From all the things to save him« (173). Obwohl Liesel nie Mein Kampf liest, ist dieser Titel, nach The Gravedig­ ger’s Handbook und The Shoulder Shrug, der dritte Text, der Liesels Ge­ schichte und mithin The Book Thief strukturiert. Es ist eines der Bücher, die ihr Leben bestimmen – es ist das Buch, das Max sicher nach Molching es­ kortiert hat und ist damit, in Max’ eigenen Worten, »the best book ever. […] It saved my life.« (236) Während The Shoulder Shrug aufgrund von kontextualisierenden Mechanismen der Rezeption zu einem ideologischen Zeichen wird, stellt Mein Kampf die Produktion von ideologischen Zeichen

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vor: Mein Kampf ist als ideologische Kampfschrift gewissermaßen der Grundstein des semantischen Systems, das zur Folie der Bewertung anderer Texte dient. Dieser Zusammenhang, der durch The Shoulder Shrug und Mein Kampf angedeutet wird, erfährt durch die Texte, die Max für Liesel schreibt und zeichnet, und die Art und Weise, wie diese in The Book Thief eingelagert sind, eine ästhetische Umsetzung, die im nächsten Kapitel ex­ plizit herausgearbeitet wird.

4.4

DIE ÄSTHETISCHEN BÜCHER – DIE TEXTE VON MAX VANDENBURG

Drehten sich die bisherigen Analysen um Texte, die durch Liesels Rezep­ tion indirekt in The Book Thief eingelagert sind und deren Bezug zum rah­ menden Text primär kontextbezogen erscheint, werden durch The Stand­ over Man und The Word Shaker zwei Texte als ›nested art‹ (vgl. Ausführungen in Fußnote 27 des vorherigen Kapitels), also direkt in den Textkorpus integriert, deren Spiegelungscharakter intuitiv erfassbar er­ scheint. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Büchern sind sie primär als ›mise en abyme fictionelle‹ einzuordnen – auch wenn sie in einigen Aspekten Züge der ›mise en abyme métatextuelle‹ tragen – da sie sich primär auf die inhaltliche Ebene, auf die erzählte Geschichte um Liesel, be­ ziehen lassen. Die beiden Texte sind als fiktionale Faksimiles in den Text eingelagert und bestehen aus handschriftlich dargebotenen Erzählungen und Zeichnungen, die Max für Liesel angefertigt hat. 8 Mehr als die anderen Texte betonen sie damit auf der einen Seite ihre ästhetische Autonomie, indem sie sich visuell klar vom restlichen Textkorpus abheben, und sind auf der anderen Seite doch zugleich durch die Produktionskontexte mit dem einbettenden Text verbunden – wie auch Liesel selbst, füllen die Lesenden die Leerstellen der Texte gemäß der umgebenden Narration.

8

Diese beiden kleinen Texte sind in vollem Umfang im Anhang dieser Arbeit abge­ bildet. Mein herzlicher Dank gilt Markus Zusak sowie Curtis Brown (Aust) Pty Ltd für die Abdruckgenehmigung.

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4.4.1 The Standover Man The Standover Man ist eine kurze Geschichte, die Max als ein verspätetes Geburtstagsgeschenk Liesel überreicht. Sie ist in ein kleines Heftchen ge­ bunden, das aus mit weißer Wandfarbe notdürftig getünchten, herausge­ lösten Seiten aus Hitlers Mein Kampf besteht. Die gedruckte Schrift ist noch immer unter der weißen Farbe erkenn- und zum Teil auch lesbar. Auf diesen Hintergrund ist mit einem kleinen Farbpinsel eine Geschichte ge­ schrieben und gezeichnet – eine Geschichte, die in gewisser Weise die ge­ meinsame Geschichte von Liesel und Max darstellt. Die Ähnlichkeitsbezie­ hung zwischen der rahmenden und der eingelagerten Erzählung ist somit produktions- und rezeptionsbedingt evident – es ist eine Geschichte von einem spezifischen Sender an eine spezifische Empfängerin, in die die Le­ senden von The Book Thief einen Einblick erhalten. Werden auch keine Namen oder andere starre Designatoren verwendet, um die in The Stand­ over Man dargestellten Personen eindeutig zu kennzeichnen, ist die Erzäh­ lung durch den hohen Wiedererkennungswert des Dargestellten fest an den Entstehungskontext gebunden. Es ist eine Wiedererzählung des bereits Ge­ schehenen und bereits Erzählten – eine fiktionsinterne Ästhetisierung, die den Aspekt der künstlerischen Formung durch die Zeichnungen erweitert und pointiert. Durch die visuellen Komponenten – die Zeichnungen und den Faksimile-Charakter – wird die Aufmerksamkeit dezidiert auf die Art und Weise des Erzählens gerichtet, das an dieser Stelle nicht rein sprachlich ist. Die handschriftlichen und die gezeichneten Komponenten des Textes stützen sich dabei gegenseitig, die Narration wird durch beide Elemente in ihrem Zusammenwirken getragen, die damit einen starken Kontrast sowohl zum umgebenden Textkorpus als auch zu den durchscheinenden ge­ druckten Schriftzeichen von Mein Kampf bilden. Die Differenz zum umge­ benden Roman dient dabei zum einen der Illusionsbildung, der Stützung und Beglaubigung der Fiktion 9 – sind doch die Handschrift und die Zeich­ nungen unmittelbare Abdrücke und damit Zeugen eines individuellen, real existierenden menschlichen Körpers. Zum anderen dient dieser Kontrast 9

Die Beglaubigungsfunktion der Faksimiles wird durch die englische Sprache einge­ schränkt: Sowohl die handschriftlichen Texte als auch die durchschimmernden gedruckten Zeichen von Hitlers Mein Kampf sind in englisch – Max und Liesel spre­ chen und schreiben deutsch, ein Umstand, auf den eingefügte deutsche Wörter, Wort­ erklärungen und explizite Übersetzungen im Text immer wieder verweisen.

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aber auch der Betonung der ästhetischen und strukturierenden Leistung des Erzählens an sich: Es ist eine fiktionsinterne künstlerische Strukturierung der Geschehnisse der Diegese, der von Max und Liesel geteilten Wirklich­ keit, die aus dem von ihnen Erlebten eine Narration werden lässt. Die Wiederholungsstruktur lenkt dabei das Augenmerk auf den Kon­ struktionscharakter der Narration, die eine Abfolge spezifischer Aspekte aus Max’ Leben präsentiert und kausal verknüpft: Der Verlust des Vaters, die Faustkämpfe in der Jugend, die Hilfe des Freundes im Versteck, die Reise zu den Hubermanns, die jüngsten Erlebnisse mit Liesel. Es ist eine Art der Narration, die die Gemeinsamkeit mit Liesels Lebensgeschichte fo­ kussiert. Durch eine der Zeichnungen wird dieser Zusammenhang explizit: Diese stellt das Mädchen dar, das einige dieser Gemeinsamkeiten, offenbar Orthographie übend, an die Wand schreibt: Zug, Träume und Fäuste (vgl. 251). Zu ergänzen wären der Verlust erst des Vaters, dann der gesamten Familie und der unerwartete Gewinn einer Freundschaft. Abbildung 4: Erste Seite des Standover Man aus Markus Zusaks The Book Thief, S. 244.

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Eingeklammert werden alle diese Ereignisse durch das Motiv des Stand­ over Man. Dieses Motiv wird zunächst als Angstbild in die Erzählung ein­ geführt – die erste Seite zeigt eine riesenhafte, dunkle Vogelgestalt, die ihren Schatten auf den am Boden kauernden Erzähler wirft, begleitet von den handschriftlichen Zeilen »All my life, I’ve been scared of men standing over me« (244). Die Formulierung sowie die Ikonographie ruft den Beginn von The Book Thief, die ambivalente Vorstellung des personifizierten Todes auf10: »at some point in time, I will be standing over you, as genially as possible« (4). Die dort durch den zweiten Halbsatz erfolgte Verschie­ bung vom Angstbild zu einem Bild der Freundschaft, wird in The Stand­ over Man langsam entwickelt: Der Vater, an den durch dessen vorzeitigen Tod jede Erinnerung verloren ist; die verlorenen Kämpfe mit Gleichaltrigen in der Kindheit; die Angst vor Entdeckung kontrastiert durch die Fürsorge des Freundes und schließlich das kleine Mädchen, das an seinem Bett steht und der Erkenntnis »that the best standover man I’ve ever known is not a man at all...« (255).11 Von einem Angstbild zu einem positiven Bild der Fürsorge und Freundschaft – dieser Paradigmenwechsel wird begleitet von einer anderen Art der Wandlung und Verwandlung: Der Ich-Erzähler von The Standover Man, dessen Vater, sein Gegner im Faustkampf – sie alle teilen sich mit der Angstgestalt die vogelartige Physiognomie. 12 Kontextua­ lisierend kann diese verfremdete Darstellung auf die Äußerung Liesels zu­ rückgeführt werden »His hair is like feathers« (235), auf die in The Stand­ over Man implizit Bezug genommen wird. Über diese synekdochische 10 Vgl. Adams, Jenni (2010): »›Into Eternity’s Certain Breadth‹. Ambivalent Escapes in Markus Zusak’s ›The Book Thief‹«. In: Children’s Literature in Education, Vol. 41, No. 3, S.222-233, hier S. 224f. 11 Die bewusst offengelassene Formulierung sowie die Transformation vom Schre­ ckensbild zu einem freundschaftlichen, verknüpft hier das Mädchen Liesel mit dem erzählenden Tod und enthält damit die Konnotation der kunst- und literaturgeschicht­ lichen Motivik vom Tod und dem Mädchen. Eine Parallele, die durch die gesamte Erzählsituation des Romans impliziert scheint. 12 Adams stellt in diesem Zusammenhang fest, dass »Max’s use of the vocabulary of his most recent and reassuring standover figure in the representation of his earlier fears might be viewed as inflecting even the sinister dark bird of the story’s opening with a degree of ambivalence, to an extent defusing the negative connotations of these images through their presentation in a visual mode associated with friendship and shelter.« Adams, Into Eternity’s Certain Breadth, S. 25.

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Verarbeitung von Liesels Bemerkung hinaus, kann die Verfremdung als Zeichen der historischen rassistischen Exklusionspolitik gelesen werden. 13 Diese Lesart wird insbesondere auch dadurch gestützt, dass die vogelartige Gestalt ein überindividuelles Moment beinhaltet, da sie nicht nur den Er­ zähler kennzeichnet. Die Vogelgestalt wird vielmehr zu einem Zeichen der Differenz zu den menschlich dargestellten Figuren. Diese Differenz zeigt sich besonders deutlich in der Zeichnung, die eine menschliche Figur beim Blick in einen Spiegel zeigt und dort die bekannte vogelartige Gestalt sieht. Diese Zeichnung ist von den folgenden Sätzen gerahmt: »But there is one strange thing. The girl says I look like something else.« (252) Durch die Konfrontation von Spiegelbild und dem in den Spiegel blickenden Subjekt wird die Differenz zugleich zu einer Differenz von Selbst- und Außenwahr­ nehmung. Aus dem Spiegel schaut ein gänzlich anderer zurück – doch ist es ebenjene Physiognomie, die den Erzähler durch den Text hindurch konstant kennzeichnet. Die Vogelgestalt erscheint damit ambivalent konnotiert: Zum einen als ein Zeichen der Ausgrenzung, zum anderen aber auch als spieleri­ sche Überspitzung der Perspektive des Mädchens auf ihn, mit seinem feder­ ähnlichen Haar. Gleich zweimal zeigt The Standover Man eine Umarmung des Mäd­ chens und der vogelartigen Erzählerfigur in gerahmten Bildern. Es ist eine einfache Geste, die jedoch durch die physiognomische Differenz zwischen den beiden ihre Wirkungsmacht entfaltet. Durch die Präsentation als ge­ rahmtes Bild, in der bildlichen Fixierung, wird diese Geste der Dankbarkeit und Freundschaft zugleich als unvergänglich gekennzeichnet, die damit dem Vergessen entgegensteht. Zugleich sind sie Mise en abyme in der Mise en abyme und verweisen auch in dieser Hinsicht auf Max Vandenburgs 13 Diese Lesart kann an Šklovskij Überlegungen zur Entautomatisierung der Wahrneh­ mung angeknüpft werden: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Ver­ fahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form.« Šklovskij, Viktor (1969): »Die Kunst als Verfahren«. In: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink, S. 2-35, hier: S. 15. Die unter dem Nationalsozia­ listischen Regime zur traurigen Gewohnheit gewordene rassistische Differenzierung und Diskriminierung, erscheint in der auf diese Art und Weise dargestellten Form, der verfremdeten Darstellung, der Gewohnheit entzogen und damit wieder der Wahr­ nehmbarkeit ausgesetzt.

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Rolle für und in Liesels Geschichte: Bevor Max Vandenburg die Himmel Straße erreicht, wird seine Ankunft in einer vorausdeutenden Bemerkung des Erzählers der Rahmenerzählung wie folgt angekündigt: »Hans Huber­ mann’s accordion was a story. In the times ahead, that story would arrive at 33 Himmel Street in the early hours of morning, wearing ruffled shoulders and a shivering jacket. It would carry a suitcase, a book, and two questions. A story. Story after story. Story within story.« (74) Nicht nur eine Abfolge von Geschichten, sondern eine Ineinanderlage­ rung von Geschichten markiert, gemäß dem Erzähler, die Ankunft von Max. Die Hervorhebung erscheint dem letzten Aspekt mehr Gewicht zu verleihen. Seine Ankunft bedeutet für Liesel neue Geschichten, die die ih­ rige prägen, die Teil ihrer Geschichte werden. Die Zeichnungen in The Standover Man, die nicht nur neben dem Text stehen, sondern als narrative Elemente den Text konstituieren, greifen dieses Moment strukturell auf, indem sie weitere Tiefenstrukturen eröffnen: Durch gerahmte Spiegel – neben dem schon erwähnten, begleitet ein prophetischer, ein Traumbild symbolisierender Spiegel Max’ Reise (vgl. 248) – , gezeichnete Bücher und die gerahmten Bilder der Umarmung werden die ineinandergelagerten Ge­ schichten um ineinandergelagerte Bilder ergänzt. Die Vertiefung in den Text hinein konstituiert jedoch zugleich die starke Verknüpfung zu der rah­ menden Erzählung. Das im Spiegel gezeigte Akkordeon verweist ikonisch auf Hans Hubermann, die Reflexion der Vogelgestalt verweist auf Liesels Bemerkung über Max’ federartige Haare, das lesende Mädchen zum Schluss verweist auf die im Keller lesende Liesel, die Bücherdiebin. Doch die Tiefenstruktur ist nicht nur eine Frage der Mise en abyme, der Abfolge oder Einlagerung von Geschichten, sondern auch eine Frage der Überlagerung: The Standover Man bildet ein Palimpsest, eine Überschrei­ bung. Hitlers Mein Kampf bildet buchstäblich die Grundlage für The Stand­ over Man. Der fiktionale Faksimilecharakter dient der Wiedergabe dieser Tiefenstruktur und betont die Überschreibung nicht nur als Resultat der in der Rahmenerzählung geschilderten Ressourcenknappheit, sondern als be­ deutungstragendes Element der ästhetischen Komposition. Die Überlage­ rung verdeutlicht die Einschreibung in einen Kontext und zugleich die Überschreibung, die partielle Revision dieses Kontextes. Die Kontextbezo­ genheit, die auch schon die Präsentation von The Gravedigger’s Handbook und The Shoulder Shrug kennzeichnete, wird hier durch die visuelle Umset­ zung greifbar gemacht. Der Diskurs der NS-Zeit zeigt sich hier wörtlich als

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die bedeutungsbestimmende Grundlage jeglicher Äußerungen, auf die schon Corbineau-Hoffmann im Allgemeinen verweist. Der ursprüngliche Text auf den Seiten wird überdeckt von etwas Neuem, das diesen partiell auslöscht – der Kontrast von Handschriftlichkeit zu den gedruckten Buchstaben, der Kontrast von künstlerischem Unikat zu der maschinellen Reproduzierbarkeit und Reproduziertheit verdeutlicht da­ bei nicht nur die Aufwertung des Individuellen, das der herrschenden Mehrheit entgegengesetzt wird, sondern vielmehr auch den Wirkungsbe­ reich der Überschreibung. Es ist eine Überschreibung nur eines von vielen Exemplaren, eine Auflehnung gegen die Autoritäten, die ungesehen und marginal wirkt, das Abbild eines ungleichen Kräfteverhältnisses. Die Dar­ stellung selbst wird somit zur Umsetzung des Dargestellten: Die kleine, an­ gesichts der gesellschaftspolitischen Verhältnisse unbedeutend erschei­ nende Geste der Umarmung zwischen dem Mädchen und dem vogelartig aussehenden Erzähler erscheint als politische Revision, als Überschreibung der durch die Autorität gesetzten rassistischen Exklusion. Die Palimpsest­ struktur setzt jedoch der Angst und dem Hass nicht nur Trost und Freund­ schaft entgegen, sondern zeichnet ein ambivalentes Bild, in dem beide Ele­ mente gleichermaßen enthalten sind.14 The Standover Man verdeutlicht durch die visuelle Darbietung die Erzählsituation von The Book Thief, die sich sowohl in der Figur des Todes als auch in der Übereinanderlagerung der persönlichen, individuellen Geschichte Liesels vor dem Hintergrund der Bedrohung durch das Naziregime und den Verheerungen des Krieges ab­ zeichnet. Ausgerechnet der visuelle Aspekt macht damit den Text auch zu einer ›mise en abyme métatextuelle‹, die den ›code du récit‹ widerspiegelt. In der Terminologie von Wolf kann diese Bezugnahme als selbstreferenzi­ elles Verweisen eingeordnet werden, das der Ebene der Wahrnehmung vor einem kognitiven Verstehensprozess den Vorzug gibt bzw. diesen initiiert. 4.4.2 The Word Shaker The Word Shaker, die zweite Erzählung von Max Vandenburg, greift einige Elemente von The Standover Man auf und führt sie fort: Auch diese Ge­ schichte ist auf übermalten Seiten von Hitlers Mein Kampf geschrieben und gezeichnet, doch wird an dieser Stelle der Faksimilecharakter ein wenig aufgeweicht. Handschriftlichkeit und kleine Zeichnungen markieren auch 14 Vgl. Adams, Into Eternity’s Certain Breadth, S. 225.

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hier das Geschriebene als Unikat, doch wird auf die Buchseitenimitation und damit auch auf die durchscheinenden Textteile von Mein Kampf ver­ zichtet.15 Das Dargestellte, das hier zugleich eine Metaebene eröffnet, scheint auf Kosten der visuellen Umsetzung in den Vordergrund zu treten. The Word Shaker ist eine Fabel, ein Märchen, das die Entstehungsme­ chanismen des Hitlerregimes, die Macht der Worte, fiktional inszeniert und, in Anknüpfung an The Standover Man, mit der Macht der Freund­ schaft kontrastiert. Durch den Verzicht auf die Darstellung der Palimpsest­ struktur und die Fokussierung des Erzählten auf den Zusammenhang von Sprache und Nationalsozialismus tritt hier stärker die semantische Dimen­ sion in den Vordergrund, sodass mit Wolf von einem selbstreferenziellen Bedeuten gesprochen werden kann. Das Hitlerregime wird als Resultat einer bestimmten Rhetorik, einer festgelegten Denkstruktur und eines be­ stimmten Symbolrepertoires dargestellt.16 Die Zeichen, die ›der Führer‹ zur

15 Man könnte argumentieren, dass The Word Shaker im Gegensatz zu The Standover Man nicht ein Faksimile des Originals, sondern ein Faksimile der von Liesel angefer­ tigten Kopie des Originals ist, die sie für ihren Text The Book Thief angefertigt hat. »She even replicated The Word Shaker and The Standover Man, tracing over the pic­ tures and copying the words, even pointing out that Mein Kampf had often bled through.« (S. 560) Nichtsdestotrotz konstatiert Schüler, dass »das Papier […] nun zwei sich widersprechende Darstellungen des dritten Reichs« beinhalte. Schüler, Anne (2013): Im Bann der Gegenwart. Eine literaturwissenschaftliche und ge­ schichtsdidaktische Diskussion zur Umgestaltung von Geschichte in historischen Adoleszenzromanen. Schriftenreihe der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, hg. von Ute Dettmar und Mareile Oetken, Bd. 5. Oldenburg: BIS-Verlag, S. 64. 16 Diese Stellvertreterschaft von Symbolen für das gesamte politische System und deren Wirkungsmacht zeigt sich auch in den mitunter ironischen Kommentaren des perso­ nifizierten Todes. Bei der Schilderung der Bücherverbrennung wird bspw. die Ver­ drängung des Persönlichen, Menschlichen durch die Uniformierung und Hakenkreuz­ symbole verdeutlicht: »You didn’t see people. Only uniforms and signs« (S. 121). Dabei wird das Zeichensystem des Nationalsozialismus’ in direkten Zusammenhang mit den verheerenden Folgen desselben gestellt: »Many jocular comments followed, as did another onslaught of Heil Hitlering. You know, it actually makes me wonder if anyone ever lost an eye or injured a hand or wrist with all of that. […] I can only tell you that no-one died from it, or at least not physically. There was, of cause, the

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Beherrschung der Welt benötigt, pflanzt er in Plantagen an und setzt sie in die Köpfe der Menschen: »[T]he Führer decided that he would rule the world with words, ›I will not fire a gun‹, he said, ›I will not have to.‹ [...] His first plan of attack was to plant the words in as many areas of his homeland as possible. […] He watched them grow, until eventually, great forests of words had risen throughout Germany. It was a nation of farmed thoughts.« (475)

In einem quasi landwirtschaftlichen Betrieb züchtet er die Worte und Sym­ bole auf Bäumen; das englische ›to plant‹ trägt jedoch neben der Bedeutung von ›pflanzen‹ und ›anbauen‹ zugleich die Bedeutung von ›verbreiten‹ und ›etwas (heimlich) platzieren‹ und konnotiert durch die Bedeutung des Sub­ stantivs ›plant‹ nicht nur ›Pflanze‹ sondern auch ›Maschine‹, ›Fabrik, Werk, Betrieb‹. Diese doppelten Bedeutungsdimensionen verdeutlichen, dass das Anpflanzen nicht in Anlehnung an einen ›Natur‹-Topos verwendet wird, sondern vielmehr den Aspekt der Formung und der massenhaften Re­ produktion von Geformtem impliziert. Die Formulierung »farmed thoughts«, die durch den Austausch eines einzigen Vokals zu ›formed thoughts‹ transformiert werden kann – ein Unterschied der insbesondere durch die eine Handschrift imitierende Typographie marginalisiert wird – setzt die einzelnen Worte und Symbole schließlich in den Zusammenhang von geformtem Gedankengut. Die Worte werden damit zu Statthaltern für Bedeutungen, Sprache zum Konstituenten des Denkens. Doch es ist eine spezifische Sprache, spezifische Worte, die den Menschen in Fabriken, die die landwirtschaftliche Kultivierung komplementieren, in die Köpfe einge­ setzt werden. Es sind vorgefertigte Versatzstücke, die das eigene Denken, die eigene Sprache ersetzen: »They were all placed on a conveyor belt and run through a rampant machine which gave them a lifetime in a few mo­ ments. Words were fed to them. Time disappeared and they now knew everything they needed to know. They were hypnotised.« (476) Die Worte erscheinen an bestimmte Bedeutungen geknüpft, die den Er­ werb von weiterem Wissen unnötig zu machen scheinen und das eigene Denken durch einen schlafähnlichen Bewusstseinszustand ersetzen – die Worte, mit denen ›der Führer‹ die Menschen füllt, erscheinen als ideologi­ matter of forty million people I picked up by the time the whole thing was finished, but that’s getting all metaphoric« (ebd.)

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sche Instrumente, die mit Umberto Eco als »erstarrte Nachrichten« 17 be­ schrieben werden können.18 Diese Worte, die erstarrten Nachrichten, wer­ den von sogenannten »Word Shakern« geerntet, die damit als Unterstützer des etablierten Systems eingeführt werden. Neben der Ernte von Wörtern, dem ›vom Baum schütteln von Worten‹, konnotiert der Begriff ›Word Shaker‹ jedoch auch das ›Erschüttern‹ von Worten und damit das Potenzial zur Auflösung der verfestigten, ideologischen Bedeutungen, die an die Worte geknüpft sind: »THE BEST word shakers were those who under­ stood the true power of words.« (476) Der Titel der Erzählung, »The Word Shaker«, bezieht sich auf eine spe­ zifische Figur unter den ›Word Shakern‹. Ein kleines Mädchen, das als eine der besten Word Shaker gilt, »because she knew how powerless a person could be WITHOUT words. She had desire. She was hungry for them« (476). Dieses Mädchen knüpft Freundschaft mit einem Mann »who was despised by her homeland even though he was born in it« (476). Als dieser Mann krank ist, fällt eine einzelne Träne von ihr auf sein Gesicht, die zu einem Samenkorn wird. »The tear was made of friendship – a single word – which dried and became a seed« (476). Erneut zeigt sich hier die dieser Welt eigene Verknüpfung von Pflanzen und Worten und zugleich die be­ griffliche Strukturierung der (fiktionalen) materiellen Realität. Die Träne bzw. das Samenkorn, das aus dem Wort Freundschaft gemacht ist, wächst im Folgenden zu einem Baum, der schneller und höher wächst als all die anderen Bäume, auf denen Begriffe wie »Fear«, »Hatred«, »Boycott« sowie Hakenkreuzsymbole wachsen. Das Wort ›Freundschaft‹ wird damit als machtvoller inszeniert, als die im Vergleich kläglich erscheinenden Bäume, die der Reproduktion des nationalsozialistischen Gedankenguts dienen. Im Unterschied zu diesen, scheinen auf dem Baum der Freund­ schaft keine Worte zu wachsen. Der Baum wird damit aus dem rein funk­ tionalen Bereich der Reproduktion ›fertiger‹, fixierter Worte und Bedeu­ tungen ausgeschlossen – stattdessen wird er zum Lebensraum des Mädchens, zum Ort der Wiederbegegnung mit ihrem Freund. Der Baum wird zur uneinnehmbaren Festung, die ›der Führer‹ und keiner seiner »hun­ 17 Vgl. Eco, Semiotik, S. 59. 18 Die Festlegung auf eine bestimmte Konnotation einer Nachricht, eines Signifikanten, »(die einem aufgezwungen wird oder die sich einprägt) legt die ideologische Funk­ tion der Nachricht fest. Die Nachricht wird als solche zu einem ideologischen Instru­ ment, das alle anderen Beziehungen verdeckt.« (ebd.)

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dred and ninety-six soldiers« (477) zu fällen oder auch nur zu beschädigen im Stande ist. Erst als das Mädchen gemeinsam mit ihrem Freund, der zu ihr in den Gipfel geklettert war, wieder auf den Boden zurückkehrt, zeigt der Baum die Spuren der unzähligen Axthiebe und fällt. Auf dem meilen­ langen Baumstamm, der sich nun horizontal durch den Wald erstreckt, wandern das Mädchen und ihr Freund: »But as they walked on, they stopped several times, to listen. They thought they could hear voices and words, behind them, on the word shaker’s tree.« (480) Anstelle der auf dem Baum wachsenden Worte, beginnt der Baum Worte zu wispern: Gespro­ chene Worte, lebendige Worte, Worte, die nicht geerntet, nicht in den Fa­ briken des ›Führers‹ verwendet werden können, Worte die sich der Instru­ mentalisierung entziehen. Der gefällte Baum, im Grunde ein unheilvolles Bild, wird durch die begleitende Zeichnung umgewertet: Der Horizontalen des Baumstamms werden die in die Höhe gestreckten Äste entgegengesetzt, die wie kleine Bäumchen aus dem Stamm ragen und die Figuren des Mäd­ chens und des jungen Mannes überragen. Dieses Bild, das Fortbestehen und Wachsen der Äste, wird durch einen kleinen Dialog unterstützt, den das Mädchen und ihr Freund noch oben im Baumwipfel hatten: »›It wouldn’t stop growing‹, she explained. ›But neither would this.‹ The young man looked at the branch that held his hand.« (480) Es ist eine ambivalente Be­ merkung, die sich auf die Freundschaft, die die beiden verbindet, beziehen lässt, retrospektiv aber auch die Möglichkeit eines nicht endenden Wachs­ tums des Baumes durch seine Äste möglich erscheinen lässt. Wurde der Baum als eine Sphäre außerhalb der Welt dargestellt – wie die Formulie­ rung »the moment the word shaker and the young man set food in the world« (480; Hervorhebung Ch.G.) verdeutlicht – wird er durch seinen Fall zum Teil derselben. Eine Transformation, die durch seinen gewaltigen Auf­ prall begleitet wird und die Welt – die Welt der Worte – erschüttert: »The world shook, and when it finally settled, the tree was laid out amongst the rest of the forest.« (ebd.) Die einzelne Träne, das einzelne Wort Freund­ schaft und die daran geknüpften Bedeutungen bringen die Welt zum Erzit­ tern – die Worte, die in The Word Shaker die Herrschaft eines ›Führers‹ konstituieren, werden somit gleichsam zum Mittel der Erschütterung dieser verfestigten semantischen Systeme etabliert. Das kleine Mädchen, das um die wahre Macht der Worte weiß, ist somit nicht nur eine Word Shaker, sondern wird vielmehr zu einer ›World Shaker‹.

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Viele Elemente der Geschichte, von der Figurenkonstellation über ein­ zelne Episoden, wie die Tränenszene, Charaktereigenschaften des Mäd­ chens, aber auch die Situierung innerhalb einer nationalsozialistischen Um­ welt, bilden eine Parallele zu der rahmenden Erzählung von The Book Thief. Die Identifikation des Mädchens als Liesel und diejenige des jungen Mannes als Max scheint eine von Max, dem Autor der Geschichte, inten­ dierte Dimension – doch erscheint in dieser Geschichte die spezifische Zu­ ordnung der Figuren keine Notwendigkeit, sondern vielmehr als eine mög­ liche Lesart, eine dem spezifischen Kontext der Produktion geschuldete Variante. Als Erzählung von Max für Liesel verdeutlicht The Word Shaker die partielle Determinierung eines literarischen Textes durch den Kontext und verweist damit ex negativo auf die Bedeutungsvielfalt, die für literari­ sche Texte konstitutiv ist, und partiell durch die Abwesenheit eines spezifi­ schen Senders und Empfängers entsteht. Während für Liesel wie auch für die Lesenden, die durch die rahmende Erzählung über Kenntnisse der spe­ zifischen Produktionskontexte verfügen, die Geschichte direkt übertragbar erscheint – »For a long time, Liesel sat at the kitchen table and wondered where Max Vandenburg was, in all that forest out there« (481) – ist diese Bedeutungsdimension nur eine unter vielen anderen, eine Festlegung, die Liesels spezifischem Rezeptionskontext geschuldet ist. 19 Es ist eine Festle­ gung, die dennoch nicht mit den in The Word Shaker inszenierten ›er­ starrten Nachrichten‹ verwandt ist, sondern vielmehr dasjenige darzustellen scheint, was Kristeva unter dem Begriff des Ideologems zu beschreiben versucht: Eine momentane, kurzfristige Fixierung der künstlerischen Zei­ chen im Bewusstsein um deren prinzipiell beweglichen, fluiden Charakter. The Word Shaker eröffnet durch die Reflexion der Sprache eine Meta­ ebene, die die ›erstarrten Nachrichten‹, mit den fluiden literarischen Zei­ chen, ihrer ästhetischen Umsetzung kontrastiert: Hitlers Mein Kampf, das zumindest fiktional auch The Word Shaker unterliegt, versinnbildlicht die ideologisch motivierten Zeichen und markiert in dieser Funktion einen starken Gegensatz zu den künstlerischen Zeichen von The Word Shaker und The Standover Man. Beide Texte basieren wörtlich auf Mein Kampf, überschreiben ihn und verdeutlichen dadurch nicht nur auf einer Meta­ 19 Schüler argumentiert, dass Liesels Reflexion nach der Lektüre zeigt, dass sie solipsis­ tische Tendenzen überwindet und zu der Einsicht gelangt, »dass sie nicht alleine durch sich selbst, sondern auch durch andere Personen und die Sprache konstruiert wird.« Schüler, Im Bann der Gegenwart, S. 64.

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ebene, sondern bereits in ihrer künstlerischen Gestaltung sowohl die Kon­ texteinbindung wie auch die partielle Revidierung, die Umschreibung und Umstrukturierung der verfestigten ideologischen Codes. 20 Zugleich wird in beiden Texten die gemeinsame Geschichte von Max und Liesel wiederer­ zählt – oder zumindest liegt in der Identifikation der Parallelführung eine spezifische Lesart der Texte begründet – wodurch sich im Spannungsfeld der Texte zueinander die vielfältigen Möglichkeiten der literarischen Fas­ sung desselben Themenkomplexes abzeichnen. Die in The Book Thief aus­ führlich geschilderten Ereignisse werden durch die beiden Mise en abyme – The Standover Man und The Word Shaker – nicht nur durch die wiederho­ lende Struktur in ihrer ästhetischen Gestaltung betont, sondern zugleich in verschiedene Deutungsmuster überführt. Die Rahmung und die verschie­ denen eingelagerten Texte führen die unterschiedlichen Schwerpunktset­ zungen explizit vor, indem sie verschiedene Bedeutungsdimensionen fo­ kussieren und inszenieren. Dennoch erscheint die Parallelität, die Ähnlichkeitsbeziehung, als nur ein singulärer Aspekt der jeweils eigenständigen Texte, die sich durch die Beziehungen zueinander verschieben und neu konstituieren. Die Palimpseststruktur verdeutlicht dabei, dass in The Book Thief Lektüre immer vor dem Hintergrund, vor der Folie der fiktiv-realen Lebenswirklichkeit erfolgt. Das nationalsozialistische Regime, der Zweite Weltkrieg, durchdringt und unterliegt The Book Thief selbst, ebenso wie jede im Roman geschilderte Lektüre21 – der Lektüre des personifizierten 20 »Ein semantisches System […] stellt […] eine teilweise Interpretation der Welt dar und kann theoretisch revidiert werden, sooft neue Nachrichten den Code umstruktu­ rieren, indem sie neue Konnotationsketten und zugleich neue Wertzuordnungen ein­ führen. […] Aber eine solche Änderung des Codes erfordert eine ganze Reihe von metasemiotisch funktionierenden Nachrichten (von metasemiotischen Urteilen), die die sekundären konnotativen Codes in Frage stellen. Darin besteht die kritische Funk­ tion der Wissenschaft oder der Literatur.« Eco, Semiotik, S. 54f. 21 Shields arbeitet heraus, dass durch den Roman hindurch »the Nazi menace is felt without a welldrawn and in-depth character being held accountable. Nazi ideology pervades and shapes Himmel Street, but only a marginal few police the government’s regulations.« Shields, Kirril (2016): »Pushing Aside the Nazi. Personal and Col­ lective Exculpation and the Everyday German in Markus Zusak’s ›The Book Thief‹«. In: Dapim. Studies on the Holocaust, Vol. 30, No. 1, S. 1-15, hier S.12. Es ist diese Allgegenwärtigkeit des Regimes, das allen Geschehnissen unterliegt, welches an die palimpsestartige Struktur erinnern lässt.

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Todes von Liesels The Book Thief, der Lektüre durch Liesel, das Vorlesen im Bombenkeller während der Luftangriffe (408ff., 472, 518), das Vorlesen für die mürrische Frau Holtzapfel, die im und durch den Krieg ihre beiden Söhne verliert (vgl. 414, 468, 500, 537). Zugleich wirkt die Darstellung dieses Regimes auf den Erinnerungsdiskurs hinsichtlich der realhistori­ schen Ereignisse zurück – nicht umsonst kritisiert Shields, dass die Beto­ nung des Leidens der ›einfachen‹ Bevölkerung eine Relativierung der Schuldfrage und damit durchaus als problematisch zu bewerten sei. 22 Inner­ fiktional vermittelt die Lektüre, das Vorlesen jedoch Verständnis, Trost und Ablenkung, beruhigt und verbindet23 – die Texte erscheinen eine Art Magie für die Rezipierenden zu entfalten. Das, was zwischen der Lektüre und dem Verhalten in und dem Umgang mit lebenswirklichen Kontexten geschieht, bleibt jedoch ungesagt, bleibt eine Leerstelle. Angesichts der Übermacht des Diskurses bilden die literarischen Welten Fluchtorte, obschon die Lek­ türe vom fiktional extratextuellen Kontext geprägt ist. The Book Thief zeigt diese Überblendung von Kontext und Text, ohne diese explizit zu erklären.

4.5

ZUSAMMENFASSUNG

The Book Thief zeichnet eine Entwicklung nach – eine Entwicklung vom Analphabetismus, über das Lesen lernen, das Bücher lieben, hin zum eigen Schreiben. Entsprechend des Entwicklungsprozesses erhalten die Bücher, die als Mise en abyme in den Text eingelassen sind, unterschiedliche Be­ deutungsdimensionen und Reflexionspotenziale. Sie alle umspannt die Ab­ hängigkeit vom gesellschaftspolitischen System, aus dessen Kontext heraus 22 Vgl. Shields, Pushing Aside the Nazi, S. 5. 23 Man könnte an dieser Stelle von einer therapeutischen Funktion der Literatur spre­ chen, die eine Ausflucht aus den umgebenden Umständen ermöglicht und zugleich Umgangsstrategien entwickeln lässt. In Umberto Ecos Worten: »das Lesen fiktiver Geschichten [ist] ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben. Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns über­ fällt, wenn wir etwas Wahres über die wirkliche Welt sagen wollen. Dies ist die the­ rapeutische Funktion der erzählenden Literatur und der Grund, warum die Menschen seit Anbeginn der Menschheit einander Geschichten erzählen.« Eco, Im Wald der Fiktionen, S. 117.

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sie gelesen und bewertet werden und für den sie erkenntnis- und sinnstif­ tend wirken. Sie sind Zeichen der persönlichen Betroffenheit, Zeichen der Konformität oder Ablehnung des Systems, Zeichen der Auflehnung und des Versuchs der Revidierung, aber auch – für den personifizierten Tod – Zeichen menschlicher Integrität. Die Palimpseststruktur von The Standover Man und The Word Shaker verdeutlicht diesen Zusammenhang visuell. Stellt diese Darstellungsform die Opposition, das Gegeneinander vor, wird durch die Überblendung der Erzählerstimmen – die Erzählung des personi­ fizierten Tods, der auf Grundlage der Erzählung von Liesel wieder- und nacherzählt – ein Miteinander und Ineinander präsentiert. Diese Erzählsi­ tuation verdeutlicht auch das Miteinander der verschiedenen eingelagerten Texte – insbesondere der Texte von Max und der Rahmenerzählung – die einander nicht auslöschen oder korrigieren, sondern vielmehr erst im Ver­ hältnis zueinander an Plastizität und Tiefe gewinnen. Durch die starke Kon­ textabhängigkeit wird zugleich eine verstärkte Spiegelung von Kunst und Wirklichkeit dargestellt, doch wird zugleich das Übereinander, die Über­ lagerung als Tiefenstruktur zum bestimmenden, bedeutungsgenerierenden Element erhoben. Die in The Book Thief gezeigten Mise en abyme sind keine Texte im luftleeren Raum, sondern werden innerfiktional aus einem spezifischen, extratextuellen Kontext heraus gelesen und geschrieben – in der visuellen Gestaltung der Texte von Max tritt dieser Umstand deutlich hervor. Die Tiefenstruktur erweist sich jedoch trotz des allgegenwärtigen Kontextbezugs auch als Zeichen der Ausflucht, des Versuchs der Loslö­ sung von ebendiesen Kontexten: Die literarischen Texte verdeutlichen die Möglichkeit, in der Lektüre Trost zu finden und die Umstände ertragen zu lernen.

5 Künstlerische Wirklichkeiten – A. Huxleys Point Counter Point

5.1

EINLEITENDES

Die Betrachtung von Aldous Huxleys 1928 erschienenem Roman Point Counter Point soll den analytischen Teil dieser Arbeit abrunden. 1 Der Roman, nur wenige Jahre nach Gides Les Faux-Monnayeurs erschienen,2 zeigt eine Fülle an Spiegelungs- und Einlagerungsphänomenen – doch nicht nur das: Die Mise en abyme wird innertextuell poetologisch reflektiert. Der Roman erscheint als ein Geflecht von Mise en abyme, die in ihrem Zusam­ menspiel die Verwebung der diegetischen Welt mit künstlerischen, ästhe­ tisch geformten Werken andeuten. Die mediale Vielfalt dieser eingelager­ ten Kunstwerke ermöglicht zudem die Betrachtung der Mise en abyme in einem intermedialen Feld, das in dieser Arbeit bisher nur gestreift wurde. 3 1

Die im Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Huxley, Aldous (1996): Point Counter Point. 5. Aufl. Champaign, Illinois: Dalkey Archive.

2

In der Forschung wird auf den Einfluss dieses Werks auf Huxleys Point Counter Point verwiesen. Vgl. bspw. Bald, R. C. (1950): »Aldous Huxley as a Borrower«. In: College English, Vol. 11, No. 4 (January), S. 183-187, hier S. 184; Meckier, Jerome (1971): »Shakespeare and Aldous Huxley«. In: Shakespeare Quarterly, Vol. 22, No. 2 (Spring), S. 129-135, hier S. 132.

3

Intermedialität definiert Werner Wolf wie folgt: »›Intermediality‹ can [...] be defined as a particular relation (a relation that is ›intermedial‹ in the narrow sense) between conventionally distinct media of expression or communication: this relation consists in a verfiable, or at least convincingly identifiable, direct or indirect participation of two or more media in the signification of a human artefact.« Wolf, Werner (1999):

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Die quantitative Fülle an eingelagerten Kunstwerken wird innerfiktional durch die geschilderte Gesellschaftsschicht motiviert: Point Counter Point zeigt aus einem vornehmlich satirischen Blickwinkel die intellektuelle Elite der 1920er Jahre in London.4 Das gesellschaftliche wie auch das private Leben der vielen Protagonisten ist geprägt von Kunst – von Kunstproduk­ tion und -rezeption, von Kunstkritik und theoretischen Reflexionen über Kunst. Kunst in jedwedem Medium erweist sich als maßgebliche Kategorie der Wirklichkeitsbildung und -bewertung, die verschiedenen individuellen Ästhetiken dienen der Veranschaulichung von Weltanschauungen und ideo­ logischen Haltungen.5 Ohne einen festen erzählperspektivischen Bezugs­ punkt werden die Geschichten von über 20 Figuren erzählt, die in dem­ selben gesellschaftlichen Kreis agieren. Die Vielfalt der Figuren ermöglicht es, in dem Roman ein weites Spektrum an Moralvorstellungen, politischen Einstellungen, Lebensentwürfen, Beziehungskonzepten und nicht zuletzt Kunstauffassungen zu präsentieren – die stark variierenden Auffassungen dieser Konzepte werden beinahe holzschnitthaft an die Figuren gebunden, die mitunter mehr als Sprachrohre ihrer Auffassungen, denn als individuell ausgeformte Figuren erscheinen.6 Sie markieren unterschiedliche Posi­ The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality. Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissen­ schaft, Bd. 35, hg. v. Alberto Martino. Amsterdam/Atlanta: Rodopi, hier S. 37. 4

In der Forschung wie auch im Paratext des Romans wird darauf verwiesen, dass die dargestellten Figuren mit realen Personen der Zeit in Verbindung zu bringen sind, die Huxley als Vorlage dienten. So wird bspw. Mark Rampion als D. H. Lawrence iden­ tifiziert, Lucy Tantamount als Nancy Cunard und Philip Quarles sei Huxleys Alter Ego. Vgl. bspw. Bowering, Peter (1968): Aldous Huxley. A Study of the Major No­ vels. London: The Athlone Press, S. 77f; Mosley, Nicholas (1996): »Introduction«. In: Huxley, Aldous: Point Counter Point. 5. Aufl. Champaign, Illinois: Dalkey Archive, S. V-IX, hier S. VII.

5

Innerfiktional wird von einem der Protagonisten die Soiree im Hause Tantamount als Versammlung der »writing and painting section of Who’s Who« (S. 51). Tatsächlich ist die Abendveranstaltung der einzige Moment, in dem beinahe das gesamte Perso­ nal von Point Counter Point einführend versammelt ist.

6

Eine solche Sichtweise wird nicht nur durch die Forschungsliteratur sondern auch durch selbstreflexive Verweise im Roman selbst gestützt. Vgl. die folgende Text­ stelle: »The character of each personage must be implied, as far as possible, in the ideas of which he is the mouthpiece.« (S. 294)

Künstlerische Wirklichkeiten – A. Huxleys Point Counter Point | 93

tionen in den diversen Gegenüberstellungen konkurrierender Konzepte, wie insbesondere der Gegenüberstellung des Kognitiv-Mentalen und des Kör­ perlichen, Unbewussten und Emotionalen.7 Das Ringen um eine gleichge­ wichtige Position zwischen diesen Polen, erscheint eine der dominantesten Thematiken des Romans.8 Eine kurze Wiedergabe des Plots muss aufgrund der Fülle an Charak­ teren und Handlungssträngen ungenügend erscheinen, weshalb an dieser Stelle darauf verzichtet wird. Stattdessen sollen die Figuren, die für diese Arbeit besondere Relevanz besitzen, nach und nach eingeführt werden, in der Hoffnung, dass dadurch der gesamte Roman an Kontur gewinnt. Zunächst soll in Kürze der Zusammenhang von Lebenswirklichkeiten und künstlerischen Ausdrucksformen betrachtet werden, um den diversen Einlagerungs- und Spiegelungsphänomenen einen Kontext geben zu kön­ nen und zu einem besseren Verständnis der reziproken Beziehungen zwi­ schen den geschilderten fiktionalen Realitäten und Kunst zu gelangen. Im Anschluss wird ein Roman ins Auge gefasst, an dessen entstehen innerhalb von Point Counter Point gearbeitet wird. Dieses Romanprojekt gibt nicht nur Anlass für poetologische Reflexionen, sondern begründet selbst eine Tiefenstruktur, die im Zusammenhang mit der Mise en abyme betrachtet werden kann. Daran anschließend sollen intermediale Mise en abyme ins Auge gefasst werden, insbesondere zwei Musikstücke, die Anfangs- und Endpunkt des Romans markieren und andere Dimensionen der Einlagerung erschließen, sind sie doch nur im Modus der Beschreibung für die Le­ senden erfahrbar.

7

Wolf arbeitet mit Blick auf die Forschungsliteratur die verschiedenen Oppositionen heraus. Diese betreffen den Gegensatz von Sinnlichkeit und Intellektualismus bzw. Emotionalität und Rationalität, moralische Oppositionen wie Libertinage und repres­ siv-bürgerliche Moralvorstellungen sowie konkurrierende Weltbilder, wie Kommu­ nismus, Nihilismus, geheuchelte und tatsächliche Christlichkeit. Ergänzt werden diese Dualismen durch unterschiedliche Haltungen gegenüber Liebe, Ehe, Sexualität, Krankheit, Tod u.a.. Vgl. Wolf, The Musicalization of Fiction, S. 170.

8

Diese Gegenüberstellung versteht sich als Verhandlung der Grundprämisse der ge­ zeigten intellektuellen Klasse bzgl. des Menschlichen selbst, die im Roman wie folgt beschrieben wird: »[T]here’s an intrinsic superiority in mental, conscious, voluntary life over physical, intuitive, instinctive, emotional life.« (S. 317)

94 | Der Abgrund im Spiegel

5.2

WIRKLICHKEIT UND KUNST

»[T]he art of integral living« (319), die Kunst sich der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit zu stellen, ohne bestimmte Dimensionen zu verdrängen oder sie durch einen spezifischen Zugriff zu deformieren, stellt eine Kunst dar, die keine der Figuren in Point Counter Point versteht – mit Ausnahme viel­ leicht von Mark Rampion, einem Schriftsteller und Künstler, der aus einer Position der Integrität als gesellschaftskritische Instanz des Textes insze­ niert wird.9 Verschiedene Zugangsweisen zu und Deutungsweisen der Wirklichkeit werden, obschon in ihrem Absolutheitsanspruch konkurrie­ rend, durch die wechselnde und doch distanzierte Erzählperspektive als nur partikuläre Facetten einer einzigen, pluralen Wirklichkeit dargestellt. Philip Quarles, ein Schriftsteller von mehr intellektueller denn poetischer Brillanz, der weder zu sich selbst, noch zu den Menschen in seiner Umgebung Nähe und Intimität aufbauen kann, wird in seinem Versuch beschrieben, eine ei­ gene Identität in einer solchen Wirklichkeit zu entwickeln: »Oneself? But this question of identity was precisely one of Philip’s chronic pro­ blems. It was so easy for him to be almost anybody, theoretically and with his intel ­ ligence. He had such a power of assimilation that he was often in danger of being unable to distinguish the assimilator from the assimilated, of not knowing among the multiplicity of his rôles who was the actor.« (193)

Entsprechend seiner gegenwärtigen Lektüre und der Gesellschaft, in der er verkehrt, produziert er unterschiedliche Bilder seiner selbst und damit auch Bilder seiner Wirklichkeit. Es sind verschiedene, möglicherweise in ihren 9

Philip Quarles assistiert seinem Freund Rampion, dass er »more realistically than other people« lebe. »Rampion it seems to me, takes into account all the facts (whereas other people hide from them, or try to pretend that the ones they find unpleasant don’t or shouldn’t exist), and then proceeds to make his way of living fit the facts, and doesn’t try to compel the facts to fit in with a preconceived idea of the right way of living (like these imbecile Christians and intellectuals and moralists and efficient business men).« (S. 316) Es ist nicht Rampions Bild von der Wirklichkeit, das als ›realistisch‹ bezeichnet wird, sondern lediglich die Art, wie er sein Leben führt, ohne, wie die anderen Protagonisten, stark reduktionistische Wirklichkeitsauf­ fassungen zu propagieren. Rampion selbst bezeichnet sich jedoch humoristisch als »A pedagogue pervert. A Jeremiah pervert« (S. 405).

Künstlerische Wirklichkeiten – A. Huxleys Point Counter Point | 95

Grundannahmen einander ausschließende theoretische Konstrukte, die das Selbst in der Interaktion mit der Welt bestimmen. In der Vielfalt des Perso­ nals, das in Point Counter Point agiert, zeigt sich die Bandbreite möglicher Positionen und zugleich die Unmöglichkeit, einer Position vor der anderen den Vorzug zu geben: Der streng naturwissenschaftliche Ansatz zum Bei­ spiel, den Lord Edward Tantamount und sein Assistent, der mit kommunis­ tischen Bewegungen sympathisierende Illidge, verkörpern, steht diametral den spirituell-moralischen Vorstellungen entgegen, für die beispielsweise der sowohl prätentiöse als auch frömmlerische Dennis Burlap, der Heraus­ geber der Literaturzeitschrift Literary World, einsteht. Durch die Verabso­ lutierung, die Einseitigkeit bestimmter Wirklichkeitskonstruktionen, er­ scheinen die Protagonisten als »lop-sided m[e]n«, deren Identitäten und Wirklichkeitsbilder durch »blind spots« (beide 316) geprägt sind. In Philip Quarles Worten: »The whole of modern civilization is based on the idea that the specialized function which gives a man his place in society is more important than the whole man, or rather is the whole man.« (317) Die Rezeption von Kunstwerken durch die verschiedenen Protagonisten verdeutlicht – zum Teil in karikaturistischer Verzerrung – deren Kunst- und zugleich auch deren Wirklichkeitsverständnisse. In Extremform zeigt sich dies in der folgenden Textstelle, die von Illidge gegenüber Walter Bidlake, einem Journalisten und Schriftsteller und zudem Sohn des gefeierten Ma­ lers John Bidlake, geäußert wird: »›Has it ever struck you,‹ Illidge went on turning toward Walter, ›you who are an expert on art, or at least ought to be – has it ever struck you that the paintings of an ­ gels are entirely incorrect and unscientific? [...] A seventy- kilogram man, if he de­ veloped wings, would have to develop colossal muscles to work them. [...] A tenstone angel, if he wanted to fly as well as a duck, would have to have a breast bone projecting at least four or five feet. Tell your father that, next time he wants to paint a picture of the Annunciation. All the existing Gabriels are really shockingly im­ probable.‹« (283)

Als ein weiteres Beispiel kann ein Dialog während eines Atelierbesuchs von Denis Burlap bei Mark Rampion dienen, auch wenn hier Burlaps Reak­ tion auf eines der Bilder tatsächlich von Rampion in Worte gefasst wird:

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»›It’s fine,‹ said Burlap […]. ›But I can see you hate it.‹ Mark Rampion grinned with a kind of triumph. ›But why do you say that?‹ the other protested with a martyred and gentle sadness. ›Because it happens to be true. The thing’s not gentle-Jesusish enough for you. Love, physical love, as the source of light and life and beauty – Oh, no, no, no! That’s much too coarse and carnal; it’s quite deplorable straightforward.‹« (205)

Doch es sind nicht nur Wirklichkeitsauffassungen, die an die Kunst heran­ getragen werden – schon zu Beginn des Romans, sozusagen zur Einführung eines den Text prägenden Axioms, wird auf die Konstruktion der Wirklich­ keit gemäß künstlerischer, literarischer Vorlagen angespielt. Der Roman wird eröffnet mit der Darstellung der Beziehung zwischen Walter Bidlake und der von ihm schwangeren Marjorie Carling. Gelenkt von der Sehnsucht nach einem Ideal romantischer Liebe, das von der Dichtung Percey Bysshe Shelleys geprägt ist, hatte Walter die unglücklich verheiratete Marjorie ver­ leitet, ihren Mann zu verlassen und mit ihm zu leben. »It should have been like ›Epipsychidion‹; but it wasn’t – perhaps because he had too consci­ ously wanted it to be, because he had deliberately tried to model his feel­ ings and their life together on Shelley’s poetry.« (7) Damit wird der Roman mit einer Szene eröffnet, in der der Moment der Desillusionierung bereits in der Vergangenheit liegt. 10 Walter erinnert sich an die belustigte Ermahnung seines Schwagers Philip Quarles, der unter Referenz auf William Shakespeares’ Sonett 130, das im Roman zitiert wird (vgl. 8), Walter mit der künstlerischen Idealisierung und Formung konfron­ tiert. Seine Ermahnung, »[o]ne shouldn’t take art too literally« (7), die an dieser Stelle die Naivität Walters herausstellen soll, erscheint jedoch die vielfachen Prägungen der Weltbilder der Protagonisten durch Kunst und Li­ teratur vorauszudeuten. Die Beispiele sind zahlreich: Lord Edward Tanta­ mounts Frauenbild ist durch Dickens’ Romane geprägt (vgl. 18 und 19), die ihm als einziger Referenzpunkt dienen. Janet Bidlake, Walters und Elinor Quarles’ Mutter, wird als »inhabitant of the country of art and letters« (321) vorgestellt, sie sei »little more than a reluctant stranger in mere England« (ebd.). Ihre Kinder Walter und Elinor werden daher ebenfalls mehr in der

10 An anderer Stelle können die Lesenden an Walters Desillusionierung bzgl. seiner Beziehung zu Lucy Tantamount direkt teilhaben. Hinsichtlich des Sonetts 129 von Shakespeare stellt Walter fest: »Literature, as usual, had been misleading.«» (S. 198)

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Welt der Kunst aufgezogen, denn in der ›realen‹ Welt (vgl. bspw. 322f.). 11 Erneut liefert Philip Quarles eine markige Beschreibung: »We’re brought up topsy turvy […] Art before life« (284). Die Welt der Kunst erscheint der gemeinsame Referenzpunkt zu sein, ein geteiltes Erfahrungsgut, auf das referenziell zur Beschreibung der Wirk­ lichkeit zurückgegriffen werden kann. Die Protagonisten, so unterschied­ lich sie auch sein mögen, scheinen einen vertrauteren Zugang zu künstleri­ schen Werken zu haben, als zu der vielgestaltigen Wirklichkeit und geben ihr durch Rückgriff auf Kunst jedweder Medialität eine Gestalt, die ihnen handhabbarer erscheint. In einer Umkehrung der Mimesis, sind es die Er­ fahrungen mit und in der Wirklichkeit, die durch die Kunst und Kunstre­ zeption kontextualisiert werden. Als prägnantes Beispiel hierfür kann die aus der Perspektive von Beatrice geschilderte Szene gelten, in der sie den erkälteten Burlap, der bei ihr zur Untermiete lebt, pflegt: »Fine, like the torso of a statue. Yes, a statue. […] The statue lived, that was the disquiet­ ing thing. The white naked breast was beautiful; but it was almost repul­ sively alive.« (237) Die Beschreibungen der Protagonisten durch den Erzähler oder aber durch die anderen Charaktere werden von Vergleichen mit Kunst, als von den Figuren wie auch den Lesenden möglicherweise geteiltem Bezugs­ punkt, getragen: Illidge wird metonymisch als »Byronic« beschrieben (vgl. 50 und 51). Burlap als »a mixture […] of a movie villain and St. Anthony of Padua by a painter of the baroque, of a card-sharping Lothario and a rap­ turous devotee« (60), dessen Lächeln »reminded one of a Leonardo or a So­ doma« (62) bzw. »was so beautifully Franciscan« (236). Der intellektuelle, zynische Maurice Spandrell, der von ennui geplagt ist, wird unter Bezug auf Dostojewskis Die Dämonen als »quite a little Stavrogin« (405) be­ schrieben, »[s]miling like all the tragic characters of fiction rolled in one« (ebd.) – um nur einige Beispiele zu nennen.

11 Die Absonderlichkeiten der Erziehung finden sich in der frühkindlichen Lektüre Eli­ nors verdeutlicht, die die Formung des künstlerischen Geschmacks des Kindes sicherstellen soll: »Elinor had had Hamlet read to her when she was three, her picture books were reproductions of Giotto and Rubens. She had been taught French out of Candide, had been given Tristam Shandy and Bishop Berkeley’s Theory of Vision when she was seven, Spinoza’s Ethics, Goya’s etchings, and, as a German textbook, Also sprach Zarathustra when she was nine.« (S. 322f.)

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Die in Point Counter Point eingelagerten Kunstwerke erscheinen vor diesem Hintergrund weniger als Fremdkörper, die in Differenz zu der sie umgebenden fiktionalen Wirklichkeit stehen. Kunst und Literatur und die verschiedenen Vorstellungen von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit er­ scheinen ineinander verwoben und keine Oppositionen darzustellen. Neben Musikstücken sowie Zeichnungen und Malereien, sind es Zitate aus Werken von Shakespeare, Baudelaire und anderen, die den Roman durch­ ziehen. Bevor einigen von diesen Kunstwerken Aufmerksamkeit geschenkt wird, soll zunächst das literarische Vorhaben von Philip Quarles eingehend betrachtet werden, das die Struktur von Point Counter Point insbesondere hinsichtlich der Einlagerungsverfahren erhellen kann.

5.3

DER UNGESCHRIEBENE ROMAN – PHILIP QUARLES’ ROMANPROJEKT

Philip Quarles fungiert im Roman nicht nur als einer der handelnden Pro­ tagonisten, sondern auch dazu, poetologische Reflexionen einfließen zu lassen. Seine Überlegungen bezüglich seines neuen Romanprojekts, die die strukturelle, formale und inhaltliche Konzipierung betreffen, sind zunächst mehr oder weniger lose in den Text eingestreut und kulminieren schließlich in direkt wiedergegebenen Tagebucheinträgen. Besonders eine Passage aus diesem Tagebuch fokussiert die in dieser Arbeit untersuchte Thematik und bietet damit einen Kontext für die vielfältigen Mise en abyme des Textes: »Put a novelist into the novel. He justifies aesthetic generalizations, which may be interesting – at least to me. He also justifies experiment. Specimens of his work may illustrate other possible or impossible ways of telling a story. And if you have him telling parts of the same story as you are, you can make a variation on the theme. But why draw the line at one novelist inside your novel? Why not a second inside his? And a third inside the novel of the second? And so on to infinity, like those ad­ vertisements of Quaker Oats where there’s a Quaker holding a box of oats, on which is a picture of another Quaker holding another box of oats, on which etc. etc. At about the tenth remove you might have a novelist telling your story in algebraic symbols or in terms of variations in blood pressure, pulse, secretion of ductless glands, and reaction times.« (294)

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In der poetologischen Thematisierung des neuen Romanprojekts klingt das Phänomen der Mise en abyme nicht nur an, sondern wird durch die Bild ­ lichkeit der Quaker Oats Reklame konkretisiert. 12 Philip Quarles’ Überle­ gungen erzeugen einen Kontext, einen Referenzrahmen, der die Interpreta­ tion der in Point Counter Point eingelagerten Kunstwerke als Mise en abyme legitimiert, und eröffnen zugleich die Frage nach dem Realisie­ rungsgrad, der für eine Mise en abyme notwendig ist. Ob, und wenn ja wie, ein rein virtueller Roman, ein Roman, der gerade erst entwickelt und konzi­ piert wird, schon die Qualität einer Mise en abyme entwickeln kann, soll daher den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden. Damit ermöglicht das Romanprojekt eine neue Perspektive auf die verschiedenen Modalitäten der Einlagerung – der direkten oder der indirekten Wiedergabe – der Mise en abyme. Quarles’ Überlegungen eröffnen nicht nur eine die literarische Produk­ tion fokussierende Metaebene, sondern evozieren vielmehr einen Roman im Entstehungsprozess, der in wesentlichen Punkten Point Counter Point selbst zu gleichen scheint. Die oben zitierte Passage lässt sich damit nicht nur als Potenzial des noch zu schreibenden Romans ausmachen, sondern spiegelt zugleich den Text, in dem diese Passage enthalten ist – ist doch Philip Quarles selbst ein Schriftsteller in einem Roman, der an einem Ro­ man arbeitet und überlegt, einen Schriftsteller zu dessen Protagonisten zu machen, um ebenjene Art von »aesthetic generalizations« zu legitimieren, die Quarles durch seine Tagebücher in Point Counter Point einbringt. Den­ noch erscheint das noch nicht realisierte Romanprojekt – im Unterschied zu Gides Les Faux-Monnayeurs13 – nicht eine selbstgenerative Struktur anzu­ 12 Cohn analysiert die zitierte Passage als ein Beispiel dafür, dass eine ›pure mise en abyme‹, eine unendliche Mise en abyme, in Erzähltexten nur suggeriert werden kann. Quarles’ Tagebucheintrag sieht sie dabei als Indiz, dass der literarische Aspekt in der unendlichen Wiederholung sich selbst auslöscht, durch die Transformation in alge­ braische Symbole etc. Im Kontext des gesamten Romans erscheint, nach meiner Auf­ fassung, diese Transformation vielmehr als die überspitzte Darstellung, durch die die verschiedenen Beschreibungs- und Zugriffsmöglichkeiten auf eine Wirklichkeit ver­ deutlicht werden sollen. Vgl. Cohn, Metalepsis and Mise en Abyme, S. 109. 13 Durch die Titelidentität des Romanprojekts von Edouard ist in Les Faux-Monnayeurs die selbstgenerative Struktur explizit. Zur ›Fiction of Self-Begetting‹ vgl. auch Kell­ man, Steven G. (1976): The Fiction of Self-Begetting. In: MLN, Vol. 91, No. 6, Comparative Literature (December), S. 1243-1256, hier insbesondere S. 1248. Für

100 | Der Abgrund im Spiegel

deuten, sondern fokussiert vielmehr den Prozess der ästhetisierenden Wirk­ lichkeitserschließung. Die Romanfiguren der rahmenden Erzählung werden ob ihres Vorbildcharakters für Romanfiguren von Philip Quarles geprüft, (fiktional) erlebte Szenen zu erzählten moduliert. Damit wird nicht nur die Figurenzeichnung der Personen in der rahmenden Erzählung in ihrer künst­ lerischen Produziertheit ins Bewusstsein gerufen, sondern vielmehr auch im Modus der theoretischen Reflexion eine Variation der Figuren und Figuren­ relationen sowie dominanter Thematiken ermöglicht. Die daraus resultie­ rende Ähnlichkeit des noch nicht existierenden Romans zu der rahmenden Erzählung entspringt damit der Romanhandlung selbst – Quarles’ Roman entsteht im diskursiven Verlauf von Point Counter Point und lenkt zugleich durch die kontinuierlichen Kommentare die Rezeption und damit die Kon­ struktion der fiktionalen Welt durch die Lesenden.14 Schon in der zweiten Begegnung der Lesenden mit dem Ehepaar Elinor und Philip Quarles, formuliert Philip im Gespräch mit seiner Frau die Ziel­ setzung des zu schreibenden Romans: »[T]he essence of the new way of looking is multiplicity. Multiplicity of eyes and multiplicity of aspects seen. […] What I want to do is to look with all those eyes at once.« (192) Bleibt die Art und Weise, wie diese Vielfalt in einem einzigen Roman gezeigt werden kann an dieser Stelle noch ungeklärt, wird doch durch die mehrfach genannte Lektüre von Elinor – Tausendundeine Nacht15 – die Struktur in­ einandergelagerter Erzählungen bereits impliziert. Die beschworene und angestrebte Vielfalt liegt dabei nicht in der Vielfalt der erzählten Gegen­ stände, in einem besonders verzwickten Plot, sondern vielmehr in einer Vielfalt der Sichtweisen, die gemäß Quarles jedem Sachverhalt den Hauch eine genaue Gegenüberstellung von Gides Roman und Point Counter Point, vgl. Lowenkron, David H. (1976): »The Metanovel«. In: College English, Vol. 38, No. 4 (December), S. 343-355, hier S. 346. 14 Lowenkron stellt es als eine »interesting innovation« heraus, dass die Übereinstim­ mungen zwischen den poetischen Reflexionen und Point Counter Point in einer Umkehrung eines (fiktionalen) Mimesisprozesses gelesen werden können: »[T]he mind creates the outer world from its reflections about poetics – the art of Phil begets the life in Huxley’s book. This does not cancel the primary relationship of life offe­ ring the artist facts to select from, but it is an aporeatic correlate« (ebd., S. 346) 15 Vgl. folgende Textstellen: »he saw that she was reading the Arabian Nights«, »Elinor looked up from the Arabian Nights«, »Elinor [...] returned to Sherazade«, alle S. 194f.

Künstlerische Wirklichkeiten – A. Huxleys Point Counter Point | 101

des Unbegreiflichen geben. In seinen Tagebüchern konkretisiert er diesen Gedanken: »[E]verything is incredible, if you can skin off the crust of obvi­ ousness our habits put on it. Every object contains within itself an infinity of depths within depths« (293).16 Die Suche nach einem Objekt der Be­ schreibung erscheint Quarles daher eher sekundär, da es ihm vielmehr um eine Beschreibung dieser Tiefe zu gehen scheint. Die Tiefenstruktur, die eine Mise en abyme im künstlerischen Werk erzeugt, erscheint damit nicht nur als geeignetes Mittel, die gewünschte Vielfalt darzustellen, sondern als eine tatsächliche Entsprechung der zu schildernden ›Wirklichkeit‹. Diese Wirklichkeit ist für Quarles eine Wirklichkeit der vielfältigen Perspektiven, die durch diverse Weltanschauungen, Professionen und persönlichen Ge­ schmack geprägt sind.17 Die Aufgabe der Kunst sei es, so Quarles, diese verschiedenen Lagen der Wirklichkeit sichtbar zu machen: »The artistic problem is to produce diaphanouness in spots, selecting the spots so as to reveal only the most humanly significant of distant vistas behind the near familiar object.« (247) Eine solche Durchsichtigkeit scheint mittels der Ineinanderlagerung von Erzählungen, wie Quarles sie für seinen Roman intendiert, möglich, in­ dem durch einen Rückgriff auf unterschiedliche semiotische Zeichensyste­ me und Codes unterschiedliche Facetten der Wirklichkeit gemäß deren Darstellungs- und Zugriffsmöglichkeiten präsentiert werden können. Er­ scheint eine Erzählung in algebraischen Symbolen auch sehr spezifisch, ist der Ansatz der verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten durch unter­ schiedliche Medien und Zeichensysteme dennoch einer, der in den Überle­ gungen insbesondere zu intermedialen Mise en abyme weiterverfolgt wer­ den wird. Die Pluralität der Wirklichkeit, die sich in vielfältigen Dimensionen manifestiert, möchte Quarles durch die unterschiedlichen Protagonisten sei­ 16 Diese Textstelle erinnert stark an Šklovskijs Theorie der Entautomatisierung der Wahrnehmung durch die künstlerische Darstellung, die 1925, also nur wenige Jahre vor Point Counter Point, erschien. Vgl. Šklovskij, Kunst als Verfahren, S. 15. 17 Vgl. hierzu die wiederholten Aufzählungen, in denen in einer Art unvollständiger Liste die verschiedenen Positionen aufgeführt werden: »[T]here’s the biologist, the chemist, the physicist, the historian.« (S. 192); »With religious eyes, scientific eyes, economic eyes, homme moyen sensuel eyes« (S. 192); »[T]he events of the story in their various aspects – emotional, scientific, economic, religious, metaphysical, etc.« (S. 294)

102 | Der Abgrund im Spiegel

nes Romans einfangen. Die Aspekte, die Quarles in seinem Romanprojekt sichtbar machen will, erscheinen jedoch weniger als individuelle Perspekti­ ven, sondern vielmehr als abstrakte Verallgemeinerungen. Diese Konzep­ tion, die ebenso viel über die geplanten Protagonisten wie über Quarles selbst verrät – Elinor beklagt die Kopflastigkeit seiner Texte (vgl. 78) – gibt intellektuellen Momenten vor primär ästhetischen den Vorzug. Unter dem Ausdruck »Novel of ideas« führt Quarles diese Intention weiter aus: »The character of each personage must be implied, as far as possible, in the ideas of which he is a mouthpiece. In so far as theories are rationalizations of sentiments, instincts, dispositions of soul, this is feasible.« (294) Die Figuren seines Romans versprechen einen eher holzschnitthaften Charakter zu erhalten. Er selbst stellt im Anschluss an seine diesbezügli­ chen Überlegungen fest, dass »the real, the congenital novelists don’t write such books« (295). Dennoch drehen sich seine Bedenken diesbezüglich eher um den ›unrealistischen‹ Charakter, die seine Figuren dadurch erhalten (»it’s a made-up affair«, 295): Zum einen, da er in der ›Realität‹ nur wenige Menschen tatsächlich für fähig hält Ideen zu haben, zum anderen, da er ebenjene für nicht »quite real«, »slightly monstrous« (295) hält. 18 Ist doch die Erfassung der Wirklichkeit durch den Roman Quarles’ erklärtes Ziel, mag eine solche zweifache Abkehr von einem Realismus erstaunen. Doch zeigt sich darin Quarles’ eigene Prägung: Erkennt er zwar intellektuell die Abstraktion eines solchen literarischen Personals, ist es dennoch eine Welt, die Welt der Ideen, die für ihn zugleich zugänglicher und damit realer er­ scheint: »When he wasn’t reading, he was thinking about what he had read; 18 Diese Monstrosität der geplanten Figuren kann bereits als ein Verweis auf Quarles’ später formuliertes Vorhaben gewertet werden, seinen Schriftsteller als einen Zoo­ logen zu entwerfen, der sich in seiner Freizeit schriftstellerisch betätigt. Meckier stellt explizit heraus, dass die tierischen Attribute, mit denen die Protagonisten in Point Counter Point bedacht werden, den Roman zu einer »zoological novel« machen. (vgl. Meckier, Jerome (1973): »Quarles among the Monkeys. Huxley’s Zoo­ logical Novels«. In: The Modern Language Review, Vol. 68, No. 2 (April), S. 268282, hier S. 272.) Meckier arbeitet zudem eine dem Namen ›Philip Quarles‹ inhärente Referenz auf ein anonymes Werk des 18. Jahrhunderts heraus, in dem ein ›Philip Quarll‹ ein Schicksal wie Robinson Crusoe durchlebt, nur dass auf der Insel einzig Affen ihm zur Gesellschaft dienen: »The picture of Quarll among his monkeys became a satiric analogue for Quarles amidst the artists and bohemians of the allegedly ›bright‹ 1920s.« ebd. S. 269.

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the world of appearances, as he liked, platonically to call visible and tangi­ ble reality, did not interest him.« (248f.) Die Wirklichkeit, die er beschrei­ ben möchte, kann als abstraktes Konstrukt nicht durch sinnliche Erfahrbar­ keit gegriffen werden. Vielmehr erscheint sich die Addition partikulärer Abstraktionen Quarles’ Vorstellung von Wirklichkeit anzunähern. Der Schriftsteller, den Quarles in seinem Roman einsetzen möchte, um die unterschiedlichen Aspekte und damit auch die unterschiedlichen Ideen darstellbar zu machen, ist, wie Quarles’ Figurenkonzeption zeigt, nicht zwangsläufig einer ästhetischen Perspektive verschrieben. 19 Während die Konstruktion des Romans gemäß einer Mise-en-abyme-Struktur die Mög­ lichkeit birgt, durch aufgestaffelte Ebenen, die zugleich einen metaisieren­ den Charakter haben, unterschiedliche perspektivische Variationen eines Themas zu präsentieren, überdenkt Quarles ein weiteres mögliches Kon­ struktionsprinzip, das mehr die Gestaltung der Oberfläche – und damit die ästhetische Dimension – fokussiert: »The musicalization of fiction. Not in the symbolist way, by subordinating sense to sound. […] But on a large scale, in the construction. Meditate on Beethoven. The changes of moods, the abrupt transitions. […] A theme is stated, then developed, pushed out of shape, imperceptibly deformed, until, through still recognizably the same, it has become quite different. […] Get this into a novel. How? The abrupt transitions are easy enough. All you need is a sufficiency of characters and parallel, contrapuntal plots. [...] You alternate the themes. More interesting, the modulations and variations are also more difficult. A novelist modulates by reduplicating situ ­ ations and characters. He shows several people falling in love, or dying, or praying in different ways – dissimilars solving the same problem. Or, vice versa, similar people confronted with dissimilar problems.« (293f.)20

Der Bezug auf die Musik erscheint nicht auf klangliche, sondern auf for­ male und strukturelle Analogien fokussiert – »abrupt transitions«, »modula­ 19 An späterer Stelle im Roman heißt es in einem weiteren Tagebuchauszug: »I have quite decided that my novelist must be an amateur zoölogist. Or, better still, a profes­ sional zoölogist who is writing a novel in his spare time. His approach will be strictly biological.« (315) 20 Wolf stellt heraus, dass diese Passage »the first programmatic discussion of the con­ cept of musicalized fiction in the history of English literature« sei. Wolf, Musicaliza­ tion of Fiction, S. 165.

104 | Der Abgrund im Spiegel

tions« und »variations« werden als musikalische Verfahren reflektiert, durch die der Darstellung von Quarles’ Wirklichkeitsverständnis beigekom­ men werden könnte. Anstelle einer linearen, traditionellen Erzählstruktur, die ein oder zwei Protagonisten fokussiert, tritt eine Vielzahl an Charak­ teren und Handlungssträngen.21 Im Unterschied zur Konstruktion einer Mise en abyme stellt dieser Ansatz statt einer Tiefen- eine Gewebestruktur vor, durch die die unterschiedlichen Aspekte des Erzählten – »emotional, scientific, economic, religious, metaphysical, etc.«(294) – einander ab­ wechseln und durchdringen: »He [the author, Anm. Ch.G.] will modulate from one to the other – as, from the aesthetic to the physico-chemical aspect of things, from the religious to the physiological or financial.« (294) Zum Verhältnis dieser beiden Prinzipien verliert Quarles kein erläutern­ des Wort – ob es sich um konkurrierende Optionen handelt, oder um kom­ plementäre, verbleibt im Grunde der Imagination der Lesenden überlassen. Und doch erscheint der Imagination durch die rahmende Erzählung selbst ein Referenzpunkt geschaffen. Schon der Titel des Romans, der auf eine musikwissenschaftliche Terminologie zurückgreift22, sensibilisiert für die Entsprechung von Point Counter Point mit Quarles’ musikinspirierter Kon­ zeption seines Romanprojekts. Die Vielzahl und die Heterogenität der Per­ sonen, deren Leben in ineinander verwobenen Handlungssträngen parallel erzählt werden, dynamisieren den Text durch die Frequenz der alternieren­ den Erzählstränge. Die ›abrupt transitions‹ werden als narrative Brüche vi­ suell durch drei Sternchen gekennzeichnet. Wie Wolf herausstellt, wird der »apparent disconnectedness on the surface«23, durch ›modulations‹ und ›va­ riations‹ von Thematiken, Ideen, Charakteren, Geschehnissen und Situatio­ nen eine thematische Kontinuität entgegengestzt. 24 Zusätzlich zu den den Handlungssträngen jeweils eigenen Tempi, Tonlagen und Dynamiken, neh­ 21 Vgl. Wolf, Musicalization of Fiction, S. 166. 22 Der Titel Point Counter Point ruft das Konzept des Kontrapunkts auf – ein Verweis, der insbesondere durch die Parallele zum lateinischen Ausdruck ›punctus contra punctum‹, auf den der Begriff etymologisch zurückgeführt wird, betont wird. Vgl. o. A. (1984): »Kontrapunkt«. In: Meyers Taschenlexikon Musik in 3 Bänden. Hg. von Hans Heinrich Eggebrecht. In Verbindung mit d. Red. Musik d. Bibliograph. Inst. unter Leitung von Gerhard Kwiatkowski. Bd. 2. Mannheim u.a.: Bibliographisches Institut, S. 179-180, hier S. 179. 23 Wolf, Musicalization of Fiction, S. 169. 24 Vgl. Wolf, Musicalization of Fiction, S. 169.

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men die einzelnen Erzählstränge parallel an Tempo und Dramatik zu und klingen schließlich gemeinsam aus.25 Zusammenfassend könnte man mit Wolf bezüglich der Musikalisierung von Point Counter Point sagen: »The structural analogy to musical counterpoint, already featured in the title, is in fact the major formal principle of the novel and at the same time the major technique of its musicalization.«26 Quarles’ theoretische Überlegungen erscheinen immer schon im Roman selbst realisiert und daher, obwohl sie innerfiktional Zukünftiges fokussie­ ren, tatsächlich Erläuterungen ex post zu sein. Aufgrund der hohen Über­ einstimmung von Point Counter Point und dem Romanprojekt erscheint es daher nicht zu gewagt anzunehmen, dass sich das Bild, das sich die Lesen­ den im Verlauf der Lektüre von dem zu schreibenden Roman bilden, an der aktuellen Lektüre von Point Counter Point orientiert. Ist auch Quarles’ Ro­ man erst im Entstehen begriffen, so ist er als beständiges Element des Tex­ tes doch bereits antizipativ omnipräsent – und zwar in ebender Form von Point Counter Point. Legt man ein Verständnis der Mise en abyme zu­ grunde, das auch indirekte Einlagerungsformen akzeptiert, so kann auch das Romanprojekt von Philip Quarles im Rahmen der Mise en abyme ver­ ortet werden. Liegt nicht die tatsächliche, direkte Wahrnehmung durch die Lesenden als Prämisse vor, können die geschilderten Konstruktionsmecha­ nismen sowie die Überlegungen bezüglich des Plots als ausreichend erach­ tet werden, eine Vorstellung eines Romans innerhalb des Romans zu sugge­ rieren, der demjenigen gleicht, in den er eingelassen ist. Die vorherrschende Virtualität des Romans scheint vielmehr den Effekt einer Mise en abyme zu verstärken, indem die Imagination der Lesenden einen Roman erschaffen kann, der sich auf ihre spezifische Lektüre von Point Counter Point stützt. Die noch fluide Form einer solchen Mise en abyme scheint zudem einer 25 Snow verweist in seiner Forschung nicht nur auf die diversen, überzeugenden Ansätze, den Roman entsprechend der Sätze einer musikalischen Komposition (Andante, Allegro, Scherzo und Rondo) zu gliedern, sondern unternimmt darüber hinaus den Versuch, diese bzgl. ihrer Tempi bestimmten Personen bzw. Personen­ gruppen zuzuordnen (1. Andante – Die Bidlakes; 2. Allegro – Die Quarles’; 3. Scherzo – Die Rampions; 4. Rondo – Burlap und Beatrice; 5. Largo-Presto – Mau­ rice Spandrell). Vgl. Snow, Marcus (2016): Into the Abyss. A Study of the ›mise en abyme‹. Diss. London Metropolitan University, hier S. 156f., elekronisch verfügbar unter: http://repository.londonmet.ac.uk/1106/ [zuletzt abgerufen 19.10.2017]. 26 Wolf, Musicalization of Fiction, S. 169.

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vorrangigen Interpretation hinsichtlich der Selbstbezüglichkeit entgegenzu­ wirken und vielmehr das Verhältnis von geschilderter, fiktionaler Wirklich­ keit und deren Adaption im Romanprojekt selbst zu fokussieren. Oft genug wird auf die Figuren als Vorbilder für die zukünftigen Romancharaktere Bezug genommen, wie beispielsweise das Beziehungsverhältnis von Walter Bidlake zu Marjorie Carling sowie seiner Geliebten, Lucy Tantamount 27, das »would make an excellent subject« (190). 28 Aber auch Quarles und seine Beziehung zu Elinor wird – für die Lesenden durch direkte Parallelen zu zuvor geschilderten Szenen – aufgerufen, wenn er über eine Figur für seinen Roman nachdenkt, die ihm nicht nur in seinen »intellectualist ten­ dencies at the expense of all the others« (340) zu gleichen scheint. Selbst Elinors Drohung ihn zu verlassen (272f. und 76) wird, ohne explizite Nen­ nung ihres Namens, als mögliche Romanszene erwogen.29 Die Notizbücher, die vorrangig Quarles’ poetologischen Überlegungen und der Konzipierung seines neuen Romans vorbehalten sind, wirken wie materielle Statthalter für den noch nicht geschriebenen Roman. Natürlich könnten die Notizbücher selbst als Mise en abyme untersucht werden – ihre Eigenständigkeit, ihr eigener ästhetischer Wert erscheint jedoch eher margi­ nal, sodass eine Betrachtung ihrer besonderen Stellung zwischen Point Counter Point und dem entstehenden Roman vielversprechender erscheint. Die Ebene der Notizbücher assimiliert in gewisser Weise die erzählerische Ebene von Point Counter Point hinsichtlich des zu schreibenden Romans, erscheinen sie doch als Ort der Vermengung von geschilderten Ereignissen in der Diegese von Point Counter Point und deren Fruchtbarmachung für Quarles’ Erzählprojekt. Sie unterstützen damit gleichermaßen das Erzählen der Ereignisse von Point Counter Point und prüfen jene Ereignisse hin­ sichtlich ihrer möglichen Adaption für das neue Projekt. Die Notizbücher als Vermengungsort von Point Counter Point und dem Romanprojekt un­ 27 Lucy Tantamount, die Tochter von Lord Edward Tantamount, wird im Roman glei­ chermaßen als Femme Fatale als auch als Vertreterin der Bright Young People gezeichnet. Vgl. auch Meckier, Quarles among the Monkeys, S. 273f. 28 Immer wieder wird die Vorbildfunktion von insb. Walter und Lucy für Quarles’ Roman deutlich, bspw. durch Formulierungen wie »when my Walter rushes after his Lucy« (S.290f.) oder »My Walterish hero makes his Lucyish siren laugh« (S.293). 29 Aber auch an anderen Stellen, wie bspw. in der Konversation mit Molly d’Exergillod, bemerkt er ihre Eignung als Romanfigur. »[A] good character, he reflected, for his novel« (S. 325).

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terstützen damit direkt die Verschmelzung der beiden, bei bestehender Dif­ ferenz in der Vorstellung der Lesenden. Die Notizbücher betonen das ImEntstehen-begriffen-Sein des Romans und verstärken damit den Eindruck eines aktiven Akts der Formung, der konstruktiven Leistung des einer Wirklichkeitsdarstellung verpflichteten Romanprojekts.

5.4

INTERMEDIALE MISE EN ABYME – ZWISCHEN MUSIK, ZEICHNUNG UND LITERATUR

Auf die Relevanz von Musik hinsichtlich des Titels und der Struktur von Point Counter Point wurde bereits verwiesen – doch auch auf inhaltlicher Ebene werden Musikstücke bzw. die Verbalisierung von Musikstücken, durch ihre prominente Positionierung zu Beginn und zum Ende des Textes hervorgehoben. Den Auftakt des Romans bildet eine musikalische Soiree im Hause Tantamount und damit eine Interpretation von Johann Sebastian Bachs Suite in h-moll für Flöte, Streicher und Basso continuo (BWV 1067) – ein Werk eines Komponisten, der die kontrapunktische Musik zu ihrem Höhe­ punkt führte.30 Das Musikstück erscheint als eine ›mise en abyme prospec­ tive‹, deren eklatante Ähnlichkeit zur gesamten Struktur des Textes erst im Nachhinein beigemessen werden kann. Die Beschreibung dieser Auffüh­ rung erstreckt sich – immer wieder unterbrochen – über zwölf Seiten und scheint damit die Dauer der Aufführung in Zeit der Lektüre transformieren zu wollen. Die Verbalisierung selbst wird unterbrochen durch die Beschrei­ bungen von Rezipierenden sowie durch Darlegungen des Erzählers, die die subjektiven Perspektiven um dessen assoziative Gedankengänge und Beob­ achtungen erweitern. Darüber hinaus werden verschiedene Handlungen im Haus geschildert, die parallel stattfinden und durch die Musik, die durch die Räume klingt, in einen Zusammenhang gebracht werden. Die fragmentari­ 30 Der Kontrapunkt bezeichnet eine musikalische Kompositionstechnik, bei der mehrere melodisch selbständige Stimmen polyphon zusammengeführt werden. Johann Sebas­ tian Bach gilt als jener Komponist, der in seinem Werk den Kontrapunkt zu einem Höhepunkt führte. (Vgl. o. A. (2003): »Kontrapunkt«. In: Meyers großes Taschenle­ xikon in 26 Bänden. 9. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Bd. 12. Mannheim: Meyers, S. 3921-3922). Für eine ausführlichere Begriffsbestimmung vgl. die sehr zugängliche Arbeit von Wolf, The Musicalization of Fiction, S. 171.

108 | Der Abgrund im Spiegel

sche Erzählweise erscheint in dieser Anfangsszene als ein Versuch, Gleich­ zeitigkeit in der literarischen Struktur zu fassen. Die Musik, die in den un­ terschiedlichen Räumen zu hören ist, verdeutlicht die Gleichzeitigkeit der stattfindenden Handlungen und zeigt doch zugleich, dass das erzählerische Verfahren diese Gleichzeitigkeit nur evozieren kann. Zugleich erscheint diese Art der Einlagerung der Suite in den Roman als ein erster Hinweis auf den Versuch, eine literarische Annäherung an musikalische Polyphonie zu wagen, der in Point Counter Point durch die pluralen Handlungsstränge und die abrupten Umbrüche unternommen wird.31 Die Verbalisierung des Musikstücks, die als Einsprengsel den Text durchzieht, ist jedoch um eine zentrale Passage ausgerichtet, die ohne jede personalisierte Perspektive von der Erzählinstanz moderiert wird. In dieser wird in einem Hin und Her aus naturwissenschaftlicher Zurückführung der Musik auf physikalische Luftschwingungen und überindividueller Wir­ kungsästhetik, das musikalische Werk in das literarische integriert: »He [der Flötist Pongileoni, Anm. Ch.G.] blew across the mouth hole and a cylin­ drical air column vibrated; Bach’s meditations filled the Roman quadrangle. In the opening largo John Sebastian had, with the help of Pongileoni’s snout and the air column, made a statement: There are grand things in the world, noble things; there are men born kingly; there are real conquerors, intrinsic lords of the earth. But of an earth that is, oh! complex and multitudinous, he had gone on to reflect in the fugal allegro. You seem to have found the truth; clear definite, unmistakable, it is an­ nounced by the violins; you have it, you triumphantly hold it. But it slips out of your grasp to present itself in a new aspect among the cellos and yet again in terms of Pongileoni’s vibrating air column. The parts live their separate lifes; they touch, their paths cross, they combine for a moment to create a seemingly final and per ­ fected harmony, only to break apart again. Each is always alone and separate and in­ dividual. ›I am I‹, asserts the violin; ›the world revolves round me.‹ ›Round me,‹ calls the cello. ›Round me,‹ the flute insists. And all are equally right and equally wrong; and none of them will listen to the others.« (23) 31 Sind Musik und Literatur auch miteinander verwandte Kunstformen, die sich tenden­ ziell mehr entlang einer zeitlichen Achse entwickeln, denn in einer räumlichen Dimension, so ist doch die Literatur stärker an eine zeitliche Linearität gebunden. Das Phänomen der Polyphonie, das viele Musikstücke (zumindest in der westlichen Kultur) prägt, kann durch die Literatur nur suggeriert werden. Vgl. Wolf, Musicaliza­ tion of Fiction, S. 15 und S. 20.

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Die literarische Adaption erscheint weniger in einem Modus der Beschrei­ bung denn in einem der Interpretation vorgeführt zu werden. Die Interpreta­ tion dient durch die narrativen Vermittlung einer Angleichung des Musika­ lischen an das literarische Vermögen. Es ist eine Darstellung der Suite im Medium der Literatur. Insbesondere in der folgenden Textstelle ist diese Transformation der Musik in eine interpretative, visualisierende Narration prägnant: »The Rondeau begins, exquisitely and simply melodious, almost a folk song. It is a young girl singing to herself of love, in solitude, tenderly mournful. A young girl singing among the hills, with the clouds drifting overhead. But solitary as one of the floating clouds, a poet had been listening to her song. The thoughts that it provoked in him are the Sarabande that follows the Rondeau. His is a slow and lovely medita ­ tion on the beauty (in spite of squalor and stupidity), the profound goodness (in spite of all evil), the oneness (in spite of such bewildering diversity) of the world.« (23f.)

In einem starken Gegensatz zu der Narrativität und Poetik dieser entwor­ fenen Szenerie stehen die immer wieder prosaisch anmutenden Verweise auf die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, auf denen das Musikempfinden beruht: »Pongileoni blew, the fiddlers drew their rosined horsehair across the stretched intestines of lambs; through the long Sarabande the poet slowly meditated his lovely and consoling certitude.« (24) Werden auch die bisher zitierten Passagen keiner Person zugeordnet, so sind die interpretativen, poetischen Elemente Resultate einer menschlichen Klangverarbeitung. Dies wird zum einen durch die kontrastierende Darstel­ lung der Wirkung auf bestimmte Zuhörer und Zuhörerinnen deutlich, 32 zum 32 Besonders prägnant ist dieser Unterschied in der Kontrastierung der Rezeption von John Bidlake und Fanny Logan. Während John Bidlake nur auf das Ende der Vorstel­ lung wartet und sich über die übrigen Zuhörenden mockiert – »[t]his music is begin­ ning to get rather tedious, […] Is it going to last much longer? […] Who’s that little woman in black, […] rolling her eyes and swaying her body like St. Teresa in ecstasy?«» (S.24) – löst die Musik in besagter Fanny Logan starke Emotionen und Erinnerungen an ihren verstorbenen Ehemann aus: »She felt it within her as a current of exquisite feeling running smoothly but irresistibly through all the labyrinthine intricacies of her being. Even her body shook and swayed in time with the pulse and undulation of the melody. She thought of her husband; the memory of him came to her on the current of music, of darling, darling Eric, dead now almost two years;

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anderen aber auch besonders explizit in der Nachzeichnung der Luft­ schwingungen von den Musikern bis in den Gehörgang von Lord Edward Tantamount: »Pongileoni’s blowing and the scraping of the anonymous fiddlers had shaken the air in the great hall, had set the glass of the windows looking on to it vibrating; and this in turn had shaken the air in Lord Edward’s apartment on the further side. The shaking air rattled Lord Edward’s membrana tympani; the interlocked malleus, incus and stirrup bones were set in motion so as to agitate the membrane of the oval win­ dow and raise an infinitesimal storm in the fluid of the labyrinth. The hairy endings of the auditory nerve shuddered like weeds in a rough sea; a vast number of obscure miracles were performed in the brain and Lord Edward ecstatically whispered ›Bach!‹ He smiled with pleasure, his eyes lit up. The young girl was singing to her­ self in solitude under the floating clouds. And then the cloud-solitary philosopher began poetically to meditate.« (32)

Von der Beschreibung der Luftschwingungen und der Verwendung von biologischen Fachtermini zu den »obscure miracles« der neuronalen Verar­ beitung33 hin zu der ästhetischen Wahrnehmung wird ein starker Kontrast gezeichnet. Dieser Kontrast verdeutlicht die den Text insgesamt kennzeich­ nende Skepsis gegenüber möglichen Erkenntniswerten aus naturwissen­ schaftlichen Beobachtungen. Lord Edward Tantamount, der als Naturwis­ senschaftler für diese Form der Erkenntnisgewinnung einsteht, wird daher nicht umsonst als »fossil child« (20 und 21) bezeichnet, der zwar bezüglich dead, and still so young. The tears came faster. She wiped them away. The music was infinitely sad; and yet it consoled. It admitted everything, so to speak – poor Eric’s dying before his time, the pain of his illness, his reluctance to go – it admitted everything. It expressed the whole sadness of the world, and from the depths of that sadness it was able to affirm – deliberately, quietly, without protesting too much – that everything was in some way right, acceptable. It included the sadness within some vaster, more comprehensive happiness. The tears kept welling up into Mrs. Logan’s eyes; but they were somehow happy tears, in spite of her sadness.« (S. 25) 33 Diese unbestimmten Verarbeitungsmechanismen in der menschlichen Psyche lassen an das behaviouristische Blackbox-Modell denken, also der nicht mit naturwissen­ schaftlichen Methoden beobachtbaren Verarbeitung von Stimuli durch das Gehirn, die zu einem Verhalten führt. Während Stimulus und Verhalten beobachtbar sind, entziehen sich die transformatorischen Prozesse einer solchen Erfassung.

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seiner wissenschaftlichen Arbeit zu der Elite gehört, aber in alltäglichen Geschehnissen und sozialen Beziehungen ins Komische kippende Defizite aufweist. Dennoch gehört auch dieses Beschreibungsregister zum erzähleri­ schen Repertoire, dessen sich der Roman bedient, um eine Fusion des Musikalischen mit der dem Text eigenen Literarizität darzustellen und die Vielfalt der Zugangsweisen zu verdeutlichen. Die Wechsel von naturwissenschaftlichen zu poetischen Beschreibungs­ registern sowie die Wechsel in Erzählperspektive und Fokalisierung ermög­ lichen einen Brückenschlag zu Philip Quarles’ Romanprojekt: Können die Lesenden zwar nicht wissen, welche Art von Erzähler Quarles tatsächlich einsetzen würde, erinnert der Erzähler von Point Counter Point doch an die amöbenhafte Anpassungsfähigkeit und Fluidität Quarles’ Denkstrukturen, die wie folgt beschrieben werden: »The amœba, when it finds a prey, flows round it, incorporates it, and oozes on. There was something amœboid about Philip Quarles’s mind. It was like a sea of spiritual protoplasm, capable of flowing in all directions, of engulfing every object in its path, of trickling into every crevice, of filling every mould, and, having en­ gulfed, having filled, of flowing on toward other obstacles, other receptacles, leaving the first one empty and dry.« (S. 193)34

Noch deutlicher als in der Erzählerfigur tritt die Verwandtschaft von Ro­ manprojekt und der Adaption der Bach’schen Suite jedoch in der interpre­ tierenden Beschreibung zu Tage: Sie ist getragen von der Vorstellung einer komplexen und vielteiligen Welt, die durch musikalische Polyphonie und kontrapunktische Komposition zum Ausdruck kommt. Die Verbalisierung des Musikstücks erscheint damit als eine Vorwegnahme des Gedankenge­ rüsts von Philip Quarles – der ›musicalization of fiction‹ sowie der ›multi ­ plicity‹ der Welt – und schweift schon an dieser Stelle zum Teil in eine be­ tont intellektuell-reflektierende Programmatik ab, wie die folgende Textstelle – eingelagert zwischen zwei Passagen, die das Musikstück fo­ kussieren – verdeutlicht:

34

Für weitere Hinweise auf eine Parallelführung des Erzählers von Point Counter Point und Philip Quarles vgl. auch die Hinweise in Fußnote 16 dieses Kapitels.

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»In the human fugue there are eighteen hundred million parts. The resultant noise means something perhaps to the statistician, nothing to the artist. It is only by consi­ dering one or two parts at a time that the artist can understand anything. Here, for example, is one particular part; and John Sebastian puts the case.« (23) 35

Die Suite in h-moll wird durch diese begleitenden Kommentare an den rah­ menden Textkorpus qualitativ angeglichen. Die thematische Kontextuali­ sierung des Musikstücks in sowohl theoretischen Reflexionen bezüglich künstlerischer Darstellungsweisen von Wirklichkeit sowie die Verbindung von musikalischer und menschlicher Fuge verweisen direkt auf Philip Quarles’ Überlegungen und zugleich auf die textuelle Komposition von Point Counter Point, auf dessen kontrapunktische Gestaltung bereits ver­ wiesen wurde. Der Zusammenhang der musikalisch-literarischen Mise en abyme mit dem Romanprojekt, das aufgrund seiner Virtualität ebenfalls nur als Beschriebenes in den Text eingelagert werden kann, wird durch die Art und Weise der Beschreibung hervorgehoben. In beiden Fällen erscheint die intellektuelle Durchdringung Vorrang vor einer Annäherung an die ästheti­ sche Qualität des jeweiligen Werks zu haben. Auch das Musikstück, das den dramatischen Endpunkt von Point Counter Point begleitet36 – es handelt sich um den 3. Satz von Beethovens Streichquartett Nr. 14 in a-moll, der mit dem Titel »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart« versehen ist – greift erneut die Musikalität des Romans auf. Allerdings wird durch dieses abschließende Musikstück weniger der Kontrapunkt im Sinne eines Gegen­ satzes – musikalisch wie literarisch – fokussiert, sondern vielmehr durch eine durchgehende Polyphonie das Miteinander. Obschon noch immer gemäß der einzelnen Stimmen melodisch, ist es dennoch der harmonische Zusammenklang, der dieses Stück prägt. Der Zusammenklang, »the archaic Lydian harmonies« (428) sind es, die den nihilistischen Maurice Spandrell in dieser Musik einen Gottesbeweis erkennen lassen – in der Folge ist es 35 Die 1,8 Milliarden Stimmen der menschlichen Fuge könnte eine grobe Anlehnung an die Weltpopulation der 1920er Jahre darstellen, die erst um die Jahre 1926/27 die zweite Milliarde erreichte. Vgl. Birg, Herwig (2011): »Entwicklung der Weltbevöl­ kerung«. In: ders.: Bevölkerungsentwicklung. Informationen zur politischen Bildung Nr. 282, S. 4-11, hier S.6, elektronisch verfügbar unter http://www.bpb.de/izpb/ 55882/entwicklung-der-weltbevoelkerung?p=all [zuletzt abgerufen am 19.10.2017]. 36 Die entsprechende Textpassage findet sich auf S. 426-431.

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eben jenes Stück, das Spandrell als Begleitmusik für seinen fremdbe­ wirkten Suizid wählt. Im Unterschied zu Bachs Suite, in der dominante Einzelmelodien und -stimmen miteinander im Wettstreit stehen, erscheint Beethovens Dankgesang als ins Transzendentale hinausweisender Ruhepol, der jenseits intellektueller Reflexion durch den Rückgriff auf naturnahe Bilder verbalisiert wird: »It was an unimpassioned music, transparent, pure, and crystalline, like a tropical sea, like Alpine lake. Water on water, calm sliding over calm; the according of level horizons and waveless expanses, a counterpoint of serenities. And everything clear and bright; no mists, no vague twilights. It was the calm of still and rapturous con­ templation, not of drowsiness or sleep. It was the serenity of the convalescent who wakes from fever and finds himself born again into the realm of beauty. But the fever was ›the fever called living‹ and the rebirth was not into this world; the beauty was unearthly, the convalescent serenity was the peace of God. The interweaving of Lydian harmonies was heaven.« (428)

Die Darstellung von Beethovens Musikstück hat nichts von der intellektuel­ len Durchdringung, der Narrativität oder gar den wechselnden Beschrei­ bungsregistern, die die Darstellung von Bachs Suite kennzeichnen. Die Musik wird nicht auf Ursächliches – die Instrumente, die Musiker oder gar Luftschwingungen – zurückgeführt, sondern wird, der Musik selbst so nah wie möglich, in den Text integriert. Doch die Harmonie, die Himmelsvision erweist sich als eine nur kurz währende Illusion. Während das Grammo­ phon spielt, wird Spandrell von British Freemen, Anhängern des von Span­ drell erschlagenen faschistischen Demagogen Webley, erschossen. Auch wenn Spandrell selbst seinen Tod herbeigeführt hat, indem er den British Freemen den entscheidenden Hinweis auf seine Tat gab, erhält die Be­ schreibung der Musik nachdem die Schüsse gefallen sind, trotz einer ähnli­ chen Wortwahl und eines ähnlichen Tonfalls, einen schalen Beigeschmack: »Heaven, in those long-drawn notes, became once more the place of absolute rest, of still and blissful convalescence. Long notes, a chord repeated, protracted, bright and pure, hanging, floating, effortlessly soaring on and on. And then suddenly there was no more music; only the scratching of the needle on the revolving disc.« (431)

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Das kratzende Geräusch der Nadel des Grammophons verdeutlicht die pro­ saische Wirklichkeit und scheint damit eine Antwort auf eine Frage nahe­ zulegen, die schon in der Verbalisierung des einführenden Musikstücks von Bach gestellt wird: Die offengelassene Frage nach dem Vermögen der Kunst, Wahrheit zu offenbaren oder nur Illusion zu erzeugen. »It is a beauty, a goodness, a unity that no intellectual research can discover, that analysis dispels, but of whose reality the spirit is from time to time suddenly and overwhelmingly convinced. A girl singing to herself under the clouds suffices to create the certitude. Even a fine morning is enough. It is illusion or the revelation of profoundest truth? Who knows?« (24)

Der Verweis auf die kratzende Nadel des Grammophons legt eine Antwort nahe, indem von der poetischen, transzendentalen Ausdrucksweise am Ende nur der Verweis auf die Technik steht, die die Himmelsversion er­ zeugte. Dies knüpft zum einen an die naturwissenschaftlichen Beschrei­ bungen der Bach Suite an, zum anderen ruft es den Topos der Virtualität er­ neut auf: Nicht nur durch die Abwesenheit der Musiker, die die Klänge verursachen, sondern auch durch den Verweis auf Beethovens Taubheit zum Zeitpunkt der Komposition des Stücks: »More than a hundred years before Beethoven, stone deaf, had heard the imaginary music of stringed instruments expressing his innermost thoughts and feelings. He had made signs with ink on ruled paper. A century later four Hungarians had repro­ duced from the printed reproductions of Beethoven’s scribbles that music which Beethoven had never heard exept in his imagination. The artificial memory re­ volved, a needle travelled in its grooves, and through a faint scratching and roaring that mimicked the noises of Beethoven’s deafness, the audible symbols of Beetho­ ven’s convictions and emotions quivered out into the air.« (S. 427f.)

Mit Nachdruck erfährt der virtuelle Charakter durch diese Passage eine Aufwertung, entstand doch das Musikstück, das Spandrell und auch Ram­ pion als Himmelsvision erschien,37 nur in Beethovens Imagination, ohne 37

Spandrell läd Rampion ein, um von ihm seine Sichtweise auf den Heiligen Dankge­ sang bestätigt zu bekommen und macht ihn so zum Zeugen seines Tods. Zuvor hören sie gemeinsam die Beethoven Aufnahme und Rampion ist schließlich, wenn auch widerwillig, überzeugt: »You’re quite right. It is heaven, it is the life of the soul. It’s

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dass er es je sinnlich hätte wahrnehmen können. Die Frage nach Illusion oder Wahrheitsoffenbarung verbleibt damit letztendlich offen und der Ein­ schätzung der Lesenden überlassen. Es ist jedoch zugleich eine Frage, die nicht ausschließlich an die Kunst herangetragen wird. In direktem An­ schluss an Spandrells Tod wird ein gänzlich anderes ›Kingdom of Heaven‹ vorgeführt, das zugleich den gesamten Text beschließt: »Thank goodness, he [Burlap, Anm. Ch. G.] reflected, as he walked along whistling ›On wings of Song‹ with rich expression, that was the end of Ethel Cobbett so far as he was concerned. It was the end of her also as far as everybody was concerned. For some days later, having written him a twelve-page letter, which he put in the fire after reading the first scarifying sentence, she lay down with her head in the oven and turned on the gas. But that was something Burlap couldn’t foresee. His mood as he walked whistling homeward was one of unmixed contentment. That night he and Beatrice pretended to be two little children and had their bath together. Two little children sitting at opposite ends of the big old-fashioned bath. And what a romp they had! The bathroom was drenched with their splashings. Of such is the Kingdom of Heaven.« (432)

Dieser Himmel, obschon in der ›Wirklichkeit‹ und nicht in der Kunst veror­ tet, erscheint tatsächlich als die größere Täuschung. Die sarkastische Erzäh­ lerstimme verdeutlicht den Kontrast zu der Himmelvision der vorherigen Szene. Durch die Parallelführung der beiden Szenen, sowohl durch die bei­ den Suizide38 als auch die Bezeichnung als Himmelreiche werden sie in the most perfect abstraction from reality I’ve ever known.« (429) 38 Die beiden Suizide stehen durch die texträumliche Nähe und die selbstbestimmte Art des Todes in besonders engem Zusammenhang. Dennoch sind sicherlich auch die anderen Todesfälle, die das Ende des Romans prägen, als direkter Kontext zu lesen: angefangen mit dem Mord an Everard Webley durch Spandrell und Illidge (S. 370), der erst durch die plötzlich auftretende Meningitis von Philip Quarles junior, Elinors und Philip Quarles’ Sohn, ermöglicht wurde, weitergeführt durch dessen Tod, nach einigen Tagen voller Qual (S. 419) und dem parallelgeführten Sterbeprozess von John Bidlake, der sein eigenes Schicksal abergläubisch mit dem seines Enkels ver­ knüpft (S. 414 und 419). Zuletzt, und erneut eine Symmetrie erzeugend, glaubt auch Philip Quarles’ Vater Sidney im Sterben zu liegen (S. 347) – jedoch aus fadenschei ­ nigen Gründen, die seinen möglichen Tod als Simulation erscheinen lassen, die mehr komisch denn tragisch anmutet.

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einen starken Zusammenhang gebracht, in einen Zusammenklang. Doch es ist eine Polyphonie, die nur schwer als Harmonie interpretierbar ist, son­ dern eher einen dissonanten Abschlussakkord nahelegt. Auf den Roman be­ zogen ist es nicht zwangsläufig ein harmonischer Wohlklang, der in Point Counter Point dominiert – die einzelnen Erzählstränge bilden zueinander starke Kontraste, versinnbildlichen Oppositionen; die Figuren scheinen in ihren partikulären subjektiven Wirklichkeiten nicht fähig dem Zusammen­ klang, dem »universal concert of things« 39, an dem sie teilhaben, zu lau­ schen. Die alles überblickende Perspektive der Lesenden, die sie einzig mit dem Erzähler zu teilen scheinen, kann diese Stimmen durch die künstleri­ sche Komposition zusammenführen und in ihrer Polyphonie wahrnehmen. Wie diese Stimmen zusammen klingen, ob in harmonischem Wohlklang oder voller Dissonanz, obliegt letztlich der konstruktiven Leistung und Be­ wertung der Lesenden. Der satirische und oftmals auch sarkastische Tonfall des Erzählers, der den Roman in weiten Teilen kennzeichnet, stellt insgesamt eine Eigenart des Textes dar, der in den musikalischen Mise en abyme, die bisher analy­ siert wurden, nicht aufgenommen wird. Diese Eigenschaft des Textes, die zu der Interpretation und Einordnung des Romans als Gesellschaftssatire geführt hat,40 wird jedoch durch andere in den Text eingebettete Kunst­ werke aufgenommen. Exemplarisch sei daher abschließend noch kurz auf einige dieser Zeichnungen und Malereien verwiesen. Während viele der visuellen Kunstwerke bestimmte Personen und deren Weltbilder verdeutlichen – beispielsweise das oft kommentierte und be­ schriebene Meisterwerk »The Bathers« von John Bidlake, das nicht nur 39 Der Ausdruck »universal concert of things« wird als Zitat von Claude Bernard, das Lord Edward als junger Mann las, in Point Counter Point eingeführt. Die Reflexion dieses Zitats löste in dem bis dato eher musikalisch interessierten Lord Edward den Wunsch aus, die Welt aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zu erforschen, wie die folgende Textstelle verdeutlicht: »›A member of the universal concert of things.‹ It’s all like music; harmonies and counterpoint and modulations. But you’ve got to be trained to listen. Chinese music… we can’t make head or tail of it. The uni­ versal concert – that’s Chinese music for me, thanks to Eton. Glycogenic function of the liver … it might be in Bantu, as far as I’m concerned. What a humiliation! But I can learn, I will learn, I will …« (S. 29) 40 Vgl. bspw. den paratextuellen Verweis (hinterer Klappentext) der hier verwendeten Ausgabe.

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dessen Kunstfertigkeit zeigt, sondern neben seiner Wertschätzung von weiblichen Körpern insbesondere auch seine prinzipielle Frauenverachtung (vgl. 44ff.) – kann den zwei Zeichnungen von Mark Rampion der Status von Mise en abyme beigemessen werden. 41 Ohne auf die spezifische Art und Weise der Einlagerung näher eingehen zu wollen, können anhand »Fossils of the Past and Fossils of the Future« sowie »Outlines of History« thematische Parallelen sowie Entsprechungen bezüglich der Bild- und der Erzählsprache herausgearbeitet werden. Beide Werke haben Züge von Ka­ rikaturen und zeigen eine satirisch-distanzierte Perspektive auf gesellschaft­ liche Tendenzen der Handlungs- und damit auch der Entstehungszeit des Romans. »Fossils of the Past and Fossils of the Future« zeigt eine lange S-förmige Prozession, an deren Ende urzeitliche Dinosaurier hintereinander laufen, fliegen, schwimmen. Die Spitze dagegen »was composed of human monsters, huge-headed creatures, without limbs or bodies, creeping sluglike on vaguely slimy extensions of chin and neck. The faces were mostly those of eminent contemporaries« (209). Rampion, der die Zeichnungen Burlap zeigt, fügt eine Erklärung der Zeichnung gleich hinzu: »›The lizards died of having too much body and too little head,‹ said Rampion in ex­ planation. ›So, at least, the scientists are never tired of telling us. Physical size is a handicap after a certain point. But what about mental size? These fools seem to forget that they’re just as top-heavy and clumsy and disproportioned as any dip­ lodocus. Sacrificing physical life and affective life to mental life. What do they ima­ gine’s going to happen?‹« (209)

Zeigt sich hier auch insbesondere Rampions spezifische Weltsicht, verweist die Zeichnung dennoch über diesen Rahmen hinaus auf allgemeinere Cha­ rakteristika des Romans: Das Ringen um ein Leben im Gleichgewicht, das zwischen der konstruierten Opposition von körperlich-psychischem und ra­ tional-geistigem Balance hält, die Einseitigkeit der dargestellten Personen, die auf Grund dieser Eigenschaft sich selbst zur Karikatur machen und nicht zuletzt die Adaption von Wirklichkeit in künstlerischem Ausdruck. 42 41 Meckier bezeichnet diese beiden Zeichnungen gar als »Point Counter Point in mini­ ature«. Meckier, Quarles among the Monkeys, S. 277. 42 Marovitz weist darauf hin, dass die Tier-Bildlichkeit, die durch den gesamten Text zur Beschreibung der Charaktere eingesetzt wird (vgl. auch Fußnote 18 dieses Kapi­ tels), zum einen einen komischen Effekt bewirke, zum anderen aber auch dem »pur ­

118 | Der Abgrund im Spiegel

Unter den Dargestellten findet sich beispielsweise – neben realhistorischen Figuren wie Bernhard Shaw – auch Lord Edward Tantamount. Wie im Ro­ man erscheint er nur als eine Figur unter vielen, doch auch hier erscheint er mehr als paradigmatischer Repräsentant einer spezifischen Lebensführung und ideologischen Prägung. Zeigt der Roman in seiner satirischen Grund­ haltung das Aufeinandertreffen viktorianischer und moderner Moralvorstel­ lungen, wird in der Zeichnung das verkopfte, körperliche Bedürfnisse ver­ drängende Denkmuster der viktorianischen Generation als anachronistisch und dem Untergang geweiht dargestellt. Die zweite Zeichnung, »Two Outlines of History«, geht noch einen Schritt weiter und zeigt zwei verschiedene Perspektiven auf die Vergangen­ heit wie auch die Zukunft. Es handelt sich um eine zweigeteilte Zeichnung, die auf der einen Seite Geschichtsverlauf und Zukunftsvision gemäß einer Konzeption von H.G. Wells zeigt und auf der anderen eine von Rampion selbst. Durch die Gegenüberstellung, den Kontrast bei prinzipieller Paralle­ lität, wird auch hier eine gewisse Analogie zum kontrapunktischen Verfah­ ren geschaffen. Der Geschichtsverlauf, der an Wells angelehnt ist, zeigt eine kontinuierlich positive Entwicklung der Menschheit, die sich in den Größenverhältnissen der Darstellung widerspiegelt – von einem sehr klei­ nen Affen über Menschen der antiken Hochkulturen in etwas größeren Ausmaßen und prominenten Figuren des Mittelalters und der Renaissance bis in die Neuzeit, wird ein stetiger Größenzuwachs konstatiert, der sich in die Zukunft fortsetzt: »Through the radiant mist of prophecy the forms of Wells and Mond, growing larger and larger at every repetition, wound away in a triumphant spiral clean off the paper, toward Utopian infinity.« (210) Demgegenüber stellt sich Rampions Version der Geschichte gänzlich anders dar: »The small monkey very soon blossomed into a god-sized bronze-age man, who gave place to a very large Greek and a scarcely smaller Etruscan. The Romans grew smaller again. The monks of the Thebaid were hardly distinguishable from the primeval little monkeys. […] The Victorians had begun to be dwarfish and mis­ shapen. Their Twentieth Century successors were abortions. Through the mists of pose of representing man’s bestial nature« diene. Diesen Zusammenhang findet Marovitz insbesondere durch die Zeichnungen Rampions hervorgehoben. Marovitz, Sanford E. (1969): »Aldous Huxley’s Intellectual Zoo«. In: Philological Quarterly, Vol. 48, No. 4, (Oktober), S. 495-507, hier S. 502.

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the future one could see a diminishing company of little gargoyles and fœtuses with heads too large for their squelchy bodies, the tails of apes, and the faces of our most eminent contemporaries, all biting and scratching and disembowelling one another with that methodical and systematic energy which belongs only to the very highly civilized.« (210)

Die Zeichnung stellt eine vernichtende Gesellschaftskritik dar – der Roman zeigt diese Gesellschaft insgesamt differenzierter und weniger scharf verur­ teilend, unterstützt aber, durch den satirischen Tonfall sowie die gezeigte Interaktion der vielen Figuren, eine ähnliche Stoßrichtung. Durch die Ge­ genüberstellung der beiden Alternativen fokussiert die Zeichnung die Dif­ ferenzen von Wirklicheitswahrnehmungen und -einschätzungen, die sich in Abhängigkeit von ideologischen und individuellen Prämissen wie auch im zeithistorischen Kontext konstituieren. Im Unterschied zum Roman, der dieselben perspektivischen Varianzen darstellt, scheint der Zeichnung eine eindeutige Wertung der beiden Alternativen eingeschrieben zu sein, die zwischen vermeintlicher wirklichkeitsverkennender Illusion und vermeint­ licher realistischer Einschätzung differenziert. Damit scheint diese Mise en abyme in einer exophorischen Ikonizität gesellschaftspolitische Diskurse der Entstehungszeit des Romans zu reflektieren und durch die tendentiöse Darstellung beeinflussen zu wollen.

5.5

ZUSAMMENFASSUNG

Point Counter Point präsentiert die Mise en abyme nicht nur in Form von tatsächlich eingelagerten Kunstwerken und als metaästhetische Reflexion, sondern erweist sich selbst als Realisierung des Romanprojekts von Philip Quarles. Die Virtualität des Projekts scheint damit nicht nur eine vorläu­ fige, sondern auch eine nur scheinbare. Es ist keine selbstgenerative Struk­ tur, die den Lesenden auf eindeutige Weise nahegelegt wird, sondern viel­ mehr eine simultane Präsenz von Geplantem und bereits Realisiertem. Die in Point Counter Point gezeigte Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, die sich aus diversen Perspektiven speist, ohne eine von diesen als eine privile­ gierte, scheinbar objektive auszuweisen43 – dient der Vorlage für das einem 43 Wie Wolf herausstellt zeigt Point Counter Point »the typically modernist change of emphasis from the traditional representation of one reality to the epistemological

120 | Der Abgrund im Spiegel

›Realismus‹ verpflichtete Romanprojekt und erscheint doch selbst als durch Quarles’ Reflexionen strukturiert. Nachahmung und Abbildung werden da­ mit als Konzepte präsentiert, die aus Mangel einer Wirklichkeit, die sich als ein eindeutiger und stabiler Referenzpunkt erwiese, ungenügend erschei­ nen. Auch auf der Ebene der Figuren zeigt sich dieser Zusammenhang, in­ dem Vorstellungen von Wirklichkeit gemäß literarischer oder künstleri­ scher Erfahrungen geformt werden und selbst die auf Naturwissenschaft ba­ sierenden Bestrebungen nach Objektivität auf skurrile Weise irrelevant und ungenügend erscheinen. Die in dieser Arbeit betrachteten musikalischen und bildnerischen Mise en abyme verdeutlichen ebenfalls die selektive und strukturierende Charak­ teristik von Darstellungsformen: Sie alle verweisen auf denselben Roman und sind doch in höchstem Maße heterogen. Sie pointieren unterschiedliche Facetten des Romans und lenken zugleich auf jeweils unterschiedliche Art und Weise dessen Rezeption. Bachs Suite und Beethovens Heiliger Dank­ gesang lenken die Aufmerksamkeit auf die Strukturierung des Romans ge­ mäß des Kontrapunkts sowie – durch die spezifische Art und Weise der Transformation vom Musikalischen ins Literarische – auf die gezeigte ›menschliche Fuge‹, deren einzelne Stimmen entweder sich selbst verabso­ lutierend im Widerstreit stehen und um Aufmerksamkeit ringen oder aber gemeinschaftlich Harmonien bilden. Die Zeichnungen Rampions lassen den Roman dagegen vielmehr als anti-evolutionären, satirischen Gesell­ schaftsroman erscheinen, dessen Charaktere in ihrer Einseitigkeit dem Un­ tergang geweiht sind und sich als monströse Kreaturen offenbaren. Angesichts der Heterogenität der präsentierten Wirklichkeiten und der Heterogenität der die Interpretation lenkenden Spiegelungselemente, er­ scheint nur den Lesenden eine übergeordnete Perspektive möglich zu sein. Es ist seine/ihre Perspektive auf den Text, der den einen oder anderen An ­ sätzen Priorität einräumt und die verschiedenen Aspekte zu einem holisti­ schen Bild fügt – doch wird durch die damit verbundene Konstruktionsleis­ tung zugleich die privilegierte Perspektive relativiert, die nicht weniger in der eigenen Subjektivität gefangen ist, als diejenigen der monströsen Prot­ agonisten.

scrutiny of the multiple ways of perceiving it, ways that produce a plurality of subjec­ tive realities.« Wolf, Musicalization of Fiction, S. 174f.

6 Fazit

Der Abgrund im Spiegel lautet der Titel dieser Arbeit – ein Verweis auf die Gleichzeitigkeit von in den Textraum hinein sich öffnender Tiefenstruktur und aus dem Text hinausweisendem Spiegelungscharakter. Es ist ein meta­ phorischer Titel, der jedoch gerade in dieser Weite der Mise en abyme ge­ recht zu werden versucht, die sich der begrifflichen, definitorischen Fixie­ rung zu entziehen scheint. Das Spiegelungsverhältnis zwischen einer Mise en abyme und dem Werk, in das sie eingelassen ist, ist die Grundlage für ihren selbstreflexiven Charakter und verdeutlicht das Dargestelltsein selbst. Doch ist mit dieser Dimension eine Betrachtung der Mise en abyme nicht erschöpft: Durch die Tiefe, die sich durch verschiedene Erzählebenen eröff­ net und die ikonische Verweisstruktur, die alle diese Ebenen zueinander in eine direkte Beziehung setzt, wird eine Reihe suggeriert, die mit der Posi­ tion der Rezipierenden (vorerst) ihren Anfang nimmt. Die extratextuelle Welt, die sich aus subjekt-bezogenen Wirklichkeiten speist, wird durch den kontextualisierenden Aspekt der Lektüre virtuell in die Reihe der Spiegel­ bilder eingeschrieben. Die in dieser Arbeit betrachteten Texte sind keine, die auf den ersten Blick eine Übertragung des Verhältnisses zwischen dem äußeren, rahmen­ den Text und der Mise en abyme auf ein Verhältnis von Text und Welt na­ helegen würden – sie weisen paradoxe Verschlingungen, phantastische Ele­ mente oder aber eine Erzählweise auf, die keinen Fixpunkt bietet im be­ ständigen Changieren zwischen Perspektiven und Erzählsträngen. Und den­ noch ermöglichen sie die Betrachtung des Verhältnisses zwischen einer fiktional-realen Ebene und darin eingelagerten Mise en abyme. Sie zeigen Konzeptionen von Wirklichkeiten und Konzeptionen von künstlerischen Ausdrucksformen, anhand derer sich die zwischen diesen entspannenden

122 | Der Abgrund im Spiegel

Bezugsverhältnisse beobachten lassen – und eröffnen damit die Möglich­ keit, diese auf das Verhältnis von Welt und Kunst zu übertragen. Die Unendliche Geschichte fokussiert eine zentrale Mise en abyme, die jedoch aus verschiedenen, einander scheinbar widersprechenden Facetten besteht. Dem Buch als materiellem Objekt, dessen Beschreibung minutiös vorgenommen wird, um die Ähnlichkeit zwischen Endes Roman, dem Buch von Bastian und jenem des Chronisten zu unterstreichen, wird die fik­ tionale Welt, als die Welt hinter den Buchstaben, entgegengestellt. Diese wird jedoch erst durch den Beginn der Wiederholungsschleife als Teil der Mise en abyme der ineinandergelagerten Bücher offenbart. Die Welt Phan­ tásiens und Bastians Welt erscheinen gänzlich anders geartet – erst aus der Retrospektive entpuppt sich Phantásien als ein auf Bastian zugeschnittener und von ihm mitkonstruierter Sehnsuchtsort. Einzig die Erzählerstimme scheint schon von Beginn an für die Lesenden von Endes Roman die Er­ zählung um Bastian und diejenige von Phantásien zu überbrücken und da­ mit auf deren Verbundenheit hinzuweisen. Durch die Wiederholung der Er­ zählung, die zugleich fiktional ein erneutes Geschehen bedeutet, offenbaren sich die Welt Bastians und die Welt Phantásiens als eine Einheit – und blei­ ben doch zugleich als getrennte Ebenen bestehen. Das Spannungsverhält­ nis, das sich aus der Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit ent­ wickelt, scheint mit jenem zwischen der zeit-räumlichen Unendlichkeit der Fiktion und der klaren Begrenztheit der in einem Buch geschriebenen Ge­ schichte zu korrespondieren. Beide scheinen eine klare Opposition von Sein und Werden aufzugeben, zugunsten einer Interaktivität, die das Stati­ sche dynamisiert und das Prozesshafte unauflöslich an das Festgeschrie­ bene koppelt. Die selbstgenerative Struktur der Unendlichen Geschichte zeigt die Lektüre als eine Symbiose erschaffende, konstruktive Leistung. Auch in The Book Thief steht das Lesen an zentraler Stelle und auch hier wird der Unterschied zwischen Büchern als dinglichen Objekten und den darin enthaltenen Bedeutungen herausgestellt. Die Differenz dient hier jedoch im Wesentlichen der Verdeutlichung von Liesels Entwicklung von der Analphabetin zur Lesenden und Schreibenden. Die Mise en abyme, die in den Text eingelagert sind, sind vielfältig – gewinnen aber im Verlauf der Erzählung an Tiefe und Komplexität, um schließlich in den beiden kleinen Texten von Max Vandenburg einen Höhepunkt zu erreichen. Sie verdeutli­ chen die unterschiedlichen Funktionen, die Bücher für Liesel innehaben: Die Zuschreibung von Bedeutungen, die durch den Kontext an das Buch

Fazit | 123

angeheftet werden – sowohl an den Gegenstand, wie auch an die Erzählung selbst –, die Zeichenfunktion bzw. Signalwirkung, die diese Bücher in ei­ nem Kontext entwickeln sowie schließlich die den Kontext strukturierende Bezugnahme, die zugleich eine ästhetische Dimension umfasst. Die Ab­ folge der Mise en abyme verdeutlicht nicht nur Liesels zunehmende Ver­ trautheit und Wertschätzung von Büchern, sondern zugleich in einer suk­ zessiven Hinführung die wirklichkeitsformende Macht von Sprache vor dem Hintergrund der Diskurshoheit des nationalsozialistischen Systems. Die Wertschätzung von Texten bleibt jedoch nicht ausschließlich auf den Aspekt der Macht und Ermächtigung bezogen. Aus einer lebenspraktischen Motivation heraus, dem Verlangen nach Erklärungen, gewinnt der ästheti­ sche Charakter von Wörtern und Texten zunehmend an Wert, verbleibt je­ doch in einem mythischen Unausgesprochenen. Die kleinen Texte von Max verdeutlichen durch die Palimpseststruktur die starke Kontextbindung von The Book Thief, wie auch, durch den Bezug auf die Handlung der ersten Er­ zählebene, die strukturierende Qualität von Erzählungen. Beide Mise en abyme machen Deutungsangebote, die die Rezeption der Handlung um Lie­ sel, sowohl retro- als auch prospektiv, steuern. In Point Counter Point wird durch das Romanprojekt von Philip Quarles sowie die verschiedenen intermedialen Mise en abyme ein ähnli­ cher Effekt erzeugt. Auch hier erscheint das eine im Licht des anderen – und insbesondere das Romanprojekt verdeutlicht den Versuch einer ästheti­ sierenden Wirklichkeitserschließung. Die fiktionale Realität dient der Inspi­ ration für das Vorhaben und zugleich erscheint Point Counter Point selbst bereits als dessen Realisierung. Im Unterschied zur Unendlichen Ge­ schichte wird durch diese Kreisförmigkeit jedoch keine selbstgenerative Struktur suggeriert, sondern vielmehr Quarles’ Überlegungen Substanz ver­ liehen und zugleich das strukturelle Verfahren des Romans innerfiktional erläutert. Durch die, zumindest in wesentlichen Aspekten, deutliche Ent­ sprechung von geschildertem Vorhaben und Point Counter Point, wird die Imagination der Lesenden bezüglich des noch ungeschriebenen Romans ge­ lenkt. Die virtuelle Mise en abyme erscheint daher geeignet, zu einer per­ fekten Übereinstimmung mit dem Roman zu gelangen – diese Übereinstim­ mung, für die in der Unendlichen Geschichte auf zunehmende narrative Verkürzungen zurückgegriffen wird, wird hier durch die metaästhetische und selbstbezügliche Reflexion und damit durch Suggestion erreicht. Die musikalischen und zeichnerischen Mise en abyme dagegen werden durch

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Beschreibungen in den Roman integriert. Diese Beschreibungen, die bereits Züge von Interpretationen tragen, verdeutlichen auch hier den Versuch, die Lektüre zu steuern. Während die Musikstücke vornehmlich die Struktur von Point Counter Point reflektieren sowie das von Quarles dargelegte Konzept von Wirklichkeit aufnehmen, verdeutlichen die Zeichnungen mehr thematische und stilistische Aspekte. Durch die verschiedenen reflektierten Textebenen stehen die Musikstücke sowie Rampions Zeichnungen nicht in einem engen Zusammenhang, der eine Betrachtung im Kontext der jeweils anderen zwingend nahelegen würde. Sie stellen vielmehr einander ergän­ zende Mise en abyme dar, die verschiedene Schwerpunktsetzungen und Deutungsmuster aufzeigen. Alle drei Texte verknüpfen die Mise en abyme, in unterschiedlicher Tiefe und Ausprägung, mit intermedialen Komponenten. In der Unendli­ chen Geschichte unterstützen die einführende Grafik, die spiegelverkehrte Schriftzeichen zeigt, sowie die illustrativen Initialen der Kapitelanfänge die Wahrnehmbarkeit der Buchstaben in ihrer visuellen Qualität. Während die Grafik jedoch insbesondere die Störung der Lesbarkeit, die Störung des Ka­ nals, hervorhebt, verdeutlichen die Illustrationen die Ästhetik und Form der Buchstaben. Das Spiel mit visuellen Elementen, wie beispielsweise den ty­ pographischen Abweichungen oder den verschiedenen Schriftfarben, stärkt die Konstitution des Gegensatzes zwischen Buch und fiktionaler Welt und verdeutlicht, durch die Sichtbarmachung der Buchstaben, den Blick auf die dahinterliegende Welt als einen Blick durch die Buchstaben. Die unter­ schiedlichen Schriftfarben verbinden dabei die scheinbare Trennung von materiellem Buch und fiktionaler Welt mit der ebenfalls nur scheinbaren Trennung der ersten und zweiten Erzählebene. Während in der Unendlichen Geschichte die visuellen Komponenten mehr unterstützende Funktionen haben, die den Effekt der Mise en abyme verstärken und zugleich Paradoxien eröffnen, zeigen The Book Thief und Point Counter Point intermediale Mise en abyme. Doch auch die Texte von Max präsentieren, durch den Kontrast von Handschriftlichkeit und gedruck­ ten Lettern, die visuelle Präsentationsform von Schrift als bedeutungstra­ gendes Element. Die Zeichnungen zeigen sich hier nicht nur als begleitende Illustrationen, sondern als Elemente, die die Erzählung ergänzen und stüt­ zen. Insbesondere in The Standover Man wird durch die Zeichnungen deut­ lich, dass die Erzählung nicht nur eine Tiefenstruktur in The Book Thief hinein eröffnet: Die Zeichnungen enthalten weitere Mise en abyme, in

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Form von gerahmten Bildern und Spiegeln, die die bereits angelegte Tie­ fenstruktur erweitern, zugleich aber auch in dieser Vertiefung in den Text hinein die erste Erzählebene des Romans reflektieren. Diese Form der Tiefe wird in den Faksimiles ergänzt um eine andere Form: um die des Palimp ­ sest, das die Kontextbezogenheit der Mise en abyme in The Book Thief ein­ drucksvoll visuell verdeutlicht. Im Unterschied zu The Book Thief erscheinen die Musikstücke und Zeichnungen in Point Counter Point als indirekt intermediale Mise en abyme, als Mise en abyme, die in verbalisierter Form in den Text eingelas­ sen sind.1 Die Verbalisierung der Zeichnungen erscheint vornehmlich als Beschreibung und Interpretation inhaltlicher Dimensionen, die die Art und Weise der Darstellung, die Materialität, kaum berücksichtigt. Durch Rück­ griffe auf Fachtermini, zur Beschreibung der dargestellten Dinosaurier bei­ spielsweise, wird die Vermittlung des ästhetischen, visuellen Eindrucks zu­ gunsten einer reinen Benennung aufgegeben. Die Verbalisierung der Musikstücke dagegen, der mehr Raum gegeben wird, berücksichtigt unter­ schiedliche Dimensionen der Musikstücke, die durch unterschiedliche Be­ schreibungsregister bedient werden – wie beispielsweise die physikalischen Wirkungsweisen von Musik, die künstlerische Leistung von Musikern und Komponisten, aber auch die Bilder und Geschichten entwerfende Wirkung von Musik sowie die durch sie inspirierte intellektuelle Reflexion. Die In­ termedialität der Mise en abyme in Point Counter Point verdeutlicht damit die Einholung und Eingliederung der Kunstwerke in die erzählte Welt, de­ ren ontologische Differenz marginalisiert wird. Damit verdeutlichen die intermedialen Elemente der betrachteten Texte auch die Ausgestaltung der jeweiligen Mise en abyme bezüglich der Meta­ phern des Abgrunds bzw. des Spiegels. Während in The Book Thief die Pa­ limpseststruktur an sich bereits das Überschreiben und Einschreiben visuell inszeniert und damit eine Tiefenstruktur zeigt, die zugleich die Kontextbe­ zogenheit des gesamten Romans spiegelt, wird in der Unendlichen Ge­ schichte das visuelle Element zum Zeichen der fiktionalen Trennung von Realem und Fiktivem – wobei die verschiedenen Schriftfarben zwar Orien­ 1

Wolf unterscheidet zwischen direkter und indirekter Intermedialität durch die Begriffe »uncovert« und »covert intermediality« (vgl. Wolf, Musicalization of Fic­ tion, S. 39-41). Die Ekphrasis dient ihm dabei als besonders deutliches Beispiel für indirekte Intermedialität, die »may be opposed to the directly intermedial participa­ tion of text and image in illustrated novels or in comic strips« (ebd, S. 41).

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tierungshilfe bieten, jedoch für die Lesenden gleichermaßen zugänglich und transparent erscheinen. Die Tiefe, die sich aus den ineinandergelagerten fiktionalen Welten ergibt, die in der Wiederholungsschleife von Erzählung zu Erzählung sich immer tiefer in den Text hineinschrauben, wird durch die visuellen Mittel als rein virtuelle, scheinbare gekennzeichnet. Die Betonung der Oberfläche des Textes, der Buchstaben auf Papier, verdeutlicht den Kontrast zu den fiktionalen Abgründen und erfährt zugleich eine Umbewer­ tung, indem sie als spiegelnder Durchgang inszeniert wird. In Point Counter Point dagegen betont das Intermediale die Anglei­ chung und Einverleibung der als Mise en abyme in den Text eingelagerten Kunstwerke. Die Art der Verbalisierung der Zeichnungen und Musikstücke überbrückt und übersetzt die Kunstwerke in den rahmenden Text hinein. Diese Tendenz scheint die Tiefenstruktur abzuflachen und die Bezug­ nahme, den spezifischen Blick zu betonen. Die intermedialen Mise en abyme erscheinen damit zugleich als Spiegel des gesamten Textes, indem sie die Kompositionsweise, thematische Schwerpunkte oder stilistische Ei­ genheiten aufnehmen und wiedergeben. Zugleich erscheinen sie jedoch auch als Spiegel der gezeigten Gesellschaft, die sich durch die Auseinan­ dersetzung mit künstlerischen Produktionen selbst verortet. Das Romanpro­ jekt dagegen betont verstärkt auch die Tiefenwirkung: Die Tagebücher wir­ ken – als Statthalter für den Roman – wie nur eine erste Ebene der Vertie­ fung, die virtuell durch den entstehenden Roman in eine potenzielle Unendlichkeit überführt wird. Diese tieferen Stufen wiederum werden ent­ sprechend der poetologischen Überlegungen in den Tagebüchern zu ikoni­ schen Zeichen des Romans. In allen drei Romanen wird eine fiktive Realität gezeigt, die den Aus­ gangspunkt für die Bewertung des Verhältnisses zu künstlerischen Aus­ drucksformen bildet. Während in Point Counter Point die Darstellung die­ ser Realität gewissermaßen als Gesellschaftsporträt selbstzweckhafte Züge trägt, scheint in The Book Thief die gezeigte alltägliche Lebensrealität der Gegenüberstellung zu den gesellschaftspolitischen Umständen der Zeit, die durch den Diskurs der NS-Zeit dominiert werden, zu dienen. Auch in der Unendlichen Geschichte wird eine alltägliche Wirklichkeit gezeigt, diese wird jedoch in keinem spezifischen historischen Kontext verortet. Der All­ tag erscheint hier vielmehr als Gegenpol zu den fiktionalen Welten und zu­ gleich als eine Realität, die von diesen Welten durchzogen ist. Das Ineinan­ der und Miteinander dieser verschiedenen Welten, die durch die Lesenden

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miteinander verbunden werden, steht hier an zentraler Stelle. Die Lektüre vertieft die Realität, gibt ihr Kontur. Die Erfahrungen in der fiktionalen Welt werden zu Erfahrungen, die auf abstrakte Art in der alltäglichen Wirk­ lichkeit fruchtbar gemacht werden können. In The Book Thief hingegen, dient die Lektüre der Strukturierung der Wirklichkeit, dem Erfassen und dem Umgang mit Gegebenem und dient der Wahrung humanistischer Ideale. Die Texte dienen der Positionierung in einem Kontext, der Selbst­ vergewisserung, spenden Trost und verdeutlichen die Relevanz sprachli­ cher Strukturierungen in einer in hohem Maße durch Sprache bestimmten Welt. Point Counter Point, das die Wirklichkeit – um deren Darstellung mit­ tels innovativer Erzählverfahren gerungen wird – als eine komplexe, viel­ schichtige zeigt, offenbart die Ununterscheidbarkeit von künstlerischen Ausdrucksformen und subjektiven Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit, die sich als eine Wirklichkeit der verschiedenen Perspektiven zeigt, die erst durch den Roman in einen strukturierten Zusammenhang überführt wird, erscheint dabei auf der Ebene der Figuren als eine von Kunst bestimmte. Die künstlerischen Artikulationen werden zu Manifestationen von subjekti­ ven Wirklichkeitsauffassungen, die in ihren jeweiligen Absolutheitsansprü­ chen miteinander konkurrieren. Die in dieser Arbeit betrachteten Texte zeigen sehr spezifische Bezugs­ verhältnisse zwischen den fiktiven Realitäten und den darin eingelassenen künstlerischen Ausdrucksformen. Ihnen allen ist damit eine Tiefenstruktur gemein, die zugleich auf der Bezogenheit auf die rahmende Erzählung, auf eine fiktive werkexterne Wirklichkeit, beruht. Die Texte inszenieren dieses Beziehungsverhältnis und suggerieren in diesem Sinne auch eine Bezogen­ heit des Textganzen auf die jeweiligen Wirklichkeiten der Lesenden. Wäh­ rend Die Unendliche Geschichte diese Bezogenheit als eine aus der Lektüre entspringende vorstellt, in der aus dem Kontext der fiktiven Realität die li­ terarischen Zeichen zu Welten werden, die nicht minder wirklich sind als der angedeutete Alltag, zeigt Point Counter Point diese Bezogenheit ten­ denziell eher als eine sowohl gesellschaftsgeprägte als auch produktionsbe­ dingte. Die Differenz zwischen Wirklichkeit und künstlerischem Ausdruck erscheint marginal, die Grenzen verschwimmen, indem Kunst einen erheb­ lichen Teil der Wirklichkeiten ausmacht. The Book Thief hingegen verdeut­ licht ebenso wie Die Unendliche Geschichte die Lektüre als spezifische In­ teraktion zwischen einem Individuum und einem spezifischen Text. Mehr

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noch als individuelle Kontexte sind es hier jedoch die sozio-politischen, historischen Kontexte, die die Lektüre prägen und das Bedürfnis nach Sinn­ stiftung durch Literatur bedingen. Im Unterschied zur Unendlichen Ge­ schichte wird hier allerdings das kreative Potenzial der Lektüre durch das eigene Schreiben – das Schreiben und Zeichnen von Max, ebenso wie das Schreiben von Liesel – ergänzt, das werkimmanent die künstlerische Struk­ turierung von Wirklichkeit verdeutlicht. Die gezeigten Verhältnisse zwischen Kunst und Wirklichkeit erschei­ nen als dezidiert reziproke – es ist kein einfaches, unidirektorales Spiege­ lungsverhältnis, sondern eine gegenseitige Bezugnahme und ein gegenseiti­ ges Einwirkungsverhältnis. Die Wirklichkeiten erscheinen zum einen selbst als geformte und konstruierte, als aus einer bestimmten Perspektive be­ trachtete Wirklichkeiten. Zum anderen sind sie aber auch Ausgangspunkt für die Produktion und Rezeption künstlerischer Zeichen. Dabei prägen diese künstlerischen Ausdrucksformen nicht nur die Perspektiven auf Wirk­ lichkeiten und damit die Wirklichkeiten selbst, sondern beruhen darüber hinaus selbst auf Wirklichkeitskonzeptionen. Durch die Mise en abyme werden diese reziproken Beziehungen erfahrbar gemacht – das komplexe, werkimmanent gezeigte Verhältnis zwischen künstlerischem Ausdruck und Wirklichkeit suggeriert, ja erzwingt geradezu, eine Übertragung auf eine textexterne Ebene, auf die Interaktion der Rezipierenden mit dem jeweili­ gen Werk. Die Metaphern des Spiegels und des Abgrunds erscheinen damit nicht als konkurrierende Konzepte, sondern als einander bedingende Eigen­ schaften der Mise en abyme, die erst in ihrem Zusammenspiel das ganze Potenzial der Mise en abyme entfalten. Es wäre wünschenswert, wenn sich weitere Forschung einer rezeptions­ ästhetischen Betrachtung der Mise en abyme widmen würde, da sich erst durch die Integration der Lesenden in die Betrachtung, die Wirkung und Komplexität der Mise en abyme in vollem Umfang zeigt. In dieser Arbeit konnten nur ausgewählte Aspekte der Mise en abyme betrachtet werden, auch wenn durch die heterogene Textauswahl der Ver­ such unternommen wurde, eine gewisse Bandbreite an Ausgestaltungsfor­ men zu zeigen. Auch eine Öffnung der Überlegungen hinsichtlich von Kunstwerken anderer Medialität, die in dieser Arbeit durch die Eingren­ zung auf fiktionale Erzähltexte leider ausgespart werden mussten, würde ein umfassenders Verständnis der Mise en abyme ermöglichen. Theoreti­ sche Ansätze, die die Mise en abyme als medienübergreifendes Phänomen

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fassen und zugleich die Kontextbezogenheit künstlerischer Ausdrucksfor­ men fokussieren, wären hier besonders wünschenswert, um zu einem ver­ tieften Verständnis der Mise en abyme zu gelangen. Durch einen solchen Ansatz könnten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den verschiede­ nen Medien zeigt und damit zugleich die Unterschiede in den jeweiligen Vermögen des künstlerischen Ausdrucks deutlich gemacht werden. Diese unterschiedlichen Ausdrucksvermögen sind eng an die reflexiven Möglich­ keiten der Mise en abyme geknüpft und können somit, gemäß der Annahme dieser Arbeit, auch Aufschluss über die Möglichkeiten des reziproken Spie­ gelungsverhältnisses zwischen Lebenswirklichkeiten und Kunst geben.

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Anhang

ANLAGE I: THE STANDOVER MAN AUS MARKUS ZUSAKS THE BOOK THIEF (S.244-256) By Arrangement with and many thanks to the Licensor, Markus Zusak, c/- Curtis Brown (Aust) Pty Ltd

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ANLAGE II: THE WORD SHAKER AUS MARKUS ZUSAKS THE BOOK THIEF (S.475-480) By Arrangement with and many thanks to the Licensor, Markus Zusak, c/- Curtis Brown (Aust) Pty Ltd

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156 | Der Abgrund im Spiegel

Danksagung

Mein herzlicher Dank gilt Professorin Gertrud Lehnert für ihre Unterstüt­ zung, ihre wertvollen Hinweise und nicht zuletzt ihre Geduld. Es ist allein ihrer Initiative zu verdanken, dass aus dieser Arbeit eine Veröffentlichung werden konnte. Mein Dank gilt auch dem Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam für die finanzielle Förderung dieser Arbeit. Danken möchte ich aber auch Nandita Vasanta und Thomas Gauger, die viel Zeit in diese Arbeit gesteckt haben, um ihr ein gründliches Lektorat und Korrektorat angedeihen zu lassen.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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