Denn die Geschichten der Opfer sind das Wichtigste: Rassismus-kritische Analysen zu rechter Gewalt im deutschen Spiel- und Dokumentarfilm 1992–2012 [1 ed.] 9783737010009, 9783847110002


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Denn die Geschichten der Opfer sind das Wichtigste: Rassismus-kritische Analysen zu rechter Gewalt im deutschen Spiel- und Dokumentarfilm 1992–2012 [1 ed.]
 9783737010009, 9783847110002

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Cadrage Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft

Band 5

Herausgegeben von Ursula von Keitz

Julia Stegmann

Denn die Geschichten der Opfer sind das Wichtigste Rassismus-kritische Analysen zu rechter Gewalt im deutschen Spiel- und Dokumentarfilm 1992–2012

Mit 29 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zgl.: Lþneburg, UniversitÐt. Dissertation, 2016  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die Bildrechte liegen bei pong film GmbH. Das Bild ist ein Screenshot aus Revision (R: Philip Scheffner D 2012). Der Druck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von pong film GmbH. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5294 ISBN 978-3-7370-1000-9

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

2 Zentrale Begriffe und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rechte Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Spiel- und Dokumentarfilm: Unterschiedliche Perspektiven und Verantwortlichkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Beschreibung des Korpus und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . 2.5 Spezielle Schreibweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

13 13

. . . .

23 31 35 38

3 Zur Geschichte rechter und rassistischer Gewalttaten und ihrer filmischen Darstellung seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Erinnerung an drei Todesopfer rechter Gewalt: Die TV-Reihe Tödliche Begegnung (HR 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Rassistische Gewalt im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1993): Reflexionen über das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Perspektiven der Rassismuserfahrenen: No-Budget-Produktionen über die Pogromzeit und ihre Folgen . . 4.3 Annäherungen an die tödlichen Schüsse von Nadrense 1992 im Dokumentarfilm Revision (R: Philip Scheffner, D 2012) . . . . . . 4.4 Rassismus im Spielfilm Herzsprung (R: Helke Misselwitz, D 1992) . 4.5 Günter Wallraff: Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009) . . . . . . . . . . . 4.6 Mo Asumang und Michel Abdollahi: Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte . . . . . . . . . . . . . . .

39 65 81

81 109 118 159 187 218

6 5 Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Mord an Marinus Schöberl im dokumentarischen Theaterfilm Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt (R: Andres Veiel, D 2005) . . 5.2 Beobachtungen am Tatort des Mordes an Marinus Schöberl. Der Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

229 235

266

6 Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen: Verfilmungen der Deprivationsthese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Tristesse zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt: Der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht ’s los (R: Thomas Heise, D 1992) 6.2 Sieben Jahre später : Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (R: Thomas Heise, D 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Neonaziporträts: Glaube, Liebe, Hoffnung. Leipzig Dez. ’92– Dez. ’93 (R: Andreas Voigt, D 1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Der Spielfilm Kriegerin (R: David Wnendt, D 2012). Eine Neonazistin als Fluchthelferin . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365

7 Abschließende Betrachtungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . .

407

8 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

9 Filmografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Analysierte Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Erwähnte Filme und TV-Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455 455 455

299 304 324 341

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die es ermöglichten, dass dieses Buch erscheinen konnte: Der Friedrich-Ebert-Stiftung, die mich mit einem Promotionsstipendium unterstützte. Meinen BetreuerInnen Prof. Dr. Sven Kramer, der mich in inhaltlichen und organisatorischen Fragen unermüdlich beraten hat, und Prof. Ursula v. Keitz für die anregenden Diskussionen und weiterbringenden Hinweise. Frau v. Keitz danke ich auch dafür, dass sie meine Arbeit in der Reihe Cadrage aufgenommen hat. Dank auch an Prof. Dr. Zülfukar C ¸ etin, der ein Drittgutachten verfasste. Ich möchte mich zudem bei allen bedanken, die mir mit Anregungen und konstruktiver Kritik zur Seite standen, mit mir über die Filme diskutiert, Texte korrigiert und mich ermutigt haben, die Arbeit zu beenden: Peter-Paul Bänziger Hannah Ewers Nicole Niedermüller und vielen anderen. Ganz besonderer Dank gilt meiner Mutter Annegret Stegmann, die jedes Kapitel gegengelesen und zum Schluss sogar noch Kürzungsvorschläge mit mir diskutiert hat. Dank auch an meinen Vater sowie meinen Bruder, der die Publikation mitfinanzierte, und an meinen Partner Nashwan Salim, der so viel Geduld mit mir hatte.

1

Einleitung

2015, in dem Jahr, in dem ich mit diesem Text beschäftigt war, stieg die Zahl rechter Gewalttaten rapide an. Mit 1.747 Angriffen hat sie sich 2015 in den ostdeutschen Bundesländern, in Berlin sowie in Nordrhein-Westfalen, dem einzigen westdeutschen Bundesland, für das unabhängige Zahlen vorliegen, im Vergleich zum Vorjahr »nahezu verdoppelt«, wie die dortigen Beratungsprojekte für von rechter Gewalt Betroffene in einer gemeinsamen Pressemitteilung feststellen.1 Dabei wurden mindestens 2.237 Personen verletzt und/oder massiv bedroht. Die meisten dieser Angriffe waren rassistisch motiviert. Viele richteten sich gegen Geflüchtete. Laut Zählungen der Amadeu Antonio Stiftung gab es im Jahr 2015 bundesweit 1.402 Angriffe auf diese selbst2 und ihre Unterkünfte.3 »Die zugespitzte, teils offen rassistisch geführte Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten lässt ein Klima entstehen, in dem Rassisten und Neonazis in ihrem Handeln bestärkt werden. Unzählige Demonstrationen und Kundgebungen bundesweit, Facebookgruppen, Pegida und AfD heizen die Stimmung an«,

bilanzierte eine Sprecherin des Verbands der Beratungsstellen.4 Zunehmend stünden auch kritische Journalist_innen5, die über die entsprechenden Mobili-

1 Opferperspektive e. V. 2016a. 2 Wie Timo Reinfrank von der Amadeu Antonio Stiftung gegenüber dem Stern angab, seien es in der Realität sogar noch mehr Fälle. Vgl. Wüllenweber 2016, S. 57. 3 In der von der Amadeu Antonio Stiftung gemeinsam mit Pro Asyl herausgegebenen Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle werden nur diejenigen Angriffe gegen Personen aufgelistet, bei denen »der Status der Betroffenen als Geflüchtete bestätigt ist«. Hier ist von 276 Körperverletzungen mit 437 »Körperverletzten« die Rede. Mut gegen rechte Gewalt 2015. Wie die Zahlen der Beratungsstellen zeigen, liegt die Gesamtzahl der rassistischen Angriffe deutlich höher. So waren »[i]n den ostdeutschen Bundesländern, Berlin und NRW [\u] 1056 der Angriffe rassistisch motiviert«. Opferperspektive e. V. 2016a. 4 Opferperspektive (2016a). 5 Um auszudrücken, dass es Menschen gibt, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können, oder sich mehr als einem Geschlecht zugehörig betrachten, benutze ich den auch als Gender-Gap bekannten Unterstrich. Dieser kommt vor allem zum Einsatz, wenn ich anonyme,

10

Einleitung

sierungen berichteten, im Fokus rechter SchlägerInnen.6 Viele der rassistischen AngreiferInnen7 handelten dabei anscheinend im Glauben, sie würden den Willen einer Mehrheit vollstrecken. Auch wenn diese Zahlen aktuell gesunken sind, bewegen sie sich nach wie vor auf hohem Niveau.8 Die aktuelle Situation erinnert fatal an diejenige in den 1990er Jahren. Auch damals war ein massiver Anstieg rechter Gewalt zu verzeichnen: Es gab zahlreiche Brandanschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten und Wohnhäuser von Migrant_innen und nicht zuletzt die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie zahlreiche Angriffe auf Einzelpersonen, die rechten Feindbildern entsprachen. Für den Zeitraum zwischen 1990 bis 2000 dokumentierte eine u. a. in der Frankfurter Rundschau erschienene Chronik 93 Todesopfer rechter Gewalt.9 Es erstaunt deshalb nicht, dass diese Dekade insbesondere den von den Angriffen (Mit-)Gemeinten als regelrechte Pogromzeit in schlechter Erinnerung geblieben ist. Die Zahl rechter Gewalttaten blieb jedoch auch nach 2000 auf hohem Niveau. Zivilgesellschaftliche Initiativen gehen nach aktuellem Stand (2016) von über 178 Getöteten aus.10 Bereits in den 1990er Jahren setzte eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema in Film und Fernsehen ein. Während sich das Fernsehen dabei vor allem in Features und Dokumentationen konkreten rechten Gewalttaten, den Betroffenen und Ursachen zuwandte, standen im Kino vor allem die meist männlichen Täter im Fokus des Interesses der ebenfalls meist männlichen Dokumentaristen. Dies gilt insbesondere für die Dokumentarfilme der 1990er Jahre. Parallel dazu entstanden einige Spielfilme, die mehrheitlich von männlichen Jugendlichen und ihrem durch Adoleszenzkrisen verursachten Abgleiten in den Neonazismus handeln.11 Die wichtige Rolle des Mediums Film bei Prozessen kollektiver Sinn- und Bedeutungsproduktion ist unbestritten. Dies gilt somit auch für die zwölf Spielund Dokumentarfilme, die im Zentrum dieser Dissertation stehen. Sie spiegeln und prägen zugleich, wie zum Thema rechte Gewalt und Rassismus gefühlt und gedacht wird und welche Deutung der diesbezüglichen Ereignisse sich letztlich

6 7

8 9 10 11

undefinierbare oder nicht eingrenzbare Gruppen bezeichne. Auf die Genderung gehe ich unter Punkt 1.5 ein. Opferperspektive 2016a. In den Fällen, in denen mir bekannt ist, dass sich die Beschriebenen als Männer oder Frauen identifizieren, benutze ich, wenn es sich dabei um eine Gruppe von Frauen und Männer handelt, das Binnen-I. Analog verfahre ich mit extrem rechten Gruppen , für die die Propagierung von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit zentraler Programmpunkt ist. Vgl. Kapitel 2.5. Verband der Beratungsstellen für Betroffene Rechter, Rassistischer und Antisemitischer Gewalt (VGR) 2018. Baum et al. 2000, S. 3–5. Cura Opferfonds rechte Gewalt 2015. Vgl. dazu: Stegmann 2007, Stegmann 2015a, S. 279–290, Stegmann 2010, S. 219–238.

Einleitung

11

durchsetzt. Eingesetzt in der politischen Bildungsarbeit, befinden sich einige von ihnen genau an den Schnittstellen, an denen Wissen über »Rechtsextremismus« und rechte Gewalt (re-)produziert wird: Nicht zuletzt erschienen zu einigen von ihnen Filmhefte mit Hintergrundinformationen und Aufgabenstellungen für den Schulunterricht.12 Auf welche Art und Weise sich die analysierten Filme dabei genau im Diskurs über (gewalttätigen) Rassismus und rechte Gewalt positionieren, werde ich im Folgenden analysieren. Damit schließt die vorliegende Arbeit eine wichtige Forschungslücke. Weder hat die bisherige Forschung einen längeren Zeitraum betrachtet, noch wurde die Fragestellung für den deutschen Sprachraum systematisch untersucht. Bisher existiert hauptsächlich eine Reihe von Zeitschriftenartikeln sowie Handreichungen für die schulische und außerschulische politische Bildungsarbeit zum Thema »Rechtsextremismus im Film«. Sie befassen sich vor allem mit der Darstellung der TäterInnen.13 Einen anderen Zugang wählte das von der Amadeu Antonio Stiftung herausgegebene Filmheft Film ab! Gegen Nazis,14 werden hier doch erstmals vor allem jene Filme für die pädagogische Auseinandersetzung vorgeschlagen, in denen die Perspektiven der von rechter Gewalt Betroffenen großen Raum einnehmen. Zudem gibt es eine Reihe von Aufsätzen und Kritiken zu einzelnen Filmen, doch wurde in diesen meist nur am Rande darauf eingegangen, wie sich die dort analysierten Filme im Diskurs über rechte Gewalt positionieren.15 Eine Ausnahme bildet hier Nora M. Alters Text Re/Fusing Past and Present. Cinematic Reunification under the Sign of Nationalism and Racism, der den Film Herzsprung (R: Helke Missewitz, D 1992) unter Bezugnahme auf den Rassismustheortiker Ptienne Balibar analysiert.16 Besonders erwähnenswert ist auch der von Sabine Jungk herausgegebene Sammelband Zwischen Skandal und Routine. Rechtsextremismus in Film und Fernsehen, der für die 1990er Jahre einen Überblick über die Debatte um die filmische Darstellung des »Rechtsextremismus« bietet. Einige der dort versammelten, teilweise von den Filmschaffenden selbst verfassten Beiträge gehen auch auf Fragen nach der Thematisierung von rechter Gewalt im Medium Film ein. Herauszuheben sind hier insbesondere die Beiträge von Esther Schapira und 12 Vision Kino gab in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung ein Filmheft zu Der Kick (R: Andres Veiel, D 2006) heraus, das jedoch online nicht mehr abrufbar ist. Weitere Filmhefte entstanden zu Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005) und Kriegerin (R: David Wnendt, D 2011). Vgl. dazu: Bundeszentrale für politische Bildung 2006, Conrad 2012. 13 Vgl. exemplarisch etwa die Handreichung der Bundeszentrale für politische Bildung 2012. 14 Amadeu Antonio Stiftung 2013. 15 Vgl. dazu exemplarisch: v. Keitz 2009, S. 141–157, Wende 2011c, S. 259–273. 16 Alter 1997, S. 129–152.

12

Einleitung

Gert Monheim, die sich in ihren TV-Dokumentationen Zeinabs Wunden (R: Esther Schapira, HR 1993) und Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern (R: Gert Monheim, WDR 1993) mit dem rassistischen Brandanschlag von Hünxe und dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen auseinandergesetzt haben und in ihren Beiträgen von ihren Vorarbeiten und Recherchen vor Ort berichten.17 Auf ihre Filme komme ich in Kapitel 3 zu sprechen. Bevor ich untersuche, wie die Themen Rassismus und rechte Gewalt in den ausgewählten Filmen verhandelt werden, soll geklärt werden, was unter rechter Gewalt zu verstehen ist. Nach einer kurzen Einführung in den diskursiven Kontext, der durch die mitunter heftig geführten Debatten um die offizielle Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt geprägt ist und somit Einblicke in das staatliche Verständnis rechter Gewalt in Theorie und Praxis bietet, werde ich zunächst die Definition von Beratungsprojekten für Betroffene rechter Gewalt und rassistischer Diskriminierung erläutern, die auch meiner Arbeit zugrunde liegt. Anschließend skizziere ich, wie »Rechtsextremismus«, Rassismus und Antisemitismus gefasst werden.18 Im zweiten Abschnitt gehe ich auf das Verhältnis zwischen Spiel- und Dokumentarfilm ein.19 Lassen sich diese Gattungen miteinander vergleichen? Wenn ja, welche Konsequenzen hat dies für die Bewertung der einzelnen Filme, insbesondere hinsichtlich ihres eigenen, oftmals explizit formulierten aufklärerischen Anspruchs? In den Abschnitten 2.3 und 2.4 schließlich erläutere ich meine Analysemethode und stelle das Korpus der ausgewählten Filme vor.

17 Schapira 1996 ,S. 59–66, Jungk 1996b, S. 67–76. 18 Vgl. Kapitel 2.1 Zentrale Begriffe und Konzepte. 19 Vgl. Kapitel 2.2 Spiel- und Dokumentarfilm: Unterschiedliche Perspektiven und Verantwortlichkeiten?

2

Zentrale Begriffe und Konzepte

2.1

Rechte Gewalt

»Die Frage nach dem Motiv, aus dem heraus ein Mensch ermordet oder tödlich verletzt wurde, ist nicht nur für die Angehörigen von zentraler Bedeutung. Das Motiv ist entscheidend für die juristische, moralische und damit die gesellschaftspolitische Bewertung einer Tat.« (Opferperspektive e.V.)

Wie brisant die Frage nach der Definition rechter Gewalt ist, wird an den politischen Kontroversen um die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt deutlich. Bis ins Jahr 2001 wurden von staatlicher Seite nur die Taten als rechte Gewalttaten erfasst, die »direkt auf die Abschaffung des Staates oder seiner freiheitlich-demokratischen Grundwerte zielten«.20 Expert_innen gehen vor diesem Hintergrund davon aus, dass 50 bis 70 Prozent der rassistischen Gewalttaten und der Angriffe auf Obdachlose nicht als Staatsschutzdelikte registriert wurden und entsprechend nicht in der Statistik auftauchen.21 Als Reaktion auf eine – mit Verweis auf einen der Verfasser auch als Jansenliste bekannt gewordene – Chronik, in der Journalist_innen auf eine wesentlich höhere Fallzahl kamen, änderten die Innenministerien von Bund und Ländern im Mai 2001 schließlich die Kriterien für die Erfassung rechter Straftaten.22 Es wurde die neue Definition »Politisch motivierte Kriminalität rechts« (PMK rechts) eingeführt. Seitdem sollen Polizeibeamt_innen Gewalttaten auch dann als rechte werten, »wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status« richten.23 20 21 22 23

Staud 2013. Vgl. dazu: Holzberger, Kleffner 2004. Vgl. dazu: Jansen 2012, S. 267f. Deutscher Bundestag 2010, S. 4.

14

Zentrale Begriffe und Konzepte

Lässt man die Verwendung problematischer Begriffe wie »Rasse« oder »Volkszugehörigkeit« außer Acht, entsprechen diese Kriterien weitgehend denen der Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt. Trotzdem gibt es nach wie vor eklatante Differenzen zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Fallzahlen. Aktuell werden von den 194 Todesopfern rechter Gewalt, die zivilgesellschaftliche Initiativen zählen24, nur 83 offiziell anerkannt.25 Wie u. a. Frank Jansen bilanziert, hat die Einführung der PMK rechts-Definition »bei der Erfassung von Todesopfern rechter Gewalt […] wenig genützt, weil sie von den Polizeien der Länder nur partiell wahrgenommen und angewandt wird. Oder sie wird schlicht ignoriert, nicht nur von Polizeibeamten, sondern auch von Staatsanwälten und Richtern.«26

Dies dürfte nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dass Ideologien der Ungleichwertigkeit in staatlichen Institutionen ebenso weit verbreitet sind wie allgemein in der Gesellschaft. So fragten sich Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler anlässlich des NSU-Skandals nicht zu unrecht, »inwieweit […] sich dort aus mangelhaftem demokratischem Selbstverständnis und ebenso mangelhafter demokratischer Kontrollmöglichkeit Parallelstrukturen gebildet [haben], für die die rechtsextreme Szene nicht nur ein Verbündeter im Geiste war«.27 Um rechte Gewalt analytisch zu fassen, bezieht sich diese Arbeit deshalb nicht auf das Konzept der PMK rechts, sondern auf Definitionen, die verschiedene Beratungsstellen für Betroffene von rechter Gewalt ihrer Arbeit zugrunde legen. Auf der Basis der umfassenden Definition der Brandenburger Opferberatungsstelle Opferperspektive e. V. soll als Gewalt im Folgenden jede Tat gelten, »die eine körperliche Schädigung von Personen beabsichtigt oder vollendet, oder eine Sachbeschädigung oder Brandstiftung, die indirekt auf eine Schädigung bestimmter Personengruppen abzielt. Nötigungen und Bedrohungen mit erheblichen Folgen für das Opfer gelten als Gewalttaten, Beleidigungen allein nicht.«28

Anhaltspunkte für eine rechte Tatmotivation lassen sich in den Tatumständen finden – etwa in einschlägigen Äußerungen der TäterInnen nach, vor und während der Tat. Weitere Hinweise liefern die Gesinnung der TäterInnen und in vielen Fällen deren Einbindung in die rechte Szene. Doch es zeigt sich immer wieder, dass nicht alle TäterInnen innerhalb der extremen Rechten organisiert 24 Vgl. dazu: Brausam o. J. 25 Vgl. dazu: Präsident des Deutschen Bundestages 2015. Aktuell erhöhte sich die Zahl der offiziell anerkannten Todesopfer, nachdem Berlin sieben Todesopfer nachmeldete und damit den Rechercheergebnissen des Zentrums für Antisemitismusforschung folgte. Jansen 2018. 26 Jansen 2012, S. 268. 27 Decker, Kiess, Brähler 2013, S. 11. 28 Wendel 2014, vgl. dazu auch: BackUp o. J.

Rechte Gewalt

15

sind. Zentrales Kriterium für eine rechte Gewalttat ist deshalb die Frage, ob bei der Auswahl der Opfer rechte Feindbildkonstruktionen zum Tragen kommen. Um eine Gewalttat unter dem weit gefassten Oberbegriff rechts zu subsumieren, ist also »eine Motivation aus spezifisch rechten Diskursen die notwendige Bedingung«.29 Diese Motivation drückt sich vor allem in der Auswahl der Opfer aus. Dazu schreibt die Opferperspektive e. V.: »Ausgehend vom fiktiven Ideal einer ›deutschen Volksgemeinschaft‹ wird den Bevölkerungsgruppen, die von dieser Norm abweichen, die Feindschaft erklärt. Die Abweichung von der Norm, die tatsächlichen oder zugeschriebenen Unterschiede zwischen der idealen Wir-Gruppe und den anderen sollen beseitigt werden, indem die anderen beseitigt werden – durch Ausgrenzung, Vertreibung oder Tötung. Das macht Diskurse, die die Gleichwertigkeit der Menschen bestreiten, zu Handlungsvorlagen gewalttätiger Angriffe. Das ist der Grund, warum sich die Gewalttätigkeit der Täter nicht von ihrer rechten Einstellung trennen lässt.«30

Weil die Opfer meist nicht als Individuen, sondern als Repräsentant_innen bestimmter, in rechten Weltbildern als feindlich konzipierter Gruppen stellvertretend für diese angegriffen werden, sind rechte Gewalttaten zugleich als sogenannte »Botschaftstaten« zu verstehen.31 Sie zielen darauf, innerhalb der gesamten Gruppe, der das individuelle Opfer angehört oder zugerechnet wird, Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Taten sollen den Angegriffenen und Mitgemeinten vermitteln, unerwünscht zu sein und dass sie sich nicht mehr sicher fühlen können. Wichtig ist, dass es bei der Definition rechter Gewalttaten immer um die Frage geht, was die TäterInnen dem Opfer zuschreiben, und nicht um deren/dessen tatsächliche Merkmale und Eigenschaften. So kann jemand angegriffen werden, weil er beispielsweise irrtümlich für homosexuell gehalten wird. Solch eine Differenzierung zwischen den Zuschreibungen der TäterInnen und den tatsächlichen Opfermerkmalen wird von der PMK-Definition nicht vorgenommen. Ein weitaus wesentlicherer Unterschied zur Definition der Beratungsstellen besteht jedoch darin, dass die PMK rechts-Taten »nur dann als rechtsmotiviert eingestuft [werden], wenn das politische Motiv nachweisbar tatauslösend oder tatbestimmend ist. Taten, bei denen sozialdarwinistische, rassistische oder andere rechte Einstellungen tatbegleitend oder tateskalierend eine Rolle spielen, werden in der PMK-Statistik nicht erfasst«,

kritisiert die Opferperspektive e. V.32 Die größte Gruppe unter den von rechter Gewalt Betroffenen bilden Menschen, die aus einer rassistischen Motivation 29 30 31 32

Wendel 2014. Wendel 2014. Vgl. dazu auch: Klare, Sturm 2012, S. 4. Zebra – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe e. V. o. J. Opferperspektive e.V. 2016b.

16

Zentrale Begriffe und Konzepte

heraus angegriffen wurden. Zu ihnen zählen Geflüchtete, Schwarze Menschen, Sinti und Rrom_nja,33 asiatische Deutsche und viele weitere.34 Für diese große und heterogene Gruppe der Menschen, die in Deutschland Rassismuserfahrungen machen, werde ich im Folgenden die Selbstbezeichnung People of Color benutzen.35 Die zweitgrößte Opfergruppe besteht aus politischen Gegner_innen: Punks, Linke, Demokrat_innen und Menschen, die rechten Parolen widersprechen, sich Neonazis in den Weg stellen oder sie wegen derer offen zur Schau gestellten Nazisymbolen zur Rede stellten.36 Aktuell stehen insbesondere kritische Journalist_innen, die über die Aufmärsche von Pegida sowie die derzeit überall verbreiteten Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten berichten, im Fokus rechter GewalttäterInnen. Angegriffen und in einigen Fällen sogar getötet wurden in der Vergangenheit auch Anwält_innen und Polizist_innen, die den TäterInnen als Repräsentant_innen des verhassten Systems galten.37 Weitere Tatmotive sind Homo- und Transfeindlichkeit sowie Antisemitismus. Häufig ist auch eine sozialdarwinistische Motivation zu finden, die sich gegen tatsächliche oder vermeintliche Obdachlose, Alkoholkranke und Menschen mit Behinderungen richtet.38 Eng damit verbunden sind das Tatmotiv der Machtdemonstration und die Exekution extrem rechter Straf- und Ordnungsvorstellungen. Hier werden die Opfer, wie Judith Porath von der Opferperspektive e. V. feststellt, »als ›kriminell‹, ›unnütz‹ oder ›unwert‹« konstruiert.39 Sie gelten den TäterInnen als »Automatenknacker« oder »Kinderschänder«, von denen die Gesellschaft »gesäubert« werden müsse. Rechte Gewalttaten ereignen sich nicht im luftleeren Raum. Sie basieren auf Einstellungen, Norm- und Wertvorstellungen, die in allen Teilen der deutschen Gesellschaft verbreitet sind. So weist Klaus Holz darauf hin, dass der Sinnvorrat, der kulturellen Konstruktionen wie der Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe zugrunde liegt, gesamtgesellschaftlich wirkungsmächtig sei. »Weder die staatliche Ausgrenzungspolitik noch die Gewalt auf der Straße wäre ohne die semantische Konstruktion möglich. Denn diese Praxen verlören ohne die kulturell fixierten Selbst- und Fremdbilder die Orientierung. Man wüßte nicht, gegen wen vorzugehen ist.«40

33 Zur Schreibung vgl.: IniRromnja 2013. 34 Zu aktuellen Zahlen über die Häufigkeit verschiedener Tatmotive vgl.: Opferperspektive e. V. 2016a. 35 Vgl. dazu: Ha 2013. 36 Beispiele hierfür sind die Morde an Thomas Schulz und Falko Lüdke. Vgl. Jansen, Kleffner, Radke, Staud 2012. 37 Vgl. dazu auch: Jansen 2012, S. 264. 38 Vgl. Kapitel 5. Sozialdarwinismus im Film. 39 Porath 2013, S. 91. 40 Holz 2001, S. 30.

Rechte Gewalt

17

Diskurse der Ungleichwertigkeit sind eingeschrieben in die Institutionen, Strukturen und Wissensbestände heutiger Gesellschaften. Sie strukturieren die erwähnten polizeilichen Ermittlungsansätze ebenso wie Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Arbeit und Bildung.41

»Rechtsextremismus« – extreme Rechte »Rechtsextremismus« wird in der Forschung als ein weites Feld beschrieben, für das es bis jetzt keine allgemein anerkannte Definition gibt. Neben der offiziellen Konzeption des Verfassungsschutzes gibt es verschiedene Vorschläge aus den Politikwissenschaften. Der offizielle Begriff des politischen Extremismus basiert auf der Vorstellung einer von den rechten wie linken »extremen Rändern« ausgehenden Gefährdung einer imaginierten »demokratischen Mitte«. Die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse, die dieses Konzept entscheidend geprägt haben, definieren es wie folgt: »Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert wird (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als ›repressiv‹ gilt (Anarchismus).«42

Der Fokus dieser Definition liegt auf den Abweichungen von der unklaren Kategorie der in der Verfassung festgeschriebenen »Werte und Spielregeln«. Damit geraten die konkreten Inhalte der Normabweichung aus dem Blickfeld. Wie Wolfgang Wippermann konstatiert, wurde die »Extremismus-Ideologie […] seit den 1970er Jahren (vorher sprach man von ›Radikalismus‹) vom Verfassungsschutz dekretiert, verordnet und in weiten Teilen der politischen Gesellschaft durchgesetzt«.43 Sukzessive wurde sie auch an den Universitäten und in der politischen Bildung etabliert.44 Seit Längerem kritisieren Vertreter_innen der Politikwissenschaften die Extremismusdoktrin als eindimensional und verkürzend. Sie eigne sich, so Richard Stöss, »nur bedingt für die Abbildung politischer Verhältnisse«.45 Auch Hans-Gerd Jaschke kritisiert, dass »die Un41 42 43 44 45

Vgl. dazu etwa: Gomolla o. J. Backes, Jesse 1993, S. 40. Wippermann 2010. Vgl. dazu: Steffen 2014. Zur Kritik an der Extremismuskonzeption vgl. auch: Stöss 2010, S. 17f.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

terscheidung zwischen Demokratie und Extremismus, wie sie in den konventionell-normativen Theorien üblich ist, allenfalls verfassungs- und demokratietheoretisch möglich ist, praktisch jedoch durch zahlreiche Schnittmengen ideologischer, personeller und politischer Hinsicht hinfällig ist«.46 Gemäß der Extremismusdoktrin wird rechte Gewalt »als etwas von ›außen‹ oder den ›Rändern‹ Kommendes« begriffen, das »sich ›gegen uns‹, d. h. die bestehende sozioökonomische und politische Ordnung, sowie gegen den im gesellschaftlichen Alltag herrschenden ›Normalzustand‹« richtet.47 Diese Setzung blendet die gesamtgesellschaftliche Verbreitung derjenigen Ungleichwertigkeitsvorstellungen aus, auf denen rechte Gewalt basiert. Tatsächlich zeigt eine Reihe von Studien und Umfragen, wie die zwischen 2002 und 2016 auch als Reaktion auf die rassistischen Pogrome der 1990er Jahre48 unter der Leitung von Elmar Brähler und Oliver Decker erstellten Mitte-Studien der Universität Leipzig, »dass rechtsextremes Denken in allen Teilen der Gesellschaft in erheblichem Maße verbreitet ist«.49 Die dadurch ermöglichten Synergieeffekte zwischen der extremen Rechten und der sogenannten Mitte geraten mit der Extremismusdoktrin aus dem Blick.50 Vor diesem Hintergrund geht etwa der mit der Leipziger Forschungsgruppe assoziierte Richard Stöss von einem Zusammenhang zwischen extrem rechten Einstellungen und rechten Gewalttaten aus. Er betont, dass die Einstellungen dem konkreten Verhalten vorangehen, auch wenn sie sich nicht zwangsläufig in entsprechenden Taten niederschlagen.51 Gemeinsam mit Alexander Häusler kritisiert Christoph Butterwegge zudem eine »Doppelmoral«, der zufolge »ultrarechte Ideologeme innerhalb des etablierten Parteienspektrums durchaus artikulierbar« seien, während »eigenständige rechtsextreme und Nazi-Organisationen […] in ein subkulturelles Ghetto abgedrängt werden«.52 Ein positiver Bezug auf den Nationalsozialismus, seine Ideologie und sein Repertoire an Bildern und Metaphern markiert im politischen Diskurs eine Grenze des öffentlich Sagbaren.53 Ähnliches gilt für die offene Bejahung von Gewalt. Rechtsextremismus wird in den erwähnten Leipziger Studien wie folgt definiert: »Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen 46 47 48 49 50 51 52 53

Jaschke 2001, S. 28. Butterwegge, Häusler 2002, S. 218. Decker, Brähler 2016, S. 14. Melzer 2013, S. 7. Vgl. auch: Decker, Kiess, Brähler 2016, S. 16. Vgl. dazu: Butterwegge, Häusler 2002, S. 218. Ebd., vgl. dazu auch: Decker, Kiess, Brähler 2016, S. 8. Butterwegge, Häusler 2002, S. 228. Vgl. dazu: Ebd., S. 218.

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und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.«54

Als eigentlichen Wesenskern des Rechtsextremismus bezeichnet Stöss dabei den »völkischen Nationalismus«.55 In Ermangelung eines Terminus, der alle unter »Rechtsextremismus« subsumierten Einstellungsdimensionen fasst, wird der Begriff somit auch von Forschenden benutzt, die sich, wie etwa Stöss oder Butterwegge, explizit von der Extremismusdoktrin distanzieren.56 Dagegen wird in der vorliegenden Studie von der extremen Rechten die Rede sein, wenn Personengruppen gemeint sind, die Ideologien der Ungleichwertigkeit vertreten. Indem ich »extrem« adjektivisch verwende, soll verdeutlicht werden, dass es um Spielarten rechter Politik und nicht um eine spezifische Ausformung des »Extremismus« geht, die in der Verwendung des Substantivs Rechtsextremismus mitschwingt.57 Wo sich der abstrakte Begriff Rechtsextremismus nicht vermeiden lässt, werde ich ihn in Anführungszeichen setzen. Als Neonazis werde ich darüber hinaus jene Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen bezeichnen, die sich positiv auf den Nationalsozialismus beziehen. Neonazis bilden eine Untergruppe innerhalb der extremen Rechten. Folglich ist jede/r NeonazistIn ein/e »RechtsextemistIn«, umgekehrt lässt sich dies jedoch nicht behaupten, da Ideologien der Ungleichwertigkeit auch ohne einen positiven Bezug auf den historischen Nationalsozialismus vertreten werden können. Ein Beispiel hierfür ist die der extremen Rechten zuzurechnende PRO-Bewegung (PRO-Köln, PRO-Deutschland), die in erster Linie einen aggressiven antimuslimischen Rassismus vertritt und sich nach außen vom Neonazismus distanziert.58

Rassismus Wie in vielen »Rechtsextremismus«-Definitionen wird der Begriff »Rassismus« auch in oben genannter vermieden. Rassismus wird hier meistens mit »Fremdenfeindlichkeit« umschrieben.59 Da der Begriff den damit Gemeinten »Fremdheit« attestiert und somit, wenn auch ungewollt, die rassistische Spaltung der Stöss 2010, S. 57. Vgl. auch: Decker, Brähler 2006. Stöss 2010, S. 19. Vgl. dazu: Ebd., S. 15f.; Butterwegge 2002 S.106f. Auch diese Alternative ist unbefriedigend, fokussiert sie doch wieder auf bestimmte Spektren der Rechten, was, wie Jörn Hüttmann treffend feststellt, wiederum »Anschlussmöglichkeiten für extremismustheoretische Argumentationen bietet«. Hüttmann 2012. 58 Zur Einordnung der Pro-Bewegung vgl.: Häusler 2011, S. 2. 59 Zur Kritik an dieser Setzung vgl.: Bundschuh 2010, S. 2; Attia S. 139–152.

54 55 56 57

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Gesellschaft in Zugehörige und Nichtzugehörige fortschreibt, ist er grundsätzlich problematisch. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert deshalb seine ersatzlose Streichung aus dem Strafgesetzbuch. Zugleich weist es auf eine weitere Problematik hin: Der Begriff »relativiert die gesellschaftliche Dimension von Rassismus und verwischt historische Kontinuitäten«.60 Anders als es Setzungen nahelegen, die zumeist aus der Vorurteilsforschung stammen, ist Rassismus nicht auf individuelle Ressentiments reduzierbar.61 So sehr er für AkteurInnen der extremen Rechten offen propagiertes Programm ist – Stuart Hall schreibt in diesem Zusammenhang von »explizitem Rassismus« – wird dabei ausgeblendet, dass es bei Rassismus um weitaus mehr geht.62 Mit Iman Attia lassen sich drei Zugänge zum Thema Rassismus unterscheiden: Die erwähnte Vorurteilsforschung nimmt individuelle Einstellungen in den Blick, »die sie – bestenfalls – im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskursen ins Verhältnis setzt«, während sich die Diskriminierungsforschung »institutionalisierten Formen von Ausschlüssen« widmet. Die Rassismusforschung schließlich beschäftigt sich mit der »konstitutiven Bedeutung von Rassismus für moderne Gesellschaften«.63 Letzterer Zugang ist auch für meine Arbeit erkenntnisleitend. Unter Bezugnahme auf Birgit Rommelspacher begreife ich Rassismus dabei als »ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren«.64 Er basiert auf den vor allem im 19. Jahrhundert verbreiteten »Rassenlehren«, welche menschliche »Rassen« aufgrund biologi(sti)scher Merkmale voneinander unterschieden. Damals wie heute werden reale und vermeintliche »soziale und kulturelle Differenzen« als Ausdruck einer quasi natürlichen Wesensart gedeutet, was dazu führt, dass »soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderliche und vererbbare verstanden [werden] (Naturalisierung)«.65 Dazu werden Menschen »in jeweils homogenen Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht (Homogenisierung) und den anderen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt (Polarisierung) und damit zugleich in eine Rangordnung gebracht (Hierarchisierung). Beim Rassismus«, so betont Rommelspacher, »handelt es sich also nicht 60 Deutsches Institut für Menschenrechte 2014. 61 In aktuelleren Publikationen räumen jedoch auch Exponenten der Vorurteilsforschung wie Andreas Zick ein, dass es »einen Rassismus [gibt], der keiner individuellen Befürwortung bedarf: der institutionelle Rassismus, der sich in Gesetzen, Regelungen, Normen und Strukturen einer Gesellschaft einschreibt. Stetige ungleiche Behandlung von Menschen nach Hautfarbe, Geschlecht oder dem Aussehen müssen zumindest als Anzeichen von Rassismus ernst genommen werden.« Zick o. J. 62 Hall 1989 S. 156. Vgl. dazu auch: Attia 2013, S. 150. 63 Attia 2013, S. 150. 64 Rommelspacher 2009, S. 29 (Hervorhebungen im Original). 65 Ebd.

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einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer ein gesellschaftliches Verhältnis.«66

Rassismus ist somit ein »institutionalisiertes System« aus tradierten Wissensbeständen und den daraus resultierenden Praxen.67 Als Institutionen verstehe ich dabei unter Bezugnahme auf Siegfried Jäger und Margarete Jäger »festgefügte und untergründig wirksame Ordnungsmächte«, die soziale Wirklichkeiten prägen.68 Eingeschrieben in die Diskurse und gesellschaftlichen Praxen werden die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Weißen und den als »anders« konstruierten Menschen immer wieder reproduziert: Dabei ist die Intention der rassistisch Handelnden in vielen Fällen unerheblich. Wie Hall schreibt, hängt »ein ideologischer Diskurs nicht von den bewussten Intentionen derjenigen ab, die innerhalb dieses Diskurses Aussagen formulieren«.69 Wie es Susan Arndt formuliert, hat sich »die symbolische Ordnung von ›Rasse‹ […] strukturell und diskursiv in Machthierarchien und Wissensarchive eingeschrieben«.70 Sie regelt, wer dazugehört und wer nicht, organisiert Zugänge zu symbolischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen.71 Noa Sow bezeichnet Rassismus deshalb als »globales Gruppenprivileg, das weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt«.72 Darauf, dass Weißsein dabei die zumeist unausgesprochene Norm bildet, vor der alle anderen als abweichend, bedrohlich und fremd konstruiert werden, hat der britische Filmwissenschaftler Richard Dyer bereits 1988 hingewiesen.73 Gleich zweier Seiten derselben Medaille dienen dabei Fantasien über Schwarze und People of Color als »primitiv« und »unzivilisiert« der Selbstvergewisserung Weißer als »entwickelt« und »zivilisiert«. Indem nun etwa Muslim_innen als rückständig und frauenfeindlich imaginiert werden, positioniert man sich selbst (als Weiße) als fortschrittlich und profeministisch.74 Solche Setzungen sowie Fragen nach Repräsentationsverhältnissen und der damit verbundenen »Zuteilung von symbolischer Macht« spielen eine zentrale Rolle für die Filmanalysen in der vorliegenden Studie.75 Werden rassifizierende Zuschreibungen in den analysierten Filmen reproduziert? Wessen

66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Ebd. Sow 2015, S. 37. Jäger, Jäger 2002 S. 216. Hall 1989, S. 158. Arndt 2015a, S. 43. Vgl. dazu: Rommelspacher 2009, S. 32. Sow 2015, S. 37. Dyer 1988, S. 44–65. Vgl. zum Begriff des antimuslimischen Rassismus: C|,etin 2015a, S. 20. Rommelspacher 2009, S. 30.

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Wissen wird Bedeutung zugemessen? Wer darf wo sprechen und wer bleibt unsichtbar?

Antisemitismus Um Antisemitismus begrifflich zu fassen, gehe ich mit Wolfgang Benz von der Arbeitsdefinition des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia aus: Antisemitismus ist demnach »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Oft enthalten antisemitische Äußerungen die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ›die Dinge nicht richtig laufen‹. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt negative Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.«76

Benz fügt jedoch hinzu, dass »der ›Jude‹, den der Antisemit meint und bekämpft, mit real existierenden Juden nichts zu tun hat«.77 Vielmehr gehe es um Projektionen, um »Bilder von zähem Leben, wie die Geschichte des antisemitischen Vorurteils beweist – des ältesten, sozialen, kulturellen, politischen Ressentiments überhaupt«.78 Als gerade in Deutschland manifeste Ausformung des Antisemitismus ist der sekundäre Antisemitismus zu begreifen, der sich als »Ausdruck von Erinnerungsabwehr und dem Willen, sich subjektiv und kollektiv von Scham und Verantwortung zu entlasten«, beschreiben lässt.79 In der Forschung ist es strittig, ob der Antisemitismus als eine Spielart des Rassismus oder als etwas eigenständiges verhandelt werden sollte.80 Tatsächlich lassen sich eine Reihe von Unterschieden und Gemeinsamkeiten feststellen. Gegner_innen der Unterkategoriethese verweisen auf die im Antisemitismus zum Einsatz kommenden Zuschreibungen, die denjenigen des kolonialen Rassismus diametral entgegenstünden: »Der Jude verkörpert die Macht, die Zwänge und die Zumutungen der modernen Gesellschaft. Der ›Andere‹ des Rassismus hingegen verkörpert die rohe Natur, die gebändigt werden muss«, 76 77 78 79 80

Zit. n. Benz 2010. Ebd. Ebd. Vgl. auch Bergmann 2007, S. 13–35. DGB-Bildungswerk Thüringen e. V. (o. J.). Vgl. dazu: Kaletsch 2015.

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schreibt etwa Thomas Haury.81 Holz dagegen spricht vom »Juden« als »Figur des Dritten« in der »nationalen Ordnung der Welt«. Während der Rassismus, den Holz konsequent als »Xenophobie« bezeichnet, seine Objekte an der Außenseite der binär gedachten »Nation« platziere, verkörpere der »Jude« im nationalen Antisemitismus die Negation der nationalen Form selbst.82 Seine schematische Setzung führt nicht zuletzt zu einer Homogenisierung der Jüd_innen, da Jüdischsein weitere Markierungen gerade nicht ausschließt. In der großen, heterogenen Gruppe der Jüd_innen gibt es schließlich auch Schwarze Menschen und People of Color, die sowohl von Antisemitismus als auch von Rassismus betroffen sind.83 Trotz der Unterschiede in Funktionsweisen und Zuschreibungen begreife ich Antisemitismus deshalb unter Bezugnahme auf Rommelspacher als eine spezielle Form des Rassismus, dessen entscheidendes Kriterium für sie die Frage ist, »ob mithilfe naturalisierter Gruppenkonstruktionen ökonomische, politische und kulturelle Dominanzverhältnisse legitimiert« werden. Letzteres, so argumentiert sie, treffe zweifellos auch auf den Antisemitismus zu.84

2.2

Spiel- und Dokumentarfilm: Unterschiedliche Perspektiven und Verantwortlichkeiten?

Auf die Wirkungsmacht des Mediums Film für Prozesse kollektiver Sinnstiftung hat die Forschung vielfach hingewiesen. Wie etwa Sven Kramer konstatiert, prägen insbesondere populäre Spielfilme das Geschichtsbild weiter Teile der Bevölkerung deutlich stärker als Geschichtsbücher, da sie ein wesentlich größeres Publikum erreichten.85 Auch Waltraud Wende weist dem Massenmedium 81 Haury o. J. 82 So schreibt Holz: »Für die hier interessierende Frage nach der Konstruktion von Fremden ergibt sich aus der Analyse der nationalen Form, dass nationale Wir-Gruppen ihre ›Fremden‹ als Völker/Nationen begreifen und ihnen einen Ort auf der Außenseite der Form zu weisen. Das ist offensichtlich bei Eigennamen wie›Spanier‹ oder ›Pole‹, gilt aber ebenso für Bezeichnungen wie Ausländer, Fremdarbeiter, Gastarbeiter, Asylant, ›Deutsch-Türke‹ oder Immigrant. Das sind alles Bezeichnungen, durch die denen, die die Grenze zwischen Innen und Außen überschritten haben, ein spezieller Ort im Innern zugewiesen wird. Offensichtlich ist die in den letzten 200 Jahren dominierende Vorstellung von Fremden die Kehrseite der dominanten Vorstellung politisch-sozialer Wir-Gruppen als Volk/Staat/Nation. Diese Selbst- und Fremdbilder sind durch die Form der Nation integriert.« (S. 11) »›Der Jude‹«, so schreibt Holz an anderer Stelle, »dagegen wird nicht vom Aus- oder Inländer unterschieden, sondern von der komplementären Eindeutigkeit der Positionierung beider. Er ist der Dritte der Unterscheidung zwischen ›unserer‹ und den anderen ›Nationen‹.« Klaus Holz 2005, S. 5. 83 Für diesen Hinweis danke ich Zülfukar C ¸ etin. 84 Rommelspacher 2009, S. 27. 85 Kramer 2003, S. 8.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

Spielfilm eine »Mittlerfunktion zwischen gesellschaftlichen Ereignissen einerseits und ihren symbolischen Ausdeutungen andererseits« zu.86 Der Film sei »nicht nur privilegierter ›Speicher des Zeitgeists‹ (Fritz Lang), sondern fungiert in seiner Eigenschaft als bedeutungsgenerierendes und massenwirksames politisches Phänomen zugleich auch als gewichtiger Beitrag zu einer komplexen Signifikationsdynamik, die im Zuge einer Politik des Kulturellen die kommunikative Bewertung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse kollektiver Ausnahmezustände vorantreibt.«87

Dass die von (Spiel-)Filmen angebotenen Narrative damit auch einen roten Faden für die (Re-)Konstruktion individueller Erinnerungen bereitstellen, haben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in ihrer Studie Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis eindrücklich nachgewiesen.88 Spiel- wie Dokumentarfilme stehen in einer komplexen Wechselwirkung zur außerfilmischen realen Welt, indem sie Themen und Inhalte aus dieser aufgreifen, künstlerisch bearbeiten und transformieren. Dennoch wird in der filmwissenschaftlichen Forschung immer wieder auf die Unterschiede zwischen den beiden Gattungen hingewiesen. Für Maxime Scheinfeigel etwa erfindet der fiktionale Film eine von und für ihn selbst konstruierte Welt, während der dokumentarische Film eine Welt filme, »die bereits existiert, die er vielleicht einrichtet, die er transformiert, die ihm aber auf jeden Fall vorausgeht«.89 Gertrud Koch spricht in diesem Zusammenhang vom »Abstand zum vor-filmischen Ereignis«, der im Falle der »dokumentarischen Inszenierung« so gering wie möglich zu halten versucht werde.90 Und für Knut Hickethier stehen fiktionale Darstellungen »für ein Bedürfnis nach symbolischer Verdichtung eines Themas, nach Zuspitzung und Deutung, die weit über das dokumentarische Nachzeichnen hinausgehen«.91 Lassen sich also Spiel- und Dokumentarfilme überhaupt vergleichen? Wenn ja, welche Folge hat dies für die Beurteilung der Art und Weise, in der rechte Gewalt in ihnen thematisiert wird? Im Folgenden soll versucht werden, diese Frage zu beantworten. Dazu werden zunächst die beiden Gattungen definiert und voneinander abgegrenzt.92 In einem zweiten Schritt 86 87 88 89 90 91 92

Wende, Koch 2010, S. 10. Ebd. Welzer, Moller, Tschuggnall 2002. Scheinfeigel 2000, S. 235. Koch 2003), S. 219. Hickethier 2010, S. 174. Wie Margit Tröhler anmerkt, ist diese Unterscheidung jedoch eine historisch und kulturell bedingte: »Denn wir können davon ausgehen, dass die Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm in manchen außereuropäischen und weniger faktenorientierten Kulturkreisen, in denen sich das Bild nicht von vornherein zwischen Evidenz und Täuschung entscheiden muss, grundsätzlich weniger relevant ist.« Tröhler 2004, S. 157.

Spiel- und Dokumentarfilm

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führe ich die These aus, dass beiden Gattungen bezüglich des Bildes, das sie von rechter Gewalt in den Raum stellen, eine durchaus ähnliche Verantwortung zukommt. Nicht zuletzt müssen sich alle Filme dabei an ihrem oftmals selbst proklamierten aufklärerischen Anspruch messen lassen.

Spielfilme Die filmische Realität, verstanden als das, was im fertigen Film zu sehen ist, wird in Spielfilmen von Schauspieler_innen erschaffen, die während des Drehs gegen Gage so tun, ›als ob‹ sie beispielsweise die Personen Marisa, Svenja und Rasul aus Kriegerin (R: David Wnendt, D 2011) wären.93 Die filmische Welt (Diegese) wird entworfen und hergestellt in einem arbeitsteiligen Prozess, an dem unterschiedliche Personen von Drehbuchautor_innen, Locationscouts, Produzent_innen, Requisite, Kostüm- und Maskenbildner_innen, Regie, Ton- und Kameraleuten, Schauspieler_innen bis hin zu Cateringmitarbeiter_innen beteiligt sind. Erschaffen wird dabei eine fiktional verdichtete Version davon, wie die Dinge in einem fiktionalisierten Dorf in Ostdeutschland hätten abgelaufen sein können: »Den Ort Herzsprung gibt es wirklich. So wie Sie ihn gesehen haben, werden Sie ihn nicht finden«,94 heißt es entsprechend im Abspann des gleichnamigen Films. Die von mir analysierten Spielfilme Herzsprung95, Kriegerin96, und – in einem geringeren Maß – Der Kick (R: Andres Veiel, D 2006)97 konstruieren folglich fiktionale Welten. Wie die Dokumentarfilme stehen jedoch auch sie in einem jeweils spezifischen Verhältnis zur soziohistorischen, nichtfilmischen Realität. So ist das Personal von Kriegerin – insbesondere dessen Hauptfigur Marisa – inspiriert von »realen« Neonazistinnen, die der nichtfilmischen Welt angehören und die der Regisseur David Wnendt im Rahmen seiner Recherchen interviewte. Die filmische Welt steht also mit der sie prägenden nichtfilmischen Welt in einer komplexen Wechselwirkung. Um ihr Verhältnis zu bestimmen, ist es von zentraler Bedeutung, welche Versatzstücke aus der realen Welt ausgewählt werden, um mittels Emotionalisierung und Personalisierung zu einer 90-minütigen Spielfilmhandlung verdichtet zu werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um historische Korrektheit und Faktentreue, also darum, welche Realitätsfragmente sich in Drehort, Figur, Maske, Kostüm und Dialog niedergeschlagen haben. Wende betont in diesem Zusammenhang sogar, »dass Spielfilme – selbst wenn sie auf die ›tatsächlichen‹ Er93 94 95 96 97

Vgl. Hohenberger 1988, S. 30; v. Keitz 2009, S. 138–152. Herzsprung, TC: 1:22:18. Vgl. Kapitel 4.4. Vgl. Kapitel 6.4. Vgl. Kapitel 5.1.

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eignisse einer vorgängigen außermedialen Wirklichkeit referieren – nicht (wie dies häufig im Feuilleton geschieht) als realitätsabbildende, fehlerlose und faktengesättigte Spiegelung dessen, was ›wirklich‹ war, missverstanden werden dürfen«.98 Es gehe folglich, wie sie an anderer Stelle feststellt, »weder um Datennoch um Faktentreue, sondern um Imaginationsarbeit, nicht die ›So-war-esHaltung‹, sondern der ›So-könnte-es-auch-gewesen-sein-Gestus‹ definiert die Rahmenbedingungen«.99 Wenn Sachverhalte und Themen aus dem realen Leben in Spielfilmhandlungen transformiert werden, ist es deshalb im vorliegenden thematischen Zusammenhang entscheidend, wie sich der jeweilige Film in seiner Gesamtheit aus Bildern und Tönen im Diskurs über rechte Gewalt positioniert, welche inhaltlichen und formalen Entscheidungen dabei getroffen wurden und welche Vorannahmen diese beeinflusst haben. Niemand wird denken, dass es im realen Leben eine Marisa und eine Svenja gibt, gleichwohl lässt sich die jeweilige Entwicklung der beiden Figuren aus Kriegerin als prototypisch für Ein- und Ausstiegsprozesse der rechten Szene verstehen. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass im klassischen narrativen Film konventionalisierte Erzählweisen vorherrschen.100 Als diese zählt Ilan Avisar »die Stimulation von Erwartungen und ihre Befriedigung durch eine kohärente Struktur, die emotionale Involvierung mit dem Schicksal der Charaktere und die Einlagerung ideologischer Positionen durch die Manipulation der teilnehmenden Reaktion des Lesers oder des Zuschauers auf die Handlung der dramatischen Figuren«.101

Wie es Kramer auf den Punkt bringt, muss das »kommerzielle Kino […] die Kunden involvieren und rühren, doch es darf ihnen nicht zu Leibe rücken«.102 Im Folgenden wird entsprechend auch danach zu fragen sein, ob die Zuschauenden in den analysierten Filmen tatsächlich auf sicherer Distanz zu den Ereignissen auf der Leinwand gehalten werden oder ob sie zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit rechter und rassistischer Gewalt und den ihr zugrundeliegenden Diskursen angehalten werden.

98 99 100 101 102

Wende 2011b, S. 25. Wende 2011a, S. 16. Vgl. Lehmann, Luhr 2008, S. 40. Avisar zit. n. Kramer 1999, S. 56f. Ebd., S. 57.

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Dokumentarischer Film Als nichtfiktionale Filme begreift Thorolf Lipp »bewusst gestaltete Filme zu einem Thema, das sich auf tatsächliche Phänomene oder Begebenheiten in der historischen Welt bezieht und in denen in der Regel keine Berufsschauspieler tragende Rollen spielen«.103 Darunter subsumiert er »alle Formen des Fernsehdokumentarismus«, hauptsächlich »Dokumentationen oder Features, aber auch das sogenannte Dokutainment«.104 Treffen oben genannte Kriterien auf sie zu, rechnet Lipp ihnen auch »Lehr-, Industrie- und Wirtschaftsfilme« ebenso wie Nachrichten- und Magazinbeiträge und TV-Reportagen zu.105 Bill Nichols definiert den nichtfiktionalen Film ähnlich wie Lipp. Er hebt jedoch die Rolle hervor, die realen Menschen als sozialen Akteur_innen zukommt. Den nichtfiktionalen Film beschreibt er deshalb »as a form of cinema that speaks to us about actual situations and events. It involves real people (social actors) who present themselves to us in stories that convey a plausible proposal about or perspective on the lives, situations, and events portrayed«.106

Ob soziale Akteur_innen vor der Kamera »sie selbst« sind oder ob bezahlte Schauspieler_innen eine Rolle verkörpern, ist auch für Nichols ein – vielleicht das – zentrale Unterscheidungskriterium. Dringt ein Filmteam in reale Lebenswelten sozialer Akteur_innen ein, um über diese zu erzählen, wirft dies zunächst eine Reihe ethischer Fragen nach dem Umgang mit den Gefilmten, nach Grenzen, Absprachen und entsprechenden Aushandlungsprozessen, nach Hierarchien und der Asymmetrie zwischen Filmenden und Gefilmten auf – nicht zuletzt, weil die filmende Person in einem großen Maß darüber bestimmt, wie die Gefilmten im fertigen Film zu sehen sind. Es stellen sich hier Fragen, die auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und Repräsentationspolitiken abzielen, danach, wer überhaupt über die Zugänge und die finanziellen wie symbolischen Ressourcen verfügt, die eigene Version filmisch darstellen zu können. Eine »objektive« Wiedergabe der Realität ist damit auch im nichtfiktionalen Film nicht möglich. John Grierson, einer der Begründer des dokumentarischen Genres, bezeichnet dieses folglich als »creative treatment of actuality«.107 Selbst wenn die Kamera in der Tradition des Direct Cinema, oder, mit Nichols gesprochen, dem observational mode, gleich einer Fliege an der Wand die sie umgebenden Dinge lediglich beobachten will, werden Entscheidungen bereits bei der Auswahl getroffen, wer oder was, wie und wo gefilmt werden soll. »Der 103 104 105 106 107

Lipp 2016, S. 17. Ebd., S. 30. Ebd. Nichols 2010, S. 142. Grierson zit n. Hohenberger 2000, S. 13.

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Dokumentarfilm«, so Eva Hohenberger »filmt nicht die, sondern eine vorfilmische Realität, die der Film selbst produziert.«108 Der Begriff der vorfilmischen Realität rekurriert, wie Ursula von Keitz unter Bezugnahme auf Hohenbergers Kategorien schreibt, dabei einerseits »auf den in der Filmproduktion praktizierten Umgang mit den Entitäten, die in der empirischen Realität gegeben sind, auf deren ›Bestimmung für den filmischen Gebrauch‹; andererseits auf das Ergebnis der für das Drehen elementaren Auswahl der ›Motive‹ vor der Kamera, die sich physikalisch in die Filmschicht einprägen«.109

Die Anwesenheit der Kamera verändert die Situation, die selektive Wahrnehmung der Person hinter der Kamera lenkt ihren Blick. Insbesondere in der Postproduktion wird aus der Fülle des gedrehten Materials ausgewählt, dieses verdichtet und angeordnet. So verwandeln auch dokumentarische Filme die vorgängige, nichtfilmische Welt in vorfilmische Drehorte, an welchen das Rohmaterial aufgenommen wird, das durch Schnitt und farbliche Bearbeitung schließlich zur Realität Film verarbeitet wird.110 Da auch fiktionale Filme wie Kriegerin »tatsächliche Phänomene oder Begebenheiten in der historischen Welt« einbeziehen, bleibt vor allem die Frage nach der Beteiligung professioneller Schauspieler_innen als Unterscheidungskriterium bestehen. Wie fließend die Übergänge zwischen fiktionalem und nichtfiktionalem Film jedoch sein können, zeigt etwa der dokumentarische Theaterfilm Der Kick.111 Gemäß Lipp wäre er eindeutig als Spielfilm zu betrachten, verwandeln sich hier doch die Schauspielerin Susanne Maria Wrage und der Schauspieler Markus Lerch durch Veränderung von Körperhaltung, Gestik und Mimik in verschiedene Prozessbeteiligte im Mordfall Marinus Schöberl.112 Dies geschieht jedoch auf Grundlage von Texten, die – obwohl künstlerisch bearbeitet – der nichtfilmischen Realität entstammen: Sie basieren auf Akten aus dem zum Mord an Marinus Schöberl abgehaltenen Gerichtsprozess sowie auf weiteren, vom Filmteam geführten Interviews. Der von Koch konstatierte Abstand zum vorfilmischen Ereignis ist somit ein anderer als im Fall der für Kriegerin benutzten Recherchen. Vergleichbares gilt auch für das auf realen Begebenheiten basierende Dokudrama, das Nichols in einer Grauzone zwischen dem Fiktionalen und dem Nichtfiktionalen ansiedelt.113 Ein Beispiel hierfür ist der auf den Recherchen des Journalisten Ullrich Chaussy zum Ok-

108 109 110 111 112 113

Ebd., S. 27. v. Keitz 2009, S. 139. Vgl. dazu: Ebd., S. 138–140. Hohenberger 1988, S. 29. Vgl. Kapitel 5.1. Vgl. dazu: v. Keitz 2009, S. 149. Nichols 2010, S. 145.

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toberfestattentat von 1980 basierende Film Der Blinde Fleck. Täter. Attentäter. Einzeltäter? (R: Daniel Harrich, D 2013).114 Wie das Genre des Mocumentary, des fingierten Dokumentarfilms, verdeutlicht, lässt sich anhand der verwendeten filmischen Mittel wie dem Einsatz der entfesselten Handkamera zumindest für die Zuschauenden nicht anhand des Films selbst unterscheiden, ob das Gezeigte der Imagination von Drehbuchautor_innen oder der Realität historischer sozialer Akteur_innen entstammt. Lediglich die institutionelle Rahmung, Ankündigungen und PR-Materialien weisen einen Film letztlich als dokumentarisch oder fiktional aus. Sie geben Auskunft darüber, auf welcher Realitätsebene die Bilder und Töne anzusiedeln sind. Wie Hohenberger schreibt, konstituiert sich der Dokumentarfilm erst »qua Vertrag zwischen Zuschauern und Text«.115 Mit Margit Tröhler lässt sich daher festhalten, dass sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme »diegetische, filmisch mögliche und erzählte Welten [erschaffen], die nicht zur Wirklichkeit gehören, sondern zum Diskursiven und die letztlich erst durch die imaginative Tätigkeit der Zuschauer Substanz und Konsistenz erlangen«.116

Konsequenzen für die Analyse der Darstellung rechter Gewalt im Spiel- und Dokumentarfilm Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für die Beurteilung der Art und Weise, in der rechte Gewalt in Spiel- und Dokumentarfilmen dargestellt wird? Einerseits lässt sich argumentieren, dass der fiktionale Film, gerade weil er gestaltbarer ist als der nichtfiktionale, als eine Summe von inhaltlichen und ästhetischen Entscheidungen zu begreifen ist, an denen er sich auch messen lassen muss. Der Spielfilm kann, sofern es sich bei ihm nicht um ein Dokudrama handelt, über das Dargestellte frei verfügen, entscheiden, was und – vor allen Dingen – wie erzählt wird. Der Dokumentarfilm hingegen ist den Beschränkungen des Feldes unterworfen, muss Rücksichten nehmen auf die Grenzen der Gefilmten und die Bereitschaft potenzieller Gesprächspartner_innen, überhaupt vor die Kamera zu treten. Insbesondere bei Formen, die ins Offene arbeiten, Erkundungen über Ist-Zustände betreiben, ist das Ergebnis weniger planbar als im drehbuchbasierten Spielfilm. Andererseits ist die Annahme nicht haltbar, dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit lediglich nachzeichnen. Erstens erschaffen auch sie filmische Welten, indem bewusste Entscheidungen getroffen werden, wer oder was auf 114 Vgl. Kapitel 3. 115 Hohenberger 2000, S. 25. 116 Tröhler 2004, S. 156.

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welche Weise gefilmt und wie dieses Material angeordnet wird. Dabei handelt es sich um Entscheidungen, an denen sich auch Dokumentarfilme messen lassen müssen. Zweitens weisen die untersuchten Dokumentarfilme über die dargestellten Einzelfälle hinaus. So stehen etwa die in Glaube, Liebe, Hoffnung (R: Andreas Voigt, D 1992)117 und Stau – Jetzt geht ’s los (R: Thoms Heise, D 1993)118 porträtierten Neonazicliquen nicht nur für sich. Vielmehr wollen die Filme an ihrem Beispiel verallgemeinerbare Aussagen und Erklärungsansätze über Radikalisierungsprozesse liefern. Wie ich in Kapitel 4.3. zeige, macht Philip Scheffner anhand seiner Darstellung des behördlichen Umgangs mit der Tötung Eudache Calder¼rs und Grigore Velcus grundsätzliche Aussagen über institutionellen Rassismus. Anlässlich Tamara Milosevics Film Zur falschen Zeit am falschen Ort (D 2005) kommt gar die Frage auf, ob Potzlow überall sei (Kapitel 5.2). Weil diese Dokumentarfilme darüber hinaus den Anspruch erheben, Aussagen über eine reale Situation zu treffen, sei es in Halle-Neustadt, Nadrensee oder in Potzlow, so ist zudem die Frage nach ihren Leerstellen und Auslassungen angebrachter als bei einem Spielfilm, der eine fiktionale Welt mit eigenen Regeln erschafft. Gleichwohl positionieren sich sowohl die untersuchten Spiel- als auch die Dokumentarfilme in den Diskursen über rechte Gewalt und Rassismus. Diese prägen nicht nur die Sujets: Im Fall der Dokumentarfilme determinieren sie die Auswahl der Porträtierten, die an diese herangetragenen Fragestellungen wie die Herangehensweisen der Filmschaffenden. Auch in den ausgewählten Spielfilmen formen diese Vorannahmen die erzählte Welt, bestimmen nicht nur die Eigenschaften der Figuren, sondern auch auftretende Konflikte, Krisen und deren Bewältigung. Spiel- und Dokumentarfilme legen dabei nicht nur die Haltung offen, welche die Regisseur_innen zum Thema einnehmen. Sie stellen nicht zuletzt auch Erklärungsmodelle für die Ursachen und Entstehungsbedingungen rechter Gewalt bereit. Koch schreibt dazu: »Der Streit um Filme wie die TV-Serie Holocaust, Schindler’s List oder auch Beruf Neonazi, Stau oder Syberbergs Hitler-Film ist ja auch nicht nur darüber entbrannt, ob sie ›falsch‹ oder ›richtig‹ sind (Schindler’s List bekommt eine gute Note bei den Historikern wegen historischer Korrektheit, ist aber auf der Ebene des geführten Diskurses umstritten usw.), sondern über das ›Bild‹, das sie als Ganzes vermitteln oder, wie man im Deutschen umgangssprachlich so schön sagt, über den ›Eindruck‹ den sie hinterlassen, den Diskurs, den sie anstimmen.«119

117 Vgl. Kapitel 6.3. 118 Vgl. Kapitel 6.1. 119 Koch 2003, S. 219.

Methode

2.3

31

Methode

Die vorliegende Arbeit untersucht, wie das Thema rechte Gewalt in ausgewählten Spiel- und Dokumentarfilmen verhandelt wird. Dazu werden die Filme erstens einer inhaltlichen wie formalästhetischen Analyse unterzogen. Es wird hier gefragt, wie das Thema in ihnen zur Sprache kommt und mit welchen filmischen Mitteln dies geschieht. Zweitens untersuche ich, wie sich die Filme und die in ihnen getroffenen Aussagen im nichtfilmischen Diskurs über Rassismus und rechte Gewalt verorten lassen. Ich richte mein Augenmerk auf die Vorannahmen, Diskurse und Deutungsmuster, die sich in den analysierten Filmen zum umrissenen Themenfeld finden und frage nach Kontextualisierungen, Leerstellen und Brüchen. Wird in ihnen etwa das von Holz beschriebene Wissen, »gegen wen vorzugehen ist«, zum Thema gemacht? Werden also von diesem Wissen strukturierte Prozesse des »Othering«120 in den ausgewählten Filmen verhandelt? Wenn ja, auf welche Weise geschieht dies? Wird in den Filmen der weiten Verbreitung rechter Ideologie in allen Teilen der Gesellschaft Rechnung getragen oder werden TäterInnen als isolierte Randfiguren inszeniert? Wird Rassismus in ihnen thematisiert und wenn ja, wie?

Filmimmanenter Zugang Um zu beantworten, wie die ausgewählten Filme rechte Gewalt thematisieren, wurden detaillierte Sequenzprotokolle erstellt. An ihnen lässt sich erstens insbesondere für die untersuchten Dokumentarfilme rekonstruieren, wie das Material angeordnet und welche Sequenzen dabei wie in Bezug zueinander gesetzt wurden: Welche wiederkehrenden Schnitt- bzw. Argumentationsmuster lassen sich erkennen? Welche Aussagen wurden dabei wie zu welchen thematischen Blöcken gruppiert? Was wurde wie und mit welchem Effekt miteinander kontrastiert? Und wie wird rechte Gewalt in den Spielfilmen narrativ begründet? Zweitens wird der Einsatz weiterer filmischer Mittel wie Sound und Farbe untersucht und die Art und Weise analysiert, in der die Voice-over benutzt wurde. Immer stand dabei die Frage im Vordergrund, welche Auswirkungen dies für die Produktion von Bedeutungen hatte. Es zeigt sich, dass formale und inhaltliche Fragestellungen untrennbar ineinander übergehen. Dies wird etwa dann offensichtlich, wenn ich mich mit Fragen nach den in den Filmen erkennbaren 120 Der von der Theoretikerin Gayatri Spivak geprägte Begriff des Othering bezeichnet den Prozess, jemanden zum Anderen zu machen, um sich damit seiner eigenen als überlegen gedachten Identität zu versichern. Wörtlich lässt er sich als »Veranderung« übersetzen. Vgl. Schönhut o. J.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

Repräsentationspolitiken beschäftigte: Auf Ebene der sozialen Akteur_innen – oder, in den Spielfilmen, der Figuren – geht es darum auszuloten, wer, wie, wann und mit welchem Effekt zum Themenfeld rechte Gewalt und Rassismus spricht. Werden Fragen nach den in den meisten Fällen ungleichen Machtverhältnissen zwischen Filmenden und Gefilmten gestellt, Fragen danach, wer über wessen Bild bestimmt und wer überhaupt Zugänge zu den filmischen Produktionsmitteln hat, um die eigene Version der Ereignisse umzusetzen? Kommen Fragen nach symbolischem, sozialem und materiellem Kapital (Pierre Bourdieu) und nicht zuletzt Fragen nach weißen Privilegien, in den untersuchten Dokumentarfilmen zur Sprache? Wenn ja, auf welche Weise geschieht dies? Werden Aushandlungsprozesse zwischen Filmenden und Gefilmten zum Thema gemacht und wenn ja, wie? Bekommen die von Rassismus und rechter Gewalt Betroffenen den Raum, ihre Perspektiven zu schildern? Wird ihrem Wissen über die Angriffe auf sie selbst und ihre Angehörigen und über die rassistische Verfasstheit der Gesellschaft der Status von situiertem Expert_innenwissen zugewiesen, das bestehende (Repräsentations-)Verhältnisse infrage stellt?121 Oder dienen ihre Äußerungen, im schlimmsten Fall zu O-Tönen degradiert, lediglich dazu, die Thesen der oftmals weißen Filmschaffenden zu unterfüttern, denen folglich auch die Deutungsmacht über das Gesagte vorbehalten bleibt? Gerade in diesem Zusammenhang bin ich mir meiner eigenen Positioniertheit als weiße Deutsche mit bildungsbürgerlichem Hintergrund bewusst, die auch meinen Blick auf die Filme prägt. Wichtig für die hier vorgelegten Analysen der Dokumentarfilme waren die von Nichols unterschiedenen sechs Modi des Dokumentarischen. Diese lassen sich als Prototypen oder analog zu den Genres im Spielfilm verstehen. Sie charakterisieren den Zugang der Dokumentarist_innen zu ihrem jeweiligen Gegenstand. Die untersuchten Filme lassen sich größtenteils dem observational mode, dem partizipatory mode und dem reflexive mode zuordnen. Der observational mode entstand in den 1960er Jahren mit der Entwicklung leichter transportabler Handkameras sowie von Audioequipments, mit denen synchrone Tonaufnahmen möglich wurden. Die Annahme »die Realität, so ›wie sie wirklich ist‹« abbilden zu können, war den Filmschaffenden, die Lipp der Tradition des Direct Cinema zurechnet, Anspruch und Programm.122 Typisch für den observational mode sind Arbeiten, in denen die Kamera die Geschehnisse aus einer gewissen Distanz beobachtet, ohne sichtbar einzugreifen: »[T]hey chose to observe lived experience spontaneously«, beschreibt Nichols diesen Zugang, für den der Verzicht auf Interviews, extradiegetische Musik, Soundeffekte, eine Voice over sowie das Nachstellen von Ereignissen und Situationen 121 Zum Begriff des migrantisch situierten Wissens vgl. Gülec¸ 2015, S. 205. 122 Lipp 2016, S. 88.

Methode

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charakteristisch ist.123 Da die Filmschaffenden ohne Drehplan arbeiten, wird eine Fülle von Rohmaterial generiert, das erst im Schnitt verdichtet und komprimiert wird. Tamara Milosevics Film Zur falschen Zeit am falschen Ort (Kapitel 5.2) lässt sich diesem Ansatz zumindest an manchen Stellen zurechnen. Hier beobachtet die Kamera die Clique um Thorsten Muchow, ohne direkt mit ihr zu interagieren. Beim partzipatory mode ist die Interaktion zwischen Filmenden und Gefilmten zentral: »Questions grow into interviews or conversations; involvement grows into pattern of collaboration or confrontation.«124 Lipp rechnet diesen Zugang der Tradition des Cin8ma v8rit8 zu.125 Da die gefilmte Situation durch die Anwesenheit der Filmenden überhaupt erst hervorgebracht wird, bezeichnet er die Rolle der Kamera als die eines »wirkungsmächtige[n] Katalysator[s]«.126 Die Präsenz der/des Filmschaffenden ist somit bewusster Teil der filmischen Anordnung, in einigen Fällen ist sie oder er sogar selbst im Bild zu sehen, meist sind ihre/seine Fragen zu hören. Geradezu lehrbuchhaft hierfür ist Günter Wallraffs Rollenreportage Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (D 2009), den ich in Kapitel 4.5. eingehend betrachte. Unter dem reflexive mode subsumiert Nichols schließlich Filme, in denen grundsätzliche Fragen nach der (filmischen) Repräsentation selbst, ihren Bedingungen und Möglichkeiten gestellt werden: »The reflexive mode is the most self-conscious and self-questioning mode of representation. Realist access to the world; the ability to provide persuasive evidence; the possibility of indisputable proof; the solemn, indexical bond between an indexical image and what it represents – all these notions come under suspicion.«127 Diese Filme treten an, die Erwartungen und Vorannahmen der Zuschauenden zu dekonstruieren: »›Let’s reflect on how what you see and hear gets you to believe in a particular view of the world‹ these films seem to say.«128 An manchen Stellen lässt sich Philip Scheffners Film Revision (D 2012) diesem Modus zurechnen, werden in ihm doch Fragen der Repräsentation thematisiert ( Kapitel 4.3). The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB 1993)129 hingegen erinnert von seinem Impetus her an die dokumentarische Strömung des Radical Cinema. Diese entstand in den 1960er Jahren in den USA und wurde von politischen Aktivist_innen, die der Studierendenbewegung nahestanden,

123 124 125 126 127 128 129

Nichols 2010, S. 172. Ebd., S. 179. Lipp 2016, S. 102ff. Ebd., S. 103. Nichols 2010, S. 197. Ebd., S. 198. Vgl. Kapitel 4.1.

34

Zentrale Begriffe und Konzepte

sowie linken Intellektuellen getragen.130 Ihr Anspruch war es, der als unzureichend und verzerrend empfundenen Art und Weise, in der die öffentlichen Medien über brisante gesellschaftspolitische Themen und Entwicklungen wie den Vietnamkrieg oder die Bürgerrechtsbewegung berichteten, andere Bilder entgegenzusetzen. Es sollte eine Gegenöffentlichkeit geschaffen werden. So entstand eine »Reihe politischer Dokumentar- und Agitationsfilme, deren Ziel es war, ›das System‹ mit filmischen Mitteln zu attackieren«.131 Damit ging, wie Mo Beyerle schreibt, die »Modifizierung und Weiterentwicklung der Formensprache des dokumentarischen Films« einher,132 indem etwa »beobachtende Elemente mit Archivmaterial, Interviews, asynchoroner Bild/Ton-Montage und extradiegetischer Musik« gemischt wurden.133

Diskurstheoretischer Zugang Diese immanente Perspektive wird in einem zweiten Schritt durch eine diskursanalytische Herangehensweise ergänzt, um zu beschreiben, wie sich die Auseinandersetzung mit Rassismus und rechter Gewalt in den einzelnen Filmen in einem breiteren Kontext verorten lässt. Als Diskurs bezeichne ich dabei die Summe aller zu einer bestimmten Zeit möglichen Aussagen zu einem Thema, oder, wie es Siegfried Jäger und Jens Zimmermann ausdrücken, »den Fluss von ›Wissen‹ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit«.134 »Diskurse üben«, so die Wissenschaftler an anderer Stelle, »als ›Träger‹ von (jeweils gültigem) ›Wissen‹ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie Verhalten und (andere) Diskurse induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in der Gesellschaft bei.«135 Paula Irene Villa bringt dies auf den Punkt. Sie schreibt, dass »die spezifische intelligible Bedeutung der Begriffe nicht in den Dingen selber liegt, die sie bezeichnen, sondern dass sie ihre Bedeutung erst durch Diskurse erhalten«. Demzufolge »erkennen [wir] in der Welt immer nur das, wofür wir […] diskursive Kategorien haben«.136 So »bringen die Diskurse die Dinge erst hervor, indem sie die Welt kodieren und damit das Feld des Denk-, Sag- und Lebbaren abstecken« – und, so lässt sich ergänzen, ent-

130 131 132 133 134 135 136

Vgl. dazu Beyerle 1991, S. 40. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd. Jäger, Zimmermann 2010, S. 13. Ebd., S. 11. Villa 2003, S. 22.

Beschreibung des Korpus und Aufbau der Arbeit

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sprechend auch das Feld des filmisch Darstellbaren.137 Der durch Diskurse regulierte Rahmen des Sagbaren kann, so Jäger und Zimmermann, »durch direkte Verbote und Einschränkungen, Gesetze, Richtlinien, Anspielungen, Implikate, explizite Tabuisierungen aber auch durch jeweils (mehr oder minder) gültige Normen, Konventionen, Verinnerlichungen, Bewußtseinsregulierungen etc. eingeengt oder auch überschritten werden«.138

Dabei existieren immer mehrere parallele Diskursstränge, die in sich und untereinander nicht widerspruchsfrei sind.139 Sie unterscheiden sich aber bezüglich ihrer Wirkungs- oder Realitätsmächtigkeit. Hier kommt das Thema der Macht ins Spiel. Foucault schreibt dazu: »Wir sollten zugeben, daß Macht Wissen produziert … Daß Macht und Wissen einander direkt implizieren; daß es weder eine Machtbeziehung ohne den korrelierenden Aufbau eines Wissensgebiets gibt, noch irgendein Wissen, das nicht Machtbeziehungen voraussetzt und aufbaut.«140 Diesen Zusammenhang im Hinterkopf frage ich, in welchem Verhältnis die von den ausgewählten Filmen bereitgestellten Deutungen zu den »im nichtfilmischen Diskurs zirkulierenden Wirklichkeitswahrnehmungen« stehen.141 Ob sie diese, »bestätigen und legitimieren« oder gar »irritieren und modifizieren, neu perspektivieren und korrigieren und damit [– dies gilt für die Spielfilme – J. S.] den Zuschauenden also kontra-faktische Versionen der nicht-fiktionalen Welt anbieten«.142 Da die politische wie auch symbolische Anerkennung vieler Angriffe als rechte Gewalttaten Gegenstand politischer Deutungskämpfe ist, werde ich dabei insbesondere untersuchen, wie sich die analysierten Filme hierzu positionieren. Ich frage, welche Lesarten die Filme in ihrer Gesamtheit aus Bildern und Tönen evozieren und zulassen und wie diese im Diskurs über rechte Gewalt und Rassismus zu positionieren sind.

2.4

Beschreibung des Korpus und Aufbau der Arbeit

In dieser Studie werden dreizehn Spiel- und Dokumentarfilme genauer analysiert, die sich im Zeitraum von 1992 bis 2012 mit rechter, vor allem rassistischer Gewalt in Deutschland auseinandergesetzt haben. Insgesamt wurden über 40 137 Ebd., S. 23. 138 Jäger, Zimmermann 2010, S. 23. 139 Als Diskursstrang bezeichne ich mit Jäger und Zimmermann »thematisch einheitliche Diskursverläufe«. Vgl. dazu Jäger, Zimmermann 2010, S. 16. 140 Foucault zit. nach Hall 1994, S. 152. 141 Wende 2011c, S. 142. 142 Ebd.

36

Zentrale Begriffe und Konzepte

Filme und längere TV-Beiträge – zumeist ab einer Länge von 45 Minuten – ausgewertet, die mehrheitlich von konkreten rechten Gewalttaten handeln. Weitere thematische Blöcke der vorliegenden Arbeit widmen sich Filmen über die TäterInnen sowie über Rassismus als häufigstes Tatmotiv rechter Gewalt und wichtiges Element rechter Ideologie. Die zentralen Auswahlkriterien für die analysierten Filme waren, dass diese erstens den deutschen Kontext thematisieren und zweitens eine Länge von mindestens 90 Minuten haben. Es sollten also möglichst abendfüllende Filme sein, die nicht nur ein weiteres Verbreitungspotenzial als Kurzfilme haben, sondern als größere – also auch teurere – Produktionen mehr programmatisches Gewicht für die Produzent_innen haben. Auch um das Korpus übersichtlich zu halten, habe ich sowohl auf Kurzfilme als auch auf Nachrichtenbeiträge verzichtet. Wichtig war drittens, dass die Filme sich möglichst gleichmäßig über den gesamten Untersuchungszeitraum von 1992 bis 2012 verteilen. Viertes Kriterium war die Reichweite: Ausgewählt wurden Filme, die Diskurse über rechte Gewalt mit einer gewissen Breitenwirkung fort- und weiterschrieben. Es handelt sich folglich hauptsächlich um Produktionen, die vom überregionalen Feuilleton wahrgenommen wurden und bundesweit im Kino liefen bzw. im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Wo es für die Argumentation wichtig war, bin ich jedoch von einer starren Anwendung dieser Kriterien abgewichen. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl die Auswahl der Filme als auch der Aufbau der Arbeit wie folgt beschreiben: Kapitel 3 gibt einen kursorischen Überblick über die Geschichte rechter und rassistischer Gewalt und ihre Thematisierung in Film und Fernsehen für den Untersuchungszeitraum. Ich nenne hier einige zentrale Ereignisse und frage nach der filmischen Auseinandersetzung mit ihnen. Es folgen zwei Analysekapitel zu Filmen, auf die oben genannte Kriterien weitestgehend zutreffen: The Truth lies in Rostock und Revision (R: Philip Scheffner, D 2012) thematisieren das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen (Kapitel 4.1 und 4.3). Zudem wird der Blick auf No-BudgetProduktionen gerichtet, in denen sich rassismuserfahrene Expert_innen und ihre Unterstützer_innen abseits kommerzieller Filmförderungs- und Vertriebsstrukturen mit der Geschichte und Gegenwart des (gewalttätigen) Rassismus auseinandersetzen (Kapitel 4.2). Auch wenn die meisten von ihnen kein großes Publikum fanden, möchte ich sie nicht unerwähnt lassen. Darüber hinaus habe ich mit Herzsprung (R: Helke Misselwitz, D 1992) einen der wenigen Spielfilme ausgewählt, in dem eine – wenn auch fiktive – rechte Gewalttat eine zentrale Rolle spielt. Er erzählt von einer tödlich endenden Liebesgeschichte zwischen einer weißen Frau und einem Schwarzen Mann (Kapitel 4.4). Abschließend zu den Filmanalysen zum Themenbereich Rassismus wird anhand von Günter Wallraffs populärem Experiment Schwarz auf Weiß. Eine

Beschreibung des Korpus und Aufbau der Arbeit

37

Reise durch Deutschland betrachtet, wie alltäglicher Rassismus thematisiert wird (Kapitel 4.5). Diese Analyse wird gerahmt von Betrachtungen zu den Arbeiten von Mo Asumang und Michel Abdollahi, wählten beide doch einen Zugang, der mit Wallraffs Methode vergleichbar ist.143 Doch während Wallraff sich der rassistisch konnotierten Blackface-Maskerade bedient, konfrontieren Asumang und Abdollahi ExponentInnen der extremen Rechten mit ihrer tatsächlichen Positionierung als Schwarze Deutsche bzw. Deutsch-Iraner. Es folgen Betrachtungen zum Tatmotiv Sozialdarwinismus, das auch beim Mord an Marinus Schöberl eine Rolle spielt (Kapitel 5). Seine Tötung sorgte wegen ihrer überbordenden Grausamkeit bundesweit für Schlagzeilen und löste eine intensive filmische Auseinandersetzung mit der Thematik aus. Den ursprünglichen Auswahlkriterien entsprechen hier Der Kick (R: Andres Veiel, D 2006) sowie Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005), denen ausführliche Analysekapitel gewidmet sind. Während sich Andres Veiel mit dem »Ursachengestrüpp« des Mordes selbst beschäftigt (Kapitel 5.1), setzt sich Tamara Milosevic mit dem Tatort, dem brandenburgischen Potzlow, auseinander (Kapitel 5.2). Da sich im Untersuchungszeitraum, abgesehen von den genannten Filmen, relativ wenige abendfüllende Produktionen, die die oben genannten Kriterien erfüllen, eingehend mit rechten Gewalttaten beschäftigten, gehe ich auf die TV-Reihe Tödliche Begegnungen (HR 2001) ein (Kapitel 3.1). Ihre drei 45-minütigen Teile porträtieren jeweils ein Todesopfer rechter Gewalt. Während Filme über konkrete rechte Gewalttaten und ihre Opfer zumindest im Kino rar sind, entstand eine Reihe von Spiel- und Dokumentarfilmen, die sich zumeist mit männlichen jugendlichen Neonazis beschäftigen. Aus ihnen habe ich drei Dokumentarfilme und einen Spielfilm ausgewählt. Neben den beiden Teilen der Stau-Trilogie, in denen das Thema Neonazismus eine Rolle spielt und von den Porträtierten begangene rechte Gewalttaten zumindest am Rande eine Rolle spielen (Stau – Jetzt geht’s los, R: Thomas Heise, D 1992 und Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), R: Thomas Heise, D 1999, (Kapitel 6.1 und 6.2) habe ich Glaube, Liebe, Hoffnung. Leipzig Dezember 1992 bis Dezember 1993 (R: Andreas Voigt, D 1994) analysiert (Kapitel 6.3). Im Spielfilm Kriegerin (R: David Wnendt, D 2011) schließlich motiviert ein von der neonazistischen Hauptfigur verübter rassistischer Angriff auf einen Geflüchteten die Handlung (Kapitel 6.4). Nach den abschließenden Beobachtungen (Kapitel 6), in denen ich die Ergebnisse der Filmanalysen zusammenfasse und ein Fazit ziehe, werden Fragen für die zukünftige Forschung skizziert.144

143 Kapitel 4.6: Mo Asumang und Michel Abdollahi: Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte. 144 Vgl. Kapitel 7. Abschließende Betrachtungen und Ausblick.

38

2.5

Zentrale Begriffe und Konzepte

Spezielle Schreibweisen

Im Folgenden möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen und Positionierungen erläutern, die den von mir gewählten Schreibweisen zugrunde liegen. _x Um auszudrücken, dass es Menschen gibt, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können, oder sich mehr als einem Geschlecht zugehörig betrachten, benutze ich den auch als Gender-Gap bekannten Unterstrich. Dieser kommt vor allem zum Einsatz, wenn ich anonyme, undefinierbare oder nicht eingrenzbare Gruppen bezeichne: etwa die Zuschauer_innen der analysierten Filme. -I In den Fällen, in denen mir bekannt ist, dass sich die Beschriebenen als Männer oder Frauen identifizieren, benutze ich, wenn es sich dabei um eine Gruppe von Frauen und Männer handelt, das Binnen-I. So schreibe ich etwa von den SchauspielerInnen Marcus Lerch und Susanne Maria Wrage. Analog verfahre ich, wenn ich Gruppen beschreibe, für die die Propagierung von Heteronormativität145 und Zweigeschlechtlichkeit zentraler Programmpunkt ist. Die extreme Rechte etwa hetzt gegen das als »Genderwahn« gebrandmarkte Gendermainstreaming und gegen sexuelle Vielfalt, fordert »richtige Frauen« und »richtige Männer« und duldet niemanden zwischen diesen Polen. Schwarz Schwarz wird in dieser Arbeit auch als Adjektiv großgeschrieben. Ich schließe mich damit u. a. Noah Sows Schreibung an, die darauf verweist, dass es hierbei nicht um Pigmentierungsgrade der Haut, sondern um eine »politische Realität und Identität« geht.146 Die Großschreibung betont das widerständige Potenzial dieser Selbstbezeichnung. weiß Um die Konstruiertheit der Kategorie »weiß« zu verdeutlichen, die ebenfalls weniger auf reale Pigmentierungsgrade denn auf die dominante Subjektposition im Machtgefüge der rassistisch strukturierten Gesellschaft verweist, werde ich das Wort klein und kursiv schreiben. Ich schließe mich damit der von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard vorgeschlagenen Schreibweise an.147 145 Zum Begriff der Homonormativität vgl. Duggan 2002, S. 175–194. Wagenknecht 2007, S. 17–34. 146 Vgl. Sow 2009, S. 19. Vgl. dazu auch: Nduka-Agwu, Sutherland 2010, S. 88. 147 Vgl. Ebd.

3

Zur Geschichte rechter und rassistischer Gewalttaten und ihrer filmischen Darstellung seit den 1990er Jahren

»Es erscheint mir, dass unsere deutsche Gesellschaft sich in Sachen Vergangenheitsund Gegenwartsbewältigung massiv selbst überschätzt. Ohne die langfristige Verarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit, wobei Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln nur einige herausragende Beispiele sind, kann jede Form von Intergrations/ Inklusions/etc.– Debatte nur scheitern. Diese Diskussionen werden meiner Meinung nach so geführt, als wäre Rassismus kein Problem unserer Gesellschaft. Dies ist natürlich Wahnwitz, wenn man die gemeinsame Geschichte beachtet.« Dan Thy Nguyen (Autor des Theaterstücks Sonnenblumenhaus)

In diesem Abschnitt wird ein kursorischer Abriss über die Geschichte rechter Gewalttaten und ihrer Thematisierung in Film und Fernsehen während meines Untersuchungszeitraums von 1992 bis einschließlich 2012 unternommen. Rechte Gewalt vor 1990 bildet in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion wie auch in den Medien eine eklatante Leerstelle.148 Wie Olaf Sundermeyer feststellt, hat sich bislang kaum jemand die Mühe gemacht, ihre Todesopfer vor 1990 systematisch zu zählen.149 Dies mag neben der Tatsache des massiven Anstiegs rechter Gewalt in eben dieser Zeit auch pragmatischen Überlegungen geschuldet sein. So waren entsprechende Akten für die DDR bis vor Kurzem nicht zugänglich.150 Diese Auslassung leistet einer Erzählung Vorschub, die rechte Gewalt als Folge der sozialen Krisen und Umbrüche in der Nachwendezeit fasst. Die Traditionslinien, Kontinuitäten und Brüche in der postnationalsozialistischen Gesellschaft drohen dabei aus dem Blick zu geraten.151 Aus diesem Grund sollen Vorgeschichte der analysierten rechten Ge148 Zur Geschichte rechter Gewalt in BRD und DDR von 1945–1990 vgl.: Maegerle, Röpke, Speit 2013, S. 23–60. 149 Sundermeyer 2012, S. 13. 150 Vgl. dazu: Waibel 2012, S. 20–23. 151 Ich folge in der Definition des Begriffs postnationalsozialistisch Astrid Messerschmid: »Unabgeschlossenheit des geschichtlich Gewesenen und Diskontinuitäten in den Prozessen der Aneignung von Vergangenheit als erinnerte Geschichte bilden die Ausgangspunkte für den Ansatz, von einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zu sprechen. Das Partikel

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Zur Geschichte rechter und rassistischer Gewalttaten

walttaten und ihre filmischen Thematisierungen an dieser Stelle zumindest anhand weniger Beispiele erwähnt sein.

Rechte Gewalt in der DDR Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des Berliner DDR-Museums, nennt eine Zahl von »8600 rechtsradikale[n] und rassistische[n] Übergriffe[n]«, die in den 1980er Jahren von der Stasi registriert wurden. Er führt sie auf das gesellschaftliche Klima jener Zeit zurück: »In der geschlossenen Gesellschaft gedieh der Hass gegen alles Fremde wie der Schimmelpilz in einem feuchtwarmen Keller.«152 In seiner Monografie Rassisten in Deutschland rekonstruiert der Historiker Harry Waibel eine »Chronologie rassistischer Ereignisse in der DDR«.153 Neben einer Auflistung von Angriffen, Bedrohungen und Beleidigungen sowie der Schändung jüdischer Friedhöfe geht Waibel insbesondere auf den rassistischen Mord an Carlos Conceicao im sachsen-anhaltischen Straßfurt ein.154 Der 18-jährige mosambikanische Lehrling wurde in der Nacht auf den 20. September 1987 von einem Rassisten in den Fluss Bode geworfen, wo er ertrank. »Hinweise auf die rassistische Stimmung und Einstellung waren die untätig zuschauenden Deutschen, von denen einer abfällig bemerkte: ›Da ist ja nur ein Stück Kohle in die Bode gefallen‹«, beschreibt Waibel die damalige Stimmung vor Ort.155 Weil die Existenz rechter Gewalt sowie einer militanten Neonaziszene etwas war, das im sozialistischen Staat nicht sein durfte und entsprechend tabuisiert war, gibt es kaum filmische Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Eine der wenigen Ausnahmen ist die in den letzten Jahren der DDR entstandene Arbeit Unsere Kinder (DDR 1989) des Dokumentartisten Roland Steiner. Steiner befragt hier Angehörige verschiedener von staatlichen Normen abweichender Jugendkulturen nach ihrem Verhältnis zum Staat. Neben Gruftis und Punks kommen vor allem Neonazis zu Wort, die Perspektiven der von Rassismus und rechter Gewalt Betroffenen bleiben weitgehend unerwähnt. Nur kurz schildert ein junger Antifaschist, wie er wiederholt von Neonazis zusammengeschlagen wurde.156 Während die interviewten Naziskins zumeist unwidersprochen ihren

152 153 154 155 156

›post‹ markiert , dass etwas zwar vergangen und doch nicht vorüber ist.« Messerschmidt 2007, S. 49. Wolle 2015, S. 97. Waibel 2012, S. 261–402. Ebd., S. 124ff. Zum Mord an Conceicao vgl. Staud, Radke 2012, S. 42. Waibel 2012, S. 124. Unsere Kinder (R: Roland Steiner, DDR 1989), TC: 22:54f.

Zur Geschichte rechter und rassistischer Gewalttaten

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Rassismus kundtun, werden weder dessen gesamtgesellschaftliche noch dessen institutionelle Verbreitung thematisiert. Obwohl wie auch Maegele et al. feststellen die »Sicherheitsbehörden der DDR […] zuvor Rechtsextremismus nicht zum öffentlichen Thema [hatten] werden lassen«, sorgte der neonazistische Angriff auf die Ostberliner Zionskirche am 17. Oktober 1987 über die Grenzen der DDR hinaus für Schlagzeilen.157 30 Neonazis überfielen dort ein Konzert der Westberliner Punkband Element of Crime und verprügelten Konzertbesucher_innen. »Die neo-nazistischen Angreifer brüllten ›Sieg Heil‹, ›Judenschweine‹, ›Schweine und Linke raus aus deutschen Kirchen‹ und es wurde der Hitlergruß gezeigt sowie ›Deutschland‹ gerufen. Kranken- und Einsatzwagen der Volkspolizei standen während des Konzerts in Nebenstraßen und obwohl Konzertteilnehmer die Volkspolizisten um Hilfe baten, blieben diese auf ihren Positionen,«

rekapituliert Waibel die dortigen Ereignisse.158 Ausgehend vom Angriff auf die Zionskirche rekonstruiert die 2006 entstandene TV-Dokumentation Die Nationale Front. Neonazis in der DDR (R: Andreas K. Richter, Tom Franke, MDR 2006, 43:30 min) die Entstehung der neonazistischen Skinheadszene, die sich seit den frühen 1980er Jahren in der DDR formierte. Wie bei konventionellen TV-Dokumentationen üblich, strukturiert eine männliche Voice-of-God die Narration. Neben Personen, die als Angreifer oder Angegriffene bei dem brutalen Überfall zugegen waren, kommen eine Reihe weiterer Zeitzeug_innen und Expert_innen in jeweils kurzen Statements zu Wort. Nach einer Rekonstruktion des Überfalls selbst, seiner Vor- und Nachgeschichte – hier werden insbesondere die von Ostberliner Neonazis ausgehende Planung des Angriffs, die Reaktionen der DDR-Medien sowie die Prozesse gegen einige der Täter in den Blick genommen –, wird nach Ursachen für das Erstarken des Neonazismus sowie nach dem behördlichen Umgang mit diesem gefragt. Deutlich weniger Screentime wird indes den Themen Rassismus und Antisemitismus eingeräumt, auf welche im letzten Drittel des Films eingegangen wird. »Faschismus« galt der offiziellen DDR gemäß der Dimitroff-These als »scheußlichste Erscheinungsform des Imperialismus«, der »auf gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, also Kapitalismus« basiere: Neonazismus galt der offiziellen DDR als Westimport.159 So sei die Gefahr von rechts von offizieller Seite verleugnet worden. »Die Stasi« sei, so bilanziert der Erzähler, »auf dem rechten Auge blind« gewesen.160 Eine entsprechende Faschismusanalyse kennzeichnet auch die Geschichtspolitik 157 Maegele et al. 2013, S. 59. 158 Waibel 2012, S. 360. Vgl. dazu auch: Borchers 1993, S. 121ff. 159 Die Nationale Front. Neonazis in der DDR, (R: Andreas K. Richter, Tom Franke, MDR 2006, 43:30 min), TC: 23:41. Zur Dimitroff-Faschismusanalyse vgl. Waibl 2012, S. 19. 160 Die Nationale Front. Neonazis in der DDR, TC: 17:15.

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der DDR, die im Film als eine Ursache für das Erstarken des Neonazismus angeführt wird: »Die Leute hatten den Antisemitismus nicht nur im Kopf, sondern auch im Bauch vor allen Dingen. Aber sie wussten nicht, dass es Antisemitismus war«, erinnert sich Zeitzeugin Salomea Genin: Denn »über Naziideologie wurde ja nicht geredet. Und so blieb Naziideologie plus Antisemitismus im Bauch drinne stecken, wurde nie infrage gestellt«.161 Die Umsetzung der antifaschistischen Staatsdoktrin indes wurde von rechten wie linken Interviewten als ritualisiert und nicht mit Leben gefüllt wahrgenommen.162 In den Familien sei zudem oft ein anderes Weltbild vermittelt worden als in der Schule und anderen Jugend- und Ausbildungsinstitutionen. Diese unterschiedlichen Erzählungen existierten, so die Publizistin Anette Leo, gewissermaßen in »zwei verschiedenen Schachteln«.163 Auch Ronny Busse, der sich als Naziskin führend an den Angriffen auf die Zionskirche beteiligte, berichtet, wie er die Erzählungen seiner Großmutter »über Stalin« und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten nicht mit den in der Schule vermittelten Bildern in Einklang habe bringen können.164 Im letzten Drittel geht der Film anhand der Lebenssituation der Vertragsarbeiter_innen auf das Thema Rassismus ein. Hier wird der Widerspruch zwischen dem propagierten »proletarischen Internationalismus« und der tatsächlichen Ausgrenzung der Vertragsarbeiter_innen aus »sozialistischen Bruderländern« thematisiert: »Eine Integration in die Gesellschaft gab es nicht.«165 Zeitzeug_innen berichten von der separierten Unterbringung der Vertragsarbeiter_innen in Heimen. Wie sich Pfarrer Rainer Eppelmann erinnert, seien deren Kontakte zur Lokalbevölkerung aktiv unterbunden worden.166 Genin erinnert sich an rassistische Angriffe auf Schwarze, kritisiert jedoch auch institutionelle Formen des Rassismus: »Wenn eine Vietnamesin schwanger wurde, wurde sie sofort nach Hause geschickt.«167 Ehemalige Vertragsarbeiter_innen selbst kommen in dieser Dokumentation nicht zu Wort. Eingeleitet mit einem Bericht über die Schändung eines jüdischen Friedhofs geht der Film im Anschluss auf das Thema Antisemitismus ein.168 Genin, über die nun zu erfahren ist, dass sie während des Nationalsozialismus als Jüdin verfolgt wurde, mit ihrer Familie nach Australien emigrieren musste und 1962 in 161 Ebd., TC: 36:37. 162 Ebd., TC: 10:14. 163 Ebd., TC: 33:10f. Ein Auseinanderdriften zwischen dem »Album« der familiären Erinnerung und dem »Lexikon« des in der Schule vermittelten Wissens beschreiben auch Welzer et al. in ihrer Studie Opa war kein Nazi. Vgl.: Welzer et al. 2005, S. 10. 164 Die Nationale Front. Neonazis in der DDR, TC: 32:10. 165 Ebd., TC: 43:30. 166 Ebd., TC: 33:47. 167 Ebd., TC: 34:16. 168 Ebd., TC: 35:00.

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die DDR zurückkehrte, schildert hier ihre eigenen Erfahrungen mit alltäglichem Antisemitismus. Auch auf staatliche Repressionen gegen die linksalternative Umweltbewegung kommt der Film kurz zu sprechen, kritisiert, dass diese als »Feinde des Sozialismus« mit den Neonazis in einen Topf geworfen worden seien.169 Die Dokumentation endet mit einem Statement Genins, die anlässlich des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen überlegte, Deutschland zu verlassen.170 Die Vertragsarbeiter _innen, ihre von institutionellem und immer wieder auch von individuellem Rassismus und Gewalt geprägten Lebensbedingungen stehen in der knapp zehn Jahre später ebenfalls mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanzierten TV- Dokumentation Honeckers Gastarbeiter. Fremde Freunde in der DDR (R: Lutz Renter, Tom Franke, RBB 2015, 44 min) im Zentrum.

Rechte Gewalt in der BRD vor 1990 Für die (Film-)Geschichte rechter Gewalt in der BRD sollen an dieser Stelle ebenfalls einige Beispiele genannt werden: Im September 1980 wurden 13 Menschen bei einem Attentat auf das Münchner Oktoberfest getötet. 211 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Der Täter, Gundolf Köhler, kam aus dem Umfeld der neonazistischen Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann. Das Oktoberfestattentat, das »als der schwerste rechtsextreme Terrorakt in der deutschen Nachkriegsgeschichte« gilt, wurde33 Jahre später im Spielfilm Der Blinde Fleck. Täter. Attentäter. Einzeltäter? (R: Daniel Harrich, D 2013) verarbeitet.171 Er erzählt »die wahre Geschichte des Journalisten Ulrich Chaussy, der seit 1980 den schwersten Bombenanschlag in der Bundesrepublik Deutschland recherchiert«.172 Chaussys jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Attentat wird als Polithriller präsentiert.173 Während hier der Staatsschutz aus politischen Gründen davon ausgeht, dass Gudolf Köhler ein Einzeltäter mit starken psychischen Problemen174 ist, erfahren Chaussy (Benno Führmann) und mit ihm die Zuschauenden aus einer Reihe von Zeug_inneninterviews, dass dem nicht so war : Die Befragten erinnern sich daran, dass Köhler nicht allein auf dem Ok169 170 171 172 173

Ebd., TC: 37:47. Ebd., TC: 42:57. Sundermeyer 2012, S. 31ff. Vgl. dazu auch: Waibel 2012, S. 44. Maegerle et al. 2013, S. 50. Offizieller Werbeflyer zum Film: Der Blinde Fleck. Täter. Attentäter. Einzeltäter? von 2013. Vgl.: Chaussy 1989, Chaussy 2014.. Wie auch aus der von Chaussy und Harrich erstellten interaktiven Webdokumentation Das Oktoberfest-Attentat deutlich wird, folgt der Film Chaussys Ergebnissen, wenn auch in zugespitzter Form. Vgl. dazu: Chaussy, Harrich o. J. 174 Das entpolitisierende Narrativ vom Neonazi als verstörtem Jungmann ist bis heute in vielen filmischen Thematisierungen der extremen Rechten weit verbreitet und wird entsprechend im Verlauf meiner Arbeit immer wieder auftauchen.

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toberfest gewesen sei, charakterisieren ihn als lebensfroh und gut vernetzt. Vor Gericht wurden ihre Aussagen jedoch ignoriert oder für unglaubwürdig erklärt, andere Zeug_innen wurden eingeschüchtert oder erst gar nicht vernommen. Der Film lässt dies eher als aktive Sabotage denn als Resultat von Schlamperei und Desinteresse erscheinen: Rechter Terror, so seine These, passte nicht in FranzJosef Strauß’ zeitgleichen Wahlkampf um das Bundeskanzleramt. Hatte dieser doch – im Film wie auch im realen Leben – die Gefahr von rechts und entsprechend die WSG Hoffmann stets verharmlost. Insbesondere Hans Langemann (Heiner Lauterbach), damals Chef des Bayrischen Staatsschutzes, nimmt beim Vertuschen eine aktive Rolle ein. Gezielt spielt er etwa der Boulevardpresse verfahrensrelevante Informationen zu, die die Einzeltäterthese bekräftigen. Explizit wird im Film eine Parallele zu den Ermittlungen um die Mordserie des NSU gezogen. Ein Zeitsprung führt ins Jahr 2011: In einem Radiobericht benennt Chaussy die Kontinuitäten des Verleugnens, Verdrängens und Relativierens rechter Gewalt. Die Genugtuung, die dem Journalisten im Film verwehrt wurde – er scheitert letztlich an der Weigerung der zuständigen Behörden, den von ihm vorgebrachten Spuren nachzugehen –, wird dem realen Chaussy zuteil: Im Dezember 2014, 34 Jahre nach dem Attentat, wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen. Daran hatte auch der Film einen Anteil, in dessen Folge sich neue Zeug_innen bei Chaussy meldeten.175 Aus den Reihen der WSG Hoffmann wurden noch weitere Morde verübt: Slomo Levin, Vorsitzender der israelitischen Kultusgemeinde von Nürnberg, hatte öffentlich vor der Gefahr gewarnt, die von der neonazistischen Gruppe ausging. Am 19. Dezember 1980 wurden er und seine Lebensgefährtin Frieda Poeschke durch den Wehrsportgruppen-Vizechef Uwe Behrend erschossen.176 Als erste Todesopfer rassistischer Gewalt seit 1945 gelten Ngoc NgyuÞn und Ahn L.n Di, die, ebenfalls 1980, bei einem Brandanschlag auf eine Wohnunterkunft für Geflüchtete in Hamburg starben.177 1985 wurden in Hamburg Mehmet KaymakÅı, einige Monate später Ramazan Avcı von rechten Skinheads totgeschlagen.178 Diese Aufzählung lässt sich fortsetzen. Für die BRD nennt Olaf Sundermeyer für die Jahre 1980 bis 1990 die Zahl von 37 Todesopfern, die sich mithilfe der Medienberichterstattung rekonstruieren lassen.179 175 Hier geht es etwa um eine ehemalige Krankenschwester, die im September 1980 in einem Hannoveraner Krankenhaus beschäftigt war. Nachdem ihr Sohn vom Film Der blinde Fleck berichtete und der dort erwähnten Farce um eine abgetrennten Hand, die trotz gegenteiliger Indizien Köhler zugeordnet worden war, erinnerte sie sich an einen Patienten, dem Hand und Unterarm fehlten und meldete sich bei Chaussy. Vgl.: Chaussy, Harrich o. J. 176 Sundermeyer 2012, S. 33. Vgl. dazu auch Waibel 2012, S. 45; Maegerle et al. 2013, S. 51. 177 Ha 2012a, S. 10. 178 Vgl: Maegerle et al. 2013, S. 58ff. Graswurzelrevolution (GWR) 2011. 179 Vgl.: Sundermeyer 2012, S. 40.

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Die 1990er Jahre Nach der deutschen Vereinigung nahm das Ausmaß rechter Gewalt massiv zu. Sie äußerte sich in rassistischen Pogromen, Brandanschlägen auf die Wohnhäuser von Migrant_innen und People of Color180 sowie in Angriffen auf Einzelpersonen, die weiteren rechten Feindbildern entsprachen: Für den Zeitraum zwischen 1990 bis 2000 dokumentierte eine u. a. in der Frankfurter Rundschau erschienene Chronik mindestens 93 Todesopfer rechter Gewalt.181 Als erstes Todesopfer seit der Deutschen Wiedervereinigung gilt Andrzej Fratzcak. Er wurde am 7. Oktober 1990 von drei Rechten, die vor einer Diskothek im brandenburgischen Lübbenau auf eine Gruppe Polen losgingen, durch Messerstiche tödlich verletzt.182 Erst 2015 wurde Fratzcak auf Grundlage erneuter Recherchen des Moses Medelssohn Zentrums, das bisher nicht offiziell anerkannte mutmaßlich rechte Tötungsdelikte im Land Brandenburg einer kritischen Überprüfung unterzog, auch von der Bundesregierung als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.183 Wenige Wochen später, in der Nacht auf den 25. November 1990, wurde Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde auf seinem Heimweg von einem 60köpfigen Mob aus Neonaziskinheads und Rassisten zu Tode geprügelt.184 Die AngreiferInnen hatten sich am Tatabend versammelt, um Jagd auf Menschen zu machen, die in ihr rassistisches Feindbild passten.185 Die Polizei, die Kenntnis von diesen Plänen hatte, kam Kiowa jedoch nicht zu Hilfe. 20 voll ausgerüstete Polizist_innen, die sich in der Nähe aufhielten, schritten erst ein, als es zu spät war. Ermittlungen wegen »Körperverletzung mit Todesfolge aufgrund unterlassener Hilfeleistung« gegen die untätigen Polizeibeamt_innen blieben folgenlos.186 Seitens der Zivilgesellschaft wurden auch die milden Urteile gegen die Täter, die wegen Körperverletzung mit Todesfolge Jugendstrafen zwischen zwei und vier Jahren erhielten, kritisiert. »Dass die Gruppe klar rassistische Gedanken verfolgte, wurde in der Urteilsbegründung zwar aufgegriffen, jedoch durch die ›damaligen politischen und gesellschaftlichen Umstände‹ verharmlost«, monierten die Journalistinnen Dana Fuchs und Laura Frey.187 »›Man war der Ansicht, dass es im Osten keine echten Nazis, sondern nur verirrte Jugendliche 180 Vgl Ha 2010, S. 83. 181 Baum et al. 2000, S. 3–5. Waibel geht in diesem Zeitraum sogar von 250 Todesopfern aus. Vgl. dazu: Waibel 2012. 182 Opferperspektive e. V. 2016b. 183 Kopke, Schulz 2015, S.23. 184 Amadeu Antionio Stiftung o. J. a. 185 Fuchs, Frey o. J. 186 Ebd. 187 Ebd.

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gebe, die ihrer Verwirrung eine fremdenfeindliche Note gaben‹«, zitieren sie eine Einschätzung Bernd Wagners, der die Aussteigerberatung EXIT gründete.188 1993 lief der Film Amadeu Antonio (R: Thomas Balzer, ZDF 1992, 50 min) in der Sektion Forum der Berlinale.189 Die 1998 gegründete Amadeu Antonio Stiftung, deren Ziel es ist, »eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet«, trägt den Vornamen des Ermordeten.190 Für internationale Schlagzeilen sorgte das rassistische Pogrom von Hoyerswerda. Am 17. September 1991 wurden in der sächsischen Stadt zuerst ein größtenteils von Vertragsarbeiter_innen aus Mosambik und Vietnam bewohntes Wohnheim, danach ein Flüchtlingslager von einem zeitweise bis zu 500-köpfigen Mob aus Neonazis und Anwohner_innen angegriffen. Die Polizei war nicht in der Lage, die Angegriffenen zu schützen. Unter dem Applaus der Anwohner_innen wurden Geflüchtete und Vertragsarbeiter_innen mit Bussen weggebracht. Heike Kleffner attestiert dem Pogrom eine fatale Signalwirkung: »Neonazis feierten Hoyerswerda öffentlich als ›erste ausländerfreie Stadt‹, die Kapitulation von Polizei und Justiz war zur besten Sendezeit bundesweit in die Wohnzimmer getragen worden und schnell wetteiferten im ganzen Land die Nachahmer – Neonazis, rassistische Gelegenheitstäter und politisch rechts sozialisierte Jugendliche.«191 Andreas Speit verweist in diesem Zusammenhang auf eine Emnid-Umfrage vom September 1991, der zufolge »21 Prozent der Ostdeutschen und 38 Prozent der Westdeutschen ›Verständnis‹ für jene ›rechtsradikalen Tendenzen‹ hätten, die das vermeintliche Ausländerproblem überall aufkommen lasse.«192 Bereits während der Pogromtage am 19. September 1991 wurde Samuel Kofi Yeboah bei einem rassistischen Brandanschlag auf ein Flüchtlingslager in Saarlouis ermordet.193 Neben zahlreichen TV-Berichten194 widmeten sich die unter der Regie und Mitwirkung rassismuserfahrener Expert_innen abseits staatlicher Förderinstitutionen entstandenen Produktionen Das Hoyerswerdasyndrom (R: Mogniss H. Abdallah, Yonas Endrias, FR 1996) und Viele habe ich erkannt (R: Helmut

188 189 190 191 192 193 194

Ebd. Berlinale 1993. Amadeu Antonio Stiftung o. J. b. Kleffner 2014, S. 26. Speit 2013, S. 101f. Jansen et al. 2012. Rassismus tötet: Pogrom Hoyerswerda – Ausländerjagd Rassismus im neuen Deutschland – ARD Brennpunkt September 1991 (R: Peter Vinzens, ARD 1991).

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Dietrich, Julia Oelkers, Lars Maibaum, BRD 1992) dem Pogrom und seiner Vorgeschichte.195 Über den rassistischen Brandanschlag vom 3. Oktober 1991 im nordrheinwestfälischen Hünxe, bei dem die sechsjährige Zeinab Saado und ihre achtjährige Schwester Mokades lebensgefährlich verletzt wurden – noch heute leiden die beiden Frauen an den Spätfolgen ihrer schweren Verbrennungen – drehte Esther Shapira das Feature Zeinabs Wunden (R: Esther Schapira, HR 1993). »Ich wollte wissen, wie Zeinab mit ihren Wunden fertig wurde, wie es ihr und ihrer Familie vor dem Anschlag in Hünxe erging, wie sie jetzt in Deutschland lebten, wovon Zeinab träumte und wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Ich wollte aber auch wissen, wer die Täter waren, wie sie lebten bis zur Tat und vor allem, warum sie Feuer in ein Kinderzimmer warfen. Schließlich interessierte mich das Umfeld, der Ort Hünxe, die Nachbarn und natürlich die Familien der Täter«, beschreibt Schapira ihr Vorhaben.196 Im Zentrum stehen die Schwestern, denen Schapira durch ihre Dokumentation »Gesicht, Stimme und Würde« zurückgeben wollte.197 Des Weiteren kommen die Mütter und Freunde der Täter zu Wort. Letztere konfrontiert Schapira mit den Aussagen der verletzten Mädchen. Interviews mit dem vor allen um den Ruf des Dorfs besorgten stellvertretenden Bürgermeister sowie mit Anwohner_innen zeugen von einer mangelnden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Anschlag sowie von dem latenten Rassismus der Befragten. Diesen Eindruck von der Stimmung vor Ort bestätigen auch Mitglieder des Runden Tisches gegen Rassismus, der sich nach dem Brandanschlag gründete. 2014 befragte ein Spiegel TV-Team die Schwestern nach ihrem Leben mit den Folgen des Attentats.198 Neben rechten Angriffen auf Einzelpersonen und rassistischen Brandanschlägen gab es auch in Westdeutschland rassistische Pogrome. So wurde im Mai 1992 in Mannheim-Schönau ein Wohnheim für Geflüchtete von Anwohner_innen belagert und mit Steinen angegriffen.199 Am 19. Juni 1992, wurden Grigore Velcu und Eudache Calder¼r auf einem Feld in Nadrensee nahe der deutsch-polnischen Grenze erschossen. Die Tötung 195 Auf diese werde ich in Abschnitt 4.2 Die Perspektiven der Rassismuserfahrenen: No-BudgetProduktionen über die Pogromzeit und ihre Folgen zu sprechen kommen. 196 Schapira 1996, S. 60ff. 197 Ebd., S. 61. 198 Die zu der Zeit 25-jährige Zeinab Saado erzählt von einer Kindheit, in der sie sich meist zu Hause aufgehalten habe, da andere Kinder sie wegen ihrer Brandnarben hänselten, was besonders im Schwimmbad »richtig schlimm« gewesen sei. »Dem Krieg in der Heimat konnten sie entkommen, auf den Krieg gegen Ausländer in Deutschland waren sie nicht vorbereitet«, resümieren die Autor_innen des Beitrags. In Hünxe werde die Tat bis heute weitgehend verdrängt. Spiegel TV- Magazin: Asylbewerberkind angezündet: Die Geschichte von Zainab Saado (R: Peter Hell, Spiegel-TV 2014) TC: 5:07. 199 Möller 2007, Vgl. auch: Caf8 Morgenland o. J.

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der beiden Migranten wurde vor Gericht als Jagdunfall verhandelt. In seinem Dokumentarfilm Revision (D 2012), auf den in Kapitel 4.3 ausführlich eingegangen wird, versucht Philip Scheffner, die Tathintergründe zu rekonstruieren und deckt dabei ein behördliches Vorgehen auf, das in seiner Ignoranz den Angehörigen der Ermordeten gegenüber fatal an das Verhalten erinnert, dem die Hinterbliebenen der Mordopfer des NSU ausgesetzt waren.

Das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Vom 22. bis zum 26. August 1992 wurde in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber_innen (ZAST) mit Steinen und Molotowcocktails attackiert. Dem rassistischen Pogrom vorausgegangen war eine sich über Wochen hinziehende Situation, in der es die politisch Verantwortlichen zugelassen hatten, dass die ankommenden Geflüchteten tagelang ohne Unterkunft, Verpflegung und sanitäre Anlagen vor der ZAST kampieren mussten, um ihre Asylanträge stellen zu können.200 Lokale Medien verbreiteten rassistische Kampagnen und Drohungen, etwa »Roma aufzuklatschen«.201 Dies kanalisierte den Zorn sowie den latenten Rassismus vieler Nachbar_innen.202 Die Menge, aus der die Angriffe schließlich erfolgten, war zeitweise bis zu 5.000 Personen stark und setzte sich aus Anwohner_innen sowie aus örtlichen und angereisten Neonazis zusammen. Nachdem die ZAST unter dem Jubel der Umstehenden geräumt wurde, richtete sich die Gewalt der Angreifenden gegen ehemalige Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam, die den an die ZAST angrenzenden Gebäudeteil bewohnten. Ohne ausreichenden Polizeischutz waren die im Haus verbliebenen über 120 Vietnames_innen und ihre Unterstützer_innen dem Mob, der Stockwerk für Stockwerk verwüstete und in Brand setzte, hilflos ausgeliefert. Dass der Polizeieinsatz dem Pogrom kein Ende setzte, ermutigte die Angreifenden zusätzlich. Über das Dach konnten sich alle im sogenannten Sonnenblumenhaus befindlichen Menschen vor den Flammen in Sicherheit bringen. Es war ein Zufall, dass es dabei keine Toten gab. Als größtes Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte erregten die Aus200 Besonders die Weigerung der Stadt, mobile Toiletten aufzustellen, trug laut Jochen Schmidt zur Eskalation der Situation bei. Schmidt zufolge hätte der Rostocker Oberbürgermeister Klaus Kilimann diese Unterlassung vor dem Untersuchungsschuss, den der Schweriner Landtag anlässlich des Pogroms eingerichtet hatte, wie folgt gerechtfertigt: »Das hätte bedeutet, dass wir einen Zustand legalisieren, den wir nicht haben wollten.« Schmidt 2002, S. 64. 201 Im Film The Truth lies in Rostock wird auf einen Artikel aus der Ostseezeitung verwiesen, in dem gewalttätige Drohungen gegen Rrom_nja sowie ein Zeitpunkt, sich gegen diese zu versammeln, unkommentiert wiedergegeben wurden. The Truth lies in Rostock, TC: 04:03. 202 Vgl. dazu: Prenzel 2012, S. 9–29. Pagenstecher 2008, S. 606–613.

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schreitungen von Rostock-Lichtenhagen national wie international Entsetzen. Bilder der rassistische Sprechchöre skandierenden, Molotowcocktails und Steine werfenden Menge vor der brennenden ZAST gingen um die Welt, ließen das Pogrom zum Medienereignis geraten und lösten gleichzeitig eine Debatte über die Rolle der Presse dabei aus.203 Die Angriffe ereigneten sich nicht im luftleeren Raum. Eine Kampange, die von der CDU und rechten Kreisen seit den 1980er Jahren forciert wurde, forderte eine Abschaffung des – als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus – in der Verfassung verankerten individuell einklagbaren Rechts auf Asyl. Sie schaffte ein Klima, in dem rassistische Gewalt an der Tagesordnung war.204 Zentrales Argument dieser insbesondere von der BildZeitung und weiteren auflagenstarken Medien verbreiteten Kampagne war die Unterstellung, »dass es sich bei den Asylbewerbern überwiegend um Schwindler und Betrüger handele, die von den hohen sozialen Leistungen der Bundesrepublik angelockt würden«, bilanziert der Migrationsforscher Ulrich Herbert.205 Heike Kleffner kritisiert die ambivalente Rolle der Medien, von denen zwar der »nackte[.] rassistische[.] Hass als Zivilisationsbruch« angeprangert wurde, »andererseits […] nicht nur Boulevardmedien, sondern auch bürgerliche Magazine wie Der Spiegel den rassistischen Schlägern« sekundierten.206 Wie die Rassismusforscherin Iman Attia feststellt, »fühlten sich [die Täter_Innen, JS] durch die politischen Debatten zur Verschärfung des Asylrechts und die allgemeine Stimmung gegen Eingewanderte berechtigt oder gar beauftragt, die Worte in Taten umzusetzen.«207 In seiner TV-Dokumentation Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern (WDR 1993) beschreibt auch Gert Monheim das Pogrom von Ro203 Vgl. dazu: Jungk 1996b, S. 69ff. Püschel, Weiß 1995, S. 77–95; Landwehr 1995, S. 121–129. 204 Diesen Zusammenhang arbeitet u. a. Gert Monheim in seiner mit dem Civis Menschenrechtssfilmpreis ausgezeichneten TV-Dokumentation Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern (WDR 1993) eindrucksvoll heraus. Vgl. dazu auch: Pfennig 1993, S. 19–24. Althoetmar 1993, S. 45–50. Prenzel 2012, S. 9–30. Attia 2014, S. 8–14. 205 Herbert 2015, S. 92. 206 Sie bezieht sich hier auf das vielfach kritisierte Cover vom 9. September 1991. Es zeigt ein schwarz-rot-gelb angemaltes Schiff, übervoll mit Menschen und trägt den Titel ›Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten: Ansturm der Armen‹ Kleffner 2014, S. 27. 207 Attia 2014, S. 11. Vgl. dazu auch: Ha 2004,S. 23. Zu dieser Einschätzung kommt auch Herbert 2015, S. 92: »Dass hierdurch [er bezieht sich exemplarisch auf die Verlautbarungen wie die des Berliner CDU-Politikers Klaus-Rüdiger Landowsky über ›Ausländer‹, die ›bettelnd, betrügend, ja messerstechend durch die Straßen ziehen‹ und entsprechende Statements in der Bild-Zeitung, JS] ein politisches Klima geschaffen wurde, in dem in zugespitzten Situationen vor allem Jüngere zumindest den Eindruck gewinnen konnten, Überfälle auf Ausländer seien legitim und würden womöglich augenzwinkernd geduldet, ist hingegen mindestens plausibel.« Der Journalist Jochen Schmidt stellt sogar die These auf, dass »Rostock-Lichtenhagen […] als Fanal fungieren [sollte]. Geplant war von Seiten der Politik eine kontrollierte Eskalation des Volkszorns mit dem Ziel, die SPD zum Einlenken in der Asylfrage zu zwingen.« Schmidt 2002, S. 185.

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stock-Lichtenhagen als »Folge einer Politik, die mit dem Feuer spielt«.208 Der Journalist stellt es in einen Zusammenhang mit der parlamentarischen Asyldebatte, den Bestrebungen der CDU, das Grundgesetz zu ändern. Explizit äußert hier etwa Monheims Interviewpartner Knut Degner, der damalige Sprecher der SPD-Fraktion im Schweriner Landtag, die Auffassung, dass »es Absicht war, ein Szenario entstehen zu lassen, in Rostock-Lichtenhagen vor der ZAST, ›das Boot ist voll‹, ›Wir können nicht mehr‹«.209 Laut Monheim, sei die Situation »wie ein Dampfkessel herbeigeführt worden, sei es aus Nachlässigkeit, sei es aus Böswilligkeit, sei es aus politischem Kalkül«.210 Die TV-Dokumentation wurde mit dem CIVIS-Medienpreis ausgezeichnet.211 Auf lokal- wie bundespolitischer Ebene hatte das Pogrom von RostockLichtenhagen konkrete Auswirkungen. Nicht nur die schon seit Längerem geplante Verlegung der ZAST in das abgelegenere Hinrichshagen wurde nun durchgeführt. Am Pogromwochenende gab auch die SPD ihren Widerstand gegen eine Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes auf und ließ sich auf Verhandlungen ein. Damit waren die Weichen für die Grundgesetzänderung im folgenden Dezember gestellt.212 Diese Entwicklungen blieben auch für das Selbstverständnis der extremen Rechten nicht folgenlos. Katharina König, die für DIE LINKE im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss saß, weist darauf hin, dass das Pogrom und seine politischen Folgen ein Erfolg für die extreme Rechte waren, der insbesondere die Generation Neonazis prägte, aus welcher der NSU hervorging. Laut König »erfuhren Neonazis, welche in den 1990er Jahren politisch sozialisiert wurden, dass ihre Gewaltausschreitungen und rassistischen Pogrome, welche auf Zustimmung in der deutschen Bevölkerung stießen, in der Folge zu politischen Konsequenzen führten, welche ihrer Ideologie entsprachen. Im Dezember 1992 wurde das Asylrecht faktisch abgeschafft. Die mit Brandanschlägen und massiven Übergriffen auf Migrant_innen erhobene lautstarke Forderung der Neonazis unter Beteiligung von Teilen der deutschen Bevölkerung ›Ausländer raus‹ wurde damit in einem entscheidenden Teil parlamentarisch umgesetzt.«213

Noch heute, mehr als 20 Jahre später, ist das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ein positiver Bezugspunkt für diese Kreise. Als Neonazis 2012 eine Unterkunft 208 Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern (R: Gert Monheim, WDR 1993), TC: 01:43ff. 209 Ebd., TC: 07:40ff. Degner kritisiert, dass es sehr wohl Möglichkeiten gegeben hätte, die Situation vor der ZAST zu entspannen. Er zeigt dem Filmteam leerstehende Immobilien im städtischen Besitz, in denen die Ankommenden hätten untergebracht werden können. 210 Vgl. auch: Jungk 1996b, S. 71. 211 CIVIS-Medienstiftung o. J. 212 Vgl. dazu: Prenzel 2012, S. 9–30. Vgl. auch: Von Biedermännern und Brandstiftern TC: 09:44ff.; Jungk 1996b, S. 69. 213 König 2014, S. 79.

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für Geflüchtete im brandenburgischen Waßmannsdorf angriffen, hinterließen sie neben zerschlagenen Fenstern und Türen an den Wänden die Parole »Rostock ist überall«.214 Den Zusammenhang zwischen institutionellem und gewalttätigem Rassismus veranschaulicht der Dokumentarfilm The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1993), den ich in Kapitel 4.1 analysiere.

Der 20. Jahrestag des rassistischen Pogroms von Rostock-Lichtenhagen in den Medien Anlässlich des 20. Jahrestags 2013 wurde öffentlichkeitswirksam an das Pogrom erinnert, das Hajo Funke bereits 1993 als »Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands« bezeichnete, welches zu »einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Kultur der neuen Bundesrepublik Deutschland« beigetragen habe.215 Neben einer bundesweiten antifaschistischen Demonstration mit mehreren zehntausend Teilnehmenden gab es eine von der Stadt Rostock organisierte Gedenkveranstaltung, bei der Bundespräsident Joachim Gauck sprach.216 Es erschien eine Reihe von Zeitungsartikeln und TV-Beiträgen.217 Wie Kien Nghi Ha und weitere Forschende kritisieren, kamen diejenigen, die mit Parolen wie »Deutschland den Deutschen: Ausländer raus« (mit-)gemeint waren, bei den erinnerungskulturellen Bearbeitungen des Pogroms jedoch kaum zu Wort: »Die Marginalisierung der Opfer dieses Pogroms« werde, so Ha, »auf anderen Ebenen reproduziert und fortgesetzt. So wie das Zustandekommen und der Ablauf des Pogroms rassistische Gewalt und diskriminatorische Effekte auf allen Ebenen der deutschen Gesellschaft offengelegt hat, wurden diese Probleme nicht nur in der gescheiterten juristischen und politischen Aufarbeitung, sondern auch in der vergangenen und gegenwärtigen Gedenkpolitik weitergeführt.«218 214 Flüchtlingsrat Brandenburg 2012. 215 Funke1993, S. 104. 216 Gaucks Äußerungen, »[i]ch weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland«, wurden kritisiert. Zudem vermissten einige Anwesende eine klare Benennung der Taten als Rassismus und kritisierten Gaucks Verwendung des Begriffs Fremdenfeindlichkeit. Auch der symbolische Akt, vor dem Sonnenblumenhaus als Zeichen des Gedenkens ausgerechnet eine deutsche Eiche zu pflanzen, wurde vielfach als unangemessen empfunden. Speit (2013), S. 95. Tatsächlich ist die Eiche seit der Gründung des Deutschen Reichs mit dem Militär assoziiert. Militärische Ehrenabzeichen wurden auch während des Nationalsozialismus und werden bis heute mit ihrem Laub verziert. Wie etwa Elmar Elling schreibt, gelte sie seit dem 18. Jahrhundert als Symbol des »Heldentums«. Elling 2005. 217 Vgl. dazu: Als Rostock-Lichtenhagen brannte (R: Florian Huber, NDR 2012, 45 min). 218 Ha 2012.

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Auch wenn in den TV-Beiträgen, die anlässlich des zwanzigsten Jahrestags ausgestrahlt wurden, vereinzelt Menschen, die vom Rassismus der Wendezeit betroffen waren, interviewt wurden, fehlten die Erinnerungen und Perspektiven der in Rostock-Lichtenhagen angegriffenen Rrom_nja und Vietnames_innen weitgehend.219 Dies hänge, wie Ha feststellt, auch damit zusammen, dass viele der Angegriffenen bald nach dem Pogrom abgeschoben wurden.220 Im deutschen Kino wurden die rassistischen Pogrome der 1990er Jahre zumindest während meines Beobachtungszeitraums bis einschließlich 2012 kaum thematisiert. Erst im Januar 2015 kam der Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark (R: Burhan Qurbani, D 2014) in die Kinos. Hier wird das Pogrom von RostockLichtenhagen sowohl aus der Perspektive der direkt betroffenen Vietnamesin Lien, eines verantwortlichen Lokalpolitikers sowie dessen Sohn gezeigt, der sich an den Angriffen beteiligt. Die Perspektive der Geflüchteten fehlt auch in diesem Film. Die größte Screentime nehmen die Dynamiken zwischen den jugendlichen Angreifern ein, aus denen eine Reihe von entpolitisierenden Erklärungen für ihre Beteiligung am rassistischen Gewaltexzess entwickelt wird. Hier kommen neben einer allgemeinen Perspektivlosigkeit, Verrohung, den in Filmen über rechte Gewalttäter_innen obligatorischen alleinerziehenden Elternteilen andere Motive zum Tragen, etwa Eifersucht oder der Wunsch, Männlichkeit, Mut und Loyalität zur Gruppe durch das Werfen eines Molotowcocktails zu beweisen. Rassismus scheint neben diesen ausführlich erörterten Beweggründen von untergeordneter Bedeutung zu sein.221 Im Dokumentarfilmbereich gelangte das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen lediglich durch den Film Revision (R: Philip Scheffner, D 2012) auf die Kinoleinwand. Hier bildet es den Kontext, in dem die Haupthandlung um die Erschießung Eudache C.lderars und Grigore Velcus verortet wird.222

219 In der TV-Dokumentation Vier Tage im August – Die Schande von Rostock spricht Maxime Sanvi Sodji über seine Rassismuserfahrungen im Jahr 2012 (R: Silvia Bleßmann, Thomas Hass, ZDF Info 2012, 28:44 min), TC: 07:10ff. Später bekommt auch Augenzeugin MaiPhoung Kollat zehn Sekunden Screentime, in der sie die mangelnde Bereitschaft der Rostocker_innen, sich mit dem Pogrom auseinanderzusetzen, kritisiert (TC: 15:47–15:57). Auch Dai Thi Tuyen, die damals von der rassistischen Gewalt direkt betroffen war, gibt ein kurzes Statement (TC: 20:40–20:54). Die Deutungsmacht über die Ereignisse wie auch die meiste Screentime werden jedoch auch hier weißen Deutschen zugestanden, wie dem damals am Einsatz beteiligten Polizisten Oliver Pohl, der Anwohnerin Inge Mamerow oder Wolfgang Richter, dem damaligen Ausländerbeauftragten, der sich ebenfalls im brennenden Haus befand. Sie kommen mehrfach ausführlich zu Wort. 220 Vgl. dazu: Ha 2012b. Auf diese Tatsache geht auch der Film Revision ein. In einem Voiceover-Kommentar ist von den Abschiebungen der angegriffenen Rromn_ja die Rede. (Revision: TC: 1:19:18). 221 Vgl. dazu: Julia Stegmann 2015b. 222 Auf Revision werde ich in Kapitel 4.3 ausführlich zu sprechen kommen.

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Die Eskalation rechter und rassistischer Gewalt nach Rostock-Lichtenhagen Besonders in der Zeit nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vermehrten sich in ganz Deutschland die Angriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten und die Wohnhäuser von People of Color, Migrant_innen sowie Angriffe auf Einzelpersonen, die weiteren rechten Feindbildern entsprachen.223 Wenige Wochen später, im September 1992, wurde in Quedlinburg eine Wohnunterkunft für Geflüchtete aus einer Menge von Anwohner_innen heraus mit Molotowcocktails angegriffen.224 Bei dem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan in Mölln 1992 starben die 10- und 14-jährigen Mädchen Yeliz Arslan, Ays¸e Yılmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan. Weitere Familienmitglieder wurden schwer verletzt. Fragen nach dem Weiterleben nach dem Mordanschlag, mit dem Tod geliebter Angehöriger, mit den psychischen und physischen Folgen thematisiert Malou Berlin in ihrem Dokumentarfilm Nach dem Brand (D 2012). Er entstand in enger Zusammenarbeit mit den darin porträtierten Überlebenden, Hava, Ibrahim und Faruk Arslan. Im Mai 1993 setzten Neonazis in Solingen das Haus der Familie GenÅ in Flammen. Sie töteten fünf Mädchen und junge Frauen: die 12-jährige Gülistan Öztürk, die 4-jährige Saime GenÅ, die 9-jährige Hülya GenÅ, die 18-jährige Hatice GenÅ und die 27-jährige Gürsün I˙nce. In der für die WDR-Reihe Die Story zum 20. Jahrestag erschienene Dokumentation Alle sind noch da, nur die Toten nicht. Zwanzig Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen (R: Pagonis Pagonakis, Eva Schötteldreier, Charlotte Schwalb, WDR 2013, 43:29 min) stehen die Überlebenden im Zentrum, insbesondere die zur Drehzeit 22-jährige Güldane I˙nce, die den Brandanschlag, bei dem ihre Mutter Gürsün I˙nce starb, als Kleinkind überlebte, sowie ihre Großmutter Mevlüde GenÅ. Güldane I˙nce erfuhr erst als Jugendliche durch Mitschüler_innen vom Mord an ihrer Mutter. Um sie zu schützen, wollte ihr Vater ihr erst nach Abschluss ihrer Ausbildung von der Brandnacht erzählen. Zu Wort kommen auch die politisch Verantwortlichen. So räumt der damalige Bürgermeister Bernd Krebs von der CDU ein, rechte Aktivitäten nicht ernst genug genommen zu haben.225 Die Täter und ihre Lebensgeschichten spielen eine Nebenrolle, kurz zeigt der Film lediglich die Kampfsportschule, in der sie mit weiteren militanten Neonazis trainierten. Die Dokumentation verortet den Solinger Brandanschlag und weitere rassistische

223 Eine Liste der Angriffe auf Geflüchtete zeigt etwa Gert Monheim in seiner Dokumentation Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern TC: 12:06ff. 224 Vgl. dazu: Ausländerfeindlichkeit vor 20 Jahren – Quedlinburg 1992. Erstausstrahlung: MDR, GMD Das Magazin am 4. September 2012. 225 Alle sind noch da, nur die Toten nicht. Zwanzig Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen, TC: 08:09.

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Morde226 in Ost- und Westdeutschland sowie die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda im Kontext der aufgeheizten sogenannten Antiasylkampagne, als deren direkte Folgen sie benannt werden.227 Explizit kritisiert der Film auch die politischen Reaktionen auf die Pogrome und Morde: Die massiven Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl.228 Ausführlich thematisiert der Film die Folgen, welche die rassistischen Morde für die Überlebenden und die davon Mitgemeinten hatten, insbesondere die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migrant_innen: Der Therapeut Ali Kemal Gün beschreibt Solingen als »historische Wende«, die eine »sehr tiefe Wunde hinterlassen« habe: Es habe zu einem Gefühl der »Unsicherheit«, des »Bruchs des Vertrauens« geführt: »Ich kann nicht mehr in Sicherheit in diesem Land leben und ich kann niemandem vertrauen. Mir kann jeden Moment auch etwas passieren.«229 Der Film geht zudem, wenn auch kurz, auf verschiedene Formen der migrantischen Selbstorganisation und des Widerstands ein, benennt Forderungen, zeigt Kämpfe um politische Partizipation – konkret um die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft sowie um das kommunale Wahlrecht für die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migrant_innen – und ihre wütenden Demonstrationen nach den Morden.230 Auch schlägt er einen Bogen in die Gegenwart der NSU-Morde: Hier geht die Dokumentation auf die überwiegend von People of Color und Migrant_innen besuchten Demonstrationen ein, die unter dem Motto »Kein zehntes Opfer« nach der Ermordung Halit Yozgats 2006 in Kassel und in Dortmund stattfanden und zeigt einen Ausschnitt aus der Rede Semiya S¸ims¸eks bei der offiziellen Gedenkfeier für die vom NSU Ermordeten.231

226 Aufgeführt werden hier der rassistische Brandanschlag auf eine geplante Wohnunterkunft für Geflüchtete in Köln-Wesseling am 29. Juli 1991; der rassistische Brandanschlag auf eine Wohnunterkunft für Geflüchtete in Saarlouis 19. September 1991, bei der Samuel Kofi Yeboah (im Film wird seine Name nicht genannt) getötet und zwei seiner Mitbewohner schwer verletzt wurden; das Pogrom von Hoyerswerda; der Brandanschlag von Hünxe vom 3. Oktober 1991 auf das Haus, in dem die Familie Saado untergebracht war; das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen; und der rassistische Brandanschlag in Mölln. Ebd., TC:10:15. 227 Forderungen nach der Beschränkung von Zuwanderung, insbesondere von Geflüchteten, wurden, wie der Film kritisiert, Anfang der 1990er Jahre von allen großen Parteien zum Wahlkampfthema gemacht, gelte es doch, von den Problemen mit der deutschen Vereinigung abzulenken. Ebd., TC:09:51f. Auch die Rolle der Medien wird hierbei kritisiert. Eingeblendet wird etwa das vielzitierte Spiegelcover »Ansturm der Armen«, das ein von Menschen überquellendes Boot zeigt. Ebd., TC: 08:35. 228 »Doch statt klare Signale gegen Fremdenfeindlichkeit zu senden, zu signalisieren: ›Wir verurteilen diese Taten und stehen auf der Seite der Unschuldigen‹, findet Deutschland am 26. Mai 1993 eine andere Antwort auf die Anschläge und die Asyldebatte. Der Bundestag verabschiedet eine Grundgesetzänderung«, heißt es dazu etwa. Ebd., TC: 15:35. 229 Ebd., TC: 01:47. 230 Ebd., TC: 16:03. 231 Ebd., TC: 31:47ff.

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Weitere Themen sind der Prozess gegen die Täter von Solingen sowie die Frage nach dem lokalen Umgang mit dem Gedenken an den Mordanschlag.232 Bei einem Brandanschlag auf eine Wohnunterkunft für Geflüchtete in Lübeck starben am 18. Januar 1996 zehn Menschen: die 17-jährige Christine Makodila, der 3-jährige Jean-Daniel Makodila Kosi, die 8-jährige Christelle Makodila Nsimbia, die 7-jährige Nzusanna Bunga, der 17-jährige Rabia El Omari, der 5-jährige Legrand Makodila Mbongo, die 14-jährige Miya Makodila, die 27-jährige Monica Maiamba Bunga, der 27-jährige Sylvio Bruno Comlan Amoussou und die 32-jährige FranÅoise Makodila Landu. 38 weitere Personen wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die Überlebenden, ihre Anwältin und ihre Unterstützer_innen sind sicher, dass es sich um einen rassistischen Mordanschlag handelte: Denn am Tatort wurden drei Neonazis mit frischen »Brand- und Sengspuren an den Händen, im Gesicht, an den Haaren, an den Wimpern« aufgegriffen, was, so die Anwältin Gabriele Heineke, »die typischen Brandlegerspuren« sind.233 Während die drei Neonazis trotz des Geständnisses, das einer der mutmaßlichen Täter ablegte, aber später unter polizeilichem Druck widerrief, niemals angeklagt wurden, fokussierten die Ermittlungen auf Safwan E. , der mit seiner Familie ebenfalls in der Wohnunterkunft lebte.234 Doch auch nachdem E. in mehreren Prozessen freigesprochen wurde, sind die Ermittlungen gegen die drei Neonazis bis heute nicht wieder aufgenommen worden. Wegen der Fokussierung auf E. als Täter sowie einer Reihe von Ungereimten und Fehlern wie verschwundenen Asservaten oder der fehlerhaften Übersetzung eines Abhörprotokolls zulasten Safwan E.s. wurden die Ermittlungen massiv kritisiert.235 Als nach der Selbstenttarnung des NSU-Komplexes weitere ungeklärte Morde an Migrant_innen und People of Color erneut untersucht werden sollten, wurden die seit Jahrzehnten ungehörten Forderungen nach einer Wiederaufnahme der Ermittlungen zum 232 Ein Gedenken findet zur Drehzeit dezentral und auf private Initiative statt. Zwar wurde 2012 ein kleiner Platz nach dem Geburtsort der Familie in Mercimek-Platz umbenannt, am Tatort existiert ein Gedenkstein und es wurden dort Bäume für die Ermordeten gepflanzt. Der bereits 1994 gefasste Ratsbeschluss, ein zentrales Mahnmal zu errichten, wurde jedoch bis heute nicht umgesetzt. Der Film endet an der vom Jugendsozialarbeiter Heinz Siering errichteten Gedenkskulptur. Sie zeigt zwei Figuren, die ein Hakenkreuz auseinanderreißen, umgeben von Ringen. Jede_r, die oder der hier ein Zeichen setzten will, kann einen weiteren Ring hinzufügen, in dem ihr/sein Name eingraviert ist. Gemeinsam mit Siering schweißt auch Güldane zwei Ringe für ihren Vater und sich selbst an die Skulptur. Ebd., TC: 35:58. 233 Gabriele Heineke zit. n. Link 2015.Die mutmaßlichen Täter wurden jedoch wieder laufengelassen und erst am folgenden Tag verhaftet. Dies, obwohl einer von ihnen »wegen der Schändung eines jüdischen Friedhofs mit Hakenkreuzen« von der Polizei gesucht wurde. Haymatlos 2016: TC: 22:15f. 234 Vgl. dazu: Die Brandnacht. Panorama – die Reporter (R: Birgit Wärnke, Lukas Augustin, NDR 2016, 30:35 min), TC: 25:13. 235 Vgl. dazu etwa Link 2015. Vogel 2013.

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Lübecker Brandanschlag wieder lauter. Gabriele Heineke, damals Anwältin Safwan E.s, fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.236 Nicht zuletzt, weil wie auch Proasyl bemerkt, die damaligen Ermittlungen »an die Struktur des Staatsversagens in Sachen NSU – zum Teil bis in die Details« erinnerten.237 In ihrem 2003 erschienenen Dokumentarfilm Tot in Lübeck. Hintergründe des Brandanschlags auf das Lübecker Asylbewerberheim (D 1996) setzen sich die Regisseurinnen Lottie Marsau und Katharina Geinitz kritisch mit den Ermittlungen auseinander. Ein weiteres Thema des Films sind die Kämpfe der Überlebenden um ein Bleiberecht in Deutschland. Mit den Dreharbeiten begannen sie bereits kurz nach dem Brandanschlag. Ihr Film lief auf einigen Festivals und in Programmkinos und wird bis heute im Rahmen thematischer Filmabende wie der Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag des Brandanschlags gezeigt.238 Im Zentrum des in Schwarz-Weiß gedrehten Films steht der Justizskandal: Entlang thematischer Blöcke sind Ausschnitte aus Interviews mit dem zuständigen Staatsanwalt Rex und Safwan E.s Anwältin Gabriele Heineke zu einem Schlagabtausch montiert. Zwischendurch vergegenwärtigen immer wieder Bilder der Brandruine, Tatort des zehnfachen unaufgeklärten Mordes, den Gegenstand des Disputs. An einer Stelle begleitet die Kamera etwa Willy Williams vom Verein der Afrikaner in Deutschland Sokoni e.V., der Überlebende des Brandanschlags betreute, bei einer Begehung der Brandruine. Auf der Soundspur gemahnen Kinderstimmen, die ein Lied in einer afrikanischen Sprache singen, an das an diesem Ort vernichtete Leben, insbesondere an die ermordeten Kinder und Jugendlichen. In einer Reihe von Detailaufnahmen wird der Brandschutt in den Blick genommen: Halb verbrannte Turnschuhe und Wasserpistolen. »Alles tot, schade, schade«, kommentiert Williams und hebt Dinge auf, die er im Schutt findet. »Wie kann das passieren in einem demokratischen Land? Besonders in einem zivilisierten Land, der Bundesrepublik Deutschland? Traurig, traurig, sehr, sehr traurig. Sechs Menschen von einer Familie, eine Frau und fünf Kinder. Die sind alle total verbrannt. Schade, schade.«239

Der Film positioniert sich nicht nur durch diese Art der Montage. Dem Kabarettisten Dietrich Kittner wird die Rolle des Kommentators zugewiesen. Teils als Voice-over, teils in Form von Ausschnitten aus seinen Liveshows sind immer wieder Passagen aus seinem Programm zu sehen und zu hören, das »nach den Motiven der Lübecker Moritat’« eine beißend ironische Schauerballade über 236 237 238 239

Vogel 2013. Pro Asyl 2016. Kommunales Kino Hannover o. J. Tot in Lübeck, TC: 18:13ff.

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deutsche Zustände ist.240 Sie rahmen und kommentieren das Gezeigte. In den ersten beiden Strophen eines am Anfang des Films platzierten Liedvortrags stellt Kittner etwa eine Verbindung zwischen den rassistischen Pogromen und Brandanschlägen der Nachwendejahre und dem durch Sprachbilder wie Brandgeruch und Ascheregen evozierten Holocaust her : »Ach Deutschland, du kaltes Vaterland, wie bist Du wieder groß geworden. Und was da wieder auferstand, übt brüderlich mit Herz und Hand schon wieder sich im Morden. Vergangenheit schlägt nicht zu Buch, es will auf ’s Land sich legen, der böse alte deutsche Fluch, ein neuer scharfer Brandgeruch und feiner Aschenregen. Die Asche, die zu Boden fällt aus Asylantenheimen, erschreckt schon wieder mal die Welt. Was man für Deutschlands Größe hält, scheint wieder aufzukeimen. Noch der gemeinste Mörder preist sich stolz als Goethes Erben. Wo deutsch man eine Tugend heißt, da ist’s dann wohl der deutsche Geist, an dem da Menschen sterben. Erst wenn die Schande ruchbar ward, beginnen sie zu kuschen und wohl geübt nach deutscher Art, damit des Landes Ruf gewahrt, die Sache zu vertuschen. Dann kriechen sie im ersten Schock mit kühnen Hypothesen der Lüge untern weiten Rock und finden einen Sündenbock und sind es nicht gewesen.«241

Waren zu seinen ersten Strophen Impressionen vom Hafen, der Stadt sowie der umliegenden Gegend zu sehen, wird während der letzten Zeile der zu Unrecht beschuldigte Safwan E. gezeigt. In starker Aufsicht, welche die asymmetrischen Machtverhältnisse zusätzlich verdeutlicht, sieht man den »Sündenbock« mit gefesselten Händen umgeben von Beamten in einen Polizeibus steigen.242 Bezogen die historischen Moritatensänger hinter ihnen angebrachte Bildtafeln, auf denen die besungenen Ereignisse dargestellt wurden, in ihre Darbietungen ein, steht auch Kittner bei seinen Liveperformances zuweilen vor einer Leinwand, auf die das Besungene projiziert wird. Auf ihr sieht man etwa Impressionen vom Lübecker Weihnachtsmarkt und Ausschnitte aus Interviews mit Staatsanwalt Rex.243 Obwohl auch die Version der Staatsanwaltschaft viel Raum bekommt, bezieht der Film in Bild und Ton dabei eindeutig Stellung aufseiten der durch Anwältin Heineke Vertretenen. Zum 20. Jahrestag widmeten sich die TV- JournalistInnen Birgit Wärnke und Lukas Augustin in der Reportage Die Brandnacht (Panorama – die Reporter, NDR 2016, 30:35 min) dem zehnfachen unaufgeklärten Mord: »Fragen müssen gerade deshalb weiter gestellt werden«, so auch ihr Fazit. Exemplarisch für die rassistische Stimmung, die auch 1999 vielerorts herrschte, ist die sogenannte Hetzjagd von Guben, bei welcher der 28-jährige 240 241 242 243

Ebd., TC: 05:48. Ebd., TC: 05:27. Ebd., TC: 07:35f. Ebd., TC: 21:03.

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Farid Guendoul in den Tod getrieben wurde. Sie sorgte auch in der überregionalen Presse für Schlagzeilen.244 Nach einem Streit in einer Diskothek machte eine Gruppe Neonazis und rechter Jugendlicher mit mehreren Autos Jagd auf Schwarze und People of Color. Als ihnen Farid Guendoul und seine Begleiter Khaled B. und Isaaka K. zufällig über den Weg liefen, nahmen sie die Verfolgung auf. Khaled B., der in eine andere Richtung gerannt war, wurde bewusstlos geschlagen. Währenddessen versuchten Farid Guendoul und Isaaka K. sich in einem der umstehenden Wohnblöcke in Sicherheit zu bringen. In Todesangst schlugen sie die Glastür am Eingang ein und krochen durch die zersplitterte Eingangstür. Dabei verletzte sich Farid Guendoul an der Kniearterie. Die beiden wagten nicht, Bewohner_innen um Hilfe zu bitten, und Farid Guendoul verblutete im Treppenhaus.245 Derweil versuchte Isaaka K., Hilfe zu holen. Ein couragierter Taxifahrer brachte ihn, nun ebenfalls verfolgt von den Angreifern, in eine Kneipe. Diese wurde daraufhin von dem Mob belagert, der K.s Herausgabe forderte. Anstatt etwas gegen die Rassisten zu unternehmen, führte die hinzugerufene Polizei Isaaka K. in Handschellen ab. So gefesselt musste er über Stunden auf der Wache ausharren. Dass die Polizei zudem die rechte Motivation der Angreifenden verleugnete, bezeugt Fritz Burschel, der die verantwortlichen Polizeibeamten interviewte.246 Für Diskussionen sorgte ebenfalls der sich über 80 Tage hinziehende Prozess gegen elf der Täter, die wegen »fahrlässiger Tötung, Körperverletzung, Nötigung und Volksverhetzung« angeklagt waren.247 »Die drei Rädelsführer [unter ihnen Alexander Bode, der noch heute in der NPD aktiv ist, J. S.] erhalten Jugendstrafen von zwei bis drei Jahren. In sechs Fällen spricht das Gericht Bewährungsstrafen aus und in zwei weiteren Fällen sogenannte Verwarnungen«, fasst die Opferperspektive e. V. die Urteile zusammen.248 Erst seit 2009 wird Farid Guendoul von der Bundesregierung als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.249 In seiner TV-Dokumentation Das kurze Leben des Omar Ben Nui (RBB 2000, 244 Vgl. dazu etwa: Jansen 2009. van der Kraats 2002. 245 Vgl. dazu: Opferperspektive e. V. 2016b. Prozessbeobachtungsgruppe Guben 2001. Klei 2013. 246 So entgegnete der Gubener Polizeichef Klaus Lippmann Burschel bei einem Interview : »Wer redet denn von rechten Gewalttätern?« Lippmann zufolge stünde demnach »weniger Fremdenfeindlichkeit im Vordergrund als allgemeine Gewaltbereitschaft«. Dies obwohl, wie Burschel anführt, »die Täter aus den Autos rassistische Sprüche und ›Türken raus‹ gebrüllt haben. Obwohl sie schon Stunden vor der Tat einen Afro-Deutschen und seine Freundin mit dem Tode bedroht und eine weitere Frau mit rassistischen Sprüchen beleidigten und mit Bier besudelten.« Burschel 1999. 247 Opferperspektive e.V. 2016 b. 248 In einem seitens der Nebenklage initiierten Revisionsverfahren wurde das Urteil geändert, dass nun Körperverletzung mit Todesfolge lautete. Das Strafmaß blieb davon jedoch unberührt. Vgl. dazu: Beck 2009 S. 3. 249 Jansen et al. 2012.

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45 min) verschafft Kristian Kähler ausschließlich der Seite der Betroffenen, der Angehörigen und Freunde_innen Gehör.250 Eine männliche Erzählstimme führt auch durch diesen Film. Unterbrochen von Informationsblöcken zu Tatablauf, der Situation vor Ort nach der Tat – hier wird etwa die wiederholte Beschädigung der Gedenktafel thematisiert – sowie dem Prozess gegen die Täter basiert die Dokumentation auf Interviews mit Guendouls Angehörigen und Freund_innen. Kähler begleitet Malik Guendoul, den Bruder des Getöteten, der auf der Suche nach Antworten aus Algerien angereist ist, zum Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder seines Bruders. In Algerien befragt er Farid Guendouls Mutter sowie Freund_innen, die von seinem Tod lediglich durch die algerischen Medien erfuhren, zu dessen Fluchtgründen, Plänen und Zielen.251 In Deutschland erinnern sich Guendouls Partnerin sowie Kahled B. und Isaaka K. an den Getöteten, den sie als positiven, freundlichen Menschen beschreiben. Bei ihren Schilderungen der Tatnacht kommt auch die rassistische Behandlung Isaaka K.s durch die Polizei zur Sprache: »Auf der Wache sah ich Isaaka gefesselt in Handschellen. Das war ein Schock. Leute töteten uns draußen und jetzt saß er da gefesselt, die Jacke voller Blut. Ich dachte, er sei zusammengeschlagen worden. Ich dachte: ›Es ist vorbei, die Polizei ist genau wie sie‹«, erinnert sich Khaled B., der auch darauf sein Gefühl der ständigen Bedrohung zurückführt und sich ein halbes Jahr kaum nach draußen traute.252 Wegen weiterer rassistischer Angriffe wurde Isaaka K. in eine andere Unterkunft verlegt, wo er sich jedoch ebenfalls nicht sicher fühlte. Thematisiert werden auch Isaaka K.s und Kahled B.s aktuelle Lebensbedingungen als Asylbewerber. Wegen des Verbots zu arbeiten sind sie zur Untätigkeit verdammt. Sie schildern ihre sich gleichenden Tage. Die Kamera zeigt die beengte Unterkunft. Am Beispiel von Isaaka K.s Freund Jimmy geht Kähler jedoch auch auf aktiven Widerstand gegen Rassismus ein sowie die Bedingungen, unter denen dieser stattfindet. Jimmy wirbt unter den Geflüchteten in seiner Unterkunft für die Beteiligung an einer Gedenkdemonstration für Farid Guendoul. Da sich Guben in einem anderen Landkreis befindet, müssen hierfür eigens Urlaubsscheine beantragt werden, denn Jimmy und seine Mitstreiter_innen unterliegen der Residenzpflicht. Isaaka K. indes will nicht mit nach Guben fahren, wo er wiederholt angegriffen und bedroht wurde.253 Der Film endet mit Malik Guendouls Enttäuschung über die milden Gerichtsurteile – der Bruder des Getöteten war extra zur Urteilsverkündigung abermals aus Algerien angereist.

250 Farid Guendoul nannte sich in seinem Asylverfahren »Omar ben Nui«, da er bei einer etwaigen Abschiebung in sein Herkunftsland Algerien bedroht war. Das kurze Leben des Omar ben Nui, TC: 01:36. 251 Ebd., TC: 06:30f. 252 Ebd., TC: 28:13f. 253 Ebd., TC: 45:00f.

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Rechte Gewalt seit 2000 Am 4. Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den »Aufstand der Anständigen« aus.254 Dem vorausgegangen waren ein Brandanschlag auf die Alte Synagoge in Düsseldorf in der Nacht auf den 3. Oktober 2000, der Mord an dem ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter Alberto Adriano am 13. Juni 2000 in Dessau sowie ein Bombenanschlag auf eine Gruppe überwiegend jüdischer Migrant_innen aus den ehemaligen GUS-Staaten am 27. Juli 2000, ebenfalls in Düsseldorf.255 »Am 12. Juli 2002 wurde er [Marinus Schöberl, JS] in einer Wohnung in Potzlow (Brandenburg) von drei Rechten geschlagen und über mehrere Stunden gequält. Da er Sprachschwierigkeiten hatte und sein Hip Hop-Outfit nicht ihrem Geschmack entsprach, betrachteten die Täter ihn als ›minderwertig‹. Sie zwangen ihn, sich ›Jude‹ zu nennen und prügelten auf ihn ein. Schließlich brachten sie ihn zu einem ehemaligen Schweinestall, wo sie die Misshandlungen fortsetzen. Nach vier Stunden war Schöberl tot. Seine Leiche wurde im November 2002 in einer Jauchegrube gefunden«,256

heißt es auf seiner Tafel in der Wanderausstellung Opfer rechter Gewalt vom Verein Opferperspektive, die derzeit an 169 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 erinnert. Während die meisten der Menschen, die getötet wurden, weil sie gemäß rechter Feindbilder kein Recht zu leben haben, (fast) vergessen sind, machte der grausame Mord an Marinus Schöberl bundesweit Schlagzeilen. »Abgegrast von der Boulevardpresse und den auf Aktualität zielenden Programmen der Fernsehanstalten, [war] ›Potzlow‹ zum ›(Medien-)Fall‹ geworden«, wie Ursula v. Keitz feststellt. Das Dorf »wurde als Raum wie als Sozietät nach Bekanntwerden des Mordes zum beliebten Areal der konzeptuellen Transformation nichtfilmischer Realität in vorfilmische Realitäten.«257 Der Tat, ihren Umständen, Ursachen – und seit Neustem auch dem weiteren Lebensweg des Haupttäters Marcel Schönfeld – sind mehrere Filme und Theaterbearbeitungen gewidmet.258 Die meiste Aufmerksamkeit erhielten die medialen Bearbeitungen durch die RegisseurInnen Tamara Milosevic (Zur falschen Zeit am falschen Ort Kapitel 5.2) und Andres Veiel Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt Kapitel 5.1. Kamil Taylans Dokumentation Der Tag, als der Mob die Inder hetzte (HR 254 255 256 257 258

Gerhard Schröder zit. n. Selkens, Wilde 2001. Ebd. Opferperspektive e. V. o. J. a. v. Keitz 2009, S. 143. Jüngstes Beispiel ist die an der Filmuniversität Babelsberg entstandene Dokumentation Nach Wriezen (R: Daniel Abma, D 2012), die ihre Premiere im November 2012 auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival hatte. In ihr werden drei junge Männer nach ihrer Haftentlassung aus der JVA Wriezen porträtiert. Einer von ihnen ist Marcel Schönfeld, der als Haupttäter für den Mord an Marinus Schöberl zu 8,5 Jahren Jugendhaft verurteilt wurde.

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2008) unternimmt den Versuch, die als »Hetzjagd von Mügeln« bekannt gewordenen rassistischen Angriffe in der sächsischen Stadt zu rekonstruieren. In der Nacht zum 19. August 2007 wurden bei einem Volksfest sieben People of Color angegriffen und durch die Stadt gejagt. Sie flüchteten sich in eine Pizzeria, die von einem der Angegriffenen geführt wurde. Dort mussten sie, belagert von einer rassistische und rechte Parolen wie »Ausländer raus« und »Hier regiert der nationale Widerstand« skandierenden Menschenmenge, über Stunden in Todesangst ausharren. Als der Mob versuchte, die Pizzeria zu stürmen, Scheiben und Glastüren einschlug, traf eine Hundertschaft der Leipziger Polizei ein und verhinderte Schlimmeres. In seiner Dokumentation zeigt Taylan Hintergründe und Dynamiken auf und benennt die Verantwortlichen. Er widmet sich den Konsequenzen des Angriffs, thematisiert die offiziellen und medialen Reaktionen sowie die Folgen für die Betroffenen. Großen Raum nehmen insbesondere die fehlerhaften polizeilichen Ermittlungen ein. Lang ist die im Film präsentierte Liste der polizeilichen Versäumnisse: Hat tatsächlich keiner der beiden Kleinstadtpolizisten, die bis zum Eintreffen der Leipziger Polizei versuchten, den Mob vor der Tür der Pizzeria in Schach zu halten, jemanden erkannt, wie sie später aussagen werden? Warum hat die Leipziger Hundertschaft noch nicht einmal die Personalien der Angreifer aufgenommen? Mögliche Zeug_innen wurden entweder gar nicht vernommen oder nur unzureichend befragt. Ein männlicher Erzähler führt durch diese Dokumentation. Er fragt kritisch nach, kommentiert, ordnet Aussagen der Interviewpartner_innen ein und weist auf deren Leerstellen und Widersprüchlichkeiten hin. Der Film positioniert sich dabei deutlich aufseiten der Angegriffenen. In Gesprächen mit ihnen wird deutlich, dass sie sich in der Stadt nicht mehr sicher fühlen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass bis zur Fertigstellung des Films kaum ein Täter ermittelt ist.259

Die Morde des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) Nach aktuellem Kenntnisstand begann das neonazistische Terrornetzwerk Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) am 11. September 2000 seine Serie rassistischer Morde und Bombenanschläge. Am Vormittag dieses Tages wurde das mutmaßlich erste Opfer, Enver S¸ims¸ek, an seinem Blumenstand in Nürnberg erschossen. Am 19. Januar 2001 detonierte eine Bombe in der Kölner Probsteigasse und verletzte die 19-jährige Tochter einer aus dem Iran eingewanderten Ladeninhaberfamilie schwer.260 Am 13. Juni 2001 wurde Abdurrahim Özüdog˘ru

259 Vgl. Stegmann o. J. b. 260 Der in einer Christstollendose deponierte Sprengsatz war einen Monat vorher von einem

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in seiner Änderungsschneiderei in der Nürnberger Südstadt erschossen. Kurz darauf, am 27. Juni 2001, wurde Süleyman Tas¸köprü in dem Obst- und Gemüseladen in Hamburg-Bahrenfeld, in dem er arbeitete, erschossen. Am 29. August 2001 wurde Habil KılıÅ in seinem Münchner Laden erschossen. Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut an seinem Arbeitsplatz, einem Döner-Imbiss in Rostock, erschossen. Am 9. Juni 2004 wurden 22 Menschen bei einem Nagelbombenanschlag auf die von Migrant_innen aus der Türkei geprägte Keupstraße in Köln teilweise schwer verletzt. I˙smail Yas¸ar wurde am 9. Juni 2005 in seinem Nürnberger Imbiss erschossen. Theodorus Bulgarides wurde am 15. Juni 2005 in seinem kürzlich gemeinsam mit einem Freund in München eröffneten Schlüsseldienstgeschäft erschossen. Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubas¸ık in seinem Dortmunder Kiosk erschossen. Wenige Tage später, am 6. April, wurde Halit Yozgat in seinem Internetcaf8 in Kassel erschossen. Tief in den Institutionen, Strukturen und Wissensbeständen der deutschen Gesellschaft verwurzelter Rassismus war die Grundlage dafür, dass der NSU über ein Jahrzehnt unbehelligt von staatlicher Verfolgung morden konnte, denn sowohl die ermittelnden Behörden als auch die Medien vermuteten die Mörder unter den Opfern und ihren Angehörigen selbst, denen Verstrickungen ins Milieu des organisierten Verbrechens unterstellt wurde.261 In einer »Gesamtanalyse der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund« kam etwa der hauptverantwortliche Fallanalytiker Udo Haßmann im Jahr 2007 – also vier Jahre vor der Selbstenttarnung des NSU – zu folgendem Schluss: »Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normenund Wertesystems verortet ist.«262 Wie Ays¸e GüleÅ schreibt, wurden »die Opfer durch diese Ermittlungsarbeit zu Täter_innen gemacht mit der Folge, dass sie nicht nur kriminalisiert sondern auch innerhalb ihrer Communities isoliert wurden. Die Presse folgte unkritisch der Logik der damaligen Ermittlungsbehörden und schlug mit Begriffen wie ›Dönermorde‹, ›Drogenmorde‹, ›kriminelle Milieumorde‹ in die gleiche rassistische Kerbe hinein.«263

Rechte Tatmotive wurden hingegen kaum in Betracht gezogen. Semiya S¸ims¸ek, Tochter des in Nürnberg ermordeten Enver S¸ims¸ek beschreibt in ihrem Buch Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater eindrücklich

jungen Mann im Laden zurückgelassen worden, der Zeuginnen zufolge weder Bönhard noch Mundlos gleiche. Probsteigasse 2014. 261 Vgl. GüleÅ 2015, S. 202f. 262 Haßmann zit n.: Migazin 2012. 263 GüleÅ 2015, S. 203.

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die traumatischen Folgen, welche die falschen Verdächtigungen für die betroffene Familie hatten.264 Während sich die meisten der seit 2012 entstehenden TV-Produktionen vornehmlich mit den TäterInnen beschäftigen, stehen die Angehörigen der Ermordeten in der Dokumentation Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin (R: Matthias Deiß, Eva Müller, Anne Kathrin Thüringer, ARD 2011, 42 min) im Zentrum. Der Titel des Filmes bezieht sich auf die mediale Berichterstattung, in der die Ermordeten ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft innehatten, oftmals als solche bezeichnet wurden. »Wer waren die Opfer und wie leben ihre Familien heute?«, ist die leitende Frage. In der Südosttürkei besucht das Filmteam die Angehörigen von Mehmet Turgut, die vom Auffinden der MörderInnen ihres Sohnes erst aus den türkischen Medien erfuhren.265 In Deutschland stehen die Angehörigen von Enver S¸ims¸ek und Mehmet Kubas¸ık im Zentrum. Ein Abschnitt ist auch dem Mord an Mich8le Kiesewetter gewidmet. Alle Angehörigen, so verdeutlicht der Film, litten unter den falschen Verdächtigungen der Ermittlungsbehörden. Während die Eltern Mehmet Turguts mit Mutmaßungen über Blutrache in Angst und Schrecken versetzt wurden, spekulierte man im Fall Kiesewetters über Verbindungen in die extreme rechte Szene. Ein eindrückliches Zeugnis des institutionellen Rassismus legt der 2016 erschienene Dokumentarfilm Der Kuaför aus der Keupstraße/ Keupstrasse’ deki Kuaför (R: Andreas Maus, D 2016) ab. Im Zentrum des zweisprachigen Films stehen betroffene Geschäftsleute aus der Keupstraße in Köln, insbesondere die Brüder Özcan und Hasan Yıldırım, vor deren Friseurladen die Nagelbombe detonierte.266 Da der damalige Innenminister Otto Schily einen rechtsterroristischen Hintergrund bereits einen Tag nach der Tat ausschloss und die Täter stattdessen im ›türkischen Türstehermilieu‹ vermutet wurden, standen die beiden Friseure im Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Schließlich bedienten sie auch »gut gebaute Männer«, die entsprechenden Kreisen zugerechnet wur264 In ihrer Rede bei der offiziellen Gedenkfeier für die Ermordeten bilanzierte sie: »Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch: mein Vater, ein Krimineller, ein Drogenhändler. Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden? Und können Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine ohnehin schon betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?« S¸ims¸ek, Schwarz 2013, S. 214. 265 Der Film deckt zudem auf, dass Mehmet Turgut zuerst unter falschem Namen betrauert wurde: Wegen eines Fehlers der türkischen Behörden war der Ermordete in Deutschland als Yunus Turgut bekannt. 266 Eine Reihe von Gesprächen und Interviews werden auf Türkisch geführt. Zudem sind die auf deutsch geführten Passagen untertitelt.

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den. Die auf rassistischen Unterstellungen und entsprechenden falschen Verdächtigungen basierenden Verhöre nehmen im Film großen Raum ein. Wohl auch, um die Betroffenen nicht in die gleiche traumatische Situation wie damals zu bringen, reinszenierte Andreas Maus die polizeilichen Befragungen der Brüder und ihrer Frauen auf Grundlage der realen Verhörprotokolle mit SchauspielerInnen. Die realen Betroffenen, die Brüder Yıldırım sowie ihr Freund Abdullah Özkan, der von den herumfliegenden Nägeln in den Hals getroffen wurde, erinnern sich in Interviews und Gesprächen untereinander an den Moment der Detonation sowie die folgenden polizeilichen Befragungen.267 Die Betroffenen diskutieren auch über das Birlikte-Fest mit seinen 70.000 Besucher_innen zum 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags. Der in diesem Rahmen stattfindende Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck im Friseurladen, der von einem Tross Medienleuten und massiven Sicherheitsvorkehrungen flankiert wurde, wird im Film ebenfalls gezeigt. Während Özcan Yıldırım diesen nach den Jahren, in denen er zu Unrecht verdächtig wurde, als Genugtuung empfindet, sieht Abdullah Özkan das gesamte Birlikte-Fest als Farce an. Anstelle symbolischer Gesten und staatsoffizieller Einladungen nach Berlin hätte er sich konkrete Unterstützung erhofft. Immer wieder bewegt sich die Kamera durch die Keupstraße, zeigt in einer Reihe Detailaufnahmen Bilder des dort verrichteten Handwerks: Pailletten und Glitzerstaub werden auf Schmuckdecken geklebt, Gebäck mit Butter bestrichen. Somit ist der Film zugleich ein liebevolles Porträt der mittlerweile wieder lebhaften Straße, die in der Zeit nach dem Anschlag mit massiven Umsatzeinbußen zu kämpfen hatte. »Es gab zwei Bomben: Die eine, die hatte diese Wucht mit den Nägeln, die da drin waren. Und die andere war einfach die Justiz, das System, der Rechtsstaat, der nicht funktioniert hat. Das war eigentlich die größere Bombe. Die, die Vertrautheit nach außen und auch in der Straße kaputt gemacht hat«, bringt Geschäftsfrau Meral S¸ahin die Folgen für die Anwohner_innen und Geschäftsleute auf den Punkt. Das kollektive Trauma, das die Straße durchlebte, visualisiert Maus, indem er die betroffenen Geschäftsleute innehalten lässt: Erstarrt zu Tableaus blicken sie in die Kamera. Die Zeit scheint eingefroren zu sein, wie in dem Moment, in dem sich alles veränderte, dem Moment der Detonation der Bombe. Direkt blicken sie die Zuschauenden an, erwidern damit auch den (medialen) Blick von außen auf die Straße. Nicht zuletzt zeugen diese Aufnahmen auch von der hohen Kooperationsbereitschaft der Betroffenen, von einem großen Vertrauen, das sie dem Filmteam entgegenbrachten. Dieses kam, wie 267 Dass er etwa direkt nach dem Anschlag gefragt wurde, ob er versichert sei, habe ihn sehr verletzt, erzählt Özcan Yıldırım.

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Maus bei der Berliner Premiere berichtete, auch dadurch zustande, dass er sich nicht auf das Sammeln von O-Tönen beschränkte, sondern über einen längeren Zeitraum dabeiblieb, zuhörte und den Beteiligten zudem keine falschen Versprechungen machte. Der Kuaför aus der Keupstraße veranschaulicht die Möglichkeiten des Mediums Film, denjenigen ein Forum zu bieten, deren Stimmen so lange überhört wurden – und werden: Özcan Yıldırım, der nicht als Zeuge zum NSU-Prozess geladen war, bekommt durch den Film die Möglichkeit, seine Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Film trägt somit auch zu seiner öffentlichen Rehabilitierung bei. Mit dem NSU-Komplex beschäftigte sich jüngst auch die von der ARD produzierte Spielfilmtrilogie Mitten in Deutschland, die erstmals im April 2016 ausgestrahlt wurde. Während sich deren erster Teil Die Täter: Heute ist nicht alle Tage (R: Christian Schwochow, ARD 2016) mit der Radikalisierung Beate Tschäpes und ihrem Umfeld auseinandersetzt, nehmen die beiden anderen Teile die Perspektive der Angehörigen der Ermordeten (Die Opfer: Vergesst mich nicht, R: Züli Aladag, ARD 2016) sowie diejenige der Sicherheitsbehörden (Die Ermittler: Nur für den Dienstgebrauch, R: Florian Cossen, ARD 2016) in den Blick.

3.1

Erinnerung an drei Todesopfer rechter Gewalt: Die TV-Reihe Tödliche Begegnung (HR 2001)

Die dreiteilige Sendereihe Tödliche Begegnung widmet sich in jeweils 45minütigen Porträts Norbert Plath, Carlos Fernando und Klaus-Peter Beer, die in der Zeit zwischen 1995 und 2000 Todesopfer rechter Gewalt wurden. Der weiße heterosexuelle Arbeits- und Wohnungslose, der Schwarze heterosexuelle Elektriker sowie der weiße homosexuelle Busfahrer wurden getötet, weil sie in neonazistische Feindbilder passten. Dass Sozialdarwinismus, Rassismus und Schwulenfeindlichkeit jedoch weit über die Grenzen der extremen Rechten verbreitet sind, wird in den drei Filmen ebenfalls thematisiert. Ausgangspunkt für die drei Dokumentationen war laut der beteiligten Filmemacherin Gabriele Jenk die Jansen-Liste – die Chronik, die im Jahr 2000 im Tagesspiegel und in der Frankfurter Rundschau erschien und 93 Todesopfer rechter Gewalt seit der deutschen Vereinigung auflistete.268 »Diesen Menschen setzt die Reihe ohne Pathos und erhobenem Zeigefinger 268 »Also die Idee war es so, es gab damals einen Riesenartikel in der Frankfurter Rundschau, glaub ich, wo die Opfer von rechter Gewalt mal aufgelistet worden sind. Und wir wollten mit dieser Reihe den Opfern sozusagen ein Denkmal setzen. Ein filmisches Denkmal. Und wir haben dann einfach mal geguckt: Rechte Gewalt richtet sich nicht nur gegen Ausländer, sondern halt eben auch gegen Homosexuelle oder überhaupt; wenn man denen einfach nicht in den Kram passt«, so Gabriele Jenk. Opferperspektive e. V. o. J. a.

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ein Denkmal – durch die Darstellung ihres Lebens bis zum Tag X. Im Mittelpunkt der Dokumentarfilme stehen die Opfer, deren Leben durch die zufällige ›tödliche Begegnung‹ brutal ausgelöscht wurde; der Täter spielt bewusst eine Nebenrolle. Die Filme holen die Opfer rechtsradikaler Gewalt aus der Anonymität; Menschen werden erkennbar, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann. Drei Schicksale werden nachgezeichnet, drei Leben rekonstruiert, die so grausam endeten«, heißt es im März 2012 in einer Ankündigung zur Wiederholung der 2001 entstandenen Sendereihe, die wenige Monate nach der Selbstenttarnung des NSU erneut im Nachtprogramm der ARD ausgestrahlt wurde.269 Auf die Frage, warum in ihrer Dokumentation Das Leben des Klaus-Peter Beer, dem dritten Teil der TV-Reihe, kaum Informationen über die Täter vermittelt würden, antwortete Gabriele Jenk: »Das war uns ganz wichtig, dass die Täter nicht im Vordergrund stehen, sondern die Opfer. Ich bin der Meinung, dass so viel über die Täter berichtet wird: Woher sie kommen und wie ihre Kindheit war, und wie furchtbar alles war, und Arbeitslosigkeit.(…) Darüber wurde unglaublich viel berichtet. Aber über die Toten, über die Opfer von diesen rechten Tätern wurde eigentlich ja nie berichtet. Und da fand ich schon, dass es mal an der Zeit war, einfach nochmal aufzuzeigen auch den Tätern oder deren Mitläufern – die haben Mitläufer, die im Geheimen nicken, am Stammtisch, auch in den Schulen, die sagen: ›Das sind ja tolle Kerle gewesen‹ – die sich natürlich nicht öffentlich dazu äußern, aber die so ’ne gewisse Zustimmung oder Tolerierung haben, dass man denen einfach mal zeigt: ›Wisst ihr, was ihr gemacht habt? Ihr habt nicht nur einen Menschen getötet, sondern ihr habt auch die Angehörigen getötet, letztendlich.‹ Denn die Angehörigen, die müssen damit umgehen, die müssen mit einem Verlust fertig werden.«270

Wegen der konsequenten Fokussierung auf die drei Todesopfer rechter Gewalt nimmt Tödliche Begegnungen eine Sonderstellung in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema ein. Die Annäherung an die Ermordeten erfolgt über Interviews mit ihren Freund_innen und Angehörigen, Fotos und – soweit zugänglich und vorhanden – weiteren Quellen aus ihrem Nachlass, etwa den Zeichnungen Norbert Plaths, Szenen aus Carlos Fernandos Hochzeitsvideo sowie den autobiografischen Texten Klaus-Peter Beers.271

269 Die drei Teile wurden am 1. März 2012 (Das Leben des Norbert Plath), am 7. März 2012 (Das Leben des Carlos Fernando) und am 14. März 2012 (Das Leben des Klaus-Peter Beer) jeweils um 02:10–02:55 Uhr im hr- Fernsehen gezeigt. 270 Opferperspektive e. V.: o. J. a. 271 Eine weitere Besonderheit der TV-Reihe besteht darin, dass in zwei Teilen Taten in den Blick genommen werden, die sich in Westdeutschland ereigneten: Carlos Fernando und KlausPeter Beer wurden in Bayern getötet.

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Teil 1: Das Leben des Norbert Plath (R: Sabine Mieder, Eckhard Mieder, HR 2001) »Am 27. Juli 2000 wurde er in Ahlbeck (Mecklenburg-Vorpommern) von vier jungen Rechten zu Tode geprügelt. Die Täter gaben an, ›Asoziale und Landstreicher hätten im schönen Ahlbeck nichts zu suchen‹«, heißt es auf seiner Tafel in der Wanderausstellung Todesopfer rechter Gewalt.272 Norbert Plath, der in Ahlbeck aufwuchs, suchte seinen Heimatort jeden Sommer auf. Die Täter schlugen ihn an seinem Schlafplatz, hinter der Kirche, tot. Dort hatte er sich hingelegt, weil sein alter Freund, bei dem er sonst übernachtete, nicht zu Hause war. Seit 2000 wird Norbert Plath offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.273 Obwohl Menschen, die aus sozialdarwinistischen Motiven angegriffen und ermordet werden, die zweitgrößte Gruppe unter den Todesopfern rechter Gewalt bilden, gibt es kaum abendfüllende Filme oder längere TV-Reportagen, die an sie erinnern. Das Leben des Norbert Plath bildet hier eine der wenigen Ausnahmen. »Kein erhobener Zeigefinger, kein Gründeln in der Psyche der Täter, keine wohlfeilen Warnungen. Stattdessen wird mit detektivischer Sorgfalt das Leben des Norbert Plath bis zu seinem Tode rekonstruiert«, lobt Arno Frank die Dokumentation in der tageszeitung.274 Sie beginnt mit einer knappen Schilderung des Mordes, genauer mit einer Radionachricht über den Fund seiner übel zugerichteten Leiche hinter der Ahlbecker Kirche. Im Bild sind dazu Badegäste am Strand zu sehen. Einen Eindruck von der Brutalität der Tat vermittelt im Anschluss daran der Gerichtsmediziner, der sich zu den tödlichen Verletzungen äußert, die Plath zugefügt wurden. Der ermittelnde Kriminalkommissar bescheinigt den Tätern einen »Hang zur rechten Szene«. Ihre Äußerungen über Plath während der Vernehmung – etwa, »Assis sind Dreckvolk«, »die liegen dem Steuerzahler auf der Tasche« und »haben in Ahlbeck nichts zu suchen« – lassen keinen Zweifel an ihrer Tatmotivation. Begleitet von Impressionen des malerischen Kurorts Ahlbeck beginnt eine weibliche Erzählstimme nun mit der Rekonstruktion von Plaths letztem Tag. Parallel dazu, abgesetzt durch bedrohliche Hintergrundmusik, widmet sich ein weiterer kurzgehaltener Erzählstrang in knappen Worten seinen Mördern Gunnar Döge, Roger F., Paul J. und Sven S.275 Die beides begleitenden Ansichten von Ahlbeck verweisen auf dessen doppelte Rolle als Kur- und Tatort. Einen ähnlichen Effekt haben Ausschnitte aus dem Programm des Lokalsenders Radio MV, dessen gutgelaunte Jingels, Werbespots 272 273 274 275

Opferperspektive e. V.: o. J. a. Jansen et al. 2015 a. Frank 2001. Im Film wird nur der volle Name Gunnar Döges genannt.

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und Sommerhits an mehreren Stellen des Films zu hören sind. Montiert zwischen Plaths Biografie, holen sie die Handlung in die Gegenwart des Tages vor der Tat zurück, Zeitansagen evozieren eine Art Countdown bis zu seiner Ermordung. Zudem stellt das im Film zitierte Radioprogramm einen Bezug zu Plath selbst her, der immer ein Miniradio bei sich trug. Im Zentrum des Films steht jedoch seine Lebensgeschichte, die durch die Erinnerungen der Menschen, die ihn kannten und mochten, rekonstruiert wird. Zu Wort kommen hier alte Schulfreunde, ein ehemaliger Lehrer, frühere Arbeitskolleg_innen, Freunde und Bekannte. Historisches Bildmaterial aus DDR-Tagen vermittelt einen Eindruck vom Ahlbeck seiner Jugend, die Plath dort als Sohn des Betreibers eines Kultur- und Freizeitheims verlebte. In den Erzählungen seiner Jugendfreunde, seinen Zeichnungen – er malte schneebedeckte Bäume in der Dunkelheit – und Liedtexten wird das Bild eines oft unglücklichen Jugendlichen evoziert. Chronologisch werden nun weitere Stationen seines Lebenswegs rekapituliert: Die Ausbildung zum Bäcker, der Umzug nach Hoyerswerda und die dortige Gründung einer Familie. Wegen Alkohols und kleinerer Diebstähle kam er mit dem Gesetz in Konflikt, vor allem mit dem Paragrafen 249 des DDR-Strafgesetzbuchs, der die »DDR vor Asozialen schützen soll, vor sogenannter Arbeitsbummelei. Wer regelmäßig blau macht, muss bis zu zwei Jahren ins Gefängnis«,276 erläutert die Erzählerin. Die hier anklingenden Parallelen zwischen Gesetzestext und den Motiven der Täter werden jedoch nicht weiter ausbuchstabiert. Insgesamt sechs Jahre musste Plath im Gefängnis verbringen. Eine weitere Station seines Lebenswegs ist Holzdorf, wohin er nach seiner Haftentlassung geschickt wurde. Hier heiratete er erneut und wurde abermals Vater. Bei seiner Arbeit als Melker in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) bekam er »Stress«, weil er wegen seines Alkoholkonsums oft verschlief. Sein Fernweh, er träumte von »Amerika«, ließ ihn mit Trinkkumpanen die Republikflucht versuchen; als sie nüchtern wurden, kehrten sie jedoch um. »Den Zorn ihrer Frauen und Kinder haben sie verdient. Der Zorn des Staates ist Willkür ohne Gerichtsverhandlung«, kommentiert die Erzählerin. Von nun an durfte Plath den Bezirk nicht mehr verlassen: »Die Welt ist nun noch kleiner geworden.« Dies änderte sich erst, als er 1986 als Gleisbauer zu arbeiten begann. Nun konnte er mit der Bahn zumindest durch die DDR reisen. 1989 reiste er über Prag aus. Als Konditor arbeitete er im pfälzischen Bad Neuenahr. Auch dort hielt er es nicht lange aus. Seine letzte Adresse war eine Unterkunft für Wohnungslose im hessischen Hanau. Der Film endet mit einer Schilderung der tödlichen Begegnung mit seinen Mördern durch Tatzeug_innen sowie erneuten detailreichen Erläuterungen des Gerichtsmediziners zur Todesursache, die nun, nachdem die Zu276 Das Leben des Norbert Plath (R: Sabine Mieder, Eckhard Mieder, HR 2001), TC: 17:00.

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schauenden einen Eindruck von Norbert Plaths Leben und Persönlichkeit bekommen haben, umso beklemmender wirken: Aus dem Toten hinter der Kirche, von dem in den anfänglichen Radionachrichten die Rede war, ist ein Individuum geworden.

Teil 2: Das Leben des Carlos Fernando (R: Samuel Schirmbeck, HR 2001) Carlos Fernando wurde am 25. August 1998 im bayrischen Kolbermoor von einem Rassisten niedergeschlagen. Er schlug mit dem Kopf auf dem Pflaster auf, fiel ins Koma und starb, ohne nochmals erwacht zu sein, sechs Wochen später. Bereits seit 2000 wird Carlos Fernando offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.277 Samuel Schirmbeck beschränkt sich in seiner Dokumentation Das Leben des Carlos Fernando auf Fernandos Zeit in Deutschland. Fernando war seit 1987 als Vertragsarbeiter im Pneumant Reifenwerk Neubrandenburg beschäftigt, wo er wegen seiner besonderen Sprachkenntnisse – er sprach fließend Portugiesisch, Englisch und Deutsch – eine herausgehobene Stellung innehatte. Nach der Wiedervereinigung 1989 verlor er wie die meisten Vertragsarbeiter_innen seinen Job und sollte gezwungen werden, das Land zu verlassen. »Auch die Ausländer sind Wendeverlierer«, kommentiert die Erzählerin, die auch hier das verbindende Element des Films darstellt.278 Der letzte Abschnitt der Dokumentation ist seinem Leben in der neuen Wahlheimat Bayern, dem Mord sowie Fragen nach dem dortigen Gedenken an ihn gewidmet. Großen Raum nehmen die Statements von Angehörigen, Freund_innen, ehemaligen Nachbar_innen, Kolleg_innen und Bekannten ein. Sie erinnern sich an Fernando als freundlichen, offenen Menschen, der gerne in Deutschland lebte, Gewalt verabscheute und Kinder, insbesondere seine Tochter Tracy, liebte. Gezeigt werden zudem verschiedene Orte in Kolbermoor und Neubrandenburg, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben: So etwa das Neubrandenburger Viertel Monkeshof, in dem er mit seiner damaligen Ehefrau Ramona lebte. Hier stand er unter dem Schutz ihrer großen Familie, die ihn sowohl vor rassistischen GewalttäterInnen als auch vor der drohenden Abschiebung schützte. Zwei alte Freunde führen das Kamerateam durch die nun verwilderte Brache seiner ehemaligen Stammkneipe, dem »Monki«. Nahe seinem ehemaligen Arbeitsplatz gelegen, war sie Treffpunkt Schwarzer und weißer Kolleg_innen. Hier lernte er auch Ramona kennen.279 277 Jansen et al. 2015a. 278 Das Leben des Carlos Fernando (R: Samuel Schrimbeck, HR 2001), TC: 08:07. 279 Nicht zuletzt, weil die mit dem Paar befreundete Wirtin Viola beherzt gegen Rassismus

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Zwischen die Gespräche über alte Zeiten wird immer wieder ein Foto des Tatorts geschnitten, auf dem Fernandos lebloser Körper zu sehen ist. Unterlegt von bedrohlicher Musik vergegenwärtigt es den Mord in seiner Grausamkeit.280 Die Dokumentation beginnt mit malerischen Impressionen einer bayrischen Landschaft.281 Aus dem Off hört man dazu Ramona über Carlos Fernandos Fantasie von einem Leben in Bayern sprechen, das er als »heile Welt« mit Bergen und Blumenkästen vor den Häusern imaginierte: Träume, die bald mit seinem gewaltsamen Tod endeten. Ausführlich wird nun der Tatablauf rekonstruiert. Carlos Fernandos hatte sich am Tattag mit ebenfalls Schwarzen Freunden in der Cubana-Bar verabredet. Weil letztere kurzzeitig das Auto der Freundin von Roman Glass, dem späteren Täter, zugeparkt hatten, geriet der Rassist in Rage. Ohne Vorwarnung stürzte er sich auf die drei Schwarzen. Die Angegriffenen schildern, wie Glass sie unter rassistischen Beleidigungen schlug und durch die Stadt jagte. Fernando, der von den Ereignissen draußen nichts mitbekommen hatte, wollte sich auf den Heimweg machen. Vor der Bar traf er auf seinen Mörder, der nun auch ihn niederschlug. Die Motivation des Täters wird im Film eindeutig benannt: »Tatmotiv : Fernando ist Schwarz und Schwarze sind für den Roman Glass ›Drecksn*.‹«282 Der Schilderung des Tatablaufs folgt ein Zeitsprung zu seiner Hochzeit. Die Eheschließung 1992 war auch deshalb ein so zentrales Datum für Fernando, weil so seine drohende Abschiebung verhindert werden konnte. Ausschnitte aus einem Homevideo von der Zeremonie auf dem Standesamt sowie der anschließenden Feier zeigen ihn ausgelassen und glücklich. Von Schikanen seitens der Ausländerbehörde, die ihm das dreimonatige Visum bis zur aufenthaltssichernden Hochzeit verweigerte, erzählt Ramona an einer späteren Stelle. Sie versteckte ihren Mann kurzerhand bis zum Hochzeitstermin, um ihn vor der Abschiebung zu schützen.283 Im Vergleich zu den von Arbeitslosigkeit und rassistischem Terror geprägten Nachwendejahren erscheinen die Lebensbedingungen der ehemaligen Vertragsarbeiter_innen zu DDR-Zeiten im Film als eindeutig besser.284 Zwar ist von

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einschritt – auch gegen den ihrer Mitarbeitenden, die sich zuweilen weigerten, Schwarze Gäste zu bedienen. Zwei alte Freunde führen das Kamerateam durch die nun verwilderte Brache. Das Leben des Carlos Fernando, TC: 20:33. Das Leben des Carlos Fernando, TC: 14:40 und 23:26. Ebd., TC: 02.23. Da es sich bei dem Wort »Neger« um eine rassistische Beleidigung handelt, habe ich mich dagegen entscheiden, sie im Fließtext meiner Arbeit zu reproduzieren. Auch in Zitaten verwende ich die Schreibweise N*. Vgl.: Arndt 2015b, S. 653. Das Leben des Carlos Fernando, TC: 11:30. Am Ort des ehemaligen Reifenwerks, das 1990 abgerissen wurde, arrangiert das Filmteam ein Wiedersehen zwischen Fernandos ebenfalls Schwarzen Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen Elisario Mondlane und Pedro Mangale sowie ihren ehemaligen weißen Vorgesetzten: »Rassismus – für sie damals ein Fremdwort« kommentiert die Erzählerin (Ebd.,

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»stumpfen Blicken in der Stadt« die Rede, die Fernando und seiner weißen Partnerin bereits damals entgegenschlugen, doch wird Rassismus, wie die Erzählerin und alle Interviewten einhellig berichten, erst nach der deutschen Vereinigung zum massiven Problem.285 Hierzu kommen auch zwei Rassismuserfahrene – Elisario Mondlane und Pedro Mangale – zu Wort. Die beiden Arbeitskollegen Fernandos erzählen, dass sie sich als Schwarze zu DDR-Zeiten wesentlich freier bewegen konnten als nach der Wiedervereinigung. Dass seitdem bestimmte Orte »gefährlich« wurden, weil »Neonazis Jagd auf Ausländer« machten, merkt auch die Erzählerin bei einer Ortsbegehung an einem Badesee an – früher ein beliebter Treffpunkt der Freunde.286 Insgesamt beschreibt sie die Stadt Neubrandenburg als »gefährliches Pflaster für Ausländer«. »Rund tausend Jugendliche vor allem aus der Siedlung Dazelberg und Umgebung streifen regelmäßig durch die Innenstadt bis zum Seeufer hinunter auf der Suche nach Fremden, die sie anpöbeln und verprügeln können.«287 Nicht nur, dass rassistische TäterInnen hier verharmlosend als »Jugendliche« benannt werden: Immer wieder bezeichnet die Erzählerin negativ von Rassismus Betroffene als »Ausländer« und »Fremde« – ungeachtet dessen, wie lange sie schon in Deutschland leben. Wenn auch ungewollt reproduziert der Film damit ihre Stigmatisierung als »nicht dazugehörig«. Dass Weiße, die diesen ebenfalls weißen »Jugendlichen« nicht persönlich bekannt waren, nicht um ihr Leben fürchten mussten – zumindest sofern sie nicht durch ihr Outfit als politische Gegner_innen markiert waren – wird nicht erwähnt.288 Der letzte Teil des Films ist Fernandos Leben in Kolbermoor gewidmet. Auch

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TC: 8:39). Kaderleiter Herr Krimse erinnert sich, dass es im Reifenwerk verglichen mit heute »keine Probleme« mit »Fremdenfeindlichkeit« gegeben hätte. Deutsche und Mosambikaner hätten im gleichen Wohnheim gewohnt und in den gleichen Brigaden gearbeitet. Dass dies jedoch in vielen DDR-Betrieben nicht die Regel war, die Vertragsarbeiter_innen meist separiert von der lokalen Bevölkerung untergebracht waren und unter dem Rassismus ihrer weißen Arbeitskolleg_innen leiden musste, zeigt der Film Viele habe ich erkannt. In Das Leben des Carlos Fernando räumt Kaderleiter Herr Doherr lediglich ein, dass es »sowas« – gemeint ist Rassismus – »möglicherweise vereinzelt auch« gegeben habe. Es sei aber nicht »laut ausgesprochen« worden. Die Schwarzen Kolleg_innen werden hierzu jedoch nicht befragt. Das Leben des Carlos Fernando, TC: 06:21. Ebd., TC: 13:80. Ebd., TC: 15:18. Das Ausmaß rassistischer Gewalt wird auch in weiteren Interviews thematisiert: Wie Herr Ebert, Fernandos ehemaliger Betriebsarzt erzählt, sei auch Fernando in einer Diskothek angegriffen worden und habe bleibende Schäden am Auge davongetragen. Auch schildert Ebert, dass »ausländische Rettungsärzte bei ihren Einsätzen von militanten rechtsradikalen Jugendlichen attackiert und an der Arbeit gehindert« wurden. (Ebd., TC: 06:21). Es sei für sie zeitweise unmöglich gewesen, Einsätze zu fahren. Von rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen gegen ihren Schwarzen Ehemann und sie selbst berichtet auch Ramonas weiße Freundin Viola. (Ebd., TC: 18:50).

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dort ist Rassismus weit verbreitet. In der hauptsächlich von Weißen bewohnten Kleinstadt erntet Fernando als einer der wenigen Schwarzen »argwöhnische Blicke«.289 12 Prozent haben hier die Republikaner gewählt.290 Im Cubana Pilz Pub fand Fernando einen der wenigen Orte, an dem er sich wohl fühlte. Auch Roman Glass, sein späterer Mörder, war hier Stammgast. Wie in den anderen Teilen der TV-Reihe bleibt der Täter auch in diesem Film eine Randfigur. Wenn er in knappen Worten charakterisiert wird, liegt das Hauptaugenmerk auf seiner Arbeitslosigkeit: Er »bleibt aber immer bei denen ganz unten, die die Schuld für ihre Lage stets bei anderen suchen, besonders gerne bei Ausländern. In diesen Milieu widerspricht Glass niemand, wenn er über die ›Bimbos‹ herzieht.«291 Sein Rassismus erscheint als Reaktion auf seine prekäre Lebenssituation. Die von der städtischen Mittelschicht ausgehenden Ausschlüsse betreffen sowohl Opfer als auch Täter : »Kolbermoor : Die alte Industriestadt gibt sich als mittelständisches Dienstleistungszentrum und der Mittelstand braucht keine wie den Glass, der nichts taugt, oder den Ausländer Carlos Fernando, der nicht dazugehört und auch so aussieht.«292

Im Bild werden dazu zwei schwarz bemalte Nippesfiguren gezeigt, die mit ihren übertrieben großen Lippen, ihren servilen Posen und stereotypen Tätigkeiten rassistische Karikaturen verkörpern – eine der Figuren spielt Gitarre, die andere, ein Diener im roten Livree, bietet ein Tablett dar und blickt von schräg unten wohl zu seinem weißen Herren empor. Durch die Bild-Ton-Montage wird Fernandos Ausgrenzung in Kolbermoor in den Kontext dieser kolonial-rassistischen Traditionen gestellt: Die Karikaturen versinnbildlichen und zitieren, die in der bayrischen Kleinstadt kursierenden und tradierten rassistischen Vorstellungen von Schwarzen Menschen. Der letzte Abschnitt kritisiert den juristischen und städtischen Umgang mit der Tötung des Carlos Fernando. So wurde die Tat trotz Glass’ nachweislichem Rassismus nicht als Mord verurteilt.293 Zwar erkannte das Gericht Glass’ Rassismus an, wertete diesen jedoch nicht als tatauslösend. Hauptmotiv sei das kurzzeitig blockierte Auto seiner Freundin gewesen. Dies moniert der Anwalt der Nebenklage.294 Skizziert wird auch die Debatte um einen Gedenkstein in Kolbermoor – Fernando selbst wurde in Friedrichshafen beerdigt. Die Kom289 290 291 292 293

Ebd., TC: 24:26. Ebd., TC: 29:17. Ebd., TC: 27:23. Ebd., TC: 29:35. Angeklagt wird Roman Glass wegen Mordes aus niederen Beweggründen, rassistischer Motivation und nichtigem Anlass. (Ebd., TC: 39:54). Dies bestätigt auch die Staatsanwältin, die dessen Pöbeleien gegen Schwarze ausführlich zitiert. 294 Er sagt: »Dass dieser Täter hier rassistische beziehungsweise ausländerfeindliche Motive hatte, scheint mir klar zu sein«. Ebd., TC: 39:00.

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mentatorin rügt, dass der Bürgermeister den von einigen Bürger_innen geforderten Gedenkstein für Fernando mit Gedenkzeichen für die Opfer von Verkehrsunfällen gleichsetzt. Kritisiert wird zudem die schließlich von der SPDFraktion auf dem Friedhof angebrachte Gedenktafel, auf der jeglicher Hinweis auf das Tatmotiv fehlt. Wie an mehreren Stellen deutlich wird, legt der Film seiner Analyse einen Rassismusbegriff zugrunde, der diesen vor allem als individuelles Vorurteil fasst, das an unterschiedlichen Orten und Zeiten mehr oder weniger offen und gewalttätig ausagiert wurde. Dass Rassismus darüber hinaus ein in die Strukturen und Institutionen der Gesellschaft eingeschriebenes Machtverhältnis ist, wird nicht reflektiert. Auch wenn der Film rassistische Vorurteile kritisiert, werden rassifizierende Einteilungen in Eigen- und Fremdgruppe sowohl in einigen Interviews wie auch in den Kommentaren der Erzählerin reproduziert: Negativ von Rassismus Betroffene werden von der Erzählerin immer wieder als »Ausländer« und »Fremde« bezeichnet. Zudem tituliert sie Schwarze als »Farbige«. »In seinen Verwendungsweisen ist der Begriff in Deutschland klar rassistisch konnotiert und trägt zu einem Prozess der Alterisierung bei, d. h. in der Verwendung trägt er dazu bei, Menschen als ›anders‹ zu markieren und somit, gewollt und/oder ungewollt, ab- und auszugrenzen«, kritisiert Adibeli NdukaAgwu.295 In diesem Geiste endet die Dokumentation mit einer Anekdote Ramonas. Sie erzählt in liebevoll-amüsiertem Ton, dass Fernando sich selbst als »echten Deutschen« bezeichnete. »Und natürlich haben unsere Freunde dann immer gelacht und haben gesagt: ›Gut, Nando, du bist unser echter Deutscher‹.«296 Dass seine Selbstdefinition eher als skurril denn als selbstverständlich wahrgenommen wurde, zeigt, wie weit völkische Vorstellungen vom Deutschsein selbst unter weißen Menschen, die es eigentlich »gut« meinen, verbreitet sind.

295 Nduka-Agwu (2010). 127. Auch die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, und ADEFRA (Schwarze Frauen in Deutschland) weisen darauf hin, dass es keine ›Farbigen‹ gebe. Der Begriff sei ein »sprachliches Relikt aus der Kolonialzeit«, der in Deutschland seit den 1950ern als Ersatz für das als rassistisch erkannte N-Wort verwendet werden würde. »Aufgrund der stark kolonialen Konnotationen, wegen des klar erkennbar euphemisierenden Hintergrunds (es ist verdächtig, wenn jemand »Schwarz« beschönigen möchte, ganz als sei dies etwas Unangenehmes), weil ›farbig‹ in der Kontinuität biologistischer Rassenkonstruktionen steht, und auch weil dies impliziert, dass ›weiß‹ die Norm sei, sollte auf den Begriff verzichtet werden.« Der braune Mob e. V.2006, S. 5. 296 Das Leben des Carlos Fernando, TC: 42:31.

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Teil 3: Das Leben des Klaus-Peter Beer (R: Gabriele Jenk, HR 2001) Im dritten Teil der TV-Reihe geht es um einen schwulenfeindlichen Mord. In der Nacht auf den 7. September 1995 wurde der 48-jährige Klaus-Peter Beer von zwei stadtbekannten Neonazis im bayrischen Amberg erst zusammengeschlagen und dann in den Fluss Vils geworfen, wo er ertrank. Tatauslösend war, dass Beer sich vor seinen späteren Mördern, Richard L. und Dieter M., als schwul geoutet hatte. Kurz vor der Begegnung mit Beer hatten die beiden einen Mann, den sie für schwul hielten, bedroht und beleidigt und deshalb Hausverbot in einer anderen Kneipe bekommen.297 Sie zogen weiter ins Musikcaf8, wo sie auf ihr späteres Opfer, Klaus-Peter Beer, trafen. Der Hass auf Lesben und Schwule, allgemein auf queere Lebensweisen, die Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit infrage stellen, ist elementarer Bestandteil rechter Ideologie. Wie Fabian Virchow ausführt, gilt Homosexualität in der extremen Rechten »nicht nur als Angriff auf die Norm der Heterosexualität, sondern auch als Verstoß gegen die Maxime ›völkischer Bevölkerungspolitik‹«.298 Dennoch erkennt die Bundesregierung Klaus-Peter Beer bis heute nicht als Todesopfer rechter Gewalt an. In der Dokumentation Das Leben des Klaus-Peter Beer wird das Tatmotiv klar benannt: »Ihr Motiv : Klaus-Peter Beer war homosexuell«.299 Auch der dritte Teil der Sendereihe geht nur am Rande auf die beiden Täter ein, über die zu erfahren ist, dass sie »seit Jahren der rechtsradikalen Skinheadszene in Amberg« angehören.300 Anstatt Schwulenfeindlichkeit lediglich der extremen Rechten zuzuschreiben, thematisiert der Film deren weite Verbreitung in der sogenannten Mitte der Amberger Gesellschaft. Das Leben des Klaus-Peter Beer beginnt mit einem Tagebucheintrag des Ermordeten: »Ich werde es schon noch beweisen, dass ich etwas bin, ein Dichter, ein Denker, ein Mann, von dem man sagen wird, den kannte ich, der war etwas ganz Besonderes. Bis dahin übe ich mich aber in Demut und lache still vor mich hin«, heißt es hier ; im Bild dazu malerische Aufnahmen der Amberger Kirche. Ein harter Schnitt führt nun ins sterile Weiß der Pathologie, mitten im Raum ein leerer Obduktionstisch. In nüchternem Ton berichtet eine Erzählerin vom 297 298 299 300

Das Leben des Klaus-Peter Beer, TC: 35:49. Virchow 2010, S. 49. Das Leben des Klaus-Peter Beer, TC: 04:22. Ebd., TC: 03:50f. Anlässlich einer 2015 von den Jusos und der Verdi-Jugend organisierten Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag des Mordes wurde auf Verbindungen Amberger Neonazis zum Rechtsterrorismus hingewiesen. Nicht nur sei Amberg Sitz der bayrischen Sektion das Neonazinetzwerks Blood and Honour gewesen, auch habe NSU-Unterstützerin Mandy Struck im Rahmen ihres Engagements für die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG) einem von Beers Mördern Briefe ins Gefängnis geschrieben. Vgl.: Witzgall 2015. Jüttner 2012.

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Auffinden einer unbekannten männlichen Leiche. Einzig die Hintergrundmusik, eine melancholische Melodie, gespielt auf einer Gitarre, schafft hier eine Verbindung. Der Film kontrastiert Beers subjektives Empfinden, seine Wünsche und Ziele mit den gerichtsmedizinischen Praxen nach seinem gewaltsamen Tod. »Aus einem Menschen ist ein Kriminalfall geworden«, wird die Erzählerin wenig später feststellen und im Verlauf der Handlung eine gegensätzliche Bewegung vollziehen: Die Rückverwandlung des Kriminalfalls in das intime Porträt des Klaus-Peter Beer.301 Auch durch den dritten Teil der TV-Reihe führt eine weibliche Erzählstimme, stellt Interviewpartner_innen und Handlungsorte vor, bündelt Fakten und stellt Fragen an Beers Biografie. In Rückblenden wird von seiner einsamen Kindheit und Jugend in der katholischen Kleinstadt Amberg, seinem Umzug nach Frankfurt am Main und seinem dortigen Leben berichtet. Auch nach seinem Umzug in die Großstadt lebte Beer sehr zurückgezogen, haderte mit seiner Einsamkeit und seinen Ängsten. Er arbeitete als Taxifahrer. Wie in den ersten beiden Teilen rekonstruiert auch die Filmemacherin Gabriele Jenk die Biografie des Ermordeten anhand von Interviews mit seinen Angehörigen und Bekannten. Zu Wort kommt hier insbesondere seine Schwester Monika, die Beers engste Bezugsperson war. Sie war die Einzige, der er von seiner Homosexualität erzählte. Mit dem schwulenfeindlichen Mord und der medialen Berichterstattung über diesen ging ein öffentliches Outing Beers einher. Bekannte, mit denen er selbst niemals über seine sexuelle Orientierung gesprochen hatte, erfuhren aus der Presse von dieser. Im Film geben sie an, überrascht gewesen zu sein. Zum Mordgeschehen und dessen Vorgeschichte, der Kontaktaufnahme zwischen Opfer und Tätern, äußern sich zudem Zeugen, sowie Vertreter von Polizei und Gerichtsmedizin. Wie bereits in Das Leben des Norbert Plath wird auch die Schilderung von Beers Biografie immer wieder von einem zweiten Erzählstrang unterbrochen, der seine letzten beiden Lebenstage detailliert rekonstruiert. Beide Stränge kulminieren schließlich im Mord. In diesem letzten Viertel des Filmes wird der Tatabend selbst rekonstruiert. Nach einer knappen Schilderung des Prozesses gegen die Täter, die wegen Totschlags zu Haftstrafen von acht und zwölf Jahren verurteilt werden, thematisiert der Film hier auch das zur Drehzeit nicht stattfindende Gedenken in Amberg.302 Er endet mit einer Fotoserie, die Klaus-Peter Beer in unterschiedlichen Lebensaltern zeigt. Da Beer seit seiner Kindheit Tagebuch schrieb und Gedichte verfasste, konnte 301 Das Leben des Klaus-Peter Beer, TC: 02:32. 302 Im Jahr 2015 nahm erstmals eine Vertreterin der Stadt Amberg an einer von zivilgesellschaftlichen Gruppen organisierten Gedenkveranstaltung teil. Vgl. Witzgall 2015.

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Jenk auf diese Texte zurückgreifen, die dann großen Raum in der Dokumentation einnehmen: Während des gesamten Films ist Beers Perspektive, seine Wahrnehmungen und Gedanken über seine Texte präsent, die von einer männlichen Stimme vorgetragen werden.303 Seine intimen Texte evozieren eine große Nähe und Empathie mit dem Getöteten. Sie werfen jedoch gerade deshalb ethische Fragen nach ihrer Präsentation in einem Film auf: Die Frage nach seiner Zustimmung zu einer Veröffentlichung seiner Texte durch den Film kann posthum nicht beantwortet werden. Dies betrifft vor allem die öffentliche Thematisierung seiner Homosexualität, um deren Geheimhaltung er Zeit seines Lebens so bemüht war. Hier lässt sich jedoch argumentieren, dass sein Outing bereits durch die Berichterstattung über den Mord erfolgte. Nicht zuletzt sind seine Texte ein wichtiges Zeugnis von der Art und Weise, wie sich Heteronormativität, die im schwulenfeindlichen Mord an ihm ihren grausamen Höhepunkt fand, auf sein gesamtes Leben auswirkte. Eine weitere Ebene der Annäherung an Beer besteht in der Musik der von ihm geliebten Sängerin Billie Holiday. Ausschnitte aus ihren Stücken begleiten Aufnahmen seiner Lieblingsorte und erklingen im Hintergrund zu seinen Texten. Um eine Übernahme seiner Perspektive bemüht ist auch die Kameraführung. Immer wieder versucht sie, seinen (möglichen) Blickpunkt nachzuvollziehen. So werden nicht nur die konkreten Orte gezeigt, die er in seinen Tagebucheinträgen beschreibt, sondern wird auch seine Perspektive nachempfunden, die er selbst resigniert als diejenige eines distanzierten Beobachters beschreibt: »Peter, der geborene Zuschauer. Zu mehr reicht es nicht. Nur meine Einsamkeit. Die ist noch ausbaufähig.«304 Wenn etwa von dem einsamen Kneipenbesuch an seinem letzten Abend die Rede ist, werden die dort anwesenden Gäste in einer distanzierenden Halbtotalen gezeigt. Während ein Tagebucheintrag über seine Hemmungen, mit anderen schwulen Männern in Kontakt zu treten, vorgetragen wird, beobachtet die Kamera von weitem über eine Hecke hinweg Männerpaare in einem Caf8: »Wie oft habe ich vor den Lokalen gestanden. War auch mal drin. Aber sobald mich ein Mann freundlich anlächelt, schau ich weg. Verdammt noch mal. Ich Idiot. Die anderen sind alle so mutig und deshalb auch glücklich. Warum kann ich nicht einfach sagen: ›Guten Tag, ich bin Peter und ich bin auch wie ihr‹? Oh, mein Gott, niemals.«305

303 Bereits relativ am Anfang führt die Erzählerin diesen Zugang und die entsprechenden Quellen ein: »Aber es gibt Fotos und es gibt Tagebuchaufzeichnungen. Die Bilder und die Gedanken in den Texten und Gedichten geben den Blick frei auf Momente eines Lebens: Das Leben des Klaus-Peter Beer.« Dazu ist eine Detailaufnahme seiner Manuskripte zu sehen. Das Leben des Klaus-Peter Beer, TC: 02:32. 304 Ebd., TC: 38:41. 305 Ebd., TC: 30:52.

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In Beers Texten und den Kommentaren der Erzählerin entsteht das Bild eines einsamen Menschen, der sich Zeit seines Lebens vergeblich nach Liebe und Partnerschaft sehnte. Auch wegen seiner streng katholischen Sozialisation wagte er es nie, sein Schwulsein offen auszuleben, Männer kennenzulernen und Partnerschaften mit ihnen einzugehen. In frühen Tagebucheinträgen hadert der Teenager Klaus-Peter Beer mit der Entdeckung seines schwulen Begehrens – »Ich kann es nicht. Ich kann nicht glauben, dass ich nicht normal bin. Ich kann mich einfach nicht in Mädchen verlieben. Ich finde Männer einfach schöner und das ist nicht normal. Wie ich mich schäme dafür.«306 Die Beklemmung, die aus diesen Zeilen spricht, wird durch Blicke aus vergitterten Fenstern und Lichtstrahlen, die durch die Ritzen einer hölzernen Scheune dringen, visualisiert. Ein Kreuz hängt an der Decke. Das Umfeld, in dem Beer sich seines gleichgeschlechtlichen Begehrens bewusst wurde, wird als Gefängnis inszeniert. Die Angst, seine Homosexualität könnte bekannt werden, war in seiner Jugend zum »alles beherrschenden Gedanken« geworden.307 Dass diese Furcht im Amberg der frühen 1960er Jahre nicht unbegründet war, beweist nicht zuletzt sein Rauswurf aus der Landwirtschaftsschule, der aus diesem Grund erfolgte. Das repressive Klima, das in der katholischen Kleinstadt herrschte, versucht der Film auch an anderer Stelle visuell erfahrbar zu machen. Zu in schwarz-weiß gefilmten Straßenszenen, die augenscheinlich aus dem Amberg jener Zeit stammen – man sieht grimmig dreinblickende ältere Menschen in traditioneller ländlicher Kleidung zusammenstehen, die Männer tragen Trachten, einige Frauen Kopftücher – wird ein innerer Monolog Beers vorgetragen: »Hoffentlich sieht es mir niemand an. Vor allem wegen meiner Eltern nicht: ›Sieh mal, das sind die Eltern von dem schwulen Peter.‹ Mit Fingern wird man auf sie zeigen«, beschreibt er die befürchteten Reaktionen.308 »Warum hat Peter nie mit seinen Eltern gesprochen? Vielleicht, weil damals Homosexualität noch strafbar war? Paragraph 175 – ein Verbrechen? War Amberg, die katholische Kleinstadt, ein Ort ohne Verständnis?«, fragt die Erzählerin.309 Während seine Eltern, zu Drehzeiten schwer an Alzheimer erkrankt, im Film eine Leerstelle bleiben, wendet sich Jenk auf der Suche nach Antworten an Repräsentanten von Staat und Kirche. Altbürgermeister Franz Prechtl ist »der sicheren Überzeugung, dass es nicht am Milieu lag«.310 Der CSU-Politiker schiebt die Verantwortung allein der Familie zu und mutmaßt, »dass die Erziehung in der Familie vielleicht etwas strenger war, dass er sich nicht zu of306 307 308 309 310

Ebd., TC: 14:50. Ebd., TC: 16:31. Ebd., TC: 17:04. Ebd., TC: 17:20. Ebd., TC: 17:04. Laut Wikipedia war der CSU-Politiker von 1970 bis 1990 Bürgermeister von Amberg. Wikipedia (2015).

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fenbaren wagte«. Schwule habe es hingegen »zu allen Zeiten auch in Amberg gegeben«. – »Man kannte die auch.« Er räumt zwar euphemistisch ein, dass es damals »keine Auszeichnung« war, man nicht gesagt habe – hier bezieht er sich auf Klaus Wowereits berühmtes Diktum – »es ist auch gut so«, aber »Gefahr oder so was brauchte niemand zu fürchten«.311 Das soziale Stigma wird jedoch bereits durch die in seiner Rede implizierte heterosexuelle Norm deutlich: Diejenigen, »die« von ihr abwichen, kannte »man«. Neben dem konservativ-ländlichen Kontext im Allgemeinen thematisiert der Film im Speziellen die Schwulenfeindlichkeit der katholischen Kirche, die auch Beers Leben stark prägte. »Hätte Klaus-Peter Beer bei der Kirche Hilfe gefunden?«, fragt die Erzählerin an späterer Stelle.312 Eindrücklich weist sie darauf hin, dass Schwulenfeindlichkeit auch zur Entstehungszeit des Films 2001 in der katholischen Kirche weit verbreitet war :313 »Wir haben versucht, mit Geistlichen aller Gemeinden über das Verhältnis ihrer Kirche zu Homosexualität zu sprechen. Alle Geistlichen lehnten ab. Stattdessen legte uns ein Pater nahe, den Brief des Apostel Paulus an die Römer zu lesen, den Passus über die Heiden: ›Die Männer haben verlassen den natürlichen Umgang mit dem Weib‹, heißt es da. ›Und haben Mann mit Mann Schande getrieben. Und sie wissen, dass die, die solches tun, nach Gottes Recht des Todes würdig sind.‹«314 Wie tief solche Einstellungen Klaus-Peter Beer prägten, wird auch im weiteren Verlauf des Films deutlich, der seinem einsamen Leben in Frankfurt am Main gewidmet ist. Beeinflusst von seiner konservativen katholischen Sozialisation vermochte er es auch hier nicht, seine Ängste zu überwinden und sein Schwulsein auszuleben. Sehnsuchtsvoll beobachtet die Kamera von weitem Männerpaare im Park.315 Vor diesem Hintergrund ist es um so tragischer, dass er das einzige Mal, dass er sich jemand anderem als seiner Schwester als Schwuler zu erkennen gibt, mit dem Leben bezahlen musste. Er outet sich im Amberger Musikcaf8 vor seinen späteren Mördern. »Er gibt eine Runde nach der anderen aus und zum ersten Mal in seinem Leben erzählt er offen einem Fremden von seiner Homosexualität. 311 Hier bezieht er sich augenscheinlich auf Klaus Wowereits berühmt gewordenen Satz »Ich bin schwul und das ist auch gut so«, den dieser 2001 auf dem Landesparteitag der Berliner SPD äußerte. Reichert 2011. 312 Ebd., TC: 20:33. 313 Mathias Dorbinski und Cathrin Kahlweit skizzieren die offizielle Haltung der katholischen Kirche zu Homosexualität. Sie rufe die Christen zwar auf »Schwulen und Lesben ›mit Achtung, Mitleid und Takt‹ zu begegnen und sich zu hüten, ›sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen‹, wie es im Erwachsenenkatechismus heißt. Aber nur, solange sie keusch leben und keine Homo-Ehe fordern. Denn homosexuelle Handlungen sind für die katholische Kirche Sünde; wer einem Gesetz zustimmt, das einer solchen sündigen Beziehung einen rechtlichen Rahmen gibt, hilft bei der Legalisierung des Bösen.« Dorbinski, Kahlweit 2003, S. 214. 314 Das Leben des Klaus-Peter Beer, TC: 20:37. 315 Ebd., TC: 28:53.

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Er bemerkt nicht, wie einer der Skinheads angewidert reagiert, wie er schon im Lokal überlegt, dem Beer, dem Schwulen, eins auszuwischen.«316 In einem kleinen Park schlugen sie ihn zusammen und warfen den Bewusstlosen in die Vils, wo er schließlich ertrankt. Die malerischen Seelenorte seiner Tagebuchaufzeichnungen sind zu Tatorten geworden, die geliebte Vils gar zum Fundort seiner Leiche, die dort mehrere Tage unentdeckt trieb. In ihrer konsequenten Fokussierung auf die Rekonstruktion der Biografien der drei Todesopfer rechter Gewalt nehmen die Tödlichen Begegnungen eine Sonderstellung unter den Film- und Fernsehproduktionen ein. In allen drei Teilen der Sendereihe gelingt es, den Ermordeten Würde und ein Gesicht zu verleihen, sie somit aus der Anonymität der Opferlisten zu holen. Eindrücklich wird zudem verdeutlicht, dass die jeweiligen Tatmotive – Sozialdarwinismus, Rassismus und Schwulenfeindlichkeit – in weiten Teilen der Gesellschaft, ihren Institutionen und Wissensarchiven verbreitet sind.

316 Ebd., TC: 36:35f.

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Rassismus ist nicht nur das häufigste Tatmotiv bei rechten Gewalttaten, sondern lässt sich als ein die gesamte Gesellschaft betreffendes Machtverhältnis beschreiben. Er findet sich in ihren Institutionen und Strukturen, wo er sich beispielsweise im Asyl- und Ausländerrecht niederschlägt. Er regelt Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen, wie angemessen bezahlter Arbeit und Bildung, konstituiert Wissensbestände in Schulen und Universitäten und reguliert Vorstellungen von Normalität und Abweichung und die daraus resultierenden diskriminierenden institutionellen und individuellen Praxen. Anhand der Filme The Truth lies in Rostock, Herzsprung, Revision, Schwarz auf weiß. Eine Reise durch Deutschland sowie den Arbeiten Mo Asumangs und Michel Abdollahis und weiterer rassismuserfahrener Filmschaffender werde ich untersuchen, wie Rassismus verhandelt wird. Welche Definition des Rassismus sich in den zu analysierenden Spiel- und Dokumentarfilmen aufzeigen lässt, ob er in ihnen als individuelles Vorurteil erscheint, das bei spezifischen Gruppen verortet wird, oder die Filmschaffenden seiner gesellschaftlichen Wirkungsmacht Rechnung tragen.

4.1

The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1993): Reflexionen über das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als Teamarbeit

1993 setzten sich die britischen FilmemacherInnen Siobhan Cleary und Mark Saunders mit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und seinen Ursachen auseinander. In ihrem Film The Truth lies in Rostock rekonstruierten sie den Ablauf der rassistischen Angriffe anhand von Aufnahmen des Geschehens selbst und durch Interviews, die sowohl mit den angegriffenen Vietnames_innen und Rrom_nja, den teilweise mit dem Pogrom sympathisierenden Nachbar_innen, aber auch mit TäterInnen und Politiker_innen geführt wurden. Zentrales Thema

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ist die Frage nach der politischen Verantwortung für die Pogromtage. Größerer Raum wird seiner Vorgeschichte sowie seinen politischen Konsequenzen, der massiven Einschränkung des Asylrechts, eingeräumt. Auch auf die Anfänge der juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse wird eingegangen, allerdings waren die Prozesse gegen die TäterInnen, zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Films im Jahr 1993 noch nicht beendet. The Truth lies in Rostock entstand aus Clearys und Saunders Zusammenarbeit mit kritischen Rostocker_innen aus dem Umfeld des Jugend Alternativ Zentrums (JAZ). Auch wenn diese besondere Kooperation im Film nicht thematisiert wird, lohnt sich gerade im Bezug auf Fragen der Repräsentation ein Blick auf diese Entstehungsgeschichte. Wie ein damals Mitwirkender bei einem Filmgespräch im November 2012 berichtete, wollten die mit den lokalen Gegebenheiten unvertrauten FilmemacherInnen nicht wie die anderen auswärtigen Kamerateams aus einer Außenperspektive berichten.317 Vielmehr interessierten sie sich für die Sichtweisen der Menschen vor Ort. Wie haben sie den Zusammenbruch der DDR erlebt? Wie kam es gerade in der ehemaligen sozialistischen Mustersiedlung Lichtenhagen zu diesem rassistischen Pogrom? Als Cleary und Saunders kurz nach den Angriffen nach Rostock kamen, suchten sie Mitstreiter_innen für ihr Filmprojekt und fanden sie im Umfeld des JAZ, das während der Pogromtage als Anlaufstelle für rassismuskritische Aktive fungierte. Es kam ein Team aus 10 bis 15 Rostocker_innen zusammen. Einer von ihnen, Mathias Meier, den ich für diese Arbeit interviewt habe, bezeichnete das Team »als Spektrum unabhängiger Personen, die ihr Unbehagen über die Zustände vor Ort ausdrücken wollten und entsprechend an einer medialen Aufarbeitung des Pogroms interessiert waren«.318 Die angegriffenen Vietnames_innen seien nicht Teil des Teams gewesen, einige von ihnen hätten jedoch »sehr eng« mit ihm zusammengearbeitet.319 Das im Film verwendete Material stammt stellenweise von ihnen. Die über mehrere Monate andauernde Arbeit am Film erinnert Meier als für beide Seiten gewinnbringend. So sei den Rostocker Teammitgliedern professionelles Filmequipment zur Verfügung gestellt worden.320 Viel entscheidender 317 Filmvorführung im Rahmen der Filmreihe »Rudow zeigt Filme gegen Rechtsextremismus« am 7. November 2012. Das Filmgespräch wurde von mir moderiert. Der Name des Referenten ist bekannt, er bat jedoch darum, diesen zu anonymisieren. Ich nenne ihn im folgenden Mathias Meier. 318 Stegmann 2014: Telefoninterview mit dem Referenten des Filmgesprächs zur Filmreihe »Rudow zeigt Filme gegen Rechtsextremismus« vom 7. November 2012 am 18. Dezember 2014. 319 Ebd. 320 Ebd.: Meier betonte in diesem Zusammenhang, dass der Zugang zu professionellem Filmmaterial, Betakameras und entsprechenden Schnittplätzen damals sehr limitiert gewesen sei.

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sei aber gewesen, dass die Rostocker_innen den gesamten Film aktiv hätten mitgestalten können. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, ihre Sicht einzubringen und ein großes Publikum zu erreichen. Denn die Finanzierung des Projekts habe der britische Privatsender Channel 4 übernommen und die Produktion in über 30 Ländern vermarkten können. In Deutschland wurde der Film 1994 auf 3sat ausgestrahlt.321 Die britischen FilmemacherInnen wiederum hätten vom Wissen und den Netzwerken der lokalen Akteur_innen profitiert. Konkret habe sich die Zusammenarbeit wie folgt gestaltet: In einem ersten Schritt sei gemeinsam entschieden worden, welche Themen wichtig seien. Anschließend sei in Kleingruppen recherchiert worden. In einem nächsten Schritt sei dann diskutiert worden, wie die Fülle an Materialien logisch gegliedert und auf eine TV-gerechte Länge zu bringen wäre.322 Obwohl der Film nie in die Kinos kam, hatte er doch eine beträchtliche Reichweite. Neben der oben erwähnten TV-Ausstrahlung wird er bis heute im Rahmen rassismuskritischer Filmreihen sowie bei Gedenkveranstaltungen zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gezeigt.323

Aufbau und Struktur des Films Der Film arbeitet mit unterschiedlichen Materialien. Neben Bildern der Angriffe selbst sind dies vor allem Interviews mit am Geschehen Beteiligten. Ein Teil der Aufnahmen des Pogroms wurde von den angegriffenen Vietnames_innen und ihren Unterstützer_innen selbst mit Videokameras aufgenommen. In einigen Sequenzen werden zudem Archivaufnahmen verwendet, die etwa den Rostocker Hafen zu DDR-Zeiten oder Ansichten der Altstadt zeigen.324 Diese unterschiedlichen Materialien sind zu einer Collage heterogener Bilder und Aussagen montiert, zusammengehalten von einer weiblichen Erzählstimme. Mit norddeutschem Akzent führt sie uns durch den Film, ergänzt und bündelt Fakten und Hintergrundinformationen. An manchen Stellen ist ihre Wut deutlich zu hören. Der Film bricht so mit dem Gestus des meist männlichen Voice-of-God-Narrators, der als vermeintlich objektive Autorität über den Dingen steht.325 Den roten Faden bildet zudem die Chronologie der Ereignisse. 321 Brandstäter, 2012. 322 Die deutsche Version ist 78 Minuten lang. 323 Anlässlich des 20. Jahrestags des Pogroms verteilte eine vom Rostocker Magazin Stadtgespräche organisierte Initiative 10.000 Exemplare einer DVD mit dem Film an Rostocker Haushalte. Auf dieser DVD befindet sich auch die TV-Dokumentation Wer Gewalt sät – Von Brandstiftern und Biedermännern. Brandstäter (2012). 324 Ein Teil des im Film verwendeten Materials stammt aus den Archiven des ZDF Kennzeichen D, des NDR, Rostock Aktuell sowie ETV. Vgl. The Truth lies in Rostock. TC: 1:17:53ff. 325 Vgl. Nichols 2010, S. 74.

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The Truth lies in Rostock weckt Assoziationen zu der unter dem Label Radical Cinema subsumierten Strömung, die in den 1960er Jahren in den USA entstanden ist und stark von der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Studierendenprotesten gegen den Vietnamkrieg beeinflusst ist. Auch damals ging es den Filmschaffenden darum, den offiziellen Deutungen des Krieges, der »Rassenfrage« und weiteren politisch relevanten Ereignissen die eigenen entgegenzusetzen und auf diese Weise »Gegenöffentlichkeit herzustellen«.326 Der Vergleich drängt sich auf, weil sich The Truth lies in Rostock eindeutig auf Seiten der Angegriffenen positioniert, und damit dem hegemonialen Diskurs widerspricht. Dazu trägt auch seine Formsprache bei, in der Interviews, Archivmaterial und amateurhafte Videoaufnahmen gemischt werden. Betroffene, (Schreibtisch-)TäterInnen und Beifallklatschende: Die Interviewten Die verantwortlichen Repräsentant_innen von Polizei, Stadt und Bundesland werden im ersten Drittel des Films jeweils namentlich vorgestellt. Mehrfach zu Wort kommen hier der Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus, Innensenator Peter Magdanz und Oberbürgermeister Klaus Kilimann. Weitere Politiker_innen und Beamt_innen werden an den relevanten Stellen qua Untertitel eingeführt. Dies gilt auch für alle anderen Interviewpartner_innen. Ihren Standpunkt vertreten auch drei junge Männer, die sich aktiv am Pogrom beteiligten. Nur einer von ihnen, Ole Mende, gibt sich als organisierter Neonazi zu erkennen. Des Weiteren treten eine Reihe von Anwohner_innen und Gewerbetreibenden auf, die sich mehrheitlich von der Gewalt, nicht aber von der Stoßrichtung der rassistischen Ausschreitungen distanzieren. Lediglich zwei der Interviewten äußern ihr Mitgefühl mit den Geflüchteten vor der ZAST und ihrer prekären Situation. Aufseiten der Angegriffenen habenThin, Sprecher der Vietnames_innen, und der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter, der sich ebenfalls im Sonnenblumenhaus befand, die meiste Screentime. Ausführlich äußern sich ein als »Carsten aus Rostock« vorgestellter Unterstützer und Astrid Behlich, Mitarbeiterin der Beratungsstelle für Vietnames_innen. Als Repräsentant_innen der Geflüchteten kommen zwei Frauen und ein Mann zu Wort. Sie werden mit ihren Vornamen als Mimi, Anka und Stojan sowie jeweils als »Flüchtling aus Rumänien« vorgestellt.327 Auf diese Gruppe von Interviewten werde ich noch ausführlich zu sprechen kommen, blieben doch ihre Stimmen und Perspektiven, 326 Beyerle 1991, S. 41. 327 Anka und Stoyans Äußerungen werden auch von Prenzel 2012 und Schmidt 2002 zitiert. Schmidt lobt die MacherInnen von The Truth lies in Rostock dafür, unter den »wenige[n] Medienschaffenden« gewesen zu sein, die »endlich einmal auch mit den Flüchtlingen selbst« geredet hätten. Schmidt 2002, S. 63.

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wie bereits erwähnt, bei der kulturellen Aufarbeitung des Pogroms bis heute weitgehend ungehört. The Truth lies in Rostock bildet hier eine der wenigen Ausnahmen. Weitere Interviewpartner_innen sind Vertreter_innen der DDRBürgerrechtsbewegung und eine antifaschistische Gegendemonstrantin.

Ngyen do Thin

Die mit den verschiedenen Akteur_innen geführten Interviews werden, in kurze thematische Statements unterteilt, über den Film verteilt. Sie werden dabei unterschiedlichen Themenblöcken zugewiesen. Während einiger Interviewpassagen sind die Fragen des Filmteams zu hören.

Die thematische Gliederung des Films Der Film lässt sich in acht Abschnitte unterteilen. In der Exposition wird der Ort der Handlung vorgestellt. Als Ausgangssituation wird auf die von wirtschaftlichem Niedergang und hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnete Situation in Rostock eingegangen, eine Zusammenfassung des Ablaufs des Pogroms gegeben und der Tatort vorgestellt. Ausführlich wird auch die rassistische Stimmungsmache im Vorfeld des Pogroms thematisiert. Neben einer Kritik an der medialen Berichterstattung verweist der Film auf rechte Aktivitäten in der Stadt und die Proteste dagegen. Bei der anschließenden Rekonstruktion des Pogroms selbst wird jeder der Angriffstage in zwei Zeitabschnitte untergliedert.328 Diese acht Abschnitte sind mit Schwarzblenden voneinander abgegrenzt und gleich Kapiteln mit Überschriften versehen. Auf schwarzem Hintergrund sind die entsprechenden Uhrzeiten in weißer Schrift eingeblendet. Die meisten dieser Kapitel dauern etwa 328 »Samstag, 22. August 1992, 11.00–22.00« (The Truth lies in Rostock, TC: 06:08), »Samstag, 22. August 1992, 22.00–6.00« (ebd., TC: 20:45), »Sonntag, 23. August 1992, 16.00–22.00« (ebd., TC: 34:26), »Sonntag, 23. August 1992, 22.00–02.00« (ebd., TC: 45:16), »Montag, 24. August, 11.00–22.00«(ebd., TC: 50:50).

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zwölf Minuten. Sie bestehen aus der Schilderung der Begebenheiten, die sich an den jeweiligen Pogromtagen um das Sonnenblumenhaus ereigneten. Zentrales Thema ist dabei die verzweifelte Situation der Eingeschlossenen, die ohne ausreichenden Polizeischutz sich selbst überlassen waren. Jeder der acht Abschnitte wird zudem durch Hintergrundinformationen ergänzt, die zum einen das Ineinanderwirken von staatlichen Maßnahmen und rechter Gewalt thematisieren.329 Hier wird beispielsweise auf die Vorgeschichte und die Nachwirkungen des Pogroms verwiesen: Rassistische Stimmungsmache im Vorfeld und die Einschränkung des Rechts auf Asyl sowie auf den massiven Anstieg rechter Gewalt als Folge der Pogromtage. Zudem informieren Exkurse über entferntere Themen, die mit dem Pogrom in – wenn auch nicht konkret ausbuchstabierten – Wirkungszusammenhängen stehen. Etwa wird die Deutsche Wiedervereinigung aus Sicht von Vertreter_innen der DDR-Bürgerrechtsbewegung kritisiert, die sich stattdessen demokratische Reformen in der DDR gewünscht hätten, oder die triste Lebensrealität im Flüchtlingslager Gelbensande thematisiert.330 Viele der Ereignisse und Themen werden multiperspektivisch dargestellt. Immer wieder werden Äußerungen der Angegriffenen, der politisch Verantwortlichen sowie der Zuschauenden und AngreiferInnen einander gegenüber gestellt. Etwa folgen auf die Beschreibung der Situation vor der ZAST durch die Erzählstimme Kommentare von Anwohner_innen.331 Sie lassen sich über die Unannehmlichkeiten aus, die sich für sie selbst daraus ergaben.

Der Einsatz von Bildern des rassistischen Pogroms Wie sich Jochen Schmidt erinnerte, der als Teil eines Kamerateams des ZDF mit den Vietnames_innen im brennenden Sonnenblumenhaus eingeschlossen war, trug auch die massive Präsenz von Medienvertreter_innen zur Eskalation bei. »Es war schon auffällig«, so Schmidt, »dass da viele Leute auf der Wiese vor diesem Sonnenblumenhaus waren, viele Kamerateams dort waren. Und das Haus war mit großen Scheinwerfern angestrahlt. Am helllichten Tag, wir reden über den 24. August, so da geht die Sonne doch recht spät unter. Da ist eine Bühne bereitet worden, damals.«332 329 Gleich an drei Stellen zeigt der Film antifaschistische Demonstrationen, die vor (ebd. TC: 04:02.), während (ebd. TC: 45:16.) und am auf das Pogrom folgenden Wochenende (ebd. TC: 41:25.) stattfanden. Das jeweils massive polizeiliche Vorgehen gegen diese wird in einen eklatanten Gegensatz zum gescheiterten Einsatz in Rostock-Lichtenhagen gestellt. 330 Ebd., TC: 19:10. 331 Ebd., TC: 11:54ff. 332 Zu einer ähnlichen Einschätzung der Rolle der Medien kommt auch Gert Monheim. Vgl. Jungk 1996b S.68.

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Wie lässt sich der Spagat bewältigen, über die Ereignisse zu berichten, ohne dabei die Botschaften der TäterInnen, ihre Dominanz- und Ordnungsvorstellungen zu verbreiten und fortzuschreiben? Wo kippt eine Dokumentation der Geschehnisse gar in Komplizenschaft mit den Angreifenden – im Hinterkopf dabei die vielzitierte Macht des Bildes? Schmidts Beobachtungen werfen zentrale Fragen über den medialen Umgang mit Bildern von rechter Gewalt auf. Aufnahmen der rassistischen Angriffe selbst nehmen auch im Film The Truth lies in Rostock großen Raum ein. Bilder der johlenden Menge, aus der Steineund Molotowcocktails geworfen werden, sind an mehreren Stellen mit einem wiederkehrenden musikalischen Leitmotiv unterlegt, das ihren Schrecken hervorhebt: Eine chromatisch absteigende Folge zweier Töne, düster und unheilverkündend, die stellenweise in einem bedrohlichen Grollen verklingen. Als ob die Bilder der eskalierenden Gewalt nicht für sich selbst sprechen würden, werden sie auf der Tonebene zusätzlich als negativ und angsteinflößend markiert.333 Charakteristisch für die Art und Weise, wie Bilder der Ausschreitungen in The Truth lies in Rostock verwendet werden, ist zudem, dass sie wenn, dann nur sehr kurz für sich allein stehen. Sie werden meist auf der Soundspur durch Interviewpassagen ergänzend kommentiert. Die stete Kontextualisierung der Gewaltbilder läuft einem Voyeurismus oder gar einer rechten Vereinnahmung der Aufnahmen zuwider. Neben den Bildern, welche die Angriffe aus einer Außenperspektive zeigen, werden im Film eine Reihe von Aufnahmen verwendet, die während der Angriffe im Haus selbst gedreht wurden. Auf ihnen ist etwa zu sehen, wie die im brennenden Haus Gefangenen versuchen, eine Tür zu einem anderen Gebäudeteil aufzubrechen, um sich vor den immer höher steigenden Bränden zu retten. Drastisch verdeutlichen sie die Situation der Angegriffenen. Dazu hört man Thin aus dem Off berichten, wie die Eingeschlossenen, nachdem sie die erste Tür geöffnet hatten, auf eine zweite, ebenfalls verschlossene Gittertür stießen: »Ich habe vor der Tür gestanden und habe gedacht, so ist das Ende.«334 Sein in nüchternem Ton vorgetragenes Statement wurde über den ebenfalls zu vernehmenden diegetischen Ton – Schläge gegen die Tür, dumpfes Getöse und die Parolen der Angreifenden – gelegt. Neben den Bildern aus dem Inneren des Hauses, die von den Vietnames_innen und ihren Unterstützer_innen selbst mit Videokameras gefilmt wurden, stammt weiteres Material von einem Kamerateam der ZDF-Redaktion Kennzeichen D, das in der Nacht auf den 25. August 1992 ebenfalls im Haus war. 333 An späterer Stelle unterstreicht dieses musikalische Motiv auch die andauernde Gefährdung der Vietnames_innen, die nach ihrer Flucht über das Dach ohne ausreichenden Polizeischutz in einer Turnhalle ausharren mussten. The Truth lies in Rostock, TC: 1:14:49. 334 Ebd., TC: 1:04:36.

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Wie sich Schmidt, der damals Teil dieses ZDF-Teams war, in seinem Buch Politische Brandstiftung erinnert, wollten die Journalisten sich davon überzeugen, dass das Sonnenblumenhaus tatsächlich leer sei, wie Polizist_innen und Politiker_innen behaupteten. Sie fanden sich plötzlich mit den Vietnames_innen im brennenden Haus eingeschlossen.335 Diese Innensicht prägt über weite Strecken auch The Truth lies in Rostock, der an manchen Stellen Szenen aus diesem Beitrag verwendet. Im Film wird die Perspektive der Angegriffenen bereits am Anfang eingeführt: »Während die Behörden die Drohung eines faschistischen Angriffs nicht ernst nahmen, taten es andere sehr wohl. Vietnamesen und Antifaschisten im Wohnheim filmten die Ereignisse«, erläutert die Erzählerin. Zur Bestätigung ihrer Worte werden Bilder von Menschenansammlungen vor dem Haus gezeigt, die aus einem der oberen Stockwerke aufgenommen wurden. Darauf ist Thin mit Kamera zu sehen. Der nächste Schnitt zeigt erneut, was er durch diese sieht: Wie Thin aus dem Off kommentiert, hätten sich zunächst »harmlos aussehende Jugendliche« vor dem Haus versammelt. Im Anschluss daran spricht Unterstützer Carsten von seinem Entschluss, ebenfalls in das bedrohte Haus der Vietnames_innen zu gehen, um »notfalls mithelfen« zu können, aber auch, um die Ereignisse mit einer Videokamera zu »dokumentieren«, sollte etwas »Ernsthaftes passieren«, wovon sie »erst mal ausgegangen seien«.336 Momente, in denen die Kamera – vorausahnend – zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, bezeichnet von Keitz unter Bezugnahme auf Dziga Vertov als »überrumpeltes Leben«.337 Durch solch eine »Überrumplung« werden »die flüchtigen und unwiederholbaren (historischen) Momente in ›Fakten‹« verwandelt.338 Die Figur der Überrumplung lässt sich im Filmmaterial des ZDF-Teams und den Videoaufnahmen der Vietnames_innen und ihrer Unterstützer_innen aufzeigen. Der Einsatz von Videomaterial, das während des Pogroms aus und im an335 Schmidt (2002), S. 10. Das ZDF-Team wurde, wie sich auch Schmidts Kollege Dietmar Schumann erinnert, »von Beobachtern zu beobachtenden Betroffenen«.Vgl. dazu auch: Landwehr 1996, S. 117. Ihr Beitrag wurde bereits am nächsten Tag gesendet und erregte großes Aufsehen. Der Journalist äußert sich zu der inhaltlich wie ästhetisch prägenden Entscheidung, diegetischen Ton zu verwenden und auf einen einordnenden Kommentar zu verzichten: »Wir wollten es so belassen, die Bilder, unsere Situation, auch unsere Worte für sich sprechen lassen, weil es so passiert ist mit allen Ängsten und Aufgeregtheiten. So etwas ist weder nachstellbar noch muß es eingeordnet werden. Das spricht für sich. […] Und eine Innensicht sagt auch viel über die Geschehnisse und die Menschen draußen.« Landwehr (1996), S. 119. 336 Ebd., TC: 08:07. Wie Meier erläuterte, seien diese Videoaufnahmen jedoch unabhängig vom Filmprojekt entstanden, das, wie eingangs erwähnt, erst nach dem Pogrom Gestalt annahm. Den Filmenden sei es an diesen Zeitpunkt eher darum gegangen, Beweismaterial zu sichern oder Bilder der Ereignisse »zu Hause« zu zeigen. Stegmann (2012). 337 v. Keitz 2012, S. 162. 338 Ebd.

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gegriffenen Haus, bei der Evakuierung der Vietnames_innen und ihrer Unterbringung in der Turnhalle gefilmt wurde, macht in seiner in manchen Sequenzen mangelhaften Bildqualität339 die Coautorschaft der Vietnames_innen und ihrer Unterstützer_innen sichtbar. Es ist an manchen Stellen zudem am unteren Bildrand mit Timecodes versehen. Die Verwendung der auf diese Weise als Videomaterial erkennbaren Bilder funktioniert als Authentifizierungsstrategie, die neben erwähntem Ursprung der Bilder auf die konkrete Zeit der Aufnahmen verweist. Die Frage nach Autorschaft, Sprecherpositionen und damit nach der Perspektiviertheit der Bilder und Töne ist besonders an diesen Stellen eindeutig zu beantworten.

Das Spannungsverhältnis zwischen Bildern und Tönen Bei der Montage des Materials lässt sich ein wiederkehrendes Muster aufzeigen. Immer wieder werden beschönigende Äußerungen von Anwohner_innen oder Politiker_innen in ein Spannungsverhältnis zu den drastischen Bildern der rassistischen Gewalteskalation gesetzt. Während etwa Anwohnerin Marfalda von ihrer anfänglichen Einschätzung der Menschenansammlung als »friedliche Protestkundgebung von Bürgern« spricht, ist zu sehen, dass dies zu keinem Zeitpunkt der Fall war : Im Bild die vor dem Sonnenblumenhaus Versammelten bei der Herstellung neuer Wurfgeschosse. Einige Männer zerkleinern Betonplatten, deren Stücke unter dem Gejohle der Umstehenden in Richtung Sonnenblumenhaus geschleudert werden.340 An diesen Stellen arbeitet der Film mit überlappendem Ton. Statt talking heads sind Bilder der rassistischen Ausschreitungen zu sehen. Damit die Zuschauenden wissen, wer spricht, ist die interviewte Person zu Beginn, am Ende oder an anderer Stelle ihrer Rede stets kurz im Bild. Im beschriebenen Fall sind Nahaufnahmen Marfaldas zwischen zwei Randale-Sequenzen montiert. Mal kongruieren die Aufnahmen mit dem Gesagten, mal konterkarieren sie die Aussagen der Interviewten, entlarven sie als Unwahrheit. Dem Bild wird so ein Status als Beweismaterial zugewiesen, es fungiert als Abgleich zwischen den Verlautbarungen der Sprechenden und der Situation vor Ort. Dabei macht sich die Bild-Ton-Montage das Primat des Bildes über den Ton zunutze. In der geschilderten Situation untermauern am unteren Bildrand eingeblendete Timecodes seinen Beweisstatus zusätzlich. Sie verdeutlichen, dass es bereits tagsüber am »22.08.92« zu massiven Angriffen kam. Marfaldas Äußerung erscheint vor diesem Hintergrund als Fehleinschätzung. Als weiteres Beispiel für diese charakteristische Vorgehensweise soll auf eine 339 Ihre Amateurhaftigkeit wird etwa durch den fehlenden Weißabgleich sichtbar. Vgl. z. B.: The Truth lies in Rostock, TC: 07:58. 340 The Truth lies in Rostock, TC: 08:46.

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andere Szene verwiesen werden. Wieder werden Bild und Ton in Kontrast zueinander gesetzt. Es geht um eine Verlautbarung des damaligen Oberstaatsanwalts Sabin im November 1992. Zu Beginn seiner Rede ist er selbst in Nahaufnahme zu sehen. Da er hier das erste und einzige Mal auftaucht, gibt ein Untertitel seinen Namen, seine Funktion und das Datum an. Wie er nun behauptet, sei es der Polizei »leider nicht möglich gewesen, die Drahtzieher und diejenigen Leute zu finden, die Molotowcocktails in die Häuser geworfen haben, in denen sich die Vietnamesen befanden«.341 Zu seinem nächsten Satz – »Es gibt keine Videobilder, die beweiskräftig genug sind, um diese Täter zu überführen.« – setzen ebenjene Bilder ein. Man sieht, wie AngreiferInnen im Inneren des Sonnenblumenhauses Wohnungseinrichtung verwüsten. Ihre Gesichter sind auf den Aufnahmen deutlich zu erkennen. Nun wird zurück auf Sabin geschnitten, der fortfährt zu beteuern, dass keine Beweise vorhanden seien. Nachdem diese Bilder den Staatsanwalt der Lüge überführt haben, wird er quasi in flagranti bei seiner eben nachgewiesenen Falschaussage gezeigt.

Herr Sabin stellt fest, dass es keine Videobilder gäbe, anhand derer sich die Täter überführen lassen würden.

An anderer Stelle bestärken die Bilder das Gesagte. Beispielsweise wenn Wolfgang Richter, der sich selbst die meiste Zeit gemeinsam mit den Vietnames_innen im Wohnheim befand, von seinen vergeblichen Hilfegesuchen an die Polizei berichtet, sind Bilder der vor dem Sonnenblumenhaus versammelten RandalierInnen zu sehen. In der Dunkelheit lodern Brände vor dem Haus. Brandsätze werden geworfen, während man Richter sagen hört, dass die ihm von einem Herrn Trottnow, Verantwortlicher für den Polizeieinsatz, zugesicherten Wasserwerfer erst in Stunden zu erwarten seien.342 Nach deren erfolglosem Einsatz – im Bild ist zu sehen, wie diese ihr Wasser über und nicht in die Menge spritzen343 – hätten sich, so wieder Richter, die Angriffe noch verstärkt. In der 341 Ebd., TC: 1:14:20. 342 Ebd., TC: 22:20ff. 343 Ebd., TC: 23:00.

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folgenden Sequenz spricht der bei den Jungen Nationaldemokraten (JN) organisierte Neonazi Ole Mende von seinen »Siegesgefühlen« und prahlt damit, dass »die Bullen absolut nichts machen konnten«.344 Wenn der Rostocker Polizeichef im anschließenden Statement die Meinung vertritt, dass »mehr Polizei nicht der Lagebeurteilung« entsprochen habe,345 wird deutlich, dass er die Situation bestenfalls vollkommen falsch eingeschätzt hatte.

Erklärungsansätze Anstatt die Verantwortung für das Pogrom einseitig der neonazistischen Szene zuzuschreiben, wählt The Truth lies in Rostock einen multiperspektivischen Erklärungsansatz. Dabei betont der Film das Zusammenwirken von institutionellem Rassismus, der sich sowohl in den Zuständen vor der ZAST als auch in den Kampagnen zur Abschaffung des Grundrechts auf Asyl manifestiert, mit dem Gewalthandeln gegen Geflüchtete und Vietnames_innen in Rostock-Lichtenhagen.346 Auf die Rolle, die organisierte Neonazis innerhalb dieser Dynamik eingenommen haben, geht der Film ebenfalls ein.347 Erheblich mehr Screentime wird jedoch Gesprächen mit Anwohner_innen zugestanden, von denen ein Großteil Verständnis für die Motive des Pogroms äußert. Ein weiterer Zusammenhang, in den der Film das Pogrom stellt, sind die Folgen der Deutschen Wiedervereinigung, insbesondere der massive Verlust von Arbeitsplätzen in Rostocker Betrieben. Diese erscheinen jedoch eher als Teil eines Stimmungsbilds denn als Glied in einer unausweichlich zu den Pogromen führenden Kausalkette. Seinen Schwerpunkt legt der Film auf die Darstellung der Unfähigkeit der Behörden, sei es aus Desinteresse oder gar stiller Duldung, angemessen zu reagieren und die Angegriffenen zu schützen. Die ökonomischen Folgen der Deutschen Wiedervereinigung In der Forschung zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wird dieses in einen Zusammenhang mit den sozialen und kulturellen Folgen der Deutschen Wiedervereinigung gestellt. Funke verweist diesbezüglich auf eine 1992 erschienene Studie zur »Akzeptanz von Asylbewerbern in Rostock-Stadt« (UCEF-Report).348 Anhand der dort erhobenen Daten konstatiert Funke eine »fatale Übersetzung und Verschiebung sozialer und politisch kultureller Einigungsprobleme zum 344 345 346 347 348

Ebd., TC: 23:39ff. Ebd., TC: 24:00. Vgl. dazu: Stegmann 2007, S. 121–136. The Truth lies in Rostock. TC: 02:55, TC: 25:37. Funke 1993, S. 108.

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Asylthema.«349 Er verweist darauf, dass die Autoren dieser bereits ein halbes Jahr vor dem Pogrom erschienen Studie eine »dynamisierende Funktion des Asylthemas als Kompensation erlittener Ohnmacht und massiver Enttäuschungserfahrungen« prognostizierten. Auch Thomas Prenzel konstatiert, dass sich infolge der massenhaften Entlassungen im Zuge der Privatisierung der DDRWirtschaft »soziale Abstiegsängste mit einem völkischen Nationalismus« paarten.350 Das Ende der DDR und die damit einhergehenden sozialen Probleme werden im Film gleich an mehreren Stellen thematisiert. Bereits zu Beginn ist vom Niedergang des Rostocker Hafens und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit die Rede. Zu DDR-Zeiten seien, wie die Erzählerin erläutert, dort »55.000 Menschen in Fischfang und der Schiffbauindustrie beschäftigt« gewesen.351 Von lebhafter Musik begleitete Bilder, die aus einem Imagefilm über den Rostocker Hafen zu stammen scheinen, zeigen Arbeiten im Hafen und die Feierlichkeit zu dessen Ausbau. Plötzlich verstummt die Musik. Abrupt werden die nostalgischen Bilder jubelnder Menschenmassen und fröhlich winkender Kinder in Matrosenanzügen von Aufnahmen des Hafens zum Drehzeitpunkt abgelöst. Der Wechsel vom Schwarz-weiß-Bild zu Farbaufnahmen verdeutlicht den Zeitsprung. Die Kräne stehen nun still, nur Wolken ziehen vorüber. »Heute ist der Hafen tot, gearbeitet wird nun in Hamburg«, erläutert die Erzählerin. Dafür kämen »Hamburger Händler und Geschäftsleute nach Rostock«. Während dieser Worte ist ein Zug mit Coca-Cola-Logo, dem Sinnbild des Kapitalismus schlechthin, zu sehen. Rostock-Lichtenhagen, immerhin zu DDR-Zeiten ein begehrtes Wohnviertel, wird im Film als »Ghetto« bezeichnet.352 Die massive Arbeitslosigkeit nach dem Ende der DDR wird noch an weiteren Stellen des Films thematisiert. In einem Interview geht Tyark Woidt, der damalige Direktor der Deutschen Bank, auf die massenhaften Entlassungen seit 1990 ein.353 Während seiner Rede fährt die Kamera über die brachliegende Hafengegend. Zu diesen Bildern setzt nun Ngyen Do Thin ein, von seiner Situation als Vertragsarbeiter zu berichten.354 Angeworben von der DDR, standen viele von ihnen nach deren Ende vor dem Nichts. Impressionen von rostenden Kränen untermalen wenig später auch die Rede 349 350 351 352

Ebd. Prenzel 2012, S. 12. The Truth lies in Rostock, TC: 01:09f. Vgl. dazu: Als Rostock-Lichtenhagen brannte (R: Florian Huber, NDR 2012, 43:75 min), TC: 01:56ff. 353 The Truth lies in Rostock, TC: 30:32. 354 Dem Rotationsprinzip unterworfen, hätte er eigentlich bereits nach fünf Jahren nach Vietnam zurückkehren müssen. Wegen seiner guten Deutschkenntnisse sei sein Vertrag jedoch verlängert worden. Dann sei die Wende gekommen. Ebd., TC: 31:30.

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eines Anwohners. Der junge Mann, der sich bereits an anderer Stelle darüber beschwerte, dass »die Vietnamesen« angeblich teure Autos fahren würden, spricht davon, an seinem neuen Arbeitsort in Hamburg »total mies« behandelt zu werden.355 Später ist er selbst im Bild zu sehen. Er bejaht die Frage, ob er »ostdeutscher Asylant in Westdeutschland« sei.356 Der Sprecher imaginiert sich in einer Opferrolle. An dieser Stelle verdeutlicht der Film die projektive Funktion, die der Rassismus in Zeiten sozialer Spannungen einnimmt.

Die Rolle der extremen Rechten The Truth lies in Rostock thematisiert die Aktivitäten extrem rechter Parteien und Initiativen im Vorfeld des Pogroms. Schon in den ersten Minuten wird verdeutlicht, dass die NPD-nahe Hamburger Liste »Ausländerstopp« bereits im April 1992 Flugblätter in Rostock verteilte. Auf ihnen ging es um die Gründung einer Bürgerinitiative, die unter dem Motto »Rostock bleibt deutsch« bei den kommenden Wahlen kandidieren sollte.357 Auch die DVU plante in Rostock die Gründung eines Stützpunkts. An späterer Stelle wird in einem Exkurs zudem auf die Präsenz prominenter Neonaziführer während des Pogroms eingegangen.358 Der Film zählt ihre Namen und Organisationen auf und belegt ihre Anwesenheit mit Bildern aus der Presse. Über ihre Rolle bei der Entstehung und Durchführung des Pogroms werden jedoch keine expliziten Aussagen getroffen. Auch bei diesem Thema legt der Film seinen Schwerpunkt auf die Versuche der staatlichen Institutionen, hier insbesondere der Polizei, das Vorhandensein rechter Strukturen herunterzuspielen. Auf die Aufzählung der Neonazikader folgt solch ein Statement von Polizeichef Kordus. Er selbst ist kurz im Bild. Anschließend sieht man Männer, die die Polizei angreifen. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt, auf das eine Reichskriegsflagge gedruckt ist. Diese Bilder sind auf der Tonspur von Kordus’ Behauptung unterlegt, »rechtsextremistische Strukturen noch nicht erkannt« zu haben. Diese Äußerung wird mit einem von ihm selbst bereits im März 1992 verfassten Strategiepapier kontrastiert. Kernsätze aus diesem werden nun eingeblendet und vorgelesen: »Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit richtet sich ebenfalls gegen die noch in Rostock lebenden vietnamesischen Bürger.« »Im Stadtgebiet wurden Karten aufgefunden, unterzeichnet mit ›Ausländervernichtung-Kommando-Wolf‹ und enthielten Parolen wie: ›Vitschis gehören erdrosselt!‹«, »Die bei den Hooligans in Rostock organisierenden Personen sind polizeilich be355 356 357 358

Ebd., TC: 32:52. Ebd., TC: 32:47. Ebd., TC: 02:55. Ebd., TC: 25:37.

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kannt.« »Aufgrund ihres geschickten konspirativen Verhaltens war es bisher nicht möglich, rechtlich einzuschreiten.« Durch seine eigenen Äußerungen wird Kordus der Lüge überführt und seine Untätigkeit wider besseres Wissen angeprangert. Auch hier geht es dem Film in erster Linie darum, das Versagen staatlicher Institutionen aufzuzeigen. Die Situation vor der ZAST im Vorfeld des Pogroms In einem ausführlichen Exkurs geht der Film auf die Vorgeschichte des Pogroms ein. Nach einer Einführung durch die Erzählerin, äußern sich Anwohner_innen und Innensenator Peter Magdanz zur prekären Situation der Geflüchteten vor der ZAST. Im Zentrum stehen zwei ausführliche Statements der Geflüchteten selbst. »Die Menschen mussten tagelang draußen warten, ohne Essen, ohne Geld, bis sie registriert und auf andere Wohnheime verteilt wurden«,359 berichtet die Erzählerin. Im Bild ist dazu eine Warteschlange vor der ZAST zu sehen. Ihre Einschätzung der Situation und die Konsequenzen für die Beteiligten werden nun von verschiedenen Seiten kommentiert: Geschäftsmann Uwe Parlow, dessen Büro sich neben der ZAST befand, schildert, wie Asylsuchende an Regentagen in einer Unterführung lagerten und er über die Menschen hinwegsteigen musste, um zu seinem Büro zu gelangen.360 Im Anschluss versucht der Innensenator die Situation zu beschönigen: »Es war nicht so, dass dort ständig Leute draußen waren. Es war nicht so. Es gab natürlich auch viele Probleme durch Menschen, die am Tage draußen waren und durchaus eine Unterkunft hatten.«361 Magdanz bereits in sich selbst widersprüchliche Aussage wird gleich darauf weiter demontiert, wenn zwei der Geflüchteten das Elend vor der ZASTaus ihrer Perspektive schildern: »Alles war voll. Wir hatten tatsächlich keinen Platz zum Schlafen. Es war katastrophal. Was ich da gesehen habe, war erschreckend. Und ich habe gefragt: ›Warum seid ihr alle draußen?‹ Mir wurde gesagt, dass sie kein Asyl mehr bekommen. Da waren Leute mit kranken Kindern. Wir wurden erniedrigt, wir hatten Hunger. Und wir waren schmutzig. Wir wollten etwas Wärme und einen Platz, wo wir mit unseren Kindern bleiben konnten«,

beschreibt Stoyan, den ein Untertitel als »Flüchtling aus Rumänien« vorstellt, die Situation der Ankommenden.362 Zu seinen Worten sieht man Menschen mit ihren Habseligkeiten unter vorstehenden Balkonen, auf Grünflächen und auf 359 360 361 362

Ebd., TC: 11:54. Ebd., TC: 12:13. Ebd., TC: 12:41. Da beide Rumänisch sprechen, wird das Gesagte deutsch untertitelt: Ebd., TC: 12:55.

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Gehwegen. Eine Frau hält ein Kind im Arm, sie knotet ihr im Wind flatterndes Kopftuch enger. Sie scheint zu frieren. Nun ist die Stimme von »Anka, Flüchtling aus Rumänien« zu hören: »Die Leute von der ZAST haben gesagt, wenn jemand ankam und nach Asyl gefragt hat, eine Familie oder eine einzelne Person, dass Deutschland Rumänen kein Asyl mehr gewährt. Die Leute mussten für zwei bis drei Tage, bis zu einer Woche draußen bleiben. Das wäre mir auch passiert, hätte meine Tochter nicht hohes Fieber gehabt und zu einem Arzt gemusst. Der Arzt sagte, dass ich mit ihr ins Haus gehen sollte.«363

Während ihrer Worte sieht man weitere Impressionen von Wartenden vor der ZAST: Menschengruppen auf einer Wiese. Eine ältere Frau sitzt inmitten von Plastiktüten neben einer Bushaltestelle. An diesen Stellen bestärken Wort und Bild einander. Den Betroffenen wird damit die Deutungshoheit über die Situation zugesprochen. Dass dies, wie bereits erwähnt, einer der raren Momente in der medialen Thematisierung des Pogroms ist, in denen die Geflüchteten vor der ZAST überhaupt zu Wort kommen, erhöht die Bedeutung dieser Sequenzen. Rommelspacher beschreibt, wie die strukturelle Diskriminierung, die Geflüchtete erfahren, als sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt. »Flüchtlinge werden nicht als politische Subjekte oder als Menschen gesehen, die Interessen haben, die sich entfalten wollen und die dieser Gesellschaft etwas geben können und mitzuteilen haben. Im Gegenteil, man drängt sie aus der Gesellschaft hinaus und verweist sie auf die untersten sozialen Ränge. Aufgrund dieser elenden und gewalttätigen Lebensbedingungen gleichen sie auch zunehmend dem Bild des rückständigen, armen und kriminellen Anderen. Das heißt, der Rassismus schafft Lebensverhältnisse, die ihn wiederum bestätigen. Man könnte also all die Maßnahmen, die den Flüchtlingen ein solches Leben aufzwingen als eine unbewusste Inszenierung rassistischer Fantasien interpretieren«,

kritisiert die Forscherin im Jahr 2009.364 Ihre Worte treffen auf die Situation vor der ZAST zu. Indem der Film die Bilder des Elends mit den Schilderungen der Betroffenen selbst unterlegt, unterläuft er jedoch die Reproduktion rassistischer Stereotype, die mit einer bloßen Abbildung des Elends einhergehen kann. Es folgen zwei Statements von Anwohner_innen, in denen Empathie mit den Geflüchteten aufscheint. Eine junge Frau räumt ein, sich anfangs ebenfalls über die unhygienischen Zustände vor der ZAST beschwert zu haben, jedoch gelingt es ihr, die Situation vom Standpunkt der Geflüchteten aus zu betrachten: »Aber sie mussten ja so hausen. Wenn sie nicht mal Toiletten hatten, wenn sie nicht mal ne Schlafgelegenheit hatten, wenn sie auf dem Rasen nächtigen mussten.« Während ihrer Rede ist ein Angestellter der ZAST zu sehen, der die Wartenden 363 Ebd., TC: 13:36. 364 Selders 2009.

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mit den Worten »nix Asyl« zu verscheuchen versucht.365 Auch die Empörung ihres Nachredners, eines älteren Herrn, der als »Bürger aus Lichtenhagen« vorgestellt wird, gilt den politisch Verantwortlichen. Mit den Geflüchteten hingegen kann er sich identifizieren. Er erzählt, dass er selbst 1945 als Flüchtling angekommen sei. Er wäre, wenn auch direkt nach dem Krieg, besser versorgt worden als die heutigen Ankommenden. Beide Statements fallen aus der Menge der im Film verwendeten Kommentare der Anwohner_innen heraus, in denen, auch während der Angriffe, von Empathie mit den Geflüchteten und Vietnames_innen wenig zu vernehmen ist. In den nachfolgenden Sequenzen wird die Frage nach der Verantwortung für die ZAST und die dortigen Zustände erneut aufgegriffen. Der Film präsentiert hierzu zwei Ausschnitte aus Interviews mit den Repräsentanten von Bundesland und Stadt, in denen sich die Politiker die Zuständigkeit gegenseitig zuschieben. Bürgermeister Kilimann sieht das Land Mecklenburg-Vorpommern »für die Unterbringung der Asylbegehrenden« zuständig.366 Lothar Kupfer, Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern hingegen, sieht die Verantwortung beim Oberbürgermeister der Stadt Rostock. Dem wiederum widerspricht der Rostocker Innensenator, Magdanz, dem zufolge die ZAST eine »Einrichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern« und »sofern in der Verantwortung der Landesregierung« sei. Dass alle Politiker bei ihren Aussagen im Bild sind, mag der Übersichtlichkeit geschuldet sein. Wären ihre O-Töne mit anderen Bildern kombiniert worden, wäre es für die Zuschauenden schwierig, den kurzen, hintereinander montierten Statements den richtigen Sprechern zuzuordnen. Darüber hinaus werden alle Politiker beim Akt des Leugnens ihrer Verantwortung gezeigt. Plastisch verdeutlicht der Film so ihre Versuche, sich aus der Affäre zu ziehen.

Die Debatte um die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl Als paradigmatisch für die Verwobenheit von institutionellem Rassismus und dem gewalttätigen Rassismus der Neonazis und AnwohnerInnen betrachten viele Forschende den Zusammenhang zwischen dem Pogrom von RostockLichtenhagen und den medialen und parlamentarischen Debatten um die Einschränkung des Asylrechts.367 Funke verweist auf den bereits erwähnten UCEFReport, dem zufolge 70 Prozent der Befragten die »Asyldiskussion der Politiker« für einen wichtigen Grund für »Feindlichkeit gegen Asylbewerber« halten.368 365 366 367 368

The Truth lies in Rostock, TC: 14:06. Ebd., TC: 15:30. Prenzel 2012, S. 9–29. Funke 1993, S. 108. Vgl. auch: Althoetmar 1992, S. 45f.

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Neben entsprechenden Äußerungen von AnwohnerInnen arbeitet The Truth lies in Rostock dies in einer Sequenz heraus, in der ein Besuch von Bürgermeister Zöllick am Ort des Geschehens gezeigt wird.369 Zöllick kam, wie der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter in der vorherigen Sequenz berichtete, auf seine Bitte am Abend des 22. August 1992 nach Rostock-Lichtenhagen. Aus der Vogelperspektive sieht man eine etwa 100-köpfige Menschenmenge. Dazu ist Zöllicks Stimme zu hören: »Die Gesetze müssen geändert werden.« Nun wird auf Zöllick geschnitten: Er steht in einer altersgemischten Gruppe von Anwohner_innen: »Es muss ganz klar gesagt werden: Diejenigen, die politisch und religiös verfolgt werden, die sind wir bereit, in Deutschland aufzunehmen. Die Anderen, dafür müssen Regelungen gefunden werden, dort muss die Not in deren Ländern gelindert werden.« Er wird niedergeschrien, versucht, das Wort erneut zu ergreifen. Auch angesichts der aufgeheizten Stimmung unternimmt er keinen Versuch, für Empathie mit den Geflüchteten zu werben, klärt weder über die Fluchtgründe, etwa die der osteuropäischen Rrom_nja noch darüber auf, dass die in Rostock-Lichtenhagen lebenden Vietnames_innen vor mehr als zehn Jahren seitens der DDR als Vertragsarbeiter_innen ins Land geholt wurden. Er spricht sich stattdessen für eine Einschränkung des Asylrechts aus. Seine Worte wirken nicht beschwichtigend, sondern liefern der Menge letztlich eine rhetorische Basis für gewalttätiges Handeln: Indem er zwischen politisch und religiös Verfolgten und denjenigen unterscheidet, »in deren Ländern die Not gelindert werden« muss, bekräftigt er die Meinung der Menge, dass es Menschen gibt, die kein Recht auf ein Leben in Deutschland haben. Vor diesem Hintergrund kann er dann später noch so lautstark an die Menschlichkeit appellieren – »Aber das sind doch Menschen, die hier sind« –, er wird von wütenden Rufen aus der Menge unterbrochen: »Das sind doch keine Menschen! Raus mit dem Scheiß!«370 Eindrücklich verdeutlicht der Film hier die im Viertel herrschende Pogromstimmung: Für wie auch immer geartete Vermittlungsversuche ist es zu spät. Letztlich beschreibt der Film das Pogromwochenende als wichtigen Schritt auf dem Weg zur bald darauf beschlossenen Einschränkung des Asylrechts: »Die politische Antwort auf Lichtenhagen war, nicht die wahren Ursachen, sondern die Opfer als Problem zu sehen. Die CDU forcierte ihre Kampagne zur Änderung von Artikel 16, dem Artikel der Nachkriegsverfassung, der das Recht auf politisches Asyl festschreibt. Genau am Wochenende von Lichtenhagen kapitulierten die Sozialdemokraten, die bis dato jeder Änderung des Artikel 16 entgegenstanden.«371

369 The Truth lies in Rostock, TC: 10:19. 370 Ebd., TC: 10:19. 371 Ebd., TC: 50:16.

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Die Rolle der Medien Bereits in der Exposition geht der Film auf Drohungen ein, die im Vorfeld in der Presse verbreitet worden waren. »Erste eindeutige Warnungen vor einem faschistischen Angriff in Lichtenhagen erfolgten vier Tage vorher«, erläutert die Erzählerin.372 Im Bild ist dazu die Leuchtschrift des verantwortlichen Zeitungshauses der Ostseezeitung zu sehen. Die Mitschuld des Mediums wird damit benannt. Ausführlich wird nun auf den entsprechenden Artikel eingegangen. Er titelte nach einem anonymen Anruf: »Die Lichtenhäger Bürger wollen Protest auf der Straße.« »Der Artikel beinhaltete«, so die Erzählerin, »direkte und gewalttätige Drohungen: ›Am Abend werden wir alle auf die Straße gehen. Die Roma werden aufgeklatscht. Die Rechten haben die Schnauze voll‹, sagt Thomas, und ›man wird sehen, dass die Leute aus dem Fenster schauen und Beifall klatschen‹«, liest sie vor. Als zusätzlicher Beweis wird der Artikel nun in weißen Lettern eingeblendet. Die in der vorgelesenen Passage zitierten antiziganistischen Statements werden von der Erzählerin nicht als solche thematisiert.373 Das Interesse des Films gilt hier weniger einer Analyse der im Artikel auftauchenden Diskurse als der sich anbahnenden Bedrohung und dem behördlichen Umgang mit ihr. In der folgenden Sequenz spielt Magdanz die Gewaltankündigung herunter. Er räumt zwar ein, von »diesem anonymen Anruf gehört« zu haben, behauptet aber, dass »da nicht direkt die Rede davon war, direkt ’nen Angriff zu machen.«374 Der Film zeigt an dieser Stelle, dass die lokale Presse die Aufrufe der Täter verbreitete. Sein Schwerpunkt liegt jedoch auch hier auf der Kritik an den Reaktionen verantwortlicher Politiker_innen. Auf die bereits lange vor dem Pogrom verbreiteten Medienkampagnen zum Thema Flucht und Asyl und die

372 Ebd., TC: 03:50. 373 Obwohl der Begriff Antiziganismus in der Forschung umstritten ist, da in ihm der diskriminierende Begriff Zigeuner (Z*) wiederholt wird, werde ich ihn ob seiner Alternativlosigkeit trotzdem im Rahmen meiner Arbeit verwenden. Zur Kritik am Begriff des Antiziganismus vgl.: Demirova 2013. Der oft stattdessen benutzte Begriff Antiromaismus schließt Gruppen und Personen wie Sinti, Manouche und Jenische aus, die ebenfalls unter dem Z*-Stigma verfolgt werden und während des Nationalsozialismus zu Hunderttausenden ermordet wurden. Zudem verweist der Begriff Antiziganismus auf ein Set an Bildern und Zuschreibungen, das nichts mit den realen Eigenschaften der so diffamierten Menschen zu tun hat. Dass es sich bei diesen um rassistische Fantasien handelt, wird deutlicher als in dem an die Selbstbezeichnung einer realen Personengruppe angelehnten Begriff Antiromaismus. Eine weitere Begriffsalternative ist Gadje-Rassismus, der seinen Fokus auf die TäterInnen legt. Schließlich ist »Rassismus gegen Rrom_nja und andere selbstidentifizierte Romani-Kollektive das Werk der Gadje, also Nichtroma.« Elsa Fernandez zit n. C ¸ etin 2015b, S. 33. Diese Bezeichnung hat sich jedoch leider in der Forschung noch nicht durchsetzen können. 374 The Truth lies in Rostock, TC: 04:30.

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Frage, inwieweit diese in Rostock und an anderen Orten zur Eskalation rechter Gewalt beitrugen, wird nicht explizit eingegangen.

Rassismus und rechte Gewalt »Sonnabend und Sonntag, das war gut, gegen den Ausländern. Das fand ich in Ordnung«, hört man bereits im Vorspann eine junge Frau mit blondierter Haartolle sagen.375 »Anders kriegt man sie nicht raus«, kommentiert auch eine blonde Teenagerin – der unter den AnwohnerInnen verbreitete Rassismus kommt bereits ganz am Anfang zur Sprache. Statements wie diese ziehen sich ebenso wie die stellenweise von rassistischen Sprechchören begleiteten Bilder des Pogroms selbst durch den gesamten Film. In diesem Abschnitt möchte ich auf diejenigen Sequenzen eingehen, in denen der Frage nach der Verortung des Rassismus nachgegangen wird und das Pogrom in den Kontext weiterer rechter Gewalttaten gestellt wird. Das Pogrom im Kontext weiterer rechter Gewalttaten Bereits in der Exposition wird das Pogrom in den Kontext weiterer rechter Gewalttaten gestellt. »Der Angriff fand zu einer Zeit statt, in der faschistische376 Gewalt und Brutalität zum Alltag wurden. Bis August 1992 sind im wiedervereinigten Deutschland 31 Menschen von Faschisten ermordet worden«, erläutert die Erzählerin.377 Es bleibt hier allerdings ungesagt, dass es bereits zu DDRZeiten Todesopfer rechter Gewalt gab. Die Frage nach der Geschichte des Ras-

375 Ebd., TC: 00:17f. 376 Die Angriffe werden mit dem in linksalternativen Kreisen der 1990er Jahre gebräuchlichen Adjektiv »faschistisch« klassifiziert. Diese Wortwahl lässt sich einerseits als undifferenziert kritisieren, denn der Film liefert keine Faschismusdefinition. Bezieht man sich anderseits jedoch auf die generische Faschismusdefinition des britischen Historikers Roger Griffin, so lässt sich die Begriffsverwendung der Erzählerin durchaus rechtfertigen. Griffin fasst Faschismus als »palingenetischen Ultranationalismus«, also als völkischen Nationalismus, dem die Fantasie einer nationalen Neugeburt oder Erlösung eingeschrieben sei, die sich durch eine Reinigung von allem als »fremd« Empfundenem vollziehe. Griffin 2005, S. 20. Rassismus ist elementarer Bestandteil des völkischen Nationalismus. Dieser, verbunden mit dem Gedanken, dass sich mit der Vertreibung der Geflüchteten und der Vietnames_innen etwas zum Guten wenden könne, ist in den Interviews mit TäterInnen und SympathisantInnen des Pogroms wie auch in deren Taten zentral. Prägnantestes Beispiel sind die permanent skandierten Parolen »Deutschland den Deutschen« und »Ausländer raus«, welche den Soundtrack der Übergriffe auf die ZAST und die Unterkunft der Vietnames_innen lieferten. 377 The Truth lies in Rostock, TC: 01:45.

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sismus in Rostock, mit ihren Kontinuitäten und Brüchen wird im Film nicht verhandelt. Das Thema rechte Gewalt wird in der Mitte des Films erneut aufgegriffen: »Die Zahl der Übergriffe auf Menschen auf den Straßen, besonders Nachts, haben gerade nach Lichtenhagen stark zugenommen, hier in Rostock«, erläutert eine männliche Stimme.378 »Das sind so Überfälle auf Andersaussehende. Es gab Angriffe auf Behinderte, auf Ausländer«, sagt der Sprecher. Seine Worte werden von Impressionen menschenleerer nächtlicher Straßen begleitet, die aus einem Auto heraus gefilmt wurden. Im Anschluss erzählt Steffi, eine rassismuskritische Aktivistin, von ihrer Angst, angegriffen zu werden.379 Weil sie befürchtet, »wegen [ihrer] Einstellung zusammengeschlagen zu werden«, wendet sie der Kamera den Rücken zu. Während ihrer Rede ist zu sehen, wie eine Person nachts einen leeren Weg entlang rennt.380 Aus den folgenden Sequenzen wird deutlich, dass sich insbesondere diejenigen, die in das rassistische Feindbild rechter GewalttäterInnen passen, nicht mehr sicher fühlen: »Wir haben Angst rauszugehen. Natürlich, es werden draußen Menschen umgebracht. Wissen Sie, die Nazis sind überall. Ich habe Angst im Zug. Wenn mein Sohn zu laut spricht, dann muss ich ihm sagen: ›Sprich nicht so laut, man könnte erkennen, dass du ein Ausländer bist.‹«381

Diese Sätze werden von Mimi als Voice-over gesprochen. Als Sprecherin ist sie den Zuschauenden an dieser Stelle bereits bekannt, einige Minuten zuvor wurde sie als »Flüchtling aus Jugoslawien« eingeführt.382 Im Bild fährt während ihrer Rede ein erleuchteter Zug durch die Dunkelheit. Nachdem Mimi kurz gezeigt wurde, leiten weitere Bilder des erwähnten Angstraums, eines menschenleeren S-Bahn-Waggons zum nächsten Statement über : »Seit ich in Deutschland bin, habe ich Angst, umgebracht zu werden. So geht es auch meiner Tochter und meiner alten Mutter«, wird ihre rumänisch sprechende Nachrednerin untertitelt, die bereits in einer vorherigen Sequenz als »Anka, Flüchtling aus Rumänien«383 vorgestellt wurde. »Die ganze Zeit habe ich Angst, getötet zu werden. Vor einer Woche habe ich gesehen, wie zwei junge Leute versucht haben, eine junge Frau aus dem Zug zu werfen. Sie haben

378 The Truth lies in Rostock, TC: 43:05. 379 An einer späteren Stelle erzählt sie von ihrer Verhaftung bei einer rassissmuskritischen Gegendemonstration am Pogromwochenende. Ebd., TC: 43:55. 380 Ebd., TC: 43:34. 381 Ebd., TC: 43:51. 382 Ebd., TC: 39:44. 383 Ebd., TC: 13:36.

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ihre Taschen rausgeworfen und hatten das Gleiche mit ihr vor. Wenn der Schaffner nicht dagewesen wäre, hätten sie es auch getan.«384

Alle Sprecherinnen sind kurz im Bild, die meiste Zeit jedoch sind zu ihren Worten Bilder der jeweiligen Angsträume montiert. Die Kamera versucht hier, die Perspektive der Betroffenen zu übernehmen, assoziative Bilder für ihre Ängste zu finden. Man sieht eine nächtliche Straße, den dunklen Bahnhof, eine Straßenbahnhaltestelle und vorbeifahrende Züge. An allen der gezeigten Orte ist es dunkel, meist sind keine Menschen zu sehen. Es scheint unmöglich, sich irgendwo Hilfe zu holen. Allerdings gilt Mimis Angst eher den anderen Fahrgästen. Die von ihr geschilderte Situation kann sich auch während des Tages abspielen. Dem Gefühl, wegen Merkmalen wie der eigenen Sprache nicht sicher zu sein, einen visuellen Ausdruck zu verleihen, der auch von einem weißen Publikum verstanden wird, ist ungleich schwerer. Die Angst, nachts auf einer einsamen Straße überfallen zu werden, wird hingegen einem Großteil des Publikums geläufig sein. Mit der Nazigegnerin Steffi und den Geflüchteten kommen verschiedene Opfergruppen rechter Gewalt zu Wort. Die längste Screentime wird dabei jedoch den von Rassismus betroffenen SprecherInnen zugestanden. Dies mag auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die meisten Angriffe damals wie heute aus rassistischen Motiven erfolgten.

Die antiziganistische Dimension des Pogroms Auch wenn im erwähnten Artikel aus der Ostseezeitung eindeutig »Roma« als Angriffsziel benannt werden, geht der Film nur am Rande auf die antiziganistische Dimension des Pogroms ein. Sie scheint neben erwähntem Pressebericht nur noch in einigen AnwohnerInnenstatements auf. In den Analysen der Erzählerin wird dieses Thema in seiner Spezifik nicht verhandelt. Dabei ist es wichtig, auf die antiziganistische Prägung des Pogroms hinzuweisen. Stefan Geelhaar, Ulrike Merz und Thomas Prenzel bescheinigen der zeitgenössischen Presseberichterstattung, dass sich dort eine rassifizierende »Entkontextualisierung der Lebenssituation der Flüchtlinge« »nahezu durchgängig« aufzeigen lasse: »Nicht etwa das Fehlen sanitärer Anlagen, sondern ein angeblicher Unwille, sie zu benutzen, nicht der Mangel an Wohnraum, sondern die pure Lust, im Freien zu übernachten, seien die Ursache für die Situation vor der ZAST gewesen. Mittels Kulturalisierung wurde die Botschaft vermittelt, dass die auftretenden Hygieneprobleme keiner Unterversorgung geschuldet seien, sondern Bestandteil einer ›Roma-Kultur‹, 384 Ebd., TC: 44:14.

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welche diese im Gegensatz zur konstruierten Eigengruppe – der angeblich sauberen Einwohnerschaft Mitteleuropas – weiterhin pflegen würden.«385

Auch andere Forschende bescheinigen dem Antiziganismus beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen eine zentrale Rolle. »Blickt man zurück auf die Geschichte der Romvölker in den sechshundert Jahren ihrer Anwesenheit in Europa«, bilanziert Klaus-Michael Bogdal, »kommt man immer wieder zu dem Befund, dass ihre Verfolgung und Vernichtung die Mehrheitsbevölkerung ebenso wenig ›gestört‹ hat, wie die Rostocker Biedermänner und -frauen ihr möglicher Feuertod nach der Brandstiftung der Jugendlichen in dem Asylantenheim.«386 Auf dieses Spezifikum des Pogroms weist auch der Politikwissenschaftler Funke hin: »Es paßt zu den Vorgängen [um das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, JS], daß alle Umfrageuntersuchungen, insbesondere die in Ostdeutschland, die Sinti und Roma als diejenige Gruppe ausmachen, denen gegenüber sich die Vorurteile massieren. Danach gelten sie als diejenigen, die stehlen, dreckig sind, die sexuellen Sitten im Land zerstören und die als ›wanderndes Volk‹ Chaos, Unstetigkeit, Not und soziale Angst repräsentieren. Gerade dies letzte ist es, dem ›man‹ zu entfliehen trachtet und wovon selbst betroffen zu werden man fürchtet.«387

Dass diese Projektionen zudem auf ein weit verbreitetes, in der europäischen Imagination tradiertes Repertoire an antiziganistischen Bildern und Vorstellungen anknüpfen konnten, belegt auch Bogdal. In seiner Studie Europa erfindet die Zigeuner vollzieht der Literaturwissenschaftler die Geschichte der »›Erfindung‹ der Romvölker als das Andere der europäischen Gesellschaften« in der europäischen Literatur, Anthropologie und Kunst seit dem Spätmittelalter nach. Eine Erfindung, so Bogdal »die ermöglicht und umgesetzt wird durch eine niemals abreißende Serie von Feinderklärungen an ein imaginäres Kollektiv, das in Deutschland Zigeuner genannt wird.«388 Feinderklärungen, die auch während des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen deutlich zu vernehmen waren. Das entsprechende Statement einer beteiligten 17-jährigen Schülerin – »Wären Z*389 verbrannt, hätte es mich nicht gestört. Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma egal.« – motivierte den Literaturwissenschaftler zu dieser Studie.390 Doch zurück zur Frage, ob und wie Antiziganismus in The Truth lies in 385 Geelhaar, Merz, Prenzel 2012, S. 59. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Schmidt 2002, S. 61ff. 386 Bogdal 2011, S. 9. 387 Funke 1993, S. 116. 388 Bogdal 2011, S. 480. 389 Ich habe mich entschieden, die diffamierende Bezeichnung »Zigeuner« nicht im Fließtext zu reproduzieren. Bei Zitaten schreibe ich statt dessen Z*. Vgl. dazu: Randjelocvic 2015, S. 671. 390 Ebd., S. 9.

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Rostock verhandelt wird. In einer Sequenz kommt Stoyan auf seine Verfolgung als Rrom in Rumänien zu sprechen: »Ich kam nach Deutschland und habe mich um politisches Asyl beworben. Ich hoffe, dass man mir politisches Asyl gewährt. Soweit ich mich erinnere, sind wir Z*391 stets verletzt und erniedrigt worden. Wir konnten so nicht leben. Es gab keinen Ort, wo wir hin konnten, um ein Haus zu bauen. Wir hatten keine Rechte, keine Arbeit, nirgends konnten wir arbeiten. Das Gesetz hat uns gezwungen, als Nomaden zu leben. Ich möchte Frieden für meine Seele finden und ein bisschen Sympathie. Ich möchte niemanden stören, ich möchte leben wie jeder andere Mensch, mit dem Recht auf Freiheit. Das wollte ich auch schon in Rumänien.«392

Auffällig ist an dieser Stelle, dass er hier auf die antiziganistische Zuschreibung einer nomadischen Lebensweise Bezug nimmt und deutlich macht, dass dies Folge von Diskriminierung, nicht etwa eine essentielle Wesenseigenschaft sei, wie es der antiziganistische Diskurs suggeriert. Anka hingegen nennt andere Gründe für ihre Flucht: »Der Grund, dass ich Rumänien verlassen habe, war, dass meine Familie sich dem Regime widersetzt hat. Ständig hatte meine Familie Probleme mit der Polizei. Sie haben ständig Hausdurchsuchungen gemacht und auf der Arbeit hatte ich Ärger und wurde dann entlassen.«393 Die Verfolgung als Rroma, von der Stoyan berichtet, wird neben andere Fluchtgründe gestellt. Sie erscheint somit im Film als eine unter anderen individuellen Verfolgungsgeschichten. Die Verbreitung rassistischer Einstellungen An einer anderen Stelle unterzieht der Film eine Aussage des Innenministers Lothar Kupfer, demzufolge Mecklenburg-Vorpommern kein »ausländerfeindliches Land« sei, einer kritischen Überprüfung.394 Dies begründet Kupfer mit der Anwesenheit von »ausländischen Bürgern« an den Universitäten Rostock und Greifswald, mit denen auch seine Tochter studiere. Zwar räumt er ein, dass es an der Universität Greifswald »handgreifliche Auseinandersetzungen« gegeben habe, dennoch würde das Zusammenleben im Studentenwohnheim konfliktfrei verlaufen. Dass Kupfer anstelle von Rassismus hier von »Ausländerfeindlichkeit« spricht, mag mit der im deutschen Alltagsdiskurs weit verbreiteten Tabuisierung des Begriffs Rassismus zusammenhängen.395 Offen bleibt auch, ob er mit den ausländischen Studierenden lediglich Studierende in temporären in391 Stoyan spricht Rumänisch. Die diffamierende Bezeichnung »Zigeuner« entstammt der Übersetzung. 392 The Truth lies in Rostock, TC: 19:39. 393 Ebd., TC: 19:20. 394 Ebd., TC: 16:47. 395 Vgl. dazu: Birgit Rommelspacher 1998a,S. 48; C ¸ etin, Stegmann 2013.

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ternationalen Austauschprogrammen meint oder ob er sich auf Studierende of Color allgemein bezieht. Das positive Bild, das er hier zu zeichnen versucht, wird von Impressionen historischer Gebäude begleitet. Doch vorüberziehende dunkle Wolken kündigen einen Bruch mit der Illusion heiler Welt an. In den nächsten Einstellungen kommen dann auch mit den Berufsschülern Raik und David zwei junge Männer zu Wort, die sich aktiv am Pogrom von RostockLichtenhagen beteiligten. Wie zuvor bei Kupfer sind auch ihre Statements mit Aufnahmen historischer Monumente unterlegt. Täter Raik könne »akzeptieren, was in Lichtenhagen passiert sei«, was er damit rechtfertigt, wie »die sich in Lichtenhagen benommen haben«, – gemeint sind die Geflüchteten.396 In seiner Rede lässt sich die von Geelhaar beschriebene rassistische Entkontextualisierung der Situation der Geflüchteten aufzeigen, der zufolge die Zustände vor der ZAST auf deren Wesenseigenschaften, nicht auf einen Mangel am Lebensnotwendigen zurückzuführen seien.397 In Raiks Logik trügen sie damit selbst die Schuld am Pogrom. Die Brozestatue eines Ritters mit erhobenem Schwert, die seine Worte bebildert, lässt sich als zynischer Kommentar auf das Selbstverständnis der rassistischen Täter als »Bewahrer deutscher Kultur« deuten. Noch unverhohlener tritt ein eliminatorischer Rassismus bei seinem Nachredner David zutage. Dieser gibt an, im Gegensatz zu den Beifallklatschenden vor der ZAST, welchen es nur um ein »sauberes Lichtenhagen« ginge, für ein »sauberes Deutschland« zu kämpfen.398 Wenn er einräumt, dass »wir« die »Türken, die Älteren, die jetzt seit zwanzig, dreißig Jahren hier leben« »nicht mehr raus-« kriegen, wird deutlich, dass er auf die rassistische Utopie einer weißen Volksgemeinschaft rekurriert. Es folgen weitere rassistische Statements von Anwohnern. Sie wurden im Gegensatz zu den vorherigen Äußerungen vor Ort in Rostock-Lichtenhagen aufgenommen. Ein junger Mann behauptet, dass »diese ganzen Vietnamesen« alle mit »Mercedes und Audis rumfahren« würden, daher keine »Asylanten« seien. Man könne sie »sofort nach Hause« schicken.399 In seinem Statement offenbart sich nicht nur eine völlige Unkenntnis der jeweiligen Lebenssituationen von Geflüchteten und vietnamesischen Arbeitsmigrant_innen, die er miteinander vermischt und verwechselt. Im Zentrum seiner Ausführungen steht zudem der Neid auf Menschen, die vermeintlich im Besitz von Statussymbolen sind, die eher ihm als weißem Deutschen zustehen würden. Sein Nachredner spricht den aus Rumänien Geflüchteten, die er zuerst als »Z*« diffamiert, die Bezeichnung dann in »Sinti und Roma« korrigiert, ihre 396 397 398 399

The Truth lies in Rostock, TC: 17:20. Ebd., TC: 17:15. Ebd., TC: 17:28. Ebd., TC: 17:53

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Verfolgungsgeschichten ab: Er bezeichnet sie als »totale Wirtschaftsflüchtlinge«.400 Damit bewegt er sich innerhalb der damals wie heute weit verbreiteten Diskurse über Flucht und Migration,401 in denen insbesondere die Entrechtung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Rom_nja geleugnet wird. Auch an einer anderen Stelle zeigt der Film auf, dass weite Teile der Anwohnerschaft das Pogrom unterstützen. Zeugin Adriana Majchrzyk vom Verein für Frieden und Menschenrechte e.V. in Rostock hebt deren umfassende Beteiligung hervor: »Da waren nun Jugendliche vorne mit Steinen in den Händen. Ein kleiner Imbissladen ›Happi Happi bei Appi‹ hatte auf und versorgte die Menge mit Currywurst und mit Bier. Da standen ein paar Leute mittleren Alters in der hinteren Reihe und dann, noch ein bisschen weiter, die Alten und alle haben jeden Steinwurf begrüßt. So viel Hass habe ich, glaube ich, noch nie im Leben erlebt.«402

Zwischen ihre Ausführungen sind Bilder der Ausschreitungen montiert. Das Fazit zu diesem Themenblock spricht Wolfgang Richter. Er weist auf die Wechselwirkung zwischen diffamierender Politikerrede und der Gewalt auf der Straße hin. Neben dieser Einordnung durch den Ausländerbeauftragten werden die Anwohner_innenstatements durch andere Stellen des Films delegitimiert. So wird ausführlich sowohl auf die unterschiedlichen Geschichten der Geflüchteten als auch auf diejenigen der Vietnames_innen eingegangen.403 Zwar lassen sich aus diesen Statements keine quantitativen Schlüsse über die Verbreitung des Rassismus in Mecklenburg-Vorpommern ziehen. Indem der Film diese Einstellung aber bei Personen aufzeigt, die nicht in der extremen Rechten verortet sind, veranschaulicht er die Verbreitung entsprechenden Gedankenguts in der sogenannten Mitte der Gesellschaft und desavouiert die be-

400 Ebd., TC: 18:16. 401 An dieser Stelle sei an die von Politikern der CDU/CSU im Kontext des Inkrafttretens der Arbeitnehmer-Freizügigkeit für EU Bürger_innen aus Rumänien und Bulgarien im Januar 2014 forcierte Debatte erinnert. Insbesondere Horst Seehofer warnte vor einer angeblichen »Einwanderung in die Sozialsysteme«, vor welcher der baeyrische CSU-Politiker Deutschland »bis zur letzten Patrone« verteidigen wollte, wie er bereits 2011 auf der Klausurtagung der CSU in Wildbad-Kreuth hatte verlauten lassen. Nicht nur die Tatsache, dass Menschen aus Rumänien und Bulgarien bei entsprechenden Delikten in der bayrischen Kriminalitätsstatistik hingegen kaum oder überhaupt nicht in Erscheinung traten, entlarvte sie als rassistische Hetzkampagne. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration 2014. 402 The Truth lies in Rostock, TC: 55:45. 403 Dass Vietnames_innen von »der DDR-Regierung als billige Arbeitskräfte ins Land geholt«, und »seit den letzten 10 Jahren« in Lichtenhagen lebten, macht der Film bereits zu Beginn deutlich. (The Truth lies in Rostock, TC: 02:20). An späterer Stelle erzählt Ngyen Do Thin, wie er selbst 1982 in die DDR kam, wo er in verschiedenen Betrieben als Dolmetscher tätig war (Ebd., TC: 31:26f.). Stellvertretend für die Geflüchteten berichten Anka und Stoyan von ihren jeweiligen Verfolgungsgeschichten.

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schönigenden Worte Kupfers, der vor den Realitäten im Land die Augen verschließt. Institutioneller Rassismus Institutioneller Rassismus in Form ungleicher Behandlung, die einem jungen Vietnamesen und einem weißen Randalierer durch die Polizei zuteil wird, kommt in einer zufällig von den Vietnames_innen gefilmten Episode ins Bild. Diese wird eingerahmt von zwei Sequenzen, in denen es um die Eskalation der Gewalt während des Pogroms geht. Wurde zuvor gezeigt, wie einige TäterInnen am Nachmittag des 23. August 1992 ins Sonnenblumenhaus eindringen und ohne Verhaftung dort von der Polizei herausgeholt werden, wird aus dem Videomaterial der Vietnamesen_innen deutlich, dass die Einsatzkräfte gegen sie deutlich rabiater vorgingen. Von einem Balkon wurde die Verhaftung eines jungen Vietnamesen gefilmt, der angeblich einen Gegenstand aus dem Fenster geworfen hatte.404 Im Bild ist ein dunkelhaariger junger Mann zu sehen, dem mehrere Beamte die Hände auf den Rücken fesseln. Ein Verhafteter aus den Reihen der Randalierer wird nun neben ihn gestellt. Ein Polizist zieht dem vietnamesischen Jungen an den Haaren den Kopf in den Nacken. Auf der Tonspur kommentiert Ngyen Do Thin die Szene. Während er beschreibt, wie die Polizisten den Jungen »an den Haaren nach hinten gezogen« haben, wird zurück auf ihn selbst geschnitten. Er ahmt die Kopfhaltung nach, in welche der Festgenommene gezwungen wird. »[D]amit er nach oben gucken musste, damit alle auch schön sehen können, wie ein vietnamesischer Verbrecher aussehen soll«, erläutert er. Thin rekurriert hier auf weitverbreitete Stereotype von Vietnames_innen als Kriminelle. Wie Angelica Weinbender vom Migrationsrat Berlin Brandenburg im Jahr 2012 feststellt, trifft eine »gesonderte und vermehrte Behandlung von People of Color durch die Polizei […] auf öffentliche Zustimmung. Die Beamt_innen können davon ausgehen, dass ein Übergriff zumindest in Kauf genommen wird. Sie können darauf hoffen, dass die Projektion auf den vermeintlichen Drogendealer oder Terroristen verstanden und die von ihnen vorgenommene Zuordnung ihres Opfers zu dieser Gruppe als verständlicher Irrtum angesehen wird.«405 »Und der Randalierer, der deutsche Jugendliche, der blieb daneben so frei stehen«, fährt Thin fort. Am Ende habe sich zudem herausgestellt, dass der vietnamesische Junge zu Unrecht beschuldigt wurde. Auch in dieser Szene bestärken Bild und Ton einander. Dass Thins Schilderung durch das Videomaterial belegt wird, verleiht ihr zusätzliches Gewicht. Die Rahmung durch Bilder des 404 Ebd., TC: 36:55. 405 Weinbender 2012, S. 30.

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rassistischen Gewaltexzesses tut ein Übriges, um die Ungleichbehandlung von Opfern und Tätern zu skandalisieren. Der Film endet mit einem besonders drastischen Beispiel struktureller Ungleichbehandlung: In ihrem letzten Kommentar erläutert die Erzählerin, dass die »deutschen Nachbarn der Vietnamesen als Kompensation für die Randale einen Monat mietfrei wohnen« durften, während die Betroffenen weder Mieterlass noch einen anderen finanziellen Ausgleich erhielten und von Abschiebung bedroht waren.406 Das letzte Wort hat Ngyen Do Thin. Er hätte sich als Entschädigung einen Abschiebestopp und die Gewährleistung einer gesicherten Aufenthaltsgenehmigung gewünscht.407

Fazit: Biedermänner und Brandstifter Der in Zusammenarbeit zwischen den britischen FilmemacherInnen Siobhan Cleary und Mark Saunders und rassismuskritischen Rostocker_innen entstandene Film The Truth lies in Rostock nähert sich den Fragen nach den Ursachen, Auswirkungen und der Verantwortung für das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als mehrstimmige Collage aus mitunter gegensätzlichen Bildern und Tönen. Er umkreist das Pogrom mittels weiterführender Exkurse, die sich unter anderem mit dem Niedergang des Rostocker Hafens nach 1990 und den Debatten um die Einschränkung des Asylrechts beschäftigen oder die prekären Lebensbedingungen im Flüchtlingslager Gelbensande aufzeigen. Im Zentrum steht jedoch eine chronologische Rekonstruktion der Pogromtage. Ein Teil des Filmmaterials wurde von den angegriffenen Vietnames_innen und ihren Unterstützer_innen selbst aufgenommen. Das zu privaten Zwecken oder für die antifaschistische Recherche erstellte Videomaterial ist an seiner amateurhaften Bildqualität zu erkennen. Einige Aufnahmen aus dem Inneren des angegriffenen Sonnenblumenhauses stammen von einem Kamerateam des ZDF, das dort, überrumpelt von den einsetzenden Angriffen, gemeinsam mit den Vietnames_innen eingeschlossen war. Mehrfach berichten die Eingeschlossenen in diesen Sequenzen von ihrer Verzweiflung angesichts des unzureichenden Polizeischutzes.408 Wenn etwa Ngyen Do Thin Szenen der Flucht in einen benachbarten Gebäudeteil nachträglich mit resigniert klingender Stimme kommentiert und erläutert, bestärken Bild und Voice-over einander. Die Bilder der rassistischen Gewalteskalation, die häufig durch extradiegetische Musik zusätzlich als bedrohlich markiert werden, stehen dabei nie für sich allein. Meist sind sie von Interviews mit Opfern, (Mit-)TäterInnen und ZuschauerInnen 406 The Truth lies in Rostock, TC: 1:17:09. 407 Ebd., TC: 1:17:19. 408 Ebd., TC: 59:33.

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unterlegt. Dabei geraten Bild und Ton immer wieder in ein Spannungsverhältnis. Wenn Aufnahmen der eskalierenden Gewalt auf der Tonebene mit beschönigenden Statements von Anwohner_innen sowie der zuständigen Politiker unterlegt werden, weist der Film dem Bild einen Beweisstatus zu, der die Ausflüchte und Verharmlosungen der politisch Verantwortlichen als solche entlarvt. Die stets kommentierte Verwendung der Aufnahmen steht zudem einer voyeuristischen, wenn nicht gar neonazistischen Aneignung dieser Bilder entgegen. Die Unfähigkeit der Behörden aufzuzeigen, angemessen auf das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zu reagieren – sei es aus Desinteresse oder Duldung –, ist eins der zentralen Anliegen des Films, der wegen seiner klaren Positioniertheit, seiner Parteilichkeit mit den Angegriffenen an die Tradition des US-amerikanischen Radical Cinema denken lässt. Wie die Filmschaffenden dieser cineastischen Strömung, die in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Studierendenprotesten gegen den Vietnamkrieg wurzelt, zielt auch The Truth lies in Rostock auf die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit. Sein Bestreben, der offiziellen Deutung ein anderes Narrativ entgegenzusetzen, wird etwa offensichtlich, wenn der Film die polizeiliche Untätigkeit angesichts der mehrtägigen rassistischen Gewalteskalation mit den massiven Repressionen gegen zwei antifaschistische Solidaritätsdemonstrationen kontrastiert: Anders als während des Pogroms ist es hier plötzlich möglich, massive Personenkontrollen auf den Autobahnen und Zufahrtsstraßen durchzuführen und Hubschrauber einzusetzen.409 Indem gezeigt wird, dass die Polizei sehr wohl in der Lage ist, auf das, was ihre Dienstherren als eine Gefährdung des Allgemeinwohls betrachten, zu reagieren, wird ersichtlich, dass sie diese Gefahr weniger im rassistischen Mob vor dem Sonnenblumenhaus gesehen haben denn in den Protesten dagegen. Dies veranschaulichen nicht zuletzt die Statements Rostocker Politiker_innen verschiedener Fraktionen, die, abgesehen von einer Abgeordneten der PDS, ihre Skepsis gegenüber den antifaschistischen Protesten kundtun. Günter Aurich von der FDP Rostock befürchtet gar ein gemeinsames Vorgehen gegen die Polizei von »Rechts- und Linksradikalen«. Die in diesen Statements anklingende Extremismusthese, der zufolge Rechts- und Linksextremismus als Abweichungen von einer demokratischen Norm, die in einer imaginierten Mitte verortet wird, gleichgesetzt werden, stellt der Film in seiner Gesamtheit aus Bildern und Tönen infrage: Er zeigt die Verbreitung rassistischer Einstellungen in der Rostocker Bevölkerung auf. Großen Raum bekommen die Perspektiven der Angegriffenen. In mehreren Interviews berichten die Geflüchteten Anka und Stoyan über ihre Fluchtgeschichten und die Situation, die im Vorfeld des rassistischen Pogroms vor der ZAST herrschte. Ihre Schilderungen werden von Bildern begleitet, die frierende 409 Ebd., TC: 41:25.

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Menschen zeigen, die dort auf ihre Registrierung warten. Sie bestätigen ihre Worte zusätzlich. Wenn von gewalttätigem Rassismus und rechter Gewalt Betroffene von ihren Ängsten vor Angriffen berichten, verleiht der Film diesen auf der Bildebene Ausdruck: Aufnahmen menschenleerer nächtlicher Straßen und leerer Bahnhöfe versinnbildlichen Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Diese solidarische Perspektiviertheit und der Fakt, dass Repräsentant_innen der Geflüchteten vor der ZAST die Screentime zugestanden wird, selbst über ihre Erfahrungen zu berichten, hebt The Truth lies in Rostock aus der Menge der medialen Produktionen heraus, in denen gerade ihre Stimmen weitgehend fehlen.

4.2

Die Perspektiven der Rassismuserfahrenen: No-Budget-Produktionen über die Pogromzeit und ihre Folgen

»Ich wünsche mir, dass die Opfer nicht mundtot gemacht werden und mehr reden. Geht auf die Straßen und erzählt eure Geschichten. Denn wir als Opfer sind die Hauptzeugen des Geschehens. ›Keiner zeugt für den Zeugen.‹ Das hat Paul Celan gesagt. Wir müssen unsere Geschichten erzählen. Bitte lasst Euch Eure Geschichten nicht von anderen Leuten klauen. Denn die Geschichten der Opfer sind das Wichtigste. Sie erinnern an das Geschehene und an das, was noch erinnert werden muss.« (I˙brahim Arslan, antirassistischer Aktivist und Überlebender des Möllner Brandanschlags)

Fragen danach, wer die Möglichkeit hat, für wen zu sprechen, sind immer auch Fragen nach politischer Partizipation und damit Fragen nach Zugängen zu gesellschaftlichen, politischen, symbolischen und ökonomischen Ressourcen. Darauf haben Maria Do Castro Varela und Nikita Dhawan eindrücklich hingewiesen.410 Um die den repräsentationalen Ungleichheiten zugrundeliegenden Verhältnisse zu verändern, sei ein Mehr an Selbstrepräsentation der von verschiedenen Formen der Diskriminierung Betroffenen zwar ein Schritt in die richtige Richtung, dennoch weisen die Autorinnen darauf hin, dass »die bloße Inklusion von mehr ›Minorisierten‹ nicht die gewaltvollen Grenzziehungen ins Wanken bringen, die eine gleichwertige Partizipation differenter Kollektive verhindern. Die Herausforderung liegt darin, mehr Raum zur Repräsentation anti-hegemonialer Politiken zu schaffen.«411 Im Folgenden möchte ich auf eine Reihe kritischer Dokumentationen aus dem No-Budget-Bereich eingehen, die den massiven Anstieg rechter Gewalt seit den 1990er Jahren thematisieren. Auch wenn ich mich entschieden habe, meine Filmanalysen auf deutsche Produktionen zu beschränken, die in den Kinos sowie im TV liefen, in überregionalen 410 Castro Varela, Dhawan 2007, S. 29–47. 411 Castro Varela, Dhawan (2007), S. 40.

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Rassistische Gewalt im Film

Feuilletons rezensiert wurden und – einem breiten Publikum zumindest zugänglich – den Diskurs über rechte Gewalt mitprägten, sollen folgende Filme nicht unerwähnt bleiben. An einigen von ihnen lassen sich die von Castro Varela und Dhawan eingeforderten antihegemonialen Repräsentationspolitiken aufzeigen. In Arbeiten wie Bruderland ist abgebrannt (R: Angelika Nguyen, D 1991), Viele habe ich erkannt (R: Helmut Dietrich, Julia Oelkers, Lars Maibaum, BRD 1992), Das Hoyerswerdasyndrom (R: Mogniss H. Abdallah, Yonas Endrias, FR 1996), The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB 1996)412 Leere Mitte (R: Hito Styerl, D 1998), Duvarlar – Mauern – Walls (R: Can Candan, USA 2000), und Nach dem Brand (R: Malou Berlin, D 2012) setzen sich vor allem Filmschaffende und Aktivist_innen of Color und ihre Verbündeten mit rassistischer Gewalt seit den 1990er Jahren und ihren Folgen auseinander. Ob aus bewusster Entscheidung ihrer Macher_innen für unabhängige Produktionsund Vertriebsweisen oder dem schlichten Mangel an Zugängen zu den Förderund Vertriebsstrukturen der deutschen Filmindustrie konnten sie weder ein breites Kinopublikum erreichen, noch wurden sie seitens des Feuilletons wahrgenommen. Manche von ihnen liefen jedoch auf Filmfestivals oder im Rahmen thematischer Filmreihen, einige wurden nachts im Fernsehen gezeigt. Einige lassen sich auch online finden. Sie wurden u. a. von der Initiative Rassismus tötet auf die Onlineplattform youtube gestellt. Viele habe ich erkannt ist ein filmisches Gedächtnisprotokoll über die Erfahrungen eines mosambikanischen Vertragsarbeiters in der DDR und den ersten Nachwendejahren.413 In dem 25-minütigen Interview berichtet Manuel Alexandre Nhacutou sowohl von seiner Zeit in der ehemaligen DDR, als auch vom rassistischen Pogrom von Hoyerswerda, von welchem er direkt betroffen war. Gestaltet mit einfachen filmischen Mitteln – die meiste Zeit blickt Nhacutou frontal in die Kamera, an wenigen Stellen sind die Schauplätze des Geschehens, der Braunkohletagebau von Hoyerswerda sowie die Wohnbaracken der Vertragsarbeiter zu sehen – liegt die Bedeutung des Films vor allem in seinem Status als Quelle.414 Er ist eins der wenigen filmischen Zeugnisse des Rassismus in der DDR, dessen Existenz, wie Harry Waibel gezeigt hat, lange Zeit seitens der zuständigen Behörden tabuisiert wurde, widersprach er doch der antifaschistischen Staatsdoktrin.415 Im ersten Drittel des Interviews spricht Nhacutou de412 Vgl.: Kapitel 4.1 The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1996): Eine Annäherung an das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als Teamarbeit. 413 Vgl. dazu: Stegmann o. J. a. 414 Nichols verweist auf die Ähnlichkeit solcher filmischen Zeugnisse mit Quellen der Oral History, doch seien letztere im Gegensatz zu dem im Film verwendeten Interviewmaterialien nicht selektiert und arrangiert. Nichols 2010, S. 194. 415 Schließlich zog »die Existenz von Rassisten und Neo-Nazis«, so Waibel, »den von der SED

No-Budget-Produktionen über die Pogromzeit

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tailliert von seinen Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Unterbringung in hölzernen Betriebsbaracken mit Dreibettzimmern, separiert von der lokalen Bevölkerung; am Eingang kontrollierte ein Pförtner das Kommen und Gehen der Bewohner. Er schildert einen so fremdbestimmt wie starr reglementierten Alltag zwischen harter Arbeit und Berufsausbildung, berichtet von den Schikanen seitens der Betriebsleitung sowie der weißen Arbeitskollegen. Außerhalb des Betriebs waren er und seine Schwarzen Kollegen einer ständigen rassistischen Bedrohung ausgesetzt. Einige von ihnen wurden krankenhausreif geschlagen und starben. Vom Betrieb bekamen die Betroffenen keine Unterstützung, da die Vorgesetzten die Schuld stets bei den angegriffenen Mosambikanern suchten. Rassismus, so wird aus seiner Schilderungen deutlich, war bereits zu DDR-Zeiten ein massives Problem. Der Zeitzeuge räumt so mit der weitverbreiteten Auffassung auf, dass rassistische Gewalt ein Resultat sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sei. Im zweiten Teil des Films beschreibt er die Zeit nach der Deutschen Wiedervereinigung: Als direkt Betroffener gibt er Auskunft über das Pogrom von Hoyerswerda sowie dessen Vorgeschichte. Dieses setzt er in einen Zusammenhang mit den Kämpfen der Vertragsarbeiter um die ihnen zugesicherte Abfindung, die ihnen vor ihrer Abschiebung zustand. Der Titel des Films bezieht sich auf NachbarInnen und KollegInnen, die er unter den Angreifern erkannte. Obwohl sie laut Nhacutou sogar über die genauen Daten der geplanten Abschiebungen informiert waren, beteiligten sich viele von ihnen an den Angriffen auf ihre Schwarzen Kolleg_innen.416 verteidigten staatlichen und gesellschaftlichen Anspruch, die Grundlagen für Faschismus seien mit ›Stumpf und Stiel ausgerottet‹ worden, grundsätzlich in Zweifel« Waibel 2012, S. 86. »Der Anti-Faschismus der SED war eine zentrale Ideologie für ihre Legitimation und auch deshalb entwickelte sie die Geheimniskrämerei um die Hakenkreuzschmierereien, die Verehrungen der Nazis, die mehr und mehr offen operierenden Rassisten. In einer Gesellschaft, in der ›Völkerfreundschaft‹, und ›Proletarischer Internationalismus‹ zu elementaren Postulaten von Ideologie und Propaganda gehörten, passte es nicht, wenn Afrikaner, Araber oder Juden feindselig abgelehnt, angegriffen, verletzt oder gar getötet wurden«, resümiert Waibel. Ebd., S. 84. 416 Im 6-minütigen TV-Beitrag 20 Jahre Hoyerswerda – Was hat sich seitdem verändert? (R: Charlotte Schwab, Lars Maibaum, Julia Oelkers, BRD 2011) begleitet ein Kamerateam Manuel Alexandre Nhacutou, den Protagonisten aus Viele habe ich erkannt, sowie Emmanuel G. und Emmanuel Adu Agyeman zum 20. Jahrestag des Pogroms in die sächsische Stadt. Alle drei waren zur Zeit der Gewalteskalation in Hoyerswerda untergebracht und mussten die rassistischen Angriffe miterleben. Vor Ort wollen sich nun einen Eindruck davon verschaffen, ob und wie sich die Stadt verändert hat. Wie wird dort im Jahr 2011 mit dem Pogrom umgangen? Sie besuchen eine Gedenkausstellung und hören 20 Jahre später das erste Mal eine Entschuldigung von offizieller Seite. Doch bei der Begehung des damaligen Tatorts werden sie von AnwohnerInnen rassistisch beschimpft und bedroht. Vgl. Führer 2011. Agyeman 2014 S. 54. Aus der Bestandsaufnahme sollte später eine längere Dokumentation entstehen, die bis dato nur auszugsweise existiert, da sich keine Projektfinanzierung fand.

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Das Pogrom von Hoyerswerda war titelgebend für Mogniss H. Abdallahs und Yonas Endrias’ Dokumentarfilm Das Hoyerswerdasyndrom (FR 1996, dt. OF). Die beiden antirassistischen Aktivisten fassen es in ihrem partizipatorischen Dokumentarfilm als Syndrom für den Rassismus der 1990er Jahre auf.417 Eingeleitet von Berichten betroffener Zeugen des Pogroms bilden die so traumatischen wie lebensbedrohlichen Rassismuserfahrungen der jungen Namibianer Jona und Lucas den roten Faden der Handlung. Beide kamen bereits zu DDRZeiten als Solidaritätsstipendiaten nach Wittenberge. Die DDR hatte ihnen und weiteren Namibianer_innen als Geste der Unterstützung für die dortige Befreiungsbewegung eine Ausbildung versprochen. Eine Ausbildung, die sie jedoch niemals erhalten haben.418 Ohne Zukunftsaussichten wurden die meisten Solidaritätsstipendiat_innen bald nach der deutschen Vereinigung abgeschoben. 1991 wurden Jona und Lucas bei einem rassistischen Angriff auf das Wohnheim, in dem sie und weitere namibianischen Lehrlinge lebten, schwerstverletzt.419 Im Film berichten die beiden, wie etwa 30 mit Gaspistolen, Eisenstangen und Messern bewaffnete Angreifer auf die Jugendlichen einschlugen und Lucas und Jona auf den Balkon im vierten Stock drängten. Zwei Rassisten warfen Jona 16 Meter in die Tiefe. Er musste eineinhalb Jahre im Krankenhaus behandelt werden. Auch Lucas stürzte vom Balkon, fiel mit dem Kopf auf ein Eisengeländer und lag drei Wochen im Koma. Filmemacher Endrias unterstützte insbesondere Jona nach dem Angriff. Er begleitete ihn bei seinen Versuchen, die Ereignisse zu verarbeiten und die ihm versprochene Berufsausbildung doch noch zu erhalten. Bis auf wenige Interviewsequenzen, in denen der Filmemacher gleich anderen Gesprächspartnern Statements abgibt, hält er sich im Hintergrund. Im Zentrum seines Films steht Jona, der von seinen Erfahrungen mit institutionellem wie gewalttätigem Rassismus berichtet. Hier kommentiert er etwa die als Reaktion auf die Brandanschläge von Mölln und Solingen seitens der weißen Mehrheitsgesellschaft durchgeführten Happenings wie Lichterketten und Rockkonzerte oder die erlebnispädagogischen Angebote für junge Neonazis kritisch.420 Indem er Jona als Experten auftreten lässt, nimmt der Film das Diktum des Überlebenden des Möllner Brandanschlags und antirassistischen Aktivisten I˙brahim Arslan in gewisser Weise vorweg, dass die 417 Mit dem Dokumentarfilmtheoretiker Nichols betrachte ich die Dokumentarfilme als partizipatorisch, in denen Interaktionen zwischen Filmenden und Gefilmten zentral und sichtbar sind. Vgl.: Nichols (2010), S. 184ff. 418 Auch das wiedervereinigte Deutschland, der Rechtsnachfolger der DDR, fühlte sich nicht zuständig, den Jugendlichen die versprochene Ausbildung zu gewähren. Ohne diese erhalten zu haben, wurden die meisten von ihnen abgeschoben. 419 Das Hoyerswerdasyndrom, (R: Mogniss H. Abdallahs, Yonas Endrias, FR 1996, dt. OF), TC: 09:58ff. 420 Ebd., TC: 30:03ff. An anderer Stelle werden die sogenannten Erweckungsreisen für Neonazis nach Israel und die Türkei kritisiert.

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Opfer keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehens seien:421 Wenn Jona etwa zu seinem Anwalt oder zu Gesprächen mit der Ausländerbeauftragten begleitet wird, erscheint er nicht als hilfloses Opfer, sondern als aktiv Handelnder mit klaren Handlungsoptionen, Zielen und Forderungen. Weitere Themen des Films sind die Reaktionen der von Rassismus Betroffenen auf die rechten Morde und Angriffe der 1990er Jahre. Im Film werden unterschiedliche Formen des Widerstands und der Selbstorganisierung422 sichtbar. Sie werden in einen starken Kontrast zu den Kampagnen der weißen Mehrheitsgesellschaft gesetzt. Neben inhaltlicher Kritik an Plakataktionen / la Mein Freund ist Ausländer423 und TV-Spots, die Rassismus eher als moralisches denn als strukturelles Phänomen fassen, macht der Film deutlich, dass die staatlich geförderten Aktivitäten gegen Rassismus gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln: Es sind weiße Deutsche, die die Jobs und Machtpositionen bei der geförderten – und bezahlten – Arbeit gegen Rassismus innehaben, während die potenziell Betroffenen leer ausgehen.424 Auf diese Weise bleibt das Wissen und die Expertise derjenigen, die Rassismus am eigenen Leib erfahren, ungehört. Der Film ist einer der wenigen, der verschiedene Spielarten des Rassismus aus der Perspektive rassismuserfahrener AktivistInnen kritisiert. Auch bei einigen medialen Verarbeitungen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen werden die von Castro Varela und Dhawan eingeforderten antihegemonialen Politiken sichtbar : Mit ihrem dokumentarischen Theaterstück Sonnenblumenhaus425 schaffen Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos der »Sicht der ehemaligen Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen« Gehör, der »Vietnamesen, also [der] Menschen, die in dem Haus gefangen, belagert und angegriffen worden waren«, deren Sicht, wie die AutorInnen kritisieren, »völlig unterrepräsentiert« war.426 Trotz großer Schwierigkeiten, Fördergelder für solch ein Projekt zu akquirieren,427 kam es im April 2014 in Hamburg zur Aufführung.428 Wie auch seine Bearbeitung als Hörstück für das Freie Senderkombinat Hamburg (FSK) basiert es auf originalgetreuen Transkriptionen von Interviews mit Überlebenden. Ihren Erinnerungen leihen drei SchauspielerInnen Körper und Stimme. Sie performen Auschnitte aus den Zeugenberichten der Zeug_innen mit Körper und Stimme. Die einzelnen Zeug_innen bleiben namenlos. Die 421 422 423 424 425

Arslan, Schulz 2012. Das Hoyerswerdasyndrom, TC: 30:03ff. Ebd., TC: 33:30. Ebd., TC: 35:39ff. Das Theaterstück Sonnenblumenhaus (R: Dan Thy Nguyen, Iraklis Panagiotopoulos) hatte seine Uraufführung am 26. April 2014 in Hamburg. 426 Nguyen 2014. 427 Ebd. 428 Das gleichnamige Hörstück wurde im Februar 2015 im Freien Sendekombinat (FSK) Hamburg uraufgeführt. Nguyen, Panagiotopoulos 2015.

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Statements lassen sich jedoch aufgrund biografischer Details den verschiedenen Figuren zuordnen. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Intimität und Anonymität. Unterteilt in chronologisch angeordnete Akte beginnen ihre Geschichten mit der Kindheit in Nord- oder Südvietnam während des Krieges. Sie sprechen davon, wie sie jeweils in die DDR kamen, von ihrem dortigen Leben als Vertragsarbeiter_innen mit seinen Reglementierungen,429 von ihren Träumen und Hoffnungen. Sie berichten, wie sie den Fall der Mauer und die Zeit nach der Wiedervereinigung erlebten. Rassismuserfahrungen machten viele bereits vor dem Pogrom. Auf dieses und seine Nachwirkungen wird ebenfalls ausführlich eingegangen. Die Bedingungen und (Un-)Möglichkeiten über das Pogrom zu sprechen, werden in einer Art Vorspann erwähnt. Hier erfährt man, dass nur wenige der damals Betroffenen bereit waren, davon zu erzählen. Es ist kein Vertrauen in die Medien da, vielen ist es unangenehm mit Journalist_innen zu sprechen, auch weil »die Angst bis heute da« ist. Da mit Dan Thy Nguyen jemand aus der zweiten Generation vietnamesischer Deutscher nun »die Geschichte aufarbeiten will, ist es anders«, sagte ein Zeitzeuge, der mit der weißen Presse nicht mehr geredet hätte. Bezüglich der Repräsentationspraxen bildet auch Revision eine Ausnahme. Wie ich in meiner Analyse zeigen werde, sind Frage danach, wer welche Erfahrungen macht und wer spricht, hier zentral. Über das Pogrom von RostockLichtenhagen und weitere rassistische Gewalttaten spricht dort Romeo Tiberiade, der direkt betroffen war. Die TV-Produktion The Truth lies in Rostock behandelt die (lokal-)politischen Entscheidungen, die das Pogrom ermöglichten. Wie ich in im vorangegangenen Kapitel ausgeführt habe, entstand der Film in enger Zusammenarbeit mit den Angegriffenen und ihren Unterstützer_innen. Entsprechend zeigt er ihre Perspektive, Ängste und Verzweiflung, aber auch ihren Mut und ihre Selbstverteidigung. Angelika Nguyen zeigt in ihrer 21-minütigen Dokumentation Bruderland ist abgebrannt Episoden aus dem Leben vietnamesischer Vertragsarbeiter_innen in der DDR und der Zeit nach 1990. Rassismus und die Selbstverteidigung dagegen sind ein zentrales Thema. Ihre Interviewpartner_innen, die zur Zeit der Dreharbeiten in Ostberlin lebten, gewähren Einblicke in ihre vielfältigen Lebensgeschichten. Nach der Wiedervereinigung verloren viele von ihnen ihre Arbeitsstellen und wurden abgeschoben, andere schafften es, sich dagegen zu wehren.430 429 Eine Zeitzeugin berichtet, dass bei Schwangerschaft Zwangsabtreibung und Abschiebung drohte. Sie erzählt, wie sie ihre Schwangerschaft bis zum 7. Monat verheimlichte und nach ihrer Hochzeit 8.000 D-Mark zahlen musste, um dem Staat ihre Arbeitskraft zu ersetzen. Vgl. Nguyen, Panagiotopoulos 2015.Vgl. dazu auch: Beth, Tuckermann 2012 S. 102f. 430 Zur Lebenssituation vietnamesischer Vertragsarbeiter_innen vgl. Ebd. S. 104–110. Rehder 2013.

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In ihrem Essayfilm Leere Mitte untersucht Hito Styerl am Beispiel des Potsdamer Platzes, Berlins damaliger leerer Mitte, wie nach dem Fall der Berliner Mauer Grenzen geöffnet und an den Außengrenzen der EU neu errichtet wurden. Styerl beschreibt auch, wie neue Grenzen nach Innen errichtet wurden: »Nach dem Fall der Berliner Mauer wird das leere Minenfeld zwischen den Mauern, der arische Schrotthaufen des Dritten Reiches, das Zentrum kolonialer Macht, zur Planung freigegeben. Im selben Zeitraum werden die Grenzen nach Außen zur Festung ausgebaut, während nach Innen National Befreite Zonen entstehen.«431 Ein Beispiel für die inneren Grenzen ist der Rassismus, der Bauarbeitern of Color auf den Baustellen am Potsdamer Platz entgegenschlug. Auch Can Candan thematisiert die Konsequenzen des Mauerfalls an einem konkreten Ort. In Duvarlar – Mauern – Walls untersucht der Filmemacher die Effekte, welche die Öffnung der Berliner Mauer auf die dort lebenden Menschen mit türkischem Familienhintergrund hatte. Fast alle Interviewpartner_innen vom Arbeiter bis zur Studentin berichten von einem massiven Anstieg rassistischer Diskriminierung. Sie sprechen über Arbeitgeber_innen, die plötzlich keine »Türken« mehr einstellten, Erfahrungen mit rassistischer Gewalt und Bedrohungen. In seinen subjektiven Kommentaren reflektiert Candan über seine eigenen Erfahrungen der Zugehörigkeit und des Ausgegrenztwerdens als türkischer Stipendiat in den USA. Deutlich benennt er Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen sich selbst und den in Deutschland Interviewten, etwa sein Privileg, nach Deutschland gekommen zu sein, um einen Film zu machen und nicht aus existentiellen, materiellen oder politischen Gründen wie einige seiner Gesprächspartner_innen. Während diese beschreiben, von weißen Deutschen immer wieder aufgrund von Merkmalen wie Akzent, Haar- oder Hautfarbe konstruierten Zuschreibungen als »Fremde« wahrgenommen zu werden, machte Candan in den USA die Erfahrung, zumindest bis sein Akzent zu hören war, als US-Amerikaner zu passieren. Wie Candan und seine Protagonist_innen konstatiert auch die Schwarze deutsche Lyrikerin und antirassistische Aktivistin May Ayim (1960–1997) seit der Deutschen Wiedervereinigung ein Erstarken des hiesigen Rassismus. Als Schwarzes Kind bei weißen Pflegeeltern aufgewachsen, war die Allgegenwart des Rassismus sowie Schwarze Geschichte und Gegenwart in Deutschland ein zentrales Thema in ihren wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten.432 Ayim war eine der Gründerinnen der ISD (Initiative Schwarzer in Deutschland) und ADEFRA (Schwarze Frauen in Deutschland). In der Dokumentation Hoffnung im Herzen: Mündliche Poesie – May Ayim (D 1997) porträtiert Maria Binder die 1997 verstorbene Künstlerin mit Ausschnitten aus ihren Spoken-Word-Perfor431 Leere Mitte (R: Hito Steyerl, D 1998). 432 Vgl.: Oguntoye, Opitz, Schultz 1986. Ayim 1997 Berlin. Hügel, Lange, Ayim 1999. Aim 2013.

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mances, Interviews und Gedichten. Diese ergänzt die Filmemacherin behutsam mit biografischen Daten. In ihrer Dokumentation Nach dem Brand (D 2012) porträtiert die Filmemacherin Malou Berlin die Überlebenden des Möllner Brandanschlags 20 Jahre nach der rassistischen Tat. Im Zentrum des Films stehen I˙brahim Arslan, der den Brand als 7-Jähriger schwerverletzt überlebte und seine Eltern Faruk und Hava. In mehreren Interviewsequenzen äußern sie sich zum Verlust der geliebten Angehörigen – der Mutter bzw. Großmutter Bahide Arslan, der damals 4-jährigen Yeliz und der 14-jährigen Ays¸e Yılmaz, die gerade zu Besuch aus der Türkei war – und dem Weiterleben mit der traumatischen Erfahrung. Während sich der größte Teil der deutschen Produktionen, dies gilt sowohl für den Spielfilm- als auch den Dokumentarfilmbereich, vornehmlich mit den neonazistischen GewaltäterInnen und ihren Lebensgeschichten auseinandersetzen, nimmt Nach dem Brand konsequent die Perspektive der Überlebenden ein.433 Die beiden neonazistischen Täter – einer von ihnen wird während der Dreharbeiten aus der Haft entlassen – interessieren nur am Rande und nur in Bezug auf ihre Opfer. Es sind die Überlebenden, um die es in diesem Film geht, der, wie Berlin und Arslan im Rahmen einer Veranstaltung berichteten, auf ausdrücklichen Wunsch I˙brahim Arslans entstanden sei.434 Diese Entstehungsgeschichte wie auch die Freundschaft zwischen Filmenden und Gefilmten erklärt die intimen Einblicke, die die Familie dem Kamerateam gewährte, etwa wenn Familienmitglieder offen über ihre psychischen und physischen Verletzungen sprechen, die Anwesenheit der Kamera in privaten Momenten gestatten und familieninterne Kontroversen dem Publikum zugänglich machen. Während die Ausrichtung des jährlichen Gedenktags am 23. November insbesondere für I˙brahim Arslan trotz der damit einhergehenden großen psychischen Belastung ein wichtiges Anliegen ist, bezweifelt seine Frau Özlem, dass Heilung erfolgen könne, wenn diese Wunde Jahr für Jahr aufs Neue aufgerissen würde. Eindrücklich zeigt der Film, wie der mörderische Brandanschlag und seine Folgen das Leben der Angehörigen noch Jahrzehnte später prägen. Ein wichtiges Zeitdokument ist der 5-minütige Kurzfilm Kein 10. Opfer! (D 2012).435 Er dokumentiert die Schweigemärsche im Mai und Juni 2006 in Kassel und Dortmund, die unter diesem Motto von den Angehörigen der vom NSU Ermordeten Halit Yozgat und Mehmet Kubas¸ık organisiert wurden, die damals selbst noch im Fokus polizeilicher Ermittlungen standen. An dem von Familie Yozgat und ihrem Umfeld organisierten Gedenkmarsch in Kassel nahmen neben 433 Vgl. Stegmann 2010. Stegmann, Radvan 2013, S. 1–11. 434 Dies erzählte I˙brahim Arslan im Rahmen einer Veranstaltung mit weiteren Überlebenden rassistischer Gewalt am 11. Oktober 2014 beim Allmende e. V. in Berlin. 435 Der Film Kein 10. Opfer! ist auch auf Youtube zu finden: https://www.youtube.com/ watch?v=ILTB-TPC7RY (abgerufen: 16. 06. 2016).

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I˙brahim Arslan vor dem Tatort

Angehörigen anderer Opferfamilien 4.000 Menschen vorwiegend aus migrantischen Communities teil. Der Schweigemarsch in Dortmund wurde durch Familie Kubas¸ık und ihre Freund_innen veranstaltet.436 Auffällig ist das Fehlen der weißen Zivilgesellschaft sowie des antifaschistischen und antirassistischen Spektrums. »Die Schweigemärsche stellten den ersten kollektiven öffentlichen Protest gegen die stigmatisierenden Ermittlungen und Medienberichte sowie gegen die Ignoranz der Öffentlichkeit dar. Der Protest lag in der Überzeugung begründet, dass es sich um eine rassistisch motivierte Mordserie handeln musste«, schreiben die Autor_innen des Films. Er basiert auf Videomaterial, das »zur persönlichen Erinnerung und Dokumentation für die betroffenen Familien, Mitorganisator_innen der Schweigemärsche und Freund_innen« erstellt wurde.437 Er enthält neben Bildern der Schweigemärsche selbst Ausschnitte der Rede von I˙smail Yozgat, dem Vater des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat: »Warum wird erst nach neun Morden mit Hochdruck ermittelt?«, will der Vater von den zuständigen Behörden wissen.438 »Es sollen keine hinterhältigen Schüsse mehr fallen. Sorgen Sie dafür!«, fordert er. In seinem Kurzfilm 93/13 zwanzig Jahre nach Solingen (D 2012) schlägt Mirza Odabas¸ı einen Bogen vom Solinger Brandanschlag zu den Morden des NSU. Er begibt sich dazu auf eine Reise quer durch Deutschland. Im Zentrum seiner Kurzdokumentation steht ein Interview mit Mevlüde GenÅ, einer Überlebenden des Solinger Brandanschlags. Odabas¸ı trifft des Weiteren größtenteils rassis436 Vgl. dazu: Gruppe Was Nun?! 2014, S. 73. 437 Ebd. 438 Kein 10. Opfer!, TC: 02:02.

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muserfahrene Künstler_innen, etwa den Kabarettisten Fatih C ¸ evikkollu, und Politiker, die sich an die Pogromzeit, insbesondere den Brandanschlag von Solingen erinnern. Sie reflektieren, wie diese Zeit ihre Arbeiten und Auseinandersetzungen mit dem Thema Rassismus prägte. Ein besonderes Anliegen ist dem Filmemacher dabei das Zusammenwirken von strukturellem und gewalttätigem Rassismus.439 All diesen Filmen ist gemein, dass sie den Rassismus seit den 1990er Jahren und seine Folgen aus der Perspektive der Überlebenden sowie der davon Mitgemeinten thematisieren. Ihr Zugang lässt sich in Erweiterung der von Dokumentarfilmtheoretiker Nichols herausgearbeiteten Modi der Relationen zwischen Filmenden, ihren Subjekten und dem Publikum als »We speak to you about it« umschreiben.440 Thematisierungen des Rassismus aus Sprecher_innenposition von Aktivist_innen of Color und ihren Verbündeten sind bisher im deutschen Kino kaum vertreten.

4.3

Annäherungen an die tödlichen Schüsse von Nadrense 1992 im Dokumentarfilm Revision (R: Philip Scheffner, D 2012)

»In Deutschland stehen in der öffentlichen Debatte und in der Wissenschaft stets die Täter und die Einheimischen im Mittelpunkt – man sucht nach »feindlichen« Einstellungen und nach Gründen für diese Einstellungen, dann nach Gründen für das Umschlagen von Einstellungen in Gewalt und schließlich nach einer Therapie. Doch in Bezug auf die Machtwirkungen hat Michel Foucault einmal geschrieben, der Ausgangspunkt der Kritik müsse das »Wissen der Leute« sein oder besser gesagt, die »unterdrückten Wissensarten«. Das Wissen der Personen mit Migrationshintergrund über die alltägliche Ausgrenzung und die strukturellen Hürden hilft dabei, die konkreten Machtwirkungen institutioneller Prozesse zu begreifen.« (Mark Terkessidis) 439 »Vergiss nicht, Thilo Sarazin ist kein Mitglied einer rechtsradikalen Partei, mein Nachbar im dritten Stockwerk möglicherweise auch nicht. Die Kassiererin im Supermarkt, die Frauen mit Kopftuch ungern bedient, hat bestimmt einen ›Lieblingstürken‹ oder einen ›Lieblingsitaliener‹. Versteh mich bitte nicht falsch. Meine Grundschullehrer, die meinen Eltern einreden wollten, ich müsse auf eine Hauptschule, sind wahrscheinlich nicht ›ausländerfeindlich‹. Deswegen frage ich: Wo ist die Linie in diesem Land gezogen? Wann wird dem Hass so viel Selbstbewusstsein gegeben, dass er gnadenlos eine Waffe auf einen Menschen richten kann?«, fragt er sich und die Zuschauenden in einem Voice-over. 93/13 zwanzig Jahre nach Solingen R: Mirza Odabas¸ı D 2013 TC: 14:26. 440 Die anderen Modi der Adressierung beschreibt Nichols beispielsweise als »I speak about them to you«. Hier spricht die filmende Person über ein bestimmtes Thema, dass sie oder ihn nicht direkt betrifft. Die Zuschauenden werden von der Leinwandpräsenz der Filmschaffenden selbst oder über einen Voice-over-Kommentar adressiert. Ein anderes Beispiel ist das »I (or we) speak about us to you«, das sich häufig in autoethnografischen Filmen findet. Hier berichten Filmende, die spezifischen Communities angehören, Außenstehenden über diese Communities. Vgl. dazu: Nichols 2010, S. 59ff.

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Der Dokumentarfilm Revision (R: Philip Scheffner, D 2012) handelt von der Tötung Eudache Ca˘lderars und Grigore Velcus. Die beiden rumänischen Rrom441 wurden in den frühen Morgenstunden des 29. Juli 1992 auf einem Feld bei Nadrensee, Mecklenburg-Vorpommern, nahe der deutsch-polnischen Grenze von Jägern erschossen. Diese hatten die Gruppe, mit der Velcu und Ca˘lderar heimlich die Grenze überquerten, angeblich für Wildschweine gehalten. Die Todesschützen wurden nach nur drei sich über mehrere Jahre hinziehenden Verhandlungstagen im Oktober 1999 durch das Amtsgericht Pasewalk freigesprochen, da sich nicht klären ließ, welcher der Jäger den tödlichen Schuss abgegeben hatte.442 Im Januar 2002, nach der gescheiterten Berufung der Staatsanwaltschaft, bestätigte das Landgericht Stralsund dieses Urteil in zweiter Instanz. Ein rechtes Tatmotiv wurde nicht untersucht.443 Die Zeit führt die Tötung Ca˘lderars und Velcus in ihrer Chronik der Todesopfer rechter Gewalt als Verdachtsfälle auf, bei denen eine rechte Tatmotivation wahrscheinlich, wenn auch nicht zweifelsfrei nachweisbar ist.444 Im Raum steht zudem die Frage, welche Rolle institutioneller und struktureller Rassismus gegenüber Rrom_nja bei den polizeilichen Ermittlungen, während des Prozesses und im Umgang mit Zeug_innen und Angehörigen der Getöteten spielte. Hätte Eudache Ca˘lderar, der den Aussagen mehrerer Zeugen zufolge noch Stunden nach den Schüssen am Leben war, gar gerettet werden können, wenn die Polizei die Aussagen der Geflüchteten ernster genommen hätte? Die Gruppe, mit der er und Grigore Velcu die Grenze überquerten, war kurz nach den Ereignissen auf dem Gerstenfeld bei einer Verkehrskontrolle verhaftet worden. Sie hatten die Polizei bei ihrer Vernehmung von den Schüssen in Kenntnis gesetzt. Dem war die Polizei jedoch erst acht Stunden später nachgegangen.445 Eudache Ca˘lderar verblutete am Tatort. Knapp zwanzig Jahre nach der Tat begaben sich der Filmemacher Philip

441 Wie sich die Getöteten und ihre Familien selbst identifizierten, ob sie sich selbst als Rromni, Rrom oder Rumän_innen, beides oder gar mit ganz anderen Begriffen bezeichneten, bleibt offen. Dass sich zumindest Grigore Velcu in einer Rromagemeinschaft in Craiova bewegt hat, lässt sich aus einem Gespräch mit Romeo Tiberiade, Referent für Romaangelegenheiten im Bezirksrat Dolj schließen. Tiberiade bezeichnet seinen Freund Grigore Velcu als »wichtige Persönlichkeit unserer Gemeinschaft in Craiova. Er war ein Mensch, dessen Wort Gehör fand. Er hat Frieden in unserer Gemeinschaft gestiftet, vor allem, wenn es Probleme in den Familien gab. Er war eine Art Richter in unserer Gemeinschaft. Ich habe ihn persönlich gekannt, weil wir in derselben Gemeinschaft gelebt haben. Auch mir wurde von diesem rumänischen Bürger, der zur Ethnie der Roma gehörte, geholfen.« (Revision, TC: 39:35) Wie sich Eudache Ca˘lderar bezeichnete und verortete, geht aus dem Film nicht hervor. 442 Vgl. dazu: Heiermann 2014, S. 95. 443 Vgl. Ebd. 444 Jansen, Kleffner, Radke, Staud 2015b. 445 Vgl. Revision, TC: 59:51.

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Scheffner und sein Team in Rumänien und Deutschland auf Spurensuche.446 Das Ergebnis, der Film Revision, hatte seine Premiere auf der Berlinale 2012, lief international wie national auf einer Reihe von Filmfestivals und wurde dort u. a. mit dem Fritz-Gerlich-Preis für Zivilcourage447 ausgezeichnet.448 Vom überregionalen Feuilleton wurde Revision sehr positiv aufgenommen.449 In einigen Fachzeitschriften erschienen ebenfalls anerkennende Rezensionen.450 Besonders gelobt wurden neben der politischen Brisanz die Montage des Films sowie Scheffners Interviewmethode. Im September 2012 kam Revision in die deutschen Kinos. Wie ich im Folgenden zeigen werde, bietet der Film, obwohl er in seiner Gesamtheit aus Bildern und Tönen dezidiert Partei für die Ermordeten und ihre Angehörigen ergreift, keine Auflösung, keine abschließende Deutung des Geschehens. Er vollzieht vielmehr eine Suchbewegung, zeigt Leerstellen und offene Fragen auf. Nicht jeder Spur kann oder soll nachgegangen werden. Manche Erzählfäden werden nicht weiter verfolgt, bleiben in der Luft hängen. Immer wieder setzt Scheffner neu an, präsentiert in seinen von ihm selbst gesprochenen Kommentaren sowie den Interviews neue Perspektiven auf das Geschehen. Immer wieder lässt er auch seine jeweiligen Gesprächspartner_innen ihre Anfänge der Geschichte erzählen. Wie und ab welchem Zeitpunkt lassen sie die Geschichten von Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar beginnen? Ab welchem Punkt und auf welche Weise sind die jeweiligen Akteur_innen selbst involviert? Der Titel des Films ist daher in doppelter Hinsicht Programm: Revision stammt von lateinischen revidere (wieder hinsehen) und lässt sich mit Rückschau und erneute Überprüfung übersetzen. Im juristischen Kontext ist eine Revision »das auf Rechtsverletzung gegründete Rechtsmittel, das eine Nachprüfung des Urteils durch eine höhere letzte Instanz (Revisionsinstanz) in rechtlicher Hinsicht ermöglicht«.451 Bei einer Revision geht es um die Prüfung möglicher Fehler im vorangegangenen Verfahren oder darum, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet worden ist und die Feststellungen in einem Urteil tragfähig sind.452 Wie ich zeigen werde, arbeitet der Film 446 Basierend auf den gemeinsamen Recherchen verfasste Drehbuchautorin Merle Kröger den mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Kriminalroman Grenzfall. In diesem mehrstimmigen Text arbeitet Kröger die Geschehnisse um die Tötung Ca˘lderars und Velcus zu einer Melange aus Fakten und Fiktion um. Ergänzt um einen ins Jahr 2012 verlegten Krimiplot verwebt sie Anteile realer Personen und Ereignisse zu einem zugespitzten wenn auch realistischen Stimmungsbild des damaligen wie heutigen Antiziganismus und seiner Konsequenzen für die davon Betroffenen. Kröger 2012. 447 Filmfest München o. J. 448 Weitere Auszeichnungen: Film plus 2013. 449 Vgl. Nicodemus 2012. Buss 2012. Buck 2012. 450 Vgl. Hallensleben 2012, S. 46. 451 Bundeszentrale für politische Bildung 2015. 452 Opferperspektive e. V. o. J.b.

Dokumentarfilm Revision

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menschliches wie auch institutionelles Versagen sowohl aufseiten der Todesschützen als auch aufseiten der verantwortlichen Behörden deutlich heraus. So stellt sich bei Scheffners Besuchen in Alba Iulia und Craiova heraus, dass die betroffenen Familien von den zuständigen deutschen Behörden weder über die Tatumstände noch über den Prozess informiert wurden, von ihren Ansprüchen gegenüber den Versicherungen der Todesschützen ganz zu schweigen. Dass »damals niemand im Gefängnis gesessen hat«,453 erfuhren die Familien erst durch das Filmteam. Bewusst entschied sich Scheffner daher dagegen, ihre emotionale Überwältigung in Szene zu setzen. Auf seine aus dieser Entscheidung resultierende Interviewmethode und die damit einhergehenden Aushandlungsprozesse zwischen Filmteam und Interviewten werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Großen Raum nehmen Bilder des Tatorts und seiner Umgebung ein. Ich zeige, dass die Landschaftsaufnahmen eine die Narration strukturierende und kommentierende Funktion haben. Ein weiterer Untersuchungsgegenstand ist die Thematisierung unterschiedlicher Facetten des Rassismus.

Aufbau und narrative Struktur Der Film beginnt mit Aufnahmen eines Maisfelds. Die Kamera befindet sich im Dickicht der Pflanzen. Dazu ist ein anschwellendes Motorengeräusch zu hören. Plötzlich geraten die Blätter in Bewegung. Wie in einem Strudel werden die Pflanzen zu Boden gerissen. Der Mähdrescher bewegt sich direkt auf die am Boden platzierte Kamera zu, fährt dicht an dieser vorbei. Aus ihrer Froschperspektive wirkt er riesig und bedrohlich. Aufwirbelnder Staub weht gegen den blauen Himmel. Das Motorengeräusch ebbt ab. In die nun einsetzende Stille setzt Scheffners erste Voice-over ein: »Nadrensee, Mecklenburg-Vorpommern, 29. Juni 1992: Zwei Erntearbeiter entdecken von ihrem Mähdrescher aus etwas im Getreide liegen. Bei näherem Hinsehen erkennen sie die Körper zweier Menschen. Sie fahren mit dem Mähdrescher Richtung Dorf, um Hilfe zu holen. Hinter ihnen steht das Feld in Flammen.«454

Text und Bild nehmen an dieser Stelle Bezug aufeinander, was die Plastizität des beinahe reißerischen Aufhängers verstärkt und die Neugier der Zuschauenden weckt. Eine Reihe von Fragen drängt sich dem Publikum auf: Was ist passiert? Warum liegen die beiden Menschen dort? Wer sind sie? Sind sie tot? Warum brennt das Feld? Nach dieser Exposition folgt die Einblendung des Filmtitels 453 »Bis jetzt wusste ich nicht, dass damals niemand im Gefängnis gesessen hat«, erklärt Frau Velcu in einem Interview. Revision, TC: 05:05. 454 Ebd., TC: 00:00–01:44.

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Revision auf schwarzem Hintergrund. Die kleinen weißen Lettern, platziert in der Bildmitte, wirken vor dem schwarzem Hintergrund fast etwas verloren. Die Titeleinblendung, die während seines Verlaufs drei Mal wiederholt wird, gliedert den Film in vier Blöcke, die sich als der eben beschriebene Vorspann, Exposition, Hauptteil und Abschlussreflexionen bezeichnen lassen. Die Exposition dauert knapp 15 Minuten. In ihr werden die wichtigsten Akteur_innen, die Familien Velcu und Ca˘lderar, eingeführt. Eingeleitet von den Fragen der Familie Ca˘lderar, wer den Ehemann und Vater wo gefunden habe, beginnt der Hauptteil des Films. Angefangen mit einer Begehung des Tatorts, zu der Scheffner Zeugen lädt, die damals nicht befragt wurden, widmet er sich den Tathintergründen und dem juristischen Verfahren. Die Nachlässigkeit, mit der die damaligen Ermittlungen geführt wurden, tritt dabei immer wieder offen zutage. Es wird ersichtlich, dass das Feld noch vor Eintreffen der Spurensicherung umgepflügt wurde.455 Ein längerer Abschnitt ist einer Rekonstruktion der Tatnacht aus der Perspektive der drei beteiligten Jäger gewidmet. Der Jagdpächter, ein ehemaliger Polizist, war mit zwei ortsunkundigen Gastjägern unterwegs, die eine Jagdreise gebucht hatten. Der Frage, ob es möglich sei, Menschen mit Wildschweinen zu verwechseln, geht Scheffner in der nächsten Sequenz nach. Mit seinem Kameramann versucht er, den Bildausschnitt zu rekonstruieren, den man durch ein Jagdfernrohr sehen kann. Es folgen drei kurze Interviews mit damals zuständigen Behördenvertreter_innen sowie dem Anwalt der Täterseite. Aus ihnen geht hervor, dass Jagdpächter Katzor den Tod der Grenzgänger durch grob fahrlässiges Handeln mindestens billigend in Kauf genommen haben muss. Implizit steht damit bereits hier die Frage im Raum, ob es sich um Mord gehandelt hat.456 Auf die zentrale Frage, was in der Tatnacht passiert ist, kommt Scheffner immer wieder zurück. Interviews mit Zeug_innen und einigen mit dem Fall befassten Behördenvertreter_innen enthüllen neue Details, werfen weitere Fragen auf. In einem längeren Block erinnern sich anschließend ehemalige Nachbar_innen der Ca˘lderars sowie Freund_innen und Bekannte der Familie Velcu an die Getöteten.457 Immer wieder werden Interviews mit den Familien der Opfer in die Narration eingeflochten. Indem der filmische Diskurs so die Perspektive der betroffenen Familien wiederholt aufgreift, wird verhindert, dass die existentiellen Konsequenzen, die der Verlust der geliebten Väter und Ehemänner für ihre Angehörigen hatte, aus dem Blick geraten. 455 Ebd., TC: 16:39. 456 Norma Pahl, zur Tatzeit Verantwortliche bei der Ausländerbehörde, bescheinigt Jagdpächter Katzor über die »Flüchtlingssituation« an der Grenze im Bilde gewesen zu sein. Vgl. Ebd., TC: 28:59ff. Dies bestätigt auch sein Anwalt Ferdinand Wehage. Vgl. Ebd., TC: 30:20ff. 457 Ebd., TC: 34:11–42:22.

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In einem langen Interview erinnert sich Tatzeuge Fildesan an die tödlichen Schüsse und den Umgang, der den Geflüchteten seitens der deutschen Behörden zuteil wurde.458 Rassismus klingt auch in den nächsten Themenblöcken an. Hier geht es zum einen um die Zeit, die Familie Velcu als Geflüchtete in Gelbensande nahe Rostock verbrachte. Der zuständige Pfarrer und die Geschwister Velcu erinnern sich, wie das Grab der dort verstorbenen Großmutter mehrfach geschändet wurde. Die Geschwister berichten von der Wut des Vaters, der als Reaktion auf dieses Verbrechen nach Rumänien reist, um die Überführung seiner Mutter zu veranlassen. In der Tatnacht befand er sich auf dem Rückweg zu seiner Familie. Familie Ca˘lderar, die in Rumänien blieb und den Vater und Ehemann nur in dessen Ferien sehen konnte, erinnert sich an die Überstellung seiner Leiche. Einen weiteren thematischen Block bildet der zeithistorische Kontext, die im Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gipfelnde Welle rassistischer Gewalt in den 1990er Jahren. Einige von Scheffners rumänischen Gesprächspartner_innen waren von diesem sowie weiteren rassistischen Gewalttaten direkt betroffen. Mit Jürgen Siegmann, der in seiner Funktion als Pressefotograf Zeuge des Pogroms wurde, trifft sich Scheffner zu einer Ortsbegehung in Rostock-Lichtenhagen. Im letzten Block des Hauptteils kehrt der Film zum Prozess um die tödlichen Schüsse von Nadrensee zurück. Anhand von Gesprächen mit verschiedenen Prozessbeteiligten werden weitere Verfahrensfehler offensichtlich. Im letzten, hier Abschlussreflexionen genannten Abschnitt, wird ein Resümee gezogen. Eingeleitet von einer letzten Titeleinblendung konfrontiert Scheffner den damals verantwortlichen Staatsanwalt und den Rechtsanwalt eines der Jäger mit den Ergebnissen seiner Recherchen. Die letzten Sequenzen des Films sind den Kindern der Getöteten gewidmet. In Spanien trifft Scheffner die Geschwister Velcu, die dort heute als Bürger_innen der EU legal leben und arbeiten. Am Ende des Films begleitet die Kamera Eudache Ca˘lderars Tochter Ramona zum Grab ihres Vaters im rumänischen Alba Iulia. Die Interviewten Der Dokumentarfilm Revision besteht größtenteils aus Interviews mit den Familien der Getöteten, Menschen aus ihrem Umfeld sowie Prozessbeteiligten in Deutschland. Die Familien Eudache Ca˘lderars und Grigore Velcus erinnern sich an ihre Angehörigen und die existentiellen Konsequenzen, die der Verlust der Partner und Väter für sie hatte. Aus ihren eigenen Andeutungen und einem Gespräch mit dem Ehepaar Lodroman, ehemaligen NachbarInnen, wird deutlich, dass insbesondere Frau Ca˘ldera nach dem gewaltsamen Tod ihres Ehe458 Ebd., TC: 46:12ff.

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manns, der Haupternährer der Familie war, von Armut und zeitweise von Obdachlosigkeit betroffen war. Ein weiterer Gesprächspartner in Rumänien ist Romeo Tiberiade, der Grigore Velcu gut kannte. Wie die Velcus befanden sich auch er und seine Familie zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse in Deutschland. Iamandit¸a Gogu (Fildesan) überquerte die Grenze gemeinsam mit Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar. Wie die anderen Augenzeug_innen der tödlichen Schüsse wurde er vor Prozessbeginn abgeschoben. Ebenfalls im rumänischen Craiova treffen Scheffner und sein Team den Chronisten Vasile Nastravan, der den Fall dokumentierte und Einblick in seine Aufzeichnungen gewährt. Ein Bericht aus seinem Filmarchiv führt zurück nach Deutschland zu dessen Verfasser, dem Journalisten Lutz Panhans, dessen kritische Berichterstattung einen Beitrag dazu leistete, dass das Gerichtsverfahren nicht eingestellt wurde. Die Täter, ihre Motive und Perspektiven spielen im Film lediglich eine Nebenrolle. Jagdpächter Katzor, der die tödlich endende Jagd für zwei westdeutsche Gastjäger organisierte, lässt sich im Dokumentarfilm von seinem Anwalt vertreten. Gerhard R., der ebenfalls geschossen hat, teilt in einen knappen Brief mit, dass er kein Interesse daran habe, sich zu den Geschehnissen zu äußern.459 Über den zweiten Gastjäger ist im Film nichts zu erfahren. Wichtiger sind die behördlichen Ermittlungen selbst, die, wie der Film plastisch anhand von Interviews mit deutschen Behördenvertreter_innen rekonstruiert, von einer Reihe eklatanter Unterlassungen und Versäumnisse geprägt sind. »Listening Heads« oder Zuhören als aktiver Prozess: Überlegungen zu Scheffners Interviewmethode Interviews mit den Familien Velcu und Ca˘lderar wird viel Screentime zugestanden. Hierbei ging Scheffner wie folgt vor : In einem ersten Schritt zeichnete er die Gespräche nur als Audioaufnahmen auf. In einem zweiten Schritt werden diese Tonaufnahmen dann, nun in Anwesenheit der Kamera, gemeinsam mit den Interviewten angehört, von ihnen ergänzt, kommentiert und so von ihnen autorisiert. Der Film versucht nicht, die Anwesenheit von Kamera und Filmenden vergessen zu machen und vermeintlich authentische Szenen aus dem Leben der im Film auftauchenden Personen zu beobachten. Revision erteilt damit der von Nichols unter dem Begriff Observational Mode subsumierten dokumentarischen Arbeitsweise, die danach trachtet, »das Leben wie es wirklich ist« möglichst ohne einzugreifen zu filmen, eine radikale Absage. Scheffners Vorgehen lässt sich damit auch als Positionierung im Feld des dokumentarischen Filmschaffen verstehen. Mit Nichols lässt sich der Film Revision dem partizipatori459 Ebd., TC: 1:36:25.

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schen Modus zurechnen, unter welchen er Filme fasst, in denen Interaktionen zwischen Filmenden und Gefilmten zentral sind.460 Im Film Revision werden Aushandlungsprozesse zwischen Filmteam und sozialen Akteur_innen immer wieder transparent gemacht. In der Exposition ist der Filmemacher selbst im Bild zu sehen,461 in späteren Sequenzen ist er vor allem durch seine Stimme präsent. Immer wieder sind Scheffners Fragen an die Interviewpartner_innen, seine Erläuterungen zum Prozedere, manchmal auch deren Übersetzung ins Rumänische zu hören: »Wenn Sie etwas hinzufügen wollen, halten Sie einfach die Aufnahme an«, erklärt er etwa den Ca˘lderars.462 Die Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen der Akteur_innen werden auf diese Weise hörbar. In Reaktion auf das erste gemeinsam abgehörte Interview verlangen etwa die Brüder Velcu, dass jeder für sich sprechen solle, da jeder seine eigene Geschichte habe.463 Diesem Wunsch wird direkt nachgekommen. Nach einer Schwarzblende ist Frau Velcu in Nahaufnahme zu sehen. Jetzt ist nur ihre Stimme zu hören. An einer anderen Stelle appelliert Colorado Velcu an den Filmemacher, ihm keine weiteren Fragen über den Tod des Vaters und die schmerzhafte Zeit danach zu stellen.464 Durch solche Szenen thematisiert der Film den Akt des Erinnerns, seine Bedingungen und Grenzen. Die frontale Platzierung der Interviewpartner_innen vor der Kamera, wiederkehrende Abläufe und Schnittfolgen, Scheffners aus dem Off zu hörende Fragen, Anweisungen und Erklärungen zum Vorgehen: Das gesamte Setting trägt dazu bei, die Interviewsituationen als solche und in ihrer Inszeniertheit kenntlich zu machen. Die interaktiven Prozesse zwischen Filmenden und Gefilmten, die, wie von Keitz ausführt, »in den meisten Interviewdokumentarfilmen […]im a-filmischen Raum verbleib[en] und von den Zuschauenden mit zu imaginieren«465 seien, werden in Revision transparent gemacht.466 460 Vgl.: Nichols 2010, S. 184ff. Zu dieser Einschätzung kommt auch Rezensent Colin Beckett. Er schreibt: »Consequently, in Revision, Scheffner adopts the participatory, interviewcentric mode whose faith in direct testimony the singular authorship of his essay films was designed partly to dispute.« Beckett 2013. 461 Revision, TC: 15:30. 462 Ebd., TC: 36:27f. 463 Ebd., TC: 03:01. 464 Ebd., TC: 40:39. 465 v. Keitz 2012, S. 166. 466 Wohl auch wegen der von Scheffner gewählten Methode ist im Film die Originalversion der Interviews zu hören, die in der DVD-Version mit deutschen, wahlweise englischen Untertiteln versehen wurde. Die Gespräche zu synchronisieren, hätte einen Verlust an Transparenz und Übersichtlichkeit für die Zuschauenden zur Folge. Wegen der bei jeder Synchronisation unvermeidbaren Nichtübereinstimmung der Lippenbewegungen von Akteur_innen und ihren Synchronstimmen wäre es gerade bei der von Scheffner gewählten Art der Interviewführung schwierig, zuzuordnen, welcher Teil des Gesagten ursprünglich vom Tonband stammt und welcher nachträglicher Kommentar zu diesem ist.

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Das Vorgehen des Regisseurs ruft insbesondere am Anfang des Films Irritationen hervor : Wessen Stimmen lauscht die auf dem Sofa sitzende Familie Velcu und mit ihr die Zuschauenden? In einem Interview erläuterte Scheffner, dass dieser Moment der Verunsicherung sehr wohl intendiert sei: »[I]ch finde die [Irritation, JS] sehr interessant und produktiv eigentlich, weil sich ganz am Anfang sozusagen schon eine der Grundfragen des Films stellt, nämlich: Wer spricht da eigentlich oder wessen Stimme hören wir da eigentlich, wer erzählt eigentlich die Geschichte? Das, finde ich, ist eine ganz zentrale Frage, weil je nachdem, aus welcher Perspektive diese Geschichte erzählt wird, die Geschichte ganz anders beginnt, ganz anders endet und auch eine ganz andere politische Dimension entwickelt.«467 Die Frage nach Sprechpositionen und damit verbunden nach der Deutungshoheit über die Ereignisse, ist – insbesondere in einem Film, der institutionellen Rassismus thematisiert – immer auch eine Frage danach, wem zugehört wird und wer die Möglichkeit hat, seine Deutung der Ereignisse zu präsentieren: eine Frage nach Zugängen und Ressourcen, Machtstrukturen und Dominanzverhältnissen. Vor Gericht etwa fanden, wie der Film aufzeigt, weder die Angehörigen der Getöteten noch die rumänischen Tatzeugen Gehör. Das Machtverhältnis zwischen Filmenden und Gefilmten versucht Scheffner nach eigenen Aussagen durch seine Art der Interviewführung zu unterlaufen: »Wir wollten, dass die Menschen, mit denen wir sprechen, das höchste Maß an Kontrolle über das haben, was sie sagen. Wir wollten, dass eine Art von filmischem Raum entsteht, der zwischen uns hinter der Kamera, zwischen den Menschen vor der Kamera, aber letztendlich natürlich auch für die Menschen im Zuschauerraum eine Ebene entwickelt, indem wir das Gleiche tun, nämlich zuhören, also dadurch auch die Machtverhältnisse, die in so einem Interview, in so einer Interviewsituation entstehen, zum Wanken bringen.«468

Dies mag auf den Moment des gemeinsamen Abhörens der Tonaufnahmen tatsächlich zutreffen, in dem die Interviewten die Möglichkeit haben, das Gesagte zu ergänzen und zu kommentieren. Nicht jedoch trifft es auf den Film als Ganzes zu, liegen doch die Kontrolle über das bei den Drehs entstandene Material, die Auswahl und Montage der im fertigen Film verwendeten Sequenzen aus den Interviews letztendlich beim Filmemacher und seinem Team. Beim von der Kamera beobachteten Zuhören spielen neben der verbalen Ebene auch die visuelle Ebene der nonverbalen Kommunikation eine wichtige Rolle: Neben Nicken und weiteren Gesten des Zustimmens und Beglaubigens enthält die gesamte Körpersprache der Interviewten Informationen über die Situation, lässt Rückschlüsse über den Grad der emotionalen Involviertheit der jeweiligen Ge467 Kassel 2012. 468 Ebd.

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sprächspartner_in zu. Einige der Interviewpartner_innen fühlen sich sichtlich unwohl, reagieren peinlich berührt auf das Vorspielen ihrer Stimmen. Norma Pahl etwa, heute Fachdienstleiterin »Öffentliche Ordnung und Sicherheit«, in deren damaliger Zuständigkeit die Ausländerbehörde lag, schaut während des gesamten Abspielens der Tonbandaufnahmen auf die Tischplatte. Täteranwalt Wehege ist keine emotionale Regung anzumerken. Er blickt während des Abhörens starr geradeaus.469 Den Familienmitgliedern und Freund_innen der Getöteten hingegen ist ihr Schmerz deutlich anzumerken. Immer wieder haben sie Tränen in den Augen. Voller Fürsorge legt Eudache Ca˘lderars Tochter Ramona den Arm um die Mutter, während diese von ihrem Verlust spricht. Gerahmte Aussichten: Die Interviews mit den Nebenfiguren Auf deutscher Seite kommen neben dem Rechtsanwalt Wehage die damaligen Verantwortlichen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Ausländerbehörde, ein Rechtsmediziner, sowie die Zeugen zu Wort, welche die leblosen Körper der Männer im Feld entdeckten. Mit einigen dieser Interviewpartner_innen trifft sich Scheffner an handlungsrelevanten Orten. Abgesehen von diesen Ortsbegehungen sind die kurzen Interviews nach einem wiederkehrenden Muster zusammengeschnitten. Sie beginnen stets mit einem Blick aus dem Fenster des Raumes, in dem das Gespräch stattfindet, wodurch ein erster Eindruck vom räumlichen Kontext des folgenden Gesprächs vermittelt wird. In Deutschland, wo die InterviewpartnerInnen meist als mit dem Fall befasste MitarbeiterInnen von Ämtern und Behörden professionelle Bezüge zur Tötung der beiden Rom haben, handelt es sich dabei meist um Büroräume. Wehages Kanzleifenster hat beispielsweise Aussicht auf eine wohlhabend wirkende Gegend mit viel Grün und alten Backsteinhäusern. Colin Beckett klassifiziert diese Aussichten gar als »visuelles Hauptmotiv« des Films.470 Sie offenbarten die Limitiertheit der jeweiligen Perspektiven. Die Standortgebundenheit von Wissen, Erfahrungen und Erkenntnis findet in den Blicken aus den Fenstern einen visuellen Ausdruck. Auf der Soundspur werden diese Aussichten von den jeweiligen Anfängen der Ge469 Revision, TC: 30:42. 470 »The film’s primary visual motif is the window. Nearly everyone who appears onscreen is introduced by a shot of the one in the room in which they speak. The metaphor of the window has traditionally served as the most naive conception of documentary, a crystalclear view of objective reality. Scheffner revises this metaphor too, making it a potent symbol of what he is doing in Revision. He shoots these windows a few steps back into the room, often from a low angle, showing more of the frame and the wall that surrounds it than the world beyond the glass; foregrounding everything that renders its view arbitrary and incomplete, and that marks its status as a border between inside and out. But nevertheless, the world is out there, a small part of it visible and comprehensible at this distance from the glass.« Beckett 2011.

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schichte unterlegt: Die Interviewten tragen vor, wie sie den Film oder die Geschichte beginnen lassen würden. Sie legen dabei ihren Bezug zu den Toten und ihre Haltung zu den tödlichen Schüssen von Nadrensee offen. Beispielsweise wird bei Romeo Tiberiade deutlich, dass er ein guter Freund Grigore Velcus war : »Ein Film würde mit etwas Schönem beginnen, mit einer wunderbaren Familie. Leider, wie es in vielen Filmen üblich ist, endet das Glück dieser Familie mit einem tragischen Ereignis.«471 In bestimmtem Ton erklärt hingegen Ralf Lechte, Oberstaatsanwalt und Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, den Fall für abgeschlossen: »Also die Geschichte beginnt für mich letztlich mit dem Auffinden der Leichen und endet letztlich mit dem rechtskräftigen Urteil.«472 Er ist der einzige, der in seinem Eingangsstatement auch einen Endpunkt fixiert und damit eine filmische wie auch eine juristische Revision ablehnt. Erst nach dem Blick aus ihrem Fenster wird die interviewte Person selbst gezeigt. Es folgt ein Schwarzbild über mehrere Sekunden. Aus dem Off nennt Scheffner dazu den Namen und die Funktion der jeweiligen Person sowie das Datum der Aufnahme. Mit einer Aufblende setzt nun das gemeinsame Abhören der Audioaufnahme ein. Die Mimik der ihrer eigenen Stimme Lauschenden wird dabei in Nahaufnahmen in Szene gesetzt. Wollen die Interviewten das Vorgespielte direkt kommentieren, wird die Aufnahme unterbrochen. Etwa wenn sich das Ehepaar Lodroman über die korrekte Bezeichnung des neuen Wohnorts ihrer Nachbarin Frau Ca˘lderar streitet.473 Nach dem gemeinsamen Anhören der Aufnahmen segnen Scheffners Gesprächspartner_innen das Abgehörte mit nonverbalen Signalen der Zustimmung ab oder machen von der Möglichkeit Gebrauch, das Gesagte zu ergänzen. Eine Abblende trennt die nachträglich hinzugefügten Ergänzungen von den abgehörten Interviews.

Gespräche mit den Hauptpersonen: Die Angehörigen der Opfer Die Angehörigen der Opfer stehen im Zentrum des Films. Ihre Perspektiven werden am Anfang in knapp 10-minütigen Sequenzen eingeführt. Am Ende haben die Familien das letzte Wort. Scheffner besucht sie an ihren Wohnorten in Craiova (Familie Velcu) und Alba Iulia (Familie Ca˘lderar). Im letzten Abschnitt des Films trifft Scheffner die Geschwister Velcu noch einmal in Spanien, wo sie sich den Sommer über als Saisonarbeiter_innen verdingen.474 In den Interviews wird der massive biografische Einschnitt deutlich, den der Tod der Ehemänner und Väter für die Angehörigen bedeutete. Ihre traumatischen Erfahrungen 471 472 473 474

Ebd., TC: 39:09. Ebd., TC: 1:25:32. Ebd., TC: 35:20ff. Ebd., TC: 1:37:13.

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stehen in einem eklatanten Spannungsverhältnis zu deren Nichtanerkennung vor deutschen Gerichten wie auch in der deutschen Öffentlichkeit. Die Interviews mit den Familien Ca˘lderar und Velcu unterscheiden sich dabei in Länge und Ausführlichkeit von denjenigen, die mit den übrigen Akteur_innen geführt wurden. Während die meisten Interviewten nur einmal auftauchen, sind den Angehörigen mehrere lange, über den Film verteilte Sequenzen gewidmet. Die Interaktionen mit den Familien weichen von dem starren Schema ab, nach dem die meist kurzen Interviews mit den Nebenfiguren präsentiert werden. Neben dem gemeinsamen Abhören der Interviews ergeben sich eine Reihe direkter Gespräche. Sie zeigen Fotografien der Getöteten, auf deren Stellenwert ich weiter unten eingehen werde. Die Einführung der Velcus beginnt mit einer Schwarzblende. Aus dem Off ist eine Männerstimme zu hören: »Ich würde so anfangen: Es gab eine sehr glückliche Familie.«475 Eine zweite Stimme setzt ein: »Eine Familie aus uns fünf Kindern und unseren Eltern.« Nachdem nur die weißen Untertitel mit der Übersetzung ihrer Worte ins Deutsche, wahlweise Englische zu sehen waren, sieht man nun mit der Aufblende zwei sommerlich-leger bekleidete Männer um die 30, zwischen ihnen eine Frau in einem geblümten Kleid. Sie sitzen in ihrem Wohnzimmer. Wie in einer standardisierten Interviewaufnahme sind die drei Personen frontal vor der Kamera platziert. Sie lauschen den Stimmen aus dem Off: »Er war der einzige in der Familie, der arbeitete.« Eine weibliche Stimme ergänzt: »Er hat in der Schneiderei bei FRIM gearbeitet. Danach war er Kraftfahrer. Er hat gut verdient. Wir haben gut gelebt. Dann sind wir ins Ausland gegangen.« Die Frau auf dem Sofa schaut zu Boden. Eine männliche Stimme fährt fort: »Nach der Revolution sind wir nach Deutschland gegangen. Damals war es unmöglich, in Rumänien zu leben. Das Geld hatte keinen Wert mehr. Es reichte nicht einmal für Lebensmittel. Ungefähr nach einem Jahr – ich erinnere mich nicht genau, weil ich sehr klein war – hat mein Vater entschieden, ins Ausland zu gehen. Zum Überleben. Dann sind wir nach Deutschland gegangen.«476

Die drei auf dem Sofa nicken. Das Bild wird schwarz. Nach einer erneuten Aufblende kommentiert der Mann im roten Trägerhemd, es handelt sich um Colorado Velcu, den Sohn des Getöteten: »Viel mehr kann ich dazu nicht sagen.« Der andere Mann im Camouflage-Shirt, sein Bruder Leonardo Velcu, ergänzt: »Die Mutter meines Vaters liegt in Deutschland begraben.« Colorado fordert nun, die Aufnahme an dieser Stelle zu unterbrechen: »Jeder sollte für sich reden.« Colorado wendet sich nun direkt an den sich offscreen befindenden 475 Ebd., TC: 1:48ff. 476 Ebd., TC: 03:01.

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Familie Velcu lauscht ihrem Interview

Scheffner : »Sie als Regisseur wissen ja, wie das abläuft. Lasst uns einzeln reden.« Auch Leonardo stimmt seinem Bruder zu: »Jeder hat seine Geschichte – was er in dem Moment gefühlt hat.« Einzig ihre Mutter, die Frau im geblümten Kleid, ist etwas skeptisch: »Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnere.« Aus dieser Interaktion wird zum einen deutlich, dass die Familienmitglieder ihren eigenen Stimmen lauschten und das Gehörte im Anschluss kommentieren. Zum anderen werden hier Aushandlungsprozesse zwischen Filmteam und Gefilmten sichtbar. Nach einer erneuten Schwarzblende kommt Scheffner den Wünschen der Brüder nach. Frau Velcu wird nun in einer Nahaufnahme gezeigt. Während sie sich von den glücklichen Zeiten mit ihrem Mann sprechen hört, blickt sie zur Seite, vermeidet den direkten Blick in die Kamera. Als ihre Stimme von Band sagt: »Ich wollte nie darüber sprechen, schon gar nicht in einem Film. Sie sollten wissen, ich wollte nie darüber sprechen«, lächelt sie verlegen in die Kamera und kommentiert die Aufnahme: »Ich kann mich nicht mal richtig ausdrücken.« Ab diesem Zeitpunkt blickt sie frontal in die Kamera, an deren Präsenz sie sich nun gewöhnt zu haben scheint. Ihr Gesicht ist derweil immer noch in Nahaufnahme zu sehen. Sie wischt sich die Stirn – es ist sehr ein heißer Sommertag –, während ihre Stimme vom Band sagt: »Ich konnte mit niemanden darüber reden. Es ist etwas Besonderes, dass ich jetzt mit Ihnen über die damalige Tragödie reden kann. Die Kinder sind erwachsen und leben in der Welt verstreut. Bis jetzt wusste ich nicht, dass damals niemand im Gefängnis gesessen hat. Es war ein schwieriges Leben. Es hat mindestens fünf Jahre gedauert, bis ich wieder vor die Tür gehen konnte.« An dieser Stelle fügt sie der Tonbandaufnahme etwas hinzu, die sogleich

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unterbrochen wird. Sie kommentiert: »Jeder weiß, dass ich ein doppeltes Leben geführt habe. Aus dem Off-Screen hört man Scheffner fragen: »Was meint sie mit einem ›double life‹?« Der Dolmetscher fragt auf nach. Frau Velcu antwortet: »Ein doppeltes Leben als Frau und als Mann. Um die Kinder zu erziehen. Das meine ich mit einem doppelten Leben. Man muss sich um alles kümmern, dass die Kinder nicht weglaufen, in Schwierigkeiten geraten oder etwas stehlen. Nachts habe ich mir Sorgen gemacht, wenn sie nicht zu Hause waren. Es gab keinen Mann, der nach ihnen gesucht hat. Ich habe sie gut erzogen. Allein. Wissen Sie, was es bedeutet, Kinder allein zu erziehen? Daher ein doppeltes Leben: als Frau und Mann zugleich. Das wollte ich Ihnen sagen.« Nach einem Einschub mit Bildern des Maisfelds wird die Familie des zweiten Opfers vorgestellt.477 Eingeleitet von Scheffners Worten: »Für eine andere Familie aus der Stadt Alba Iulia beginnt die Geschichte 1991 in Rumänien mit Fotos aus Deutschland«, beginnt die Sequenz tatsächlich mit der Detailaufnahme eines Fotos. Es zeigt Eudache Ca˘lderar zu Lebzeiten in einer sportlichen blauen Jacke. Wie seine Frau dazu erklärt, wurde das Bild in Deutschland aufgenommen. In der nächste Einstellung sieht man in einer Nahaufnahme, wie eine zierliche Frau in einem weiten weißen T-Shirt das Bild in die Kamera hält. Neben ihr auf dem Sofa sitzt eine Teenagerin im Trägershirt. Man hört die Stimme des Filmemachers nach Ort und Datum der Aufnahme fragen sowie die Übersetzung seiner Fragen ins Rumänische. Rechts neben ihr kommt ihr Sohn Alin ins Bild, der ein weiteres Foto des Vaters in die Kamera hält. Mutter und Söhne zeigen weitere Bilder Eudache Ca˘lderars. Wie zuvor die Velcus sind auch die fünf Ca˘lderars frontal vor der Kamera platziert. Nach einer Schwarzblende beginnt nun das gemeinsame Abhören des Interviews.478 Aus dem Off ist Frau Ca˘lderars Stimme zu hören: »Er hat bei einer Fabrik für Fensterrahmen gearbeitet. Er hat Geld nach Hause geschickt. Die Kinder waren sehr klein und brauchten vieles. Aber wir kamen zurecht.« Von Band ergänzt eine Männerstimme: »Er ging dort hin, weil man da besser verdient hat.« Frau Ca˘lderars Stimme fährt fort: »Ich wollte ein besseres Leben für meine Kinder. Wie sich das alle Eltern wünschen. Nach seinem Urlaub zu Hause ist er zurück zur Arbeit gefahren. Ich habe auf den Anruf gewartet, dass er gut angekommen ist. Der Anruf kam, aber man sagte mir, er sei tot. Aus welchem Grund? Ich weiß es nicht.«

Eine Männerstimme: »Es ist alles sehr schnell passiert.« Während des Abhörens werden ihre Söhne fokussiert. Sie sitzen auf der linken Seite ihrer Mutter und haben ebenfalls Tränen in den Augen. Trotzdem blickt Alin geradeaus Richtung Kamera. Wieder grenzt eine Schwarzblende das Abhören des Interviews von 477 Ebd., TC: 10:51. 478 Ebd., TC: 13:24.

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Alin Ca˘lderar zeigt ein Bild seines Vaters

dem nun folgenden Gespräch ab. Nun kommentiert Frau Ca˘lderar die Aufnahme: »Es ist nicht schlecht, oder?« Einer ihrer Söhne merkt jedoch an: »Die Aufnahmen wären besser, wenn man sich an mehr erinnern würde.« Doch Alin kommentiert: »So ist es eben gewesen. Da gibt es nichts hinzuzufügen. So war es halt.« Im Gegensatz zum Abhören des Interviews, bei dem die Regungen der Zuhörenden in Nahaufnahmen in den Blick genommen wurden, wird die Familie nun aus größerer Distanz einer Halbnahen gezeigt. Alle fünf auf dem Sofa sitzenden Personen sind nun im Bild. Einer der Söhne, sein Name wird nicht erwähnt, sagt, dass er nun nachdenklich geworden sei: »Was wird mit diesem Film passieren? Was werden wir als nächstes tun?« – »Sie werden es uns erklären«, fordert Alin Scheffner auf. Auch seine Mutter wendet sich an den Regisseur : »Ich würde ihn gern etwas fragen. Ist er fertig mit uns?« Sie einigen sich, dass erst Scheffner eine weitere Frage stellt. Das Bild wird schwarz. Aus dem Off hört man den Filmemacher auf Englisch fragen: »Was wussten Sie über das, was ihm passiert ist?«479 Frau Ca˘lderar antwortet: »Dass er erschossen wurde.« Alin ergänzt: »Getötet, erschossen, sonst nichts. Vom wem und wie wussten wir nicht.« Sein Bruder fügt hinzu: »Wir wussten nie genau, wie es passiert ist. Wir bekamen einen Anruf, er sei in den Kopf geschossen worden. Mehr wussten wir nicht.« Wieder wird das Bild schwarz. Aus dem Off fährt der Sprecher fort: »Darum sind wir schockiert, dass jemand nach 20 Jahren kommt und einen Film drehen möchte.« Nun wird der Blick der Kamera umgekehrt. Während man die Familie danach 479 Ebd., TC: 15:25.

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fragen hört, wer Eudache Ca˘lderar wo gefunden hat, nimmt die Kamera den Filmemacher und die Dolmetscherin in den Blick. Scheffner ist hier das erste Mal zu sehen. Konzentriert nickt er zu den Fragen der Familie. Die Rollen haben sich verkehrt. Nun ist er es, der den Ca˘lderars Rede und Antwort stehen muss. Wie er ihre Fragen beantwortet, wird im Film jedoch nicht gezeigt. In beiden einführenden Gesprächen wird deutlich, dass – wie bereits einleitend erwähnt – keine der betroffenen Familien von den deutschen Behörden über die Hintergründe der Tat und den Prozess informiert wurde. Beide Familien äußern sich überrascht, dass nach so vielen Jahren jemand aus Deutschland kommt und sich für sie und ihr Schicksal interessiert, gar einen Film darüber machen möchte. Scheffner selbst beschreibt diese auch für ihn problematische Ausgangssituation: »Natürlich war es schockierend für sie teilweise auch, weil wir ihnen Informationen gegeben haben, die auch natürlich sehr schmerzlich waren und auch für uns war es eine eigentlich absolut unerträgliche Situation, da hinzukommen nach 20 Jahren, da wir das ja auch nicht wussten – wir wussten ja nicht, dass sie nichts wissen sozusagen – und damit auf einmal konfrontiert zu sein, dass wir letztendlich die Arbeit der deutschen Behörden machen müssen.«480

Dieses Wissensungleichgewicht zwischen Filmenden und Gefilmten ist auch Resultat struktureller Ungleichheiten zwischen einem weißen deutschen Filmemacher und seinen von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffenen rumänischen Interviewpartner_innen. So verfügt Scheffner als bekannter Filmemacher und weißer Deutscher über andere Zugänge und professionelle Netzwerke als die betroffenen Rromafamilien.481 Dieses Wissensungleichgewicht wird im Film jedoch nicht auf Kosten der Interviewpartner_innen ausgespielt, indem etwa ihre emotionalen Reaktionen auf die für sie so neuen wie potenziell verletzenden Fakten zur Schau gestellt werden. Nie werden die Angehörigen der Getöteten in den Momenten gezeigt, in denen sie von Scheffner und seinem Team über die Tatumstände und den Pro480 Kassel 2012. 481 Scheffner konnte sich neben einer Projektfinanzierung Zugang zu den zuständigen deutschen Behörden und Institutionen verschaffen, sprach mit NGOs und traf Medienvertreter_innen. Die Familien der Getöteten sind von Armut betroffen. Die Geschwister Velcu arbeiten, wie an einer späteren Stelle des Films zu erfahren ist, um ihre Familien in Rumänien zu finanzieren, zu niedrigem Stundenlohn als Saisonarbeiter_innen in Spanien. Auch wenn die aktuelle finanzielle Situation der Ca˘lderars nicht explizit thematisiert wird, ist davon auszugehen, dass keine der beiden Familien über die finanziellen Möglichkeiten verfügte, nach Deutschland zu reisen, um sich vor Ort Gewissheit zu verschaffen.Um Prozessakten zu sichten, Zeugen und Verantwortliche zu befragen, hätten die Familien ein Team aus Übersetzer_innen und Dolmetscher_innen einstellen müssen, wie Scheffner es für die Drehtage in Rumänien getan hat. Ob sie – selbst dann – denselben Zugang zu den verantwortlichen Stellen erhalten hätten, ist fraglich.

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zess informiert werden. In einem Werkstattgespräch erläuterte Scheffner, dass es eine bewusste Entscheidung war, die Interviewpartner_innen nicht im Zustand der emotionalen Überwältigung sondern beim Nachdenken zu filmen.482 In diese Position versetzt er sie insbesondere durch seine oben geschilderte Methode. Den prominenten Platz, der den Angehörigen in der filmischen Erzählung eingeräumt wird, werte ich als Versuch, ihren bislang ausgeblendeten und so zum Schweigen gebrachten Erfahrungen einen Platz im Bewusstsein der weiß-deutschen Dominanzkultur zu verschaffen: einen Platz als Angehörige der Getöteten im konkreten Fall, wie auch als exemplarische (Zeit-)Zeug_innen des institutionellen Rassismus in Deutschland.

Einblicke in die Familienalben der Velcus und Ca˘ lderars In mehreren Sequenzen zeigen die Familien der Getöteten dem Filmteam – und mit diesem den Zuschauenden – Familienfotos. Auf ihnen sind Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar, mal alleine, mal im Kreise ihrer Familien abgebildet. Jugend- und Hochzeitsfotos, Bilder, auf denen sie mit ihren Frauen und den damals noch kleinen Kindern483 zu sehen sind: Relikte aus den glücklichen Zeiten vor der tödlichen Katastrophe. Für Ramona Ca˘lderar, die im Film höchstens Anfang zwanzig ist und folglich im Jahr 1992 ein Kleinkind war, ersetzen die Fotografien des Vaters gar konkrete Erinnerungen: »Wenn man wenigstens eine bleibende Erinnerung an ihn hätte. Man hätte diese Erinnerung, wenn man Sehnsucht nach ihm hat. Aber wir haben keine Erinnerungen. Wir haben Fotos.«484 Auf Ebene der Narration schaffen die Fotos thematische Überleitungen zu nachfolgenden Interviewpartner_innen. So führt ein Bild, das die Familie Velcu am Geburtstag der ältesten Tochter in Gelbensande zeigt, zu einem Interview mit dieser.485 Eine andere Funktion haben Fotos in der Sequenz, in der Familie Ca˘lderar von der Überstellung des Leichnams berichtet. Alin Ca˘lderar erinnert sich daran: »Als er nach Hause gebracht wurde, hatte er nichts bei sich. Er war splitternackt in einer Holzkiste mit Zink.«486 Seine Mutter schildert im Anschluss, wie sie heimlich den Sarg öffnete, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass er es tatsächlich ist: 482 Werkstattgespräch mit Philip Scheffner am 19. Juni 2013 in der filmArche Berlin e. V., Transkript Julia Stegmann. 483 Eines der letzten Bilder von Grigore Velcu wurde am 15. Geburtstag seiner ältesten Tochter aufgenommen. Colorado und Leonardo Velcu sind auf diesem etwa 12 und 8 Jahre alt. 484 Revision, TC: 1:42:33. 485 Ebd., TC: 07:42. 486 Ebd., TC: 1:09:03ff.

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»Wir haben den Sarg aufgemacht. Wir durften ihn eigentlich nicht aufmachen. Das können Sie jetzt ruhig sagen, ich habe jetzt keine Angst. Ich war beim Staatsanwalt, hier bei uns. Man konnte in den Sarg nicht hineinschauen. Man wusste nicht, wer in dem Sarg lag. Sie sagten, ich hätte am Grab fünf Minuten Zeit, in den Sarg hineinzuschauen. Das habe ich aber nicht getan. Ich habe den Sarg morgens in meiner Wohnung aufgemacht. Es war riskant. Ich wollte wissen, wer dort drin lag. Man konnte es nicht erkennen. Er war nackt und er war voller Würmer. Man konnte nicht sicher sein, ob er das war.«

Einer ihrer Söhne verlangt von der Mutter : »Lass mich das Foto zeigen, damit man es sieht.« Die Übersetzerin fragt, wie sie ihren Mann erkannt habe. Frau Ca˘lderar antwortet: »An seinem Gebiss und den äußeren Gesichtszügen. Sehen Sie sich das an: So ist er bei uns angekommen.« Auf ihr Geheiß nimmt die Kamera nun die Fotografie in den Blick. Sie zeigt einen Leichnam, entstellt vom Verwesungsprozess. Aus dem Off hört man einen der Söhne sagen: »Es sollte ein Unterschied gemacht werden, wie er uns verlassen hat und wie er zurückgebracht wurde. Ohne eine Erklärung.« Diesem Wunsch wird Folge geleistet. Eine Fotografie, die Eudache Ca˘lderar zu Lebzeiten zeigt, wird neben das Bild der verwesenden Leiche gehalten. Während die Kamera mehrere Sekunden auf den beiden Fotografien verharrt, herrscht Schweigen. Im Anschluss hält Alin ein weiteres Foto des aufgedunsenen Gesichts des Leichnams in die Kamera und fordert: »Wir möchten, dass alle sehen, wie wir gelitten haben.« – »Als ich ihn gesehen habe, bin ich ohnmächtig geworden«, kommentiert seine Mutter. Mit diesem Akt des Zeigens wird dem Grauen der Tat als auch dem Wunsch der Angehörigen nach Anerkennung ihres Leides ein drastischer visueller Ausdruck verliehen. In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig, dass Alin Ca˘lderar seine Forderung nach Anerkennung gerade an ein deutsches Filmteam und über dieses an die Öffentlichkeit des Landes richtet, in dem seinem Vater das widerfuhr, was auf den Fotos zu sehen ist. »Dem zerstörten Weltverhältnis und somit dem Zutrauen in die soziale Ordnung – um nicht von Gerechtigkeit zu sprechen – einer Gesellschaft lässt sich«, wie der Psychoanalytiker Werner Bohleber schreibt, »nur durch die Anerkennung der Zerstörung begegnen. Zu einer solchen Anerkennung zählt ebenfalls noch, wie darüber öffentlich gesprochen beziehungsweise wie sie ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wird.«487 487 Werner Bohleber zit.n. Elm 2008,S. 128ff. In seiner Studie Zeugenschaft im Film untersucht Michael Elm die Figur des Zeugen in filmischen Erzählungen des Holocaust. Ansätze und Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen und wissenschaftliche Arbeiten zur Erinnerung an diese lassen sich auch für die Beschäftigung mit dem vorherrschenden Rassismus fruchtbar machen. Allgemein geht Elm etwa auf durch Traumata verursachte Erinnerungen ein. Er bezieht sich auf Bohleber, demzufolge sich diese Erinnerungen dadurch auszeichnen, dass sie wegen der mit der traumatischen Überwältigung einhergehenden völligen Hilflosigkeit des Subjekts von diesem nicht integrierbar seien. Mit Bohleber betont Elm die große Bedeutung, die »ge-

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Nach öffentlicher Anerkennung des Unrechts, das ihnen widerfahren ist, verlangen auch die Angehörigen Eudache Ca˘lderars. Einer Anerkennung, die beiden Familien von offizieller deutscher Seite bis heute versagt geblieben ist und die Alin Ca˘lderar nun selbstbewusst über das Filmteam einfordert. Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel weist auf den wesentlichen Unterschied zwischen den Subjektpositionen des Opfers und des Klägers hin. Sie bezieht sich hierzu auf Jean-FranÅois Lyotards Diktum: »Opfer zu sein bedeutet, nicht nachweisen zu können, dass man ein Unrecht erlitten hat. Ein Kläger ist jemand, der geschädigt wurde und über Mittel verfügt, es zu beweisen. Er wird zum Opfer, wenn er diese Mittel einbüßt.«488 Auch ohne eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor Gericht gelingt es zumindest im Rahmen des Films, die Familien aus der Passivität des Opferstatus, in welchen sie durch die Nichtanerkennung ihrer Erfahrungen durch die deutsche Justiz gerieten, heraustreten zu lassen. Selbstbewusst nehmen insbesondere die Ca˘lderars die aktive Rolle des Klägers ein. Die Fotos der Leiche fungieren hierbei als Beweis für das erlittene Unrecht.

Verschiedene Anfänge und Perspektiven: Scheffners Voice-over In seinen selbst eingesprochenen Kommentaren lässt Scheffner die Ereignisse immer wieder von vorn beginnen. Aus den leblosen Körpern werden zwei Menschen, die Getöteten erhalten ihre Namen – zum ersten Mal in Minute 33. Nach und nach werden weitere Informationen über die Hintergründe der Tat ergänzt. Die Geschehnisse werden dabei aus immer neuen Perspektiven geschildert. Zudem werden unterschiedliche Kontexte, in denen sich die tödlichen Schüsse deuten lassen, präsentiert und in ein Spannungsverhältnis zueinander gebracht. Dieser tastende Ansatz rückt die Fragmentiertheit, die Unabgeschlossenheit des Wissens über die Geschehnisse in den Vordergrund. Der allwissende Gestus des Voice-of-God-Narrators, der oft mit der Voice-over einhergeht, wird auf diese Weise geradezu konterkariert. Neben der Präsentation weiterer Informationen und Perspektiven nehmen Scheffners Voice-over auch Bezug auf vorangegangene und folgende Gespräche und leiten zu den nächsten Sequenzen über. Im ersten dieser Kommentare kontrastiert der Filmemacher seinen eigenen ersten Kontakt mit den Ereignissen mit den Erfahrungen der Familien der Erschossenen: »Für mich beginnt sie [die Geschichte, JS] mit einer Meldung im Verkehrsfunk 1992 in Deutschland, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung: ›Wegen Brand an der Autobahn sellschaftlichen Anstrengungen« bei der Bearbeitung dieser Traumata zukommt, insbesondere wenn diese Resultat von »man made disasters« seien. Ebd. S. 128ff. 488 Jean-FranÅois Lyotard , zit. n. Weigel 2000, S. 121ff.

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Berlin Szczecin ist der deutsch-polnische Grenzübergang Pomellen vorübergehend geschlossen. Der Verkehr staut sich auf einer Länge von drei Kilometern.‹ Für eine Familie in der Stadt Craiova beginnt die Geschichte viel früher : 1989 in Rumänien kurz nach der Revolution. Für eine andere Familie aus der Stadt Alba Iulia beginnt die Geschichte 1991 in Rumänien mit Fotos aus Deutschland.«489

In diesem Statement werden die verschiedenen Grade der Betroffenheit offensichtlich. Unannehmlichkeiten für den Autofahrer Scheffner werden den existentiellen Folgen gegenübergestellt, welche die Ereignisse für die Angehörigen der Erschossenen haben. Bereits hier klingen die im Film zentralen Themen an, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie die Gebundenheit dieses Wissens an den jeweiligen Sprechort. Auch in den weiteren Kommentaren wird die Erschießung der beiden Männer in einander zuwiderlaufende Deutungsrahmen gestellt: »Laut einer Statistik der NGO Fortress Europe wird in der Presse zwischen 1988 und August 2009 über mindestens 14.687 Menschen berichtet, die entlang der europäischen Grenzen starben.«490 Im Anschluss erhalten die Zuschauenden das erste Mal Kenntnis von der offiziellen Deutung des Tathergangs. Scheffner zitiert einen dpa-Bericht vom 1. Juli 1992, in dem es heißt, »sie seien vermutlich durch einen Jagdunfall getötet worden«. Werden die beiden Getöteten seitens der NGO in die lange Liste der Todesopfer der europäischen Grenzpolitik eingereiht, erscheint ihre Erschießung in der dpa-Meldung als tödlicher Sportunfall bar jeder politischen Dimension. Letztere Deutung bleibt jedoch nicht unwidersprochen: In den anschließenden Sequenzen wird die Unfallthese einer kritischen Prüfung unterzogen. Bei Scheffners Versuchen, am Tatort den Bildausschnitt des Jagdfernrohrs und später die Lichtverhältnisse zur Tatzeit zu rekonstruieren sowie anhand der sich daran anschließenden Interviews mit Behördenvertreter_innen werden seine Zweifel an dieser Deutung offensichtlich. Ein weiteres Spannungsfeld wird mit einem anderem Kommentar präsentiert: »Laut Statistik des Grenzschutzamts Frankfurt/Oder werden im Bereich Nadrensee im Juni 1992 612 sogenannte ›unerlaubt Eingereiste‹ festgenommen. Eine Woche nach den Schüssen im Gerstenfeld berichtet die Ostseezeitung in einem Artikel, dass es sich bei den Toten um polnische Menschenhändler gehandelt habe. Ihre Namen werden nicht genannt.« Nach einer Pause fährt Scheffner fort: »Am 29. Juni 1992 werden auf einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze zwei Menschen erschossen. Gegen 15 Uhr findet die Polizei am Tatort unter anderem ein Notizbuch, eine Uhr, eine Ledertasche sowie einen Reisepass, ausgestellt auf den

489 Revision, TC: 10:51ff. 490 Ebd., TC: 21:45ff.

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Namen Eudache Ca˘lderar mit der Anschrift Strada Qurizontuli Nr. 2 in der Stadt Alba Iulia in Rumänien.«491

Während Scheffner im ersten Teil des Kommentars rassistische Medienberichte und Praktiken zitiert – die Rede von Menschenhändlern ist ein weit verbreitetes Bild in entsprechenden Diskursen über Flucht und Migration492 –, distanziert er sich im zweiten Teil seines Kommentars von diesen Fehlinformationen. Er gibt beiden Getöteten das Menschsein, Eudache Ca˘lderar zudem seinen Namen und seinen wirklichen Herkunftsort zurück. Zudem wird der hetzerische Bericht an einer Stelle des Films zitiert, an der die Zuschauenden durch längere Interviews, die an früheren Stellen mit ihren Angehörigen geführt wurden, bereits genug über die Getöteten wissen, um die Informationen der Ostseezeitung als so falsch wie diffamierend einordnen zu können.493 Auch wenn Rassismus auf diese Weise immer wieder implizit zur Sprache kommt, wird er im Film nicht explizit als solcher benannt. Ihn zu erkennen, bleibt den Zuschauenden selbst überlassen.

Im Schatten der Windräder: Die kommentierende Funktion der Landschaftsaufnahmen Neben den Interviewsequenzen ist der Dokumentarfilm durch Landschaftsaufnahmen vom Tatort selbst und seiner Umgebung geprägt – sommerliche Impressionen des ländlichen Mecklenburg-Vorpommerns. Die flache Agrarlandschaft mit ihren endlos scheinenden Getreidefeldern wird stets menschenleer gezeigt. Ihre Weite steht in einem visuellen Gegensatz zu dem gerade zur Tatzeit im Zusammenhang mit Flucht und Migration bis weit in die sogenannte Mitte der Gesellschaft verbreiteten Slogan »Das Boot ist voll«.494 Anders als Tamara Milosevic, die, wie ich in Kapitel 5.2 aufzeige, in Zur falschen Zeit am falschen Ort mit expressiven Landschaftsaufnahmen unterschiedliche Stimmungen und Facetten des »Biotop[s], in dem Marinus Schöberl nicht überlebt«,495 herausarbeitete, geht es Scheffner jedoch hierbei nicht in erster Linie um das Sittengemälde einer Gemeinschaft. Im Zentrum seines Films stehen Reflexionen über die Tat selbst. Diese fand am 29. Juni statt. Entsprechend zeigen 491 Ebd., TC: 31:58. 492 Bernd Kasparek und Vasilis S. Tsianos verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf den »Anti-Trafficing-Diskurs, welcher die Bewegung der Migration in böse Schlepper bzw. Schleuser und deren bedauernswerte Opfer unterteilt«.Kasparek, Tsianos 2013, S. 66. 493 Bereits am Anfang des Films war etwa über Eudache Ca˘lderar zu erfahren, dass dieser bei einer Fabrik für Fensterrahmen gearbeitet hat (Revision, TC: 13:24). 494 Vgl. Pagenstecher 2012, S. 123. 495 Kunstreich 2006. Vgl. dazu Kapitel 5.2 Beobachtungen am Tatort des Mordes an Marinus Schöberl. Der Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005).

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Scheffners Landschaftsaufnahmen den Tatort und seine Umgebung nur im Sommer. Abgesehen von einem Nachtdreh, zur Rekonstruktion der Lichtverhältnisse zur Tatzeit, ist der Himmel auf den meisten Bildern strahlend blau und meist wolkenlos. Oft sind diese Aufnahmen von Wiesen, Wäldern oder einer Autobahnraststätte mit LKW, beladen mit den Einzelteilen von Windrädern, mit Scheffners Ausführungen unterlegt. An anderen Stellen ist nur der diegetische Ton – das Rauschen des Windes im Mais, die Durchfahrt eines Zuges, die Geräusche von Erntemaschinen oder die der Autobahn – zu hören. Windkraftanlagen, in Mecklenburg-Vorpommern weit verbreitet, und ihre Schatten, die über Wiesen, Wälder und Felder rotieren, sind ein wiederkehrendes Motiv. Rezensent Lucas Foerster bezeichnet sie »in ihrer gleichmäßigen Bewegung [als JS] leitmotivisch rhythmisierend«.496 Das Wandern des Schattens der Rotorenblätter lässt auch an das Verstreichen der Zeit oder gar Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen denken. Rezensent Jens Brinkmann fühlt sich von diesem Schatten gar an Fallbeile erinnert.497 Als eine rotierende Bewegung lassen sich auch Scheffners stets von neuem ansetzende Versuche begreifen, sich den Geschehnissen anzunähern, sie aus immer wieder neuen Perspektiven einzukreisen. Die kommentierende Funktion des Windradmotivs wird in einer Sequenz besonders deutlich. Während von der ohnehin erst vier Jahre nach der Tat beginnenden Hauptverhandlung die Rede ist, die wegen eines fehlenden Gutachtens bis zu dessen Vorlage auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, verlangsamt sich die Bewegung der Flügel. Ein quietschendes Bremsgeräusch unterbricht Scheffners Kommentar. »Drei Jahre später«, fährt er fort, »liegt ein neues Gutachten vor. 1999, sieben Jahre nach den tödlichen Schüssen von Nadrensee, beginnt am Amtsgericht Pasewalk der zweite Verhandlungstag.«498 Die sprichwörtlichen Mühlen der Justiz, so wird hier offensichtlich, mahlen in diesem Fall besonders langsam. Neben dieser Kommentarfunktion kongruieren gesprochener Text und Bild immer dann, wenn von konkreten Handlungsorten die Rede ist. Gezeigt werden, passend zu den entsprechenden Voice-overn, etwa die Autobahn, auf der die Täter zu einem Ausflug nach Polen fuhren oder der Ort Gelbensande, wo Familie Velcu zur Tatzeit lebte. 496 Darüber hinaus materialisiere sich, so Foerster weiter, in »den Windkraftanlagen […] die zeitliche Differenz, die 19 Jahre zwischen dem inzwischen historischen Kriminalfall um zwei erschossene Roma und ihrer filmischen Revision. Tatsächlich stellt der (insbesondere im Osten Deutschlands evidente) Siegeszug der Windparks den größten Einschnitt in das Landschaftsbild Deutschlands in den letzten zwei Jahrzehnten dar (vermutlich ist das sogar noch untertrieben).« Foerster 2012. 497 Brinkmann 2012. 498 Revision, TC: 1:27:10.

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Bewusst verzichtet der Regisseur auf Impressionen aus Rumänien. Abgesehen von dem obligatorischen Kamerablick aus den Fenstern der Interviewpartner_innen wurde bei den dortigen Dreharbeiten auf Außenaufnahmen verzichtet.499 Scheffner selbst begründet diese Entscheidung damit, dass er einen Film über Deutschland und nicht über Rumänien machen wollte.500 Als Tatort rassistischer Gewalt ist auch Rostock-Lichtenhagen eine längere Sequenz gewidmet. Mit dem Fotografen Jürgen Siegmann, der als Fotojournalist während des Pogroms vor Ort war, trifft sich Scheffner zu einer Ortsbegehung am damaligen Tatort in der Mecklenburger Allee.501 Den Landschaftssequenzen kommt neben der Vermittlung von Informationen eine wichtige Funktion für die Narration zu. Sie strukturieren die Erzählung, indem sie einzelne Interviews und Themenblöcke voneinander absetzen und zu weiteren Akteur_innen, Orten und Themen überleiten. An manchen Stellen gewähren sie den Zuschauenden kurze Pausen, um das Erfahrene wirken zu lassen. So sind beispielsweise am Anfang des Films Aufnahmen des Maisfelds zwischen die beiden etwa zehnminütigen Interviews mit den betroffenen Familien montiert.502 Begleitet vom lauten Geräusch einer Erntemaschine fährt die Kamera hier durch die Pflanzenreihen. Das Blättergewirr kann hier als Metapher für den zu untersuchenden Fall stehen, ein Dickicht aus Fragen, das es im Kommenden zu entwirren gilt. So undurchsichtig für die betroffenen Familien wie für die Zuschauenden. Mehrere Sekunden verharrt die Kamera in dieser Einstellung, dies bietet den Zuschauenden die Möglichkeit zur Reflexion über das Erfahrene und seine Präsentation. Auch an anderen Stellen lassen sich die zwischen einzelne Interviews montierten Landschaftsszenen als bewusste Momente des Innehaltens deuten. So etwa nach einer Intervention Colorado Velcus. Dieser bricht ein Interview ab und erklärt: »Über das, was damals auf dem Feld passiert ist, möchte ich nicht sprechen. (..) Ich bitte Sie, zu verstehen, dass ich es nicht kann. Ich werde darüber nicht sprechen.«503 Auf seine an das Filmteam und damit auch an die Zuschauenden gerichteten Worte folgen Aufnahmen des Tatorts. Die Kamera verharrt eine halbe Minute in einer Totalen des Maisfelds, 499 Während Rezensent Hans-Jörg Rother bedauert, dass Scheffner »keinen Blick in diese alltägliche Not werfen« wollte, begrüße ich diese Entscheidung. Nicht zuletzt, weil Bilder von der Armut in Rumänien vom Rassismus in Deutschland abgelenkt hätte. Rother 2012. 500 Werkstattgespräch mit Philip Scheffner. 501 Ins Bild kommt auch das Dorf Gelbensande, wo Familie Velcu zur Zeit der Schüsse in einem ehemaligen Wohn- heim für Bauarbeiter lebte. Von dieser Unterkunft für Asylsuchende ist zum Zeitpunkt des Drehs nichts mehr zu sehen, sie wurde inzwischen abgerissen.1 Zu Voice-overn, in denen sich Colorado Velcu und Romeo Tiberiade an die dort verbrachte Zeit erinnern, werden Impressionen von Einfamilienhäusern mit akkuraten Vorgärten gezeigt, mit denen das Gelände inzwischen bebaut ist.Revision, TC: 1:02:18ff. 502 Ebd., TC: 10:27. 503 Ebd., TC: 42:13.

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auf der Soundspur dazu Motorenrauschen und Vogelgezwitscher. Ein großer Schatten zieht heran, verdunkelt das Feld. Anstatt nahtlos mit dem nächsten Interview fortzufahren, wird Colorado Velcus Akt der Grenzsetzung Raum zugestanden. »Schwarze Punkte« und rot-weiße Messlatten: Rekonstruktionen am Tatort In drei längeren Szenen wird der Tatort als solcher inspiziert. Am Anfang des Films lädt Scheffner damalige Tatzeugen und verantwortliche Funktionsträger zu einer 19 Jahre verspäteten Begehung. In zwei weiteren längeren Sequenzen widmen sich der Filmemacher und sein Kameramann Bernd Meiners dem Versuch, die damaligen Licht- und Sichtverhältnisse am Tatort zu rekonstruieren. Um sich dem anzunähern, was die Jäger in der Morgendämmerung erkannt haben könnten, versuchen die beiden, den Blick durch ein Fernrohr sowie die Lichtverhältnisse im Moment der Schüsse nachzustellen. Die erste dieser Rekonstruktionen ist im ersten Drittel des Films situiert. Eingeleitet wird sie von einer Voice-over, in welcher Scheffner einen Artikel aus dem Nordkurier zitiert, der von einer Verwechslung von Menschen und Wildschweinen ausgeht.504 Eine These, deren Zweifelhaftigkeit der Film in der nächsten Sequenz offensichtlich werden lässt. Gefilmt aus dem Point of View (POV) von Meiners laufen er und Scheffner durch den etwa hüfthohen Mais.505 Nach einer kurzen Abblende sieht man eine weiß-rote Messlatte im Mais stehen. Die nächste Einstellung zeigt die Stange rechts im Bildvordergrund. Verfolgt man von dieser Latte ausgehend eine Diagonale bis zur Bildmitte, ist dort zwischen den Pflanzen ein kleiner weißer Strich zu erkennen. Nun wird das runde Blickfeld des Fernrohrs nachempfunden, indem das übrige Bild abgedunkelt wird. »Näher ran«, verlangt eine männliche Stimme aus dem Off. Der mit bloßem Auge fast unsichtbare Strich wird herangezoomt, bis er deutlich als zweite Messlatte zu erkennen ist. Der gewählte Bildausschnitt wird nun so lange austariert, bis sich die Latte genau in der Bildmitte befindet. Auf Scheffners Wunsch sind in diesem auch die Bäume am Horizont sowie ein Stück des Himmels zu erkennen. »Genau 72 Meter entfernt von dem Ort, wo das beobachtet worden ist mit dem Fernglas«,506 kommentiert Meiners die Rekonstruktion. Es folgt ein Interview mit Kriminalhauptkommissar Uwe Brandt, der die Aussagen der Jäger zitiert. Sie stehen in einem Widerspruch zu dem in der vorherigen Sequenz Vorgeführten: War die gestreifte Messlatte in der Rekonstruktion des Blickes durch das Fernglas 504 »Eine Woche später berichtet der Nordkurier, dass zwei Jägern eine Verwechslung unterlaufen sei. Sie hätten zwei illegale Einwanderer für Wildschweine gehalten«, heißt es dort. Ebd., TC: 23:48. 505 Ebd., TC: 22:04ff. 506 Ebd., TC: 26:40ff.

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deutlich zu erkennen, behaupteten die Jäger bei ihrer Vernehmung, lediglich »Bewegung im Kornfeld« sowie »schwarze Punkte« erkannt zu haben. »Und ohne sich jetzt weiter vom Sachverhalt zu überzeugen, das heißt, das Wild richtig anzusprechen,507 haben dann Heinz K. und einer der Gastjäger sofort geschossen. Und als dann letztendlich eine Menschengruppe aufsprang, mit erhobenen Händen, sind sie vom Tatort geflüchtet«, rekapituliert der Kommissar den Tathergang. Die Frage nach dem, was die Jäger gesehen haben könnten, verschiebt sich in seiner Rede zu einer Frage des verantwortungsvollen Jagdverhaltens. Diesbezüglich birgt jedoch auch Brands Version eine Reihe offener Fragen: Ist es glaubwürdig, dass halbwegs erfahrene Jäger einfach schießen, ohne genau zu wissen, worauf ? War ihnen klar, dass sie Menschen getroffen haben? Wenn ja, warum haben sie nicht zumindest anonym medizinische Hilfe gerufen? Es ist anzunehmen, dass Katzor als erfahrener Jäger sicherlich wusste, wie man sich bei Jagdunfällen zu verhalten hat.

Optischer Versuch um die Helligkeit zur Tatzeit festzustellen

In einem zweiten Experiment versucht Scheffner, die Lichtverhältnisse vom 29. Juni 1992 zu rekonstruieren. Es folgt auf ein langes Interview mit dem Zeugen Fildesan, der die Grenze gemeinsam mit den beiden Todesopfern überquerte. Darin beschreibt er detailliert, wie er den Beschuss der Gruppe und den gewaltsamen Tod der beiden Männer aus nächster Nähe miterlebte. Die von Fildesan angegebene Tatzeit, 3:45 Uhr,508 wird von Scheffner in der nächsten 507 »Das Wild ansprechen« ist eine feststehende Wendung in der Jägersprache. Sie bedeutet, das Wild nach Alter und Geschlecht zu bestimmen. Bevor es nicht angesprochen, also genau bestimmt worden sei, dürfe es nicht geschossen werden. So sind etwa trächtige Bachen (weibliche Tiere) oder Bachen mit Frischlingen (Jungtiere) nicht zum Abschuss freigegeben. Für diesen Hinweis danke ich Hanno Stegmann. 508 Revision. TC: 55:03.

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Sequenz bei seinem Versuch, die Lichtverhältnisse zur Tatzeit zu rekonstruieren, aufgegriffen. »Nach Rücksprache mit einem Astronomen« seien diese »idealerweise am 28. Juni 2011 nachzuvollziehen.«509 Die Zeitdifferenz zwischen Dreh und Tatnacht wird berechnet – sie beträgt 35 Minuten –, das Kamerabild dem Augeneindruck angeglichen. Nun läuft die Kamera. In einer Totalen die Windkraftanlagen in der Morgendämmerung. Auf Einblendungen der genauen Uhrzeit folgen zeitraffende Schnitte. Nach jedem sind wieder einige Minuten vergangen. Es wird schnell heller. Neben dem Rauschen der Windräder sind dazu hin und wieder Kommentare aus dem Off zu hören: »ist schon irre, jetzt kann ich das erste Mal diesen Zettel hier lesen ohne ’ne Taschenlampe«.510 Um 3:46 Uhr wird, wie beim vorherigen Experiment, das runde Sichtfeld des Jagdfernrohrs nachgestellt. Zum Vergleich zeigt die Kamera ein Kornfeld, das sich auf der anderen Seite des Tatorts befindet. Trotz der fahlen Morgendämmerung ist sowohl auf diesem als auch am Tatort, zu dem im nächsten Schnitt zurückgekehrt wird, bereits alles deutlich zu erkennen.511 Die Verwechslungsthese erscheint als immer unwahrscheinlicher. Die optischen Experimente sind, wie Scheffner in einem Werkstattgespräch erläutert, jedoch weniger darauf angelegt, zu verdeutlichen, was man damals »wirklich« gesehen habe, sondern sollen vielmehr die Frage in den Raum stellen, was die drei Jäger damals durch ihre Fernrohre gesehen haben könnten sowie zur Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion anregen.512 Vor Gericht zumindest war eine genaue Rekonstruktion ihrer Sicht nicht möglich – ob dies ernsthaft genug versucht wurde, ist eine andere Frage. Dies verdeutlicht Scheffners Kommentar, in welchem er an einer späteren Stelle des Films den Prozessverlauf rekapituliert: »Gegen 14:15 Uhr gibt eine als Sachverständige geladene Optikermeisterin an, dass mit den von den Jägern verwendeten Ferngläsern und Zielfernrohren eine Verwechslung von Menschen und Tieren kaum möglich sei. Wie hell es am Morgen des 29. Juni 1992 tatsächlich gewesen sei, könne sie auf Grundlage des vorliegenden Wettergutachtens jedoch nicht beurteilen. Eine Inaugenscheinnahme des Tatorts durch das Gericht findet nie statt.«513 Zu diesen Worten drehen sich die rot-weiß lackierten Rotorenblätter eines Windrads vor sommerlichem Himmel. Der Bildausschnitt ist dabei so gewählt, dass nur diese Teile der Windkraftanlage ins Bild kommen. Sie lassen sich als Verweis auf die ebenfalls rot-weiße Messlatte aus dem ersten Rekonstruktionsexperiment und damit als kritischer Kommentar zum Versagen der Justiz deuten. 509 510 511 512 513

Ebd., TC: 55:12. Ebd., TC: 57:10. Ebd., TC: 58:30. So Philip Scheffner im Werkstattgespräch. Revision, TC: 1:27:10ff.

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Die Frage nach der Möglichkeit einer Rekonstruktion stellt auch Brinkmann: »Als Zuschauer stellen wir uns ein knapp hüfthohes Gerstenfeld anstelle des Maisfelds vor, versuchen die rot blinkenden Windräder am Horizont zu ignorieren. Unweigerlich entstehen Fragen nach den Grenzen dieser Rekonstruktion, nach dem Beweischarakter der Simulation. Und doch ist es, als wir den fraglichen Zeitpunkt erreichen, kaum vorstellbar, dass eine Gruppe von etwa 20 Flüchtlingen nicht als solche wahrgenommen wurde. Ein Gutachten kam zu demselben Schluss: eine Verwechselung von Menschen und Wildschweinen sei bei den Sichtverhältnissen zum Tatzeitpunkt so gut wie auszuschließen.«514

Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch weist auf den doppelten Wortsinn des Begriffs Einstellung hin. Dem von der Kamera gewählten Blickpunkt sei zugleich die Haltung der Filmenden gegenüber dem Gefilmten eingeschrieben: »Die technische Einstellung [im Film, JS] ist eine intentionale Einstellung, Ergebnis einer Kette von Detailentscheidungen: Die Einstellung ist die Einstellung. Die Einstellung von etwas und die Einstellung zu etwas.«515 Analog zu ihrem Diktum gilt in Bezug auf die Jäger, dass ihre Sicht im doppelten Wortsinne ihre Sicht ist: Das, was sie tatsächlich gesehen haben, gibt Aufschluss über ihre Haltung, ist dafür entscheidend, ob und inwieweit die Schüsse absichtlich erfolgten. Auch wenn eine Verwechslung nach Scheffners Rekonstruktionsexperimenten wenig plausibel erscheint, gibt der Film keine abschließende Antwort auf diese Frage.

Die Thematisierung des Rassismus Wie ich in diesem Abschnitt zeigen werde, kommen bei den Ereignissen um die Erschießung von Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar unterschiedliche Spielarten des Rassismus zum Tragen, werden im Film in ihrer Verwobenheit thematisiert, wenn auch, wie bereits erwähnt, nicht beim Namen genannt: Immer wieder berichten Interviewpartner_innen von gewalttätigen Angriffen. Die wiederholte Schändung des Grabes von Grigore Velcus Mutter Ecaterina Siminica veranlasste ihren Sohn dazu, nach Rumänien zu reisen, um die Rücküberführung ihres Leichnams zu organisieren. Auf dem Rückweg zu seiner Familie nach Gelbensande wurde er erschossen. Eher indirekt kommen institutionelle und strukturelle Rassismen zur Sprache.516 Institutioneller Rassismus lässt sich im behördlichen Handeln nach Velcus und Ca˘lderars Erschießung 514 Brinkmann 2012. 515 Koch 1992 S. 9. 516 Institutioneller Rassismus manifestiert sich, wie Birgit Rommelspacher schreibt, in »Strukturen von Organisationen, eingeschliffene[n] Gewohnheiten, etablierte[n] Wertvorstellungen und bewährte[n] Handlungsmaximen«. Rommelspacher 2009, S. 30.

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aufzeigen. Es stellt sich sogar die Frage, ob Eudache Ca˘lderar die Schüsse überlebt hätte, wenn die Polizei den Aussagen der kurz darauf aufgegriffenen Grenzgänger_innen Glauben geschenkt hätte und den Schwerverletzten am Tatort geborgen hätte. Institutioneller Rassismus zeigt sich auch in den nachlässig geführten Ermittlungen, dem Umgang mit den rumänischen Zeug_innen und nicht zuletzt in der Ignoranz gegenüber der Angehörigen der Getöteten. Institutioneller Rassismus Im Film wird eine Reihe von Ermittlungsfehlern aufgezeigt. Der Hauptteil beginnt mit einer Begehung des Tatorts, bei der deutlich wird, dass weder die Feuerwehrleute, welche die leblosen Körper Velcus und Ca˘lderars im Feld entdeckten, noch die zum Tatort gerufenen Rettungskräfte befragt wurden.517 Der Tatort wurde umgepflügt, bevor die Spurensicherung dort ihre Arbeit verrichten konnte. An weiteren Stellen des Films wecken Scheffners optische Experimente am Tatort Zweifel an der These der Verwechslung von Menschen und Wildschweinen. In einer etwa 10-minütigen Interviewsequenz schildert Fildesan die Erschießung seines Freundes Grigore Velcu: »Auf dem Feld sagte uns einer, der uns rüber bringen sollte: ›Legt euch alle auf den Bauch!‹ Alle legten sich hin. Auch ich habe mich auf den Bauch gelegt. Mein Freund Parizan [so wurde Grigore Velcu von seinen Freund_innen genannt, JS] aber hat sich hingekniet. Verstehen Sie, er hat sich hingehockt mit einer Hand auf meiner Schulter.«518 Während seiner Rede macht Fildesan dem Kamerateam vor, wie Velcu sich hingekniet hat. Er fährt fort: »Ich lag auf dem Boden im Weizenfeld. Er sagte mir : ›Ich geh mal nachsehen, was der Führer macht und was da los ist.‹ Er ist ungefähr zehn Meter gelaufen. Aus zehn Metern Entfernung habe ich Schüsse gehört. Es waren sehr laute Schüsse. Ungefähr sechs oder sieben. Als wir die ersten zwei Schüsse gehört haben, sind wir alle aufgestanden. Wir hatten furchtbare Angst. Wir dachten, wir sterben. Wir haben geschrien: ›Nicht schießen! Nicht schießen!‹ In dem Moment habe ich zufällig in Richtung der Straße am Ende des Feldes geschaut. Dort stand das Polizeiauto. Tatsächlich habe ich eine Waffe mit Zielfernrohr auf der Motorhaube gesehen. So habe ich das damals auch ausgesagt. Es wurde geschossen. In diesem Moment.« Immer wieder bricht Fildesan seine Erzählung ab und beginnt, über die Schwierigkeiten zu sprechen, die es ihm bereitet, die traumatischen Ereignisse zu rekapitulieren.519 »Als wir geschrien haben: ›Nicht mehr schießen!‹, ist das 517 Revision, TC: 16:39. 518 Ebd., TC: 46:12. 519 Wenig später im Interview berichtet er, dass es ihm auch physische Schmerzen bereitet, die

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Polizeiauto verschwunden«, setzt er seinen Bericht fort. »Kurz danach kamen die Autos, die uns abholen sollten. Wir konnten die beiden nicht mitnehmen. Man hätte uns gesagt, dass wir sie umgebracht haben.« Ob er – so interpretiert jedenfalls Drehbuchautorin Merle Kröger die Sichtung eines Polizeifahrzeugs am Tatort in ihrem Roman – den Jeep des Jagdreiseveranstalters mit einem Polizeiauto verwechselte oder ob tatsächlich ein Einsatzfahrzeug vor Ort war, wird im weiteren Verlauf des Films nicht geklärt. Offenkundig wird hier jedoch Fildesans Angst vor der deutschen Polizei, der er den Mord an seinem Freund zutraut. Aus Angst vor dieser habe man Velcu und Ca˘lderar liegen gelassen. Wie aus seinen weiteren Schilderungen hervorgeht, wurde die Gruppe später auf der Autobahn kontrolliert und verhaftet. Die Festgenommenen sagten laut Fildesan dabei auch über die Schüsse aus. Die Polizei ist dem erst mit achtstündiger Verspätung nachgegangen. Die leblosen Körper wurden, erst am folgenden Morgen von den Mähdrescherfahrern entdeckt. Hätte Eudache Ca˘lderar überleben können, wenn die Polizei rechtzeitig vor Ort gewesen wäre? Warum wurde den Aussagen der Geflüchteten kein Glauben geschenkt und ein Krankenwagen zum Tatort geschickt? Insbesondere Eudache Ca˘lderars Tod lässt sich – auch unabhängig von den Motiven der Jäger – als Folge des institutionellen Rassismus bezeichnen. Diesen Zusammenhang legt auch Scheffner in seinem Off-Kommentar zu dieser Episode nahe.520 Im Gespräch mit den Journalisten Lutz Panhans wird deutlich, dass erst die mediale Skandalisierung durch seinen Bericht eine Einstellung des Verfahrens verhinderte. »Ich hatte«, so erinnert sich der Journalist, »1994 bei denen [der zuständigen Staatsanwaltschaft, JS] nochmal nachgefragt, da hieß es, sie hätten ein zusätzliches Gutachten nochmal angefordert oder so. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. […] Und dann geschah tatsächlich das Unfassbare eigentlich. 1995 rief ich den Staatsanwalt, einen dort in Stralsund an und der sagt: ›Ach und wir stellen das jetzt ein. Der bearbeitende Staatsanwalt verlässt die Behörde und wir legen den Fall zu den Akten damit.‹ Basta. Und das war für

traumatische Szene zu rekapitulieren. Immer wieder kommt er auf seine Kopfschmerzen zu sprechen: »Wenn ich mich an das erinnere, was ich erlebt habe, bekomme ich ungeheure Kopfschmerzen.« Revision, TC: 46:12f. 520 »Am 29. Juni 1992 gegen fünf Uhr früh werden Iamandit¸a Gogu, genannt Fildesan, und zwanzig weitere Flüchtlinge bei einer Verkehrskontrolle in Neubrandenburg festgenommen. Die zwanzig Tatzeugen erhalten noch in der Nacht eine Anzeige wegen illegalem Grenzübertritt und unerlaubtem Aufenthalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl sie der Polizei direkt bei ihrer Festnahme von den Schüssen berichten, dauert es zirka acht Stunden, bis die Polizei am Tatort eintrifft. Zu diesem Zeitpunkt steht das Feld bereits in Flammen und Eudache Ca˘lderar und Grigore Velcu können nur noch tot geborgen werden.« Revision, TC: 59:51.

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mich das Signal, jetzt muss die Geschichte gemacht werden, sonst verschwindet sie tatsächlich. Die wollten das richtig einstellen.«521 Im Film wird die Diskrepanz zwischen den polizeilichen Ermittlungen und den Rechercheergebnissen des Journalisten deutlich herausarbeitet. So zeigt die folgende Sequenz, dass der zuständige Rechtsmediziner Herr Philipp erst aus dem Bericht des Fernsehjournalisten von den Zeugen erfuhr, die bestätigten, dass Eudache Ca˘ldera die Schüsse um mehrere Stunden überlebte. Diese Zeugen, die zum Tatort gerufenen Rettungssanitäter, waren weder in den Ermittlungsakten aufgeführt, noch wurden sie vor Gericht vernommen. Ihre Aussagen deckten sich jedoch mit Philipps Obduktionsergebnissen. Im Interview mit Scheffner beschreibt der Gerichtsmediziner, wie er den zuständigen Staatsanwalt vergeblich aufgefordert habe, diese Zeugen ebenfalls vorzuladen. Der Frage, warum dies nicht geschehen ist, wird nicht weiter nachgegangen.522 In seinen Abschlussreflexionen konfrontiert der Dokumentarfilmer den Oberstaatsanwalt und Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund Lechte mit den Versäumnissen der eigenen Behörde:523 Er kritisiert, dass kein Kontakt mit den Angehörigen der Ermordeten aufgenommen worden ist, obwohl dies recht einfach gewesen wäre. Der Staatsanwalt entgegnet: »Ja, sie spielen in diesem Prozess auch halt keine Rolle. Das muss man ganz ehrlich so sagen, wir haben einen Strafprozess in Deutschland gehabt, wir haben ein Tötungsdelikt in Deutschland, wir hatten die Beweismittel alle vor Ort und dementsprechend brauchten wir die Verwandten in Rumänien für diesen Prozess nicht.«

Dass die betroffenen Familien das Recht haben, über die Hintergründe der Erschießung ihrer Angehörigen informiert zu werden, sich zudem als Nebenkläger_innen hätten aktiv am Verfahren beteiligen können und auf diese Weise auch Einfluss hätten nehmen können, wird von Lechte nicht in Betracht gezogen.524 Das Gespräch bricht an dieser Stelle ab. Scheffner bleibt sachlich, kann sich jedoch ein zynisches Lachen nicht verkneifen. Denn in Lechtes Antwort schreibt sich dieselbe Ignoranz gegenüber den Angehörigen, ihren Interessen und Bedürfnissen fort, die auch den bisherigen behördlichen Umgang mit ihnen 521 522 523 524

Ebd., TC: 1:23:06. Ebd., TC: 1:23:46. Ebd., TC: 1:31:41. Auf seiner Webseite erklärt der Rechtsanwalt Cornelius Weimar, die Rechte, die Nebenkläger_innen während eines Verfahrens innehaben: »Wird gegen einen vermeintlichen Täter wegen bestimmter Straftaten Anklage erhoben, kann sich der Verletzte oder, falls er durch die Straftat gestorben ist, seine engen Verwandten, der Anklage als Nebenkläger anschließen. Der Nebenkläger hat in einem Strafverfahren ein eigenes Antragsrecht und darf während des Strafverfahrens im Gegensatz zum normalen Zeugen auch anwesend sein, wenn er als Zeuge aussagen soll. Er hat allerdings keine Anwesenheitspflicht und kann sich im Verfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen.« Weimar o. J.

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prägte. Laut dem an den Recherchen zu Revision beteiligten Rechtsanwalt Wolfgang Heiermann entspricht der »Ausschluss von dem Prozess […] der Haltung, die besonders gegen Roma immer wieder eingenommen wird: Sie werden verachtet, ausgegrenzt und rechtlos gestellt.«525 Der Umgang mit den Angehörigen ist auch Thema der nächsten Sequenz.526 Aus einem Interview mit seinem Anwalt Wehage wird deutlich, dass sich Jäger Katzor nach den Schüssen weder für die Angehörigen der Erschossenen noch für deren Lebenssituation interessiert hat, geschweige denn Verantwortung für sein Handeln übernommen hat: »Also und das einzige, was wir also gemacht haben damals, war also, dass wir das der Haftpflichtversicherung gemeldet haben und da haben wir auch keine Veranlassung gehabt, also da Kontakt mit den Leuten aufzunehmen.« Als im Verlauf des Gesprächs deutlich wird, dass die Angehörigen Ansprüche gegenüber der gegnerischen Versicherung hätten geltend machen können, wenn sie rechtzeitig über diese Möglichkeiten informiert worden wären, ist Scheffners Empörung nicht zu überhören. Für »[u]ndenkbar, wenn in Rumänien Deutsche getötet würden, undenkbar, wenn Roma Deutsche töten würden« hält auch Heiermann den Verlauf und den Ausgang des Verfahrens.527 Er weist darauf hin, dass in Richtung eines rassistischen Tatmotivs noch nicht einmal ermittelt wurde: »Die Staatsanwaltschaft klagte die Tat im Jahr 1994 wegen zweifachen Mordes an (ohne in Richtung eines rassistischen Motivs ermittelt zu haben). Das Oberlandesgericht in Rostock stufte den Vorwurf auf fahrlässige Tötung herunter und belehrte darüber, dass Flüchtlinge, die nachts illegal über die Grenze gehen, eine erhebliche Mitschuld an ihrem Tod treffen kann.«528

Zum Tatzeitpunkt lebten Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar in Deutschland. Sie wurden auf dem Rückweg zu ihrer Familie (Grigore Velcu) und ihrem Arbeitsplatz (Eudache Ca˘lderar) erschossen. Die asyl- und ausländerrechtlichen Regelungen und Gesetze, welche die beiden Männer dazu zwangen, die Grenze heimlich zu überqueren, werden im Film nicht ausbuchstabiert. Zumindest Grigore Velcu, der mit seiner Familie in Deutschland Asyl beantragt hatte, unterlag der Residenzpflicht.529 Dieses Gesetz untersagte es Personen im Asylverfahren, den jeweiligen Landkreis, dem sie zugeteilt wurden, zu verlassen. Da auch Eudache Ca˘lderar trotz seiner festen Arbeit in Wüstenrot die Grenze heimlich überqueren musste, wird auch er entweder von diesem nur in 525 526 527 528 529

Heiermann 2014, S. 95. Revision, TC: 01:32:34. Heiermann 2014, S. 95. Ebd. Dass Velcu von dieser diskriminierenden Gesetzesregelung betroffen war, erwähnt auch Rezensent Ulrich Gutmair. Gutmair 2012.

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Deutschland existenten rassistischen Sondergesetz betroffen gewesen sein oder wollte schlicht das so langwierige wie aufwendige bürokratische Prozedere zur Regelung seiner Ein- und Ausreise umgehen. Als Resultat der europäischen Grenzpolitik sind viele Menschen damals530 wie heute gezwungen, ihr Leben zu riskieren, um Ländergrenzen zu überqueren.531 Dies galt bis zum EU-Beitritt Rumäniens im Jahr 2007 auch für dessen Staatsbürger_innen. Im Film wird die europäische Grenzpolitik wiederholt in den Blick genommen. Bereits im ersten Drittel des Films stellt Scheffner die Erschießung der beiden Rroma in diesen Kontext: Er zitiert eine Statistik, welche die NGO Fortress Europe über Todesfälle an den europäischen Außengrenzen angefertigt hat.532 Der Film stellt den Tod der beiden Rroma damit in einen direkten Zusammenhang mit den Bedingungen, unter denen sie die Grenze überqueren mussten. Die Wahl des zitierten Zeitraums setzt ihren Tod in den größeren Deutungsrahmen von 21 Jahren europäischer Grenzsicherung. Die Situation, die in den frühen 1990er Jahren an der deutsch-polnischen Grenze herrschte, wird im Film aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen. Norma Pahl, damals zuständig für die Ausländerbehörde, sagt: »Wir hatten jede Nacht Grenzübertritte, auf der grünen Grenze. Die Ausländerbehörde war damals auch in meinem Zuständigkeitsbereich. Einige Jäger hatten davon Wind bekommen und hatten dann eben für sich selbst die Entscheidung getroffen, aufgrund dieser besonderen Situation, Flüchtlingssituation: ›Ich kann das mit meiner Sicherheit oder mit meinem Jagdverhalten nicht mehr vereinbaren, ich geh nicht mehr jagen, in dieser Situation.‹ Weil der Bundesgrenzschutz konnte das nicht sicherstellen, dass sie jedem da aufgeholfen haben. Und außerdem muss man ja auch immer damit rechnen, dass irgendwelche Beamten durch den Busch kriechen.«533

Ihre euphemistische Formulierung blendet aus, dass es eher Aufgabe des Bundesgrenzschutz war, solche Grenzübertritte zu verhindern, als Grenzgän530 »Bei dem Versuch an immer gefährlicheren Stellen über die Grenze zu kommen, sind in den Jahren 1993–95 nach einer Auskunft der Bundesregierung insgesamt 31 Personen allein in Oder und Neisse tot aufgefunden worden«, schreibt die Arbeitsgemeinschaft Flucht und Migration. Nach ihren »Recherchen beläuft sich die Zahl der Toten an den Außengrenzen in diesem Zeitraum auf insgesamt 45. Im Jahr 1996 sind nach einer Auskunft der Bundesregierung wieder 17 ausländische Menschen bei dem Versuch, die deutsche Ostgrenze zu überwinden, gestorben. Wie hoch die Dunkelziffer ist, vermag niemand zu sagen.« Glöde 1997. 531 Auch heute sterben Menschen an den EU-Außengrenzen. Laut einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung sind zwischen Januar 2014 und Juni 2016 knapp 100.000 Menschen beim Versuch ertrunken, das europäische Festland zu erreichen. Vgl. Eisenreich 2016. 532 Revision, TC: 21:45f. Die Amsterdamer NGO UNITED for Intercultural Action, European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees zählt 17.306 Todesopfer zwischen 1992 und 2012. UNITED for Intercultural Action, European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees 2012. 533 Revision, TC: 28:59f.

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ger_innen »aufzuhelfen«. An dieser Stelle des Films wird jedoch nicht weiter auf die Grenzpolitik und ihre Umsetzung eingegangen. Es geht um die Frage, ob die Jäger über die Situation an der Grenze informiert waren. Dass Jagdpächter Katzor von nächtlichen Grenzüberquerungen in seinem Jagdgebiet wusste und, wie es sein Anwalt formuliert, »auch hin und wieder den Grenzschutz informiert [habe], dass dort illegal Grenzgänger über die Grenze gehen würden«,534 wird in der darauffolgenden Sequenz deutlich. Hier wird der Akt der Grenzüberquerung aus Perspektive der Flüchtenden geschildert.535 Dass die beiden Familienväter, wenn sie legal hätten nach Deutschland einreisen dürfen, vermutlich noch am Leben wären, verdeutlicht Scheffners letzter Kommentar, der sich auch als Abschlussfazit des Filmemachers deuten lässt: »Am 29. Juni 1992 werden Eudache Ca˘ldera und Grigore Velcu auf einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze erschossen. Heute, zwanzig Jahre später, wären sie Bürger der europäischen Union.«536 Hier wird die Willkür und historische Veränderbarkeit von Grenzen, die damit einhergehenden Ein- und Ausschlüsse mit ihren oftmals tödlichen Konsequenzen ins Spiel gebracht: Die Absurdität eines Todes, der sich 20 Jahre später nicht ereignet hätte – zumindest nicht für Rumänen an der deutsch-polnischen Grenze. Seit dem polnischen Beitritt zum Abkommen von Schengen (2007)537 ist die Grenze, an der Eudache 534 Ebd., TC: 30:42f. 535 Im bereits erwähnten Interview mit Fildesan schilderte dieser, wie er die Grenze gemeinsam mit einer Gruppe überquerte, zu der auch Grigore Velcu und Eudache Ca˘lderar gehörten, und dabei Zeuge der tödlichen Schüsse wurde: »Damals hat man die Grenze nach Deutschland heimlich überquert. In Polen gab es ein Hotel, irgendwo ein bisschen höher gelegen. Hinter diesem Hotel gab es eine Stelle, an der man die Grenze heimlich überqueren konnte. Um dahin zu kommen, musste man einige Kilometer zu Fuß laufen. Ich und mein Kollege, mein Freund Parizan [so wurde Grigore Velcu von seinen Freund_innen genannt, JS], sind mit ungefähr 20 Leuten an diesem Hotel angekommen. Hinter dem Hotel sind wir ungefähr einen Kilometer gelaufen, bis wir an einer Eisenbahnlinie angekommen sind. Neben den Zuggleisen waren Weizenfelder. Sehr große und sehr viele Weizenfelder.« Während er seiner Rede lauscht, wird auch er in Nahaufnahme in den Blick genommen. Er schaut zuerst direkt in die Kamera, beginnt dann, beim Sprechen in seinen Notizen zu blättern. Immer wieder muss er die Schilderung der traumatischen Ereignisse unterbrechen. Nach einer Pause kommt er auf die nächtliche Grenzüberquerung zurück. Er beschreibt seine Zweifel, ob die besagte Nacht geeignet sei, erzählt, wie die Person, welche die Gruppe über die Grenze führte, die Anweisung gab, sich flach auf den Boden zu legen. In seinen Ausführungen legt Fildesan ein eindrückliches Zeugnis von den strapaziösen Bedingungen der Grenzüberquerung, seiner Angst vor der deutschen Grenzpolizei und schließlich den tödlichen Schüssen selbst ab. Ebd., TC: 46:12ff. 536 Ebd., TC: 1:36:35. 537 Das Schengener Abkommen regelt den Wegfall von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der beigetretenen Länder. Der Wegfall dieser Kontrollen wird durch Kontrollen an den Schengen-Außengrenzen sowie durch weitere Maßnahmen an den Binnengrenzen wie mobile Grenzraumüberwachung und stärkere Vernetzung der Polizeiarbeit, ausgeglichen. Schengen brachte, wie Kasparek und Tsianos feststellen, auch eine »Ausweitung von

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Ca˘lderar und Grigore Velcu starben, keine Außengrenze der EU mehr. Das Sterben hat sich an deren aktuelle Außengrenzen verlagert, etwa an die Mittelmeerküste und die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Mellila.538 Seit dem rumänischen Beitritt zur EU ist es für die Angehörigen der Getöteten zumindest einfacher geworden, deren Grenzen legal zu überqueren. Die Gründe, diese überqueren zu müssen, bestehen jedoch nach wie vor. Wie Colorado Velcu erläutert, würde seine Familie in Rumänien ohne das Geld, das sie als Saisonarbeiter_innen in Spanien verdienen, kaum überleben können. Nach wie vor sind die Zugänge zu gut bezahlten Arbeitsplätzen in Rumänien wie auch im Schengenraum insbesondere für Rrom_nja prekär. Wie Romeo Tiberiade bei einer Veranstaltung in Berlin berichtete, leben aktuell »[d]rei Viertel der geschätzten 2,2 Millionen Roma in Rumänien …] in Armut und abgeschottet in meist abgelegenen Wohngebieten. Sie haben weder Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen […] noch dauerhafte Personaldokumente. Stattdessen müssen sie mit provisorischen Personalausweisen vorliebnehmen, die ihnen kein Recht auf Arbeit und Ausreisemöglichkeiten in die EU gewähren.«539 Gewalttätiger Rassismus: Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 »Eben dort [in Rostock-Lichtenhagen, JS] befanden sich an jenen Tagen mehrere Tatzeugen, die mit Velcu und Ca˘lderar über die Grüne Grenze gekommen waren. In Nadrensee wie in Rostock kam die Polizei viel zu spät, ermittelte hier nachlässig und sah dort tatenlos zu, wie Neonazis Häuser in Brand steckten.« (Jonny Rieder)

Der Film, der seine Premiere im 20. Gedenkjahr des Pogroms von RostockLichtenhagen hatte, arbeitet die räumlichen und zeitlichen Bezüge zum massiven Anstieg rassistischer Gewalt in den 1990er Jahren heraus, die einen ihrer Gipfelpunkte in den tagelangen Angriffen auf die ZAST und das danebenliegende Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter_innen hatte. Das Thema des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, das nach Einschätzung der NGO Pro Asyl »bis heute in einzigartiger Weise für das Zusammenwirken von Politik und dem rassistischen, gewalttätigen Mob der Straße«540 steht, kommt das erste Mal in einem von Scheffners Voice-over-Kommentaren zur Sprache. Er folgt auf eine Sequenz, in der sich Familie Ca˘lderar daran erinnert, wie ihnen der Leichnam des Vaters und Ehemanns ohne irgendeine Erklärungen seitens der zuständigen deutschen Behörden überstellt wurde. Scheffners anschließender Kommentar Grenzzonen in Inneren mit sich. So wurden immer mehr inländische Räume wie Bahnhöfe oder Bundesstraßen zu Grenzräumen umdefiniert.« Kasparek, Tsianos 2013, S. 66. 538 Vgl.: UNITED for Intercultural Action, European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees 2012. Krause 2012.S 189–200. 539 Forster, Lisa 2012. 540 Pro Asyl 2012.

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beginnt mit einer akribischen Auflistung der von Eudache Ca˘lderar in deutsche Kassen eingezahlten Steuer- und Sozialbeiträge, die mit der laxen Behandlung kontrastiert wird, die den Todesschützen durch die deutsche Bürokratie zuteil wurde.541 Implizit setzt Scheffner hier den weitverbreiteten rassistischen Fantasien über Rrom_nja als »diebisch«, »laut«, »schmutzig«, »unmoralisch«, »betrügerisch« »asozial« und »arbeitsscheu« die Realität des hart arbeitenden Steuerzahlers Eudache Ca˘lderar entgegen.542 Wenn auch im Film nicht explizit thematisiert, bilden antiziganistische Imaginationen den diskursiven Kontext. Ihre weite Verbreitung muss daher mitgedacht werden.543 Sie spielten auch beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen eine zentrale Rolle. In der Fortsetzung seines Kommentars kommt Scheffner auf das Pogrom selbst zu sprechen: »Die rumänischen Tatzeugen der Schüsse von Nadrensee befinden sich zu dieser Zeit in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Die Einrichtung ist überfüllt, die Flüchtlinge müssen oft mehrere Tage im Freien auf die Bearbeitung ihres Antrags warten. Am 22. August, gegen 18 Uhr versucht eine Gruppe aus etwa 300 Neonazis und Anwohnern die Zentrale Aufnahmestelle zu stürmen.«

Der dazu über einen Waldrand routierende Schatten der Windradflügel erinnert an ein Hakenkreuz. Indem der Filmemacher die Angegriffenen jedoch allgemein als »Rumänen« bezeichnet, lässt er die antiziganistische Dimension des Pogroms in den Hintergrund treten. In Scheffners knapper Schilderung der Zustände vor der ZAST wird die Frage nach der Verantwortung von Politik und Medien, nach Ursachen und Hintergründen des Pogroms lediglich gestreift.544 Wie The Truth 541 »1991 arbeitet Eudache Ca˘lderar bei der Treeftz Fensterfabrik in Wüstenrot. Laut Verdienstbescheinigung werden von seinem Bruttoverdienst für die Monate September bis einschließlich November rund 803 DM Lohnsteuer, 64 DM Kirchensteuer, 381 DM Krankenversicherung, 539 DM Rentenversicherung, 207 DM Arbeitslosenversicherung und ein Solidaritätszuschlag von 60 DM einbehalten. Am 29. Juni 1992 befindet sich Eudache Ca˘ldera auf der Rückreise von Alba Iulia nach Wüstenrot und wird auf einem Feld nahe der Grenze erschossen. Am 15. Juli 1992, an seinem 31. Geburtstag, wird er in Alba Iulia beerdigt. Einen Tag vorher wird in Deutschland der Haftbefehl gegen Gerhard R. aufgehoben. Er war einen Tag in Haft. Fünf Tage später wird der Haftbefehl gegen Heinz Katzor aufgehoben. Er war vier Tage in Haft.« Revision, TC: 1:11:42. 542 Vgl. Johann 2010, S. 215. Vgl. auch: End 2014, S. 37–47. 543 Zur weiten Verbreitung des Antiziganismus in Deutschland vgl.: Zentrum für Antisemitismusforschung, Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung e.V. 2014, S. 7. 544 Auch eine Studie der Universität Rostock schreibt der Lokalpresse »eine nicht unwesentliche Rolle bei der Verbreitung von Vorurteilen« zu: »Roma aus Rumänien wurden regelmäßig kollektiv als Problem dargestellt.« Vgl.: Prenzel 2012, S. 18, S. 22. Die wichtige Rolle der medialen Berichterstattung bei der Institutionalisierung rassistischer Diskurse thematisiert auch Monheim in seiner mit dem Grimmepreis ausgezeichneten TV- Dokumentation Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern. Monheim bezieht sich hier vor allem auf die von Jäger et al. 1992 herausgegebene Studie BrandSätze. Rassismus im Alltag. Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern, TC: 16:00.

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lies in Rostock (Kapitel 4.1) herausarbeitet, hatte gerade die von rassistischer Stimmungsmache geprägte Berichterstattung der Ostseezeitung zur Eskalation rassistischer Gewalt in Rostock-Lichtenhagen beigetragen. Kurz vor dem Pogrom wurde dort ein Leserbrief abgedruckt, in dem zum gewalttätigen Protest gegen Rrom_nja aufgerufen wurde.545 Auf Scheffners Kommentar folgen aktuelle Impressionen des Tatorts in der Mecklenburger Allee 18. Heute ist eine Fahrschule in dem Gebäude untergebracht. Rote Rosen blühen vor dem Wohnblock. Nichts erinnert an das rassistische Pogrom. Hier trifft Scheffner Jürgen Siegmann, der damals als Pressefotograf vor Ort war. Seine Erinnerungen decken sich mit Scheffners vorherigem Kommentar : »Das ging dann hier erst los, dass die Fenster eingeworfen haben. Irgendwann sind dann auch die Molotowcocktails geflogen und irgendwann war da auch ein Punkt erreicht, wo dann einfach die Polizei abgezogen ist. Hier war nur noch ein richtiger Mob zugange, extrem aggressiv und extrem gewaltbereit und jede Menge Anwohner, die sich zum Teil köstlich amüsiert haben, die angefeuert haben. Und da war die Polizei schon komplett verschwunden.«546

Die Überleitung zur Perspektive der Angegriffenen bildet ein Foto, das Siegmann bei der Evakuierung der ZAST geschossen hat. »Und dieses Foto, was ich da gemacht habe, das hat natürlich ’ne Ironie, die die Menschen, die da jetzt auf den Bildern sind, gar nicht verstanden haben, vermute ich mal. Die hatten ja so ’ne Papiertüte bei sich stehen, auf der stand: ›Jetzt können Sie einpacken‹. Was eigentlich ein lustiger Werbeslogan von der Firma sein sollte, die da die Tüte produziert hat, aber natürlich passte es perfekt zu der Situation.« Nach seiner Beschreibung wird das Bild eingeblendet. Es zeigt eine Frau. Sie sitzt auf einem Bordstein, umgeben von Tüten, auf einer ist der besagte Slogan zu lesen. Sie hält ein Baby auf dem Schoß, neben ihr ein etwa dreijähriges Mädchen.547 Es folgen weitere Bilder der Dreiergruppe. Auf dem letzten Bild blickt das kleine Mädchen in die Kamera. Waren die vorherigen Fotos auf schwarzem Hintergrund eingeblendet, liegt diese Fotografie nun auf einer gemusterten Tischdecke. Es folgt ein Schnitt auf Familie Tiberiade. Sie sitzen an dem Tisch mit der gemusterten Decke. »Man kann auf diesem Foto meine Frau und meine ältere Tochter Arabella sehen«, erklärt Herr Tiberiade und zeigt auf seine erwachsene Tochter und das kleine Mädchen auf dem Foto. »Das zweite Kind«, fährt er fort, »ist Ahmed. Er wurde 1991 in Rostock geboren.« Er zeigt auf seinen Sohn. »Sehen Sie, wie verzweifelt meine Frau ihn im Arm hält? In der Zeit wurde 545 Vgl. The Truth lies in Rostock, TC: 07:05. 546 Revision, TC: 1:14:34ff. 547 Ebd., TC: 1:16:25.

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das Lager in Rostock angezündet.«548 Anhand der Fotografien wird die Außenperspektive des Fotografen damit kontrastiert, wie die darauf Abgebildeten die Situation erlebt haben. Im intimen Kontext des Wohnzimmers gerät der professionelle Blick des Fotografen in ein Spannungsverhältnis mit dem der Betroffenen. Es folgt ein Interview mit Romeo Tiberiade. Nach einer Abblende sieht man ihn der Audioaufnahme seiner Aussage lauschen. In Nahaufnahme fixiert die Kamera dabei seinen konzentrierten Gesichtsausdruck: »Wir sahen das Feuer im Lager und versuchten, den Flammen zu entkommen. Diese Leute haben Molotowcocktails geworfen und niemand hat sie festgenommen. Niemand hat sie festgenommen. Es war, als ob das Ganze gut vorbereitet war. Bis heute kann ich mir nicht erklären, wie es so einfach gewesen sein kann, in staatliche Gebäude einzudringen und in einem Wohnheim für Asylbewerber Feuer zu legen. Nach einiger Zeit kam die Polizei und konnte die Massen ein bisschen beruhigen. Vor dem Gebäude war ein Park. Dort wurden wir hingebracht. Nachdem wir es geschafft hatten, aus dem Gebäude zu entkommen.«

Er nickt nach dem Abspielen, die Erinnerung berührt ihn sichtlich. Er hat Tränen in den Augen. Nach einer Abblende ergänzt er die Aufnahme: »Ich möchte noch etwas hinzufügen, was ich für sehr bedeutend halte: Das war kein Einzelfall. Es gab eine ganze Reihe solcher Vorfälle zu dieser Zeit. Die kriminellen Banden oder die Nazis – ich weiß bis heute nicht, wer sie waren und ob sie von jemandem bezahlt oder beauftragt wurden. Wenn sie einen von uns erwischt haben, wurde er zusammengeschlagen. In Gelbensande und auch anderswo. Damals habe ich, wie viele andere Roma auch, darüber nachgedacht, zu verschwinden. Vor allem nach dem Ereignis um Grigore Velcu.«549

Tiberiade reiht das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen unter weitere rassistische Angriffe gegen Rrom_nja ein, Gewalt, von der er selbst und seine Familie mitgemeint und betroffen waren. Er thematisiert zudem den mangelnden Schutz, der den Angegriffenen seitens staatlicher Institutionen zuteil wurde. Es ist ihm unbegreiflich, dass sich die Polizei den TäterInnen nicht in den Weg stellte, geschweige denn diese verhaftete. Für ihn stand damit seine Sicherheit in Deutschland, dem Land, in das er mit seiner Familie geflüchtet war, zur Disposition. Es ist nicht verwunderlich, dass er auch die Erschießung Grigore Velcus und Eudache Ca˘lderars in diesen Kontext stellt. Bereits an einer früheren Stelle des Films hat er die tiefe Verunsicherung beschrieben, welche die tödlichen Schüsse unter in Deutschland lebenden Rrom_nja auslösten:

548 Ebd., TC: 1:17:27. 549 Vgl. Ebd., TC: 1:17:38f.

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»Ich erinnere mich, dass an dem Morgen nicht nur ich, sondern alle Roma, die damals in Deutschland waren, von der traurigen Nachricht über Familie Velcu erfahren haben. Ich erinnere mich, dass sich alle bei dem Wohnblock, in dem Familie Velcu lebte, versammelt haben.« »Es herrschte«, so Romeo Tiberiade weiter, »große Aufregung und Verwirrung. Niemand wusste irgendwas, nur dass Grigore Velcu an der Grenze erschossen wurde. Wir wussten weder wie noch von wem er erschossen wurde. Absolut niemand wusste etwas.«550

Die Rezeption der Ereignisse von Nadrensee durch das Umfeld der Getöteten ist auch Thema der folgenden Sequenzen. In Craiova zeigt der Chronist Emile Nastravan dem Filmteam einen deutschen TV-Bericht, den er in seiner Mediathek archiviert hat. Dessen Einspielung bildet, wie zuvor das Foto von Frau Tiberiade, eine Überleitung zu dessen Verfasser. Der Schnitt verdeutlicht dabei, dass ein in Deutschland kaum beachtetes Verfahren im Umfeld der Betroffenen in Craiova sehr aufmerksam verfolgt wurde.551 Mit den Worten »Man stelle sich vor, eine Gruppe von Sinti und Roma hätte zwei Deutsche erschossen und wäre heute, zwei Jahre danach, noch nicht vor Gericht gestellt«552 skandalisiert der Journalist Lutz Panhans die jahrelange Verschleppung des Verfahrens und die lax geführten Ermittlungen. Damit stellt auch der TV-Journalist die tödlichen Schüsse in einen Zusammenhang mit der Ethnizität der Getöteten. Panhans’ Einschätzung bleibt in den folgenden Sequenzen unwidersprochen. Seiner Feststellung, dass der gerichtliche Umgang unter umgekehrten Vorzeichen ein anderer gewesen wäre, stimmt auch Scheffner gegenüber Deutschlandradio Kultur zu. Er erläutert, dass, wenn die Opfer [weiße, JS] Deutsche gewesen wären und ihre Angehörigen in Deutschland gelebt hätten, sie die Möglichkeit gehabt hätten, an die notwendigen Informationen zu gelangen, um sich als Nebenkläger_innen aktiv am Verfahren zu beteiligen, was Auswirkungen auf dessen Ausgang gehabt haben könnte. Auch hätten die Angehörigen dann die reale Chance gehabt, durch eine Entschädigungsklage zumindest materielle Kompensation zu bekommen. Zum anderen wären weiße Deutsche sicherlich nicht als »polnische Menschenhändler« bezeichnet worden und somit, anders als die getöteten Rroma, nicht »mit dem ganzen Vokabular, was Menschen eben nicht zu Menschen macht, sondern letztendlich die Opfer zu Tätern macht«553 belegt worden. Entsprechend wäre es, so Scheffner weiter, »bei der Umdrehung dieser Situation schon sehr, sehr anders gewesen. Und es 550 Ebd., TC: 1:00:36. 551 Herr Nastavan scheint ebenfalls zum weiteren Umfeld Grigore Velcus gehört zu haben. Er war es, der Scheffner mit dessen Freund, dem Tatzeugen Fildesan bekannt machte. An einer anderen Stelle des Films zitiert er aus seinen eigenen Aufzeichnungen über den Fall. Ebd., TC: 43:18. 552 Ebd., TC: 1:22:18. 553 Kassel 2012.

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spiegelt natürlich auch eine gewisse politische Situation wider, eine Situation, wo Menschen keine Lobby haben und wo Menschen letztendlich verschwinden, sowohl aus der deutschen Geschichtsschreibung als auch ganz real, weil sie werden abgeschoben nach Rumänien und sind dann eben auch weg.«554 In seiner Ausführung thematisiert Scheffner damit den Rassismus gegenüber den Getöteten – denn wenn, wie die Rassismusforscherin Rommelspacher schreibt, »das gesellschaftliche System mit seinen Rechtsvorstellungen und seinen politischen und ökonomischen Strukturen Ausgrenzungen bewirkt«,555 handelt es sich um nichts anderes. Er geht jedoch nicht auf die gegen tatsächliche oder vermeintliche Rrom_nja gerichtete Spezifika ein. Antiziganismus wird weder in Scheffners Kommentaren explizit als solcher benannt, noch stellen die Familien der Getöteten die Gründe für ihre Flucht und Migration, ihre Erfahrungen mit gewalttätigem und institutionellem Rassismus in Deutschland explizit in diesen Kontext.556 Er bildet stattdessen eine Art von Hintergrundrauschen, das durch den filmischen Diskurs immer wieder präsent gemacht wird.557 Ein weiteres Thema, das im Zusammenhang mit dem Pogrom von RostockLichtenhagen zur Sprache kommt, sind dessen konkrete rechtliche Folgen für die Angegriffenen. Diese benennt Scheffner in seiner Voice-over : »Einen Monat nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen unterzeichnen Deutschland und Rumänien ein Rückübernahmeabkommen. Allein im Folgejahr 1993 werden 27.000 rumänische Staatsbürger abgeschoben. Mehrere 10.000 reisen freiwillig aus Deutschland aus, um so das mit einer eventuellen Abschiebung einhergehende fünfjährige Einreiseverbot nach Europa zu umgehen. Am 26. Mai 1993 beschließt der deutsche Bundestag die Änderung des Asylrechts: Das individuelle Grundrecht auf Asyl wird faktisch abgeschafft. Am 30. Juli 1993 wird Paul Nihai, Zeuge der Schüsse von

554 Ebd. 555 Rommelspacher 2009, S. 30. 556 Colorado Velcu nennt die Inflation und die prekäre finanzielle Situation nach der rumänischen Revolution als Grund für die Flucht der Familie. Er geht nicht darauf ein, dass besonders Rromn_ja unter dieser zu leiden hatten. (Revision, TC: 03:01.) Dass jedoch gerade Rromn_ja von den Entlassungen nach der Revolution betroffen waren, berichtete Herr Tiberiade bei einer Veranstaltung anlässlich der Premiere des Films. Vgl. Lisa Forster 2012. 557 Auch der in Rumänien verbreitete Antiziganismus kommt in einer Sequenz zur Sprache. Während des Besuchs beim Ehepaar Lodroman kommt es zu einem Disput zwischen den beiden. Die ehemaligen Nachbar_innen erinnern sich, wie sich Frau Ca˘lderar nach dem Tod ihres Mannes ihre Wohnung nicht mehr finanzieren konnte und, wie sich Herr Lodroman ausdrückt, zurück ins »Zigeunerviertel« gezogen sei. »Industriegebiet hättest Du sagen sollen«, kritisiert seine Frau aufgebracht die rassistische Begriffswahl. Doch ihr Mann zeigt keine Einsicht. »Zigeunerviertel, so wird es von allen genannt.« Man einigt sich, dass dies die alte Bezeichnung sei (Revision, TC: 35:20f.). Dass der Film dem rumänischen Antiziganismus wenig Aufmerksamkeit widmet, mag auch damit zusammenhängen, dass sein Fokus eindeutig auf den Zuständen in Deutschland liegt.

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Nadrensee, nach Rumänien abgeschoben. Am 5. Oktober 1993 wird Ion Bica, Zeuge der Schüsse von Nadrensee, nach Rumänien abgeschoben.«558

In seiner Rede hebt Scheffner einzelne Personen aus der abstrakten Masse der Abgeschobenen heraus. Gleichzeitig verdeutlicht er, dass das Abkommen konkrete Auswirkungen auf den Prozess gegen die Todesschützen von Nadrensee hatte.

Fazit: Filmische Ermittlungen Seitens der Rezeption wird Revision wiederholt attestiert, die versäumte Arbeit der deutschen Behörden nachgeholt und deren Unterlassungen in Szene gesetzt zu haben.559 Scheffner informiert die Angehörigen über Tathintergründe und Prozess, befragt damals nicht geladene Zeug_innen, lädt zu einer um 19 Jahre verspäteten Tatortbegehung und versucht mit seinem Kameramann Bernd Meiners, die damaligen Licht- und Sichtverhältnisse am Tatort zu rekonstruieren. Hat es sich bei den tödlichen Schüssen tatsächlich um einen Unfall gehandelt? – damit steht die Frage nach Mord sowie einem möglichen rassistischen Tathintergrund im Raum. Immerhin ist über Herrn Katzor zu erfahren, dass er darüber im Bilde war, dass viele Flüchtende in seinem Jagdgebiet die Grenze überquerten. Wiederholt soll er, wie aus dem Interview mit seinem Anwalt hervorgeht, Grenzgänger_innen bei den zuständigen Behörden denunziert haben.560 Die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, bleibt den Zuschauenden selbst überlassen. Revision reiht Eudache Ca˘lderar und Grigore Velcu unter die Toten an den europäischen Außengrenzen ein. Institutioneller Rassismus, der an dem eklatanten Mangel an Empathie und Respekt deutlich wird, den die zuständigen deutschen Behörden den Angehörigen der Getöteten gegenüber zeigten, wird im Film gleich an mehreren Stellen herausgearbeitet. Rezensent Andreas Busche zieht Parallelen zu den von rassistischen Annahmen geprägten Ermittlungen zur Mordserie des NSU561, die dem Film, der seine Premiere we558 Ebd., TC: 1:19:18. 559 Vgl. Jaeger 2012. 560 Herr Wehage äußert sich zu diesem Sachverhalt: »Es war sicherlich Herrn Katzor bekannt, dass damals dort Grenzgänger über die Grenze gingen und die auch von Schleppern geführt wurden, das war sicherlich bekannt, dort in der ganzen Gegend. Und er hat, soweit ich das auch so mitbekommen habe, auch hin und wieder den Grenzschutz informiert, dass dort illegal Grenzgänger über die Grenze gehen würden.« Revision, TC: 30:42. 561 Wie die Familien Velcu und Ca˘lderar wurden auch die Angehörigen des vom NSU ermordeten Mehmet Turgut, die in der Türkei wohnen, nicht etwa von den zuständigen deutschen Behörden, sondern von einem Kamerateam über die Tatumstände informiert. In der TV-Dokumentation Acht Türken ein Grieche und eine Polizistin (R: Mathias Deiss, Anne-Kathrin Thüringer, RBB 2012) interviewt ein Kamerateam Angehörige der NSU-

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nige Monate nach der Selbstenttarnung des neonazistischen Terrornetzwerks feierte, zusätzliche Brisanz verleihen.562 »Auf der formalen Ebene war«, so Scheffner, »die Auseinandersetzung mit dem Begriff der ›Aussage‹ wichtig: Dieser Begriff bildet die Schnittmenge zwischen einem juristischen Ermittlungsverfahren bzw. einem Prozess und der Arbeit des dokumentarischen Filmemachers. Interessanterweise ist das juristische Verfahren, das in Revision eine Rolle spielt, genau an diesem Punkt gescheitert: der Tathergang ließ sich anhand der Aussagen nie eindeutig rekonstruieren.«563

Das Verfahren endete zehn Jahre nach der Tat mit Freisprüchen für die Jäger. Teil der von Scheffner konstatierten Schnittmenge ist der öffentliche Akt des Erinnerns und Bezeugens vor Gericht bzw. einem Kinopublikum. Parallelen zwischen Scheffners Recherchen und den Ermittlungen der Justiz bestehen nicht zuletzt darin, dass sowohl im Film als auch im ihm zugrunde liegenden Gerichtsverfahren Zeug_innen der tödlichen Schüsse von Nadrensee befragt wurden. Vor Gericht wie im Film werden diese mit eigenen zuvor getroffenen Aussagen konfrontiert. Unterschiede zwischen dem Akt des Aussagens vor Gericht und vor der Kamera bestehen in der Wirkungsmacht, die den Aussagen durch ihre jeweiligen Kontexte verliehen wird. So ist das vor Gericht Ausgesagte im Gegensatz zu den in Film geführten Interviews justiziabel, auch wenn in einem Film generiertes Wissen ebenfalls vor Gericht verwendet werden kann.564 Ein weiterer Unterschied besteht zwischen der Situation eines Verhörs und derjenigen des filmischen Interviews. So lässt sich das freiwillige Mitwirken in einem Dokumentarfilm nicht mit einer mit möglichen Sanktionen behafteten Aussage vor Polizei oder Staatsanwaltschaft gleichsetzen. Gerade durch seine Interviewmethode versucht Scheffner zudem, die Asymmetrie zwischen Filmenden und Gefilmten zu unterlaufen und seinen Interviewpartner_innen einen Teil der Kontrolle über ihre im Film auftauchenden Aussagen zurückzugeben. Insbesondere den Angehörigen der Getöteten wird dabei viel Raum gelassen, eigene Grenzen zu setzen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Film und dem Gerichtsverfahren besteht nicht zuletzt in der Auswahl der Befragten wie auch im Umgang mit ihnen. So interviewt Scheffner mit den AnOpfer. Bei ihrer Begegnung mit Familie Turgut wird deutlich, dass deutsche Sicherheitsbehörden es zwar sehr wohl für notwendig hielten, nach Ostanatolien zu reisen, um dort im Umfeld des Ermordeten zu ermitteln – die Angehörigen wurden mit Hypothesen über vermeintliche Blutrache in Angst und Schrecken versetzt –, doch auch einen Monat nach der Selbstentarnung des NSU nicht die Zeit gefunden hatten, die Angehörigen über die Identitäten der wahren TäterInnen zu informieren. 562 Busche 2012. 563 Philip Scheffner 2012. 564 Die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens wurde vom Filmteam tatsächlich geprüft. So Scheffner im Werkstattgespräch.

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gehörigen der Getöteten und den rumänischen Zeug_innen gerade die Personen, die laut Aussagen der Staatsanwaltschaft »im Prozess auch keine Rolle« gespielt hätten. Bezüglich der Aufarbeitung und Erinnerung an den historischen Nationalsozialismus plädiert die Literaturwissenschaftlerin Weigel dafür, die Berichte Überlebender nicht auf den juridischen Beweisstatus zu reduzieren, sondern »ihre darüberhinausgehende andere Bedeutung anzuerkennen«.565 Eine Bedeutung, die in der »Geste des Bezeugens« eingeschrieben sei.566 Diese »andere Bedeutung« haben auch die Zeugenaussagen im Film Revision, der gerade diesen Unterschied zwischen den Aussagen vor Gericht und Kamera offensichtlich werden lässt. Nicht zuletzt dadurch, dass ein fast vergessenes Gerichtsverfahren, an dem zur Tatzeit wenig Interesse bestand, als Zeugnis des institutionellen Rassismus der 1990er Jahre einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Der historische Kontext, in dem der Film die Erschießung der beiden Rroma verortet, ist das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Die dortigen Ereignisse hatten konkrete Auswirkungen auf die im Film Porträtierten und die Aufklärung der Hintergründe der tödlichen Schüsse auf Eudache Ca˘lderar und Grigore Velcu: Einen Monat nach dem Pogrom, von dem auch die Familie Tiberiade betroffen war, handelten Deutschland und Rumänien ein Rückübernahmeabkommen aus, in dessen Folge wichtige Augenzeug_innen der Schüsse von Nadrensee noch vor Prozessbeginn abgeschoben wurden. Abgesehen von The Truth lies in Rostock ist Revision der einzige mir bekannte Film, in dem solche Zusammenhänge benannt werden und Vertreter_innen der angegriffenen Rrom_nja den Raum bekommen, sich dazu zu äußern.567

4.4

Rassismus im Spielfilm Herzsprung (R: Helke Misselwitz, D 1992)

»Wie so oft in der Geschichte des Rassismus steht der weiße Blick auf Schwarze im Mittelpunkt, der sich nicht für die Erzählungen, Geschichten und Blicke des Schwarzen interessiert, ja dessen Interesse am Schwarzen darauf reduziert bleibt, Weißen als Projektionsfläche eigener Fantasien über Schwarze zu dienen.« (Susan Arndt)

Herzsprung, der erste Spielfilm von Helke Misselwitz, die mit ihren dokumentarischen Arbeiten für die DEFA bekannt wurde, erzählt von der tödlich endenden Liebe zwischen einer weißen Frau und einem Schwarzen Mann im gleichnamigen brandenburgischen Dorf. Durch die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda (September 1991), Mannheim-Schönau (Frühsommer 1992) und 565 Weigel 2000, S. 123. 566 Ebd. 567 Dies trifft auch auf alle mir bekannten TV-Produktionen zu.

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Rostock-Lichtenhagen (August 1992) sowie den neonazistischen Brandanschlag von Mölln einige Tage nach seiner Premiere am 21. November 1992 erhielt der Film unbeabsichtigte Aktualität. Dass er den Anspruch habe, eine filmische Antwort auf diese Eskalationen rechter Gewalt zu sein, wies Misselwitz in Interviews von sich. Das Drehbuch sei bereits vor »Hoyerswerda und Rostock«568 im Frühjahr 1991 verfasst worden.569 Dennoch positioniert sich auch dieser mit dem »Prädikat wertvoll« ausgezeichnete Film, dem etwa das Lexikon des Internationalen Films bescheinigt, ein »weitgehend klischeefreies Bild einer von Arbeitslosigkeit, Ausländerhaß und Perspektivlosigkeit geprägten Region«570 zu zeichnen – ein anderer Kritiker bezeichnet ihn gar als »poetisches Gleichnis auf die sozialpsychologische und emotionale Situation der Ostdeutschen […] am Beginn der Pogrome gegen Ausländer«571 – wie jede Artikulation zu diesem Thema im Diskurs um Rassismus und rechte Gewalt. Dies gilt umso mehr, als es auch in Brandenburg in den Jahren vor der Veröffentlichung des Films mindestens zwei Todesopfer rassistischer Gewalt gab.572 Am 25. November 1990 sorgte die Ermordung Amadeu Antonio Kiowas in Eberswalde bundesweit für Schlagzeilen.573 Eine 60-köpfige Gruppe aus Neonazis und ihren SympathisantInnen, die »Jagd auf Schwarze« machte, verletzte den 28-Jährigen so schwer, dass er nicht mehr aus dem Koma erwachte. Kiowa starb elf Tage später an den Folgen des Angriffs.574 Obwohl auch im Spielfilm Herzsprung Rassismus gegen Schwarze thematisiert wird, finden sich weder im Film selbst noch in seiner zeitgenössischen Rezeption direkte Bezugnahmen auf die Ermordung Kiowas. Der Film zeigt vor allem die weiße Hauptfigur Johanna als Leidtragende.Auf welche Weise der Film dabei Anti-Schwarzenrassismus in seinen kolonialen Bezügen verhandelt, soll in diesem Abschnitt untersucht werden.575

568 569 570 571 572

Lubowski 1992, S. 36. Berliner Zeitung o. A., 1992. Katholisches Institut für Medieninformationen (KIM) 1995, S. 2415. Hoff 1994. Am 7. Oktober 1990 schlugen Naziskinheads in Lübbenau auf eine Gruppe Polen ein. Andrzej Fra˛tczak wurde dabei durch Messerstiche tödlich verletzt. Opferperspektive e. V. 2016b. 573 Vgl. Diekmann 1992, Eberswalde und der Mord an Amadeu Antonio Kiowa (R: Spiegel-TV, 2012, 8 min). Seit 1993 wird Amadeu Antonio Kiowa von der Bundesregierung als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Vgl. Jansen et al. 2015a. 574 Sechs der Täter wurden lediglich wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Das rassistische Tatmotiv wurde im Prozess weitgehend ausgeblendet. Vgl. Opferperspektive 2016b. 575 Vgl. dazu: Autor_innenKollektiv Rassismuskritischer Leitfaden 2015.

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Zusammenfassung des Inhalts Die Handlung spielt in den letzten Dezembertagen oder -wochen.576 Es ist kurz nach der Deutschen Wiedervereinigung. Betriebe schließen, die Arbeitslosigkeit steigt. Die weiße Hauptfigur Johanna (Claudia Geissler) lebt mit ihrem weißen Mann Jan (Ben Becker), ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Vater Jacob in dessen Haus im ebenfalls überwiegend von Weißen bewohnten Dorf Herzsprung. Zu Beginn des Films verliert sie ihren Job als Köchin in einem Kindergarten. Sie ist nicht die Einzige: Auch ihre Kollegin Elsa (Eva Maria Hagen) wird in den Vorruhestand geschickt. Ehemann Jan hat ebenfalls kürzlich seine Arbeit als Rinderzüchter verloren. Von aller sie umgebenden Trostlosigkeit lässt Johanna sich nicht unterkriegen. Bei einer zufälligen Begegnung weckt ein Schwarzer Mann (Nino Sandow), den sie in ihrem Auto mitnimmt, ihr Begehren. Als er später wieder in Herzsprung auftaucht, wird sie sich leidenschaftlich in den während des gesamten Films namenlos Bleibenden verlieben.577 Die Situation um Ehemann Jan, der keine Käufer für die verbliebenen Rinder finden kann und seinen Frust im Alkohol ertränkt, eskaliert. Verzweifelt, betrunken und gewalttätig schlägt er Johanna. Kurz darauf erschießt er zuerst die Rinder, dann sich selbst. Johanna hört die Schüsse und findet seine Leiche inmitten verendender Tiere und Kadaver. Trotzig verweigert sich die junge Frau der Rolle als trauernde Witwe. Zusammen mit ihrer Freundin Lisa fährt sie zum Tanzen und Trinken in die Stadt. Dort flirtet Johanna mit einem schmierigen Unternehmer aus dem Westen, der ihr Hoffnung auf einen Arbeitsplatz in seiner Schokoladenfabrik macht. Das Vorstellungsgespräch, zu dem sie kurz darauf reist, entpuppt sich als plumper Anmachversuch inklusive sexueller Belästigung. Doch Johanna weiß sich zu wehren. Nach Jans Selbstmord macht sich auch Jugendfreund Soljanka (ebenfalls von Ben Becker gespielt), der seit langem in Johanna verliebt ist, wieder Hoffnungen. Doch Johanna nimmt den ehemaligen Mitschüler, der sich einer Gruppe Neonazis angeschlossen hat, weder als politisches Subjekt noch als potenziellen Partner ernst. Nachdem die Neonazis einen Gedenkstein für die Opfer eines Todesmarschs von KZ-Häftlingen mit der Parole »Ausländer ins KZ« beschmiert haben, ist Johannas Vater Jacob, selbst ehemaliger Lagerinsasse, schockiert. Bei Johannas Wiedersehen mit dem Fremden scheint sich alles zum Guten zu wenden. Sie versichern sich ihres gegenseitigen Begehrens. In der nächsten 576 Es werden im Film kaum konkrete Zeitangaben gemacht. Im letzten Drittel der Films verweist die Weihnachtsdekoration in der Kirche auf einen Zeitraum um die Feiertage. Herzsprung, TC: 49:58. Der Showdown findet am Silvesterabend statt. Ebd., TC: 1:02:12f. 577 Da er in den Credits als »der Fremde« gelistet ist, werde ich ihn im folgenden Text ebenfalls so bezeichnen.

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Sequenz ist er bei ihr und Jacob eingezogen. Es bliebt aber letztlich offen, wie ernsthaft er sich an sie binden will. Bald entpuppt er sich als notorisch untreu. Jacob, der Zeuge seiner Flirts und Affären wird, reagiert mit einer Mischung aus Rassismus und väterlicher Fürsorge für Johanna, die er vor weiteren Verlusterfahrungen schützen möchte. Auch andere Figuren trotzen den Umständen und finden im privaten Bereich ihr Glück. Jacob hat sich mit Johannas ehemaliger Kollegin Elsa zusammengetan. Aus der als Zweckbündnis eingegangenen Verbindung wird eine Liebe, die mitunter als funktionsfähigeres Gegenstück zu der Amour fou zwischen Johanna und dem Fremden erscheint. Derweil werden der Fremde und seine ebenfalls Schwarze Kollegin Shipra von der Neonazigruppe bedroht. Auch Johanna ist von Anfeindungen betroffen. Am Silvesterabend eskaliert die Situation. Im Imbiss findet sie ihrem Geliebten eng umschlungen mit Shipra, mit der er bereits zuvor geflirtet hatte. Nach einem Streit bleibt dort Johanna zurück und beginnt, ekstatisch zu tanzen. Derweil wird der Fremde von Soljanka und den Nazis an einen Baum gefesselt und geknebelt. Immer wieder zielt Soljanka mit seinem Messer neben seinen Kopf. Nichts von Johannas Anwesenheit dort ahnend, zünden die Neonazis den Imbiss an. Johanna stürzt aus dem brennenden Imbisswagen in die Wurfbahn des Messers und sinkt tödlich getroffen zu Boden. Entsetzt fliehen die Angreifer vom Tatort. Das letzte Bild zeigt, wie auf der nahen Autobahn die Autos vorüberfahren, als ob nichts gewesen sei. Herzsprung in Herzsprung: Der Handlungsort Ein Oszillieren zwischen poetischen, geradezu märchenhaften Momenten und der Darstellung trister Alltagsrealität bestimmt den Ton des Films und kündigt sich bereits im Titel an: Die auch in der nichtfilmischen Realität existente Ortschaft Herzsprung liegt nahe der zwischen Berlin und Hamburg verlaufenden Autobahn in der Prignitz, einer ländlichen Region im Nordwesten Brandenburgs. Der sprechende Ortsname inspirierte Misselwitz bei ihrer Suche nach einem geeigneten Drehort: »Seine Sage erzählt von einem Mädchen, dessen Herz über den Verlust des Liebsten zerspringt. Da war klar : Hier müssen wir drehen.«578 Herzsprung, so Misselwitz an anderer Stelle, »klingt auch nach Herzklopfen, Herzanfall, eben nach Gefühlen, die einem das Herz zerspringen lassen. […] Gefühle und Träume«, über die sie erzählen wollte.579 Der Titel verweist damit sowohl auf den Schauplatz der filmischen Handlung, in der vorfilmischen Realität auf dessen Drehort, als auch auf das Thema des Films: eine tragisch 578 Berliner Zeitung o. A., 1992. 579 Lubowski 1992, S. 36.

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endende Liebesgeschichte. Der Ort selbst wird mit Impressionen der meist menschenleeren Dorfstraße, verfallender Gehöfte oder des ihn umgebenden winterlich kahlen Waldes in Szene gesetzt. An anderen Stellen fungieren Bilder eines dunklen Moorsees und die nahegelegene Autobahn als düstere Seelenlandschaften. Herzsprung scheint fast ausschließlich von den handlungstragenden Figuren – Johanna und ihrem aus Jacob, Elsa, den Kindern, Lisa und dem Fremden bestehenden Umfeld sowie Soljanka und seiner rechten Clique – bewohnt zu sein. Bis auf einen alten Mann, der das Haus gegenüber der Bushaltestelle bewohnt und die Ankunft des Fremden aus seinem Fenster beobachtet, der »Verrückten«580 und in einer weiteren Sequenz der Postbotin sind keine Menschen auf den Straßen zu sehen. Entsprechend werden kaum Interaktionen mit Außenstehenden gezeigt. Das Dorf erscheint somit eher als Sinnbild für die krisenhafte Situation der Nachwendezeit denn als ein konkreter Ort, an dem ihre Verwerfungen untersucht oder aufgezeigt werden. Die Exposition: Nahtlose Übergänge zwischen Realismus und märchenhaften Momenten Der Film beginnt mit einer Plansequenz. Die Kamera folgt weißen Gänsedaunen, die durch die Dunkelheit schweben, was einige Rezensent_innen an das Märchen von Frau Holle denken ließ.581 Aus dem Off erklingt zuerst aus der Ferne dann von Nahem eine helle, klare Frauenstimme. Sie singt das alte deutsche Volkslied Ich hab die Nacht geträumet.582 Es handelt von einem Albtraum, in dem sich der Garten des lyrischen Ichs in einen Friedhof verwandelt und es sich plötzlich inmitten von Vorzeichen des Todes findet. Die Sopranstimme singt: »Die Blüten tät’ ich sammeln in einem goldenen Krug. Der fiel mir aus den Händen, dass er in Stücke schlug.«583 Zeitgleich ist zu sehen, wie die schwebenden Federn in der tristen Alltagsrealität, genauer auf dem gelbbraunen Kachelboden einer Betriebsküche, landen. Die im Lied anklingende Vorahnung vom Tod des Geliebten wird sich am Ende des Films erfüllen, doch wird Hauptfigur Johanna diejenige sein, die an seiner Stelle von dem Wurfmesser eines Neonazis tödlich getroffen wird. In dieser Schlussszene wird auch das Motiv der weißen Daunen wieder 580 Sie wird in den Credits als ebensolche gelistet. 581 Feldvoß 1992, S. 29. 582 Der Text des Liedes stammt von August Zarnack aus dem Jahr 1820. Er lautet: »Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren Traum / Es wuchs in meinem Garten / Ein Rosmarienbaum / Ein Kirchhof war der Garten / Das Blumenbeet ein Grab / Und von dem grünen Baume / Fiel Kron und Blüten ab / Die Blüten tät ich sammeln / In einen goldenen Krug / Der fiel mir aus den Händen / Dass er in Stücke schlug / Draus sah ich Perlen rinnen / Und Tröpflein rosenrot / Was mag der Traum bedeuten? / Herzliebster, bist du tot? Vgl. Lieder. Projekt o. J. 583 Herzsprung, TC: 01:35f.

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aufgegriffen. Sie umwehen ihren leblosen, in ein Brautkleid gehüllten Körper.584 Doch zuerst werden die Zuschauenden in die Alltagsrealität der singenden Elsa und ihrer Kolleginnen geholt. Die Kamera fährt einen flauschig-weißen Federhaufen entlang. Der blutige Hals einer gerade gerupften Gans kommt ins Bild. Er baumelt zwischen dreckigen Gummistiefeln. Die Arbeiterinnen tragen weiße Kittel und Hauben. Es wird gescherzt, dass Elsa nach ihrer bevorstehenden Entlassung als Sängerin »über die Dörfer tingeln«585 könne. »Dann musst Du nur ein bisschen mit den Hüften wackeln, dann liegen sie dir zu Füßen«, lacht ihre Kollegin und schwingt ihr Becken. Doch sie muss sich gleich wieder setzen. Ihr von harter Arbeit gezeichneter Körper schmerzt. Träume und kleine Fluchten werden von der Realität eingeholt, im Großen wie im Kleinen. Die Kamera bewegt sich über ihr schmerzverzerrtes Gesicht, hinab zu ihren Hüften, die sie sich hält und weiter hinab zu ihren dreckigen Gummistiefeln. Als sie zur Seite schwenkt, nimmt sie nackte Füße mit rot lackierten Nägeln in den Blick. Sie sind das Erste, was die Zuschauenden von Hauptfigur Johanna zu sehen bekommen. Als einzige ist sie barfuß, was sie sinnlich und unkonventionell erscheinen lässt. Das Motiv des blutroten Nagellacks kehrt in einer späteren Szene wieder. In ihr liegt Johanna in der Badewanne und lackiert sich die Fußnägel, als sie Schüsse hört.586 Wenig später watet sie barfuß im weißen Bademantel durch das Blut. In der Exposition wünschen sich die Kolleginnen von Elsa »das Lied von der Heimat«. Der Anfang der ersten Strophe: »Es war ein Mädchen jung an Jahren und naschen tat sie auch sehr gern« lässt sich als weitere Charakterisierung der Hauptfigur deuten. Wurden die Frauen bis jetzt in Nahaufnahmen in den Blick genommen, wird den Zuschauenden nun räumliche Orientierung gewährt. Eine Halbtotale zeigt die gesamte Gruppe der Arbeiterinnen beim Gänserupfen.587 Gemeinsam singen sie den zweiten Teil der Strophe: Hier ist auch Johanna das erste Mal vollständig im Bild. Sie ist tatsächlich »jung an Jahren«, etwa Mitte 20 und damit wesentlich jünger als ihre drei Kolleginnen, zierlich und blond. Während des Singens tritt nun eine Kollegin zu Johanna und bedeutet ihr, ins Büro des Personalchefs zu kommen. Wie aus ihrem wütenden Gesichtsausdruck abzulesen ist, scheint ihr klar zu sein, dass nun auch ihr gekündigt wird. Mit abrupten Bewegungen legt sie ihre Schürze ab und zieht ihre Arbeitsstiefel an. Dabei nimmt die Kamera ihre untere Körperhälfte in den Blick, unter ihrem kurzen Kittel werden ihre nackten Beine sichtbar. Elsa singt: »Vom vielen Tanzen war sie müde, sie legt sich nieder auf ein Bett, da kam der Leutnant von der Garde und raubte ihr die Unschuld weg.« Die Kombination zwischen der Darstellung 584 585 586 587

Ebd., TC: 16:03f. Ebd., TC: 02:48f. Ebd., TC: 15:46. Ebd., TC: 03:08.

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ihrer nackten Oberschenkel und der im Liedtext euphemistisch umschriebenen Vergewaltigung eröffnet Fragen danach, ob und wie sich das Lied in der Handlung des Filmes widerspiegeln wird.588 Das im Liedtext anklingende Motiv der Verführung und Verletzung wird auch im weiteren Verlauf der Handlung – an einer Stelle sogar als Drohung sexualisierter Gewalt – eine zentrale Rolle spielen. Nora M. Alter weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die spätere Szene mit dem Schokoladenfabrikanten hin, der versucht, Johannas prekäre finanzielle Situation auszunutzen und ihr – wenn auch vergeblich – sexuelle Avancen macht.589 Alter kritisiert, dabei, dass Misselwitz ökonomische Spannungen als Geschlechterbeziehungen allegorisiert – der dominante Mann stehe für den kapitalistischen Westen, während das weibliche Opfer den einst sozialistischen Osten repräsentiere – und verweist auf die lange (Film-)Geschichte des problematischen Motivs weiblicher Opferschaft.590 Während der Refrain (»Heimat, oh süße Heimat, wann werden wir uns wiedersehen?«) noch im Hintergrund zu hören ist, wird Johanna entlassen.591 Das entsprechende Personalgespräch ist aus dem Off zu hören.592 Im Bild dazu Impressionen von der Räumung des Betriebs, ein Arbeiter fegt die leerstehenden Werkhallen, und Johanna selbst wird gezeigt. In Rückenansicht ist zu sehen, wie sie ihr langes blondes Haar selbstbewusst nach hinten wirft und in ihren Gummistiefeln mit schwingenden Hüften unter den Pfiffen männlicher Arbeiter zwischen den Betriebsgebäuden entlangtänzelt. Ihre Körpersprache lässt sich als trotziges »Jetzt-erst-Recht«, als Aufbegehren gegen diese Zumutungen, aber auch als Übersprungshandlung deuten. Wieder scheinen Liedtext und Bild Bezug aufeinander zu nehmen. Arbeitsplatz und Heimat lassen sich zwar nicht 588 Dagmar Schmauks weist auf die in dieser Moritat enthaltene an Frauen gerichtete Warnung vor der Überschreitung der ihnen zugewiesenen Grenzen hin. »Ferner wird ein unausgesprochener Kalauer nahegelegt«, so Schmauks weiter : »Ein Mädchen, das gern kindlich ›nascht‹, wird schließlich selbst ›vernascht‹, also zur gierig einverleibten und dann schnell vergessenen Süßigkeit.« Schmauks 2010, S. 94. 589 Alter 1997, S. 136. 590 Ebd. 591 Wie Schmauks schreibt, bestehe zudem »ein Gegensatz zwischen Strophen und Refrain, denn dass ein gerade vergewaltigtes Mädchen melodisch nach ihrer Heimat ruft, erinnert doch stark an allbekannte Stammtischreden vom ›Vergewohltätigen‹ von Frauen. Dahinter steht ein Geflecht von Motiven, etwa die Angst vor der ›männerverschlingenden‹ Macht der Frau, die Furcht vor ihrer Rache für jahrtausendlange Unterdrückung und vielleicht auch die gleich wieder verdrängte Einsicht, dass man (Mann) selbst gerne eine derart verlockende weibliche Schwäche ausnutzen würde (lustvoll erhitzt! Im verführerischen Abendkleid! Hilflos auf dem Bett).« Vgl. dazu: Schmauks 2010, S. 94. 592 »Frau Perleberg [Johanna, JS], aufgrund der zurückgegangenen Auftragslage sind wir gezwungen, einen großen Teil der Belegschaft zu entlassen. Wir müssen den Kindergarten und die Betriebsküche schließen. Ihr Mann hat doch noch Arbeit? Was macht der beruflich?«, fragt eine männliche Stimme. »Rinderzüchter. Er ist zum nächsten Ersten gekündigt«, lautet ihre schroffe Antwort. Herzsprung, TC: 04:06ff.

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in eins setzen, doch geht es auch in Johannas Fall um den Verlust von vertrauten Menschen und Orten und nicht zuletzt um ihre materielle Existenz. Dass die Exposition mit wenigen Schnitten arbeitet, beinahe als Plansequenz gefilmt wurde, betont den nahtlosen Übergang zwischen Märchenhaftem und Realem. Zudem besteht mit der Thematisierung der massenhaften Entlassungen nach dem Ende der DDR ein Bezug zur außerfilmischen Realität Ostdeutschlands kurz nach der Deutschen Wiedervereinigung. Tatsächlich waren viele Ostdeutsche in den 1990er Jahren aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, um in Westdeutschland einen Job zu finden.593

Farbsymbolik: Rot, weiß, schwarz Der Film bedient sich einer so konventionellen wie plakativen Symbolik um die Farben rot, weiß und schwarz: Blutstropfen auf weißen Federn, roter Nagellack auf weißen Zehen. Ein Schwarzer Mann als exotisierter Fremder. In vielen Sequenzen prägt der expressive Einsatz dieser Farben den Film. Rot, Herz,Blut Als Johanna nach Jans Selbstmord durch das Blut der erschossenen Rinder watet, werden ihre nackten, blutbesudelten Füße in Nahaufnahme gezeigt.594 Diese Szene wird an einer späteren Stelle symbolisch wiederholt. Hier führt Johanna den Fremden an den Tatort. Sie zieht ihre roten High Heels an, um ihn durch die nach Jans Amoklauf leerstehenden Stallungen zu führen: »Ich kann das Blut immer noch riechen,« kommentiert sie die Situation.595 Rot gilt zudem gemeinhin als Farbe der Liebe und Sexualität. Entsprechend wird sie auch im Film Herzsprung eingesetzt. Während Elsa am Lagerfeuer von Liebe singt, fliegt ein herzförmiger, rot glänzender Luftballon in den Nachthimmel.596 Die Farbe Rot spielt auch eine Rolle, wenn Johanna in einer Art Übersprungshandlung Jans Trauerfeier verlässt, um sich von Lisa die Haare rot färben zu lassen. Als Lisa ihr die Tönung auf das lange blonde Haar sprüht, hinterlässt 593 Im Film werden aber auch Bewegungen in die andere Richtung gezeigt: So hat es nicht nur den Schwarzen Fremden nach Herzsprung verschlagen. Auch seine Kollegin Shipra ist aus Hamburg in das Brandenburger Dorf gezogen. Über ihre Motive und Beweggründe ist jedoch nichts zu erfahren. 594 Herzsprung, TC: 16:06ff. 595 Ebd., TC: 1:04:01. 596 Ebd., TC: 46:45.

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die Farbe blutrote Flecken auf dem weißen Papier, das sie ihr zum Schutz vors Gesicht gelegt hat. Es wirkt fast so, als ob das Thema Blut sie eingeholt hat. Unter der Trockenhaube sieht man Johanna dann auch das erste Mal weinen. Kurz darauf wirkt sie mit dunkler Sonnenbrille und ondulierten feuerroten Haaren jedoch wie eine Zwillingsschwester ihrer selbstbewussten, ebenfalls alleinstehenden Freundin Lisa.597 Wenn sie in einer der folgenden Sequenzen eng umschlugen mit dieser beim Tanztee in der benachbarten Stadt gezeigt wird, wo die beiden Frauen trinken und flirten, lässt sich ihr Verhalten als trotzige Abwehr ihrer Rolle als trauernde Witwe verstehen. Ihr lasziver Tanz, ihre plötzliche Verwandlung in einen sexuell aktiven »Vamp« verläuft über das Rotfärben der Haare, gelten diese doch gemeinhin als Symbol für sexuelle Aktivität.598 Am nächsten Tag liegt Johanna reglos in der Badewanne, deren Wasser die Haarfarbe blutrot gefärbt hat. Am Beginn der Sequenz ist die Figur untergetaucht, es wirkt, als habe sie sich ebenfalls umgebracht. Nach diesem symbolträchtigen Bad wird sie wieder als blond gezeigt, was, wie ich weiter unten zeigen werde, dazu dient, ihre Verletzlichkeit zu betonen. Es ließe sich sogar argumentieren, dass sie die Rolle des Vamps abwäscht, um zur (unglücklich) Liebenden zu werden. Parallel zu ihrer Funktion, Sexualität und Blut zu versinnbildlichen, scheint die Signalfarbe Rot eingesetzt worden zu sein, um farbliche Akzente und Wiedererkennungseffekte zu setzen. So leuchtet die rote Hose des Fremden gegen die Grau- und Grüntöne der winterlich tristen Umgebung an und trägt dazu bei, Johannas Blick auf ihn zu lenken und ihr Begehren zu wecken. Gleichzeitig unterstreicht das bunte Kleidungsstück, das der Fremde trägt, seine Markierung als »bunter Vogel«: Er wird als »anders« und lebendig markiert. Auch der Rattenfänger von Hameln, mit dem der Geliebte an einer anderen Stelle assoziiert wird, ist in der historischen Sage als Fremder in bunter Kleidung dargestellt. Rot leuchtet auch Johannas Auto, in welchem die erste Begegnung zwischen den beiden stattfindet. Nach seiner Rückkehr nach Herzsprung erkundigt sich der Fremde bei Jacob dann auch nach einer blonden Frau mit zwei Kindern und einem roten Auto.599 Später dient es dem Paar als Rückzugsort.

597 Ebd., TC: 22:30. 598 In diesem Zusammenhang passt auch, dass Lisa, in dem Moment, in dem sie eine feste Beziehung eingeht, mit schwarzen Haaren gezeigt wird. Vgl.: Ebd., TC: 1:02:20. In populären Artikeln wird die Mär von der besonderen sexuellen Aktivität rothaariger Frauen nach wie vor weit verbreitet. Vgl.: Berliner Zeitung (o. A., 2009). Zur Darstellung rothaariger Frauen als Hexen und Femmes fatales vgl. Schmauks 2010, S. 84. 599 Herzsprung, TC: 37:05ff.

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»Ganz in weiß« – Johannas Darstellung als bedingungslos Liebende Während die Signalfarbe Rot für Gefahr und Blut, aber auch für Liebe, Sexualität und Verführung steht600, gilt Weiß, wie Richard Dyer ausführt, in westlichen Kulturen als Farbe der Tugend: »In western tradition, white is beautiful because it is the colour of virtue. This remarkable equation relates to a particular definition of goodness. All lists of the moral connotations of white as a symbol in western culture are the same: purity, spirituality, transcendence, cleanliness, virtue, simplicity, chastity,«601

Reinheit ist mit Dyer im wörtlichen wie moralischen Sinn als Unbeflecktheit zu verstehen.602 Diese Bedeutungen, die Weiß, wie Dyer ausführt, nicht nur als Ton im Farbspektrum, sondern auch als Hautfarbe und damit als Dominanzposition im Machtgefüge einer rassistisch strukturierten Gesellschaft anhaften, lassen sich auch im Film Herzsprung aufzeigen. Im Film wird Hauptfigur Johanna mit der Farbe Weiß und ihren von Dyer aufgezeigten Bedeutungen assoziiert. Ihre Rolle ist mit Claudia Geissler von einer zarten blonden Frau besetzt. Die Blässe ihrer Haut wird durch helle Kleidung zusätzlich akzentuiert. Oft trägt sie etwa eine hellbeigfarbene Winterjacke. Wenn sie im weißen Bademantel durch das Blutbad im Rinderstall watet und ihn mit dem Blut der getöteten Tiere beschmutzt, wird ihre Verletzlichkeit zusätzlich betont. Der besudelte Saum und ihre nackten blutbeschmierten Füße werden in Detailaufnahmen gezeigt.603 Wie sehr Weiß(-Sein) mit Sauberkeit oder, wie Dyer an anderer Stelle schreibt, als Abwesenheit von Schmutz definiert ist – und im Umkehrschluss Schwarz mit Dreck assoziiert ist – wird auch an einer Bemerkung Johannas deutlich, die, wenn auch scherzhaft gemeint, genau auf diese rassistische Vorstellung anspielt:604 »Mensch, ich krieg das Schwarze nicht ab,« sagt sie zum Fremden, während sie unter der Dusche seinen Rücken schrubbt.605 »Warum müsst ihr Weißen immer in Kleidern duschen?«, antwortet er und zieht Johanna zu sich unter die Brause. Da ihr Spruch ins Absurde gezogen wird, bleibt eine Auseinandersetzung mit dessen rassistischem Gehalt aus. Seine Hautfarbe mit Dreck zu vergleichen, scheint ihn nicht zu verletzen. Es lässt sich hier mit

600 601 602 603 604

Vgl. Schmauks 2010, S. 79–108, hier S. 83ff. Dyer 1997, S. 72. Ebd. S. 74. Herzsprung, TC: 16:06. Dyer beschreibt unter Bezugnahme auf den Rassismusforscher Joel Kovel die rassistischen Assoziationen, die mit Dreck und Körperausscheidungen in Verbindung stehen und kommt zu dem Schluss: »To be white is to have expunged all dirt, faecal or otherwise, from oneself: too look white is to look clean.« Dyer 1997, S. 75f. 605 Herzsprung, TC: 55:55.

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Stuart Hall sogar argumentieren, dass impliziter Rassismus hier normalisiert wird. »Werden rassistische Witze über die Rassenschranke hinaus erzählt und unter Bedingungen, in denen Verhältnisse ›rassisch‹ begründeter Minderwertigkeit und Überlegenheit vorherrschen, dann vertiefen sie die Unterschiede und reproduzieren die ungleichen Beziehungen. So reproduzieren sie die Kategorien und Verhältnisse von Rassismus, indem sie sie durch Lachen normalisieren.«606

Eine Halbtotale setzt nun die unterschiedlichen Pigmentierungsgrade ihrer aneinander geschmiegten Körper in Szene. Auch an anderen Stellen wird dies herausgearbeitet, etwa wenn seine Hand auf ihrem Bein gezeigt wird. Eine weiße Nylonstrumpfhose unterstreicht den Kontrast zusätzlich.607 Johanna wird als bedingungslos Liebende dargestellt, die der (sexuellen) Untreue des Geliebten und aller Anfeindungen zum Trotz an ihrer Liebe festhält. Ihre moralische Integrität wird an mehreren Stellen herausgearbeitet. Sie kritisiert die rassistische Begriffswahl ihres Vaters.608 Couragiert stellt sie die Neonazigruppe wegen der Schändung des Mahnmals für die Opfer des Todesmarschs zur Rede.609 Johannas Integrität wird zudem über eine Traditionslinie mit ihrer bei ihrer Geburt verstorbenen Mutter verdeutlicht, zu der im Film mehrfach Parallelen gezogen werden. Wie Johanna dem Fremden erzählt, habe diese, als Jacob auf diesem Todesmarsch durch Herzsprung gekommen sei, als einzige nicht weggesehen. Sie habe den entkräfteten KZ-Häftling auf dem Dachboden versteckt. »Mein Vater sagt, ich bin genau wie sie«, fügt sie stolz hinzu.610 Als ob ihre Mutter vor ihm stünde, erscheint Johanna dann auch Jacob, als sie an einer späteren Stelle der Handlung in deren Pelzmantel aus dem Haus tritt.611 Schließlich haben beide Frauen – die Mutter mit dem entflohenen KZHäftling Jacob und sie selbst mit dem Schwarzen Fremden – Partner gewählt, die in der (post-)nationalsozialistischen Dorfgemeinschaft nicht willkommen waren oder sind. Doch während die Mutter zur Zeit des Nationalsozialismus durch die Partnerwahl ihr Leben riskierte, stößt Johanna in der Dorfgemeinschaft »nur« auf Ablehnung. Allerdings ist es Johanna, die von den Neonazis, wenn auch unbeabsichtigt, getötet wird: Sie läuft in die Wurfbahn von Soljankas Messer. Wie der Film suggeriert, scheint Johanna in noch größerem Maß als ihr Geliebter von den Anfeindungen ihrer Umgebung betroffen zu sein – so wird ihr 606 607 608 609 610 611

Hall 1989, S. 164. Herzsprung, TC: 52:07ff. Ebd., TC: 37:21ff. Ebd., TC: 43:23ff. Ebd., TC: 52:07ff. Ebd., TC: 46:54ff.

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Haus mit den Worten »N*-Hure« beschmiert und anstatt sich angesichts dieser Bedrohung und Beleidigung mit ihr zu solidarisieren, rät ihr die Briefträgerin gar, »vorsichtiger zu sein«.612An einer anderen Stelle wird deutlich, dass sie wegen ihrer »unangemessenen« Beziehung bei der Arbeitssuche diskriminiert wird. Auch hier wird ihr seitens ihres Umfelds wenig Solidarität entgegengebracht. Abgesehen von den Aktionen des eifersüchtigen Soljanka und seiner Neonazigruppe bleiben hingegen im Film der Rassismus, mit dem der Fremde direkt adressiert wird, sowie die Effekte, die deren Aktionen auf ihn haben, Leerstellen. An mehreren Stellen wird Johannas Liebe mit der sexuellen Untreue des Fremden kontrastiert. Unter Jacobs kritischen Blicken sieht man ihn bereits kurz nach seiner Ankunft in Herzsprung erst mit Shipra und darauf mit Lisa flirten. Während offenbleibt, wie intensiv er sich auf Johanna einlässt – auf Jacobs Frage antwortet er ausweichend –, hat sie sich mit Leib und Seele für ihn entschieden. Bezeichnend für ihre unterschiedlichen Erwartungen oder Liebeskonzepte ist eine surreal anmutende Szene in der Kirche:613 Zu Beginn sieht man die beiden während eines Gottesdiensts in die weihnachtlich dekorierte Kirche kommen. In der nächsten Einstellung sind sie dort allein. Auch von der Weihnachtsdekoration ist nichts mehr zu sehen. Johanna steigt auf die Kanzel und verlangt, geküsst zu werden. Das Licht kommt von hinten, lässt ihr blondes Haar wie eine Aureole wirken. Er zögert und entgegnet: »Ich bin Katholik, die Kirche ist mir heilig. Ich bin ein katholischer N*«, fügt er schelmisch hinzu, lehnt sich an die Kanzel und schaut zu ihr nach oben. »Vor Gott sind alle Menschen gleich«, erwidert Johanna. Die nächste Einstellung ist von der Kanzel aus gefilmt. »Was gibt es Heiligeres als die Liebe?«, wispert ihre Stimme. Der Kuss in der Kirche, immerhin Teil der Trauungszeremonie, soll auch ohne Pfarrer_in und Trauzeug_innen ihre Liebe besiegeln. In Aufsicht werden dazu die leeren Gänge gezeigt. Auch der Fremde ist verschwunden. Ist er zu ihr in die Kanzel gestiegen? Der Wind treibt Blätter durch die verlassenen Stuhlreihen. Die Kamera wandert weiter nach oben, zeigt die kahlen grauen Wände und die zerbrochenen Fenster. Das Gebäude wirkt so düster und verlassen, als ob es seit langer Zeit leer stünde. Auf der Soundspur ist das Heulen des Windes zu hören. Auch wenn sich die Sicht der Kamera als Point-of-View-Shot von der Kanzel aus und damit aus der Perspektive der beiden deuten lässt, bleibt letztlich offen, ob er ihrem Wunsch nachkommt, zu ihr emporsteigt und sie küsst. Die Bilder des trostlosen Ortes könnten auch für das Gegenteil stehen. Noch an einer weiteren Stelle löst Johanna sakrale Symbole aus ihrem traditionellen Kontext, eignet sie sich an, wobei Momente des ursprünglichen 612 Ebd., TC: 1:01:01. 613 Ebd., TC: 49:58.

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Bedeutungsgehalts bestehen bleiben. Auch hier spielt die Farbe Weiß eine zentrale Rolle: Die Assoziation zur Farbe Weiß kulminiert im weißen Brautkleid, das Johanna in der finalen Szene des Films für ihr Treffen mit dem Fremden am Silvesterabend anlegt. Es symbolisiert traditionell die »Reinheit«, die sexuelle Unberührtheit der jungfräulichen Braut, steht für Hochzeit und Ehe, repräsentiert somit Johannas Anspruch auf die Verbindlichkeit und Exklusivität einer monogamen Beziehung: Durch das Brautkleid kommuniziert Johanna ihre »ernsten« Absichten. Die große Bedeutung dieses Outfits wird auch dadurch unterstrichen, dass der Akt des Ankleidens in einer langen Sequenz dargestellt wird.614 Unterlegt von Swing wird in Nahaufnahmen gezeigt, wie sie ihre weißen Strümpfe an Strapsen befestigt. In einem weißen Seidenunterhemd tanzt sie durchs Zimmer, kürzt ihr Brautkleid mit einer großen Schere von maxi auf mini, befestigt den herzförmigen Knochenanhänger, den der Fremde ihr geschenkt hat, an einer Halskette. Sie löst den Brautkranz aus ihrem Schleier und hängt ihn neben ein Foto, das sie mit Jan zeigt. Eine Detailaufnahme zeigt, wie sie in ihre leuchtend roten Schuhe steigt. Liebevoll legt Elsa ihr den Pelzmantel der verstorbenen Mutter und den Brautschleier um. Als sie in diesem Aufzug zu Jacob vor die Tür tritt, nimmt er ihr verklärtes Gesicht zwischen seine Hände. »Er wird dich verlassen«, versucht er ihre Erwartungen zu dämpfen. »Ich weiß«, entgegnet Johanna. »Ich will nicht, dass du leidest«, wirft der besorgte Vater ein. »Du wirst mich trösten, wenn es soweit ist.« Die »Braut« Johanna erscheint hier als bedingungslos Liebende – bis dass der Tod das Paar schon wenig später scheidet. Das weiße Kleid unterstreicht diesen Absolutheitsanspruch. Doch als Johanna im Brautkleid im Imbiss ankommt, findet sie den Fremden eng umschlugen mit seiner Kollegin Shipra. Der Aufbau des Bildes trägt dazu bei, Johannas Deplatziertheit zu unterstreichen. Das Paar befindet sich im Vordergrund des Bildes, identische Arbeitsuniformen unterstreichen ihre Zusammengehörigkeit. Johanna hingegen steht allein im Hintergrund. »Ist das dein Brautkleid?«, fragt die Nebenbuhlerin konsterniert, als Johanna vor ihnen steht und ihren (Besitz-)Anspruch auf diese Weise in den Raum stellt.615 An keiner anderen Stelle des Films werden die Absichten der weißen Johanna so stark mit seinen offeneren Beziehungsvorstellungen kontrastiert. Während Johanna als eine Frau dargestellt wird, die ihn mit Leib und Seele begehrt, ihre Liebe als »heilig« bezeichnet, wird er als jemand dargestellt, der beides zu trennen weiß: »Mein Körper gehört mir, du hast mein Herz«, sagt er und deutet auf das Knochenherz, das er Johanna bei ihrem Kennenlernen geschenkt hat. 614 Ebd., TC: 1:09:17–1:10:11. 615 Die Frage, ob auch Shipra enttäuscht ist, wird hingegen nicht verhandelt. Sie bleibt Randfigur, spricht kaum einen Satz und ist mit entsprechend wenig Identifikationspotenzial ausgestattet.

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Hier bedient sich der Film nicht nur des Klischees, dem zufolge Frauen Sex und Liebe nicht zu trennen wüssten. Die von Dyer aufgezeigte Gleichsetzung von Weiß und Reinheit verweist gleichzeitig auf sein Schwarzes Anderes, dem ebenjene Eigenschaften abgesprochen werden. Steht die weiße Johanna für wahre, bedingungslose Liebe, verkörpert der Schwarze Fremde Promiskuität und Untreue. Jedoch kommt noch eine dritte Bedeutungskomponente von Weiß als Farbton, Hautfarbe und damit Positioniertheit im Finale des Films zum Tragen: ihre Assoziation mit dem Tod.616 Am Ende des Films liegt die tödlich getroffene Johanna kunstvoll drapiert am Boden. Das Brautkleid und die weißen Strümpfe lassen ihre Leiche so weiß wie die Gänsedaunen wirken, die sie umschweben. Die ästhetisierende Darstellung ihrer Leiche verlagert rechte Gewalt und ihre tödlichen Folgen ins Märchenhafte.

Tote Johanna

Das Othering der Schwarzen Hauptfigur Wie ich im Folgenden zeigen werde, wird bei der Ausgestaltung der Figur des Fremden mit rassifizierenden Exotisierungen gearbeitet. Sein Othering schlägt sich insbesondere in der Nichtbenennung der Figur nieder. In den Credits als »Der Fremde« geführt, bleibt die von Nino Sandow gespielte Figur im gesamten Film namenlos. Während die weißen Hauptfiguren allesamt Namen und Geschichten haben – sogar über seine Schwarze Kollegin Shipra erfährt man immerhin, dass sie in Hamburg aufgewachsen ist –, umgibt ihn eine Leerstelle. Er scheint aus dem Nichts zu kommen. Auch im weiteren Verlauf der Handlung werden keine Informationen über seine Biografie vermittelt. Wo hat er vor seiner 616 Dyer 1997, S. 208ff.

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Ankunft in Herzsprung gelebt? Warum und wie lange reist er schon durch die Gegend? Während andere Figuren ihre Geschichten erzählen, schweigt er. Generell spricht er während des Films nur wenige Sätze. Gerade diese Namens- und Geschichtslosigkeit lässt ihn zur Projektionsfläche für die eskapistischen Fantasien der weißen Hauptfigur und der weißen Zuschauenden werden. Er ist weniger Subjekt, denn Objekt ihre Sehnsüchte und hasserfüllten Fantasien. Den Effekt, den solch eine rassistische Setzung für das Schwarze Subjekt hat, beschreibt Grada Kilomba: »Every time I am placed as ›Other‹ – whether it is the unwelcomed ›Other‹, the intrusive ›Other‹, the dangerous ›Other‹, the violent ›Other‹, the thrilling ›Other‹, whethere it is the dirty ›Other‹, the exiting ›Other‹, the wild ›Other‹, the natural ›Other‹, the desirable ›Other‹ or the exotic ›Other‹ – I am experiencing racism, for I am beeing forced to become the embodiment of what the white subject does not want to be acquainted with. I become the Other of whiteness, not the self – and therefore I am being denied the right to exist as equal.«617

In der Figur des Fremden werden Schwarzsein und Fremdsein kombiniert. Der Film reproduziert damit rassistische Diskurse, die Schwarzen die Zugehörigkeit absprechen, sie zu Anderen machen. Dem ließe sich entgegensetzen, dass die ebenfalls Schwarze Shipra in Herzsprung etabliert zu sein scheint.Allerdings hat Shipra nur kurze Auftritte, die nicht reichen, um die Gleichsetzung von Schwarzsein und (Orts-)Fremdheit zu brechen und der Veranderung des Fremden die Normalität Schwarzen Alltags in Deutschland gegenüberzustellen. Weitere Momente des Otherings: Der Fremde als Rattenfänger Johanna begegnet dem Fremden das erste Mal auf einer Waldlichtung. In einer Totalen sieht man ihn inmitten einer Gruppe sowjetischer Soldaten sein Fahrrad gegen einen Armeemantel und ein Akkordeon eintauschen.618 Platziert in der Mitte des Bildes setzt seine rote Hose den dominantesten Farbakzent, leuchtet gegen die fahlen Farben des winterlichen Waldes, die bräunlichen Uniformen der Soldaten und die graugrüne Plane des Armeefahrzeugs an. Auf die Frage von Johannas Tochter, was er denn für einer sei, antwortet er »der Wind« und bläst dem Kind durch die Haare.619 Als Johanna, die ihn anschließend in ihrem Auto mitnimmt, wissen möchte, wo er hinwolle, lautet seine ebenso kryptische Antwort: »Immer dahin, wo ich nicht bin. Weiter und immer weiter.« Er macht dazu Windgeräusche, ahmt dessen Bewegungen mit Gesten nach. Der Film, der bereits in der Exposition Reales und Märchenhaftes inein617 Kilomba 2013, S. 42. 618 Herzsprung, TC:05:05. 619 Ebd., TC: 06:00ff.

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ander verschwimmen ließ, belässt es bei dieser Erklärung. Auch im weiteren Verlauf der Handlung ist nichts über die Lebensgeschichte des Fremden zu erfahren. An einer späteren Stelle führt er gleich dem Rattenfänger von Hameln einen Zug von Kindern durch das Moor. Er selbst marschiert vorneweg und ahmt das Geräusch einer Tröte nach. Wie die Sagenfigur wird auch er als plötzlich auftauchender Fremder in bunten Kleidern gezeigt.620 Wichtig ist es, an dieser Stelle zu betonen, dass der Rattenfänger aus der Sage keine positive Figur ist. Ihn umgibt eine Aura des Unheimlichen. Die Hamelner Kinder, die seinem Flötenspiel folgten, verschwanden spurlos. Dieses Schicksal wird den Herzsprunger Kindern nicht widerfahren, auch sind es im Film die Frauen, die der Verführung des Fremden erliegen. Ob es Misselwitz mit dieser Parallelisierung um eine Dämonisierung der Figur geht oder um eine ironische Bezugnahme – das fröhliche Tröten hat etwas Karnevaleskes –, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Die märchenhaften Assoziationen, die mit ihm verknüpft sind, regen Fantasien an, in denen er als das Andere zur dörflichen Enge und Trostlosigkeit erscheint. Sie tragen somit zum Othering seiner Figur bei. Dabei funktionieren die mit ihm verknüpften Märchenelemente anders als diejenigen in der Exposition. So werden sie nicht gebrochen und etwa durch biografische Fakten – etwa dem Aufwachsen in der benachbarten Kleinstadt – ergänzt und auf den gelbbraunen (Küchen-)Boden der Tatsachen zurückgeholt. Insbesondere die ihn umgebende Geschichtslosigkeit prädestiniert ihn als Projektionsfläche, auf der Johanna und mit ihr die (weißen) Zuschauenden Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu finden glauben. Je weniger Informationen über ihn bereitgestellt werden, desto mehr Platz ist auf dieser sinnbildlich leeren Leinwand. Als eine solche beschreibt Kilomba die Funktionalisierung des Schwarzen Subjekts durch den alltäglichen Rassismus.621 Exotisierende Projektionen Momente der rassifizierenden Exotisierung sind zentral für die Ausgestaltung der Figur des Fremden. Als ihn Johanna bei ihrer ersten Begegnung im Auto mitnimmt, schiebt er eine Kassette mit den Stimmen tropischer Vögel und Trommelrhythmen in den Rekorder. Die Fahrgeschwindigkeit lässt die Bäume vor dem Autofenster verschwimmen, die Dschungelgeräusche auf dem Soundtrack tragen ihren Teil zur Exotisierung der Szenerie bei: Für einen Moment glaubt man sich an einem tropischen Ort. Kurz darauf sind die winterlich kahlen 620 An den Rattenfänger von Hameln fühlte sich in dieser Szene auch Rezensent Christof Boy erinnert. Vgl. Boy 1992. 621 »Within everyday racism one is used as a screen for projections of what the white society has had made taboo. One becomes a deposit for white fears and fantasies from the realm of either aggression or sexuality.«Kilomba 2013, S. 42.

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Bäume wieder zu erkennen. Die Bildebene gerät in einen Kontrast zum Soundtrack. Die Alltagsrealität steht in einem Spannungsverhältnis zu mit ihm verbundenen eskapistischen Fantasien: Schwarzsein wird mit Lebendigkeit und Naturnähe in Verbindung gebracht. Die evozierten Dschungelassoziationen wie bunte Vögel, Wärme, Wildheit und üppiges Pflanzendickicht verweisen zugleich auf ihr Anderes: die Kälte des Brandenburger Winters, darüber hinaus auf die implizit bleibende europäische weiße Norm: »Afrika und Schwarze Menschen [werden] darauf [reduziert], genau das Gegenteil, ja die Negation all dessen zu sein, wofür sich ein als genuin weiß verstehendes Europa hielt und hält: nicht zivilisiert, sondern barbarisch, nicht organisiert, sondern chaotisch, nicht vernunftgeleitet, sondern emotional/irrational gesteuert; kurzum nicht überlegen, sondern unterlegen; nicht normal, sondern anders«,622

fasst Susan Arndt zentrale Merkmale des gegen Schwarze gerichteten Rassismus zusammen, die an dieser Stelle seitens des filmischen Diskurses reproduziert werden. Hierbei kommen Mechanismen zum Tragen, die Evelyn Hayn und Antje Lann-Hornscheid bei ihrer Kritik des Konzepts der Exotik herausgearbeitet haben. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass das, was als exotisch gilt, auf privilegierten Vorstellungen vom Eigenen und Fremden basiere.623 Anhand von Wörterbucheinträgen zeigen sie auf, »wie das als ›e[xotisch]‹ markierte Andere ersehnt und einverleibt wird. Die Bedeutung von ›e[xotisch]‹ wird zwar als fremd, aber auch als begehrenswert (›einen gewissen Zauber ausstrahlend‹, ›ausgefallen‹, ›ungewöhnlich‹, ›die Anziehungskraft von Fremdbes. Tropenländischem‹) und damit vordergründig positiv verhandelt. ›Exotisch‹ wird im direkten wie im übertragenen Sinne zur Bereicherung des eigenen, implizit und machtvoll angerufenen westlichen Lebens benutzt.«624

Dies trifft auch auf die Darstellung des Fremden im Allgemeinen wie auf Ebene der Figuren auf die Sehnsüchte Johannas zu, die sich, wie der Film suggeriert, nach etwas Neuem, Aufregendem in ihrem grauen Alltag sehnt. Die nächste Einstellung zeigt einen Sonnenuntergang über den Weiten der Ebene, der an weitere populäre Afrikabilder erinnert: Sonnenuntergänge über Savannen untermalt von Dschungelgeräuschen und Trommeln: Unterschiedliche Afrikastereotype werden hier geradezu verdichtet. Später überreicht der Fremde ihr ein archaisch anmutendes Herz aus Knochen. Die Verknüpfung des »fremden« Mannes mit einem »exotischen« Fantasieort, mit Johannas Wunsch, dem trostlosen, brutalen Alltag zu entfliehen, wird noch in einer anderen Szene deutlich. Sie spielt sich noch vor seiner Rückkehr nach 622 Arndt 2012, S. 22. 623 Hayn, Hornscheid 2010, S. 125. 624 Ebd.

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Herzsprung ab. Nachdem Jan Johanna geschlagen hat, wäscht sie sich ihr blutiges Gesicht. Dabei gerät das Herz aus Knochen, das der »Fremde« ihr zum Abschied überreicht hat, in ihre Hände. Während sie diesen Gegenstand mit einem versonnenen Lächeln betrachtet, erklingen auf der Soundspur abermals Trommeln und Dschungelgeräusche.625 Als Objekt des Begehrens wird der Fremde insbesondere in einer Duschszene inszeniert. Durch ein Guckloch in der Badezimmertür betrachten ihn Johanna und mit ihr die Zuschauenden. Sichtbar wird lediglich ein Fragment seines nackten Körpers, seine muskulöse Brust. Ein Gegenschuss zeigt Johannas Gesicht bei diesem voyeuristischen Akt. Wie Mary-Anne Doane feststellt, ist der Akt des aktiven Sehens im klassischen Kino männlichen Figuren vorbehalten. Frauen, die sich des Blicks bemächtigen hingegen, würde »etwas Exzessives, Problematisches« anhaften.626 Sind, wie auch der Film Herzspung an anderen Stellen vorführt, meist Frauen Objekte weißer männlicher Blicke – wiederholt wird etwa Jacobs begehrlicher Blick auf Lisa nachvollzogen, deren Friseursalon sich im Haus gegenüber befindet –, ist hier Johanna die lustvoll Schauende. Eine Blickkonstellation, die, wie mit Dyer ergänzend hinzuzufügen ist, im westlichen Film meist weißen Männern vorbehalten ist.627 Der Fremde wird im Film zum Objekt des Begehrens.628 Für Schwarze Zuschauende hingegen bietet seine Darstellung wohl wenig Identifikationsmöglichkeiten. Unter Bezugnahme auf Frantz Fanon beschreibt Kilomba die traumatischen, enttäuschenden und entfremdenden Erfahrungen, die Schwarze Zuschauer_innen in einem weiß dominierten Repräsentationssystem angesichts Bildern von Schwarzen machen, die weder realistisch noch schmeichelhaft seien: »I cannot go to a film«, zitiert Kilomba Fanon, »I wait for me«. Er warte, so Kilomba weiter, auf die Schwarzen Wilden, die Schwarzen Barbaren, die Schwarzen Diener, die Schwarzen Huren und Kurtisanen, auf die Schwarzen Kriminellen, Mörder und Drogendealer. Er warte auf alles, was er nicht ist.629 Auch die Darstellung des Fremden lässt sich in Kilombas Aufzählung dieser Stereotype einfügen. Denn als seine einzige herausstechende Eigenschaft wird seine erotische Anziehung auf Frauen und das unkonventionelle Ausleben seines heterosexuellen Begehrens dargestellt.630 Direkt nach seiner Ankunft in 625 Herzsprung, TC: 13:14. 626 Doane 1985, S. 13. 627 »Similarly, one of the building blocks of filmic storytelling, the point of view shot, where the camera takes up the position of a character’s eyes, is far more often that of a white male character scrutinising, appraising and savouring black/and or female characters than vice versa. Looking and beeing looked at reproduces racial power relations.« Dyer 1997, S. 45. 628 Vgl. Alter 1997, S. 146. 629 Kilomba 2013, S. 18. 630 Vgl. Alter 1997, S. 147.

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Herzsprung flirtet er bei einem gemeinsamen Kneipenbesuch mit Jacob mit Kellnerin Shipra, kurz nach seinem Wiedersehen mit Johanna finden Jacob und mit ihm die Zuschauenden heraus, dass er nachts zu Lisa hinübergegangen ist. Wie ich bereits gezeigt habe, steht dies in einen Kontrast zu Johannas als bedingungslos dargestellter Liebe zu ihm. Der Film bedient durch diese Hypersexualisierung Vorstellungen aus dem Repertoire des anti-Schwarzen Rassismus.631 Gleichzeitig werden dabei implizit Aussagen, über Weiße gemacht, fungieren diese doch, wenn auch unausgesprochen, als Norm, vor der Schwarze und People of Color als abweichend konstruiert werden. Kilomba kommt noch auf eine weitere Funktion dieser rassistischen Setzung zu sprechen: »Everyday racism refers to all vocabulary, discurses, images, gestures, actions and gazes that place the Black subjekt and People of Colour not only as ›Other‹ – the difference against the white is measured – but also as Otherness, that is the personification of the aspects the white society has repressed.«632 Auch Hall weist auf die tiefe Ambivalenz solcher Projektionen hin. Er beschreibt das Changieren zwischen Angst, Verachtung und Begehren als »die doppelte Vision des weißen Auges, durch das sie [die ›Anderen‹] betrachtet werden.«633 Mit den Sehnsüchten Weißer nach einer exotisierten Ferne geht es auch in der auf die Einführung des Fremden folgenden Sequenz weiter.634 In einer Detailaufnahme wird die untere Hälfte eines Globus – zu sehen sind hier Brasilien und der afrikanische Kontinent – fokussiert. Er leuchtet im Dunkel von Jacobs Zimmer. Es handelt sich, wie an anderer Stelle zu erfahren ist, genau um die Orte, von denen Jacob träumt.635 Auch hier festigt die Montage die assoziative Verknüpfung einer Schwarzen Person mit dem »Süden«, womit ihre Zugehörigkeit zu Europa, Deutschland, Brandenburg implizit verneint wird. In der Figur des Fremden wird somit Schwarzsein und Fremdsein verbunden. Neben dem Globus wird an einer späteren Stelle noch ein weiteres, in diesem Zusammenhang bedeutsames Requisit in den Blick genommen:636 Eine Detailaufnahme zeigt erst die Weltkugel, dann fokussiert sie eine mit dem Titel »Afrikanische Volkstypen« überschriebene Buchseite, die aus einem anthropologischen Werk zu sein scheint. Auf ihr sind mehrere Schwarze Menschen zu sehen. Einige von ihnen tragen westliche Kleidung, andere sind in verschiedenen historischen regionalen Trachten abgebildet. Die einzige Gemeinsamkeit besteht offensichtlich in ihrer Hautfarbe. Neben diesem Buch liegt Jacobs Lesebrille. Es 631 632 633 634 635 636

Kilomba 2013, S. 43. Ebd., S. 42. Hall 1989, S. 161. Herzsprung, TC: 07:47. Ebd., TC: 35:26ff. Ebd., TC: 1:07:38.

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bleibt unklar, ob das offensichtlich »rassenkundliche« Machwerk als kritischer Verweis auf eine von Rassismus geprägte Beschäftigung Jacobs mit Schwarzen im Allgemeinen und dem Freund seiner Tochter im Besonderen ist oder einfach als ausschmückendes Requisit zu verstehen sein soll, welches lediglich durch eine lockere Assoziationskette mit dem »Fremden« verknüpft ist. Für diese Deutung würde sprechen, dass die Kamera in dieser Sequenz durch Jacob und Johannas Wohnung wandert und auch den Fernseher, in dem das Fernsehballett seine Silvestervorstellung gibt, in den Blick nimmt. Da das Requisit weder von den Figuren, noch durch die Montage kritisch kommentiert wird, bedient sich der Film hier eines Elements des kolonialistischen Rassismus, ohne sich eindeutig zu positionieren. Dies gilt auch für folgende Szene: Spontan bietet Kneipenwirt Larry dem Fremden einen Job in dem Imbiss an, den er an der Autobahn zu eröffnen plant. »Ich weiß auch schon, wie ich es nenne«, sagt er mit Blick auf seinen künftigen Mitarbeiter. In der nächsten Sequenz wird der Aufbau des Imbisswagens im Zeitraffer gezeigt.637 In Neonlettern prangt der Name »Onkel Tom’s Hütte« über einem ausgebauten Container, der auf einem Autobahnparkplatz steht. Der Name bezieht sich auf Harriet Beecher Stowes 1852 erschienen Roman Uncle Toms Cabin, zu seiner Zeit eine literarische Intervention gegen die Sklaverei.638 Jemanden nach dessen Hauptfigur, dem frommen, duldsamen Sklaven als »Uncle Tom« zu bezeichnen, gilt jedoch seit der Rezeption des Romans durch die US-amerikanische Schwarze Bürgerrechtsbewegung nicht nur in diesem Kontext als Beleidigung: Als ein »Uncle Tom« gilt eine Schwarze Person, die weißen Interessen dient.639 Inwieweit dies der Figur des Kneipenwirts Larry bewusst war, als er nach einem Namen für seinen Imbisswagen suchte, lässt der Film offen. Offensichtlich ist jedoch, dass die Hautfarbe seines künftigen Angestellten bei Larry Assoziationen zum Themenfeld Sklaverei auslöste und ihn den Titel des Romans als Namen wählen ließ. Fantasiert er seine Schwarzen Mitarbeitenden – auch Shipra wird bei der Arbeit im Imbiss gezeigt – als duldsame Sklaven und sich selbst als deren Herren? Der Rassismus, den diese im Kontext der Handlung wohl freundlich gemeinte Namenswahl beinhaltet, wird an keiner Stelle des Films problematisiert. Auch der Fremde schweigt dazu. Hier lässt sich mit Kilomba fragen, was er sagen würde, wenn er nicht vom filmischen Diskurs zum Schweigen verdammt wäre. Warum bleibt in einem Film, in dem es Misselwitz zufolge um alltäglichen Rassismus geht, offen, wie die beiden negativ von diesem betroffenen Figuren die dargestellten Situationen empfinden? Die 637 Ebd., TC: 40:06. 638 AntiDiskriminierungsBüro Köln 2013, S. 17. 639 Die Diskussion um den rassistischen Gehalt der Bezeichnung flammte auf, als die taz das Weiße Haus während Obamas Wahlkampf als »Onkel Baracks Hütte« bezeichnete. Vgl. Johnson, Pickert 2008.

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Gründe dieses zum Schweigen-gebracht-Werdens sieht Kilomba in den Ängsten Weißer davor, dem Schwarzen Subjekt zuzuhören: »The white fear of listening to what could possibly be revealed by the Black subject can be articulated by Sigmund Freud’s notion of repression, since the ›essence of repression‹, he writes, ›lies simply in turning something away, and keeping it at distance, from the conscious‹ (1923: 17). It is that process by which unpleasant ideas – and unpleasant truths are rendered unconcious, out of awareness, due to extreme anxiety, guilt or shame they cause. However, while buried in the unconscious as secrets, they remain latent and capable of being revealed at any moment.«640

»Was macht so einer wie Du in der Prignitz?« – Jacobs alltäglicher Rassismus Delegieren die meisten der von mir analysierten Spielfilme Rassismus an eindeutig als Neonazis gekennzeichnete Figuren, wird dieser in Herzsprung mit Johannas Vater Jacob auch an einer mit positiven Eigenschaften versehenen Figur verhandelt: Jacob wird als liebevoller Vater und Partner dargestellt. Johannas Liebe zum Fremden steht er, wie ich im Folgenden zeigen werde, jedoch sehr skeptisch gegenüber. Bei ihrer ersten Begegnung treten sich Jacob und der Fremde als Menschen gegenüber, die vom damaligen wie heutigen Nazismus aus der imaginierten Volksgemeinschaft ausgeschlossen und zur Vernichtung freigegeben waren. Sie stehen gemeinsam vor dem mit der Parole »Ausländer ins KZ« beschmierten Gedenkstein für die Opfer eines Todesmarsches von KZ-Häftlingen.641 Über Jacob ist an einer späteren Stelle zu erfahren, dass er selbst als ehemaliger KZHäftling auf diesem Todesmarsch war. Johannas Mutter rettete den Entkräfteten, indem sie ihn versteckte.642 »Kommunist?«, fragt ihn der Fremde. »Nicht alle waren Kommunisten«, antwortet Jacob. Alter weist diesbezüglich auf die Leerstelle hin, die in der Nichtthematisierung des Antisemitismus sowohl an dieser Stelle wie auch im gesamten Film besteht: »But I take it as significant that the more common referent, at least in the West, ›Jew‹, is absent not only in this sequence, where one might first or most expect it, but also throughout the film.«643 »Ich bin so was ähnliches wie Du«, erklärt Jacob, der polnische Überlebende, dem mit der aktuellen Parole (mit-)gemeinten Fremden. Worin diese Gemeinsamkeit zwischen beiden Männern besteht, bleibt, wie Alter anmerkt, jedoch 640 Kilomba 2013, S. 19. 641 Herzsprung, TC: 38:58ff. 642 Diese Familiengeschichte erzählt Johanna ihrem Geliebten in einer späteren Szene. Ebd., TC: 52:07ff. 643 Alter 1997, S. 140.

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Der Fremde und Jacob vor beschmiertem Gedenkort

unausgesprochen: »Indeed, is the key absent signifer of the film, insofar as it articulates the post-reunification national question to the problem of race, both literally and figuratively. But then the notion that jews are black is an old german fairytale.«644 Jacob lädt den Fremden darauf in die Kneipe ein. Die Verbrüderung wird mit einem Tausch der Kopfbedeckungen besiegelt. »Wenn ich nochmal jung wäre, würde ich mir ’ne einsame Insel suchen, mit ’ner Frau als Freitag«, sagt er und lächelt seine neue Kneipenbekanntschaft nach Komplizenschaft heischend an.645 Die Verbrüderung soll hier über den sexistischen Ausschluss eines Anderen erfolgen – in diesem Fall ist es eine Frau, die in Jacobs Fantasie den Platz des Schwarzen Dieners Freitag einnimmt –, während er sich selbst und den Fremden in der Position des Herren Robinson imaginiert. Als ob sich machtrelevante Kategorien wie »Rasse«646 und Geschlecht beliebig austauschen lassen würden, lässt der Film in der Figur des Jacob heterosexistische Verfügungsgewalt über 644 Ebd., S. 141. 645 Zum Topos der Insel schreibt Arndt: »So wird die Insel zum Sinnbild jener terra nullius, jener Fiktion von unbewohntem Raum, der neue Lebensräume zu bieten vermag. Hier stehen wir inmitten jener kolonialistischen Fiktion, die uns seit Daniel Dafoes Robinson Crusoe bewusst oder unbewusst begleitet und prägt.« Arndt 2012, S. 101. 646 »Rasse« ist ein biologistisches Konstrukt. Um dies zu verdeutlichen, setze ich den Begriff in Anführungszeichen. »Rasse« bezeichnet hier die Analysekategorie des Rassismus. Um diese zu benennen habe ich mich gegen die Verwendung des englischen Begriffs »race« entschieden. Denn, wie Paul Mecheril treffend schreibt: »[H]ier gibt es nur einen Namen, der die reale Gewalttätigkeit nicht unterschlägt: ›Rasse‹. Das Wort ist böse, es sticht, es tut weh – kein Zeichen, das besser passte.« In: Mecheril 1997, S. 198.

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Frauen anstelle der kolonial-rassistischen Setzung in Defoes Roman treten. Eine Gleichung, die jedoch nicht aufgeht. Offen bleibt nicht nur, welche Rolle Jacob als weißer Mann im Machtgefüge einer rassistisch strukturierten Gesellschaft einnimmt, insbesondere durch die Anrufung des kolonialen Texts gegenüber seinem Schwarzen Gegenüber. Ist der Assoziationsraum der kolonial-rassistischen Imaginationen647 erst einmal geöffnet, lässt sich zudem fragen, ob er die Rolle des »weiblichen Freitag« dabei Kellnerin Shipra zukommen lässt, mit welcher der Fremde eben noch geflirtet hat. Als Schwarze Frau wäre sie in dieser Setzung sogar mehrfach diskriminiert – die vielfache sexualisierte Gewalt gegen kolonisierte und versklavte Frauen steht ebenfalls, wenn auch unausgesprochen in diesem Assoziationsraum. Der Fremde quittiert Jacobs Anmaßung jedoch mit einem freundlichen Lächeln. Jacobs Äußerung wird nicht problematisiert. Jacobs anschließende Frage, was so einer wie er denn in der Prignitz mache, impliziert, dass er dort als Schwarzer unmöglich zugehörig sein könne. Hatte Jacob den Flirt mit Kellnerin Shipra noch wohlwollend goutiert, ändert sich die Stimmung, sobald der Fremde sein Interesse an Johanna äußert: »Ich suche ’ne Frau mit langen blonden Haaren, einem roten Auto und zwei Kindern.«648 Nun ist es mit der Solidarität zwischen dem Opfer von damals und dem potenziellen von heute vorbei. Barsch reißt Jacob ihm seine Mütze vom Kopf und zahlt. Es bleibt offen, ob sich seine Reaktion darauf bezieht, dass er generell keinen Schwarzen als Partner seiner geliebten Tochter akzeptieren würde oder ob er in dessen Flirt mit Shipra bereits die »Untreue« des Fremden erkannt hat. Jacobs eigene Verfolgungsgeschichte während des Nationalsozialismus und deren Kontinuitäten sind es, an die Johanna an einer späteren Stelle appelliert, als sie den Vater vergeblich von der Verwendung des rassistischen N*-Worts abzubringen versucht: »Jacob, du bist doch Pole und kein Polacke«,649 versucht sie ihm den diskriminierenden Gehalt der Bezeichnung verständlich zu machen. Doch Jacob ist betrunken und uneinsichtig. Sein aggressiv vorgetragenes »Ich hab nichts gegen N*« lässt sich so deuten, als würde er partout nicht auf dieses gewaltvolle Wortwerkzeug verzichten wollen, mit dessen Hilfe er den in der rassistischen Hierarchie unter ihm stehenden Fremden auf seinen Platz verweisen kann. Unverhohlen äußert sich Jacobs Rassismus noch an einer weiteren Stelle: »Gute Nacht, Bimbo«, murmelt er, als er an der Schlafstelle des Fremden vorbeikommt.650 Doch dessen Bett ist leer, die kolonialrassistische Beleidigung 647 Hall beschreibt, wie im 19. Jahrhundert »die Vorstellung von Abenteuer gleichbedeutend mit der Demonstration moralischer, sozialer und physischer Herrschaft des Kolonisators über den Kolonialisierten« wurde, Hall 1989, S. 159. 648 Zum rassistischen Gehalt dieses Wortes vgl. Kelly 2010S. 156–166. Vgl. auch Schulz 2010, S. 167–173. 649 Herzsprung, TC: 37:21ff. 650 Ebd., TC: 40:59.

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bleibt ungehört. »Das hab ich mir gedacht«, murmelt er missbilligend. In der nächsten Einstellung wird sein Blick aus dem Fenster nachvollzogen. Es ist zu sehen, wie Lisa ihre Rollläden herunterlässt. Anstatt Imaginationen aus dem Repertoire des anti-Schwarzen Rassismus zu widerlegen, die Schwarzen Männern einen unkontrollierten Sexualtrieb zuschreiben, werden sie im Film Herzsprung reproduziert. Er wird dich verlassen«, wird Jacob am Silvesterabend resigniert zu seiner Tochter sagen und mit dieser Prognose richtig liegen.651

Jan und Soljanka: Die nicht (mehr) begehrenswerten weißen Männer Wie auch Ehemann Jan wird Johannas Schulfreund Soljanka von Ben Becker verkörpert. Die Doppelbesetzung fordert es geradezu heraus, nach Parallelen zwischen beiden direkt nacheinander eingeführten Figuren zu fragen. Zuerst ist Becker als Soljanka zu sehen. Johanna passiert ihn und seine Clique auf dem Weg zur Kneipe, in der sich Jan betrinkt. Soljanka trägt Fliegermütze, Armeehose, Lederjacke und Springerstiefel. Seine halblangen rötlichen Haare hat er nach hinten gegelt. Er wird als Teil einer postpubertär wirkenden Motorradgang eingeführt.652 Bereits bei seinem ersten Auftritt wird das Messer, mit dem Soljanka permanent herumspielt und mit dem er Johanna im Finale der Handlung tödlich treffen wird, als wichtiges Requisit eingeführt. Sie lachen, trinken, grölen und reißen Zoten. Ihre Dialoge wirken dabei so hölzern und gestelzt, als ob sie Gedichte rezitieren würden. Auch ihre Gestik ist übertrieben und theatralisch. Ob dies die Frage nach der Zitathaftigkeit rechter Posen in den Raum stellen soll oder einfach schlecht gespielt ist, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Eine weitere Information über Soljanka erhalten die Zuschauenden aus den Blicken, die er Johanna zuwirft und den Anspielungen seiner Kumpane. Er ist in sie verliebt. Johanna hingegen scheint den ehemaligen Mitschüler und seine Clique nicht besonders erst zu nehmen. Sie scherzt kurz mit ihnen, wendet sich jedoch bald ab und geht. Als Ehemann Jan ist Becker nur in zwei Szenen zu sehen. Betrunken und aggressiv findet ihn Johanna in der Kneipe, wo er, laut Jacobs Aussagen, seinen Frust darüber, keine Rinder verkauft zu haben, schon seit dem Nachmittag im Alkohol ertränkt. Als Johanna ihm von ihrer Entlassung berichtet, gibt er ihr wortlos eine Hand voll Münzen aus dem Spielautomaten. Sie weigert sich, den Betrunkenen zu küssen, woraufhin er sie an sich reißt und ihr mit Gewalt seine Lippen aufdrängt. Als sie sich wehrt, schlägt ihr Jan brutal ins Gesicht. Den Verlust seiner Rolle als (Mit-)Ernährer der Familie und situativ als begehrter 651 Ebd., TC: 1:10:11f. 652 Ebd., TC: 09: 48.

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Partner scheint er über Gewalt zu kompensieren. Wie aus einem Gespräch mit Shipra deutlich wird, welche die blutende Johanna im Nebenzimmer der Kneipe verarztet, scheint Jan momentan regelmäßig zu trinken. Johanna flüchtet vor dieser Misere in eskapistische Fantasien um den Fremden. Jans (selbst-)zerstörerische Wut gipfelt in seinem Amoklauf. Bei seinem zweiten Auftritt sieht man seine Leiche inmitten der toten Rinder liegen. Was für eine Beziehung das Ehepaar zu DDR-Zeiten, also vor dem Verlust von Jans materieller Existenz führte, bleibt offen. So erscheint die als krisenhaft dargestellte Wendezeit als einziges Motiv für seinen Selbstmord. Der Platz ist frei für den Fremden. Entsprechend wird Jan nach dessen Ankunft nicht mehr erwähnt. Nur einmal führt Johanna den neuen Geliebten an den Ort des Amoklaufs.653 Neben der Arbeitslosigkeit, dem Alkoholmissbrauch und der Gewalt ist die Zurückweisung durch Johanna ein weiteres Moment, das Soljanka und Jan teilen. Wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde, sind Soljankas rassistische Aktionen gegen Johannas neuen Geliebten durch seine unerwiderte Liebe und seine Eifersucht motiviert, wie auch Misselwitz in einem Interview angibt: »Soljanka ist ja kein richtiger Neonazi. Erst als Johanna sich dem Fremden zuwendet, lässt er sich auf die Szene ein, wie auf ein Spiel.«654

Die Darstellung der rechten Clique Bei ihrem ersten Auftritt ist die Clique um Soljanka noch nicht eindeutig als extrem rechts markiert. Motorradkluft überwiegt, auch wenn bei ihnen mit Glatzen, Bomberjacken und Springerstiefeln Zeichen zu sehen sind, die das Erscheinungsbild der extremen Rechten Anfang der 1990er Jahre prägten. Auffällig ist ihr jugendliches Auftreten, immer wieder sieht man sie miteinander rangeln und sich spielerisch necken. Erscheint die Clique zuerst lediglich als gelangweilte Gruppe junger Männer, wird ihre Rechtsorientierung in einer späteren Sequenz deutlich. Hier kommen Glatze, Schnauze und Soljanka in Lisas Friseursalon. Schnauze will sich eine Glatze, in den 1990er Jahren gemeinhin das sichtbare Bekenntnis zum Neonazismus schlechthin, schneiden lassen.655 Schnauze ist es auch, der als Wort- und Anführer der Gruppe auftritt und als einziger über ein halbwegs gefestigtes rechtes Weltbild zu verfügen scheint. Von Johanna und Lisa auf die Schändung des Gedenksteins für die Opfer des Todesmarschs zur Rede gestellt, ist er der 653 Ebd., TC: 1:04:01. 654 Berliner Zeitung o. A., 1992. 655 Weniger bekannt war, dass die Skinheadszene trotz dort verbreiteter rassistischer und schwulenfeindlicher Tendenzen nicht homogen war und ist. Vgl. Büsser 2001, S. 79.

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Die Clique lässt sich Glatzen schneiden

einzige, der dies – wenn auch phrasenhaft – zu begründen weiß: »Es gibt ’ne Menge Ausländer in der Gegend. Die nehmen uns doch die Arbeit weg mit ihren Billiglöhnen. Die Polen, die Russenweiber von den Offizieren und sogar N* gibt es in der Gegend. Die sollte man in einem Lager« – hier ahmt er den Sprachgestus der Reden des historischen Nationalsozialismus mit rollendem R nach – »konzentrieren und dann appi, appi, appi nach Hause.«656 Schnell wird deutlich, dass er damit bei den beiden Frauen auf Gegenwehr stößt. Lisa, die seine Haare schneidet, zieht ihm grob den Kopf nach hinten: »Ihr habt ja wohl ’n Rad ab. Johannas Vater hat man einmal in diesem Lager fast totgeschlagen.« Soljanka gibt an, dies nicht gewusst zu haben. Kleinlaut entschuldigt er sich bei Johanna. Hier wird deutlich, dass Soljanka ein Mitläufer ohne geschlossenes rechtes Weltbild ist. Eine Figurenkonstellation, die in Filmen über Neonazis immer wieder auftaucht. Bei den direkt gegen den Fremden gerichteten Aktionen erscheint Soljanka jedoch aktiv und ergreift die Initiative. Als ob Rassismus als Motivation nicht ausreiche, scheinen seine Angriffe aus seiner Eifersucht motiviert zu sein. Als Johanna sich in der Disko weigert, mit ihm zu tanzen, murmelt er, dass er sich dann nächste Mal »schwarz« anmalen werde.657 In der folgenden Sequenz hängt er eine nackte Schwarze Puppe vor dem Fenster des Imbisswagens auf.658 Lachend und grölend fahren er und seine Kumpane weg. Der Streich birgt jedoch 656 Herzsprung, TC: 43:23ff. 657 Ebd., TC: 56:10. 658 Ebd., TC: 59:24.

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eine Morddrohung. Er zitiert die Praxis des Lynchens, die aus dem Repertoire des US-amerikanischen Rassismus stammt. Diese im Film hergestellte Verknüpfung zwischen Ostdeutschland und den US-amerikanischen Südstaaten bemerkt auch Alter : »It obviously displaces, and/or maps onto, the former East Germany the racist South – a highly clich8d albeit true image – effectively establishing a suitably complex cross-temporal, geopolitical, and geo-aesthetic.«659 Sie fragt: »Does this articulation then whitewash the specificity or peculiarity of past and present acts of German aggression against so-called foreigners (not least Jews and communists once and Turks, Arabs, or Asians today), by placing them in a broader and more properly universal problematic of racism?«660

Dies ist zu bejahen. Alter schreibt in diesem Zusammenhang, dass Neonazismus als solcher im Film nicht gezeigt werde, was sie damit begründet, dass die Clique Symbole wie das Hakenkreuz nicht benutze.661 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich die Clique mit der Parole »Ausländer ins KZ« positiv auf die Macht über Leben Tod bezieht, die der Nationalsozialismus innehatte und an der sie durch diese Anrufung symbolisch teilhaben. Dennoch scheint selbst Misselwitz ihre extrem rechten Figuren als politische Aktivisten nicht ernst zu nehmen: »Ich glaube, dieses Feindbild [Neonazi, JS] ist ein Feindbild der Medien. Die jungen Leute laufen doch nicht täglich als Monster durch die Gegend. Es sind Menschen, die mitten unter uns leben. Aus dieser Kenntnis habe ich die drei jungen Männer gezeichnet. Sie haben keine Arbeit und fangen an, Ordnungshüter zu spielen. Sie spielen im Film ein Spiel, aus dem plötzlich tödlicher Ernst wird. Ich versuche deutlich zu machen, daß sie einsam und ohne Wärme sind, sich eigentlich nach Liebe und Anerkennung sehnen.«662

Auch Johannas Tod ist letztlich ein Unfall beim Messerspielen. Sie gerät in die Wurfbahn von Soljankas Messer, das er neben den am Baum gefesselten Fremden schleudert. Diesem habe er damit lediglich Angst machen wollen. »Vieles ist da unausgegoren, viele Menschen empfinden ein plötzliches Vakuum, und ehe es neue Ideale oder Vorbilder für sie gibt, wird plötzlich etwas, das ein unüberlegtes Spiel ist, tödlicher Ernst«663, gibt die Filmemacherin in einem Interview an.

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Alter (1997), S. 144. Ebd. Ebd. Sächsische Zeitung o. A., 1993. Helke Misselwitz, zit. n. Lubowski 1992, S. 36.

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Fazit: Weiße Bildpolitiken Wie auch Rezensent Klaus Renke kritisiert, fällt es mitunter schwer, sich in die Figuren hineinzuversetzen. Dies liege zum einen daran, dass zu wenige Hintergrundinformationen vermittelt würden. Es ist ihm zuzustimmen, dass die Figuren somit Typen bleiben, anstatt sich zu runden Charakteren zu entwickeln. Auch dies trägt, wie er treffend beobachtet, dazu bei, dass »[z]u viele Szenen […] gestellt, hölzern« wirken. Renke führt dies auf Misselwitz’ Unvermögen zurück, Schauspieler_innen zu führen.664 Allerdings könnte diese Künstlichkeit auch intendiert sein, was zu dem plakativen Einsatz der Farbsymbolik und dem Einsatz von märchenhaften Elementen passen würde. Nicht zuletzt besteht auch das Personal in der Gattung Märchen aus Typen und nicht aus ausdifferenzierten Charakteren. Neben der expressiven Farbsymbolik verleihen die theatralisch anmutenden Dialoge dem Film eine gewisse Künstlichkeit. »Symbolschwer zeigt er uns Blut und Gänsedaunen, rote Schuhe, rotgefärbte Haare und dunkle Haut, dazu alles, was gute Menschen betroffen macht: Arbeitslosigkeit, Rassismus, Verzweiflung und enttäuschte Liebe, Sehnsucht nach der Ferne und junge Männer, die sich Glatzen scheren lassen, versetzt mit dem handelsüblichen Poesiesurrogat aus grün- und blaustichigen Bildern, schwermütiger Musik und bedeutungsschwangeren Momenten«,665

merkt Peter Körte kritisch zum Ton des Films an. Der Film, der erklärtermaßen angetreten ist, kritische Aussagen über den latenten, bereits zu DDR-Zeiten vorhandenen Rassismus zu machen,666 wird diesem Anspruch nicht gerecht. Anstatt Rassismus auf Ebene der Figuren zu demontieren, speisen sich sowohl Soljankas als auch Jacobs Ressentiments gegen den Fremden aus anderen, teilweise sogar als legitim dargestellten Motiven. In Jacobs Fall wird sich seine, wenn auch rassistisch geäußerte, väterliche Sorge angesichts Johannas Partnerwahl am Ende als begründet herausstellen: Der Fremde wird der Tochter das Herz brechen. Bei Soljanka ist es die unerwiderte Liebe zu Johanna, die seinen Hass auf den Fremden motiviert. Seine Eifersucht ist allerdings rassistisch aufgeladen. Einen weißen Konkurrenten würde er zwar auch nicht gutheißen, doch würde er dies wohl anders ausagieren. Hier kommen weiße Dominanzvorstellungen zum Tragen, denen zufolge er als weißer Mann mehr Anrecht auf Johanna zu haben glaubt. Anstatt rassistische Wissensbestände aufzudecken – eklatanteste Beispiele sind hier die Exotisierung und die Hypersexualisierung des Schwarzen Mannes, 664 Renke 1992. 665 Körte 1992. 666 Vgl. Tittelbach 1994.

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werden sie vom filmischen Diskurs reproduziert. Als eigentliches Opfer wird mit Hauptfigur Johanna eine Weiße präsentiert: Der Fremde bricht ihr das Herz, Soljankas Motorradgang beschmiert ihr Haus, die Nachbar_innen schneiden sie. Wegen ihrer als unangemessen angesehenen Beziehung bekommt sie den Job als Köchin nicht. Am Ende wird sie, wenn auch unbeabsichtigt, Opfer rechter Gewalt. Der Film kreist somit hauptsächlich um die Ängste und Sehnsüchte der weißen Figuren, während die tatsächlich von Rassismus Betroffenen zum Schweigen verdammt sind. Für den Effekt solcher weißen Bildpolitiken auf Schwarze Zuschauende findet Kilomba deutliche Worte: »What an alienation, to be forced to identify with heroes who are white and reject enemies who appear as Black. What a dissapointment, to be forced to look at ourselves as if we were in their place. What a pain to be trapped in this colonial order.«667

4.5

Günter Wallraff: Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009)

»Weiße Filmschaffende sollten nicht denken, dass man die Welt besser machen kann, wenn man sich alter Klischees oder kolonialer Zuschreibungen bedient, egal zu welchen Zwecken.« Noah Sow

Mit seinen Rollenreportagen erlangte der Journalist Günter Wallraff bereits in den 1960er Jahren große Bekanntheit.668. Der anlässlich seines 70. Geburtstags im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »Ein-Mann-Armee der Menschenrechte«669 gerühmte Autor thematisiert in seinen Arbeiten gesellschaftliche und soziale Missstände, indem er sich undercover in diese hineinbegibt, um sie am eigenen Leib zu erleben. Meist unerkannt schlüpfte er dazu in verschiedene Rollen.670 Das größte Aufsehen erlangte er mit seiner verdeckten Recherche in der Hannoveraner Redaktion der Bildzeitung671 sowie in seiner ersten Racechange Performance, in der er sich, verkleidet als Arbeitsmigrant aus der Türkei, bei verschiedenen Firmen verdingte.672 Immer wieder gelang es ihm, wie er es selbst auf seiner Webseite ausdrückt, »in die ›Intimsphäre‹ von Wirt667 Kilomba 2013, S. 18. 668 Der Durchbruch gelang ihm mit den 1966 erschienen Industriereportagen. Vgl. dazu: Wallraff, Geisler 1966. 669 Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A., 2012. 670 Aktuellere Beispiele sind die Reportagen: Wallraff 2009b: Unter Null. Die Würde der Straße, S. 49–96. Wallraff (2009c) Kleine Brötchen für Lidl. Vom schlechten Arbeiten für schlechtes Essen, S. 157–192 oder Wallraff (2009d): Unfeine Küche. Ausbeutung in der Edelgastronomie, S. 193–218. 671 Wallraff 1977. 672 Wallraff 1985.

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schaft und Staat einzudringen, um über skandalöse Arbeits- und Herrschaftsverhältnisse, über undemokratische und unmenschliche Ansichten und Verhaltensweisen von Unternehmern, Managern und Amtsträgern berichten zu können«.673 Eine Methode, die auch mehrere Gerichtsprozesse nach sich zog.674 In einer dieser Verhandlungen verteidigte er seine Arbeitsweise erfolgreich damit, »in einer fremden Rolle Sachverhalte aufzudecken, die anders nicht zu erfahren sind«.675 Über die Frage, inwieweit seine Methode auch für die Auseinandersetzung mit der Situation Schwarzer in Deutschland angemessen und geeignet ist, entbrannten heftige Diskussionen anlässlich seines Kinofilms Günter Wallraff: Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009) sowie des Textes Schwarz auf Weiß. Fremd in Deutschland, der gemeinsam mit anderen Rollenreportagen in der ebenfalls 2009 erschienen Textsammlung Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere publiziert wurde. Insbesondere die bundesweit in Kinos gezeigte Dokumentation, die auf dem New York Film Festival in der Kategorie Investigativer Report mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde, löste im Feuilleton kontroverse Debatten über Rassismus aus, die nicht nur das im Film Dargestellte, sondern auch seine Konzeption und Darstellungspraxen betrafen.676 Denn für diese Arbeit reiste der Journalist mit dunkelbraun angemaltem Gesicht, dunklen Kontaktlinsen und einer schwarzen Lockenperücke als »Schwarzer«677 namens Kwami Ogonno verkleidet, quer durch Deutschland. In dieser Maskerade wollte er sich in die »Situation des Fremden«678 begeben: »Denn jede Gesellschaft lässt sich«, so Wallraff, »daran messen, wie sie auf Fremde reagiert.«679 Bereits der Titel Schwarz auf Weiß lässt sich sowohl auf das von Wallraff praktizierte Blackfacing beziehen – schwarze Farbe auf seiner weißen Haut – als auch auf den Anspruch des auf dem Klappentext der DVD als »entlarvendes Stück über die real existierende Toleranz in Deutschland«680 beworbenen Films verstehen: Wenn etwas irgendwo »schwarz auf weiß« steht, dann ist es nach allgemeinem Sprachverständnis »wirklich so«. Wallraff geriert sich hier als Experte für und Zeuge des deutschen Rassismus.681

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Wallraff o. J. Vgl. Wallraff o. J. Wallraff 1986, S. 151. Hamburger Abendblatt o. A. 2011. Wenn von Wallraffs Racechange Performance die Rede ist, setzte ich im Folgenden »Schwarz« in Anführungszeichen. Schwarz auf Weiß, TC: 03:07. Ebd., TC: 03:08f. Schwarz auf Weiß, Klappentext der DVD. Dass er auch in der medialen Öffentlichkeit als solcher wahrgenommen wird, beweist nicht

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Waren es zuvor größtenteils um ihren Ruf besorgte Firmen und Unternehmen, die seine Arbeiten kritisierten und den Journalisten mit einer Reihe von Klagen überzogen, kam nun massive Kritik aus den Reihen derjenigen, für die er in Schwarz auf Weiß sprechen wollte. Während sein Film von einigen, vornehmlich weißen Journalist_innen als wichtige Thematisierung des in Deutschland weit verbreiteten Rassismus gelobt wurde,682 löste seine Maskerade entschiedenen Widerspruch insbesondere aus den Reihen Schwarzer Aktivist_innen aus. Zum einen, weil seine Verkörperung des Kwami Ogonno Assoziationen an die im 19. und 20. Jahrhundert insbesondere in US-amerikanischen Minstrel Shows verbreitete Praktik des Blackface weckt, bei der sich weiße, später auch Schwarze Schauspieler_innen mit einer Paste aus Fett und verbranntem Kork die Gesichter schwärzten, um rassistische Karikaturen Schwarzer Menschen zu verkörpern.683 In den Minstrel Shows, so bringt es die Theaterwissenschaftlerin Joy Kristin Kalu auf den Punkt, wurden Schwarze »als dumm, faul, naiv, ungeschickt, lustig sowie übertrieben sexualisiert« dargestellt.684 »Das Blackface war«, so Kalu weiter, »also von Anbeginn eine rassistische Unterhaltungspraxis, deren politische Dimension, nämlich die Legitimation des Machterhalts der weißen Mehrheit, immer mit reflektiert werden sollte.«685 Eine Praxis, die wie Marwin McAllister feststellt, dem Bild Schwarzer US-Amerikaner_innen nachhaltigen, vielleicht sogar irreparablen Schaden zugefügt habe.686 Im Gegensatz zu den USA steht die (film-)wissenschaftliche Debatte zu Blackface im deutschsprachigen Kontext noch in den Anfängen. Dennoch blieb die Praxis auch hierzulande nicht unwidersprochen.687 Wie ich in diesem Kapitel zeige, werden in Schwarz auf Weiß weder die

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zuletzt, dass Wallraff auch im Jahr 2010 in dieser Rolle auf Deutschlandradio Kultur zur Debatte um Thilo Sarrazin befragt wurde. Vgl. Welty 2010. Vgl. Leyendecker 2009. Der Spiegel o. A. 2009, S. 111. Marvin McAllister weist darauf hin, dass die US-amerikanischen Rassentrennungsgesetze nach einer der bekanntesten Minstrel-Karrikaturen auch Jim-Crow-Gesetze genannt wurden. Vgl. McAllister 2011, S. 3. Kalu 2012b. Vgl. dazu auch: Rogin 1996, S. 56. Sow 2009, S. 162. Kalu 2012b, S. 40. Vgl. auch: Sow 2009, S. 162. McAllister 2011, S. 3. Zu nennen sind hier etwa die Interventionen gegen das Theaterstück Ich bin nicht Rappaport mit Didi Hallervorden und dem schwarz angemalten Joachim Bliese am Berliner Schlossparktheater sowie die Gründung der Internetplattform Bühnenwatch 2012 mit dem Ziel, rassistische Aufführungspraxen möglichst zu unterbinden. Vgl. dazu: Bühnenwatch 2016. Ein aktuelleres Beispiel sind die Interventionen der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) gegen eine Saalwette bei Wetten, dass? Hier sollten sich 20 Paare als Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer verkleiden: »Jim sollte natürlich schwarz geschminkt sein, Schuhcreme, Kohle, was auch immer!«, so der Wettaufruf des ZDF. Vgl. dazu: ISD 2013. Adeoso 2016. Die Ignoranz der ZDF-Redaktion gegenüber der rassistischen Methode löste neben dem Offenen Brief der ISD eine Vielzahl weiterer Beschwerden aus, vor allem in sozialen Netzwerken. Vgl. dazu: SK/DPA: #blackfacing 2013.

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historischen Hintergründe, noch entsprechende Assoziationen und Konnotationen, geschweige denn Interventionen gegen die rassistische Praktik verhandelt.688 Es scheint, als habe Wallraff bei seinen Recherchen die Kämpfe ausgeblendet, die Schwarze Aktivist_innen und Aktivist_innen of Color seit vielen Jahren gegen rassistische Zustände und Bildpolitiken – speziell gegen Blackfacing – in deutschen Theater- und Medienproduktionen führen.689 Angesichts der über hundertjährigen Präsenz Schwarzer in Deutschland690 und ihrer vielfältigen Wissensproduktionen – unter anderem zum Thema Rassismus691 – ist es zu bezweifeln, dass die von Wallraff in Schwarz auf Weiß »aufgedeckten« Sachverhalte wirklich »anders nicht zu erfahren« gewesen wären. Entsprechend wird, zum anderen, die Positionierung und Selbstinszenierung des weißen Journalisten kritisiert, der sich als Zeuge der rassistischen Verhältnisse692 inszeniert und anstelle der Rassismuserfahrenen von seinen eigenen, in der Rolle gesammelten Erlebnisse mit diesem spricht. Dazu äußerte sich etwa die Aktivistin und Künstlerin Noah Sow in einem Interview mit tagesschau.de: »Er kann als angemalter Weißer schwarze Erfahrungen nicht machen und auch nicht in einen Zusammenhang stellen, auch wenn er das glaubt oder versucht.«693 Weiter kritisierte sie, dass Wallraff »seine Neugier über die Forschungsergebnisse, Gefühle, Wissensproduktionen und Repräsentationsrechte Schwarzer« stelle. »Damit bedient er sich«, so Sow, »weißer Privilegien: Er äfft unterdrückte Minderheiten nach und erntet damit Geld, Aufmerksamkeit und sogar Respekt.« 688 In einem Streitgespräch mit den Macher_innen der Schwarze[n] Deutsche[n] Medien Datenbank AFROTAK TV cyberNomads beteuerte Wallraff, noch nie etwas von Blackfacing gehört zu haben. Auf die Frage, wie er dazu stehe, sich »als weißer Mensch anzumalen und Schwarz zu spielen, aber auch aus dieser Rolle wieder raushüpfen zu können?« antwortet Wallraff: »Ich muss sagen, ich hab ’ne, ich spüre, dass, ich hab ’ne Art Tabu verletzt. Jetzt muss ich gestehen, ich kannte diese Black-Face-Geschichte gar nicht, die hab ich erst danach erfahren.« AFROTAK TV cyberNomads. Black German Media Database o. J. 689 Beispielsweise gründete die Aktivistin und Künstlerin Noah Sow 2001 mit Der braune Mob e. V. die erste antirassistische Media-Watch-Organisation in Deutschland. Die Webseite bietet Kampagnen und Interventionen gegen Rassismus in Alltag und Medien eine Plattform, verlinkt Bildungsmaterialien gegen Rassismus und für diskriminierungsfreie Sprache. 2008, also etwa in dem Zeitraum, in dem Wallraff für Schwarz auf Weiß unterwegs war, publizierte Sow ihr vielbeachtetes Buch Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus. In diesem forderte sie von weißen Leser_innen wie mir, ein sich mit eigenen verinnerlichten Rassismen, respektive den Privilegien, die mit der Zugehörigkeit zur Dominanzkultur einhergehen, auseinanderzusetzen. Der braune Mob e. V. 2014. 690 Zur Geschichte Schwarzer in Deutschland seien hier exemplarisch genannt: Oguntoye et al. 1986. Oguntoye 2009. Massaquoi 1999. El-Tayeb 2001. 691 Bereits 1985 gründete sich die Initiative Schwarze in Deutschland (ISD) und kämpft seitdem gegen Rassismus. 692 Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen wird Wallraffs Ausspruch angeführt, dass er mit seinem Namen für den Wahrheitsgehalt seiner Arbeiten stehe. Frankfurter Allgemeine Zeitung o. A. 2012. 693 Gensing 2009.

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In ihrer Pressemitteilung zu Schwarz auf Weiß beschreiben auch die Aktivist_innen der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) Wallraffs Vorgehen als Anmaßung: »Während in der deutschen Medienlandschaft beim Thema Rassismus bislang vermeintlich wohlmeinende weiße Mehrheitsdeutsche als inadäquate Stellvertreter für Menschen mit Rassismuserfahrung sprechen, geht Wallraff noch einen Schritt weiter und schlüpft gleich selber in die Rolle der Menschen, die den alltäglichen Rassismus erfahren.«694

Die Frage, die Kalu treffend auf die Formel wer wen wie darstellen darf bringt, ist daher von großer politischer Brisanz.695 Zudem bezeichnen die Aktivist_innen der ISD den Film als »Klamauk«, der den »tatsächlich vorhandenen, insbesondere strukturellen, Rassismus in der bundesdeutschen Gesellschaft« verharmlose.696 Sie fordern, Rassismus unter der »diskursiven Teilhabe« von Menschen mit Rassismuserfahrungen zu verhandeln, denn, so die ISD: »Es geht um die Definitionsmacht, es geht um Repräsentation, es geht um Expertise und es geht um deutlich mehr als die Spitze des rassistischen Eisbergs, die sich in verbalen und physischen Aggressionen offenbart.« Auf diese zentralen Kritikpunkte werde ich in diesem Kapitel eingehen. Wie wird Rassismus im Film definiert, wie und wo wird er verortet? Hierzu werde ich mich zum einen mit den Reaktionen beschäftigen, die Wallraff/Ogonno in seiner Rolle entgegengebracht werden. Eng damit verknüpft ist zum anderen die Frage, wie Wallraff seine Rolle angelegt und ausgestaltet hat. Was für ein Bild von Schwarzen Menschen (re-)produziert er dabei? Auch werde ich diejenigen Sequenzen betrachten, in denen Wallraff sich auf eine Metaebene begibt. Wiederholt wird er beim (Ab-)Schminken, quasi beim »(un-)doing race«, gezeigt. In diesen Momenten reflektiert er über seine Maskerade, seine Vorannahmen und kommentiert er seine in der Rolle gemachten Erfahrungen. Auf die Frage, ob und inwieweit hier seine Privilegien, die er als weißer Mann, Inhaber eines deutschen Passes und bekannter Journalist innehat, verhandelt werden, komme ich zu sprechen. Zudem werde ich auf das Spannungsfeld eingehen, das entstehen muss, wenn der Imitator denjenigen begegnet, die er mit seiner Performance zu verkörpern und über deren Erfahrungen mit Rassismus er aufzuklären trachtet: Wallraff in Blackface trifft Menschen, die tagtäglich als Schwarze in Deutschland 694 Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) 2009. 695 Auch andere Forschende, etwa Mark Terkessides, kritisieren Wallraffs »Selbstmandatierung für die schwachen Gruppen zu sprechen«. Terkessides wirft ihm »komplette Ignoranz« vor – sowohl gegenüber dem historischen »rassistische[n] Vorbild ›Blackfacing‹« als auch »der Tatsache, dass Schwarze in Deutschland sich selbst mit ihrer Geschichte und dem Rassismus in Deutschland beschäftigt haben, etwa in der Initiative Schwarzer Deutscher«. Terkessides 2012. 696 Initiative Schwarze Menschen in Deutschland 2009.

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leben. Inwiefern wird auch ihnen Screentime zugestanden, um von ihren Rassismuserfahrungen zu berichten?

Von Ali Levent bis Kwami Ogonno: Wallraffs Racial Performances Günter Wallraffs Darstellung des Kwami Ogonno ist nicht seine erste Racechange Performance. Bereits 1985 maskierte er sich in der aufsehenerregenden697 Rollenreportage Ganz Unten mit dunklen Kontaktlinsen, angeklebtem schwarzem Schnurrbart und gebrochenem Deutsch als »Türke Ali«.698 In dieser Rolle zeigt er die Ausbeutung und rassistische Diskriminierung migrantischer Arbeitskräfte durch Leiharbeitsfirmen und entsprechende Subunternehmen auf. Das Buch und ein zwei Jahre später auf dieser Basis entstandener Dokumentarfilm erlangten national wie international große Bekanntheit und lösten heftige Debatten über die gezeigten Missstände aus.699 Der Film wurde auf internationalen Festivals gefeiert. Trotz – oder gerade wegen – dieses auch kommerziellen Erfolgs wurden Buch und Film von verschiedenen Seiten heftig kritisiert. Zum einen kämpften die angeprangerten Unternehmen gegen den entstandenen Imageverlust. Der Thyssen-Konzern und eine der Leiharbeitsfirmen klagten gegen Wallraff,700 die Polizei durchsuchte sein Haus und versuchte, Filmmaterial und Tonbandmitschnitte zu beschlagnahmen.701 Infolge einer Intervention des Thyssen-Konzerns wurde schließlich gar auf eine Ausstrahlung in der ARD verzichtet.702 Zugleich gab es auch damals schon Einspruch aus den Reihen derjenigen, deren Ausbeutung und Diskriminierung im Film angeprangert wurde, von denen, für die Wallraff mit seinen Aktionen sprechen wollte: Die Kritik seines Mitarbeiters Levent Sinirliog˘lu, der Wallraff seine Papiere zur Verfügung gestellt und dem des Türkischen unkundigen Journalisten die für sein Vorhaben notwendigen Kontakte vermittelt hatte, sorgte für Schlagzeilen. Sinirliog˘lu kritisierte in einem Interview mit dem Spiegel jedoch weniger Buch und Film als Resultate der gemeinsamen Arbeit, als deren Entstehungsbedingungen sowie Wallraffs Verhalten nach der erfolgreichen Veröffentlichung: Er »werfe dem Schriftsteller Wallraff gar nichts vor. Ich greife die Institution Wallraff an. Das ist der Punkt. Nach dem Erfolg des Buches habe ich Wallraff nur noch als Insti697 Das Buch wurde in 35 Sprachen übersetzt und erreichte eine weltweite Auflage von 10 Millionen Kopien. Vgl. Eriksson 2012, S. 3. 698 Wallraff 1985. Zudem entstand der Film Ganz unten (R: Jörg Gförer, D 1986). 699 Vgl. Sitte 1986, S. 355. 700 Sonnenschein 1986. 701 DPA o. A., 1986. 702 Vgl. Kleinert 2005.

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tution erlebt, die sich vor ihrer politischen Verantwortung davonstehlen wollte und mit den engsten Mitarbeitern ein übles Spiel trieb.«703

Wallraff präsentiere sich, so Sinirliog˘lu weiter, »in der Öffentlichkeit als ein Verfechter der Gleichheit und Demokratie, aber ungleicher und undemokratischer als er kann man seine Mitarbeiter nicht behandeln. Er verdiente mit seinem Buch über acht Millionen, wir wurden zur Verwendung des Geldes nicht befragt. Und die Bezahlung seiner Leute regelte Wallraff wie jeder andere Chef, der billig davonkommen will.«704 Sinirliog˘lu zieht das ernüchternde Resümee, dass Wallraff »durch sein ganzes Verhalten nach dem Erscheinen des Buches den Türken die selbständige Vertretung ihrer Interessen eher erschwert« habe, da er sich selbst in den Mittelpunkt gestellt hat, anstatt mit türkischen Kolleg_innen gemeinsame Strategien zu entwickeln, die »entstandene Solidarität [zu nutzen,] um z. B. über den Zusammenhang von Ausländergesetz und Schwarzarbeit aufzuklären und die ungerechten Bestimmungen abzuschaffen«.705 Statt inhaltlicher Diskussionen habe er bei Veranstaltungen eher »Fanfragen« beantwortet. Die Forderung, sich selbst zugunsten derjenigen zurückzuhalten, deren Stimmen in der zeitgenössischen Medienöffentlichkeit weit weniger zur Kenntnis genommen wurden, hätte eine Konsequenz aus Wallraffs privilegierter Sprecherposition als diskursmächtiger Journalist und Angehöriger der weißen Dominanzgesellschaft sein können – und sollen. Weit weniger Aufmerksamkeit wurden damals hingegen Fragen nach der Art und Weise der Performance selbst, ihren Effekten und Kontexten zuteil, die 20 Jahre später im Fokus der Debatte um Schwarz auf Weiß stehen sollten. Anders als im Jahr 2009 wurde 1986 nur am Rande über die Verletzung des Rechtes auf Selbstrepräsentation der Migrant_innen aus der Türkei gestritten sowie darüber, inwieweit Wallraff durch seine Performance rassistische Stereotypen fortschrieb, etwa indem er das Bild von Migrant_innen aus der Türkei als passive, hilflose Opfer reproduzierte. Blackface und seine rassistische Geschichte Die Praktik des Blackface lässt sich auf die US-amerikanischen Minstrel-Shows zurückführen, die während der Zeit der Sklaverei entstanden. Bis in die 1960er Jahre war sie zudem in Vaudeville-Revuen verbreitet.706 Wie Kalu schreibt, war die deutsche Unterhaltungskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anders als die US-amerikanische jedoch nicht von Minstrel-Shows geprägt. Bezüglich der Ursprünge stereotyper, degradierender Darstellungen Schwarzer Menschen 703 704 705 706

Wieser, Traub 1987, S. 191. Ebd. Ebd., S. 194. Vgl. Kalu 2014.

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im deutschen Film legt sie ihr Hauptaugenmerk deshalb auf die unaufgearbeitete deutsche Kolonialgeschichte. Sie schreibt: »In fact, stereotypical and degrading representations of black people existed in Germany as well, especially in film, for example in many of the adventure movies of the Weimar Republic and, even more so, in the colonial feature films of the National Socialists.«707 Auch wenn Minstrel-Shows, wie Sandrine Micoss8-Aikins feststellt, in Europa gastierten, seien es vor allem deren Werbeplakate gewesen, die herabwürdigende Bilder von Schwarzen und People of Color verbreitet haben.708 »Formen des performativen racechange, der ethnischen oder rassischen Maskierung und selbst der Adaption von US-amerikanischen Formen der Minstrelsy«, besitzen, wie auch der Filmhistoriker Tobias Nagel aufzeigt, »in Deutschland eine lange und kritisch kaum aufgearbeitete Tradition, die von Fassnachtsbräuchen über die ›Hl.-Drei-Könige‹-Verkleidung von Kindern bis zu den Karl-May-Festspielen oder den staatlichen Bühnen reicht.«709 Stehen bei Nagel Repräsentationen von »Rasse« im Kino der Weimarer Republik im Zentrum, widmet sich die Theaterwissenschaftlerin Katrin Sieg dem westdeutschen Kontext in der Zeit nach 1945. In ihrer Abhandlung Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in Western Germany untersucht sie Inszenierungen von »Rasse« als Maskerade in Film, Theater und Literatur.710 Dort geht Sieg auf die Auseinandersetzungen mit dieser Kategorie ein, die in den Kulturproduktionen der bundesrepublikanischen Neuen Linken, der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition seit den 1960er Jahren geführt wurden. Einige der aus diesen Kontexten stammenden Produktionen zeigen auf die Art und Weise, in der »foreigners and people of different races« behandelt werden, die Kläglichkeit westdeutscher Demokratisierungsbemühungen und die Hohlheit der Behauptung, das nationalsozialistische Erbe bewältigt zu haben, offenlege.711 Trotzdem lasse sich, so Siegs These, auch in antifaschistischen Thematisierungen dieser Kategorie eine gewisse Ambivalenz erkennen: »Antifascist drag, I argue, emblematizes the leftist/feminist identification with victimized, oppressed, and insurgend people, while also representing those people as devoid of subjectivity, mute, incapable of representing themselfs, and potentially hostile.«712 Wie ich weiter unten argumentiere, lassen sich solche Ambivalenzen auch in Wallraffs Racial Performences zeigen. Zwar ging es ihm erklärtermaßen darum, die Diskriminierung migrantischer Leiharbeiter_innen (Ganz unten) und 707 708 709 710 711 712

Kalu 2012a. Micoss8-Aikins 2013. Nagl 2009, S. 703. Sieg 2002. Ebd., S. 153. Ebd., S. 154.

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Schwarzer Menschen (Schwarz auf Weiß) sichtbar zu machen. Aber indem Wallraff für diese Gruppen spricht, werden sie ihres Rechts auf Selbstrepräsentation beraubt und zum Schweigen gebracht. Wallraff äußert sich anlässlich des Projekts Schwarz auf Weiß zu dieser Problematik: »Nicht, weil diese Rolle anmaßend wäre gegenüber schwarzen Migranten oder schwarzen Deutschen. Jede meiner Rollen ist auf eine bestimmte Weise anmaßend. Ohne diesen Schritt auf ›fremdes‹ Terrain, das eigene Ich zu überwinden, um ein anderer zu werden, ist meine Art der Recherche nicht möglich.«713 Wie die Kulturwissenschaftlerin Susan Gubar anmerkt, könnten auch gut gemeinte Blackface Performances nicht vermeiden, die Selbstrepräsentationsrechte Schwarzer zu verletzen. Sie bezieht sich hierbei auch auf die Debatte um den weißen Journalisten John Howard Griffin. Griffin, den auch Wallraff als Vorbild für seine Rolle als Ogonno nennt,714 bereiste schon 1959 die Südstaaten der USA als »Schwarzer«.715 Seine unter dem Titel Black like Me veröffentlichten Erfahrungen mit der rassistischen Segregation wurden zum Bestseller. Wie Gubar schreibt, war sein Vorgehen jedoch bereits damals umstritten: »However, what Griffin conceded in an afterword to his book – ›the day was past when black people wanted any advice from white man‹ – suggests, that even high minded, idealistic motivations will not save white impersonators of blackness from violating, appropriating or compromising black subjetivity in a way that will inevitably rebound against the ethical integrity of whites.«716

Trotz aller Kritik lehnen weder Kalu noch Susan Gubar Racial Performances per se ab. Denn diese könnten in einigen Fällen auch dazu dienen, die soziale Konstruiertheit der Kategorie »Rasse« sichtbar zu machen.717 Dieses Potenzial bescheinigt Caroll Campbell, Vorstandsvorsitzende des Vereins Schwarze Filmschaffende in Deutschland, auch Wallraffs Performance als Kwami Ogonno: »Was die Blackface-Sache angeht, so ist das tatsächlich ganz, ganz heikel. Aber man sollte da kein Dogma aufstellen. Für mich geht es in dem Film überhaupt nicht um Schwarze. Es geht um Weiße. Herr Wallraff ist durch die Schminke in Verbindung mit der Knopflochkamera in dem Film nur eine Projektionsfläche und kann so zeigen, wie Weiße sich verhalten. Und deshalb, finde ich, hat die Blackface-Methode in diesem Fall eine Legitimation. Der Film liefert die Chance, ein Anstoß zu sein für eine Selbstreflexion der Weißen. Wenn Herr Wallraff als Schwarzer unterwegs ist, wird umso deutlicher, dass es bei der Ausgrenzung von Schwarzen nicht um kulturelle Merkmale

713 714 715 716 717

Wallraff 2009a, S. 10. Vgl. Ebd., S. 11. Griffin 1961. Gubar 1997, S. 36. Ebd., S. 12.

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wie Werte, Religion oder Sprache geht und schon gar nicht um Persönlichkeitsmerkmale, sondern allein um die Hautfarbe.«718

Aber geht es im Film wirklich nur um Weiße? Ist die Ogonno-Figur, gleich einem unbeschriebenen Blatt, einzig mit der Eigenschaft versehen, eine Projektionsfläche für weißen Rassismus zu sein? Wo bleibt in dieser Setzung Wallraffs (inter-)aktiver Part? Wie gestaltet er die Rolle aus und welche Konzeptionen von Schwarzsein, Weißsein und Rassismus selbst schlagen sich darin nieder?

Aufbau und Struktur In der Exposition des Films werden das Thema und Wallraffs Versuchsanordnung vorgestellt. Bereits der Vorspann setzt mit einer besonders drastischen Szene ein, die – wohl ob ihrer Eindeutigkeit – an späterer Stelle des Films wiederholt wird. Aus Wallraff/Ogonnos subjektiver Perspektive ist zu sehen, wie er – und mit ihm die Zuschauenden – aus einer Gruppe junger weißer Männer heraus rassistisch beleidigt wird. Der Vorfall ereignet sich vor einem Nachtclub. Hier hat sich eine wahrscheinlich auf Einlass wartende Menschenmenge versammelt. Aus dem Off hört man Wallraff/Ogonno fragen, warum er hier nicht rein könne. »Afrika für Affen, Europa für Weiße«,719 entgegnet ihm ein Mittzwanziger, der gängigen Neonaziklischees entsprechend Glatze und olivgrüne Bomberjacke trägt. In der nächsten Sequenz läuft Wallraff/Ogonno das erste Mal in Blackface ins Bild. In der Rückenansicht fallen besonders die Lockenperücke und seine angemalten Hände auf. Das Thema des Films ist hiermit gesetzt. Im Anschluss wird das Motiv der Reise eingeführt: Unterlegt mit der Titelmelodie folgen aus einem fahrenden Auto heraus gedrehte Aufnahmen des vom Filmplakat bekannten blühenden Rapsfelds, auf welches Filmtitel und Credits geblendet werden, danach Stadtansichten. Die erste Sequenz des eigentlichen Films ist Wallraffs Racial Performance selbst gewidmet: Er wir dabei gezeigt, wie er sich mit Schminke, Perücke und Kostüm in die Figur Kwami Ogonno verwandelt.720 Während er sein Vorhaben erläutert, sieht man in einer Nahaufnahme, wie sein Gesicht zum Schminken vorbereitet wird. Die Hand der Maskenbildnerin tupft es mit einem Kleenex ab. Es folgt eine Detailaufnahme des Apparats, mit dem die Maskenbildnerin gleich die Farbe auf sein Gesicht sprühen wird. Mit lautem Surren setzt er sich in Bewegung. Bereits hier lassen sich zwei unterschiedliche Typen von Sequenzen erkennen, die sich zum einen als versteckte teilnehmende Beobachtungen, zum anderen als 718 Büscher, Wahba 2009. 719 Schwarz auf Weiß, TC: 01:23ff. 720 Ebd., TC: 02:28ff.

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Reflexionen über diese und ihre Entstehungsbedingungen charakterisieren lassen. Zu ersteren zähle ich all jene Sequenzen, in denen Wallraff in der Rolle des Kwami Ogonno agiert. Diese versteckten teilnehmenden Beobachtungen lassen sich mit dem Dokumentarfilmtheoretiker Nichols dem participatory mode zurechnen.721 Zur zweiten Kategorie gehören alle Szenen, in denen diese Diegese in der Diegese verlassen wird. Hier begibt sich der filmische Diskurs auf eine Metaebene, zeigt Wallraff in der Maske beim An- und Abschminken, lässt ihn über seine in Blackface gesammelten Erfahrungen sinnieren. Hierzu gehören auch die wiederkehrenden, wohl aus seinem Tourbus heraus gedrehten Reisesequenzen. Zu Jazzmusik sieht man verschiedene deutsche Landschaften vorbeiziehen. Die Szenen, in denen ein Blick hinter die Kulissen unternommen wird, lassen sich dem Modus des Dokumentarischen zuordnen, den Nichols als reflexive mode722 bezeichnet. Denn ansatzweise kommen hier die Entstehungsbedingungen sowie konzeptionelle Überlegungen zur Sprache. Wallraffs einjährige Reise ist in mehrere lose thematisch miteinander verknüpfte Episoden untergliedert, die ihn meist in große Städte wie den Berliner Ostteil, Magdeburg, Köln oder Düsseldorf, aber auch in ländliche Gemeinden wie das brandenburgische Turnow führen. Der Handlungsort wird zu Beginn der jeweiligen Episode als Untertitel eingeblendet. Regionale Schwerpunkt bilden Nordrhein-Westfalen, wo sich 8 Episoden ereignen, sowie die ostdeutschen Bundesländer mit 10 Episoden. Während sich zwei der Szenen in Bayern ereignen, fehlen die nördlichen Bundesländer Hamburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. Dennoch trägt die Auswahl der Schauplätze dazu bei, den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Zurückweisung, die Wallraff/Ogonno entgegenschlägt, ein bundesweit verbreitetes Phänomen ist. Fast alle Episoden behandeln den Bereich der Freizeitgestaltung. In Blackface nimmt Wallraff/Ogonno an verschiedenen Aktivitäten wie einer Bootsfahrt in Görlitz teil,723 scheitert dabei, sich einer Gummersbacher Seniorenwandergruppe anzuschließen,724 einen dauerhaften Campingstellplatz im Teutoburger Wald zu bekommen,725 Mitglied im Kölner Polizei- und Schutzhundverein zu werden726 oder mit Volksfestbesucherinnen in Halle (Saale)727 und Magdeburg728 zu schunkeln. Wiederholt werden auch seine meist erfolglosen Versuche gezeigt,

721 722 723 724 725 726 727 728

Vgl. Nichols 2010, S. 179ff. Vgl. Ebd., S. 194ff. Schwarz auf Weiß, TC: 05:26f. Ebd., TC: 15:50f. Ebd., TC: 30:08f. Ebd., TC: 48:52ff. Ebd., TC: 20:37ff. Ebd., TC: 22:05ff.

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Einlass in verschiedene Bars und Diskotheken zu finden.729 In einer Sequenz wird der in Institutionen grassierende Rassismus in den Blick genommen. Beim Versuch, sich nach den Konditionen für den Erwerb eines Jagdscheins zu erkundigen, droht der zuständige Behördenmitarbeiter ihm und seinem nichtweißen Begleiter gar mit der Polizei.730 Deutlich weniger Screentime ist existentiellen Unternehmungen wie der Arbeits- oder Wohnungssuche gewidmet.

Wallraff/Ogonno auf einem Volksfest

In den meisten der Episoden schlägt Wallraff/Ogonno die Ablehnung der anwesenden, allesamt weißen Passant_innen, Türstehern, Verkäufer_innen und sonstigen Ansprechpartner_innen entgegen. An manchen Stellen wird es gar gefährlich, wenn etwa der Verkleidete in einen Fan-Zug des für die extrem rechten Tendenzen seiner Anhängerschaft berüchtigten FC Dynamo Dresden steigt, dort rassistisch beschimpft und handgreiflich bedroht wird.731 All diese Reaktionen hält Wallraff/Ogonno mit einer versteckten Knopflochkamera fest, deren Installation bereits in einer der ersten Sequenzen in Szene gesetzt wurde.732 In einigen Szenen tritt Wallraff gemeinsam mit Schwarzen auf. Auf ihre Funktion werde ich weiter unten gesondert eingehen. Zusätzlich wird er von seinem Team begleitet, das seine Aktionen aus einem gewissen Abstand mit kleinen Handkameras filmt. In seinem Audiokommentar beschreibt Regisseur Pagonis Pagonakis diese Versuchsanordnung: 729 730 731 732

Ebd., TC: 1:15:38. Ebd., TC: 1:06:42ff. Zu Dynamo Dresden vgl.: Daniel 2013. Schwarz auf Weiß, TC: 08:25.

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»Günter Wallraff trug immer ’ne Kamera im Kopfloch, sodass er ’nen subjektiven Blick filmte, während um ihn herum mehrere Leute waren, meistens Susanne Jäger, meine Co-Regisseurin und ich, zum Teil aber noch andere Kameramänner, die ihn aus der Ferne beobachtet haben. Selbst waren wir als Touristen getarnt, die in der Gegend herumfilmen, um so das Geschehen möglichst nicht durch unsere Kameras zu beeinflussen, sondern eben aus der Ferne zu beobachten.«733

Um herauszuarbeiten, dass die ihm entgegenschlagende Ablehnung auf seine Verkleidung zurückzuführen ist, begeben sich weiße Teammitglieder außerdem, nun ebenfalls mit versteckten Kameras ausgestattet, kurz nach Wallraff/Ogonno in dieselben Situationen oder sind dort – undercover – ebenfalls anwesend.734 Im Gegensatz zu ihm werden sie von den weißen Personen, die dem Verkleideten mit einer Mischung aus Ablehnung und Misstrauen begegnen, nicht nur sehr zuvorkommend behandelt: Auf Nachfrage durch die weißen Teammitglieder beklagen sich die Brandenburger Schmuckverkäuferin, der Campingplatzwart aus dem Teutoburger Wald und die Kölner Vermieterin bei diesen gar über die Begegnung mit Wallraff/Ogonno und lassen dabei ihren rassistischen Ressentiments freien Lauf. Pagonakis erinnert sich an diese Begegnungen: »So haben wir es dann zum Prinzip gemacht, in vielen Szenen nachher als Weiße zu kommen und wir waren ganz erstaunt, dass die Menschen sofort lossprudelten. Sie haben uns als Kollegen gesehen, denen man sich sofort anvertrauen konnte. Vielleicht wollte man auch ein bisschen schlechtes Gewissen entlasten und da musste man gar nicht so groß nachfragen. Die sprudelten einfach über und suchten sicherlich auch Bestätigung für ihre Haltung.«735

Das von Wallraff und seinen Teammitgliedern mit versteckten Kameras gedrehte Material prägt auch auf visueller Ebene den Stil des Films. Die oft ruckartigen, ungefederten Bewegungen der entfesselten Knopfloch- und Brillenkameras machen die Bewegungen und Schritte ihrer Träger_innen spürbar. Der subjektive Blick durch Wallraffs Kopfloch wirft die Zuschauenden mitten ins Geschehen. Besonders in Menschenmengen ist die Orientierung geradezu unmöglich. Manchmal ist die Sicht durch auf Brusthöhe getragene Biergläser oder andere Gegenstände versperrt. In anderen Szenen irritieren extreme Blickwinkel – etwa wenn der Kamerablick gegen eine Bürodecke gerichtet ist – und damit einhergehend eine unausgewogene Kadrage des Bildes die Sehgewohnheiten. Die oftmals grobkörnige Bildqualität, die Unschärfe der Aufnahmen und die matte, blaustichige Farbgebung erinnern an Überwachungskameras. Der Stil, 733 Ebd. (Audiokommentar), TC: 08:25. 734 Ebenfalls im Audiokommentar der DVD beschreibt Wallraff, dass Pagonakis in diesen Situationen meist eine Brillenkamera getragen habe, weswegen er seinen Kopf immer so langsam wie möglich habe bewegen müssen. Ebd. (Audiokommentar), TC: 45:13. 735 Ebd. (Audiokommentar), TC: 34:01.

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den Rezensent Andrian Kreye als »zu einer Art visuellem Schleudertrauma führ[end]«736 charakterisiert, ist nicht nur den technischen Gegebenheiten geschuldet, sondern verweist permanent auf die Versuchsanordnung. Zu dieser Inszenierung des Authentischen tragen auch die in vielen Sequenzen aus rechtlichen Gründen unkenntlich gemachten Gesichter der Passant_innen bei, die an boulevardeske Nachrichtensendungen oder Reality-TV-Formate erinnern.

»Der Schwarze Fremde«: Wallraffs Rassismusbegriff Zu Beginn des Films formuliert Wallraff sein Erkenntnisinteresse: »Ich bin Schwarzer, weil das sind diejenigen, die am meisten auf Ablehnung stoßen.«737 Während er diese Sätze spricht, wird gezeigt, wie er sich in Gegenwart des Schwarzen Aktivisten Mouctar Bah, auf dessen Funktion in Wallraffs Versuchsaufbau ich noch zusprechen kommen werde, für seine Rolle zurechtmachen lässt. Als Wallraff diese Aussage über Schwarze Menschen und ihre Erfahrungen – und somit über diejenigen seines Gegenüber – trifft, verharrt die Kamera lange auf Bars Gesicht, wartet auf eine Reaktion, erntet nachdenkliches Schweigen. Wallraff fährt fort: »Aber es geht nicht allein um die Reaktionen auf den Schwarzen. Die Rolle mache ich, es ist die Situation des Fremden. Jede Gesellschaft lässt sich daran messen, wie sie auf Fremde reagiert.«738 Wie zur Bestätigung seiner Worte wird nun gezeigt, wie er sein Vorhaben in die Tat umsetzt. Die Maskenbildnerin beginnt nun unter Bahs skeptischen Blicken, dunkelbraune Farbe auf sein Gesicht zu sprühen. Um etwas über Reaktionen auf »Fremde« zu erfahren, will Wallraff also zum »Schwarzen« werden: Entsprechend lautet auch der Titel des dieser Reportage gewidmeten Buchkapitels Schwarz auf weiß. Fremd unter Deutschen. Über diesen Parallelismus konstruiert er »Schwarz« und »fremd« auf der einen sowie »weiß« und »deutsch« auf der anderen Seite als unvereinbare Gegensätze. Beide Begriffspaare werden dabei sowohl zur konzeptionellen Setzung als auch zum resignierten Fazit erhoben. Eine Setzung, der zufolge die Hautfarbe, nicht etwa der Grad an persönlicher Bekanntschaft, als Marker für Fremdheit fungiert.739 Indem entlang des Pigmentierungsgrads über Zugehörigkeit entschieden wird, werden Schwarze als Fremdkörper in einer als homogen weiß konstruierten Gesellschaft imaginiert. Fremdheit als eine »substanzielle Kategorie« zu be736 737 738 739

Kreye 2012. Schwarz auf Weiß, TC: 02:29f. Ebd., TC: 02:51ff. Vgl. dazu: C ¸ etin, Stegmann 2013.

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trachten, entspricht, wie Mark Terkessidis feststellt, dem »Alltagsdiskurs der Bundesrepublik« seit den 1990er Jahren. In diesem werde ein »Unterschied zwischen ›uns‹ und ›ihnen‹, der als biologisch und kulturell fundiert betrachtet wird, also als Ding und nicht als Beziehung« behauptet.740 Diese Trennung zwischen einem imaginierten Wir und Ihr bezeichnet Terkessidis an anderer Stelle als »grundlegend für Rassismus«.741 Dies bestätigt auch die Rassismusforscherin Susan Arndt: »Als fremd erscheinen sie [potenziell von Rassismus Betroffene, JS] allein jenen, die eine klare Vorstellung vom Eigenen haben und davon, dass etwa Deutschsein und Schwarzsein unvereinbar seien. Damit wird ›fremd‹ zur gefährlichen Kategorie, weil sie das Denken aufgreift, dass Menschen, die als ›fremd‹ bezeichnet werden, tatsächlich Fremde seien.« Entsprechend reproduziere »der Begriff ›Fremdenfeindlichkeit‹ […] rassistische Logiken, die in vereinfachten Lösungsansätzen münden, wie etwa dass es ausreiche, ›Fremde‹ besser zu verstehen und ihnen gegenüber mehr Toleranz auszuüben«.742

Diese rassistischen Logiken lassen sich auch an weiteren Stellen in Buch und Film aufzeigen. So fragt sich Wallraff, immer noch in der Maske, ob er nicht vom Ergebnis seines Selbstversuchs »auch angenehm überrascht« sein könnte: »Ich würde mich ja freuen, ich könnte sagen, wir sind ein unheimlich ausländerfreundliches, tolerantes Land.«743 Indem er die Hautfarbe auch hier zum Marker für (nationale) Zugehörigkeit erhebt, erscheinen Schwarze in seiner Rede erneut als Andere. Zwar sollen sie »ausländerfreundlich« behandelt und toleriert werden, sind aber aus einem nationalen Wir ausgeschlossen, das im Umkehrschluss als weiß impliziert wird. Diese Setzung schwingt, wie Delina Binaj herausarbeitet, auch im Begriff der Toleranz mit, der sich vom lateinischen tolerare herleitet, was mit »erdulden, ertragen, aushalten« übersetzt wird. Im hegemonialen Verständnis bezeichne der Begriff »als Norm des Zusammenlebens das abstrakte Recht auf unterschiedliche Identitäten, Einstellung und Lebenspraktiken« und »beansprucht die Regulierung der Ko-Existenz von Gruppen mit unterschiedlichen Identitäten, Einstellungen und Praktiken«.744 Die Einteilung in eine tolerierende und eine zu tolerierende Gruppe erfolge entlang einer nicht benannten Norm und spiegele dabei gesellschaftliche Machtverhältnisse: »›Toleranz‹ wird immer nur aus der dominanten Position auf marginalisierte und diskriminierte Positionen bezogen.« Entsprechend sei Toleranz kein Verhältnis, das zwischen gleichberechtigten Akteur_innen auf Augenhöhe stattfinde, 740 741 742 743 744

Terkessidis 2004, S. 45. Terkessidis 2012. Arndt 2012, S. 32. Vgl. auch C ¸ etin, Stegmann (2013). Schwarz auf Weiß, TC: 03:38. Binaj 2010, S. 372.

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»sondern zementiert ein Verhältnis der Ungleichheit unter einem pseudoliberalen, eben toleranten Deckmantel, und verschleiert die diesem Verhältnis zugrunde liegende Strukturen der Macht«.745 Der filmische Diskurs in seiner Gesamtheit aus Bildern und Tönen beschränkt sich darauf, die Ogonno von vielen Einzelpersonen entgegengebrachte Intoleranz – mit Binaj verstanden als ein Nichtertragen – zu skandalisieren. Die diesem Verhalten zugrunde liegenden rassistischen Annahmen, Wissens- und Machtstrukturen, die in die Institutionen und Strukturen dieser Gesellschaft eingeschrieben sind, werden nicht thematisiert. So ist es eigentlich nur konsequent, dass der Begriff Rassismus im Film nicht verwendet wird. Schließlich geht es bei diesem um mehr als die Vorurteile einzelner Personen. Wie Rommelspacher ausführt, ist Rassismus »immer ein gesellschaftliches Verhältnis«, bei dem es »um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien« geht.746 Auch im Buch taucht Rassismus lediglich als Synonym für Fremdenfeindlichkeit auf.747 Auch wenn im Film immer wieder vorgeführt wird, wie viel höflicher das weiße Kamerateam im Gegensatz zu Wallraff/Ogonno behandelt wird, bleibt also das Projekt Schwarz auf Weiß in einer rassistischen Logik verhaftet. So wird etwa die Weigerung der Verkäuferin, Wallraff/Ogonno eine teure Uhr in die Hand zu geben, die sie einem weißen Teammitglied wenig später ohne zu zögern aushändigt,748 zwar durch Detailaufnahmen der jeweiligen Hände skandalisiert, im Buch als »Fremdenfurcht« klassifiziert.749 Doch hat das, was Wallraff/Ogonno entgegenschlägt, weder etwas mit dem Besitz eines deutschen Passes – ich wage zu bezweifeln, dass es einer weißen Belgierin passieren würde – noch mit dem Grad an persönlicher Bekanntschaft zu tun. Entsprechend listet es Noah Sow als eines der zahlreichen Privilegien, die »weiße Deutsche von Geburt an innehaben« auf, »nicht automatisch als ›fremd‹ betrachtet zu werden«.750 Die Gleichsetzung von Deutschsein mit Weißsein wird auch auf der Bildebene vollzogen. Mit Ausnahme der Schwarzen, die Wallraff in einigen Episoden be745 Ebd. 746 Rommelspacher 2009, S. 29. 747 Dort heißt es etwa: »Der altbackene Rassismus spricht dem Fremden ganz generell die Menschenwürde und das Existenzrecht ab, und ganz handgreiflich dann, wenn der Fremde sich ins Hoheitsgebiet des Weißen wagt. Der moderne Rassist behandelt den Fremden anders. Er erkennt dessen Menschenwürde und Existenzrecht abstrakt an, solange er auf Distanz bleibt. Aber im eigenen Dunstkreis wird der Fremde immer noch unwürdig behandelt. Der Unterschied ist nicht nur theoretischer sondern auch handgreiflicher Natur […], wenn auch, wie ich zugeben muss, die Übergänge fließend sind.« Wallraff 2009a, S. 29. 748 Schwarz auf Weiß, TC: 52:40. 749 »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau schon einmal Erfahrungen – gar schlechte – mit schwarzen Kunden gemacht hat. Aber Fremdenfurcht, genau wie Antisemitismus, hat ja auch nichts mit realen Erfahrungen zu tun, sie tritt sogar umso häufiger auf, je seltener Menschen Fremden begegnen.« Wallraff 2009a, S. 14. 750 Sow 2009, S. 14.

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gleiten, tauchen im ganzen Film kaum potenziell von Rassismus Betroffenen Menschen als Passant_innen auf. Dadurch wird die Realität der Einwanderungsgesellschaft ausgeblendet: Deutschland wird als weißes Land dargestellt. Durch diese Gleichsetzung von Schwarzsein und Fremdsein sowie Weißsein und Deutschsein reproduziert der Film – wenn auch ungewollt – rassistische Logiken. Wie ich im Anschluss zeige, werden diese durch Wallraffs Konzeption und Ausgestaltung der Figur Ogonno noch weiter verfestigt.

Weiße Blicke und Perspektivierungen: Die Versuchsanordnung Campbell ist zuzustimmen, dass der Film an einigen Stellen Ansatzpunkte für weiße Selbstreflexion bietet. Diese sind etwa in Momenten zu finden, in denen weiße Zuschauende wie ich selbst aus der subjektiven Perspektive Wallraff/ Ogonnos mit rassistischen Blicken, Beschimpfungen und Bedrohungen konfrontiert werden.751 Es sind Momente, die das Potenzial haben, weißen Zuschauenden – wenn auch aus der Sicherheit des Kinosessels heraus – einen Hauch rassistischer Bedrohung zu vermitteln und Reflexionen über diese für Weiße außergewöhnliche Situation auszulösen. So betont Campbell, dass beim Anti-Schwarzen-Rassismus vor allem die Hautfarbe ausschlaggebend dafür ist, ob die weiße Dominanzgesellschaft jemandem gleiche Rechte gewährt oder abspricht und letzteres auch gewaltsam in die Tat umgesetzt wird. Vielleicht kann der subjektive Kamerablick weißen Zuschauenden hier die Erkenntnis vermitteln, im Alltag solchen rassistischen Nötigungen eben nicht ausgesetzt zu sein, in vergleichbaren Situationen die Wahl zu haben, einzugreifen und sich an der Seite der bedrohten Person selbst der drohenden Gefahr auszusetzen oder sich einfach herauszuhalten und – wie es Sow in ihrer Liste weißer Privilegien aufführt – öffentlich anonym bleiben zu können.752 Dass Weißsein selbst meist als unhinterfragte Norm gelte und erst in Abgrenzung zum rassifizierten Anderen überhaupt in Erscheinung trete, beschrieb der Filmwissenschaftler Dyer bereits 1988.753 Entsprechend existiert im Film nicht nur der diegetische weiße, rassifizierenden Blick der Passant_innen, der in der beschriebenen Versuchsanordnung die Figur und mit ihr die Zuschauenden trifft. Gleichzeitig gibt es – ebenfalls innerhalb der Diegese der Versuchsanordnung – den Kamerablick des weißen Filmteams auf Wallraff/Ogonno, der die Figur und ihre Aktionen von außen in den Blick nimmt. Auf einer Metaebene gibt es zudem Wallraffs Vorstellungen 751 Vgl. Schwarz auf Weiß, TC: 00:44ff. 752 Vgl. Sow 2009, S. 34. Röggla 2012, S. 61. 753 Dyer 1988, S. 44–65.

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von der Rolle, die sich in der Konzeption der Versuchsanordnung inklusive der Figur samt deren Hintergrundgeschichte, deren konkreter Ausgestaltung sich innerhalb der Diegese in der Kostümierung und nicht zuletzt in Wallraffs situativem Agieren als Ogonno niederschlägt. Entsprechend ist auch Wallraffs Blackface Performance selbst und nicht nur die von dieser ausgelösten Reaktionen der weißen Passant_innen Bestandteil des Films, der damit nicht nur ein Film über Weiße sondern auch ein Film über weiße Vorstellungen und Projektionen von Schwarzen ist.

»Kein Provokateur, kein Borat«? Die Ausgestaltung der Ogonno-Figur Nach eigenen Aussagen will Wallraff der Frage nach Qualität und Quantität gegen Schwarze gerichteter Diskriminierungen auf den Grund gehen, indem er die Probe auf ’s Exempel macht, ob er – auch in Blackface immer noch derselbe Mensch – nun anders behandelt werde. In seine Worten: »Aber das Verrückte ist, dass es in einer Gesellschaft, die Vorurteile gegen Fremde hat, mehr aufschreckt, wenn gerade einer der ihren sagt: Seht mal her, es ist nur die Hautfarbe.«754 In der Öffentlichkeit als Schwarzer durchzugehen – zu passieren – ist damit Voraussetzung für das Gelingen des Projekts. Das Konzept des Passing bezeichnet das Unterlaufen wirkungsmächtiger Kategorien wie »Rasse« Geschlecht und Klasse, die uns entlang kulturell codierter Zeichen wie Sprache, Kleidung, Haut- oder Haarfarbe zugeschrieben werden. Aischa Ahmed bezeichnet Passing als »Wechsel des Repräsentationsregimes oder Ausbruch aus demselben«.755 Gubar führt aus, dass Kategorien wie »Rasse«, Klasse und Gender beim Passing gleichzeitig bestätigt und unterlaufen werden.756 Im Folgenden möchte ich Wallraffs Kostümierung und sein Auftreten als Ogonno genauer betrachten. Mit welchen Zeichen und Attributen rassifiziert er sich als Schwarz? Auf welche Bilder und Vorstellungen, Assoziationen von Schwarzen Menschen greift er dabei zurück? Wie sind diese im Bildrepertoire einer rassistisch verfassten Gesellschaft zu verorten? Rassifizierende Zeichen: Wallraffs Blackface-Maskerade Von Anfang an sind die Zuschauenden in Wallraffs Vorhaben eingeweiht. Sie werden Zeug_innen von seinem in aller Ausführlichkeit in Szene gesetzten 754 Wallraff 2009e. 755 Ahmed bezieht sich in ihrer Studie jedoch auf Schwarze Frauen, die als weiß passieren können und untersucht, welcher Platz ihnen seitens der weißen Dominanzgesellschaft zugewiesen wird. Ahmed 2005, S. 270. 756 Gubar 1997, S. 9.

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Racechange und bekommen das zugehörige Kameraequipment präsentiert. Zudem enthält der vollständige Titel des Films – Günter Wallraff. Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland – seinen untrennbar mit der Methode der verdeckten Rollenreportage verbundenen Namen. Das Wissen, dass es sich bei Ogonno um Wallraff in Blackface handelt – das Gesicht des Prominenten dürfte auch vielen Zuschauenden bekannt sein –, verunmöglicht es mir, die Glaubwürdigkeit der Ogonno-Figur eindeutig beurteilen zu können. Jedoch scheint er in den Szenen als Schwarzer durchzugehen, die aus dem sicherlich immensen Fundus des auf der einjährigen Reise entstandenen Materials, Eingang in den knapp 90-minütigen Film gefunden haben. Auch in Interviews gibt Wallraff an, dass sogar die Schwarzen Menschen einer Münchner Unterkunft für Geflüchtete keinen Verdacht geschöpft hätten.757 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass wohl kaum jemand für sich selbst die Möglichkeit in Betracht zieht, außerhalb des Karnevals oder des katholischen Brauchs des Sternsingens758 einer Person in Blackface zu begegnen, beziehungsweise selbst in Wallraffs Rollenreportagen involviert zu werden. Dass seine Rolle nicht angezweifelt wird, beweisen nicht zuletzt die rassistischen Kommentare und Beschimpfungen, die Wallraff/Ogonno wiederholt entgegengebracht werden.759 Als erfolgreiches Passing wird auch im Film gezeigt, wie er zu Entsetzen einer uneingeweihten Schwarzen Familie abschminkt wird.760 Kritiker_innen, unter ihnen der Rassismusforscher Yonas Endrias, stellen das Gelingen von Wallraffs Passing allerdings infrage.761 Auch Rezensentin Dorothee Krings bezweifelt die Glaubwürdigkeit seiner Maskerade und stellt mit dieser auch die Rassismuserfahrungen des Wallraff/Ogonno infrage.762 Die auffällige Frisur von Wallraffs Afroperücke entspricht mit ihren schmalen 757 Büscher, Wahba 2009. 758 Beim Sternsingen ist das Kind, das den heiligen König Melchior darstellt, meist in Blackface. Für diese Hinweis Danke ich Denny C. Vgl. auch: Sohmer 2014. 759 Sein Passing und, damit verbunden, das stets drohende Risiko einer Enttarnung,werden im Film ausführlich thematisiert.Wallraff 2009a, S. 41f. 760 Schwarz auf Weiß, TC: 36:58ff. 761 Endrias äußert seine Vorbehalte in einer Diskussion mit Wallraff: Dass Wallraff die Rolle von Passant_innen abgenommen worden ist, »kann ich kaum glauben. Allein die klischeehafte Kleidung und die Afroperücke, die Sie tragen! Auf dem Filmplakat, wo Sie mit Ihrem bunt gemusterten Batikhemd in einem Rapsfeld stehen, sehen Sie aus wie eine Vogelscheuche.« Büscher, Wahba 2009. 762 »Es mag an der plumpen Art liegen, mit der sich Wallraff diesmal verwandelt hat. Dunkle Farbe und eine Karnevalsperücke ergeben eben nur einen verkleideten Weißen, keinen Schwarzen. Diese seltsam stereotype Kostümierung schürt nun die Vermutung, all die Verachtung und das Misstrauen, auf die Wallraff bei seiner Deutschlandreise gestoßen ist, seien gar nicht auf die schlummernde oder auch offene Fremdenfeindlichkeit hierzulande zurückzuführen, sondern auf unbewusstes Unbehagen gegenüber einem Mann, der suspekt erscheinen musste.« Krings 2009. Auch Kreye 2010 stellt Wallraffs Passing infrage.

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Seiten und ansonsten vollem Haar laut Mouctar Bah einer Frisur, welche »die Leute früher in Sierra Leone«763 getragen haben. Die natürlichen Haare nicht zu glätten, für viele Schwarze Menschen ein Zeichen von Stolz und Schwarzer Identität, wird bei Wallraff zum rassifizierenden Zeichen. Gängigen Stereotypen entspricht neben der Perücke vor allem das vom Filmplakat bekannte Wachsbatikhemd, das Wallraff/Ogonno in einigen Sequenzen trägt und auf das sich Endrias neben der Perücke bezieht. Dessen Muster ist auch als dutch print bekannt, wird jedoch in westlichen Modemagazinen oftmals als »african print«764 bezeichnet und – dessen Größe und kulturelle Vielfalt ignorierend – mit dem gesamten afrikanischen Kontinent assoziiert. Der soziale Status der Ogonno-Figur Neben rassifizierenden Zeichen wie Frisur, Hautfarbe und Batikhemd trägt Wallraff als Ogonno meist legere Freizeitbekleidung, kombiniert Hemd und Stoffhose, manchmal dazu eine schwarze Lederjacke. Die in einigen Episoden mitgeführten Gegenstände wie Plastiktüte und Stoffbeutel markieren die Figur als arm. Auch auf diese Accessoires und Wallraffs Alter führt Mark Terkessidis Wallraff-Ogonnos Scheitern an den Türen von Clubs mit wesentlich jüngerem Publikum zurück.765 Doch auch wenn Wallraffs Alter und die Tüte in diesen Situationen einen Rolle spielen können, ist Terkessidis hier entgegenzuhalten, dass Wallraff/Ogonno im Film deswegen zumindest niemals offen angefeindet wird. In einer der Szenen, in denen man ihm an einer Diskothekentür den Eintritt verwehrt, wird er rassistisch beschimpft, an anderer Stelle werden keine Gründe genannt. Ob hier Hautfarbe, Fantasieakzent, Alter, der soziale Status der Ogonno-Figur oder eine Kombination aus alledem ausschlaggebend für die erlittene Zurückweisung ist, wird nicht ersichtlich. Die Frage nach Zugängen wird im Film einzig und allein in Bezug auf die Kategorie »Rasse« verhandelt.766 Der 763 Schwarz auf Weiß, TC: 02:29ff. 764 Zu Geschichte und Ursprung dieser Wachsdrucktechnik vgl.: Felsenthal 2012. 765 Wallraff »steht dann als 60-jähriger Mann mit einer Plastiktüte in der Hand vor einer Diskothek und der Beweis für Diskriminierung ist dann, dass er dann nicht rein gelassen wird. Könnte aber auch daran liegen, dass er einfach ein 60-jährigen Mann mit ’ner Plastiktüte ist und deswegen nicht reingekommen ist. Was beweist das eigentlich, dieser Vorgang?« fragt Terkessides. Terkessides 2012. 766 Dass dies eine verkürzte Sicht auf Diskriminierung ist, zeigt etwa Zülfukar C ¸ etins Studie Islamophobie und Homophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin. Er arbeitet hier die Mehrdimensionalitäten, Wechselwirkungen und gegenseitigen Überlagerungen von Ungleichheit hervorbringenden Kategorien wie Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung, religiöser Hintergrund und sozialem Status heraus. »Intersektionelle Diskriminierung findet«, so C ¸ etin, »aufgrund mehrerer

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intersektionalen Verschränkung von Ungleichheit hervorbringenden Kategorien wie etwa Hautfarbe, Geschlecht, sozialer Status und den damit einhergehenden Ein- und Ausschlüssen wird im Film keine Rechnung getragen. Dabei hat deren Mehrdimensionalität zur Folge, dass »die Diskriminierungen je nach Kontext und Situation stattfinden und legitimiert werden« können und es in manchen Situationen schwierig ist, zu entscheiden, aufgrund welcher Zuschreibung eine Person in einer bestimmten Situation diskriminiert wird.767 In einer einzigen Szene, in einem teuren Düsseldorfer Schmuckgeschäft, tritt Wallraff/Orgonno im schwarzen, durch Schnitt und Passform als teuer erkennbaren Anzug auf. Dabei wird er von einer ebenfalls teuer gekleideten Schwarzen Frau begleitet. In diesem Aufzug werden die beiden sehr respektvoll bedient, was auch Wallraff selbst auf die teure Kleidung und die Professionalität der an »internationale« Kundschaft gewöhnten Fachverkäuferin zurückführt.768 Hier wird deutlich, dass neben der Hautfarbe der zugeschriebene soziale Status ausschlaggebend dafür sein kann, wie eine Person behandelt wird. Ogonno als Geflüchteter und Schwarzer Deutscher Ein weiterer Kritikpunkt, auf den Endrias hinweist, ist der Name der Figur : »Und dann der Name Ihrer Figur : Sie geben sich einen westafrikanischen Namen, Kwami Ogonno. Dann sagen Sie aber, Sie kämen aus Somalia. Dazwischen liegt ein halber Kontinent. Sie hätten besser recherchieren müssen. Herr Wallraff, Diskriminierung ist, wenn Sie Afrika wie ein Dorf behandeln und so tun, als würden wir alle die gleiche Sprache sprechen und den gleichen Namen tragen. Sie würden doch nicht einen Film über Frankreich machen und den Franzosen Wolfgang nennen.«769

Wallraff rechtfertigt die fehlenden Hintergrundinformationen und damit die dubiose lokale Verortung der Figur damit, dass er bei Ogonno wie auch bei seinen anderen Rollen meist auf eine persönliche Geschichte verzichte:770 »Ich bin einfach nur der Fremde, der schwarze Fremde.«771 Die Figur Ogonno entstammt dem luftleeren Raum. Auch aus rein praktischen Gründen verfügt sie, abgesehen von den Szenen, in denen sie sich von realen Schwarzen begleiten lässt, weder über ein Umfeld, noch über Arbeit oder einen Beruf. Sein grammatikalisch fehlerhaftes Deutsch mit Fantasieakzent dient dazu, zu markieren, dass Deutsch nicht seine Erstsprache ist.

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(zugeschriebener) Merkmale statt, die sich auch simultan gegenseitig beeinflussen und aufeinander einwirken.« C ¸ etin 2012a, S. 97. Ebd., S. 85. Schwarz auf Weiß, TC: 52:40. Büscher, Wahba 2009. Wallraff 2009a, S. 14ff. Ebd., S. 15.

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In den wenigen Momenten, in denen eine Hintergrundstory der Figur erwähnt wird, gibt sich Wallraff/Ogonno als Geflüchteter aus Somalia aus – »Somalia, Krieg, ich nicht mehr zurück« – der sich noch nicht lange in Deutschland aufhalte.772 Doch wenn Ogonno ein »Geflüchteter« sein soll, ist unklar, wieso Wallraff es unterlässt, dem Kinopublikum die prekären Bedingungen vorzuführen, denen diese zur Drehzeit in Deutschland unterworfen sind: Etwa die beengte Unterbringung in meist abgelegenen Wohnheimen, das Verbot zu arbeiten und die Auswirkungen weiterer asyl- und ausländerrechtlicher Bestimmungen.773 Gerade von der Residenzpflicht, die es Geflüchteten untersagt, den Landkreis, dem sie zugeteilt wurden, zu verlassen, wäre auch Ogonno betroffen.774 Wäre er wirklich ein Geflüchteter, so wäre es ihm – abhängig vom Stand seines jeweiligen Asylverfahrens – also nicht gestattet, kreuz und quer durch die Republik zu reisen. Auch hätte er als Asylbewerber lediglich ein Budget zur Verfügung, das unter dem Satz von Arbeitslosengeld II liegt. Wäre er etwa im brandenburgischen Landkreis Oberhavel untergebracht, hätte er gar kein Bargeld zur Verfügung und würde das zum Überleben Notwendige in Sachleistungen und Wertgutscheinen ausgegeben bekommen.775 Er hätte schlicht nicht die finanziellen Möglichkeiten für die im Film gezeigten Freizeitaktivitäten wie Bootsfahrten, Kneipen- oder Diskobesuche. Diese Art der Darstellung hat zur Folge, dass institutioneller Rassismus ausgeblendet und ein verzerrtes Bild von den Lebensrealitäten Geflüchteter entworfen wird. An manchen Stellen mimt er mit akzentfreier Sprache einen Schwarzen Deutschen, etwa bei dem Versuch, einen dauerhaften Campingstellplatz zu bekommen. »Ich war ja nicht nur der schwarze Flüchtling aus Somalia, ich war ja auch der schwarze Deutsche«, äußert sich Wallraff zur Konzeption der Figur. Indem er zwischen diesen beiden Subjektpositionen wechselt, verschwimmen sie ineinander.776 Existentielle Statusunterschiede werden nivelliert. Die Fremdheit der Figur Ogonno wird dabei auch situativ hergestellt. Immer wieder trifft er auf bereits bestehende Gruppen, Vereinsstrukturen und Gemeinschaften. Wallraff/Ogonno gibt dabei vor, deren Verhaltenscodes nicht zu kennen und hält sie entsprechend nicht ein. Der »Schwarze« erscheint hier 772 Schwarz auf Weiß, TC: 1:31:39. 773 Diese Zustände und die kolonialen Ursprünge des Gesetzes zeigt die Filmemacherin Denise Bergt-Garcia in ihrer Dokumentation Residenzpflicht (D 2012). Von dieser Regelung betroffene Aktivistinnen wie Mbolo Yufanyi berichten im Film von ihren Kämpfen gegen das rassistische Sondergesetz und weitere Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung. Erklärtes Ziel des Films ist es, die Betroffenen nicht als Opfer zu zeigen, sondern als Individuen, die um die ihnen zustehenden Menschenrechte kämpfen. Damit setzt GarciaBergt weit verbreiteten Bildern und Auffassungen etwas entgegen. 774 Vgl. Flüchtlingsrat Brandenburg o. J. 775 Paetzel 2013. 776 Wallraff (2009e) im Werkstattgespräch anlässlich der Vorführung des Dokumentarfilms.

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tatsächlich – unvertraut mit den anwesenden weißen Menschen und ihren (unausgesprochenen) Normen – als Fremder. Selbst bezeichnet Wallraff seine Performance als Ogonno als unauffällig: »Ich habe mich so verhalten wie sonst auch. Freundlich, zurückhaltend, normal. Kein Provokateur, kein Borat.«777 Doch gerade sein Verhalten wird heftig kritisiert: »Wallraff spielt seinen Kwami Ogonno derart distanzlos und plump anbiedernd, dass es selbst weißen Deutschen schwer fällt zu glauben, dass sich eine Schwarze Person so aufführen würde. Dies allein verrät mehr über Wallraffs Blick auf sein vermeintliches Objekt, als über den von Rassismus geprägten Alltag von Schwarzen Menschen in Deutschland«,

moniert die ISD.778 Auch Endrias nimmt Wallraffs/Ogonnos Gebaren als »unterschwellig aggressiv, sehr penetrant und kalt« wahr.779 Als ein Beispiel nennt er eine Szene, die sich während eines Volksfests in Halle (Saale) ereignete.780 Vor einer Festbühne stehen einige weiße Personen, ihr Durchschnittsalter liegt ungefähr bei 65 Jahren. Eine Dreiergruppe, zwei Frauen und ein Mann, haben sich eingehakt und schunkeln zum Takt eines Schlagers. Bei diesem Gespann versucht Wallraff/Ogonno nun, sich dazwischenzudrängen. Mit herrischen Gesten versucht er zuerst, die am Rand der Dreierkette befindliche Frau aufzufordern. Als diese abwehrt, versucht er es bei der in der Mitte Eingehakten. Irritiert weichen die Senior_innen von ihm zurück, mustern ihn mit skeptischen Blicken.781 Wallraff/Ogonno wiegt sich daraufhin mit starrer Miene und raumgreifenden Bewegungen allein zur Musik. Sein starrer Blick lässt ihn wirken, also ob er unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen würde. Zugleich kann sein Verhalten auch als beleidigter Trotz gedeutet werden. Endrias kritisiert die Szene im Gespräch mit Wallraff: »Wenn ich, wie Sie im Film, mit wildfremden Leuten auf einem Straßenfest schunkeln will, muss ich auch respektieren, dass das nicht geht. Das sagt mir meine soziale Kompetenz. Wenn jemand so weit in den intimen Bereich anderer Menschen eindringt, muss er sich so verhalten, dass er nicht als Bedrohung wahrgenommen wird, unabhängig davon, ob er schwarz oder weiß ist.«782

Auch in der nächsten Episode überschreitet Wallraff/Ogonno die Grenzen fremder Personen.783 Dieses Mal ist es ein Volksfest in Leipzig, auf dem er die 777 778 779 780 781 782 783

Ebd. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland 2009. Vgl. Büscher, Wahba 2009. Schwarz auf Weiß, TC: 20:37. Ebd., TC: 22:05. Büscher, Wahba 2009. Schwarz auf Weiß, TC: 22:05.

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Distanz784 zu zwei Mitfünfzigerinnen so verringert, dass diese sich schließlich einen Platz am Nebentisch suchen.785 Dennoch ist es schwer zu definieren, ob und bis zu welchem Grad die Reaktionen der Passant_innen mit Endrias als verständliche Reaktion auf aus Wallraff/Ogonnos inadäquatem Verhalten resultierende Bedrohungsgefühle zu beschreiben sind, oder ob es sich, wie der Schnitt suggeriert, um rassistische Ausschlusspraktiken handelt. Sicherlich jedoch dürfte das kollektive Repertoire an rassistischem Wissen über Schwarze Männer beim Rückzug der weißen SeniorInnen eine Rolle gespielt haben. Wallraff tritt als Schwarzer Mann auf, der auf seiner Suche nach Anschluss offensichtlich Grenzen überschreitet. Ungewollt bedient er damit gängige Stereotype von Schwarzen Männern als sexuell aggressiv.786 Auch in anderen Episoden provoziert Wallraff/Ogonno seine weißen Gegenüber, sich zu ihm zu verhalten. Die rassistischen Klischees von Schwarzen, die er dabei immer wieder aufführt, fallen auf fruchtbaren Boden, bieten die Schablonen an, entlang derer 784 Nach Ute Regina Röder beträgt die persönliche Distanz, die ein »detailliertes Feedback anhand von sensorischen Inputs« ermöglicht, zwischen 45 und 120 cm »(nah 45–75 cm, weit 75–120 cm)«. Roeder 2003, S. 46. 785 Ein Schnitt zeigt aus einer Außenperspektive, wie sich Wallraff/Ogonno, in sein exotisierendes Batikhemd gekleidet, der Festbühne nähert. Dort hat gerade eine Schlagercoverband ihren Auftritt. Nach einem Wechsel in die subjektive Perspektive der Knopflochkamera ist die Sicht von Biergläsern versperrt. Schräge Kamerawinkel festigen die Alkoholrauschassoziationen zusätzlich. Der nächste Schnitt verschafft durch einen Wechsel in die Außenperspektive räumliche Orientierung. Wallraff/Ogonno sitzt mit zwei älteren Frauen an einem Biertisch. Obwohl am Tisch viel Platz vorhanden ist – abgesehen von dem an einem Ende von Tisch und Bierbank sitzenden Frauenpaar ist alles frei –, hat er mit etwa 60 cm einen für diese Situation eindeutig zu geringen Abstand gewählt.In einem seltsamen Kontrast zu seiner Distanzlosigkeit steht, dass er nicht den Kontakt mit den beiden Frauen sucht, sondern starr geradeaus Richtung Bühne schaut. Er trinkt aus seinem Glas und bewegt seinen Kopf ruckartig zur Musik, ohne sich auf seine Sitznachbarinnen zu beziehen. Kein Lächeln, kein Blickkontakt.1 Ein Closeup der Dreiergruppe verdeutlicht die Kommunikationslosigkeit. Wohl um sein Ausgeschlossensein herauszustellen, werden nun Impressionen feiernder weißer Menschen gezeigt. Ein Mann schwenkt seine emporgehobenen Arme, Kinder tanzen. Die Perspektive wechselt nun erneut zum Blick aus der Knopflochkamera. Er hebt das Glas ins Blickfeld, um mit den Frauen anzustoßen. Doch sie schütteln den Kopf. Eine Nahaufnahme zeigt seinen frustrierten Gesichtsausdruck. Sein Make-Up wirkt scheckig. Die Band singt dazu »weil ich dich liebe«. Aus größerer Distanz sieht man, wie er weiter monoton zur Musik nickt. Er wirkt wie betrunken, in seiner eigenen Realität gefangen. Nun stehen die beiden Frauen auf und setzen sich an den Nebentisch. Aus einer Totalen sieht man beide Tische: Der eine ist nun bis auf den letzten Platz mit Weißen besetzt, am anderen sitzt Wallraff/Ogonno allein. Dazu sind Lieder von Liebe und Sehsucht zu hören, welche die Einsamkeit der Figur betonen. Dass es sich hierbei um diegetische Musik handelt, verstärkt diesen Effekt. 786 Die hier vorgeführten Eigenschaften Ogonnos finden sich etwa in der von Sow zusammengestellten Auflistung »[i]mmer wieder reproduzierte[r] Assoziationen zum Schwarzen Mann: aggressiv, sexuell überaktiv, Musik oder Sport, illegaler Einwanderer, Drogen, ungebildet, körperlich stark, polygam, schlechter Vater, Dieb, Asylbewerber«. Sow 2009, S. 159.

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sein Verhalten gedeutet wird. Doch werden diese Klischees im Film nicht als Klischees thematisiert oder auf andere Weise gebrochen, sondern immer wieder reproduziert. Zu Wallraffs Verteidigung muss allerdings hinzugefügt werden, dass es im Film auch Sequenzen gibt, in denen er sozial unauffällig agiert. In diesen Episoden, etwa bei der Wohnungsbesichtigung in Köln oder dem Versuch, einen dauerhaften Campingstellplatz im Teutoburger Wald zu bekommen, wird deutlich, dass Wallraff/Ogonno nicht wegen seines Verhaltens, sondern nur wegen seiner Hautfarbe abgelehnt wird. Diese Szenen werden von Kritiker_innen wie Krings und Endrias jedoch nicht erwähnt. Wallraff begibt sich also mit seiner Rolle in das Spannungsfeld, sich einerseits unauffällig verhalten zu müssen, um glaubwürdige Reaktionen seiner weißen Gegenüber dokumentieren zu können, andererseits aber Rassismus erklärtermaßen sichtbar machen zu wollen, um ihn zu skandalisieren. Nach den Erfahrungen auf den Volksfesten reflektiert er, noch in Maske, über das in seiner Rolle geforderte Maß an Aktivität: Als Ausgangssituation beschreibt er einen Albtraum, in dem er in ein Krokodilgehege geworfen wurde und den aggressiven Tieren nur entkommen konnte, indem er sich totstellte.787 Diesen Traum deutet er als Sinnbild für die Erfahrungen und Erfordernisse in der Ogonno-Rolle: »Und ich glaube, so fühle ich mich im Moment. Ich muss mich zurücknehmen. Ich muss mich absolut zurücknehmen. Und ich bin sonst schon eher zurückhaltend. Aber ich bin noch viel zurückhaltender, obwohl ich in der Rolle ja aktiver sein sollte.«788 Zumindest in den Volksfestszenen kann von Zurückhaltung keine Rede sein. Ina Braun merkt in ihrem Text über Wallraffs Methode an, dass bei der verdeckten teilnehmenden Beobachtung die Möglichkeit der »produktiven Provokation« bestehe, mit der man, laut Wallraff »reaktionäre Verhaltensweisen herauslockt, Widersprüche sichtbar macht und z. B. als »Menschenfreund getarnte Ausbeuter zwingt, ihr wahres Gesicht zu zeigen«.789 Tatsächlich gelingt es Wallraff an einigen Stellen, den Rassismus seiner weißen Gegenüber herauszuarbeiten. Doch wenn er dazu diejenigen rassistischen Stereotype fortschreiben muss, die ein Film zum Thema Rassismus eigentlich aufdecken sollte, zahlt er einen sehr hohen Preis dafür.

787 Schwarz auf Weiß, TC: 25:27. 788 Ebd., TC: 25:27–26:10. 789 Wallraff zit n. Braun 2007, S. 59.

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Berater_innen, Sidekicks und Zeug_innen: Die Funktion(-alisierung) Schwarzer Menschen Die Schwarzen Personen, die Wallraff in einigen Episoden begleiten, bleiben, wie auch die ISD in ihrer Pressemitteilung zum Film anmerkt, meist passiv und in einigen Fällen sogar »namenlos«. Sie bekommen, wenn überhaupt, »eine Statistenrolle zugewiesen«. Bei ihren kurzen Auftritten sprechen sie kaum. Sie fungieren, so die ISD weiter, »lediglich als authentischer Gütesiegelgeber der jeweiligen Episoden«.790 Bereits in einer der ersten Szenen lässt sich Wallraff von einen Schwarzen Mann bei der Wahl zwischen zwei Afroperücken für seine Blackface Performance beraten. Es handelt sich um Mouctar Bah, den Begründer der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh.791 Doch im Film wird Bah weder namentlich erwähnt, noch wird seine politische Arbeit vorgestellt. Dies ist umso verwunderlicher, als Wallraff gerade in Bah, der für seine Arbeit von der Internationalen Liga für Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet wurde, einen Experten vor sich hat, in dessen langjähriger politischer Arbeit Fragen nach institutionellem Rassismus eine zentrale Rolle spielen.792 Fragen, die eigentlich in einem engen Zusammenhang mit der Thematik des Films stehen.793 Im Anschluss an die Perückenwahl ist zu sehen, wie Wallraff in Bahs Anwesenheit geschminkt wird. In einer Halbtotalen wird die Versuchsanordnung präsentiert: Links im Vordergrund des Bildes sitzt Wallraff in einem grauen Schutzumhang vor einem Spiegel, die Maskenbildnerin steht auf seiner rechten Seite und bringt die Farbe auf sein Gesicht auf, in einem rechtes hinter ihr positionierten zweiten Spiegel ist auch der Kameramann zu erkennen. Bah ist schräg hinter Wallraff auf einem Sofa positioniert. Irritiert beobachtet er das Gesehen. In Nahaufnahmen wird nun wieder Wallraffs Gesicht gezeigt, das bereits eingefärbt ist. Die weiße Hand der Maskenbildnerin trägt mit einem Pinsel Farbe um seine Augen auf und zieht sein hellrosafarbenes inneres Augenlid mit 790 Initiative Schwarze Menschen in Deutschland 2009. 791 Die Initiative kämpft für die Aufklärung der Todesumstände Oury Jallohs, der 2005 an Händen und Füssen gefesselt, in Dessauer Polizeigewahrsam verbrannte. Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die auf Mord hindeuten. Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e. V. 2014. 792 Jacob 2009. 793 Zumindest im Buch werden Bahs politische Arbeit zur Aufklärung der Todesumstände Oury Jallohs erwähnt: »Mouctar Bah war ein Freund des afrikanischen Asylbewerbers Oury Jalloh, der 2005 in Dessau in einer Polizeizelle verbrannte. Angeblich hatte er sich mit einem Feuerzeug selbst angezündet – obwohl er nachweislich an Händen und Füßen gefesselt war. Mouctar Bah gründetet die Initiative ›Oury Jalloh‹, drängte mit anderen massiv auf juristische Aufklärung. 2006 verlor er seine Lizenz als Inhaber eines Internetcaf8s in Dessau, eines Treffpunkts von Afrodeutschen und schwarzen Migranten. Im Dezember wurden die wegen fahrlässiger Tötung angeklagten Polizeibeamten freigesprochen.« Wallraff 2009a, S. 24.

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einem dunkleren Stift nach.794 Wie zum Abgleich wird nun auf Bah geschnitten, dessen skeptische Blicke, ebenfalls in Nahaufnahme, in Szene gesetzt werden. Am Schluss wird Wallraff die von Bah gewählte Perücke aufgesetzt. Nun posiert Wallraff in Blackface Arm in Arm mit dem Aktivisten. Dass Bah bezüglich des Blackfacings Bedenken hatte, wird zwar im Audiokommentar erwähnt, doch wird die Szene von Pagonis Pagonakis auf eine Art und Weise kommentiert, die wenig Reflexion erkennen lässt: »Mouctar Bah, ein Menschenrechtsaktivist, der hier in Berlin lebt, den ich aus einem früheren Projekt kannte. Ich hatte ihn nicht eingeweiht, ich habe ihm nur gesagt, wir planen ein neues Filmprojekt, ich würde dich gerne besuchen. Er war ganz offen und aufgeschlossen und haben wir vor seinen Augen Günter Wallraff schwarz geschminkt, um zu sehen, wie reagiert er darauf. Er findet es als Anmaßung, dass ein Weißer versucht, nun das zu erleben, was er alltäglich erlebt. Aber er hat uns unterstützt und gesagt, er findet es eine sehr gute Idee und vielleicht schafft ihr es auf diese Weise, einem großen Publikum, einem weißen Publikum zu zeigen, was für Erfahrungen man als Schwarzer in Deutschland machen kann.«795

Ob das Schminken in Bahs Gegenwart nachgedreht wurde oder ob die Zuschauenden Zeug_innen von Bahs Überrumplung werden, kann ich nicht rekonstruieren. Fest steht nur, dass Bah im Film keinen Raum bekommt, sich selbst zur mit der Methode des Blackfacings und ihren rassistischen Konnotationen verbundenen Problematik zu äußern. Da Wallraffs Racechange mit Bildern von Bah bei der Auswahl der Perücke eingeleitet wird, suggeriert die Montage dessen mitwissendes Einverständnis. Bah wird so als Berater in die Handlung eingeführt, der scheinbar Einfluss auf und Mitsprache bei der Ausgestaltung der Figur Kwami Ogonno hatte. Die Zuschauenden, bekommen auf diese Weise das Gefühl vermittelt, dass es einen kompetenten »echten« Schwarzen gibt, der Wallraffs Maskerade billigt und das Vorgehen des Autors mit seiner Anwesenheit legitimiert. Da dies die einzige Stelle bleibt, an der eine Diskussion um die Gestaltung der Ogonno-Figur zumindest angedeutet wird, lässt sich am Film nicht beurteilen, ob und inwieweit Bah diese und das Endprodukt guthieß. In einem späteren Interview mit Arte erzählte Bah, dass er nicht dazu eingeladen gewesen sei, sich im größeren Maß im Film zu äußern.796 Bah ist noch in weiteren Sequenzen anwesend. In einer Episode begleitet er Wallraff/Ogonno bei der in diesem Fall erfolgreichen Arbeitssuche ins bran794 Schwarz auf weiß, TC: 04:03. 795 Schwarz auf weiß (Audiokommentar), TC: 03:20. 796 Auf die Frage, ob er selbst gern mehr zu Wort gekommen wäre, antwortet Bah: »Nein, ich bin nicht eingeladen worden.« Hätte er diese Möglichkeiten gehabt, hätte er das Ziel des Films, etwas zu Rassismus zu machen, erklärt. Mouctar Bah im Gespräch mit Nadja Roll. Roll 2009.

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denburgische Turnow.797 Er freut sich über die freundliche Behandlung, die ihm und Wallraff/Ogonno dort zuteil wird, empfindet diese als außergewöhnlich. Dies ist einer der wenigen Sätze, die der Aktivist im Film spricht und in denen er seine eigenen Rassismuserfahrungen zumindest indirekt thematisieren kann. Die ISD vermutet, dass Wallraff durch die Anwesenheit meist stummer Schwarzer Sidekicks »dem Vorwurf der rassistischen Maskerade oder gar dem der Provokation der jeweiligen situativen Zuspitzung entgehen [wollte]. Ein Motiv, wie es jeder mittelmäßige Buddy Movie gebraucht, der eine Nebenrolle mit einer Schwarzen Person/Person of Colour besetzt, um den weißen Protagonisten dramaturgisch als Macher und Experten in Szene zu setzen.«798

Nur in einer einzigen Sequenz bekommen Schwarze Menschen fast genau eine Minute Zeit, um von ihren Rassismuserfahrungen zu berichten.799 Um zu testen, ob es auch für eine Schwarze Familie möglich ist, im Teutoburger Wald einen dauerhaften Stellplatz für einen Campingwagen zu bekommen, lässt Wallraff sich von einer Schwarzen Frau und ihren beiden Töchtern begleiten. Er begegnet ihnen in Blackface, stellt sich als »Kwami« vor. Er erläutert ihnen den Versuchsaufbau, in dem sie alle eine Familie aus Minden seien, die sich für ein Jahr einen Stellplatz mieten wolle.800 In seine Blackface Maskerade werden die drei jedoch nicht eingeweiht. Nachdem das Vorhaben am Rassismus des Platzwarts gescheitert ist, kommentiert die Mutter das Erlebte und setzt es in den Kontext ihrer eigenen Erfahrungen: »Also für uns war das normal, dass die Weißen die Schwarzen nicht mögen.«801 In dem Glauben, in Wallraff/Ogonno jemanden mit ähnlichen Erfahrungen vor sich zu haben, vertraut auch die Teenagerin ihm an, wie sie in ihrem Alltag mit Rassismus konfrontiert wird: »Doofe Sprüche höre ich immer. Sie lachen meine Haare aus.« Sie schaut während ihrer Rede zu Boden. Auf Wallraffs/Ogonnos Nachfrage hin spezifiziert sie, dass diese Beleidigungen mehr von alten Menschen ausgehen würden. »Von Jungen höre ich nur ›N*‹ oder ›Schokolade‹. Ach nur doofe Sprüche. Die denken, ich versteh das dann nicht, weil die das nicht richtig betonen, nur so oberflächlich. Die meinen: ›Na, hat’s hier irgendwo gebrannt?‹ Ich bin dann traurig und will in mein Land gehen, da wo mich alle verstehen, wo mich alle mögen, wie ich bin.«

Nach ihrer Rede beginnt Wallraff/Ogonno sich abzuschminken. Die Szene spielt sich wie schon das vorherige Gespräch im Wohnwagen ab. In der Bildmitte 797 798 799 800 801

Schwarz auf weiß, TC: 26:22ff. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland 2009. Schwarz auf weiß, TC: 36:58–37:52. Ebd., TC: 30:07ff. Ebd., TC: 36:58ff.

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befinden sich Wallraff und die über ihn gebeugte Maskenbildnerin, die nun beginnt, ihm die Farbe aus dem Gesicht zu wischen. Die Familie ist im Vordergrund, an den Rändern des Bildes positioniert. Die Blicke von Mutter und Töchtern bilden eine Diagonale mit Wallraffs Gesicht, das sich genau im Mittelpunkt des Bildes befindet. Ihre überrascht skeptischen Gesichtsausdrücke werden nun in einer Reihen von Großaufnahmen in Szene gesetzt. Besonders das Kleinkind wirkt vollkommen entsetzt, schwankt zwischen Lachen und Weinen.802 Die Titelmusik setzt ein. Die Sequenz bricht ab, ohne dass die Überrumpelten die Möglichkeit bekommen, sich zu dem Geschehen zu äußern. In der nächsten Einstellung sieht man Wallraff/Ogonno allein mit seiner Plastiktüte in der Hand eine Straße entlanglaufen. Die beschriebene Episode empfinde ich als Vertrauensbruch den beiden Mädchen und ihrer Mutter gegenüber. Bis zum Zeitpunkt des Abschminkens waren sie nicht über die Versuchsanordnung im Bild und konnten entsprechend keine Einwilligung gegeben. Hätte die Teenagerin die erlittenen rassistischen Demütigungen vor einem weißen Filmteam preisgegeben? Oder ist Wallraffs anscheinend gelingendes Passing eine Bedingung für ihre Offenheit? Auch wenn sich die drei mit der Verwendung des Materials nachträglich einverstanden erklärt haben dürften, ist der Preis dafür, den Zuschauenden Wallraffs erfolgreiches Passing vorzuführen, wiederum sehr hoch. Schwarze Menschen treten in Schwarz auf Weiß lediglich als Randfiguren in Erscheinung. Meist stumm und passiv, bleiben sie stets Staffage, deren Anwesenheit eher dazu dient, die Authentizität der Ogonno-Figur abzusegnen, als selbst aktiv am Geschehen beteiligt zu sein. Selbst dem Aktivisten Mouctar Bah, der Wallraff/Ogonno in mehreren Episoden begleitet, kommt vor allem die Rolle zu, Wallraff beim Aussuchen der Requisiten für seine Blackface Performance zu beraten. Bahs politische Arbeit gegen institutionellen Rassismus wird im Film nicht erwähnt. Weder Bah noch die Familie bekommen die Möglichkeit, ihre Gedanken zur Konzeption des Projekts zu äußern. Nur eine einzige Minute der insgesamt fast anderthalbstündigen Screentime ist den Rassismuserfahrungen Schwarzer Menschen gewidmet. Von der seitens der ISD eingeforderten diskursiven Teilhabe der von Rassismus Betroffenen kann nicht die Rede sein.

Fazit: Die Verortung des Rassismus in Schwarz auf Weiß »Dreieinhalb positive Begegnungen gibt es in Schwarz auf Weiß – aber zur Empirie taugt der Film nicht, weil man nicht weiß, was und wie viel weggelassen 802 Ebd., TC: 38:40.

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wurde«, kritisiert Rezensent Mathias Dell.803 In der Tat hätte mehr Transparenz im Umgang mit dem Material die Aussage des Films verstärken können. In den Sequenzen, in denen Wallraff über sein Projekt reflektiert, wären Erläuterungen über die Zahl der bereisten Orte, die Auswahl und Zusammenstellung des Materials ohne Weiteres unterzubringen gewesen. Zudem sagt es mehr über die Verbreitung rassistischer Diskriminierungen aus, wenn verdeutlicht wird, dass unterschiedliche Menschen unabhängig von ihrem jeweiligen Verhalten immer wieder ähnliche Diskriminierungserfahrungen machen.804 Um Aussagen über die weite Verbreitung rassistischer Diskriminierung zu machen, hätte Wallraff mit rassismuserfahrenen Expert*innen sprechen oder zudem eine Reihe von Studien heranziehen können, die einzelne Lebensbereiche in den Blick nehmen, die teilweise auch im Film vorkommen.805 Sie fragen nach Chancengleichheit in der Bildung, auf Arbeits- und Wohnungsmarkt. Zu den im Film immer wieder auftauchenden Eingangskontrollen vor Diskotheken existieren ebenfalls Untersuchungen.806 Auch wenn weiße Teammitglieder ihre Gesprächspartner_innen immer wieder durch gezielte Nachfragen dazu animieren, ihren Rassismus unverhohlen kundzutun, bleibt Schwarz auf Weiß bei einer moralisierenden Skandalisierung individueller Äußerungen stehen.807 Ein besonderes drastisches Beispiel hierfür ist der Campingplatzwart im Teutoburger Wald. Er weigert sich, Wallraff/ Ogonno und seiner »Familie« einen dauerhaften Stellplatz zuzuweisen. Auf Nachfrage bekommt das Team zu hören: »Uns ist das ja egal, woher ich mein 803 Dell 2009. 804 Dies zeigt etwa der Film ID without Colors (R: Riccardo Valsecchi, D 2013). Die 30-minütige Dokumentation thematisiert die dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zuwiderlaufende polizeiliche Praxis, Kontrollen unabhängig vom konkreten Verhalten einer Person allein aufgrund der Hautfarbe durchzuführen. Gegliedert nach unterschiedlichen Orten, an denen sich diese rassistischen Akte des Racial Profiling gehäuft ereignen, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln, werden Betroffene zu ihren Erfahrungen befragt, Klagen und Gerichtsurteile nach dem AGG herangezogen. 805 Vgl. exemplarisch C ¸ etin 2012b. 806 Um herauszubekommen, ob »›nicht-deutsch‹ aussehende Gäste die gleichen Chancen [haben,] in die Disko zu kommen wie weiße Deutsche«, testete etwa das Antidiskriminierungsbüro Sachsen gemeinsam mit dem Referat Ausländischer Studierender der Universität Leipzig (RAS) Leipziger Diskotheken. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass man in »mehr als 50 Prozent der getesteten Diskotheken (sechs von elf)« den »›nicht-deutschen‹ Testern« den Zutritt verweigerte, »während die mehrheitsdeutschen Vergleichspersonen problemlos eingelassen wurden«. Antidiskriminierungsbüro Sachsen 2011. 807 »Moralischer Antirassismus begnügt sich vor allem damit, Rassismus als böse zu denunzieren. Es geht weder darum, die tiefe Verwurzlung und Verstrickung von Rassismus in der Gesellschaft zu thematisieren, noch um kollektive Rechte für MigrantInnen, sondern es werden die zu radikalen Auswüchse rassistischer Ideologien angeprangert. Hier wird primär Stellvertreterpolitik betrieben – rassistisch Diskriminierte kommen selbst kaum zu Wort«, schreibt Katharina Röggla. Röggla 2012, S. 23.

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Geld her kriege, aber die anderen [Campingplatzgäste, JS] laufen weg. Die haben ganz klar gesagt: ›Lässt du die Z* rein, dann sind wir weg‹.«808 Sein Rassismus trägt deutliche Elemente aus dem Repertoire des Antiziganismus, dessen Feindbildkonstrukte »faul, liederlich, parasitär« auf Ogonno und seine Schwarze Familie bezogen werden: Der Platzwart gibt zwar auf Nachfrage des weißen Teams an, keine Erfahrungen mit Schwarzen zu haben. Trotzdem meint er eines zu wissen: »Die hier wohnen, die leben alle von unserm Geld.«809 Diese Äußerung bleibt unkommentiert stehen, es wird nicht nachgefragt, woher der Platzwart dieses Wissen hat. Hier vergibt der Film die Chance, die Frage nach den Quellen rassistischer Wissensbestände zu stellen und diese etwa in medial verbreiteten Diskursen und Praxen zu verorten. Auf diesen kollektiven Vorrat an rassistischen Bildern führt Aretha Schwarzbach-Apithy das immense Ausmaß zurück, in dem weiße Deutsche die sie umgebenden weißen Machtstrukturen internalisiert haben.810 Anstatt das Gezeigte zu kontextualisieren, bleibt der Film bei einer Aneinanderreihung von Einzelbeispielen stehen. Die Wechselwirkungen zwischen Diskursen, Praxen und Repräsentation arbeitet Wallraff nicht heraus. Im Film werden, obwohl Ogonno aus Somalia geflohen sein soll, weder die Lebensbedingungen Geflüchteter thematisiert, noch nach dem kollektiven Bildrepertoire gefragt, das in Deutschland zum Thema Schwarze Menschen kursiert, noch die Rolle beleuchtet, die dem Medium Film hierbei zukommt.811 Kursierende Bilder, bei denen es sich, wie die Kunsttheoretikerin Micoss8-Aikins schreibt, sehr oft um exotisierende, rassistische Stereotype handele.812 Entsprechend kommen sowohl Sow als auch Campell zu dem ernüchternden Fazit, dass es »nur wenige deutsche Film- und Fernsehproduktionen [gibt], in denen Schwarze Menschen ganz gewöhnliche Rollen spielen. […] Schwarze werden im deutschen Film grundsätzlich instrumentalisiert und funktionalisiert. Das heißt, anders als alle Wei-

808 Schwarz auf weiß, TC: 35:20. 809 Ebd., TC: 35:28. 810 »Mitzubedenken ist gleichfalls der enorme Einfluss, den sie [weiße Deutsche, JS] über die unsäglichen Bilder des Kontinents Afrika und/oder von Schwarzen Menschen von Angehörigen ihrer Gruppe erhalten, der ihr zwar hinfälliges, aber dennoch aufgeblähtes Selbstbild ständig nährt.« Schwarzbach-Apithy 2005, S. 253. 811 Die Wirkungsmacht medialer Bilder bezüglich des Rassismus hat Patricia Birungi für den österreichischen Kontext anhand von Focus-Group-Interviews herausgearbeitet. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: »Die Bilder und die Realität gehen eine geheime Wechselwirkung ein, wobei speziell beim Image von Schwarzen davon auszugehen ist, dass das Bild dem Realen vorausgeht, da sich an der Analyse der vier Diskussionsrunden ablesen lässt, dass die Bilder über Schwarze in den Köpfen der Teilnehmer präsent sind und sie diese in die Realität – wenn auch kritisch und analysierend – übertragen und sich somit ihre Realität neu schaffen.« Birungi 2007, S. 217. 812 Vgl. Micoss8-Aikins 2013.

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Rassistische Gewalt im Film

ßen im Film sind sie nicht ›einfach da‹, sondern immer Träger der Thematisierung ihres ›anderen‹ Aussehens.«813

Trotz der sicherlich guten Absichten des Films lässt sich auch Wallraffs OgonnoFigur in diese Auflistung einfügen. Der Film (re-)produziert somit rassistische Diskurse. Insbesondere die von Wallraff verwendete Methode des Blackface ist zu sehr in rassistischen Praxen verstrickt, um dazu geeignet zu sein, Rassismen aufzuzeigen. Mit den treffenden Worten Micoss8-Aikins: »In the end, cultural producers decide which images they want to pick up. They do not decide, though, where these images come from, and how, and by whom, they are read. Blackface, in the German context, has a meaning. This meaning needs to be consciously examined and reflected upon.«814

4.6

Mo Asumang und Michel Abdollahi: Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte

Im Folgenden werde ich exkursorisch auf weitere Fernsehproduktionen eingehen, in denen sich zwei rassismuserfahrene FilmemacherInnen mit Exponenten der extremen Rechten (Im Nazidorf. R: Michel Abdollahi, NDR 2015, 30 min) und deren völkischen Zugehörigkeitskonzepten (Roots Germania. R: Mo Asumang, D 2007; Die Arier R: Mo Asumang D 2014) auseinandersetzen.815 Trotz aller methodischen, inhaltlichen und stilistischen Unterschiede verbindet die Produktionen das eigene Mitgemeintsein von den offen rassistischen Programmen der jeweiligen GesprächspartnerInnen als zentrales Moment: Vor den laufenden Kameras öffentlich-rechtlicher Sender sind die interviewten (meist männlichen) RassistInnen gezwungen, sich denjenigen gegenüber zu verhalten, deren gewaltsame Vertreibung und Vernichtung sie programmatisch fordern. In ihrer Fokussierung auf die Interaktionen zwischen Filmenden und Gefilmten lassen sich dabei sowohl Asumangs als auch Abdollahis Ansatz dem von Nichols beschriebenen participatory mode zurechnen. Bezüglich der Sprecher_innenposition unterscheiden sie sich eklatant von Günther Wallraffs Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland, in dem sich der weiße Journalist der ras813 Sow 2009, S. 159. 814 Micoss8-Aikins 2013. 815 In einer Reihe von zu verschiedenen Themen durchgeführten Straßenumfragen nimmt Michel Abdollahi den alltäglichen Rassismus sowie weitere Diskriminierungsformen in den Blick. In Ich bin Muslim, was möchten Sie wissen? (Kulturjournal NDR 2015, 05:12 min) befragt er Passant_innen nach deren antimuslimischen Wissensbeständen oder geht in Michel misst das Mitgefühl (Kulturjournal NDR 2015, 04:48 min.) dem Verhältnis zwischen Empathie und räumlicher Distanz vom Ort verschiedener Katastrophen auf den Grund.

Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte

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sistisch konnotierten Blackface Maskerade bediente, um Aussagen über die Verbreitung des alltäglichen Rassismus zu machen.816

Mo Asumangs filmische Auseinandersetzungen mit völkischen Konzepten In ihren Arbeiten Roots Germania (D 2007) und Die Arier (D 2014) konfrontiert die Filmemacherin Mo Asumang Exponenten der extremen Rechten mit sich selbst als Schwarzer Frau.817 Sie trifft unter anderen den inzwischen verstorbenen Neonazifunktionär Jürgen Rieger (Roots Germania) oder den bekennenden Rassisten Tom Metzger, Führungsfigur der US-amerikanischen White PowerBewegung (Die Arier). Ihre Sprecherinposition, ihr Mitgemeintsein von den rassistischen Programmen ihrer GesprächspartnerInnen ist für Asumang Thema und Ausgangspunkt ihrer Filme: »Mo Asumang hat mit Roots Germania eine Art der öffentlichen Selbstäußerung vorgelegt, die einen widerständigen Umgang mit dem eigenen Erleben rassistischer, rechtsextremistischer Gewalt markiert. Perspektiven von in Deutschland lebenden Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund/Schwarzen Deutschen/Menschen of Color sind in Mediendarstellungen immer noch unterrepräsentiert. Zu offenem Widerstand und Solidarität ermutigende Medieninhalte wie Roots Germania sind selten«,

stellen die Autorinnen einer begleitend zu Roots Germania entstandenen Handreichung für die rassismuskritische Bildungsarbeit treffend fest.818 Beide Dokumentationen entstandenen in der ZDF-Reihe Das kleine Fernsehspiel und liefen in Themenreihen gegen Rechts.819 Insbesondere Roots Germania wird in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt. Mit Die Arier gewann Asumang zahlreiche Preise.820 Beide Filme sind sehr persönliche Auseinandersetzungen mit ihrer eigenen Identität als afrodeutscher Frau. Subjektiv gehalten, in der ersten Person formuliert sind auch ihre Voice-over, die gleich einem roten Faden durch die jeweiligen Filme führen. Diese Kommentare der Filmemacherin sind zwischen die 816 Vgl. Kapitel 3.4 Günter Wallraff: Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009). 817 Vgl. Kulick 2007. 818 Geipel, Hoffarth, Diehm, Asumang 2011. 819 Zuletzt lief Die Arier in der Themenreihe »Film ab gegen Rechts« am 11. Mai 2015, 23.55 Uhr im ZDF. ZDF o. A. 2015. 820 Die Arier wurde unter anderen mit folgenden Preisen ausgezeichnet: World Cinema Best Documentary beim Phoenix Festival (USA 2014), Öngören Preis für Demokratie und Menschenrechte beim Deutsch-Türkischen Festival (Nürnberg 2014), Metropolis Regiepreis 2014 in der Kategorie Beste Regie Dokumentarfilm. Vgl. ZDF o. A. 2015.

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Rassistische Gewalt im Film

Mo Asumang interviewt Jürgen Rieger

mit ihren Familienmitgliedern, bekennenden RassistInnen und Wissenschaftler_innen geführten Interviews montiert. In ihnen reflektiert die Filmemacherin über zuvor Gehörtes, stellt biografische Bezüge her und berichtet über eigene Erfahrungen. In beiden Filmen versucht Asumang nachzuweisen, dass Begriffe und Konzepte wie »Germanentum« (Roots Germania) und »Arier« (Die Arier) seitens des (Neo-)Nazismus angeeignet und rassistisch umgedeutet wurden. Sie stellt damit die These auf, dass diese Kategorien jenseits völkischer Vereinnahmung denkbar und damit in gewisser Weise aus der Geschichte des Rassismus herauslösbar seien. Während sie in Roots Germania ihre eigenen »germanischen Wurzeln« schließlich in esoterisch anmutenden Kulten um Göttinnen und Matronenheiligtümer findet, begibt sie sich in Die Arier auf die Suche nach den »wahren Ariern«. Diese findet sie schließlich im Iran. Als ob sich die rassenkundlichen Expeditionen der SS-Organisation Ahnenerbe niemals in Tibet auf die Suche nach den fantasierten Ursprüngen der Arier begeben hätten, meint Asumang, den nazistischen Ariermythos durch ihre Begegnungen mit den freundlichen Arier_innen of Color, die sie auf ihrer Reise in den Iran trifft, entkräften zu können. Dies obwohl Historiker Felix Wiedemann bereits im ersten Drittel des Films auf ihre Frage, was die Nazis gemacht hätten, wenn sie den Arier-Begriff nicht zur Verfügung gehabt hätten, entgegnet, dass sie dann Begriffe wie deutschblütig oder germanisch verwendet hätten, schließlich sei der Ausschluss

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bestimmter Menschen aus der NS-Volksgemeinschaft die Hauptfunktion von Begriffen wie arisch.821 Der Ausgangspunkt für Asumangs biografische Spurensuche Roots Germania war eine rassistische Morddrohung: »Die Kugel ist für Dich, Mo Asumang«, textete die neonazistische Hatecore-Band White Aryan Rebels im Jahr 2001. Neben der Moderatorin wurden in dem Song noch weitere Prominente mit dem Tod bedroht, die – wie Michel Friedmann als damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung – den Hass der extremen Rechten auf sich zogen. Bereits frühe Gefühle der »Heimatlosigkeit« führt Asumang im Film neben dem Aufwachsen zwischen Mutter, Großmutter, Pflegefamilien und Kinderheim auch auf die Konfrontation mit rechter Gewalt zurück: »Vielleicht auch, weil Rechtsradikale, während ich in Deutschland aufwuchs, immer wieder zu Hass und Gewalt aufriefen.« Ihre Worten werden von Bildikonen des Neonazismus begleitet – vermummte Bomberjackenträger, gefilmt aus einem zerbrochenen Fenster, Bilder von ›Sieg Heil‹-skandierenden, unter wehenden Reichskriegsflaggen marschierenden Naziskinheads. Im Anschluss werden kurze Ausschnitte aus einem TV-Bericht über die Ermordung Amadeu Antonio Kiowas gezeigt.822 Man sieht ein Schwarz-weiß-Foto Kiowas gefolgt von Aufnahmen der trauernden Hinterbliebenen. Auf der Soundspur setzt ein Bericht der Kennzeichen D-Redaktion über das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ein. Auf Bilder vom brennenden Sonnenblumenhaus folgen Nahaufnahmen von Neonaziskinheads, die »Wir kriegen Euch alle« brüllen. »Und dann hat eine Naziband einen Mordaufruf gegen mich gestartet. Zu der Zeit war ich eine der ersten farbigen Moderatorinnen in Deutschland«, kommentiert Asumang. Die rechten Gewalttaten gehen ineinander über, verschwimmen zu einer einzigen Bedrohung. War die Filmemacherin bereits von den zuvor dargestellten rassistischen Angriffen mitgemeint, so markiert die direkte Adressierung durch die namentliche Erwähnung für Asumang eine weitere Eskalationsstufe. Es folgt ein Ausschnitt aus dem TV-Magazin Kontraste, in dem betroffenen Prominenten, neben Asumang wird auch Rita Süssmuth gezeigt, die Morddrohung der White Aryan Rebels vor laufender Kamera vorgespielt wird. In Nahaufnahme ist ihr entsetztes Gesicht zu sehen. Obwohl es sich bei den so Vorgeführten um Medienprofis handelt, ist ihnen ihre Überwältigung deutlich anzumerken. Wie sich Asumang erinnert, habe der Song sie selbst »total aus der Bahn geworfen«.823 Trotzdem habe sie sich entschieden, ihn als »positiven Motor« zu benutzen, um 821 Die Arier. TC: 11:27. Diese These belegt nicht zuletzt eine Sequenz im Film Beruf Neonazi (R: Winfried Bonengel, D 1993), in der ein Mann, der sich als »Aryan-Indian« bezeichnet, auf einem Neonazitreffen gezeigt wird. Beruf Neonazi, TC: 02:02. 822 Roots Germania, TC: 04:46–04:52. 823 Ebd., TC: 06:36.

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»rauszufinden, was es eigentlich mit Ausgrenzung auf sich hat und wo ist eigentlich mein Zuhause«. Sie wendet sich an den Therapeuten Rüdiger Dahlke,824 der ihr rät, sich ihrer Angst zu stellen, was für sie konkret bedeutet, sich mit Neonazis und ihrer Ideologie auseinanderzusetzen. Nun setzt eine doppelte Suchbewegung ein. Neben der Konfrontation mit den völkischen Konzepten von Zugehörigkeit, wie sie im Folgenden von ihren extrem rechten InterviewpartnerInnen vertreten werden, sucht die Tochter einer weißen Deutschen und eines Schwarzen Ghanaers in diesen eigene biografische wie auch mythologische Bezüge, ihre »afrikanischen« und »germanischen Wurzeln«, wie sie es ausdrückt.825 In ihren Interviews mit Exponenten der extremen Rechten steht die Frage nach Asumangs eigener Zugehörigkeit an zentraler Stelle. In der JVA Wriezen besucht sie den Neonazi Marcel Gaschke, der dort wegen rassistischer Gewalttaten einsitzt. Ein Zeitungsartikel Betrunkener verprügelt Togolesen wird während des Gesprächs kurz eingeblendet und liefert den Kontext für dessen Inhaftierung. Gaschke zufolge solle Asumang dorthin, »wo ihr Papa ist«. Noch expliziter formuliert der inzwischen verstorbene ehemalige Hamburger NPDVorsitzende und Anwalt der extremen Rechten Jürgen Rieger rassistische Ausschlüsse. Erwartungsgemäß verneint er Asumangs Frage, ob auch sie bei einem völkischen Siedlungsprojekt, das er in Schweden zu realisieren plante, mitmachen könne.826 Dies begründet Rieger, den Asumang vorstellt als einen der »führenden Köpfe der rechten Naziszene« und Leiter der »völkisch orientierten Artgemeinschaft, die sich mit Rassenforschung die Zeit vertreibt«, damit, dass sie nicht »germanischen Ursprungs« sei.827 »Warum nicht?«, will Asumang nun wissen. »Gucken sie mal in den Spiegel«, entgegnet der bekennende Rassist. Auch die Frage, ob er mit seiner Tochter brechen würde, sollte diese jemanden heiraten, der »eine andere Hautfarbe« hat, wird von ihrem Interviewpartner bejaht. »Bei den Germanen wurde sowas im Moor versenkt«, fügt Rieger hinzu. Auffällig ist, dass er Blickkontakt mit Asumang konsequent vermeidet. Hier wird 824 Zusammen mit Thorwald Dethlefsen schrieb Dahlke den Esoterik-Bestseller Krankheit als Weg (1990). In diesem beschreibt er, wie Claudia Barth kritisiert, »welche Krankheiten bei welchen persönlichen Verfehlungen aufträten und zu welchen Lerneffekten sie beitragen sollten«. Solche »Erklärungsmuster nach Karmagesetzen« seien, wie Barth treffend feststellt, »dafür gut, jedes einem Menschen widerfahrende Unglück zu rechtfertigen«. Barth 2006, S. 190. »Unfall, Krankheit, Vergewaltigung, Folter, Krieg – alles seien selbst verschuldete Resultate nicht erfüllter, höherer Aufgaben, die dem Karmagesetz zufolge auf das Individuum zurückgeworfen werden«, kritisiert Barth das Weltbild, das insbesondere Dahlkes Mitautor Dethlefsen vertritt. Ebd., S. 188f. 825 Roots Germania, TC: 1:05:20f. 826 Zu Jürgen Riegers nazistischen Umtrieben vgl. Link 2010. 827 Zur Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V. vgl.Antifaschistischen Infoblatt (AIB) 2008.

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ihre Interviewmethode offensichtlich, die darin besteht, ihrem jeweiligen meist männlichen, extrem rechten Gegenüber bewusst naive Fragen zu stellen, auf dass diese sich selbst in ihrem Rassismus entlarven. Indem Asumang durch die Auswahl ihrer Gesprächspartner lediglich die viel zitierte Spitze des Eisbergs in den Blick nimmt, bleibt die weite Verbreitung rassistischer Einstellungen in der gesamten Gesellschaft weitgehend unbeachtet. Die Durchsetzung einer weißen Vormachtstellung ist in beiden Filmen bewusstes Ziel ihrer Interviewpartner. Implizite, unbewusste Rassismen, die sich im alltäglichen wie auch im institutionellen Rassismus niederschlagen und ihre Konsequenzen geraten demgegenüber weitgehend aus dem Blick.828 Als solche fasse ich mit Stuart Hall »jene scheinbar naturalisierte Repräsentation im Zusammenhang mit ›Rasse‹ – ob in Form von ›Tatsachen‹ oder ›Fiktion‹ – in die rassistische Prämissen und Behauptungen als Satz unhinterfragter Vorannahmen eingehen. Diese ermöglichen die Formulierung rassistischer Aussagen, ohne dass die rassistischen Behauptungen, die ihnen zugrunde liegen, je ins Bewusstsein drängen.«829

Im Nazidorf mit Michel Abdollahi Einen mit Asumangs Zugang vergleichbaren Ansatz wählte auch der Hamburger Poetry Slamer und Journalist Michel Abdollahi. Der Deutsch-Iraner konfrontiert die Einwohner_innen des größtenteils von Neonazis bevölkerten Dorfs Jamel in Mecklenburg-Vorpommern mit seiner Mehrfachzugehörigkeit, die deren völkischem Konzept vom Deutschsein zuwiderläuft.830 Im Rahmen seines 2016 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten Experiments Im Nazidorf (Panorama – Die Reporter, NDR 2015, 30:49 min) verbrachte Abdollahi 828 Auch die Autor_innen der rassismuskritischen Handreichung konstatieren, dass rassistische Diskriminierung in Roots Germania »insbesondere im Zusammenhang mit Rechtsextremismus zum Thema« werde. Geipel et al. (2011), S. 21. 829 Hall 1989, S. 156. Dieser alltägliche Rassismus steht hingegen im Zentrum der autobiografischen Dokumentation der Schwarzen französischen Filmemacherin Isabelle BoniClaverie. Ausgehend von den Protestaktionen gegen die rassistischen Äußerungen des Parfümeurs Jean-Paul Guerlain nimmt sie in Trop Noir Pour 9tre FranÅaise? (OT) Zu Schwarz, um Französisch zu sein? (Arte, F 2013) die rassistischen Ausschlüsse und Diskriminierungen in den Blick, die den Alltag Schwarzer Französ_innen prägen. Die Filmemacherin zeigt dabei vor allem Orte und Personen, die Bezüge zu ihrer eigenen Biografie haben. So befragt sie etwa den Rektor ihrer ehemaligen Filmhochschule, ob die Anzahl Schwarzer Studierender immer noch so gering sei wie zu ihren eigenen Studienzeiten oder erntet pikierte Blicke im elitären Jagdclub, in dem ihr weißer Vater verkehrte. Zwischen die Interviews sind die prägnanten Statements Schwarzer Französ_innen aus unterschiedlichen sozialen Schichten montiert, die sich zu ihren eigenen Rassismuserfahrungen äußern. 830 Zu Abdollahis Selbstbezeichnung vgl. Im Nazidorf, TC: 06:00.

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einen Monat in einem eigens dafür errichteten Holzhaus mitten in dem aus 11 Häusern bestehenden Ort.831 Seine teilnehmende Beobachtung mit Kamera lässt sich auf repräsentationaler Ebene als Verkehrung tradierter rassistischer Blickverhältnisse betrachten. So ist es Abdollahi, der über das Bild weißer RassistInnen bestimmt, die Deutungsmacht über das Beobachtete innehat. Dies wird insbesondere in seiner einleitenden Voice-over deutlich. Hier persifliert er rassistisch aufgeladene Diskurse über von People of Color und Migrant_innen bewohnte Stadtteile wie Berlin-Neukölln,832 indem er deren Schlagworte wie »Parallelgesellschaft« sowie den Vorwurf der mangelnden Integrationsbereitschaft auf die weiße Jamelner Dorfgemeinschaft anwendet: »Hallo, mein Name ist Michel Abdollahi und ich habe einen harten Job vor mir. Ich bin auf dem Weg in eine Parallelgesellschaft, in einen regelrechten Problembezirk, zu Menschen, die sich abgeschottet haben, schwer integrierbar sind; mit einem kriminellen Anführer, wie es heißt.«833 Der Reporter, dessen Zugehörigkeit ihm von expliziten (und impliziten) RassistInnen abgesprochen wird, besucht als Repräsentant des öffentlich- rechtlichen TV-Senders NDR – und damit als Vertreter einer sich gegen Neonazismus positionierenden Mehrheitsgesellschaft – das als deviante Minderheit beschriebene »Nazidorf«.834 »Jamel gibt sich als ›national-befreite Zone‹, und das ist eine Aussage, die natürlich schwer zu akzeptieren ist. Deshalb wollte ich für einen längeren Zeitraum an diesen Ort, auch als Deutsch-Iraner, und zeigen, dass auch andere Menschen hierher können. Gleichzeitig wollten wir eine kritische Auseinandersetzung mit den Bewohnern. Ich wollte die Nazis interviewen«,

beschreibt Abdollahi seine Motivation in einem Interview.835 Jamel indes empfängt seine Besucher_innen bereits am Ortseingang mit einem in nationalsozialistischer Propagandaästhetik gefertigten Wandbild. Es zeigt eine blonde Familie in ländlicher Tracht und ist mit dem Schriftzug »Dorfgemeinschaft Jamel frei – sozial – national« unterschrieben. Auch ein selbstgebastelter Wegweiser, der etwa Richtung und Kilometerzahl zu Hitlers Geburtsort Braunau am Inn anzeigt, kündet von einem extrem rechten Konsens unter den Bewohne831 Abdollahi gewann »in der Kategorie ›Beste Persönliche Leistung Information: Engagement und Haltung‹ mit seinen Straßenaktionen im NDR Kulturjournal und seiner Reportage›Im Nazidorf‹. NDR.de. o. A., 2016. 832 Zu den rassistischen Imaginationen bezüglich Berlin-Neuköllns vgl. Lanz o. J., C ¸ etin 2015c, S. 35. 833 Im Nazidorf, TC: 00:11ff. 834 So antwortet etwa Doris Zutt (NPD Wahren an der Müritz) auf seine Frage, ob er auch hier hingehöre, dass er ein Recht habe, hier zu wohnen. »Doch Ihre Wurzeln sind woanders.« Abdollahi wiederholt die Frage nach seiner Zugehörigkeit, fügt hinzu, dass er schon seit seiner Kindheit hier lebe. »Ja, das ist dann ein Fehler Ihrer Eltern. Ihre Eltern haben Sie damit entwurzelt«, entgegnet die Rassistin. Im Nazidorf, TC: 07:28ff. 835 Schiffermüller 2015.

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rInnen. Wegen entsprechender Umtriebe seiner BewohnerInnen war Jamel immer wieder in die internationalen Schlagzeilen geraten: Zuletzt im Sommer 2015, als die Scheune eines gegen Rechts engagierten Künstlerpaars angezündet wurde.836 Neben den Beobachtungen des Jamelner Alltags und seinen meist vergeblichen Versuchen, mit den Anwohner_innen ins Gespräch zu kommen, interviewt er den Fraktionsvorsitzenden der NPD im Landtag MecklenburgVorpommern, Udo Pastörs, besucht zwei Neonaziaufmärsche und führt eine Straßenbefragung zum Thema ’Ausländer’ durch. Zu Wort kommen des Weiteren die Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke sowie das Künstlerpaar Lohmeyer, das sich allein den neonazistischen Umtrieben in Jameln entgegenstellt und dessen jährliches Musikfestival gegen Rechts ebenfalls im Film gezeigt wird. In diesem Zusammenhang geht Abdollahi auch auf die oben erwähnte mutmaßliche Brandstiftung ein. Da sie im Vorfeld des Festivals erfolgte, wird sie von Horst Lohmeyer als gezielter Einschüchterungsversuch gesehen.837 Im Interview äußert dieser sich zu den wiederholten Bedrohungen seitens der lokalen Neonaziszene. Immer wieder reflektiert Abdollahi in seinen Voice-overn in ironischem Ton seine Eindrücke und Erfahrungen, thematisiert seine eigene Rolle sowie die Entstehungsbedingungen des Films: »Keiner redet mit mir, die Nazis schon gar nicht. Liegt es an mir, dem Deutsch-Iraner, oder an den Kameras?«, fragt er sich.838 Auch wenn er das Verhalten der meisten Dorfbewohner_innen als »durchaus freundlich« beschreibt, erweisen sie sich als ausgesprochen kamerascheu.839 Einzig der inoffizielle Dorfchef, NPD-Funktionär Sven Krüger, gibt sich leutselig, was Abdollahi als »abgestimmte Rollenaufteilung«, als »Nazimarketing« bezeichnet.840 Die Schilderungen seines subjektiven Erlebens ergänzt Abdollahi mit Rechercheergebnissen. So kommentiert er etwa sein Verhältnis zu Sven Krüger : »Per du mit dem Obernazi und der Mann ist mir irgendwie auch ein bisschen sympathisch. Ok. Aber mehrere Gerichtsurteile belegen: Sven Krüger ist nicht immer ganz so nett: Körperverletzungen, Hehlerei, Waffenbesitz. Zahlreiche Vorstrafen bis in die jüngste Vergangenheit. Die Polizei fand bei ihm eine Maschinenpistole aus dem Zweiten Weltkrieg sowie Munition«.841

836 837 838 839 840 841

Bangel 2015. Im Nazidorf, TC: 10:57. Ebd., TC: 05:55. Ebd., TC: 14:26ff. Ebd., TC: 15:26. Ebd., TC: 09:40. Andrea Röpke rechnet Sven Krüger den Hammerskins zu, die sich als Elite der rassistischen Naziskinheadszene begreifen. Zu den Waffenfunden bei diesem und seinen neonazistischen Umtrieben vgl.: Röpke, Speit 2013, S. 232ff.

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Michel Abdollahi und Sven Krüger

Im Bild werden seine Worte durch Fotografien des Gerichtsurteils sowie Archivaufnahmen der polizeilichen Hausdurchsuchung bestärkt. An späterer Stelle wird der zuvor so freundliche Krüger bei einer neonazistischen Demonstration gezeigt, die unter dem Motto »Gemeinsam für die Heimat« in Wismar durchgeführt wurde: »Wir wollen keine Asylantenheime« skandieren die Anwesenden.842 »Solche Parolen werden gebrüllt bevor Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden und Sven Krüger mit seiner Mecklenburg-Fahne singt kräftig mit«, kommentiert der Journalist.843 Diese Aufnahmen setzen dem bemüht kumpelhaftem Umgang, den der NPD-Funktionär gegenüber Abdollahi und dessen Team an den Tag legt, die Realität seines militanten Neonazismus gegenüber. Dass Krügers freundliches Auftreten vor laufender Kamera als strategisch zu bewerten ist, bestätigt auch Andrea Röpke. Schließlich könne sich die NPD »auch zur Wahl inszenieren«. Es sei eine »Strategie in MecklenburgVorpommern, dass die wirklich als die harmlosen netten Bürger von nebenan mit Familie, Kind und Kegel auftreten. So ziehen sie auch ihre Kinderfeste auf.«844 Nachdrücklich verweist die Rechtsextremismusexpertin auf die Gefährlichkeit der Neonaziszene um Krüger : »Die sind gefährlich, bitterer gefährlicher Alltag für viele Menschen.«845 Trotz des Schwerpunkts, den Abdollahi in Im Nazidorf auf die extreme Rechte legt, nimmt er, anders als Asumang, auch die weite Verbreitung rassistischer Einstellungen in den Blick. Fernab des Neonaziaufmarsches befragt er Pas842 843 844 845

Im Nazidorf, TC: 25:03ff. Ebd., TC: 25:11. Ebd., TC: 18:44. Ebd., TC: 19:03.

Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte

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sant_innen nach ihrem Verhältnis zu »Ausländern«.846 Angesichts von Äußerungen wie »Wenn da 750 Millionen kommen, wo sollen wir da noch hin?«847 oder »Was wollen die hier? Wir haben doch selber mit uns zu tun.«848 bilanziert er, dass »die rechte Gesinnung nicht auf Jamel beschränkt« sei. »Doch hier wird sie offen zu Schau gestellt.«849 Ein Bild, das Abdollahi der Jamelner Dorfgemeinschaft zum Abschied hinterlässt – es zeigt eine Familie mit einem Kind of Color, daneben prangt der erste Artikel des Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar«–, wird kurz nach seiner Abreise mit Mülltonnen verstellt. Das Kind ist nun nicht mehr zu sehen.

846 847 848 849

»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ausländern?«, lautet die Eingangsfrage. Ebd., TC: 26:09. Ebd., TC: 26:48. Ebd., TC: 27:05. Ebd., TC: 27:33.

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Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film

Am 1. August 2008 wurde Hans Joachim Sbrzesny in Dessau getötet. Er lebte in Halle, übernachtete wegen einer psychischen Erkrankung immer wieder im öffentlichen Raum.850 Um 1 Uhr wurde er von seinen Mördern, den Neonazis Sebastian K. und Thomas F., auf einer Bank im Park vor dem Bahnhof entdeckt. Unvermittelt begannen sie, auf den Schlafenden einzuschlagen, traktierten ihn mit Faustschlägen und Tritten. Insbesondere Sebastian K. ging mit exzessiver Brutalität vor, schlug mit einem Müllbehälter aus Metall auf Sbrzesnys Oberkörper ein. An diesen Verletzungen starb Hans-Joachim Sbrzesny noch am Tatort.851 »Die Staatsanwaltschaft Dessau stellt in der Anklage fest, die Täter hätten eine ›tiefe innere Miss- und Verachtung‹ für Hans-Joachim Sbrzesny empfunden und deshalb ›aus ihrem Gefühl der Überlegenheit‹ heraus den Entschluss gefasst, ihn zu töten. Im Prozess berichtet ein Zeuge, Sebastian K. habe ihm gegenüber in der Untersuchungshaft das Opfer einen ›Unterbemittelten‹ genannt, der es ›nicht anders verdient‹ habe«,

fasst die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt die Tatmotivation zusammen.852 Obdach- und Wohnungslose, Alkoholkranke, Menschen mit Behinderungen und weitere marginalisierte Personengruppen, die aus sozialdarwinistischen Motiven angegriffen und ermordet werden, bilden die zweitgrößte Gruppe unter den Todesopfern rechter Gewalt. Das sozialdarwinistische Feindbild hat eine lange Geschichte. Judith Porath, die von rechter Gewalt Betroffene in Brandenburg berät, weist auf das historische Vorbild solcher Taten hin, die Verfolgung der als »asozial« Stigmatisierten während des Nationalsozialismus.853 Wie die Aktivistin und Forscherin Anne Allex schreibt, ist der Begriff asozial »im 850 851 852 853

Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt 2009. Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt o. J. b. Ebd. Porath 2013, S. 87.

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Alltagsdenken und in politisch ideologischen Meinungsäußerungen nach wie vor präsent. Immer noch wird er auf alle diejenigen angewendet, die während der NS-Zeit als ›asozial‹ bezeichnet wurden, zum Beispiel Wohnungslose, Sinti und Roma, Alkoholkranke.«854 Entsprechend basiert auch das Tatmotiv Sozialdarwinismus auf der Idee einer homogenen Volksgemeinschaft, aus der alle als unproduktiv Geltenden ausgesondert werden sollen. Es hat starke Überschneidungen mit Rassismus, insbesondere gegen Migrant_innengruppen, denen eine »Einwanderung ins deutsche Sozialsystem« unterstellt wird, verschränkt sich mit Ableism, der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, sowie Klassismus, der Diskriminierung aufgrund der Schichtzugehörigkeit. In den Mitte-Studien der Universität Leipzig wird Sozialdarwinismus über die Statements »Es gibt wertvolles und unwertes Leben.« und »Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.« sowie »Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen.« abgefragt.855 Die Zustimmungswerte zu diesen Aussagen lagen 2012 zwischen 8 und 10, 2015 jeweils um die 10 Prozent. Ihre prekäre Lebenssituation, der Mangel an sicheren Rückzugsorten macht gerade Obdachlose besonders angreifbar. Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) beschreibt die Betroffenen als »überwiegend ältere, wohnungslose Männer«, die oft »körperlich geschwächt und damit leichte Opfer« seien.856 Auch Andreas Klemper kommt zu dem Ergebnis, dass »Obdachlose […] zu den bevorzugten Opfern [zählen], da sie in der Markthierarchie der Nützlichkeit weit unten stehen, kein schützendes Zuhause haben und in der Regel die Übergriffe nicht anzeigen«.857 Wie Porath feststellt, werden sie »vor allem an ihren Schlafplätzen – in Gartenlauben, Abrisshäusern und auf Parkbänken – überfallen und ermordet. Die Taten zeichnen sich durch besondere Brutalität aus, die häufig in regelrechten Gewaltexzessen mündet. Die meist wehrlosen, schlafenden und alkoholisierten Opfer werden gefoltert, gedemütigt, angezündet, mit Stiefeln zu Tode getreten oder ihr Schädel mit Baseballschlägern zertrümmert.«858

Da viele TäterInnen nicht politisch organisiert sind, wirken die Angriffe, so Porath, bei oberflächlicher Betrachtung »willkürlich und unpolitisch«.859 Dennoch »spielt das von Ungleichwertigkeitsvorstellungen geprägte Menschenbild der TäterInnen eine zentrale Rolle. Die AngreiferInnen haben zumindest 854 855 856 857 858 859

Allex 2009, S. 287. Vgl. dazu: Decker et al. 2013, S. 36. Decker, Kiess, Eggers, Brähler 2016b, S. 36. Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt 2009. Kemper 2008. Porath 2013, S. 86. Ebd.

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Fragmente rechter Ideologie internalisiert, die für Tatbegehung und Auswahl der Opfer entscheidend sind.«860 So gab etwa einer der Täter, der 1995 gemeinsam mit anderen den hinter der Ahlbecker Kirche schlafenden Norbert Plath zu Tode prügelte, bei seiner Vernehmung zu Protokoll: »Asoziale und Landstreicher gehören nicht ins schöne Ahlbeck.«861 Obwohl seit der Einführung der neuen Erfassungskriterien (PMK rechts) im Jahr 2001 ausdrücklich auch Taten erfasst werden sollen, die sich gegen eine Person aufgrund ihrer »Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richten«,862 haben die Behörden gerade bei sozialdarwinistisch motivierten Taten »stets ganz besondere Schwierigkeiten, ein rechtsextremes Tatmotiv zu erkennen«.863 Entsprechend fehlen diese besonders häufig in den offiziellen Zählungen: Bei einem Abgleich mit der sogenannten Jansenliste kommt Staud zu dem Ergebnis, dass 70 Prozent der aus einer sozialdarwinistischen Motivation begangenen Tötungen nicht als politisch motiviert anerkannt sind.864 Auch der Mord an Hans-Joachim Sbrzesny fehlt hier. Laut der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt verurteilte das Landgericht Dessau »am 17. April 2009 beide Angeklagten wegen Mordes ›aus einem sonstigen niedrigen Beweggrund‹. Sebastian K. habe ›schlechte Laune‹ gehabt, Thomas F. ›akzeptierte diesen Beweggrund auch für sein Handeln‹.«865 Ausgegrenzt und marginalisiert von weiten Teilen der Gesellschaft werden die von sozialdarwinistischer Gewalt Betroffenen nicht nur von den TäterInnen als »minderwertig« verachtet: Letztere schließen damit an die gesellschaftlich weit verbreitete Abwertung von Wohnungslosen, Alkoholkranken und Langzeitarbeitslosen an. Aktuell sei, so Allex, »das Feindbild vom ›unnützen Menschen‹ […] stärker denn je vorhanden«.866 In der Studie Deutsche Zustände wird Sozialdarwinismus gegen Obdachlose unter dem Begriff ’ Heterophobie gefasst. 2002 kritisierte Wilhelm Heitmeyer deren Vertreibung aus dem öffentlichen Raum durch architektonische und »kulturelle Mittel«, etwa den Einsatz von »hochgepegelter Musik« am Hamburger Hauptbahnhof, die ihnen den Aufenthalt dort vergällen soll: »Durch ›soziale Säuberung‹ wird ein schmerzhafter Teil sozialer Realität abgetrennt; man will von dieser Wirklichkeit nicht belästigt werden. Die Folgen sind fatal. Indem Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden, werden sie nicht mehr 860 861 862 863 864 865 866

Ebd. Jansen et al. 2015 a. Bundesministerium des Innern o. J. Sundermeyer 2012, S. 88. Staud 2013. Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt o. J. b. Allex 2009, S. 295.

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wahrgenommen. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Er existiert im Grunde nicht mehr, er ist sozial tot.«867

2011 vertrat über ein Drittel der von Heitmeyer Befragten die Forderung, dass bettelnde Obdachlose aus Fußgängerzonen entfernt werden sollten.868 Über Gewalttaten gegen Obdachlose und Marginalisierte wird wenig in den Medien berichtet. Sofern die Angriffe nicht aufgrund der überbordenden Brutalität für Schlagzeilen sorgen, bleiben sie in den meist regionalen Tageszeitungen Randnotizen. Oft sind noch nicht einmal die vollständigen Namen der Ermordeten bekannt. Entsprechend kritisiert Porath das Ausbleiben »öffentliche[r] Anteilnahme und Solidarität«.869 In der von Andreas Zick, Beate Küpper und Andreas Hövermann herausgegebenen Studie Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung taucht Sozialdarwinismus gar nicht erst als abzufragendes Item auf.870 Wahrscheinlich ist es diesem generellen Desinteresse geschuldet, dass auch kaum filmische Thematisierungen sozialdarwinistischer Morde und Angriffe existieren. Norbert Plath, der 1995 in Ahlbeck von einer Gruppe rechter Jugendlicher und junger Erwachsener ermordet wurde, ist das einzige wohnungslose Todesopfer rechter Gewalt, an das eine TV-Dokumentation erinnert.871 Eine weitere filmische Thematisierung eines sozialdarwinistischen Angriffs ist der mehrfach ausgezeichnete Spielfilm Weltstadt (R: Christian Klandt, D 2009).872 Er basiert auf einer wahren Begebenheit. 2004 wurde Jürgen W., der sich auf einer Parkbank im brandenburgischen Beeskow zum Schlafen niedergelassen hatte, von zwei jungen Männern angegriffen. Die beiden Täter raubten ihn zuerst aus, urinierten auf seinen Oberkörper und setzten ihn schließlich in Brand. Jürgen W. überlebte den Angriff, bei dem 35 Prozent seiner Haut verbrannten, schwerverletzt.873 Dafür, dass die Täter, obgleich nicht in der rechten Szene organisiert, deren menschenverachtende Einstellung teilten, spricht nicht nur die Tatausführung selbst. Laut Frank Jansen gibt es Hinweise, dass einer der Täter das Opfer »für einen minderwertigen ›Penner‹ hielt«.874 867 868 869 870 871

Heitmeyer 2002b, S. 218. Heitmeyer 2012a, S. 39. Porath 2013, S. 87. Zick, Küpper, Hövermann 2011. Auf sein in der WDR-Reihe Tödliche Begegnungen erschienenes Porträt Das Leben des Norbert Plath bin ich bereits in Kapitel 3.1 eingegangen. 872 So bekam er etwa den Preis für den besten Spielfilm auf dem Achtung Berlin Filmfestival. Achtung Berlin Filmfestival 2008. 873 Jansen 2005. Spiegel Online o. A., 2005, Kühl 2013. 874 Jansen 2005.

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Weltstadt, Klandts erster abendfüllender Spielfilm, entstand als Koproduktion der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad-Wolf mit Arte. »Ein Film über fünf Menschen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, in einer Stadt zwischen Schönheit und Armut, an einem Tag zwischen Langeweile und Aggression«, heißt es auf der Webseite des Films.875 Die Kamera begleitet fünf Personen – Till, Karsten, Steffi, Heinrich und Günter – durch einen grauen Wintertag, an dessen Ende sich der Angriff ereignet. Im Zentrum stehen die beiden Täter Till (Florian Bartolomäi) und Karsten (Gerdy Zint). Karsten ist arbeitslos, verbringt seine Tage mit Kiffen und Pornos. Von seiner Mutter, die sein Zimmer aufräumt, fühlt er sich entmündigt. In einer Unterkunft für Wohnungslose, wo er Sozialstunden ableisten muss, versucht er eine Einbauküche aufzubauen. Als ihm dies nicht gelingt, wird er von den Bewohnern ausgelacht. Till erfährt, dass er nach der Lehre nicht übernommen wird, er habe zu wenig Einsatz gezeigt. Später klauen die beiden jungen Männer leere Bierkisten, um sich von dem Pfand mit weiterem Alkohol für den Abend zu versorgen. »Die nahezu in Echtzeit ausgebreitete Ereignislosigkeit wird als Lähmung körperlich spürbar, die stumpf aggressive Perspektivlosigkeit erdrückt«, beschreibt Rezensent Tobias Lenartz die im Film herrschende Grundstimmung.876 Für Heinrich ist es der letzte Tag in seinem Imbiss, der einem Parkplatz weichen muss. Er trifft Vorbereitungen für den Abschiedsabend, für den er Freunde eingeladen hat. Zu allem Überfluss beschmieren ihm zwei Neonazis die Fensterläden mit Hakenkreuzen. Das hätte es zu DDR-Zeiten nicht gegeben, ist er sich sicher. Auf seinem Heimweg läuft er am Tatort des Angriffs auf den Wohnungslosen vorbei und wird unter den Rettungskräften einen der Hakenkreuzschmierer wiedererkennen. Steffi, die mit Till zusammen ist, jobbt in einem Sonnenstudio. Sie hat wieder eine Absage auf eine Bewerbung bekommen. Auch wenn sie das spätere Opfer als »ekelhaften Parkpenner« bezeichnet, wird sie es sein, die ihm später das Leben rettet: Sie versucht, mit ihrer Jacke die Flammen zu löschen. Der Angegriffene befindet sich nicht unter den Personen, in deren Tag Einblicke gewährt werden. Er bleibt eine Randfigur. Lediglich am Anfang des Films ist ihm eine längere Sequenz gewidmet. Hier transportiert er ein kleines Klavier in einer Art Bollerwagen an die Spree, setzt sich auf einen Baumstumpf und beginnt, eine traurige Melodie zu spielen. Im weiteren Verlauf der Handlung sieht man ihn noch manchmal aus der Distanz einer Totalen durch die Stadt laufen. An keiner Stelle spricht jemand mit ihm. So bleibt er namenlos. In den Credits ist er als »Jargo, der Obdachlose« aufgeführt. Ob er den Angriff überlebt hat, ist noch nicht einmal aus dem Abspann zu erfahren. Dort sind stattdessen 875 X-Verlieh 2009. 876 Lenartz o. J.

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die Urteile für die beiden Täter nachzulesen. Klandt selbst äußert sich zum Randfigurenstatus des Opfers wie folgt: »Der Obdachlose kommt ja in dem Film kaum vor, nur am Anfang ist er groß zu sehen, weil ich die Leute zwinge, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, ihm in die Augen zu sehen und ihn bewusst wahrzunehmen. Das ist eigentlich seine Geschichte, aber im ganzen Film kommt er kaum vor. Man spürt ihn nicht. Und es war mein Ziel, den Jargo, den Obdachlosen, so zu zeigen, wie ich dachte, dass die Leute ihn sehen, nämlich gar nicht. Und das ist nicht nur in Beeskow so.«877

Auch wenn es eine bewusste Entscheidung des Filmemachers war : Das Ausblenden Marginalisierter wird in Weltstadt reproduziert. Wie in einem Großteil der hier analysierten Filme geht es auch in Weltstadt weniger um den Angegriffenen selbst, als um diejenigen, denen er als Projektionsfläche für ihre eigenen Abstiegsängste und ihren (Selbst-)Hass dient. Für die Tat selbst, die im letzten Drittel der Handlung in ihrer Brutalität gezeigt wird, stellt der Film eine Reihe von Erklärungsansätzen in den Raum: Karstens akute und Tills baldige Arbeitslosigkeit, Karstens übergriffige, alleinerziehende Mutter, brutale Horrorfilme, Langeweile und eine allgemeine Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, die in der umgebenden Plattenbautristesse ihren visuellen Ausdruck findet. Weitere Mosaiksteine im Ursachengeflecht sind die zwischen sexueller Anziehung und Gewalt changierende Beziehung der Täter – an einer Stelle des Film ist zu sehen, wie Karsten mit einem Messer Verbindungslinien zwischen den Leberflecken auf Tills Brust ritzt – sowie der Wunsch, überhaupt etwas zu spüren: »Weißt du, wie toll es ist, jemanden zum Weinen zu bringen?« und »Ich mag das, wenn Leute Angst haben. Ich bin auch nie traurig. Ich bin auch nie glücklich«, sagt Karsten zu Till.878 »Aber es gibt«, so Klandt, »auch eine schlüssige psychologische Erklärung, die ich versuche im Film anzudeuten: Die Täter wollten – unbewusst natürlich – das Spiegelbild eliminieren, vor dem sie Angst hatten. Vor allem der ältere Täter ist selber ja nur noch einen Schritt entfernt vom sogenannten Prekariat. Davor hat er Angst, also tötet er die Zukunft, die ihm droht.«879

Dieser Erklärungsansatz steht im Raum, wenn gezeigt wird, wie Karsten in dem Heim für Wohnungslose dabei scheitert, die Einbauküche zu montieren, und wie er von den Bewohnern als Versager verlacht wird.880 Ihre hämischen Kommentare steigern seinen Hass und sein Abgrenzungsbedürfnis. Seine Angst, sich in dem Obdachlosen zu spiegeln, wird kurz vor der Tat ausbuchstabiert. Hier 877 878 879 880

Blaschke 2009. Weltstadt, TC: 41:44. Winkler 2009. So löffeln sowohl Karsten als auch die Bewohner einer Unterkunft für Wohnungslose direkt aus einer Konservendose. Weltstadt, TC: 26:36.

Theaterfilm Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt

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sitzen Till und Karsten auf einer Bank im Park, wo ihnen ihr späteres Opfer über den Weg läuft: »Ich finde es nicht gut, dass du den Job geschmissen hast, sonst endest du auch noch wie der da«, sagt Karsten zu Till.881 »Du kannst ja auch so enden, du hast ja auch deinen Job geschmissen. Aber wir werden nicht so enden«, entgegnet der Freund mit einem gewissen Trotz. Später werden beide unter sozialdarwinistischen Beschimpfungen auf den im Park schlafenden Jargo urinieren, einschlagen und treten. Auch wenn Till und Karsten keine Neonazis sind, wird an ihrer entsprechenden Tatmotivation kein Zweifel gelassen.

5.1

Der Mord an Marinus Schöberl im dokumentarischen Theaterfilm Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt (R: Andres Veiel, D 2005)

Der dokumentarische Theaterfilm Der Kick – Ein Lehrstück über Gewalt (R: Andres Veiel, D 2005) entstand nach dem gleichnamigen Theaterstück von Andres Veiel und Gesine Schmidt, das 2005 am Berliner Maxim Gorki Theater und am Theater Basel seine Uraufführung hatte. Er basiert auf Veiels und Schmidts siebenmonatiger Recherche in Potzlow.882 Vom Ausagieren extrem rechter Feindbilder, wahlloser Aggression, sozialer Deprivation bis zur jugendlichen Orientierungslosigkeit – im Film wird eine Reihe verschiedener Erklärungsansätze für die Tat bereitgestellt. Wie werden die präsentierten Deutungsangebote vom innerfilmischen Diskurs gerahmt, kontextualisiert? Welches wird dabei favorisiert? Wie verhält sich das im Film Präsentierte zum aktuellen Stand der Ursachenforschung in der Wissenschaft und den Praxiserfahrungen der diesem Feld tätigen Aktiven, Organisationen und Beratungsstellen? Ich frage nach den Entscheidungen, die bei der Bearbeitung des Materials getroffen wurden und nach den Effekten, die diese auf die Deutung des Mordes und damit dessen Positionierung im Diskurs über rechte Gewalt haben.

881 Ebd., TC: 1:12:31. 882 Auf Grundlage des Theatertexts wurde zudem ein Hörspiel produziert. 2007, zwei Jahre nach dem Film, publizierte Andres Veiel ein Buch mit dem selben Titel, das neben dem Theater- und Filmtext in einem mit Annährungen überschriebenen Part den Versuch unternimmt, die Tat in ihre soziopolitischen Kontexte einzuordnen. Die hier präsentierten Deutungen weichen an manchen Stellen von denen ab, die der filmische Diskurs favorisiert.

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Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film

Abstraktionen Nach dem brutalen Mord an Marinus Schöberl brach eine »Medienlawine« über Potzlow herein, die bei Betroffenen und Anwohner_innen Abwehr und Misstrauen auslöste und damit einen Dreh vor Ort mit den realen Beteiligten verunmöglichte. Veiel arbeitete stattdessen mit Gedächtnisprotokollen und Tonbandaufnahmen der größtenteils von ihm selbst und Schmidt geführten Interviews sowie Texten aus den Ermittlungen von Polizei und Justiz: Protokolle der Verhöre von Marcel Schönfeld, Gerichtsprotokolle wie Prozessmitschriften, Anklageschrift und Urteil sowie die Rede des Pfarrers auf Marinus Schöberls Trauerfeier. Anstatt auf dieser Grundlage eine Spielfilmhandlung zu entwickeln, die Ereignisse gar in Reenactment zu überführen, wählte Veiel einen abstrahierenden Zugang. Wie auch in der Theaterinszenierung dient als Kulisse ein kahler Raum, der an eine leerstehende Lagerhalle erinnert. Einzige Requisiten sind eine Bank und eine auf Schienen montierte, beleuchtbare Box. Durch Beleuchtung wird der Raum zum Dorfplatz, Verhörraum, Gerichtssaal oder Kirche.Wie bereits im Theaterstück wird das gesammelte Interviewmaterial im Film zu einer Collage heterogener Statements verdichtet. Den realen Beteiligten leihen die beiden Schauspieler_innen Maria Susanne Wrage und Marcus Lerch Körper und Stimme. Dabei spielen sie jeweils mehrere Rollen. Wrage und Lerch erschaffen durch Stimmlage und Sprechrhythmus, mit Betonungen, Pausen und dialektalen Einfärbungen, aber auch durch ihre Mimik, Gestik und Körperhaltung wiedererkennbare Figuren, deren Namen nur zu Anfang angesagt werden. Auf diese Weise lassen sie Marinus’ Angehörige – seine Mutter und seinen besten Freund Matthias Muchow – ebenso zu Wort kommen wie die beiden Haupttäter, die Brüder Marcel und Marco Schönfeld, deren Eltern sowie Marcos Partnerin Sandra Birke. Die Schauspielenden äußern sich als Zeuge Achim Fiebranz, der zumindest anfangs den Misshandlungen Schöberls beiwohnte, als Staatsanwalt, Gerichtsgutachter und Verhörender. Zu Wort kommen auch Marcels Berufsschulausbilder sowie die damaligen Bürgermeister von Potzlow und der Gemeinde Oberuckersee. Wie von Keitz ausführt, knüpft Veiel hierbei methodisch »an das Dokumentartheater der 1960er Jahre« an.883 Bei Veiels Verfilmung kommen die Möglichkeiten des Films im Gegensatz zu denjenigen des Theaters zum Zuge. Auf die expressive Gestik der Theaterbühne, die noch für Zuschauende in den hinteren Reihen sichtbar sein muss, verzichtet der Film. Die häufige Verwendung von Groß- und Nahaufnahmen ermöglicht ein naturalistischeres Spiel. Das zentrale Argument für eine abstrahierende Darstellungsweise sieht Veiel 883 v. Keitz weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen hin. v. Keitz 2009, S. 145.

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in der Brutalität der Tat.884 Er entschied sich dafür, »[n]icht zu illustrieren, nicht zu bebildern, sondern durch ganz einfache Mittel diese Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen zu lassen.«885 Noch aus einem weiteren Grund kam eine Bebilderung für Veiel nicht infrage: Der Haupttäter Marcel Schönfeld orientierte sich bei der Ausführung der Tat an der Schlüsselszene des Spielfilms American History X (R: Tony Kaye, USA 1998), einem rassistischen Mord an einem Schwarzen.886 Mit dessen Haupt- und Identifikationsfigur Danny Vinyard, dem kleinen Bruder des Mörders (gespielt von Edward Furlong) werden die Zuschauenden hier bereits am Anfang der Handlung Zeug_innen eines ästhetisierten Exzesses rechter Gewalt.887 American History X beginnt mit dem Einbruchsversuch dreier Schwarzer in das Haus der Vinyards, auf den sein älterer Bruder Derek (Edward Norton) mit rassistischer 884 Daher, so sagte er in einem Interview »war für mich von Anfang an klar, dass jegliche Form von Bebilderung, von Illustrierung bringt mich da nicht weiter. Natürlich könnte ich mir als Film vorstellen, auch als Spielfilm, diese Bilder – Bordsteinkick, dieser Schädel, der da dann aufplatzt, das Blut, was rauskommt. Man könnte das natürlich auch diskreter filmen. Ich finde, der Weg in die Abstraktion – und Theater machen bedeutet: Ich gehe in die Abstraktion und ich arbeite eben mit zwei Schauspielern und nicht mit einem ganzen Ensemble, als insoweit verstärke ich die Abstraktion durch die Art der Inszenierung sogar noch. Und da war für mich ganz früh klar, es ist also nicht nur aus einer Not heraus, weil ich jetzt mit ’ner Kamera nicht nach Potzlow gehen kann, sondern in der Not liegt sehr viel Tugend und diese Tugend ist eben.« Der Kick, Zusatzmaterial auf DVD, Bonustrack 1, Interview mit Andres Veiel, Berlin, 30. 03. 2005. 885 Der Kick, Zusatzmaterial auf DVD, Bonustrack 1, Interview mit Andres Veiel, Berlin, 30. 03. 2005. 886 Andres Veil antwortet auf die Frage, was den Reiz dieses Stoffes ausmache: »Als ich von der Tat gehört habe, da war es für mich so, dass es so unvorstellbar war, erstmal für mich gewesen ist. Wie ist es möglich, dass Menschen, dass junge Menschen dazu in der Lage sind, jemanden über Stunden zu quälen, zu foltern und dann ist immer noch nicht genug, dann fahren sie mit den Fahrrädern hier hoch und reinszenieren dann diesen Film American History X?«, Andres Veil in Potzlow, Der Kick, Zusatzmaterial auf DVD, TC: 07:50. 887 Bei seinem rassistischen Mord mittels des ikonischen Bordsteinkicks bewegt sich Dereks muskulöser, mit einem riesigen Hakenkreuz tätowierter Oberkörper in Zeitlupe durch die Luft. Die Bilder sind von sakral anmutender Musik unterlegt. Sie brechen mitten im Sprung ab, die Landung auf dem Kopf des Opfers wird zumindest am Anfang des Films noch ausgeblendet. Diese Stilmittel verleihen dem rassistischen Mord eine gewisse Erhabenheit. Auch die anschließende Verhaftung des Täters wird in ästhetisierenden Zeitlupeaufnahmen präsentiert: In Nahaufnahme dreht sich Derek grinsend zu den Polizisten um, während auf dem Soundtrack ein pathetischer Choral einsetzt. Eine Art der Darstellung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. So schildert Terkessidis die Szene: »Drei Schwarze, die in ein Haus einbrechen wollten, liegen brutal ermordet auf der Straße. Als die Polizei kurz darauf den Täter stellt, wird sein Körper durchzogen von einem nahezu orgiastischen Jubel. Ein Grinsen breitet sich auf dem Gesicht aus, und dann strecken sich die Arme zur Seite und in die Höhe. Und wir sehen diesen Körper, einen ungemein anziehenden, wohl geformten, männlichen Körper, an dem sogar das riesige eintätowierte Hakenkreuz noch ästhetisch wirkt, und wir spüren: Es handelt sich um einen messianischen Augenblick. Hier ist das Richtige getan worden.« Terkessidis 1999.

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Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film

Selbstjustiz reagiert. Zwei der Einbrecher werden von ihm sofort erschossen, den Dritten zwingt Derek, in den Kantstein zu beißen und springt ihm auf den Hinterkopf. Wohl auch wegen solcher Szenen erfreut sich der Film American History X, entgegen seines aufklärerischen Anspruchs, großer Beliebtheit in Neonazikreisen. Der Mord an Marinus Schöberl ist nicht der einzige rechte Gewaltakt, dessen Ausführung von besagter Szene inspiriert ist.888 Der Verweis auf den Film kommt auch in Der Kick selbst zur Sprache: Auf die Frage des Verhörenden, wie er auf die Idee gekommen sei, Marinus in die Betonkante des Schweinetrogs beißen zu lassen, erwidert Marcel: »Die Idee kam mir plötzlich in den Kopf. Ich habe circa ein halbes Jahr vor der Tat einen Film im Fernsehen angeschaut. Es handelte sich hierbei um American History X. In diesem Film wird eine gleichartige Szene dargestellt. Ein Nazi nimmt einen angeschossenen N* an den Haaren und legt ihn mit dem Kopf auf eine Bordsteinkante. Anschließend springt er auf den Kopf des N*.«889

Abgesehen davon, dass die rassistische Begriffswahl auf Marcels rechte Gesinnung verweist, agierte er durch die Reinszenierung die neonazistische Machtfantasie aus der Spielfilmvorlage aus.890 Dabei wurde er gewissermaßen zu Derek, während Marinus in die Position des Schwarzen Mordopfers891 gezwungen wurde. Beachtenswert ist, dass die beiden organisierten Neonazis, Marcels Bruder Marco und Sebastian Fink, hier in die beobachtende Rolle des staunenden jüngeren Bruders verwiesen wurden. Ein zumindest momentaner Zugewinn an Macht und Status für den jüngeren Marcel. Es lassen sich noch weitere Parallelen zwischen den Akteur_innen aus Veiels Dokumentation bzw. der Figurenkonstellation in Kayes Fiktion aufzeigen. In beiden Filmen geht es um ein Brüderpaar, bei welchem der Jüngere meint, dem Älteren nach dessen Haftentlassung seinen Neonazismus beweisen zu müssen. Wie ich erläutern 888 Am 30. Januar 2004 wurde der 46-jährige Martin Görges vor einer Diskothek in Burg (bei Magdeburg) von fünf jungen Rechten erst zusammengeschlagen und schließlich durch einen Bordsteinkick nach gleichem Vorbild getötet. Vgl. Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt o. J.a. 889 Der Kick, TC: 48:25. 890 In seiner Rekonstruktion des Tatgeschehens betont der Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck, mit hoher Wahrscheinlichkeit sei davon auszugehen, dass der Film, der kurz vor der Tat, am 29. Juni 2002, vom Sender Pro7 ausgestrahlt worden war, allen Tatbeteiligten mit Ausnahme von Marco Schönfeld bekannt gewesen ist. Vgl. Kohlstruck, Münch 2004, S. 20. 891 Michael Kohlstruck verweist im Zusammenhang mit dem Mord an Marinus Schöberl auch auf den Film Oi Warning (R: Dominik Redding, Benjamin Redding, D 1999), in welchem der hippiehafte Punk Zottel von einem zwar nicht neonazistischen, doch hypermaskulinen Skinhead mit einem Bordsteinkick ermordet wird. Inwieweit dieser Film den Tätern ebenfalls bekannt war, schreibt Kohlstruck allerdings nicht. Vgl. Kohlstruck, Münch 2004, S. 37.

Theaterfilm Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt

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werde, besteht im Verhältnis der Brüder einer der Erklärungsansätze für den Mord an Marinus, die im Film präsentiert werden.

Die Fiktionalisierung des Rohmaterials Indem das von Veiel und Schmidt zusammengetragene Material schauspielerisch umgesetzt wird, entsteht ein hybrider Mix aus dokumentarischen und fiktiven Elementen, den Veiel selbst »in der Zwischenzone von Dokument und Fiktion«892 ansiedelt. Wenn Veiel und Schmidt aus dem aus »1.500 Seiten Interviews«893 und weiteren Quellen bestehenden Material Kernaussagen destillieren und diese zu Monologen »verdichte[te]n«, erfolgten interpretative und damit fiktionalisierende Eingriffe.894 Ohne Kenntnis dieses Rohmaterials lässt sich nicht rekonstruieren, ob und wie die Autor_innen dieses gedeutet bzw. vereindeutigt haben und von welchen Diskursen sie dabei geleitet wurden. Auf die Frage nach Deutungsprozessen während der Bearbeitung antwortete Veiel: »Ich würde fast von einer Fiktionalisierung sprechen. Wir bewerten durch die Auswahl der Texte und die Montagetechnik. […] Die Auswahl der Texte kreist die Tat ein, indem eigentlich von etwas anderem gesprochen wird: von der alltäglich gegenwärtigen Gewalterfahrung im Dorf und in der Familie.«895 Wenn die Statements verschiedener Akteur_innen kompiliert werden, verschieben sich die Perspektiven. Manche Aussagen stehen für sich, andere bekräftigen einander, eröffnen weitere Sichtweisen auf bestimmte Themen und Aspekte, oder geraten in einen Widerspruch zueinander. Seine Annäherungen an die Tat von der Aussenperspektive der Justiz bis hin zur autobiografischen Perspektive der Familie der Täter vergleicht Veiel mit dem Häuten einer Zwiebel. Über die Grenzen und »Sympathiefallen« ,die sich bei solch einer Betrachtung stellen, ist er sich bewusst.896 892 Veiel 2006, S. 274. 893 Veiel 2008, S. 283. 894 Veiel über diesen Prozess: »Wir haben die einzelnen Gespräche in sich gekürzt, thematisch Ähnliches zusammengeführt, Doppelungen und andere Redundanzen herausgenommen, manchmal etwas Mundart reduziert. Wichtig war uns, dass der Sprachkörper einer Person an sich erhalten bleibt.« Spiegel o. A., 2005, S. 153. 895 Ebd. 896 »Ich fange an mit dem Außenblick, also wie wird von außen auf diese Tat draufgesehen, das heißt auch der Blick des Staatsanwalts, der Blick von Gutachtern, also die Distanz auf diesen Fall, auf diese Tat und dann sozusagen wie bei einer Zwiebel Schicht für Schicht nach innen einzudringen, mir dann die Biografien von den beiden Haupttätern, also Marcel und Marco, genauer anzugucken und damit auch diese Ebene der Widersprüche zu betreten. Das heißt, dass es eben nicht nur Monster sich hier entwickelt haben, sondern durchaus an vielen Punkten Sympathiefallen aufgestellt sind, dass ich manches nachvollziehbar, manches sogar erschreckend nah erlebe, für mich, was die emotionalen Qualitäten und Beziehungen

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Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film

Fiktionalisierende Momente bestehen sowohl in der Erstellung, Auswahl und Montage der einzelnen Texte als auch in deren Interpretation bei der performativen Umsetzung durch die Schauspielenden. Auch wenn jeder Dokumentarfilm sein Material bearbeitet, um es auf das in den Augen der Autor_innen Wesentliche zu verdichten: Die Kontrolle über das Gesagte selbst und dessen Inszenierung ist in Der Kick umfassender als im herkömmlichen Dokumentarfilm, wo die dargestellten Personen immerhin meist selbst und damit für sich selbst sprechen. Ein weiterer interpretativer Akt besteht in der Aufteilung der Statements zwischen Wrage und Lerch, die, wie ich im Folgenden diskutieren möchte, jeweils für bestimmte diskursive Positionen stehen.

Die Inszenierung der einzelnen Figuren Die 17 im Stück vorkommenden Figuren werden von zwei Schauspielenden dargestellt. Dabei spielen Marcus Lerch und Susanne Maria Wrage jeweils sowohl männlich als auch weiblich identifizierte Figuren.897 Mit einer Ausnahme werden die Täter und ihr Umfeld von Wrage dargestellt, während Lerch die Perspektive der Ankläger_innen verkörpert. Im Folgenden möchte ich untersuchen, welche Interpretationen und Diskurse zum Thema Neonazismus und rechter Gewalt durch diese Art der Darstellung evoziert werden. Ein zentraler Aspekt meiner Analyse ist die Kategorie Geschlecht. »Wenn ich den Originaltäter sehe, mit Glatze und SS-Rune, der vor einer Kamera etwas vor sich hin stottert, wäre ich von seinem Outfit so abgestoßen, dass ich mich gar nicht auf ihn einlassen könnte, ob der Mann vielleicht doch etwas zu sagen hat«,898 paraphrasiert Andres Veiel einen Besucher der Filmpremiere. An dieser Stelle ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass der Figurenwechsel lediglich über Gestik, Mimik und Stimme erfolgt.899 Ein Wechsel der Kostüme findet nicht statt. Wrage und Lerch sind beide schwarz gekleidet. Wrage, welche die Täterfiguren verkörpert, trägt Springerstiefel und einen angeht, jetzt zwischen Mutter und Sohn beispielsweise oder auch […] unter den Brüdern untereinander. Und, dass ich darüber die Texte gesucht habe und wir – Gesine und ich – das dann auch so gebaut haben, dass wir Stück für Stück zeigen und gleichzeitig nicht alles ins grelle Licht holen und sagen: Wir wissen jetzt, wie es gewesen ist, sondern dieses Verhüllen auch immer wieder deutlich machen. Das heißt, diese Mischung aus Etwas-Aufdecken, aber auch gleichzeitig das Geheimnis bewahren und die Dinge dann auch so stehenzulassen und zu sagen: Bis dahin kommen wir und da ist die Grenze. Also letztendlich arbeite ich auch hier immer wieder mit der Black Box.« Der Kick, Zusatzmaterial auf DVD, Bonustrack 1, Interview Andres Veiel, Berlin, 30. 03. 2005. 897 Diese geschlechtliche Identifikation verläuft dabei über die Nennung des Namens oder der Funktion – zum Beispiel Gutachter – beim ersten Auftritt der jeweiligen Figur. 898 Veiel 2006, S. 277. 899 Vgl. v. Keitz 2009, S. 150.

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schwarzen Kapuzenpullover, was neben Sportlichkeit und Jugendlichkeit auch Assoziationen an neonazistische Bekleidungscodes bzw. tradierte Vorstellungen von diesen evoziert. Ihre nach hinten gebundenen Haare funktionieren gerade in der Frontalansicht auch als Kurzhaarfrisur. Trotz dieser Anklänge bedeutet die Reduktion – »Glatze und SS-Rune« oder andere eindeutig neonazistische Codes und Attribute verschwinden – auch eine zumindest äußerlich moderatere Darstellung der Täter. Dass dies ein Sich-einlassen-Können der Zuschauenden auf die neonazistischen Figuren erleichtert, liegt auf der Hand. Schließlich markiert deren positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus eine Grenze des Erträglichen. Dieser verkörpere, wie etwa Jürgen Link schreibt, »durch die Megaverbrechen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah« »die absolute politische Anomalität«.900 Susanne Maria Wrage verkörpert die Täter und ihr neonazistisches Umfeld. Sie schlüpft in Marcel und Marco Schönfeld sowie in dessen ebenfalls extrem rechte Freundin Sandra Birke. Auch in der Rolle als Marcels Mitlehrling Heiko Gäbler gibt sie sich offensiv als Neonazi zu erkennen. Welchen Effekt hat dieser Wechsel der Geschlechterrolle für den Diskurs über rechte Gewalt? Am Beispiel der Berichtserstattung zum NSU zeigt Anna Oelhaf auf, dass »Frauen […] gemeinhin als das friedfertigere Geschlecht [gelten], von dem keine Gefahr ausgehe, während Männern Aggressivität und Gewalttätigkeit zugeschrieben werden. Darüber hinaus werden Frauen und Mädchen eher als unpolitisch eingeordnet bzw. als politische Akteurinnen weniger wahr- und ernst genommen«.901

Wrage als Marcel Schönfeld

900 Link 2002, S. 201f. 901 Oelhaf 2012, S. 6–10.

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Wrage als Marco Schönfeld

Die populäre Gleichsetzung von Neonazismus mit Männlichkeit lässt sich auch an der filmischen Darstellung der extremen Rechten aufzeigen: In den seit den 1990er Jahren in Deutschland entstandenen Spielfilmproduktionen werden – vom Film Kriegerin (R: David Wnendt, D 2011) einmal abgesehen – neonazistische Figuren diesem Klischee entsprechend stets als aus der unteren Mittelschicht oder aus der Unterschicht stammende heterosexuelle Männer zwischen 16 und 30 Jahren inszeniert.902 Dies, obwohl aus aktuellen Studien hervorgeht, dass es bezüglich politischer Einstellungsmuster kaum geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.903 Extrem rechte Mädchen und Frauen setzen ihre Überzeugung lediglich seltener als Jungen und Männer in politischer oder militanter Aktion in die Tat um.904 Forschungen über die öffentliche Wahrnehmung von NS-Täterinnen haben ergeben, dass von diesen begangene Verbrechen als »besonders brutal« erscheinen würden, da sie »den traditionellen Weiblichkeitsbildern widersprechen«. »Die Anwendung von Gewalt wurde und wird bei Frauen als abweichendes Verhalten betrachtet und damit nicht nur pathologisiert, sondern oft auch dämonisiert«, schreiben die Kulturwissenschaftlerinnen Elke Frietsch und Christiana Herkommer.905 Über die Besetzung der Täterrollen mit Wrage schreibt sich der Film in dieses Spannungsfeld ein. Veiel selbst sieht im Geschlechterwechsel eine Steigerung der Abstraktion: »Durch den Rollenwechsel und die Vorgabe, dass eine Frau Männerrollen spielt und umgekehrt, wollen wir versuchen, den Fall universell zu verhandeln: Potzlow ist überall

902 903 904 905

Vgl. Stegmann 2010. Vgl. Stöss 2009, S. 4. Vgl. Rommelspacher 2006, S. 94. Vgl. auch Döhring, Feldmann 2005, S. 18. Frietsch, Herkommer 2009, S. 33.

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und überall ist Potzlow. Diese These ist auch das Ergebnis unserer Recherche. Die Bedingtheiten für die Tat finden sich nicht nur in der Uckermark.«906

Der Rollenwechsel wirkt sich entscheidend auf die Interpretation der Figuren aus. Durch das Fehlen traditionell männlich codierter Attribute und Körperzeichen, wie Bartwuchs oder tiefe Stimme, weist Wrage den Brüdern androgyne Aspekte zu, die ihnen den Anschein von Adoleszenz verleihen. Mag dies beim zur Tatzeit 17-jährigen Marcel noch hinkommen, wird der damals 23-jährige Marco auf diese Weise deutlich verjüngt. Dierbach kritisiert die Wahrnehmung rechter Gewalt als Jugendphänomen: »Eine politische Dimension rechter Gewalt wird mit Verweis auf das Alter der Akteure zurückgewiesen, was die Täter (und damit das ganze Problem) auf einen Schlag weit weniger bedrohlich erscheinen lässt, denn es erlaubt, im Hinblick auf die Jugendlichkeit der Täter ein stark eingeschränktes Konzept von individueller Verantwortlichkeit zu Grunde zu legen, von welchem ausgehend sich deren Aggression in erster Linie als Resultat allgemeiner Defizite und Risiken der Lebensphase ›Jugend‹ thematisieren lässt.«907

Dies trifft auch auf Wrages Darstellung der Schönfeld-Brüder zu, die durch ihr Spiel weder selbstsicher noch erwachsen wirken. Marcel hat den Kopf zwischen die Schultern gezogen, er spricht stockend, durchgängig mit einem starken Dialekt. Er macht immer wieder Pausen zwischen den einzelnen kurzen Sätzen. Auffällig ist, dass auch der Satzbau in Teilen vom Standarddeutschen abweicht. Es ist zu vermuten, dass Marcels Sprache von einem jugendlichen Soziolekt908 geprägt ist:909 Seine Stimme klingt unsicher, manchmal leicht trotzig, was an manchen Stellen mit dem Setting der Beschuldigtenvernehmung zusammenhängen mag, sich aber auch durch die übrigen Statements zieht.910 Der ältere Bruder tritt erst im letzten Drittel der Handlung auf. Wrage verkörpert ihn durch eine noch stärker in sich zusammengesunkene Körperhaltung: Die Unterarme liegen auf den Oberschenkeln, sein Blick ist meist zu Boden gerichtet, nur beim Sprechen lässt sie ihn den Kopf ein wenig heben. Er spricht sehr langsam und stottert dabei stark. Insgesamt bietet er ein Bild des Jammers.911 Lediglich Marcels extrem rechten Mithäftling Heiko Gäbler lässt Wrage als selbstsichere Figur erscheinen. Er steht fast stramm und spricht mit lauter Stimme. Marco Schönfelds Partnerin Sandra Birke wird im Film als überzeugte Neo906 907 908 909

Veiel 2006, S. 275. Dierbach 2010, S. 9. Für diesen Hinweis danke ich Natalia Pantaleeva. Dieser wird an folgender Aussage Marcel Schönfelds über den Baumhausbau deutlich: »Haben wir Bretterboden rein gemacht und dann so Couch und Sessel.« Der Kick, TC: 34:29. 910 Vgl. Ebd., TC: 33:43ff. 911 Vgl. Ebd., TC: 54:00ff.

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nazistin eingeführt. Bei ihrem ersten Auftritt singt sie mit heller klarer Stimme einige Zeilen aus dem Lied Zeit zu rebellieren912 der neonazistischen Liedermacherin Annett Müller.913 Bei ihrem zweiten Auftritt wird deutlich, dass Birke selbst zur Zeit der Handlung wegen eines rassistisch motivierten Angriffs eine dreijährige Haftstrafe absitzt. In ihren Statements geht es jedoch vorrangig um ihren Freund Marco und ihre Liebe zu ihm. Sie beschreibt ihr Kennenlernen, schildert, wie die beiden ihre Beziehungwährend der Haft organisiert haben, äußert sich zu Kinderwünschen und weiteren Plänen für eine gemeinsame Zukunft. Marco beschreibt sie als liebevollen und einfühlsamen Partner : »Wenn es mir schlechtging, er hat das gesehen.«914 Der Mord an Marinus Schöberl ändert nichts an ihren Gefühlen: »Marco ist schon die Liebe meines Lebens. Egal, was war, auch nach der Geschichte im Stall, trotzdem habe ich nie gesagt, das ich ihn nicht mehr liebe.« Für die Deutung Sandras als Neonazistin spielt es zudem eine Rolle, dass sie wie die anderen Neonazis von Wrage verkörpert wird. Es wird deutlich, dass jemand gleichzeitig überzeugte Neonazistin und liebende Partnerin sein kann. Schließlich ist ihr Partner als nichtjüdischer weißer Deutscher und dazu noch Gesinnungsgenosse Mitglied der imaginierten Wir-Gruppe.915 Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Argumentation zur Rolle der Kategorie Geschlecht ist jedoch zu vermuten, dass sie zu einer Entpolitisierung der Figur Sandras beigetragen haben könnte – im Hinterkopf das »übliche Klischee von der unpolitischen Frau«, über das Frauen als Täterinnen unsichtbar gemacht werden.916 Als Mutter der Täter, Jutta Schönfeld, macht sich Wrage so klein wie möglich. 912 »Es ist Zeit zu rebellieren, / es ist Zeit, um aufzusteh’n! / Denn den Missstand in meinem Lande / will ich nicht länger mit anseh’n. / Deshalb: Steh auf, du deutsches Volk, / hast viel schlimmes Leid hinter dich gebracht. / Es ist deine Heimat, dein Land, dein Tod / Deutschland braucht dich jetzt in seiner Not!« Der Kick, TC: 1:03:28. 913 Netz gegen Nazis 2008. 914 Der Kick, TC: 1:03:28. 915 Die im Film konstatierte Gleichzeitigkeit von Neonazismus und romantischer Liebe findet sich im Buch nicht wieder. Dort heißt es über Marcos Partnerin, die dort ›Angela‹ genannt wird: »Angela hat sich bereits in jungen Jahren Rechtsextremen angeschlossen, die für sie so etwas wie eine Ersatzfamilie sind. Um politische Inhalte geht es dabei kaum. In der Gruppe hat sie einen wesentlich älteren ›väterlichen Freund‹ kennengelernt, der – anders als der eigene Vater – für sie da ist und sich um sie kümmert.« Veiel (2008), S. 79. Sandra erscheint hier als eher unpolitische Person, der es, wie Veiel suggeriert, eher um die Wärme einer Ersatzfamilie, denn um politische Inhalte gehe. Dies, obwohl sie, wie Veiel hier selbst schreibt, seit vielen Jahren in der extremen Rechten aktiv ist und zur Zeit des Mordes an Marinus Schöberl wegen eines rassistisch motivierten Angriffs in Haft saß. Um für Veiel als politisch zu gelten, scheint stattdessen eine nicht näher erläuterte Beschäftigung mit politischen Inhalten vonnöten. Eine von extrem rechten Feindbildern gesteuerte Unterscheidung in Freund und Feind, die in dem von Sandra begangenen Übergriff zum Tragen kommt, scheint für nicht auszureichen. 916 Köttig, Kenzo 2011.

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Mit geschlossenen Knien, die Hände im Schoß gefaltet, sitzt sie schmal auf der Bank, wirkt dabei unsicher, manchmal unterschwellig aggressiv. Etwa wenn sie in einer Inversion von Opfer- und Täterrolle einen Teil der Schuld Marinus Eltern zuschiebt: »Ich sag, um den Jungen tut es mir auch leid, aber die Eltern haben sich nie um ihr Kind gekümmert.«917 Während sie angibt, Marco schon früh verloren zu haben, spricht sie wiederholt von der Liebe zu ihrem Sohn Marcel, ihrer Verzweiflung nach dessen Verhaftung und ihren Zukunftsplänen nach der Haftentlassung der Söhne. Gerade über die Figur der Mutter werden die Kindheits- und Jugenderlebnisse der Brüder thematisiert. Sie ist es, die erzählt, wie beide oftmals selbst zu Gewaltopfern wurden. Aus dem Täterschema fällt Wrage in gewisser Weise als Dorfbewohner Achim Fiebranz, bei dem der tödlich endende Abend seinen Anfang nahm. Wrages Spiel lässt ihn betrunken wirken, er schwankt beim Gehen. Zu Beginn des Films findet er als Vater von Marinus Freundin deutliche Worte für die Täter : »Ich könnt, wenn die Brüder mir jetzt in die Pfoten laufen würden, ich könnt mit ’nem Kopp den Balken einreißen, um die zu erwischen.«918 Geht es hier durch die Besetzung mit Wrage darum, auch ihn mit Täterschaft zu assoziieren oder eine Ambivalenz aufzuzeigen? Soll hier die Frage nach seiner möglichen Mitverantwortung gestellt werden? Als die Schönfeld-Brüder anfingen, Marinus zu »hänseln«, hat er sie rausgeworfen, ohne sich um den weiteren Verbleib Marinus’ zu kümmern. Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass Wrage zu diesem frühen Zeitpunkt des Stücks für die Zuschauenden schon als Täterdarstellerin etabliert ist. Markus Lerch verkörpert einerseits die unterschiedlichen Instanzen der Anklage, in den Rollen als Staatsanwalt, Gerichtsgutachter und Pfarrer. Vor allem aber leiht er mit Marinus’ Mutter Birgit Schöberl und dessen bestem Freund Mathias Muchow den trauernden Hinterbliebenen, ihrem Zorn, ihren Alpträumen und Rachefantasien Körper und Stimme. Als Birgit Schöberl thematisiert er deren Sorge nach Marinus’ Verschwinden, das vergebliche Warten auf den Sohn. Starr und gerade sitzt sie da, die Hände liegen auf den geschlossenen Knien, manchmal kämpft sie mit den Tränen. Eindrücklich berichtet Schöberl davon, wie sie die Nachricht vom Auffinden des Sohns erhielt, und verleiht ihrem Verlust Ausdruck: »Er wollte doch noch so viel machen.«919 In ihrer Rede werden die traumatischen Folgen, die der grausame Mord für die Angehörigen hat, deutlich: »Wie sie ihn behandelt haben, das verfolgt mich auch in der Nacht, wo ich dann höre, wie er nach mir ruft und schreit, dass ich ihm helfen soll, und ich kann nicht. Und dann muss ich jedes Mal aufstehen, ich kann 917 Der Kick, TC: 22:17ff. 918 Ebd., TC: 09:12ff. 919 Ebd., TC: 27:12.

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dann nicht mehr schlafen. Das bringt mich um.«920 Ein weiteres Thema ihrer Auftritte ist der Umgang offizieller Stellen mit dem Mord. Sie geht mit den in ihren Augen unzureichenden polizeilichen Ermittlungen ins Gericht: »Und immer das Angerufe, Angerufe auf der Wache. Warum haben sie denn nicht reagiert, als jemand aus Potzlow gesagt hat, da ist frisch aufgebuddelt, oben am Stall? Gesucht haben die nicht. Mein Junge ist kein Ausreißer.«921 Ihre Einschätzungen bleiben im Verlauf des Films unwidersprochen. Auch wenn der institutionelle Umgang mit der Tat mehrmals kurz angeschnitten wird, legt der Film seinen Schwerpunkt nicht auf dieses Thema. In den Erzählungen der Mutter entsteht das Bild von Marinus als liebevollem Sohn, der »keiner Fliege was zuleide tun« konnte und »einen Beschützerinstinkt unserer Enkelin Maya gegenüber« hatte.922 Obwohl sich der Film über weite Strecken um die Täter und ihre Familien(-geschichte) dreht, ist die Perspektive der Angehörigen des Opfers ein wesentlicher Bestandteil. Entsprechend hat auch die Mutter des Ermordeten das letzte Wort.

Lerch als Birgit Schöberl

Andererseits verkörpert Lerch Repräsentanten kommunaler Institutionen. Als »Bürgermeister 1« und »Bürgermeister 2« sowie als Berufsschulausbilder steht er für deren mangelnde Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung mit der Tat und ihren Ursachen. Aus der Reihe der Kläger_innen, Sachverständigen und Gutachter fällt Lerch auch, wenn er als Jürgen Schönfeld jede (Mit-)Verantwortung für die Taten seiner Söhne von sich weist: »Wir haben unsere Kinder gut erzogen […]. Wir haben sie ja nicht hochgeschickt in den Stall.«923 Die Eltern 920 921 922 923

Ebd., TC: 27:12ff. Ebd., TC: 24:01. Ebd., TC: 1:17:45. Ebd., TC: 16:44ff.

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treten oft gemeinsam auf. Als Eltern Schönfeld verkörpern Wrage und Lerch jeweils den ihrem Geschlecht entsprechenden Elternteil. In ihren meist gemeinsamen Statements sitzen die Schönfelds nebeneinander auf der Bank. Dort nimmt Lerch als Jürgen Schönfeld wesentlich mehr Platz als seine Frau ein. Breitbeinig, den Blick starr geradeaus in die Kamera gerichtet, die Hand aufs Knie gestützt, ragt sein Ellenbogen in den Raum seiner Frau hinein. Eine Pose, die sich als Ausdruck männlicher Dominanz sowie als Verteidigungshaltung deuten lässt. Auch hat er wesentlich mehr Redeanteile als sie, die meist lediglich das von ihm Gesagte ergänzt. Die Eltern bekennen sich trotz allem zu ihren Kindern. Diese Ausführungen haben deutlich gemacht, dass auch durch die Rollenaufteilung zwischen Wrage und Lerch starke interpretative Akzente gesetzt werden. Zum einen verleiht die Schauspielerin den Tätern die Aura von Jugend und Verletzlichkeit, was sich als Viktimisierung dieser deuten lässt. Den Ankläger_innen hingegen wird durch Lerch ’männliche’ Autorität verliehen.

Der Tatablauf Der Film beginnt mit einem Textblock: Weiß auf schwarz wird der Tatablauf skizziert: »In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandelten die Brüder Marco und Marcel Schönfeld sowie ihr Kumpel Sebastian Fink den 16-jährigen Marinus Schöberl. Am Ende wird er durch einen Sprung auf seinen Hinterkopf getötet. Vier Monate später, im November 2002, wird die Leiche von Marinus in einer Jauchegrube gefunden. Täter und Opfer kennen sich. Sie kommen aus Potzlow, einem Dorf sechzig Kilometer von Berlin.«924

Diese knappe Zusammenfassung im Vorspann gibt einen Überblick über den Gegenstand des Films, was den Zuschauenden die Orientierung erleichtert. Vielleicht um die Deutung der Tat nicht vorwegzunehmen, enthält diese Skizze weder Hinweise auf das Tatmotiv, noch auf die Gesinnung der Täter. Lediglich der Tatort, das jugendliche Alter des Opfers und die Art der Tötung werden genannt: Der Verweis darauf, dass »Täter und Opfer einander kennen«, enthält jedoch bereits interpretative Ansätze: Er stellt die Beziehungsebene in den Vordergrund, weckt Zuschauererwartungen. Handelt es bei dem brutalen Mord etwa um eine Beziehungstat? Warum haben die drei Täter Marinus Schöberl so gehasst? Die Rekonstruktion des Tatablaufs, die als Beschuldigtenvernehmung des Haupttäters Marcel Schönfeld inszeniert wird, bildet den narrativen Rahmen. 924 Ebd., TC: 0:02f.

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Seine Schilderung selbst wird in mehrere Abschnitte zerlegt, die in chronologischer Reihenfolge aufeinander folgen und ungefähr den Eskalationsstufen der tödlich endenden Gewalthandlungen entsprechen. Montiert zwischen unterschiedliche andere Statements, bilden diese Verhörsequenzen den roten Faden durch die vielstimmige Collage. Entlang der Fragen des Verhörenden schildert Marcel Schönfeld in knappen Sätzen die Fakten. Er steht dabei in der hell erleuchteten Box. In sich zusammengesunken, den Blick oft zu Boden gerichtet, die Antworten kommen stockend. Wrage stellt ihn als unsicher und kindlich dar. Vorwiegend in Einstellungsgrößen zwischen nah und amerikanisch gefilmt, kommt dies besonders zur Geltung. Der Verhörende hingegen steht in der Mitte der dunklen Halle. Er hat das Gesicht zur Kamera gewandt, deren Blickpunkt dem imaginierten Publikum im Gerichtssaal entspricht. Lerch inszeniert ihn mit aufrechter Körperhaltung und autoritär anmutendem Tonfall. Ein Scheinwerfer erleuchtet die schwarz gekleidete Figur in der sonst dunklen Halle. Auf der Soundspur fallen zu Beginn und Ende dieser Sequenzen wiederholt eiserne Türen hallend ins Schloss, evozieren damit Gefängnissituationen. Alles zusammen lässt an Verhörzimmer auf Polizeiwachen, aber auch an Gerichtsverhandlungen denken. Gleich zu Beginn des Films, direkt nach den Eröffnungsstatements der Mütter Schönfeld und Schöberl, folgt die erste Vernehmung. Beginnend mit Marcels Wiedergabe der Belehrungen über seine Rechte als Beschuldigter, Angaben zu Namen, Alter, Beruf und Ausbildung, dient sie zur Einführung in das Setting einer Gerichtsverhandlung. Marcel beschreibt nun die Zusammenkunft der Täter und den Beginn des Abends bei ihrem Bekannten Achim Fiebranz im Nachbarort Strehlow. Die knappe Schilderung endet mit Marinus Ankunft bei Fiebranz, wo die Quälereien ihren Anfang nehmen werden. Wenn an dieser frühen Stelle zur Sprache kommt, dass Marcel die Gesamtschule bereits nach der 8. Klasse verließ, besteht die Gefahr, dass dies den Zuschauenden – der Film kommt beispielsweise oft in der gymnasialen Oberstufe zum Einsatz – die Abgrenzung erleichtert. Leicht können die im Film zur Sprache kommenden Ideologien der Ungleichheit auf sogenannte »bildungsferne Unterschichten« projiziert werden, anstatt die Betrachtenden zur Auseinandersetzung damit anzuregen, was sie selbst an Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus verinnerlicht haben bzw. inwieweit sie selbst von diesen Strukturen profitieren.925 Wenn Dorfbewohner Achim Fiebranz im folgenden Statement angibt, selbst nicht lange zur Schule gegangen zu sein und als Arbeitsloser nicht wisse, was er außer Fernsehen machen solle, wird die Tat im 925 Bei Schüler_innen der 12. Klasse eines Stuttgarter Gymnasiums etwa entstand »der Eindruck, dass in Potzlow eine Art ›Bodensatz der Gesellschaft‹ lebt. Diese Perspektivlosigkeit, diese Leere schockierte uns als Zuschauer besonders.« Azinovic, Azinovic o. J.

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Milieu sozial Marginalisierter verortet.926 Wrage unterstreicht diesen Eindruck durch ihr Spiel, indem sie Fiebranz’ kurze einfache Sätze mit starkem Dialekt spricht und beim Gehen schwankt, als ob er angetrunken sei. Ähnlich schilderte auch der Staatsanwalt das Umfeld, in dem sich die Tat ereignete: »Wenn man sich anhört, was die Jugendlichen da für ein Umfeld haben. Die sitzen mit diesen alkoholkranken Menschen unter dem sogenannten Schleppdach und saufen. […] Und wenn man dann diese traurigen Gestalten da gesehen hat vor Gericht. Ein Zeuge nach dem anderen, früherer Rinder- oder Schweinezüchter und dann arbeitslos, alle dem Alkohol verfallen.«927

Wie um zu zeigen, von wem gerade die Rede ist, verschiebt sich während dieser Worte der Fokus der Tiefenschärfe auf Wrage, die, immer noch als Fiebranz, rechts im Vordergrund des Bildes steht und dessen betretener Blick durch eine Nahaufnahme in Szene gesetzt wird. Bereits im ersten Drittel des Films bescheinigt der Staatsanwalt den drei Tätern »ein dumpfes rechtsextremistisches Gedankengut und den unbedingten Willen, das in Gewaltform auszuleben«.928 Er steht dabei im hell erleuchteten Kasten. Vor ihm sitzt Wrage als Jutta Schönfeld: Die Bank, auf der sie zuvor in vertrauter Atmosphäre mit ihrem Mann saß, fungiert nun als Zuschauerbank im Gerichtssaal. Weiter führt der Staatsanwalt aus, dass am »Tatabend […] weder ein Asylbewerber, ein Jude oder irgendjemand, worauf das Feindbild zutraf, vorhanden« gewesen sei, weshalb Marinus »als Notopfer herhalten« musste: »Nach unserer Auffassung hat das Opfer Schöberl nach den ganzen Misshandlungen sein eigenes Todesurteil gesprochen, indem er gesagt hat: ›Ich bin ein Jude.‹ […] Bevor er sich als Jude bekannte, da geilte man sich – ein unschöner Ausdruck, aber vielleicht passt er hier – an seinen Hip Hop-Hosen auf.«

Während dieser Sätze wird in einer Nahaufnahme auf Jutta Schönfeld geschnitten. Sie schaut betreten zu Boden, die Hände hat sie wie immer im Schoß gefaltet. Der Staatsanwalt fährt fort: »Der Tötungsakt wurde erleichtert, weil Marinus Schöberl aus Sicht der Täter auf einer niedrigeren geistigen Stufe stand. Man kann in die Reihe der potenziellen Opfer neben Asylbewerbern auch behinderte Menschen einreihen. Und das traf auf das Opfer zu. Marinus Schöberl stotterte, besonders wenn er aufgeregt war.«929 Zumindest an dieser Stelle bleibt seine Einschätzung nicht unwidersprochen: Kurze Zeit später, in der nächsten Vernehmungsszene, wird Marcel nach seinem Motiv Marinus zu schlagen gefragt.930 Da ihm das Opfer nichts getan habe, gibt 926 927 928 929 930

Der Kick, TC: 08:22ff. Ebd., TC: 11:20ff. Ebd., TC: 20:36ff. Ebd., TC: 20:36. Ebd., TC: 23:20.

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er neben Gruppenzwang – »ich habe nur geschlagen, weil alle es gemacht haben« – den Raub seines Mopeds an,931 dessen er Marinus bezichtigt.932 Aus der Fortsetzung der Beschuldigtenvernehmung ergibt sich jedoch ein Tathergang, welcher der Einschätzung des Staatsanwalts sehr nahe kommt. Schräge Kamerawinkel akzentuieren auch auf der Bildebene den Horror der folgenden Schilderung. Nachdem die drei Täter mit ihrem Opfer beim benachbarten Haus der Spierings933 angekommen sind, wo sie sich zuvor gewaltsam Zutritt verschafft haben, nötigen sie die BewohnerInnen, weiter mit ihnen zu trinken: »Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er oder dass er ein Jude sei. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er Jude sei. Dann ging es richtig los.«934 Hier wird die große Rolle deutlich, die extrem rechte Diskurse bei der Ausführung der Tat spielten: Die Gewaltdynamik wurde entfesselt, als Marinus sich durch die erzwungene Selbstbezeichnung935 als Jude in die antisemitische Feindbildkonstruktion936 des Neonazismus einschrieb.937 In scheinbarem Wi931 Schon in der vorherigen Sequenz hatten die Eltern Schönfeld Marinus beschuldigt, das Moped gestohlen und generell »immer geklaut« zu haben: »Jetzt [nach dem Mord, JS] haben die Leute gesagt, können ’se die Schuppen offen stehen lassen. Vorher, wo der Marinus unterwegs war, konnten ’se das nicht. War immer alles weg gewesen.« (Der Kick, TC: 22:17) Abgesehen vom ungeklärten Wahrheitsgehalt dieser Behauptung, verpasst es der Film an dieser Stelle, das projektive Moment dieser Begründung herauszuarbeiten. Denn, wie später anhand seiner Vorstrafenregisters deutlich wird, hat sich zumindest Marco Schönfeld mehrfach des Diebstahls schuldig gemacht. 932 Ebd., TC: 23:20ff. 933 Hier lebt eine alkoholkranke Nachbarin mit ihrem Lebensgefährten, die früher schon einmal von Marco Schönfeld bedroht wurde. Vgl. Veiel 2008, S. 134. 934 Der Kick, TC: 27:42. 935 In seiner Rekonstruktion des Tatablaufs hebt Kohlstruck die große Bedeutung hervor, die dieser erzwungenen Selbstbezeichnung zukommt: »Die Akteure zwingen den bereits als Außenseiter Definierten, seinen Status mit einem eingeführten und generalisierten Ausgrenzungsterminus zu ratifizieren. Diese erzwungene Selbstausgrenzung bietet ihnen die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten nicht als initiative Aggression zu verstehen, sondern als Reaktion auf eine aktive Definition des Opfers. Mit der Zuschreibung ›Jude‹ produzieren die Täter einen Status des Ausgegrenzten, mit dem sie bestehende Hemmschwellen weiter absenken. Die Täter schaffen sich damit – gleichsam in einer Spiralbewegung der Radikalisierung – eine weitere Voraussetzung für die kommenden Drangsalierungen.« Kohlstruck, Münch 2004, S. 48. 936 »Inhaltlich bedeutet die Stilisierung ›des Juden‹ zum Feind die Zulässigkeit von Aggressionen gegen diesen Feind, die als ›Verteidigung‹ legitimiert werden. Gegen eine übermächtige Bedrohung, die auf die eigene kollektive Identität zielt, wird ein Recht auf Notwehr geltend gemacht. Das zweite inhaltliche Element charakterisiert ›den Juden‹ als Unperson, als ein Wesen, das nicht zur menschlichen Gemeinschaft gehört und dessen Behandlung insofern nicht an die gültigen moralischen Normen oder Gesetze gebunden ist.« Kohlstruck, Münch 2004, S. 35. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch andere Autor_innen. Vgl. Ramelsberger 2003a, S. 191. Auch die Neuruppiner Staatsanwaltschaft teilt diese Sicht. Vgl. Schnittcher 2011, S. 156.

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derspruch zu dieser Deutung steht folgende Äußerung Marco Schönfelds gegen Ende des Films. Hier bestreitet er die pejorative Bedeutung von »Jude« als gewaltauslösendes Signalwort: »Jude, das hab ich schon zu vielen gesagt, und die hab ich auch nicht umgebracht.«938 Warum er jedoch für Marinus gerade diese im extrem rechten Diskurs als Feindbild par excellence codierte Bezeichnung wählte, als er diesen, wie er zugibt »quälen und ärgern« wollte, mag bei einem Neonazi auf der Hand liegen. Doch zurück zur Beschuldigtenvernehmung: Marcel beschreibt nun, wie Marinus im Anschluss unter heftigen Schlägen zum Trinken genötigt wurde: »Marco füllte dann einen Plastebecher mit Klarem und Bier. Marinus sollte diesen austrinken. Dies hat er aber nicht geschafft. Beim zweiten Versuch musste er brechen und übergab sich über den Tisch.«939 In seiner Rekonstruktion des Mordfalls diagnostiziert Michael Kohlstruck den Tätern eine »Aggression gegen ›Unmännlichkeit‹« als zentrales Motiv940 und verweist auf das »antifeminine[.] Männlichkeitskonzept« der »rechtsextremen Jugendkultur«.941 Ein von Marinus nicht bestandenes Ritual »zur Vergewisserung der Männlichkeit«942 sieht er etwa in dessen Scheitern beim Trinken des ihm aufgenötigten Alkohols.943 Anders als seine Mörder gehörte »Marinus nicht zu denjenigen, die im Ort als aggressiv oder gar als Schläger bekannt waren.«944 Kohlstruck verweist insbesondere auf Marinus’ Äußeres – weite Hip-Hopp-Hosen und längere, gefärbte Haare – das den Männlichkeitsidealen seiner Mörder entgegenstand. Marinus

937 Im Buch schreibt Veiel, dass sich ab diesem Punkt auch Marcel an den Misshandlungen gegen Marinus beteiligt habe. Vgl. Veiel 2008, S. 142. 938 Der Kick, TC: 01:13:36. 939 Ebd., TC: 27:42. 940 »Schöberl entsprach nicht den klassischen Feindbildern, wie man sie aus der politisierenden Betrachtung der rechtsextremen Jugendkultur kennt: Er war kein Farbiger, kein Asylbewerber, kein ›Linker‹ und kein Verräter aus den eigenen Reihen, aber er wurde als das Gegenbild zur eigenen sehr traditionell und eng gefaßten Männlichkeit wahrgenommen. Seine Fremdheit wurde auch geschlechtlich definiert.« Kohlstruck, Münch 2004, S. 48. 941 Ebd., S. 46. Dieses Konzept fasst Kohlstruck wie folgt: »Das in den maskulinen Kulturen praktizierte und normativ gültige Bild von Männlichkeit betont einmal die traditionell als männlich geltenden Eigenschaften und Verhaltensweisen, also Stärke, Rationalität, Aktivität und Rigidität. Zum anderen aber nimmt man zum Gegenpol der als weiblich geltenden Merkmale eine ablehnende bis feindliche Haltung ein. Im wesentlichen betrifft dies kulturgeschichtlich tradierte Stereotype, die Weiblichkeit mit Schwäche, mit Passivität und Sensitivität und mit Emotionalität, insbesondere mit Angst, Traurigkeit und Peinlichkeit, also depressiven Gefühlsqualitäten, gleichsetzen. Dieses Weiblichkeitsprofil wird v. a. bei Männern energisch abgelehnt.« Ebd. S. 2. Zu extrem rechten Männlichkeitsentwürfen vgl. Claus, Lehnert, Müller 2010. 942 Vgl. Kohlstruck, Münch 2004, S. 46. 943 Ebd. 944 Ebd.

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»dokumentierte damit vielleicht auch eine Zugehörigkeit zu der Hip-Hopper-Szene, auf jeden Fall aber praktizierte er eine eher ästhetisch akzentuierte und auch spielerische Selbstdarstellung: Das Färben der Haare ist ein Akt bewusster Veränderung, der idealtypisch ein weibliches Verhalten repräsentiert.«945

Zu dieser Deutung passt, wie sich Marcel an einer späteren Stelle über seinen eigenen Kleidungsstil äußert: »Mit zwölf hatte ich meine ersten Stiefel, von Marco. Mit Stiefeln kriegste mehr Ansehen.«946 Seine Mitschüler hingegen hätten so »Schlabberhosen [getragen, JS], da verschwimmt alles so«.947 Diese Äußerung lässt sich dahingehend deuten, dass ein Verschwimmen der Körpergrenzen in weiten Hosen der Norm hypermaskuliner Körperlichkeit widerspricht. Tatsächlich gehören enge Hosen zur uniformen Kleidung neonazistischer Skinheads. Im Film wird diesem Deutungsansatz jedoch nicht weiter nachgegangen. Während der Beschuldigtenvernehmung schildert Marcel weitere Gewalttätigkeiten und Demütigungen, die darin eskalierten, dass Sebastian Fink auf dem am Boden liegenden Marinus uriniert. Diese Geste lässt sich, wie Veiel im Buch schreibt, als weitere Stufe der Degradierung verstehen: »Die Beschmutzung ist nicht nur eine Machtdemonstration, durch sie wird Marinus quasi entmenschlicht, mit einem Tier gleichgesetzt, das sich in Exkrementen suhlt.«948 Auf diese drastischen Schilderungen folgen nun mit den Statements von »Bürgermeister 1« und »Bürgermeister 2« die einzigen Äußerungen von Kommunalpolitikern. Während Nr. 1 die Vorzüge und Errungenschaften Potzlows preist – »Vor ein paar Jahren sind wir zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden.«949 –, bagatellisiert Nr. 2 die Tat: »Ich glaube, der Marinus war zur falschen Zeit am falschen Ort. Es hätte ebenso gut ein anderer sein können. Die wollten den Abend irgendeinen aufklatschen da. Wie das heute so ist unter Jugendlichen.«950 Unter dem Eindruck der zuvor geschilderten sadistischen Quälereien wirken die relativierenden Statements der Bürgermeister in ihrem völligen Mangel an Empathie mit den Hinterbliebenen des Mordopfers unangemessen, geradezu geschmacklos. Die Fortsetzung des Tatgeschehens ist von längeren Passagen umgeben, in denen Marcels weiche, verletzliche Seite präsentiert wird. Er erzählt aus seiner Kindheit, erinnert sich an das Bauen von Baumhäusern, beschreibt, wie er als Zwölfjähriger zu trinken begonnen und sich nach Marcos Inhaftierung einsam und verloren gefühlt habe. Ein weiteres Thema ist hier Jutta Schönfelds Krebserkrankung: Nacheinander sprechen Mutter und Sohn über ihre diesbezügli945 946 947 948 949 950

Ebd. Der Kick, TC: 33:43. Ebd., TC: 34:12. Veiel 2008, S. 142. Der Kick, TC: 30:54ff. Ebd., TC: 31:35.

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chen Ängste. Indem der Film Marcel – und an anderer Stelle sogar Marco – auch von dieser Seite zeigt, sollen die Täter aus dem von Veiel konstatierten »Monsterkäfig«951 geholt werden. Das Klischeebild vom brutalen Nazischläger, das laut Veiel die Medienberichterstattung zum Fall Potzlow prägte, wird weder weiter aufgegriffen noch verhandelt. Dämonisierungen der Täter tauchen im Film jedoch lediglich in den Redebeiträgen aus dem Umfeld der Opferfamilie auf. Wenn auf diese Empathie generierenden Passagen die Fortsetzung der Beschuldigtenvernehmung folgt – Marcel schildert nun, wie sie mit dem weinenden Marinus in Richtung Schweinestall aufbrechen, um ihm dort »noch ein wenig Angst einzujagen«952 –, wird durch diesen Bruch wieder eine gewisse Distanz zum Täter aufgebaut. Doch in den folgenden Statements lauert schon die nächste »Sympathiefalle«.953 Hier erwähnen Marcel und seine Mutter eine Episode, in der Marcel selbst Gewaltopfer wurde: In einem Streit aus nichtigem Anlass wird er von einem Bekannten schwer zusammengeschlagen: »Zwei Zähne waren kaputt, einer war abgebrochen, Kiefer war gebrochen, Jochbein war gebrochen, Schädel-Hirn-Trauma und Nase auch. Konnt gar nicht zurückhau’n.«954 An dieser Stelle wird die Tat in einem Kontext allgemeiner Gewalttätigkeit verortet, nach dem Motto »Jeder ist mal dran«. Diese Einschätzung teilt auch seine Mutter : »Ebenso gut hätte einer von unseren Jungs das Opfer sein können.«955 Dass Lerch als Verhörender allerdings hier ebenfalls im Bild präsent bleibt – er steht in einem Rechteck aus Licht diagonal hinter Marcel im Bildvordergrund –, lässt sich als kritischer Kommentar zu dieser Äußerung deuten: Über die Anwesenheit des Verhörenden bleibt das zuvor Geschilderte, die stundenlangen Quälereien gegen Marinus, im doppelten Wortsinn im Bild. Ein ähnliches Spiel mit Nähe und Distanz wiederholt sich in einer weiteren Sequenz: Dieses Mal wird die Entscheidung der Täter, den schwerverletzten Marinus zu töten,956 in einen Kontext mit den Opfererfahrungen Marcos sowie familiären Traumata gestellt. Marco, so ist hier von seinen Eltern zu erfahren, wurde von einer achtköpfigen Gruppe sexuell gedemütigt.957 Die Prozesssequenzen enden mit einer Rede Birgit Schöberls. Mit deutlichen Worten wendet sie sich an die drei gegnerischen Anwälte.958 Entschieden bezieht 951 Vgl. Spiegel o. A., 2005. 952 Der Kick, TC: 38:41. 953 Der Kick, Zusatzmaterial auf DVD, Bonustrack 1, Interview mit Andres Veiel, Berlin, 30. 03. 2005. 954 Der Kick, TC: 40:02. 955 Ebd., TC: 41:36. 956 Ebd., TC: 1:00:04. 957 Mit einem toten Aal um den Hals »nackig vor denen gehockt, musst er sich einen runterholen«. Ebd. TC: 56:31. 958 Wie auch aus dem Artikel einer_s Prozessbeobachterin_s deutlich wird, versuchte die Verteidigung »den ganzen Prozess hindurch ihre Mandanten als während der Tat unzu-

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sie gegen jegliche Versuche der Opfer-Täter-Umkehr Stellung: »Er ist das Opfer, nicht diese Bestien.« Im Verlauf ihrer Rede gibt sie sich immer mehr ihren Rachefantasien hin: »Diese Bestien verdienen keine Gnade. Die müssten so umgebracht werden wie unser Sohn.«959 Ihre Rede steht quer zu dem ausdifferenzierten Bild, das insbesondere im letzten Drittel des Filmes von den Tätern entworfen wurde. Da nicht davon auszugehen ist, dass der filmische Diskurs und das imaginierte Publikum Verfechter_innen der Todesstrafe sind, zeugen ihre Worte vor allem von den Zerstörungen, welche die Tat im Leben der Angehörigen angerichtet hat: Der Film endet mit einem Hinweis auf ihren Krebstod. Zwar gibt es immer wieder Situationen, in denen Verständnis für die Brüder aufkam. Doch wurden diese, wie ich in diesem Abschnitt zu zeigen versucht habe, vom filmischen Diskurs immer wieder unterlaufen: Momente der Empathie mit den Tätern werden in ein Spannungsverhältnis zu deren brutalen Taten gesetzt.

Leerstellen Wenn nach Veiels Deutung des Mordes gefragt wird, muss auch die Zeit der Konzeption und Materialsammlung in den Blick genommen werden. Auch wenn sich nicht rekonstruieren lässt, wer alles für Interviews angefragt wurde, aus welchen Gründen Gespräche nicht zustande kamen oder im Film schlicht keine Verwendung fanden, gibt es auffällige Leerstellen bei den zu Wort kommenden Personen. Besonders springt das Fehlen des dritten Täters, Sebastian Fink, ins Auge. Er tritt weder im Film noch im Theaterstück auf, noch nimmt seine Person in den im Film wiedergegebenen Aussagen von Zeugen und Gutachtern nennenswerten Raum ein.960 Auch im Abspann wird der Grund seines Fehlens nicht rechnungsfähig, nicht rechtsradikal oder als nicht intelligent genug darzustellen, um ein möglichst mildes Urteil zu erwirken«. Inforiot 2012. 959 »Sehr geehrtes Gericht, sehr geehrte drei Anwälte. Im Namen meiner Familie und als Mutti von Marinus bitte ich Sie, mit diesem Pokerspiel aufzuhören, kann das nicht mit ansehen. Haben Sie als Anwälte eigentlich ein Gewissen? Denken Sie an die unbeschreibliche Qual, die Schmerzen, die Angst, die Marinus erleiden musste. Er ist das Opfer, nicht diese Bestien.« Der Kick, TC: 1:17:25. 960 Lediglich in Marcels Schilderungen des Tatablaufs und dessen Vorgeschichte vor Gericht fällt Finks Name. Im Buch hingegen findet er im Part Annäherungen in zwei Unterkapiteln vergleichsweise größere Beachtung. Allerdings wird ihm im Unterkapitel Lebensläufe deutlich weniger Raum zugestanden als den Schönfeldbrüdern. Marco Schönfelds Lebenslauf umfasst hier 25 Seiten (S. 65–90). Marcel Schönfeld, dem im Film der größte Raum zugewiesen wird, werden 13 Seiten gewidmet (S. 91–104). Sebastian Finks Lebensgeschichte hingegen wird auf knappen 7 Seiten zusammengefasst (S. 105–112). Vgl. Veiel 2008.

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transparent gemacht.961 Es stellt sich die Frage, warum der Tatbeteiligung des überzeugten Neonazis so wenig Beachtung geschenkt wird.962 Effekt dieser Leerstelle ist eine Fokussierung auf die Brüder Schönfeld und ihr familiäres Umfeld. Der filmische Diskurs präsentiert als Deutungen des Mordes vor allem Fragmente und Ereignisse aus dem Kosmos der Familie Schönfeld, ihrer Geschichte voller unterdrückter Gewalterfahrungen und dem konflikthaften Brüderverhältnis. Leerstellen lassen sich auch bei der Darstellung des Umfelds des Opfers ausmachen: Es treten weder Marinus’ Vater noch seine im Film erwähnten Schwestern oder seine Freundin Nancy Fiebranz auf. Auf wessen Entscheidung ihr Fehlen zurückgeht, wird ebenfalls nicht transparent gemacht. Während den Kindheits- und Jugenderlebnissen der Schönfeld-Brüder relativ großer Raum zugestanden wird, bleibt Marinus’ Geschichte weitgehend im Dunklen. Die Statements seiner Angehörigen drehen sich meist um den Zeitraum des Mordes, sein Verschwinden, das sorgenvolle Warten und den Schock, den das Auffinden der Leiche für sein Umfeld bedeutete. Dem Aspekt des Erinnerns und Gedenkens an das Opfer wird somit deutlich weniger Screentime zugestanden, als der Beschäftigung mit den Tätern und ihren Motiven, der Präsentation des »Ursachengestrüpps«.963 Damit reiht sich Der Kick in die Mehrheit der deutschen Produktionen zum Thema rechter Gewalt ein, deren Hauptinteresse den Tätern gilt. Darüber hinaus würden mehr Informationen über Marinus’ Leben die eine 961 Wie wichtig diese Transparenz für die Rezeption sein kann, möchte ich am Beispiel des Films Die Kinder sind tot (R: Aelrun Goette, D 2003) veranschaulichen. Hier porträtiert die Dokumentaristin Alrun Goette mit Daniela Jesse eine überforderte junge Mutter, die zwei ihrer vier Kinder in ihrer Wohnung verdursten ließ. In der Dokumentation wird auch nach der Mitverantwortung ihres Umfelds gefragt. Doch wo sind die Väter und männlichen Angehörigen dieser Kinder? Nie treten sie vor die Kamera. Ist es eine bewusste Entscheidung der Dokumentaristin, Kinderbetreuung als reine Frauensache zu verhandeln – womöglich, weil sie es selbst so sieht? Erst im Abspann wird deutlich, dass die Männer eine Zusammenarbeit mit dem Filmteam abgelehnt haben. 962 Im Buch wird im Kapitel Die Tat seiner Rolle bei der Tat und ihrer Vorgeschichte eine größere Bedeutung zugemessen. Dort ist etwa zu erfahren, dass Marcel den überzeugten Neonazi am Wochenende nach Potzlow eingeladen habe, um sich seinem Bruder gegenüber als Rechter zu beweisen. Indem er jemanden »mit rechter Meinung« vorzeigte, habe er Marco demonstrieren wollen, dass »er mit den richtigen Leuten verkehrt«. Diese Begründung für Sebastians Besuch lässt Marcels neonazistisches Handeln weniger als Resultat seiner eigenen Überzeugungen erscheinen, denn als auf dem Wunsch zu basieren, seinem Bruder zu gefallen, für den er, wie auch im Film gleich an mehreren Stellen verdeutlicht wird, eine Mischung aus Angst und Bewunderung hegt. Finks eigene Motivation findet jedoch auch in den Hintergrundkapiteln des Buchs kaum Beachtung – sein Auftreten wird auf seine Funktion in den Dynamiken zwischen den Brüdern Schönfeld reduziert. Sebstian Fink blockte Veiels Versuche der Kontaktaufnahme ab. Veiel 2008, S. 281. 963 Pfiffl Media 2006, S. 6.

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von der Filmwissenschaftlerin Wende konstatierte »prinzipielle Austauschbarkeit« von Opfer- und Täterrollen unterlaufen. Wende macht diese an biografischen Parallelen in den Lebensgeschichten von Opfer und Tätern sowie an den semantischen Ähnlichkeiten der Namen Marinus, Marcel und Marco fest.964 Sie schreibt: »Bevor die Täter zu Mördern wurden, waren sie selbst über lange Zeit hinweg in der Opferrolle: Bereits im Kindesalter sexuell missbraucht, Alkoholsucht, Schulversagen und Sonderschule, mit einer Mutter, die (genauso wie die Mutter von Marinus) an Krebs erkrankt ist.«965 Hier klingt die auch in anderen Filmen auftauchende Deprivationsthese an, die Neonazismus als Ausdruck psychosozialer Krisen fasst. In solchen Viktimisierungs- oder Krisendiskursen wird, wie Rommelspacher kritisiert, die »Angst vor Machtverlust und Infragestellung von Dominanz aber zumeist gleichgesetzt mit den existentiellen Ängsten um Arbeit, Wohnung und Lebensperspektive«.966 Wie die sozialwissenschaftliche Forschung immer wieder feststellt, ist rechte Gewalt nicht Ausdruck und Resultat biographischer Krisen, sondern konsequente Folge rechter Ideologie. Wenn Wende von einer Austauschbarkeit der Opfer- und Täterrollen spricht, blendet sie dieses elementare Charakteristikum rechter Gewalt aus. Ein Mehr an Screentime für die Lebensgeschichte des Opfers könnte daher gerade wegen der biografischen Parallelen zwischen Opfer und Tätern dazu beitragen, derartige viktimisierende Tendenzen zu unterlaufen: Marinus Schöberl war, trotz Schulund Sprachschwierigkeiten und finanziell prekären Verhältnissen, im Gegensatz zu seinen Mördern kein Neonazi. In dem von Veiel zusammengestellten »Ursachengestrüpp« fehlen auch die Stimmen von gegen rechts engagierten Personen, die eine Einschätzung neonazistischer Strukturen und der Verbreitung rechter Gewalt in der Uckermark vornehmen und die Tat und Täter in diesen verorten könnten. Zudem hätten Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Initiativen eine Einschätzung des kommunalen Umgangs mit dem Mord geben können. Stimmen, die auch in der Uckermark zu finden gewesen wären. So bezeichnet etwa der gegen Rechts engagierte Zusammenschluss Pfeffer und Salz Uckermark die Region als einen »Schwerpunkt rechtsextremer Gewalt und Aktivität«.967 Eine Kontextualisie964 Wende 2011d, S. 268. 965 Ebd. 966 Rommelspacher zufolge diene rechte Gewalt stattdessen dazu, »etwas zu zeigen, etwas zu beweisen. Gewalthandlungen sollen zeigen, dass sich die Täter eine weiße, heterosexistische, patriarchale Gesellschaft wünschen, in der nur die Leistungsfähigen, die Angepaßten und Erfolgreichen etwas zu sagen haben sollen. Beweisen wollen die Täter, dass sie diejenigen sind, die dazugehören. Angegriffen werden alle, die diesen Vorstellungen widersprechen und sie tatsächlich oder scheinbar in Frage stellen.« Rommmelspacher 2006, S. 85. 967 Die Aktivist_innen haben »für die ganze Region südlich von Prenzlau (Potzlow) für die letzten Jahre Dutzende rechtsextremer Gewalttaten und anderer Aktivitäten registriert.

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rung, die im Film fehlt, beschränkt er sich doch über weite Strecken auf die private Sphäre der Täter.

Der Mord im Kontext weiterer rechter Gewalttaten An mehreren Stellen werden im Film weitere rassistische Gewaltakte erwähnt, die von den Schönfeld-Brüdern und ihrem Umfeld verübt wurden. Einmal liest der Gutachter aus Marco Schönfelds Strafregister vor. In der langen Auflistung kommt auch ein rassistischer Angriff auf einen Schwarzen zur Sprache, wegen dem Marco zur Zeit des Auffindens von Marinus’ Leiche inhaftiert war : »Ohne äußerlichen Grund [habe Marco diesen, JS] krankenhausreif«968 geschlagen.969 An einer anderen Stelle ist es Marcel, der kurz vor Marcos Haftentlassung eine Schwarze Mitschülerin rassistisch bedroht und beleidigt hat. Im Film wird diese Begebenheit von seinem neonazistischen Mitlehrling Heiko Gäbler geschildert:970 »Verändert hat Marcel sich dann ganz schnell. Er hat gesagt, wenn sein Bruder draußen ist, wollen sie auf Party gehen.«971 Er fährt nun fort zu beschreiben, wie Marcel sein Outfit deshalb vor Marcos Rückkehr mit Glatze und Springerstiefeln gemäß neonazistischen Codes verändert habe. Die Tat selbst schildert Gäbler wie folgt: »An dem Abend haben wir wieder Feuer gemacht,

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Antisemitische Plakate in Gerswalde, Übergriffe auf polnische Bürger und Polizisten in Warnitz, Gewalttaten gegen die Junge Gemeinde in Lindenhagen. In unserer Chronik der nachweisbaren rechtsextremen Aktivitäten in den letzten zwei Jahren stehen 145 Ereignisse«, schrieben die Aktivist_innen 2007 in einer Pressemitteilung. Pfeffer und Salz Uckermark: »Potzlow ist überall«. Auf: Inforiot vom 4. Juli 2007. http://www.inforiot.de/ potzlow-ist-ueberall/ (abgerufen: 19. 06. 2016). Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch das Team des alternativen brandenburger Nachrichtendienstes Inforiot, der unter anderem Artikel zur regionalen extremen Rechten sammelt, dokumentiert und verfasst »Seit Beginn der 1990er Jahre kam es in der Region immer wieder zu rechtsradikalen Übergriffen und Gewalttaten: Von antisemitischen Sprühereien an der Pfarrhausmauer über das Zusammenschlagen von Jugendlichen, die sich der rechtsradikalen Hegemonie widersetzten, bis hin zu einem Angriff auf ein kirchliches Freizeitheim im benachbarten Sternhagen, wobei ein Sozialarbeiter ins Koma geprügelt wurde. Diese Vorfälle ereigneten sich alle unter Beteiligung von ›ganz normalen Jugendlichen‹ – wie die Rechtsradikalen gerne verharmlosend genannt wurden – aus Potzlow.« Inforiot 2012. Der Kick, TC: 55:16. Während die rassistische Tatmotivation im Film weder explizit benannt wird, geschweige denn weitere Informationen dazu geliefert werden, geht Veiel im Buch sowohl auf diesen Angriff als auch auf dessen traumatische Folgen für den Betroffenen Neil Duwhite recht ausführlich ein. Veiel 2008, S. 163. Gäblers Gesinnung wird ersichtlich als er erklärt, was der Zahlencode 88, der für »Heil Hitler« steht, ihm selbst bedeutet: »Heil Hitler. Denkt man an die Zeit des Reiches, ja. Dass man dafür steht, dass man deutsch denkt. Deutsch denken, für die Zukunft denken, für die Familie da sein.« Der Kick, TC: 43:12. Ebd., TC: 42:53f.

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draußen am See. Gab es da so eine N* bei uns. Hat er gesagt, hier, auf ’n Scheiterhaufen mit der. N*-verbrennung, N*972 brennen gut.« Da Marcel in Heiko Gäblers Augen ein »Mitläufer« ist – »der denkt nicht nach« –, nimmt er dessen verbale Gewaltorgien weder ernst, noch heißt er sie gut: »Ich denk, was ist das denn. Warum will er sie auf ’n Scheiterhaufen tun?« Dessen ungeachtet teilt Gäbler die in ihnen zum Ausdruck kommenden rassistischen Ausschlussforderungen: »Ich würde Alice ausweisen, weil sie ein Mischling ist. Ausweisen. Abschieben.« Gäbler, so wird hier deutlich, ist sich seiner selbst und seiner politischen Überzeugungen sicher. Dies wird auch durch Wrages Spiel betont: Als Gäbler steht sie leicht nach hinten gelehnt, sehr aufrecht, fast stramm. Sie spricht mit lauter Stimme, mit starkem Dialekt. Durch das Votum des überzeugten Neonazis erscheint der rassistische Angriff als eine Art Performance, die, wie hier suggeriert wird, mehr mit der Rückkehr des älteren Bruders denn mit Marcels eigenen Überzeugungen zu tun hat und ihm entsprechend auch von anderen Neonazis wie Gäbler nicht abgenommen wird. Wenn Marcel in der darauffolgenden Szene vom Verhörenden gefragt wird, ob er die Auffassungen seines älteren Bruders, der sich als »nationaler Rechter« sehe, teile und er dies verneint, wird diese entpolitisierende Deutung seiner rassistischen Handlung bekräftigt. Marcel, dem der filmische Diskurs zudem wiederholt ein ernsthaftes Bemühen um Aufrichtigkeit bescheinigt,973 erklärt stattdessen, dass »Ausländer ja auch Menschen wie wir« seien. Die Frage des Verhörenden, ob er alles tue, was sein Bruder ihm sage, verneint er jedoch. Im Anschluss entlastet auch der Ausbilder seinen Schützling vom Vorwurf des Neonazismus. Für ihn sei dieser »ein ganz normaler Jugendlicher, der nach Orientierung gesucht hat«.974 Er lehne es ab, ihn wegen seines Outfits »als Rechten einzustufen«. Während Marcels Entpolitisierung in den vorherigen Statements eher über eine Psychologisierung seiner Motive verlief, ist es hier sein Mangel an Wissen: »Leute wie Marcel, die haben doch von Politik keine Ahnung. Die wissen ja nicht, was los ist, da kann ich nicht sagen: ›Du bist ein Nazi‹.« Wenn hier eine nicht näher definierte »Ahnung von Politik« zur Bedingung erklärt wird, Marcel als Neonazi anzuerkennen, wird dessen Selbstpositionierung über entsprechende Taten und Dresscodes als unzureichend negiert. Das Hintergrundwissen der Täter und deren Fähigkeit, ihre Taten in ausdifferenzierter Art und Weise ideologisch zu 972 N* steht an dieser Stelle für »Nigger«. 973 In seinem ersten Statement vor Gericht verzichtet er auf sein Recht, die Aussage gegen seinen Bruder zu verweigern. Er wolle »die volle Wahrheit sagen« (Der Kick, TC: 06:01). Seine Schilderungen des Tatablaufs erschienen detailliert und vollständig. An einer Stelle ergänzt er freiwillig eine vorherige Aussage, bei der er »aus Angst nicht die volle Wahrheit gesagt« habe. An keiner Stelle wird er durch die Montage der Lüge oder des Mauerns überführt. 974 Ebd., TC: 47:23.

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begründen, erscheint in dieser Logik als notwendige Voraussetzung, um rechte Handlungen überhaupt als solche klassifizieren zu können. Eine Setzung, die auch in Teilen der Ursachenforschung zum Thema rechte Gewalt verbreitet ist und unter anderen von dem Pädagogen Stefan Dierbach scharf kritisiert wird. Er stellt klar, dass ein »Politikverständnis […], welches nur Äußerungen auf gleichem theoretischem Niveau akzeptieren möchte, […] seinen Gegenstand« verfehle.975 Unter Bezugnahme auf den rechten Vordenker Carl Schmitt konstatiert er : »Auch wenn die Bestimmung des Politischen als ›Unterscheidung von Freund und Feind‹ ein hohes Maß an Vereinfachung darstellt, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass mit dem Ansatz von Schmitt eine Theorie existiert, mit welcher sich die Aktionen und die Parolen rechtsmotivierter Schläger jenseits der akademischen Kriterien einer anspruchsvollen Sprachkritik als sinnvolles Handeln im Kontext einer politischen Strategie klassifizieren lassen. Um eine Tat von Art und Struktur der Rechten Gewalt als ›politisch motiviert‹ einzustufen, wäre demnach nicht unbedingt das Kriterium der Ausdifferenzierung von Weltbildern das entscheidende politische Instrument, sondern die Frage, ob diese Gewalt sich eventuell gegen Menschen richtet, die durch ihre Eigenschaft als Feindbilder auf eine entsprechende fanatische Theorie bezogen werden können.«976 Diese Bedingung war beim Angriff auf die Schwarze Mitschülerin Alice zweifellos erfüllt. Auch wenn der Film dies nicht herausarbeitet, waren rassistische Diskurse hier handlungsleitend. Sie kamen sowohl bei der Auswahl der angegriffenen Person als auch in den kolonialrassistischen Beschimpfungen selbst zum Tragen. Indem Marcel seine Mitschülerin zum brennbaren Objekt degradiert, wertet er sich selbst auf. Er inszeniert sich als jemand, der über ihr Leben und sogar ihr Menschsein entscheiden kann. Diese Ebene wird jedoch seitens des Ausbilders ausgeblendet, der die Bedrohung seiner Schülerin Alice zu einer Lappalie erklärt: »Was er da zu Alice gesagt hat – ›N*977 auf ’n Scheiterhaufen, die brennen besser wie Dachpappe‹ –, da steht er nicht dahinter, das ist einfach so blöd dahergesagt. Die haben da ganz andere Ausdrücke, die kennen doch keine anderen. Heute finde ich es toll, rote Schnürsenkel zu tragen, morgen ziehe ich mir andre ein, übermorgen finde ich es unheimlich toll, ’ne Schlafanzugshose anzuziehen und mit der rumzurennen.«978 An dieser Stelle kann nicht abschließend geklärt werden, ob der Film durch das im Übrigen unwidersprochene Statements des Erziehers eine Einschätzung von Marcels Weltbild durch eine pädagogische Fachkraft präsentieren will, oder 975 976 977 978

Dierbach 2010, S. 175. Ebd., S. 181. Hervorhebung im Original. Siehe FN 974. Der Kick, TC: 47:23.

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ob die hier zutage tretende Relativierung des Rassismus als Beispiel für mangelnde Sensibilität und Achtsamkeit im institutionellen Umgang mit diesem dokumentiert werden soll. Vielleicht geht es schlicht um beides. Denn die Art und Weise, wie der Ausbilder seinen Schüler und dessen Handeln einschätzt, verrät gleichzeitig viel über dessen eigenen Standpunkt.979 Steht er repräsentativ für das Kollegium, lässt dies nichts Gutes für den dortigen Umgang mit dem Thema Rassismus erahnen. Die betroffene Mitschülerin Alice selbst kommt nicht zu Wort. Dies, obwohl ihre Einschätzung aufschlussreich wäre, um ein klareres Bild von der Verbreitung rassistischer Diskriminierung an der Berufsschule zu bekommen bzw. davon, wie Mitschüler_innen und Erzieher_innen damit umgehen.980 Um Marcels Rassismus geht es auch in der darauffolgenden Szene. Er setzt mit seiner Schilderung des Tatablaufs an der Stelle ein, an welcher der Mord im Schweinestall und dessen rassistische Vorlage, die entsprechende Szene aus dem Film American History X, zur Sprache kommen. Durch die Schilderung der brutalen Tat wird mit den zuvor anklingenden Verharmlosungstendenzen gebrochen. Gleichzeitig ist der Wechsel der Figuren und Aussagen in gewisser Weise als thematischer matchcut zu deuten. So lässt sich der Mord an Marinus in die Reihe der von Marcel verübten Gewalttaten einordnen, ist Steigerung und grausige Zuspitzung dessen, was er Alice angetan hat. Wenngleich nicht explizit als solcher benannt, so geht es doch in beiden Fällen auch um Rassismus. Denn Marinus wird während des Bordsteinkicks zum Schwarzen aus der Spielfilmvorlage American History X gemacht, dem das Recht zu leben brutal genommen wird. Noch ein weiterer rassistisch motivierter Angriff kommt im Film zur Sprache. Marcos Freundin Sandra Birke erinnert sich an die Zeit vor dem Mord an Marinus. Damals saßen sie und ihr Partner in derselben Haftanstalt ein und konnten sich ihre jeweiligen Dienste so einrichten, dass kurze Treffen möglich waren. Am Anfang der verliebten Erzählung erwähnt Birke auch die Gründe für ihre Inhaftierung: »Hab so ’ner Eule, war auch in der rechten Szene, ist aber mit ’nem Fidschi verheiratet, und das hab ich alles nicht kapiert, nicht gerafft, ne, denn hat’s geknallt. Ich hatte 2,8 Promille und ich kam überhaupt nicht klar, weiß nicht, was wir mit der Eule gemacht

979 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Veiel zwei Jahre später in seinem Buch: »In der Tat haben einige der Erzieher das rechtsextreme Gebaren von Marcel Schönfeld und Sebastian Fink nicht sehr ernst genommen, es als Mode und Laune abgetan.« Veiel 2008, S. 227. 980 Im Buch ist zu erfahren, dass, auch wenn es einige Mitschüler_innen als »normal« empfinden, Alice mit rassistischen Beschimpfungen zu belegen, Marcels verachtende Äußerungen die Gruppe jedoch polarisierten, was zur Folge hat, dass er von einer geplanten Abschlussfahrt ausgeschlossen wurde. Veiel 2008, S. 104.

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haben. Dann war es ein bisschen doll, dann haben wir ihr das Nasenbein gebrochen und alles so.«981

Auf den rassistisch motivierten Angriff wird nicht weiter eingegangen. Ob als Mosaik in Marcos langem Strafregister oder als Vorgeschichte für das eigentlich zu Erzählende wie in Sandras Fall: Wiederholt werden schwere rassistische Gewalttaten beiläufig als Randepisoden behandelt, auf welche auch seitens anderer Figuren nicht weiter eingegangen wird. Auf diese Weise wird ihre Alltäglichkeit, ihre Selbstverständlichkeit hervorgehoben, die sie im Leben der Täter zu haben scheinen. Wie an Auswahl und Anordnung der Statements ersichtlich wird, legt der Film seinen Schwerpunkt auf die Täter. Die Perspektive der von Rassismus Betroffenen wird dabei ausgelassen.

Die Verbreitung von Ideologien der Ungleichheit Eine Reihe von Umfragen und Studien – als aktuellstes Beispiel ist hier die 2016 erschienene Publikation Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland zu nennen – kommt immer wieder zu dem Ergebnis, dass extrem rechte Einstellungen bzw. deren Fragmente in Ost- und Westdeutschland weit verbreitet sind.982 Explizit werden diese Haltungen hier als ein Problem der gesellschaftlichen Mitte verstanden, als »das, was zwischen ›oben‹ und ›unten‹ ist, häufig die ›Normalverdiener/innen‹, das heißt die Mittelschicht« konzipiert.983 Besonders 2012 waren extrem rechte Einstellungen gerade in Ostdeutschland virulent: »Knapp 16 % der Ostdeutschen« bescheinigen die Autoren der Mitte-Studien »ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild«.984 Im vorliegenden Abschnitt möchte ich untersuchen, inwieweit der Film auf diesen Nährboden der Tat, die Verbreitung extrem rechter Ideologiefragmente, eingeht. Während rechte Weltbilder im Film die meiste Zeit mit offenem Neonazismus identifiziert werden, äußert sich mit der Mutter des Opfers zumindest an einer Stelle eine Figur, auf welche dieses Kriterium nicht zutrifft, offen rassistisch. Den Kontext bilden die von Birgit Schöberl als folgenlos empfundenen Kondolenzbesuche des brandenburgischen Ministerpräsidenten Mathias Platzeck: Sie fragt, was ihr sein Mitgefühl nütze, wenn sie sich noch nicht einmal einen Grabstein für Marinus leisten könne und infolge seines Todes die Familien981 982 983 984

Der Kick, TC: 1:03:28. Vgl. Decker, Brähler 2016, S. 11–22. Kiess, Decker, Brähler 2013, S. 114. Ebd., S. 54. 2015 ist dieser Wert jedoch auf 7,6 Prozent gegenüber 4,8 Prozent in Westdeutschland gesunken. Decker, Kiess, Eggers, Brähler 2016b, S. 48.

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wohnung verlassen müsse: »Ist ja jetzt einer weniger bei uns, wir leben auf zu viele Quadratmeter, schreiben die [das Wohnungsamt, JS], wir haben kein Anrecht mehr auf die Wohnung, sollen uns nach ’ner anderen umsehen.«985 Ihre Wut angesichts einer als herzlos empfundenen Bürokratie schlägt wenig später in unverhohlenen Rassismus um: »Ist ’n Deutscher weniger wert als ’n Ausländer? Der Platzeck legt ja auch Kränze bei den Ausländern ans Mahnmal sonstwohin.« Abgesehen davon, dass die Unterstellung der Bevorzugung von »Ausländern« jeglicher Grundlage entbehrt – in Brandenburg ist zur Zeit des Mordes an ihrem Sohn mit Amadeu Antonio Kiowa lediglich ein Opfer rassistischer Gewalt offiziell anerkannt worden und es ist unwahrscheinlich, dass dessen Angehörige mehr Geld und Aufmerksamkeit als die Schöberls erhalten haben986 –, räumt sie sich qua Deutschsein mehr Rechte als allen ein, auf die dieses Merkmal in ihren Augen nicht zuzutreffen scheint. Indem Veiel solchen Alltagsrassismus gerade an der Mutter eines Todesopfers rechter Gewalt thematisiert, bekommen die Zuschauenden eine Ahnung von dessen weiter Verbreitung.987

Der historische Nationalsozialismus und seine intergenerationelle Tradierung Während Veiel die Familiengeschichten der Schönfelds um die Zeit unmittelbar vor und nach dem Mord an Marinus sowie um Episoden aus Marcels und Marcos Kindheit und Jugend kreisen lässt – größeren Raum nimmt dabei auch der Vergleich der Gegenwart mit den als glücklicher erinnerten DDR-Zeiten ein –, 985 Der Kick, TC: 49:52. 986 Da der 2001 eingerichtete Fonds für Opfer rechter Gewalt, der Hinterbliebene unterstützen soll, Geld »nur für Opfer von Gewalttaten, die ab 1999 erfolgt sind« auszahlt, werden die Angehörigen des bereits 1990 ermordeten Kiowas keine finanzielle Unterstützung erhalten haben, während die Schöberls durchaus Ansprüche erheben können. Zu dieser Praxis vgl. Hubschmidt 2012. 987 Mit Thorsten Muchow, dem von Tamara Milosevic in ihrem Film Zur falschen Zeit am Falschen Ort porträtieren Vater von Marinus’ bestem Freund Matthias, wird im Film auf eine im Theatertext vorkommende Figur verzichtet, mit der ein weiterer Akzent auf die Verbreitung von Ideologien der Ungleichheit gelegt werden könnte. Angesichts der schweren psychischen Folgen, die der Mord an dessen bestem Freund auf seinen Sohn hat, plädiert Muchow dafür, einen Schlussstrich unter das Thema zu ziehen. (Veiel 2008, S. 20.) Den besten Freund seines Sohns scheint er nicht mehr zu kennen: »Marinus ist zugezogen hier. Wir wissen nicht viel von ihm.« An anderer Stelle pathologisiert er Opfer und Täter gleichermaßen, bezeichnet Marinus als jemanden, der auf die »Sonderschule« gehöre, die Täter als »Hilfsschüler«, die »in ärztliche Behandlung gehören«. (Ebd., S. 29.) Muchow zieht somit zu beiden Seiten Grenzen. Als Vater des besten Freundes des Opfers repräsentiert Muchow damit – neben einem Mangel an Empathie und der Weigerung, sich mit der Tat auseinanderzusetzen – die weite Verbreitung sozialdarwinistischer Positionen. Durch das Fehlen von Muchow bleiben diese im Film wenig akzentuiert.

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bleibt die Erinnerung an den Nationalsozialismus im Film eine Leerstelle. Dies gilt sowohl für das Schönfeld’sche Familiengedächtnis als auch das historische Gedächtnis der Gemeinde. Da die sozialpsychologische Forschung zum Thema Neonazismus die intergenerationelle Tradierung entsprechender Ideologeme als eine wichtige Ursache für eine extrem rechte Orientierung betrachtet, ist diese Auslassung bemerkenswert. Beispielsweise hat Jan Lohl herausgearbeitet, dass »[u]nbewusste Bereiche der Familienvergangenheit […] in der rechtsextremen Orientierung von Jugendlichen sichtbar« werden. Auch scheine die »latent tradierte Faszination der Großeltern am ›Dritten Reich‹ […] in der psychischen Bezugnahme dieser Jugendlichen auf rechtsextreme Bezugsobjekte auf«.988 Andersherum würden jugendliche Neonazis ihre Fantasien über »NS-Helden im Nationalen Abwehrkampf« nachträglich auf ihre Großväter projizieren.989 Ob und inwieweit solche Tradierungsprozesse auch zwischen Marco und Marcel, die zumindest mit einem ihrer Großväter viel Zeit verbracht haben, und ihren Großeltern abgelaufen sind, lässt der Film offen. Die Leerstelle wundert umso mehr, als Veiel im Buch selbst feststellt, dass die »Generation der Großeltern […] eine große Rolle im Dorf [spielt] und […] einen großen Einfluss auf die Enkelgeneration [hat]. Manche erkennen in dem latent fremdenfeindlichen Klima die Ressentiments der Großelterngeneration wieder, die den Chauvinismus an die nächste Generation weitergeben.«990 Im Film wird lediglich eine, wenn auch besonders traumatische Episode aus der Familienvergangenheit der Schönfelds erwähnt, die sich während der Befreiung durch die Sowjetarmee zutrug: Jürgen Schönfeld erzählt, wie sein Vater als Junge mit ansehen musste, wie seine Eltern im Streit um eine Armbanduhr von »Russen« erschossen wurden.991 Die Vergangenheit des Ortes992 wird im Film 988 Lohl 2010, S. 411. 989 Ebd. 990 Veiel 2008, S. 255. Im Buch widmet er dem »historische[n] Gedächtnis von Potzlow« ein Unterkapitel, in welchem er recht ausführlich auf die Vergangenheit der Familie Schönfeld während des Nationalsozialismus eingeht. (Veiel 2008, S. 245–269.) Hier erfährt man etwa, dass der Großvater väterlicherseits als Wehrmachtsangehöriger an der »Ostfront« stationiert gewesen sei. (Ebd., S. 248.) Über seine Kriegserlebnisse habe er jedoch wenig gesprochen. Er stehe im Ruf, ein »Herrenmensch« gewesen zu sein. Dorfbewohner_innen erinnern sich an seine Brutalität gegenüber Frau und Kind. Auch seine Frau, deren Schwester mit einem »überzeugten Mitglied der SS« verheiratet gewesen sei, schweige über den Nationalsozialismus. Aus Furcht vor der herannahenden Roten Armee habe sich der Großonkel erschossen, woraufhin die Großtante sich selbst und ihre Kinder getötet habe. (Ebd.,S. 249.) Über die Familiengeschichte von Jutta Schönfeld erfährt man nichts. 991 Das ist verwunderlich, denn wenn der Großvater väterlicherseits als Soldat am Vernichtungskrieg im Osten teilgenommen hat, kann er bei dessen Ende kein Junge mehr gewesen sein. Der Kick, TC: 57:10. 992 Im Buch thematisiert Veiel personelle Kontinuitäten in der Nachkriegszeit am Beispiel eines Mannes, der im Dorf für die brutale Behandlung polnischer Zwangsarbeiter_innen berüchtigt gewesen sei und seine Karriere zu DDR-Zeiten als LPG-Vorsitzender quasi unge-

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weitgehend auf die DDR-Zeit reduziert. Wieder ist es Jürgen Schönfeld, der berichtet, dass sein Vater ihm erzählt habe, wie er im Zuge von Kollektivierungsmaßnahmen sein Vieh an die LPG abgeben musste.993 Die eigenen Erinnerungen an die DDR-Zeiten sind jedoch positiv, war es doch für das Paar eine Zeit, in der Jürgen Schönfeld als Handwerker gut verdiente und seiner Familie einiges ermöglichen konnte. In der seit der Deutschen Wiedervereinigung strukturschwachen Uckermark habe es damals eine Fülle kultureller Angebote gegeben.994 Nostalgisch erinnert sich das Ehepaar Schönfeld an Tanzveranstaltungen und Filmvorführungen. Der Kontrast zum heutigen Mangel an solchen Anlässen wird auf der Bildebene dadurch verdeutlicht, dass er bei diesen Worten beginnt, mit seiner Frau durch die leere Halle zu tanzen.995 Der hier anklingende Mangel an kulturellen Angeboten wird jedoch im Film nicht explizit auf die Situation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Region bezogen.996

Fazit: Die Täter aus dem Monsterkäfig holen »Bei der Auswahl der Interviewpassagen leitete uns vor allem eine Frage: Wie kann man sich dieser monströsen Tat annähern, ohne die Täter im Monsterkäfig zu belassen? Um Marco und Marcel gerecht zu werden, ist es nötig, ihnen Biographien jenseits der Tat zu geben. Andererseits sollte die Grausamkeit der Tat weder ausgeblendet, noch verharmlost werden. Wird die Tat durch die sozialen und psychologischen Fehlentwicklungen erklärt, entsteht der Eindruck, dass letztlich alle Opfer der Verhältnisse sind, die Täter genauso wie das Opfer Marinus Schöberl. Diese generelle ›Viktimisierung‹ verleugnet die Tatsache, dass die Täter nach ihrer Haftentlassung eine Chance auf ein neues Leben haben, das Opfer dagegen nicht. Die Täter sollen und dürfen nicht aus

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brochen habe fortsetzen können. Auch im Theatertext gibt es zumindest eine Passage, in der sich eine »Frau aus dem Dorf« daran erinnert, wie sie Augenzeugin eines durch Potzlow führenden Todesmarschs zum KZ Ravensbrück wurde. Sie fehlt jedoch im Film. Veiel 2008, S. 32. Der Kick, TC: 56:31. Kohlstruck, Münch 2004, S. 15. Der Kick, TC: 51:14. Die drastischen Auswirkungen, die der strukturelle Wandel auf die Jugendlichen in der Uckermark hat, beschreiben Kohlstruck und Münch: »Zu den Folgen der Abwanderung wie der kleineren Alterskohorten insgesamt gehört die Schließung von ›lebensbegleitenden Institutionen‹ wie Kindergärten, Schulen oder Jugendclubs. Die Wege und der erforderliche Zeitaufwand werden größer, Bildungsprozesse und Freizeitaktivitäten werden erschwert. In den Dörfern nimmt die Zahl der Gleichaltrigen ab, mit denen gemeinsam jugendkulturelle Stile ausprobiert werden können. Dadurch reduziert sich die Zahl der praktizierten Jugendkulturen. Je geringer die Zahl der Jugendlichen und ihrer Lebensstile, um so leichter können einzelne Jugendkulturen eine Monopolstellung einnehmen.« Kohlstruck, Münch 2004, S. 18.

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ihrer Verantwortung entlassen werden. Unser Ziel war es, die Hintergründe der Tat so weit es geht zu verstehen, ohne damit für den Mord Verständnis zu entwickeln.«997

Mit diesen Worten erläutert Andres Veiel, was er mit seinem Film zum Ausdruck bringen wollte. Entscheidungen, die weitreichende Konsequenzen für die Deutung des Mordes und dessen Verortung im Diskurs über rechte Gewalt haben, wurden neben der Auswahl der Interviewpassagen bereits bei der Auswahl der Interviewten selbst sowie der Bearbeitung des umfangreichen Quellenmaterials getroffen. Eine zumindest am Anfang nicht ganz freiwillige Entscheidung gegen einen Dreh vor Ort mit den realen Beteiligten und für eine abstrakte Form der Darstellung verdeutlicht die Generalisierbarkeit der rechten Gewalttat, die sich auch an anderen Orten hätte ereignen können oder in ähnlicher Form ereignet hat. Rechte Morde ereigneten sich in Ost- und in Westdeutschland, sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum. Die von Ursula von Keitz beschriebene Gleichzeitigkeit von Vergegenwärtigung und Abstraktion, bei welcher der Film »nicht auf Evidenz, sondern auf die Evokation von Vorstellungen im Zuschauer [setzt], die das Bild mit seiner abstrakten, in den Mitteln reduzierten Szenerie transparent und offen für das absente Reale machen«,998 hat zugleich Konsequenzen für dessen Positionierung im Diskurs über rechte Gewalt: Der Verzicht, die Figuren über ein jeweils spezifisches Outfit zu charakterisieren – Rollenwechsel erfolgen lediglich über Veränderungen der Körperhaltung, Gestik, Mimik und Sprache –, hat eine zumindest äußerlich moderate Darstellung der Täter zur Folge. Dies erleichtert es den Zuschauenden, sich auf Marcel und Marco einzulassen. Da rechte Gewalttaten und Neonazismus gemeinhin mit Männlichkeit assoziiert werden, lässt sich die Besetzung der Täter und ihres Umfelds mit Susanne Maria Wrage einerseits als weiterer Schritt in die Abstraktion verstehen. Anderseits verleiht das Fehlen traditionell männlich codierter Attribute und Körperzeichen den Tätern die Androgynität adoleszenter Männlichkeit. Insbesondere der zur Tatzeit bereits 23-jährige Marco wird dabei deutlich verjüngt. Damit schreibt sich der Film in die so populäre wie kritikwürdige Wahrnehmung rechter Gewalt ein, die diese über den Faktor Jugend – genauer : jugendlicher Unzurechnungsfähigkeit – zu erklären sucht. Wenn die Brüder durch gesenkten Blick, eingezogene Köpfe und weitere Körperzeichen der Unsicherheit inszeniert werden, trägt dies zu ihrer Viktimisierung bei. Allerdings gelingt es dem Film, ein Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz zu den Tätern aufzubauen, zwischen Einfühlung in ihre eigenen Ängste und Verletzungen auf der einen, und einem Zurückschrecken vor ihren bestialischen Taten auf der anderen Seite. Die Schilderung der sich über mehrere Stunden hinziehenden stufenweise 997 Veiel 2008, S. 282f. 998 v.Keitz (2009), S. 152.

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eskalierenden Gewalt, die im Mord an Marinus gipfelte, ist als Beschuldigtenvernehmung Marcels inszeniert – in der grell erleuchteten Box mit gesenktem Kopf sitzend, antwortet er auf die strengen Fragen des Vernehmenden. Unterteilt in mehrere Abschnitte, oft zwischen Thematisierungen meist tragischer Begebenheiten montiert, in denen sich die Schönfeld-Brüder selbst als Opfer erfahren mussten, werden die Zuschauenden immer wieder dazu gebracht, auf Distanz zu den Mördern zu gehen. Auch wenn diese somit nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wird die Tat – entgegen Veiels erklärtem Anspruch – im Wesentlichen aus ihren sozialen und psychologischen Umständen gedeutet. Eine Fokussierung auf die Brüder Schönfeld und ihr familiäres Umfeld ist auch ein Resultat des Fehlens des dritten Täters, des bekennenden Neonazis Sebastian Fink. Weitere Leerstellen bilden die Stimmen von Menschen, die sich im Land Brandenburg gegen Rechts engagieren. Ihre Expertise hätte dazu beitragen können, die Tat in den Kontext der regionalen Verbreitung neonazistischer Strukturen und Gewalttaten zu setzen und auf diese Weise psychologisierenden Deutungsansätzen entgegenzuwirken. In Nebensätzen kommen zwar weitere rassistische Gewalttaten zur Sprache, die von den Schönfeld-Brüdern und ihrem Umfeld begangen wurden. Doch werden auch für diese, sofern überhaupt näher auf sie eingegangen wird, psychologisierende Deutungen präsentiert. Die Perspektive der von Rassismus und Antisemitismus direkt Betroffenen wird dabei konsequent ausgeblendet. Obwohl extrem rechte Einstellungen bzw. deren Fragmente gesamtgesellschaftlich weit verbreitet sind, wird auf diesen Nährboden der Tat nur an einer Stelle der Handlung durch eine rassistische Äußerung der Mutter des Todesopfers eingegangen.

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Beobachtungen am Tatort des Mordes an Marinus Schöberl. Der Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005)

»Prominente PolitikerInnen sahen in der Tat ein Zeichen ›seelischer Verwahrlosung‹ und eine Gewalt am Werk, ›die sich wahllos ihr Opfer suchte‹. Die Nichtigkeit des Anlasses und die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer – wie vielfach berichtet – um einen ›ganz normalen Jungen‹ gehandelt habe, schienen die These zu belegen.« (Opferperspektive)

Der grausame Mord an Marinus Schöberl war auch für Tamara Milosevic, Absolventin der Filmakademie Baden Württemberg, Anlass, sich in ihrer Abschlussarbeit mit den Zuständen in Potzlow zu beschäftigen. In ihrem mit dem First Steps Adward ausgezeichneten Film Zur falschen Zeit am falschen Ort bildet die Tat jedoch lediglich die Hintergrundfolie, vor der Matthias Muchow, der

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beste Freund des Mordopfers, und sein Umfeld dargestellt werden. Die Filmemacherin gibt an, die Porträtierten über den Zeitraum von einem halben Jahr begleitet zu haben. Ihre Hauptfigur Matthias lernte sie bei ihren Recherchen in Potzlow kennen. Da er sie »menschlich sehr berührt«999 habe, nicht zuletzt auch, weil ihr seine Fähigkeit zur Reflexion über das Geschehene und sich selbst angesichts der »Gleichgültigkeit seines Umfelds« fast wie »ein kleines Wunder«1000 erschienen sei, entschied sie sich dafür, ihn und seine Familie ins Zentrum des Films zu stellen.

Mathias Muchow

Matthias hat die Leiche seines Freundes ausgegraben. Darunter leidet er – neben dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson. Auch als Folge dieses traumatischen Erlebnisses hat Matthias wegen langer Fehlzeiten Probleme bei der Ausbildung. Gegen Ende des Films gelingt es ihm jedoch, die neunte Klasse abzuschließen. In einem Jugendheim beginnt er eine sozialpädagogisch betreute Lehre. Neben Matthias kommen seine Eltern und weitere Personen aus seinem Umfeld zu Wort. Sein Vater Torsten hat wenig Verständnis dafür, dass sein Sohn drei Jahre nach der Tat noch keinen Schlussstrich gezogen hat, bezichtigt ihn sogar, »alles auf diese Sache ab[zuwälzen]«.1001 Wählte Andres Veiel für seinen Film Der Kick, um sich dem brutalen Mord und seinen Ursachen annähern zu können, eine abstrakte Form der Darstellung und verzichtete auf einen Dreh mit den realen Beteiligten vor Ort, ist Milosevics Zugang diesem Vorgehen sowohl formal als auch inhaltlich diametral entgegengesetzt: Lag Veiels Fokus darauf, Erklärungsansätze für die Tat zu präsentieren, in denen die Biografien der Täter großen Raum einnehmen, kommen weder Marcel und Marco Schönfeld noch ihr Neonazismus in Milosevics Film vor. Statt die Motive und Hintergründe der Tat herauszuarbeiten, stellt der Mord 999 Milosevic 2006. 1000 Ebd. 1001 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 11:14.

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eine Art Folie dar, vor der am Beispiel von Matthias und den ihn umgebenden Menschen das soziale Miteinander am Ort des Geschehens präsentiert wird: Der Mord selbst gerät dabei zu einem allzeit präsenten Hintergrundrauschen. Tamara Milosevic äußerte sich über den Stellenwert, den die Tat in der Konzeption ihres Films einnahm: »Von Anfang an war klar, dass es in dem Film nicht um Erklärungsversuche für die Ursachen der Tat gehen wird. Der Mord gab mir den Anstoß zum Film, aber er sollte keinen zentralen Platz in der Handlung des Films einnehmen. Vielmehr hat mich der Alltag und das soziale miteinander [sic] dieser Menschen in diesem Dorf interessiert, wie es hunderte von Dörfern in Deutschland gibt.«1002

Aber enthält ein Film über Potzlower Zustände nicht, wenngleich in indirekter Weise, immer auch Aussagen und damit Deutungen über die Ursachen des Mordes? Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, verortet Milosevic die Tat in einem Klima der sozialen Kälte. In Matthias’ Umfeld bleiben sozialdarwinistische Handlungen und Äußerungen unwidersprochen. Milosevic selbst formulierte in einem Interview den Wunsch, »dass der Film ein Anstoß wird, sich mehr Gedanken über die Situation von Jugendlichen an sozialen Brennpunkten zu machen«.1003 Denn Frust und Perspektivlosigkeit würden, so die Filmemacherin, »Raum für komische Gedanken« schaffen.

Aufbau und Struktur Milosevics Annäherung an die Stimmung in Potzlow lässt sich aus formaler Perspektive als Mischung aus Interviewsequenzen und Szenen beschreiben, in denen die Kamera den Alltag von Matthias und seinem Umfeld dokumentiert. Längere Interviews werden dabei mit Matthias, seinem Vater Torsten sowie Peter Feike, zur Tatzeit Bürgermeister der Gemeinde Oberuckersee, zu der auch das Dorf Potzlow gehört, geführt. Matthias erinnert sich in den Gesprächen mit Milosevic etwa an seinen Freund Marinus und redet von seiner Angst, selbst Opfer werden zu können. Er spricht über seine Eltern und seine Ausbildung. Torsten äußert sich sowohl zur Situation der Potzlower Jugend im Allgemeinen als auch zu der seines Sohns. In seinen Reden wird deutlich, dass er Matthias als jemanden wahrnimmt, der nicht genug Initiative ergreift, sich hängen lässt. Dessen Verzweiflung über den Mord an Marinus sei lediglich vorgeschoben. Feike deutet die Tat als Verkettung unglücklicher Umstände. Die meisten seiner Statements kreisen jedoch um Eltern, 1002 Milosevic 2006, S. 4. 1003 Lemke 2005, S. 5.

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die zu wenig Verantwortung für ihre Kinder übernehmen würden – einen Missstand, den er auch auf den gestiegenen Konkurrenz- und Leistungsdruck seit 1990 zurückführt. In weiteren Interviews kommen schließlich kurz Matthias’ Mutter Heike zu Wort sowie Hucki und Miki, zwei erwachsene Mitglieder der Gruppe um Familie Muchow, die als alkoholkrank markiert sind.1004 Alle längeren Interviews mit den zentralen Figuren sind in mehrere kürzere Sequenzen unterteilt, die über den Film verteilt präsentiert werden. Wiederholt werden dabei die Statements der Figuren so gegeneinander geschnitten, dass eine dialogische Struktur entsteht. Durch diese Art der Montage werden etwa Matthias’ Äußerungen in ein Spannungsverhältnis zu den Aussagen anderer Figuren, insbesondere denjenigen seines Vaters Torsten gestellt, dessen Statements auf diese Weise wiederholt delegitimiert werden. An anderen Stellen werden die Interviewausschnitte durch die Montage mit Alltagsbeobachtungen kontrastiert, die dem zuvor Gesagten zuwiderlaufen. Beim Aufbau des Films lassen sich somit zwei strukturierende Prinzipien feststellen: Während der filmische Diskurs einerseits die zentralen Stationen in Matthias’ Biografie in einer chronologischen Reihenfolge präsentiert, werden andererseits Alltagsbeobachtungen und Interviewausschnitte nach thematischen Kriterien montiert. Anstelle eines Voiceover-Kommentars werden dabei sowohl die Aussagen unterschiedlicher Figuren in den Interviews als auch die Alltagsbeobachtungen in ein Spannungsverhältnis gebracht: Sie geraten in Widerspruch zueinander, verstärken oder kommentieren sich und erwecken den Eindruck eines Schlagabtauschs. So etwa, wenn sich Torsten in einem Interview als jemand darstellt, der sich um die Jugendlichen kümmert und in der vorherigen Sequenz zu sehen war, was genau er darunter versteht. Er demütigt zur eigenen Belustigung und derjenigen seiner Zuschauer_innen den rangniedrigeren Alkoholiker Hucki.1005 Neben den Personen nimmt auch der Ort des Geschehens selbst eine wichtige Rolle ein. Eine Reihe von expressiv eingesetzten Aufnahmen zeigt den Ort Potzlow und die ihn umgebende Landschaft zu unterschiedlichen Jahres- und Tageszeiten. Die Exposition arbeitet mit Assoziationen von Einsamkeit und Ödnis – winterlich-kahle Felder in der Dämmerung –, die nur noch von der Trostlosigkeit des Tatorts, aus dessen spätsommerlichen Abbildungen alle Farbe entwichen zu sein scheint, gesteigert werden. Ambivalent erscheinen die Bilder des Dorfes selbst, aufgenommen sowohl bei Nacht als auch bei Tag: Ansichten von Wohnhäusern und der alten Backsteinkirche, an deren Mauer ein Gedenkstein für das Mordopfer errichtet wurde. An anderen Stellen werden die 1004 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 32:41ff. 1005 Ebd. TC: 17:31.

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Schönheit der dünn besiedelten Region, ihre Wälder und Seen in Szene gesetzt. Touristisch anmutende Impressionen von sonnenbeschienenen Wiesen und Feldern sollen verdeutlichen, warum Matthias und seine Freund_innen trotz der von ihnen beklagten Lehrstellenknappheit an dieser Region hängen.1006 Auf den meisten dieser an bewegte Postkarten erinnernden Bilder ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Der fast schon meditative Charakter dieser Tableaus wird dadurch verstärkt, dass Milosevic im gesamten Film auf den Einsatz extradiegetischer Musik verzichtet. Ein expressiver Einsatz von Sound erfolgt dennoch, indem Geräusche betont werden, die aus der Diegese stammen (können) – wie das Rauschen des Windes oder die Stimmen verschiedener Vögel, an anderen Stellen die von den Figuren abgespielte Musik. Texteinblendungen werden sparsam eingesetzt. Abgesehen von einer Einblendung der Gerichtsurteile für die Täter in der Exposition werden sie nur für Orts- und Personenangaben verwendet.

Die Rahmung der Handlung Die Handlung ist von zwei Voice-over-Kommentaren gerahmt, in denen Expertisen aus der Gerichtsverhandlung über den Mord an Marinus Schöberl vorgetragen werden. Beide Texte stellen die eigentliche Filmhandlung in den Kontext des Mordes bzw. von dessen Auswirkungen auf die Hauptfigur Matthias. Zu Beginn wird ein Auszug aus der Anklageschrift der Staatsanwalt vorgetragen, am Ende aus einer fachärztlichen Stellungnahme über Matthias Muchow zitiert.1007 Bei beiden Texten handelt es sich um wirkungsmächtige Dokumente, die Effekte in der realen, extradiegetischen Welt zeitigen, sich aber gleichzeitig auch auf die Rezeption des Films und seiner Figuren auswirken. Die in der Anklageschrift und der fachärztlichen Stellungnahme vermittelten Informationen werden als Fakten gesetzt, und im weiteren Verlauf der Handlung nicht weiter hinterfragt. Damit haben diese Texte, anders als die in Veiels Film verwendeten Dokumente, nicht den Status einer Stimme in einem vielstimmigen Chor, die durch die Aussagen der anderen Figuren relativiert wird, sondern denjenigen eines hegemonialen Wortes. Mit Staatsanwalt und psychiatrischem Gutachter kommen hier zudem Repräsentanten gesellschaftlicher Funktionseliten zu Wort, deren Aussagen einen besonderen Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung haben.1008 Eine Wirkungsmacht, die über die Reproduktion gängiger Geschlechterstereotype, denen zufolge Männlichkeit mit Rationalität, wissenschaftlicher Faktizität und Autorität in Verbindung gebracht wird, verstärkt 1006 Ebd.TC: 46:44–48:20. 1007 TC: 54:45ff. 1008 Für diesen Hinweis danke ich Nicole Niedermüller.

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wird. Treffend weist Nichols darauf hin, dass solche männlichen Erzählstimmen aus dem Off als Voice-of-God oder Voice-of-Authority bezeichnet werden können.1009 Die Anklageschrift weckt die Neugier der Zuschauenden: Wie konnte so etwas passieren? Was werden wir im Folgenden über die Hintergründe des Mordes erfahren? Wie lebt man an einem Ort, an dem so etwas passieren konnte (weiter)? Die fachärztliche Stellungnahme hat Einfluss darauf, wie Matthias – im doppelten Sinn des Wortes – behandelt und von weiteren Gutachtern, Ärzten, vielleicht seinen Eltern sowie, und dies erscheint mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig, vom filmischen Diskurs bewertet wird.1010 Während auf die in der Anklageschrift beschriebenen Motive des Mordes nicht weiter eingegangen wird, lässt sich die am Ende der Handlung platzierte fachärztliche Stellungnahme als Abschlussfazit zu Matthias’ psychischer Verfasstheit deuten. So geht aus ihr hervor, dass er »[n]eben spezifischen Lernschwierigkeiten […] unter einer massiven posttraumatischen Belastungsreaktion, welche sowohl Verhalten wie auch Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt«, leidet. Auch sei es »[l]eider […] bis jetzt nicht zu einer psychischen Aufarbeitung dieses schweren Traumas gekommen. Stattdessen musste Matthias insbesondere in seiner Schule versteckte und offene Feindseligkeiten wegen seines Verrats hinnehmen. Unter dieser fortgesetzten zusätzlichen Traumatisierung hat sich bei Matthias eine schwere resignative Depression entwickelt.«1011 Die Frage, ob und inwieweit die traumatischen Erlebnisse ursächlich für seine Situation sind, haben bereits im für den Film zentralen Vater-Sohn-Konflikt zwischen Matthias und Torsten eine große Bedeutung. Durch das medizinische Gutachten wird nun abschließend auch von fachlicher Seite bestätigt, dass Matthias, mit dem Milosevic sichtlich sympathisiert, »wirklich« traumatisiert ist und nicht »alles auf diese Sache abwälzt«1012, wie es sein Vater unempathisch darstellt.

Die Exposition: Einführung in die Hintergründe der Tat In der Exposition liefert Milosevic Hintergrundinformationen, die das Verständnis und die Beurteilung der im Film dargestellten Akteur_innen erleichtern, strukturieren – und steuern. Grob lässt sie sich in vier Teile gliedern. Auf einen Vorspann, in welchem bereits, durch trostlos anmutende Bilder vom Ort des Geschehens, ein bestimmter, resignativer Ton angeschlagen wird, folgt wie 1009 Nichols (2010), S. 74. 1010 Wie die empirischen Zuschauenden ihn tatsächlich wahrnehmen, kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. 1011 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 45:54f. 1012 Ebd., TC: 11:14.

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erwähnt die Voice-over einer männlichen Stimme, die Passagen aus der Anklageschrift vorträgt und damit den Hergang des Mordes an Marinus präsentiert. Daran anschließend beginnt die Vorstellung der wichtigsten Figuren. Sie äußern sich mit knappen Statements zur Tat. Die Exposition endet mit einer Texteinblendung der Gerichtsurteile über die drei Täter. Da diese ersten sieben Minuten eine der wenigen Stellen sind, in denen auf die Tat selbst eingegangen wird, soll in diesem Abschnitt untersucht werden, in welche Kontexte und diskursive Rahmen sie eingeordnet wird. Einführung in Moll. Der Vorspann Bereits im Vorspann kreiert Milosevic eine Stimmung der Kälte und Einsamkeit. Landschaftsaufnahmen lassen den Ort des Geschehens als kalt, düster und unwirtlich erscheinen: Eine unbefahrene Landstraße, ein abgeerntetes Feld liegt brach in der fahlen Morgendämmerung. Extreme Long Shots setzen die Weite, Leere und Ödnis der Gegend drastisch in Szene. Weitere Impressionen von kahlen Baumkronen und deren nackten Ästen, die in den Nebel ragen, evozieren ein Gefühl der Kälte und Verlorenheit, auf der Soundspur krächzen dazu Krähen. Vielleicht ist es November oder Dezember. Nun wird der Titel des Films in weißen Lettern eingeblendet. Zur falschen Zeit am falschen Ort soll Marinus laut Bürgermeister Feike gewesen sein. Wäre er dies nicht gewesen, so wäre er seinen Mördern nicht begegnet und wäre, dieser Logik zufolge, noch am Leben. Ist das ländliche Brandenburg, die lebensfeindlich wirkende Tristesse der kahlen winterlichen Felder ein oder der »falsche Ort«? Und wenn ja, für wen? Nur für das Mordopfer Marinus Schöberl oder auch für andere? Ist das Jahr 2002, in dem sich der Mord ereignete, oder das Jahr 2004 mit seiner fahlen Morgendämmerung die falsche Zeit? Hinter den Feldern sieht man nun das Dorf liegen: »2004 Potzlow in Brandenburg« erläutert ein Untertitel. In der nächsten Einstellung ist eine Dorfstraße in der Dunkelheit zu sehen, die Straßenlaternen brennen. Der Voiceover-Kommentar einer männlichen Stimme beginnt, aus der bereits erwähnten Anklageschrift zu zitieren.1013 Dazu werden weitere Impressionen des menschenleeren 1013 Der vollständige Text lautet: »In den frühen Morgenstunden des 13. Juli 2002 begaben sich die drei Angeschuldigten Marco Schönfeld, 23 Jahre, Marcel Schönfeld, 17 Jahre, Sebastian Fink, 17 Jahre, und ihr späteres Opfer Marinus Schöberl, 17 Jahre, zum Anwesen Am Brink 2 in Strehlow, um noch etwas zu trinken. Im Verlauf des Abends stieg die Gewaltbereitschaft von Marco Schönfeld, der sich sowohl von Marinus Sprachstörungen als auch von seinen weiten Hosen und seinen blond gefärbten Haaren provoziert fühlte. Er sah ihn als Untermenschen an, den er nach Belieben beleidigen und misshandeln kann. Die Angeschuldigten Marcel Schönfeld und Sebastian Fink billigten die Vorgehensweise von Marco Schönfeld und entschlossen sich mitzumachen. Sie zwangen Marinus, klaren Schnaps auf ex zu trinken. Dieser musste sich übergeben und blieb wehrlos am Boden

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Dorfs gezeigt. Immer noch ist es dunkel. Von weitem bellt ein Hund. Der in der Anklage beschriebene Aufbruch zum Ort des Mordes wird nun auch auf der Bildebene nachvollzogen. Ein mit bräunlichem, verblühtem Unkraut überwucherter Plattenweg führt auf die grauen, maroden Betonbauten des ehemaligen Schweinestalls zu. Inzwischen hat die Morgendämmerung eingesetzt, eine weitere Übereinstimmung von Bild und Tonebene. Während der Kommentar den Tatablauf knapp zusammenfasst, sind weitere Impressionen vom Tatort zu sehen: Fenster, hinter deren stumpfem, gesprungenem Glas sich Äste im Wind bewegen, rostige verbogene Gatter, Innenansichten aus dem Schweinestall, in dem Marinus zu Tode gefoltert wurde. Lediglich der Schweinetrog, in dessen Kante die Täter Marinus zu beißen zwangen, um an ihm den aus dem Film American History X berüchtigten Bordsteinkick zu vollziehen, kommt nicht ins Bild. Dafür aber die Jauchegrube, in der sein Leichnam vergraben wurde. Ein starker Wind fährt durch das verwelkte Gestrüpp, das die verlassene LPG-Ruine überwuchert. Die Trostlosigkeit auf der Bild- und der Tonebene scheinen sich gegenseitig zu potenzieren. Die Rekapitulation des Tathergangs Die Zitation aus der Anklageschrift ist der einzige Moment, in dem der Film kurz auf den Tathergang und die Motive der Täter eingeht. Hier heißt es: »Im Verlauf des Abends stieg die Gewaltbereitschaft von Marco Schönfeld, der sich sowohl von Marinus Sprachstörungen als auch von seinen weiten Hosen und seinen blond gefärbten Haaren provoziert fühlte. Er sah ihn als Untermenschen an, den er nach Belieben beleidigen und misshandeln kann.« Jemanden wegen seiner »Sprachstörungen«, den »weiten Hosen« und »blond gefärbten Haaren« als »Untermenschen« zu verachten, ist der wohl deutlichste Hinweis auf den neonazistischen Hintergrund der Tat. Auf diesen verweist der aus dem sprachlichen Repertoire des historischen Nationalsozialismus stammende Begriff Untermensch: Die sozialdarwinistische Verachtung von Menliegen. Sebastian Fink urinierte auf dessen Oberkörper und Gesicht. Nach einer Pause von etwa einer halben Stunde begann Marco Schönfeld erneut Streit mit Marinus und begann, mit Fäusten auf ihn einzuschlagen. Als kurz nach vier Uhr die Dämmerung einsetzte, verließen die vier das Anwesen, um zur ehemaligen LPG Potzlow zu gehen. Hier schlugen sie Marinus mit Fäusten ins Gesicht und brachten ihn ins Innere des Schweinestalls. Im Schweinestall wurde er aufgefordert, in die Betonkante eines Futtertrogs zu beißen. Marcel Schönfeld sprang mit Billigung der beiden anderen Angeschuldigten mit voller Wucht auf den fixierten Hinterkopf von Marinus. Anschließend nahm er einen Gasbetonstein und warf ihn zweimal auf seinen Kopf. Daraufhin verstarb Marinus. Sie gruben in der nahegelegenen Jauchegrube ein Loch und legten Marinus’ Leichnam hinein. Vier Monate später erzählte Marcel Schönfeld von der Tat. Da ihm niemand Glauben schenken wollte, führte er zwei Jugendliche aus dem Dorf zu dem Ort, wo er die Leiche vergraben hatte.« (Ebd., TC: 00:54).

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schen mit Behinderung und der Hass auf Jugendliche, die sich mit ihrem Outfit zu nichtrechten Jugendszenen bekennen – in Marinus’ Fall den Hip-Hoppern – und sich damit extrem rechten Dominanzansprüchen widersetzen.1014 Sundermeyer betont, welche Rolle gerade Marinus’ blondierte Haare in der Gewalteskalation einnahmen: »Nach einer halben Stunde schlägt ihn Marco weiter, wirft Marinus vor, dass er mit seinen blond gefärbten Haaren bloß arisch aussehen und vertuschen wolle, dass er Jude sei.«1015 Der Frage nach dem tateskalierenden Antisemitismus wird im Film nicht weiter nachgegangen, sofern er nicht implizit im Begriff Untermensch enthalten ist, der in populärwissenschaftlichen Wörterbüchern wie dem Duden als »(in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus) Mensch, der nicht Arier ist«1016 definiert wird. Mit keinem Wort wird im Film auf die dem Opfer aufgezwungene Selbstbezeichnung als »Jude« eingegangen, obwohl deren tateskalierende Wirkung vor Gericht hervorgehoben wurde.1017 Entsprechende Statements in den Prozessakten zu finden und zu benutzen, wäre also ohne weiteres möglich gewesen.1018 Die weitere Schilderung des Tatablaufs ist in Zur falschen Zeit am falschen Ort eine reine Aufzählung der physischen Gewaltakte. Doch ist der Mord an Marinus durch die weiter oben erwähnten Ausführungen zum Tatmotiv bereits hinrei1014 Sundermeyer schreibt: »Marinus Schöberl bekennt sich nicht zur rechtsextremen Szene, auch äußerlich nicht: Der Junge hat blond gefärbte Haare und trägt die weiten Hosen der Hip-Hopper, einer Jugendkultur, die ihre Wurzeln in den schwarzen Ghettos der USA hat. Marco Schönfeld passt so ein Aufzug nicht, er verachtet ihn. Wie die meisten Mitglieder der hiesigen Jugendszene. Verstehen sie sich in der Uckermark als die Norm, Hip-Hopper sind die anderen, die sich von dem völkischen Denken lösen, dass hier unter Jugendlichen vielerorts vorherrscht.« Sundermeyer (2012), S. 116. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der Verein Opferperspektive: »An der Kleidung, der Haartracht oder dem bevorzugten Musikstil identifizieren die Täter ihre Opfer als Menschen, die sich der rechtsextremen Jugendkultur nicht unterordnen oder gar widersetzen. Gerade in kleineren Städten und Gemeinden kommt es vor, dass die zumeist etwa gleichaltrigen Täter und Opfer flüchtig bekannt sind. In solchen Fällen ist die erfolgte Zuordnung zu einer bestimmten Szene (›Hip-Hopper‹) hinreichend, um von der beständigen Gefahr eines Angriffs ausgehen zu müssen.« Opferperspektive 2003. 1015 Sundermeyer 2012, S. 117. 1016 Duden Online o. J. 1017 Gerd Schnittcher, Staatsanwalt im Potzlower Mordprozess, äußerte sich zur Rolle des Antisemitismus wie folgt: »Gleichwohl haben wir den rechtsextremen Hintergrund der Tat frühzeitig bejaht. Ausschlaggebend dafür war der Tatverlauf. […] Dann hatten sie den jungen Mann gezwungen zu bekennen, dass er ›Jude‹ sei – was nicht zutraf. Dieses Bekenntnis öffnete aus Sicht der Täter alle Schleusen und inneren Rechtfertigungen für die weitere Tatbegehung. Mit der Erklärung, Jude zu sein, hatte das Opfer sein Todesurteil gesprochen und die Täter sich einen Freibrief erteilt, ihn auf furchtbare Weise zu töten. Damit lag bei einem an sich untypischen Opfer ein gleichwohl rechtsextremes Motiv vor.« Schnittcher 2011, S. 156. Vgl. dazu auch: Märkische Allgemeine 2002. 1018 Dies zeigt auch der Film. In den von Veiel verwendeten Statements der Staatsanwaltschaft wird die Frage nach dem Stellenwert, den die aufgezwungene Selbstbezeichnung in der Dynamik des Mordes einnimmt, zumindest verhandelt Vgl. Der Kick, TC: 20:36ff.

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chend deutlich als neonazistisch gekennzeichnet? Das Thema rechte Gewalt allein durch den Begriff Untermensch eindeutig gesetzt? Können, jenseits dieses Signalworts, die rechten Hintergründe der Tat, über die im Jahr des Prozesses 2003 in der Presse berichtet wurde, auch im Erscheinungsjahr des Films 2005 als bei einem interessierten Publikum bekannt vorausgesetzt werden? Dagegen spricht, dass das Thema rechte Gewalt und Neonazismus in einigen Rezensionen zum Film gar nicht vorkommt.1019 Eine Ausnahme bildet die Kritik des Publizisten Tjark Kunstreich. Er benennt die Täter als »Nazis« und kritisiert »Erklärungsversuche« als »Mystifikationen der Tat; etwa wenn unterschlagen wird, wie es vielfach geschehen ist, dass Marinus Schöberl, um ihn zum Opfer zu machen, als ›Jude‹ bezeichnet wurde«.1020 Auf die Tatsache, dass dies in Milosevics Film ebenfalls nicht erwähnt wird, geht er jedoch nicht ein, wenn er die Art und Weise, in der sie »das Biotop, in dem Marinus Schöberl nicht überlebt« beobachtet, als »eine herausragende Dokumentation deutscher Zustände«1021 lobt.1022 Wie die Entscheidung der Filmemacherin, den neonazistischen Mord nicht explizit als solchen zu bezeichnen, zustande gekommen ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Möglicherweise fürchtete sie, dass in der sogenannten Mitte der Gesellschaft Auseinandersetzungen mit Ideologien der Ungleichwertigkeit hinter dem »einfachen« Feindbild, das der offene Neonazismus bereitstellt, verschwinden könnten. Eine solche Argumentation wird etwa in einer Rezension im Fluter, dem Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung, vertreten. Hier weist Verfasser Martin Maaß die in der Presse zum Mord oftmals verwendete Bezeichnung der Täter als Neonazis als verkürzt und boulevardesk zurück: »›Brutal!‹, schrie es aus dem Blätterwald. ›Osten! Arbeitslosigkeit! Alkohol! Asoziale! Neonazis!‹ Einfache Erklärungen beim Haschen nach der Sensation.«1023 Abgesehen davon, dass, wie ich im Folgenden zeigen werde, die von Maaß ebenfalls als verkürzend empfundenen Begriffe wie »Osten«, »Arbeitslosigkeit« und »Alkohol« auch in dem von ihm gelobten Film zentrale 1019 Vgl. dazu exemplarisch: Maaß 2006. Brachmann 2005. Tagesspiegel o. A., 2006. 1020 Kunstreich 2006. 1021 Deutsche Zustände ist der Titel einer von Wilhelm Heitmeyer herausgegeben, populären Langzeitstudie über Phänomene der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) in Deutschland. Unter GMF werden neben Rassismus die Elemente Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, das Beharren auf Etabliertenvorrechten und Sexismus gefasst. (Heitmeyer 2002a, S. 19.) Der Titel der breit rezipierten Studie steht synonym für die weite Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit in Deutschland. Die Verwendung des Begriffs Fremdenfeindlichkeit ist problematisch, da er ein Othering der Betroffenen entlang rassifizierender Kriterien reproduziert. Vgl. dazu: íetin, Stegmann 2013. 1022 Ebd. 1023 Maaß 2006.

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Themen sind, ist die entpolitisierende Weigerung, Taten als »neonazistisch« oder »extrem rechts« zu benennen, charakteristisch für hegemoniale Diskurse über rechte Gewalt. Auch wenn das Vorhandensein einer »reißerischen« Berichterstattung über den Potzlower Mord sicher nicht in Abrede zu stellen ist, wird hier ein Entweder-Oder zwischen der »einfachen Erklärung«, die das Label Neonazismus laut Maaß bedeutet, und einem genauen Hinsehen konstruiert, das der Verzicht auf eben jenes Label bewirke. Damit wird impliziert, dass Marinus Anerkennung als Todesopfer rechter Gewalt zwangsläufig damit einhergehen müsste, Rahmenbedingungen wie die weite Verbreitung von sozialdarwinistischen Deutungsmustern aus den Augen zu verlieren. Dass ein explizites Benennen extrem rechter Tatmotive nicht zur Konsequenz haben muss, Ideologien der Ungleichwertigkeit allein auf den offenen Neonazismus zu projizieren und damit die Gesellschaft und die Zuschauenden zu entlasten, zeigen Thematisierungen der rassistischen Pogrome von RostockLichtenhagen wie The Truth lies in Rostock und Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern. Statt den sich gewaltsam bahnbrechenden Rassismus allein in neonazistischen Kreise zu verorten, wird der Rückhalt thematisiert, den das Pogrom bei weiten Teilen der Lichtenhäger Anwohner_innen hatte und der von diesen durch verbale Zustimmung bis hin zu aktiver Teilnahme zum Ausdruck gebracht wurde. Beide Filme stellen die Angriffe auch in den Kontext der rassistischen Kampagnen in Politik und Medien, die erfolgreich auf eine massive Einschränkung des bis dahin im Grundgesetz verankerten individuell einklagbaren Rechts auf Asyl abzielten.1024 In eine andere Richtung als Rezensent Maaß zielt Kunstreichs Argumentation, wenn er sich fragt, inwieweit das Nachvollziehen der Motive »überhaupt wünschenswert ist. Zum einen besteht die Gefahr, sich die Aussagen der Täter zu eigen und ein ganz allgemeines Elend für eine sehr konkrete Tat verantwortlich zu machen. Die Suche nach Motiven der Täter lenkt außerdem vom Opfer ab und rationalisiert den Skandal der Grausamkeit und Sinnlosigkeit, die solchen Taten immer auch innewohnen.«1025 Dies ist in meinen Augen allerdings kein Argument, neonazistische Gewalt nicht als solche zu kennzeichnen, besteht doch ein großer Unterschied zwischen einem Aufzeigen und Benennen der Motive und dem Versuch, diese nachzuvollziehen. Die neonazistische Tatmotivation beim Namen zu nennen, wie es Kunstreich denn auch in seinem Text selbst tut, muss nicht zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit den Tätern und ihren Biografien führen.1026 1024 Vgl. Kapitel 4.1 The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1996): Eine Annäherung an das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als Teamarbeit. 1025 Kunstreich 2006. 1026 Dies beweist etwa Malou Berlins Film Nach dem Brand D 2012). Wie Matthias in Zur

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Eine andere Erklärung für die Ausblendung des Themas rechte Gewalt im Film Zur falschen Zeit am falschen Ort kann sein, dass die Filmemacherin den Mord gar nicht als solchen wahrnahm. So bezeichnete sie die Tat weder an anderer Stelle im Film noch in einem der mir bekannten Verlautbarungen als rechte Gewalt. In einem Interview anlässlich der Premiere des Films beim Leipziger Dokumentarfilmfestival führt sie den Mord vielmehr auf die Situation der Jugendlichen vor Ort zurück. Ihr bereits erwähntes Statement »[k]eine Perspektive, Frustration, das schafft Raum für komische Gedanken«1027 bagatellisiert den Tathintergrund, den Neonazismus der Täter, als »komische Gedanken«. Dieser Deutung entsprechend wird, wie weiter unten dargestellt, wiederholt die Ödnis des Tatorts herausgearbeitet und im Verlauf der Handlung der »verrohte« Umgang untereinander vorgeführt. Auch Kohlstruck weist auf einen statistischen Zusammenhang zwischen der Strukturschwäche ländlicher Regionen Brandenburgs wie der Uckermark und allgemeiner Gewaltkriminalität hin, die unter anderem aus einem Mangel an Arbeits- und Ausbildungsplätzen resultiere. Allerdings betont er, dass sich konkrete Taten »aus dieser Vogelsicht nicht erklären« ließen.1028 Dass ein Aufwachsen in einer strukturschwachen Region und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit ursächlich für den Mord bzw. rechte Gewalt im Allgemeinen seien, entspricht populären Annahmen der maßgeblich von Wilhelm Heitmeyer geprägten »soziologischen Rechtsextremismusforschung«.1029 Diese weist u. a. Dierbach vehement zurück. Er konstatiert, dass Heitmeyers Ansatz nicht erkläre, warum nur relativ wenige Individuen, die von gesellschaftlich produzierten strukturellen Gewaltverhältnissen betroffen seien, selbst zu rechten GewalttäterInnen würden.1030 Rommelspacher bezeichnet die Annahme, dass rechtes und rassistisches Denken vorwiegend in

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falschen Zeit am falschen Ort werden auch hier Menschen porträtiert, die mit dem Verlust geliebter Menschen durch neonazistische Gewalt weiterleben müssen. Über mehrere Jahre begleitete die Filmemacherin drei Mitglieder der Familie Arslan, die bei dem rassistischen Brandanschlag auf ihr Haus am 23. November 1992 drei Angehörige verlor. Deutlich wird die neonazistische Täterschaft als solche benannt. Der Rahmen ist damit gesetzt, die Täter und ihre Biografien hingegen spielen im Film keine Rolle. Im Zentrum stehen alleine die Hinterbliebenen und ihr Weiterleben mit den erlittenen schweren psychischen und physischen Verletzungen. Lemke 2006, S. 5. Auch enthalten die Daten, auf die er sich in diesem Zusammenhang bezieht,1 lediglich Angaben über die Korrelation der Strukturschwäche und der Kriminalitätsbelastung einzelner brandenburgischer Regionen. Tatmotive sind hier nicht aufgeführt.Vgl. Kohlstruck, Münch 2004, S. 19. Die von Heitmeyer geprägte »soziologische Rechtsextremismusforschung« stellt, wie dieser schreibt, »unter anderem die Interaktions- und Erfahrungsprozesse von sozialer Integration bzw. Desintegration, die subjektiven Verarbeitungen in Richtung politischer Einstellungen und die Prozesse von Radikalisierung in Gruppen in den Vordergrund«. Heitmeyer 2012b. Dierbach 2010, S. 106.

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»unteren Schichten« zu finden sei, gar als »Mittelschichtsvorurteil«. Auch »soziale Integration in Bezug auf Arbeitsplatz, Familie und Freundeskreis« immunisiere nicht gegen solche Vorstellungen. Zudem sei »kein Faktor Orientierungslosigkeit oder Instabilität auszumachen, der für autoritär-nationalistische Einstellungen prädestinieren würde«.1031 Indirekt straft Milosevic selbst diese These Lügen, nicht zuletzt durch ihre Hauptfigur Matthias, den seine ebenfalls als schwierig gezeigten Lebensumstände weder zum Gewalttäter geschweige denn zum Neonazi werden ließen. Die Vorstellung der zentralen Figuren und deren Positionierung zur Tat Angefangen mit Matthias, der über einen Untertitel als »Bester Freund von Marinus« vorgestellt wird, führt der Film die wichtigsten Figuren mittels kurzer Statements zum Mord ein. Dabei werden neben den jeweiligen Sprecherpositionen auch die Grade ihrer emotionalen Involviertheit deutlich. Der etwa 17-jährige Matthias sitzt in seinem Zimmer vor dem laufenden Fernseher und schaut gedankenverloren Richtung Kamera. Er wirkt resigniert, müde und antriebslos. Er berichtet, wie er von anderen Jugendlichen erfahren hat, wo die Mörder die Leiche seines bis dato als vermisst geltenden Freundes vergraben hatten und von seinem Entschluss, sich Gewissheit über den Verbleib des Freundes zu verschaffen: »Ich musste es wissen, ob das Marinus ist. Ich musste das wissen.«1032 Während seiner Rede ist sein Gesicht im Dreiviertelprofil zu sehen. Ein frontaler Blick in die Kamera, der die Sprecher_innenposition diskursmächtiger Akteur_innen, wie Politiker_innen oder Nachrichtensprecher_innen kennzeichnet, wird ihm nicht zugestanden.1033 Detailliert beschreibt Matthias, wie er seinen bereits stark verwesten Freund ausgrub und ihn anhand seiner Kleidung identifizierte. Er ringt dabei um Fassung, es ist ihm anzumerken, wie sehr ihn diese Situation mitgenommen hat und immer noch mitnimmt. In einem starken Kontrast zu seiner Trauer steht die anschließende Äußerung von Bürgermeister Feike. Der ältere Mann sitzt in einem gemusterten T-Shirt an einem runden Tisch. In seinem Statement thematisiert Feike die Reaktionen der Potzlower_innen. Für ihren Unwillen, sich mit dem Mord auseinanderzusetzen macht er vor allem die »Schar der Presse« verantwortlich: »[U]nd jeder [Journalist, JS] versucht irgendwo ’ne Antwort zu finden, sehr schnell ’ne Antwort zu finden, weil es ja schnell über die Medien muss und das trägt natürlich dazu bei, dass der Frust in der Gemeinde, dass der natürlich auch vergrößert wird und man sich damit dann überhaupt nicht mehr auseinandersetzt, weil die dann sagen, da 1031 Rommelspacher 1998b, S. 84. 1032 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 03:35. 1033 Für diesen Hinweis danke ich Elsa Fernandez.

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kommt schon wieder so einer an, so ein Zeitungsfritze, so so so ein Fernsehfritze, Tür zu, Fenster zu, willst davon gar nichts mehr hören und somit setzt man sich damit auch gar nicht mehr auseinander.«1034

Das Thema ist ihm sichtlich unangenehm. Auch wenn er sich bei seinen Tiraden gegen die Presse zunehmend in Rage redet, schaut er beim Sprechen auf die Tischplatte. Ob er sich tatsächlich eine Auseinandersetzung gewünscht hätte, und was für eine, wird jedoch auch in späteren Interviews nicht thematisiert. Gleiches gilt für die Frage, ob und inwieweit er das Ausmaß rechter Gewalt in der Region als Problem anerkennt, für die Opferberatungsstellen und gegen Rechts Engagierte im Jahr 2002 mindestens 140 rechte Angriffe zählten1035 und die der Rechtsextremismusexperte Olaf Sundermeyer sogar als »›national befreite Zone‹,1036in der keine Andersartigen geduldet werden«1037 bezeichnet. Auch bleibt offen, ob er den Mord an Marinus überhaupt als rechte Gewalttat einordnet. In diese Richtung zielende Fragen gibt es auch in weiteren Interviewsequenzen mit Feike nicht. Das dritte einführende Statement kommt von Torsten, der mittels Untertitel als »Vater von Matthias, Sanitätsdienstleister«1038 vorgestellt wird. In einem auffällig gemusterten Freizeithemd sitzt der Mittvierziger in seinem Garten. Torstens rundes, gerötetes Gesicht ist in einer Großaufnahme zu sehen. Verschmitzt lächelt er in die Kamera.1039 Sein leutseliges Lächeln steht in einem starken Kontrast zu Matthias’ kurz zuvor gezeigter Verzweiflung. Torsten plädiert dafür, einen Schlussstrich unter den Mord am besten Freund seines Sohnes zu ziehen, schließlich habe man »noch genug andere Probleme, mit denen man auch fertig werden muss«.1040 Die Schuldigen seien bestraft worden. Er fragt sich, 1034 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 05:14ff. 1035 Vgl. Opferperspektive 2003. Die gegen rechts Engagierten von der Initiative Pfeffer und Salz Uckermark zählen sogar 145 Angriffe. Pfeffer und Salz Uckermark 2007. 1036 Der Begriff der »National befreiten Zone« (NBZ) geht auf ein Strategiepapier des Nationaldemokratischen Hochschulbundes (NHB), der Studierendenorganisation der NPD, aus dem Jahr 1991 zurück. Es wird darin aufgerufen, Orte zu etablieren, an denen die extreme Rechte Raumhoheit hat und alle, die nicht ins rechte Weltbild passen, auch mit Gewalt vertreiben kann. Zu diesem Zweck soll die Sympathie der lokalen Bevölkerung gewonnen werden. Auch von der Erlangung wirtschaftlicher Autonomie für entsprechende Kreise, etwa durch die Eröffnung von Szeneläden, ist die Rede. Laut der Website »Netz gegen Nazis« wurde der Begriff in der extremen Rechten zum »Sammelbegriff für internen Strukturaufbau«. Eine »buchstabengetreue Umsetzung des Ursprungskonzepts« hätte es jedoch nicht gegeben. Netz gegen Nazis o. J. 1037 Sundermeyer 2012, S. 116. 1038 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 06:20ff. 1039 Auch wenn er in seinem Eingangsstatement ebenfalls im Dreiviertelprofil zu sehen ist, wird ihm – anders als seinem Sohn – ein frontaler Blick in die Kamera an anderen Stellen sehr wohl zugestanden. Vgl. Ebd., TC: 12:00. 1040 Ebd., TC: 06:20.

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»was der Matthias jetzt noch machen« solle. Auch habe er selbst sich nach der Tat mit den Jugendlichen – er meint wohl diejenigen mit denen er, wie später zu sehen sein wird, viel Zeit verbringt – zusammengesetzt. Gemeinsam habe man festgestellt: »Naja, schlimme Sache.« Damit scheint das Thema für ihn abgeschlossen zu sein. Der Mord wird in seiner Rede bagatellisiert, erscheint als ein Problem unter anderen. Die Verantwortung, einen Umgang mit der Tat und ihren Folgen zu finden, delegiert er ausschließlich an staatliche Stellen, die für ihn anscheinend mit der Verhaftung der Täter ihre Pflicht erfüllt haben: »Was soll man jetzt noch machen?« Vom Thema rechte Gewalt sowie Aufklärung und Prävention ganz zu schweigen. Schon bei der Vorstellung der wichtigsten Figuren wird deutlich, dass Matthias der einzige zu sein scheint, dem der Mord an Marinus nahegegangen ist. Besonders die Empathielosigkeit seines Vaters wirkt erschreckend. Wie um den Zuschauenden nach diesen Bagatellisierungen das Grauen der Tat wieder ins Bewusstsein zu rufen, werden in der folgenden Sequenz erneut Impressionen des Tatorts gezeigt: In der ersten dieser Einstellungen ist in der rechten Bildhälfte der Schweinestall zu sehen. Sein Tor steht offen, im Inneren herrscht Dunkelheit. Bedrohliche graue Wolken ziehen in seine Richtung. Danach kommt ein Vorplatz aus grauem Beton ins Bild. In den Ritzen zwischen dessen zerbrochenen Platten sprießt Unkraut, durch das der Wind fährt. Es folgt eine Wiese neben einem Plattenweg. Dort hat jemand ein Kreuz für Marinus aufgestellt und weiße Lilien gepflanzt. Doch ist der Gedenkort beinahe überwuchert, die in einer Vase aufgestellten Blumen verwelkt, eine am Kreuz befestigte Schleife verwittert. Es wirkt, als ob lange niemand mehr dort gewesen ist. Auf der Soundspur ist das Rauschen des Windes zu hören. Die nun folgenden Einstellungen stehen in einem starken Kontrast zur vorherigen Trostlosigkeit. Sie zeigen in kurzer Abfolge Eindrücke des Dorfes. Alle wurden an einem sonnigen Sommertag aufgenommen: Aufnahmen des Ortseingangs stellen den räumlichen Kontext her, danach ein gepflegter Kopfsteinpflasterweg, der an einer Kirchenmauer entlangführt. Vor dieser ist ein Gedenkstein errichtet, der von einem Pflanzentopf geschmückt wird. Dass es um die Erinnerung an Marinus geht, erschließt sich lediglich aus dem Kontext. Auf die Inschrift des Steins wird nicht geschnitten.1041 Die Exposition endet mit der

1041 Sie lautet: »Marinus Schöberl, geb. 4. September 1985, ermordet 13. Juli 2002. Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles was da lebt auf Erden.« Der Spruch ist ein leicht abgewandeltes Bibelzitat aus dem ersten Buch Mose und handelt vom Verzicht auf Rache. Es wird erzählt, wie Gott Noahs Brandopfer nach der Sintflut annahm: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und

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Einblendung der Urteile.1042 Sie werden über pittoreske Aufnahmen der alten lindenumstandenen Kirche geblendet, vor deren Mauer der Gedenkstein aufgestellt ist. Auf der Soundspur : Vogelgezwitscher. Die malerischen Dorfansichten stehen in einem Kontrast zur vorher in Szene gesetzten Trostlosigkeit und den Urteilen, die nochmals auf die Drastik der Tat verweisen. Die Exposition weckt damit die Erwartung, mehr über die Hintergründe des Mordes zu erfahren. Mich interessiert im Folgenden vor allem die Art und Weise, in der anklingenden Elemente rechter Ideologie, genauer : die Stigmatisierung als »Untermensch« und der Hass auf jemanden mit Sprachschwierigkeiten, »blondierten Haaren und weiten Hosen« im Lauf der Handlung aufgegriffen werden.

Die Inszenierung der Hauptfigur Matthias1043 Matthias steht im Zentrum des Films. Die Kamera begleitet ihn bei Interaktionen mit seinen Freund_innen, Mitschüler_innen und seiner Schwester. Man sieht ihn in seiner Freizeit, beim Kiffen mit einem Freund, immer wieder alleine vor dem Fernseher oder wie er mit zwei Freundinnen am See sitzt und über Zukunftspläne spricht. Gezeigt wird er auch in zwei für seine Ausbildungsbiografie zentralen Situationen: Erstens der Verleihung seines Abschlusszeugnisses,1044 das er in einer späteren Sequenz stolz seiner Mutter präsentiert.1045 Zweitens ist die Kamera auch dabei, als die Eltern ihn in ein Jugendheim bringen, wo er eine sozialpädagogisch betreute Lehre absolvieren kann.1046 Chronologisch angeordnet bilden diese Szenen aus Matthias’ Alltag so etwas wie einen roten Faden: Gegen Ende des Films sieht man ihn bei der Arbeit an seinem neuen Ausbildungsplatz. Blondierte Haare und weite Hosen: Matthias Selbstinszenierung ähnelt derjenigen, die in Marinus’ Fall den Zorn der rechten Schläger erweckte und ihm zum Verhängnis wurde. Eine Ähnlichkeit, auf die er an einer Stelle selbst zu

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Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« (1. Mose 8,1–9,29, Lutherbibel). Urteil: Marco Schönfeld, 15 Jahre Haft. Marcel Schönfeld, 8,5 Jahre Haft. Sebastian Fink, 2 Jahre auf Bewährung. Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 08:18. Um zu verdeutlichen, dass auch im Dokumentarfilm die Darstellung der sozialen Akteur_innen und ihrer Alltagsrealitäten durch filmische Mittel wie Kameraführung und Montage den Interpretationen des Filmteams unterworfen ist, bezeichne ich sie ebenfalls als Figuren. Ebd., TC: 39:37. Ebd., TC: 43:39. Ebd., TC: 53:32.

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sprechen kommt und die für ihn mit der Angst verbunden ist, selbst zum Opfer werden zu können: »Marinus sah aus, wie jeder normaler andere Junge. Groß, schlank hat auch immer, vernünftig eigentlich, so wie ich. Meine Angst, dass mir sowas selber passieren könnte, oder hätte können passieren, weil das ja auch meine Freund waren auf dem Gebiet, sag ich mal so, und dass man Angst hat, dass es nochmal passiert und so.«1047

Ob und inwieweit Matthias selbst in Vergangenheit oder Gegenwart von den Tätern oder deren Umfeld bedroht wurde, thematisiert der Film nicht weiter. Andres Veiel hingegen beschreibt in seinem Buch, wie konkret der Anlass für diese Ängste war. Matthias war es, der die Polizei vom Fund der Leiche unterrichtete, was schließlich die Verhaftung der Täter auslöste. Vom Umfeld Marco Schönfelds sei er deswegen angegriffen und bedroht worden. Eine Freundin Marcel Schönfelds habe gedroht, dass ihm »das Gleiche wie Marinus« geschehe, wenn er seine Aussage vor Gericht wiederhole.1048 Als er sich davon nicht habe beeindrucken lassen, habe sie ihn mit Pfefferspray angegriffen. In Nase, Mund und Augen getroffen, musste er sich im Krankenhaus behandeln lassen.1049 Diese wesentlichen Hintergrundinformationen über die Bedrohung durch rechte GewalttäterInnen, die zu einem tieferen Verständnis davon hätten führen können, was es für Matthias bedeutete, im Umfeld der Täter zu leben, kommen in Milosevics Dokumentarfilm nicht vor. An zwei späteren Stellen hingegen kommt der Film auf die Schikanen zu sprechen, denen der Protagonist seitens seiner Mitschüler_innen ausgesetzt war. In einer Szene sitzt er mit seiner Schwester in dem Raum, den Torsten den Jugendlichen eingerichtet hat, und kifft. Er spricht darüber, wie sehr er sich ärgere, sich in der Schule nicht genügend angestrengt und oft geschwänzt zu haben. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch seine Mobbingerfahrungen: »Und dann kam das mit Marinus und dann war ich ein halbes Jahr nicht dagewesen, weil die haben mich gehänselt, haben zu mir Totengräber und all sowas gesagt, und dann war ich so fertig. Ich konnt nicht mehr und dann bin ich auch nicht mehr dahin.«1050 Der Kontext seiner Äußerung ist hier jedoch eher eine generelle Unlust, zur Schule zu gehen. Durch die Hänseleien seiner Mitschüler_innen scheint sie lediglich verstärkt worden zu sein. Diese Haltung unterstellt auch Torsten seinem Sohn mehrfach. Erst die fachärztliche Stellungnahme 1047 Ebd., TC: 10:00. 1048 Veiel 2008, S. 178. 1049 Dass diese Frau, wie Veiel an einer früheren Stelle erwähnt, auch an dem rassistischen Angriff auf Neil Duwhite beteiligt gewesen sei, verweist auf ein reales Bedrohungspotenzial, das von der Neonazistin und ihrem Umfeld für alle ausging, die in rechte Feindbilder passen. Ebd., S. 162. 1050 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 38:01.

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am Ende des Filmes legt es nahe, Matthias’ in dieser Szene vorgeführte Antriebslosigkeit als Folge seiner auch aus den Mobbingerfahrungen in der Schule resultierenden Traumatisierung anzuerkennen.

Beobachtungen des Cliquenalltags Großen Raum nehmen diejenigen Szenen ein, in denen die Kamera den Alltag der Clique um Matthias und seine Familie beobachtet. Neben den Muchows gehören zu der im Film dargestellten Gruppe noch Hucki und Miki, zwei Männer jenseits der Dreißig, sowie eine Reihe von namenlos bleibenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ihre Treffen finden auf dem Grundstück der Familie Muchow statt. Sie sitzen entweder draußen im Hof oder in einem als Jugendraum umfunktionierten Lager, in dem Sanitätsdienstleister Torsten auch Arbeitsmaterialien aufbewahrt. Kommentarlos beobachtet die Kamera die von gemeinsamem Alkohol- und Cannabiskonsum dominierten Zusammenkünfte, setzt entsprechende Utensilien wie Bier- und Schnapsflaschen und Marihuana oder das Drehen von Joints mit Nah- bis Detailaufnahmen in Szene. Nach der Exposition kommt die Clique um Matthias’ Familie zum ersten Mal ins Bild.1051 Als Establishing Shot führt eine Totale in die Szenerie ein. Eine etwa zehnköpfige Gruppe ist vor dem Haus der Muchows versammelt. In Nahaufnahmen sieht man nun die größtenteils männlichen Erwachsenen, unter ihnen Matthias’ Vater Torsten. Hierbei wird vor allem auf diejenigen Personen geschnitten, die in der weiteren Handlung eine Rolle spielen und später mit Namen vorgestellt werden: Die beiden meist betrunken gezeigten Cliquenmitglieder Hucki und Miki sowie Matthias’ Mutter Heike. Hucki hält eine Bierflasche. Sein Gesicht ist gerötet, wahrscheinlich vom Alkohol, wie Torstens abfällige Anspielungen über seinen Konsum nahelegen. Der hinter ihm sitzende Miki ist so betrunken, dass er sich kaum noch artikulieren kann. Auf dem Tisch stehen mehrere leere Schnapsflaschen.1052 Die wegen der Soundqualität, der undeutlichen Ausdrucksweise und dem starken Dialekt nicht vollständig verständlichen Gespräche kreisen um Banalitäten wie den konsumierten Alkohol und einen Joint, dessen Stärke von den Anwesenden kommentiert wird. Weniger das Gesagte als die Stimmung steht hier im Vordergrund. Die Dargestellten scheinen die Präsenz der Filmemacherin in dieser und anderen Szenen völlig vergessen zu haben, setzen ihr Tun fort, scheinbar unbeeindruckt von der Anwesenheit des Filmteams. An 1051 Ebd., TC: 08:32. 1052 Auf Huckis auf die Reparatur des Mopeds bezogene Frage, wie viel ein halber Liter sei, antwortet Torsten: »eine Flasche Bier«. Hiermit scheint er ausdrücken zu wollen, dass Alkohol die einzige Kategorie ist, in der Hucki zu denken vermag. Ebd., TC: 08:32.

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diesen Stellen lässt sich Milosevics Art des dokumentarischen Zugangs mit Nicols als observational mode beschreiben.1053 In zwei anderen Sequenzen wird die Kamera Zeugin, wie Torsten zur Belustigung der anwesenden Jugendlichen die beiden auch hier stark alkoholisierten Erwachsenen Hucki und Miki demütigt. In einer dieser Szenen, die sich in Torstens zum Jugendraum umfunktionierten Lager abspielt, steht er plötzlich in einem Operationskittel vor Hucki und tut unter dem Gelächter der Anwesenden so, also ob er den Betrunkenen kastrieren wolle.1054 An anderer Stelle schubst er den stark alkoholisieren Miki mitsamt Kleidern in einen See.1055 Im Raum steht hier nicht nur die Frage, inwieweit die Anwesenheit der Kamera Torsten zu diesen sozialdarwinistischen »Possen« motiviert. Ab welchem Punkt hätte die Filmemacherin eingreifen müssen? Rechtfertigt es der zweifellos aufklärerische Anspruch des Films, alles zu zeigen, die Demütigung von Menschen direkt abzubilden und damit zu reproduzieren? Unten werde ich ausführlicher auf letztere Begebenheit eingehen und aufzeigen, wie sich der filmische Diskurs durch Kameraführung und Montage zu diesen Szenen positioniert. Formal – und, wie zu zeigen sein wird, auch inhaltlich – unterscheiden sich die Matthias und anderen einzelnen Figuren gewidmeten Szenen damit deutlich von den Gruppenszenen. Während letztere sich mit Nichols eher einem beobachtenden Zugang zurechnen lassen, sind die den einzelnen Figuren gewidmeten Sequenzen von einer sichtlich aktiveren Teilnahme der Filmcrew gekennzeichnet. Etwa wenn Milosevic Matthias auf seinen Wegen durch die Stadt begleitet und er an bestimmten Orten beginnt, direkt in die Kamera zu sprechen. Oder wenn die Filmemacherin per Nachfrage in ein Gespräch zwischen ihm und seiner Schwester eingreift – eine der raren Szenen, in denen Milosevic qua Stimme präsent ist. In den Interviews – partizipatorische Momente par excellence1056 – sind die Stellen, an denen ihre Nachfragen zu hören sind, rar. Auch 1053 Charakteristisch für diese von Filmschaffenden wie Frederic Wiseman in den 1960er Jahren geprägte dokumentarische Praxis ist die Beobachtung sozialer Akteur_innen in ihrem Alltag, den diese im Idealfall möglichst unbeeindruckt von der Präsenz der Kamera (weiter-)leben. Wie weit dies allerdings möglich sei, ist in Theorie und Praxis äußerst umstritten. Typisch für diesen Zugang sind zudem der Verzicht auf das Reinszenieren von Handlungen, die Verwendung einer Voiceover sowie extradiegetische Musik und Soundeffekte. Vgl. dazu Nichols 2010, S. 172ff. 1054 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 17:31. 1055 Ebd., TC: 27:01. 1056 Zentral für den partizipatorischen Modus ist die Interaktion zwischen Filmenden und Gefilmten. Ohne die Interventionen des Filmteams und dessen Interaktionen mit den Gefilmten hätte sich das im Film Dargestellte nicht ereignet. Vgl. dazu Nichols 2010, S. 179ff. Ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Kontext ist der Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (AT 2008), in dem Regisseur Malte Ludin den familiären Umgang mit der NS-Täterschaft des Vaters thematisiert. Er spricht über eigene Kindheitserlebnisse, befragt Familienmitglieder nach ihren Erinnerungen an den Vater und entlarvt dabei Le-

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thematisiert sie im Film weder ihre Motivation, den Film zu machen, noch die Position, aus der heraus sie spricht.1057 Die Frage nach dem Blick einer Filmhochschulabsolventin und ihrem höchstwahrscheinlich als ebenfalls gebildet implizierten Publikum auf eine ländliche Gemeinschaft, die über weniger kulturelles1058 und symbolisches Kapital1059 verfügt, wird somit nicht verhandelt.

genden, die über den als »Bevollmächtigten Minister des Großdeutschen Reiches« am Holocaust Beteiligten kursieren. 1057 Ganz anders agierte hier etwa Can Candan. In seinem Film Duvarlar – Mauern – Walls (R: Can Candan, USA/TR 2000). 1058 Mit Pierre Bourdieu 1983 fasse ich das kulturelle Kapital in seinen drei Formen: Erstens als inkorporiertes kulturelles Kapital, damit ist die verinnerlichte Bildung und Sprache gemeint, die so zum Teil der Person, zum »Habitus« geworden ist (S. 186). Zweitens als materiell übertragbare Kulturgüter. Bourdieu nennt als Beispiele hierfür »Schriften, Denkmäler, Instrumente usw.« (eS. 189). Die dritte Art des kulturellen Kapitals ist das »institutionalisierte kulturelle Kapital«, das sich in schulischen und universitären Abschlüssen manifestiert.(Ebd., S. 189ff). Das soziale Kapital ist nach Bourdieu die Gesamtheit der »aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind.« (Ebd.,S. 191). Der Statusunterschied zwischen Filmender und Gefilmten besteht etwa in dem Fakt, dass der Film Milosevics Abschlussarbeit an der Filmhochschule darstellt, während Protagonist Mathias nach Abschluss der neunten Klasse eine sozialpädagogisch begleitete Lehre in einem Jugendheim absolviert. 1059 In Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals wirken alle Kapitalarten (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) zusammen. Vgl. Bourdieu 1993, S. 218.

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Erklärungsversuche Ob bei den Zusammenkünften der aus Erwachsenen und Jugendlichen bestehenden Clique und ihrem im wiederholt vorgeführten gemeinsamen Alkoholund Cannabiskonsum oder im Konflikt zwischen Matthias und seinen Eltern, der damit endet, dass der Junge in ein Jugendheim und damit in staatliche Obhut übergeben wird: Die Frage nach der Verantwortung für die Jugend ist ein zentrales Thema des Films. Explizit thematisiert wird sie in Statements von Torsten Muchow und Feike, die so montiert sind, dass so etwas wie ein Schlagabtausch entsteht. Der Bürgermeister beginnt, von überforderten Eltern zu sprechen, die sich scheuen würden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.1060 Sie warteten, bis die Situation eskaliere, um dann auf den Staat zu schimpfen. Hier bleibt unklar, auf wen diese Worte bezogen sind. Spricht er über die Muchows, deren Probleme mit Matthias eins der zentralen Themen des Films sind und zudem kurz zuvor erwähnt wurden?1061 Oder ist Feike noch beim Mord an Marinus und bezieht sich somit auf die Eltern der Täter und darauf, wie der Mord eventuell hätte verhindert werden können? Für Letzteres würde sprechen, dass er das gleiche T-Shirt wie in der Exposition trägt, als er über den Mord sprach. Beide Sequenzen scheinen also aus demselben Interview zu stammen. Lässt sich jedoch allein daraus folgern, dass er in dessen Verlauf bei diesem ihm sichtlich unangenehmem Thema geblieben ist? Es lässt sich auch nicht ausschließen, dass er bereits dort zu allgemeinen Ausführungen gelangt und seine Erfahrungen als Bürgermeister mit überforderten Eltern an sich thematisiert. Durch diese unklaren Bezüge wird der Interpretationsraum in beide Richtungen geöffnet, was eine Generalisierbarkeit der Aussage zur Folge hat. Ein weiteres in dem Interviewfragment anklingendes Thema ist die Frage, inwieweit sich die im Film gezeigten Potzlower Zustände, und damit auch der Mord, als Konsequenzen der Umbrüche im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung beschreiben lassen. Milosevic selbst äußert sich dazu im Presseheft widersprüchlich. Einmal gibt sie an, »das Bild einer Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende zeichnen«1062 zu wollen. Später im selben Interview betont sie jedoch, dass »so etwas wie in Potzlow überall«1063 – also auch im Westen? – geschehen könne. Im Film selbst wird der Systemwechsel im Rahmen der Fortsetzung der oben beschriebenen Diskussion über die Verantwortung der Eltern thematisiert. Dort folgt nun ein Statement Torstens, der sich beschwert, dass »immer nur die Eltern« in die Verantwortung genommen würden.1064 Wofür genau, bleibt hier 1060 1061 1062 1063 1064

Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 14:04. Ebd., TC: 11:14. Lemke 2006, S. 5. Ebd. Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 14:29f.

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allerdings ebenfalls offen. Aus seinem leicht aggressiven Ton lässt sich schließen, dass er sich persönlich angesprochen fühlt. Er fährt fort, sich darüber zu beklagen, dass die Eltern »damals« viel mehr Zeit für ihre Kinder gehabt hätten. Wie aus dem weiteren Kontext des Interviews deutlich wird, meint er mit »damals« die Zeit der DDR: »Heutzutage«, so Torsten, »hat man keine Zeit so richtig. Man muss arbeiten, arbeiten, arbeiten.« – Wie um seine Worte zu bestätigen, ist die Fortsetzung des Interviews aus dem Off zu hören, während er bei der Arbeit gezeigt wird. Dies sei, so Torsten weiter, »damals halt etwas anders« gewesen. Er bemängelt zudem, dass man zu DDR-Zeiten nicht zur Selbstständigkeit erzogen worden sei, eine Fähigkeit, die seit der »Wende« nun plötzlich erwartet werde: »Plötzlich sollen sie irgend ’ne Firma gründen und sich selbstständig machen und sollen dann dafür sorgen, dass sie ihre Familie großbekommen.« Torsten selbst scheint sich relativ erfolgreich selbstständig gemacht zu haben. Nicht nur an dieser Stelle wird der Sanitätsdienstleister in seinem Büro und bei der Arbeit gezeigt. Der folgende Schnitt führt zu einem Statement Feikes, in dem es ebenfalls um einen Vergleich zwischen DDR-Zeiten und heute geht. Wieder lassen offene Anschlüsse Raum für Interpretationen. Feike macht den heutigen »Druck mitzuhalten« dafür verantwortlich, dass »die Kinder auf der Strecke bleiben«.1065 Während man sich mit den Nachbarn vergleiche, dessen neues Auto oder frisch gestrichenes Haus registriere, seien in der DDR »grundsätzlich irgendwo alle gleich gewesen«. Er macht hier allerdings eine bemerkenswerte Einschränkung: »Ich sag mal, zu DDR-Zeiten, diesen Prunk und Protz, das gab’s nicht. Da waren alle irgendwo ziemlich gleich, es gab auch welche, die es verstanden hatten, die auch die Möglichkeit hatten, zu schachern und zu judern, mehr Geld hatten, die konnten ein bissel anders leben, aber grundsätzlich waren die irgendwo alle gleich.« Heute hingegen stehe man unter dem Druck, mit den Nachbarn mitzuhalten. Beide Interviewpartner machen also den Konkurrenz- und Leistungsdruck sowie eine höherer Arbeitsbelastung im vereinigten Deutschland dafür verantwortlich, dass Eltern weniger Zeit für ihre Kinder hätten. Darüber, ob und inwieweit der massive Anstieg rechter Gewalt in den ostdeutschen Bundesländern aus der Verfasstheit der DDR und der Situation nach 1989 resultiere, ist sich die Forschung uneins. Einige Stimmen deuten diesen vor allem als Hinterlassenschaft des SED-Regimes,1066 andere betonen die Kontinuitäten von Rassismus und rechter Gewalt, die seit DDR-Zeiten bestünden.1067 Die Gegner_innen dieser Kontinuitätsthese argu1065 Ebd., TC: 15:48ff. 1066 Besondere Bekanntheit erlangt in diesem Zusammenhang die vehement kritisierte These des Kriminologen Christian Pfeiffer, der zufolge rechte Gewalt auf die Kita-Erziehung in der DDR und den dortigen Anpassungsdruck zurückzuführen sei. Vgl. dazu: Butterwegge 2002, S. 84ff. Vgl. auch Decker 1999. 1067 Vgl. dazu etwa: Waibel 2012, S. 261–402.

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mentieren mit der Ausnahmesituation, die sich aus politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen der Wendezeit ergab und extrem rechte Tendenzen begünstigte.1068 Indirekt wird im Film letzterer Erklärungsansatz vertreten. Mit Christoph Butterwegge favorisiere ich dagegen eine Synthese aus beiden Erklärungsansätzen: »In der Summe begünstigten die politische Sozialisation zu DDR-Zeiten und die mindestens genauso fragwürdigen Wirkungen der Systemtransformation eine Welle rechter Gewalt.«1069 Wichtig ist dabei der Begriff Begünstigung, denn so wird gegen eine strukturfunktionalistische Leserart argumentiert, der beide skizzierten Narrative – die Kontinuitätsthese wie die Umbruchthese – implizit folgen. Erwähnenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang auch der in Feikes Äußerung zutage tretende Antisemitismus: Eine der von ihm gelobten materiellen Gleichheit zuwiderlaufende Aneignung von Geld wird gemäß gängiger antisemitischer Stereotype als »schachern«1070 und »judern« benannt. Wird hier die weite Verbreitung antisemitischer Ideologiefragmente dokumentiert, deren Ablehnung bei einem als »aufgeklärt« implizierten Dokumentarfilmpublikum als selbstverständlich vorausgesetzt wird? Dagegen spricht, dass die Bemerkung akustisch so schwer verständlich ist, dass sie erst nach mehreren Wiederholungen erkennbar wird. Dagegen spricht ferner, dass der Antisemitismus der Täter von Milosevic bereits in der Exposition ausgeblendet wurde. Wäre diese Spur dort bereits gelegt worden, wäre der Blick der Zuschauenden für dieses Thema geschärft. Doch so bleibt die Äußerung einfach unbeachtet. Antisemitismus wird auch im weiteren Verlauf der Handlung nicht thematisiert. Die für eine Annäherung an Potzlower Mentalitäten sicherlich aufschlussreiche Frage, wie Feike so selbstverständlich darauf kommen konnte, Geldgier als eine »jüdische« Eigenschaft zu beschreiben, bleibt somit ebenso unbeantwortet wie die sich daran anschließende Frage nach der intergenerationellen Tradierung antisemitischer Ideologiefragmente. Auch im Anschluss an diese Szene geht es wieder um die Verantwortung für die Jugend, dieses Mal wird jedoch ein direkter Schlagabtausch zwischen Torsten 1068 Dass es in dieser Zeit auch im Westen der Bundesrepublik zu rassistischen Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten und Wohnhäuser von Migrant_innen kam, wird hiermit jedoch nicht erklärt. Auch die Frage, inwieweit sich diese Analyse auch auf die Situation 15 Jahre nach der Deutschen Wiedervereinigung beziehen lässt, bleibt offen. 1069 Butterwegge 2002, S. 93. 1070 Zum antisemitischen Gehalt des Worts »schachern« finden sich eine Reihe von Quellen: Im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm wird der Begriff wie folgt beschrieben: »Schacher, m. (aus hebr., quaestus, lucrum), kleinhandel, besonders gewinnsüchtiger hausirhandel, gewöhnlich von den juden, in verächtlichem sinne gebraucht: er hat bei dem schacher selbst seine kurfürstlichen gnaden übers ohr gehauen. Alexis hosen des herrn v. Bredow 1, 1, 182; uneigentlich: frommer schacher, scheinheiliger verrat am vaterlande. H. Heine 7, 117 Elster.« Jacob Grimm, Wilhelm Grimm o. J. Vgl. dazu auch: Rürup1997, S. 136.

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und Hucki gezeigt, in dem ersterer von der Gemeinde fordert, mehr Verantwortung für die Jugendlichen zu übernehmen.1071 Hucki entgegnet, dass dafür kein Geld vorhanden sei. Auf die Existenz geförderter Jugendarbeit in Potzlow respektive auf deren Finanzierung und das dafür zur Verfügung stehende Budget wird allerdings nicht weiter eingegangen. Dass es, wie aus einer Reihe von Medienberichten und aus Andres Veiels Buch hervorgeht, im Potzlower Ortsteil Strehlow im Jahr der Entstehung des Films einen Jugendclub gab, der trotz prekärer finanzieller Bedingungen bis 2008 existierte, wird im Film ausgelassen. Entsprechend ist auch über die Diskussionen um diesen nichts zu erfahren,1072 Jugendsozialarbeiterin Petra Freiberg, die Veiels Buch1073 und einigen Medienberichten1074 zufolge eine der wenigen Personen im Ort war, die sich offensiv gegen das Verdrängen und Verschweigen des Mordes engagierte und dafür heftig kritisiert wurde, kommt in diesem Film ebenfalls nicht zu Wort.1075 Ihre Stimme hätte eine andere Perspektive einbringen können. Stattdessen wird Torsten einige Minuten nach seiner oben erwähnten Diskussion mit Hucki in einer Interviewsequenz Raum gegeben, um zu behaupten, die einzige Person zu sein, die sich um die Jugendlichen kümmere.1076 Durch diese Auslassungen wird nicht nur suggeriert, dass der von Torsten eingerichtete Raum das einzige Freizeitangebot für die Dorfjugend sei.1077 Das Fehlen von kritischen Stimmen und das Auslassen von lokalen Debatten um Jugendarbeit suggerieren eine Homogenität, die in der Realität so nicht existiert. Im Film wird die brisante Frage nach dem kommunalen Umgang mit extrem rechten Jugendlichen fast vollständig ausgeblendet.

Sozialdarwinismus im Potzlower Alltag In zwei Szenen wird gezeigt, in welchem Maße es auch in Matthias Umfeld an der Tagesordnung gewesen zu sein scheint, es nicht nur bei verbaler Verachtung von 1071 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 16:36. 1072 So war die Potzlower Jugendarbeit nicht unumstritten. Während einige lokale Akteur_innen wie Wolfgang Hülsemann, Leiter der Mobilen Beratungsteams Brandenburg (MBT), dessen Arbeit verteidigten, ( Bischoff 2002) kritisieren regionale Antifagruppen, dass der Jugendclub, in welchem sowohl Marinus als auch – bis zu seiner Verhaftung – sein späterer Mörder Marcel Schönfeld ein- und ausgingen, eine klare Positionierung gegenüber rassistischen und extrem rechten Tendenzen habe vermissen lassen. Vgl. Antifa Uckermark 2002. 1073 Vgl. Veiel 2008, S. 173ff. 1074 Ramelsberger 2003b, S. 6. 1075 Veiel beschreibt, dass Freiberg seit ihrer kritischen Äußerungen zum Klima im Dorf als »Nestbeschmutzer« gelte. Veiel 2008, S. 176ff. 1076 Torsten sagt hier: »Ich weiß nicht, die Gemeinde, die machen es sich vielleicht leicht, die denken, die sind ja hier oben, jetzt sind sie ruhig, es passiert nichts, da sind sie gut aufgehoben.« Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 20:36ff. 1077 Vgl. dazu: Ramelsberger 2003b. RBB Klartext 2005.

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Schwächeren zu belassen, sondern den Worten auch Taten folgen zu lassen. Kurz vor einer längeren Szene, in der dies den Zuschauenden drastisch vor Augen geführt wird, äußert sich Torsten abwertend über Marinus .Zunächst bescheinigt er ihm einen Mangel an Durchsetzungskraft: »Marinus war einer, der konnte nicht zurückschlagen. Das war ’n ängstlicher Junge. Der war schon, solange ich ihn kenne, nur Mitläufer, nur Mitläufer. Das ist nicht einer, der sagt: ›Das und das wird gemacht‹. Nein, der war ruhig, schüchtern, zurückhaltend.«1078 Während dieser Worte schüttelt Torsten den Kopf und macht damit deutlich, dass er dies nicht für positive Eigenschaften hält. Er fährt fort: »Der hat mit sich machen lassen, das hab ich jedenfalls so gesehen, der hat mit sich machen lassen, was die anderen wollten.« Aus dieser Beobachtung leitet er nun ab, dass Marinus kein Recht auf Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft habe und »normalerweise in die Sonderschule, ins Heim irgendwohin gehört [hätte], aber nicht so in ’ne Gesellschaft.«1079 Damit bringt Torsten zentrale Fragmente eines sozialdarwinistischen Weltbilds zum Ausdruck: Gemäß dem Recht des Stärkeren wird ein Mangel an Dominanz zum Kriterium für die Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft und entsprechender Privilegien erhoben.1080 In dieser Logik hat sich Marinus gewissermaßen unrechtmäßig in der Potzlower Dorfgemeinschaft aufgehalten und trägt entsprechend die (Mit-)Schuld, gewaltsam aus dieser entfernt worden zu sein. Eingeleitet durch diese Äußerung wird Torsten in einer der nächsten Sequenzen seine Verachtung Schwächerer an dem wehrlosen betrunkenen Miki exekutieren. Doch zunächst folgt im Film ein Ausschnitt aus dem Interview mit Bürgermeister Feike, in welchem sich dieser zur Gewalteskalation äußert, die zum Mord an Marinus führte.1081 Er fühlt sich mit bei seinen Ausführungen sichtlich unwohl, spricht stockend, macht Pausen, sucht nach Worten und blickt während seiner Rede immer wieder nach unten auf die Tischplatte. Diese aus seiner Körpersprache ersichtliche Befangenheit steht in einem Kontrast zu der frontalen, mit Diskursmacht assoziierten Kameraperspektive, aus der heraus der Lokalpolitiker gefilmt wurde. Laut Feike sei Marinus lediglich ein Zufallsopfer gewesen: »Marinus war am falschen Tag am verkehrten Ort«. Den Tätern, die »’ne richtige Sau rauslassen, wahrscheinlich auch einen aufklatschen« wollten, bescheinigt er damit eine ungerichtete Lust auf Gewalt. Ein weiterer, in Feikes Argumentation anklingender Punkt ist die Eskalation der Gewalt, aus der sich der Mord ungeplant »ergeben« habe. Weder die Auswahl eines Schwächeren als Opfer, noch der Akt, in dem Marinus zum Juden gemacht 1078 1079 1080 1081

Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 25:17ff. Ebd. Vgl. Porath 2013, S. 86. Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 26:09.

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und somit in eine neonazistische Feindkategorie gezwungen wurde, noch die große Rolle, die dies für die Eskalation der tödlichen Gewalt spielte, wird hier benannt. Trotzdem wird die folgende Szene durch die beiden vorangestellten Interviewsequenzen in einen Zusammenhang mit dem Mord selbst und seinen Teilaspekten, der Verachtung Schwächerer und der tödlichen Eskalation der Gewalt gestellt und damit Parallelen zwischen den im Folgenden beschriebenen Geschehnissen am See und dem Mord an Marinus gezogen. Es bleibt jedoch den Zuschauenden überlassen, entsprechende Schlüsse zu ziehen. Die Einstellung beginnt mit einer malerischen Landschaftsaufnahme vom Ufer eines Sees.1082 Menschenleer liegt eine Badestelle im kalten bläulichen Licht eines bedeckten Tages. Auf der Soundspur sind dazu einzelne Vogelstimmen zu hören. Plötzlich wird diese Ruhe durch laute Motorengeräusche aus dem Off beendet. Der nächste Schnitt zeigt die Ankömmlinge, die das Kamerateam erwartet zu haben scheint. Eine Gruppe von Jugendlichen und Erwachsenen, unter ihnen Torsten und Matthias, stehen vor Torstens weißem Transporter. Ihre Kleidung, leichte Jacken und lange Hosen, sowie der Blaustich des Bildes lassen auf einen kühlen Sommertag schließen. Miki wird von Torsten und einem jungen Mann in roter Jacke aus dem Transporter gezerrt. Er fällt auf den Boden. Auch in dieser Sequenz ist er sichtlich betrunken. Nun wird zwischen Miki und der lärmenden Ankunft eines weiteren jungen Mopedfahrers hin- und hergeschnitten. Aus größerer Nähe hält die Kamera auf den Rücken des wie benommen im Gras sitzenden Miki.1083 Bei der nächsten Einstellung scheint einige Zeit vergangen zu sein. Ein Plastiktisch und Stühle sind aufgebaut worden, ein Grill qualmt. Miki sitzt nicht mehr im Gras, sondern in der Tür des Transporters. Nun wird er von Torsten und einem jungen Mann in roter Jacke unter den Armen gepackt und an den See geschleift. Er solle, so Torsten, mal »gucken, wie das Wasser ist«. Miki weigert sich, versucht, mit ausgestreckten Füßen zu bremsen. Er scheint bereits zu ahnen, was auf ihn zukommen wird: »Damit ich reinfalle, oder was?« Doch seine Einwände bleiben ungehört. Sie zerren ihn zum Wasser. »Ich kann doch nicht schwimmen, Mann.« Torsten: »Nur gucken, nur gucken.« Die Kamera folgt ihnen.1084 Ein Schnitt zurück auf Matthias und seine Schwester zeigt, wie die beiden das Geschehen von ihren Stühlen aus verfolgen. Matthias grinst. Schnitt zurück zum Übergriff am See, zu dem die Kamera ihre Distanz verringert hat. Das Geschehen wird nun aus der größeren Nähe einer Halbnahen

1082 Ebd., TC: 27:01. 1083 Ebd., TC: 27:42. 1084 Aus der Figurenansicht in gleichbleibender Einstellungsgröße zwischen Halbtotaler und Amerikanischen und dem leichten Schwanken der Handkamera wird deutlich, dass das Kamerateam die Gruppe zum Ufer begleitet.

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in den Blick genommen.1085 Miki wird nun mit den Füßen, er trägt noch seine Schuhe, ins Wasser geschleift und genötigt, sich nach vorne zu beugen, um die Wassertemperatur mit der Hand zu testen. Ein dritter junger Erwachsener kommt hinzu. Miki wird von den dreien geschubst, er stolpert zuerst nach vorne, fällt dann nach hinten ins Wasser. Wieder wird zwischen den grinsenden Zuschauenden und Miki hin- und hergeschnitten, der nun durchnässt am schlammigen Ufer sitzt und wütend mit der Hand in den Matsch schlägt. Der nächste Schnitt zeigt den feixenden Torsten, der so tut, als ob er Miki helfen wolle, um ihn dann erneut ins Wasser zu schubsen: »Aber nich umfallen.« Erneut sitzt Miki völlig durchnässt im Wasser : Wieder erfolgt ein Schnitt auf die Jugendlichen, die die Szenerie immer noch grinsend beobachten, ohne einzugreifen. Miki (lallend): »Mir ist schon so kalt« und zu Torsten gewandt: »Du blödes Arschloch, ey.« Er stolpert breitbeinig ans Ufer, was Torsten mit den verächtlichen Worten kommentiert: »Warum gehst du auch mit Sachen ins Wasser?« Torsten behauptet nun, dass Mikis Handy noch im Wasser läge. Lachend zeigt er auf den See. Aus einer distanzierteren Kameraperspektive wird nun gezeigt, wie Miki breitbeinig zurückwankt und durch das Wasser zur Stelle wartet, auf welche Tosten zeigt. Ein Junge kommentiert aus dem Off: »Der fällt gleich wieder um.« Ein Anderer wirft einen Stock zu der Stelle, an der Mikis Handy angeblich liegt. Miki verhält sich hilflos aggressiv und tastet vergeblich im See nach dem Gerät. Der Junge pfeift nach ihm wie nach einem Hund: »Such’s Stöckchen.« Erst danach zeigt er ihm, dass sein Handy gar nicht im Wasser lag. Die Umstehenden lachen. Wütend rennt Miki hinter dem Jungen her, erwischt ihn aber nicht. Auf der Soundspur dazu der Schlager, den die Clique wohl über die Stereoanlage des Transporters hört. Anschließend zeigt die Kamera Torsten, der nun mit Miki an seinem Transporter steht und ihm Papier um den Hals wickelt. Der frierende Miki hat sich in eine Autofußmatte gewickelt. Er zittert. Die letzte Einstellung zeigt das Treiben aus einer Totalen, als ob sich die Kamera distanzieren wolle. Ein auffälliges Stilmittel in dieser Szene ist, dass während des Geschehens immer wieder auf die jugendlichen Zuschauenden geschnitten wird, welche die Szene lachend beobachten. Die Frage nach einem Eingreifen muss sich aber auch das Filmteam gefallen lassen, welches das Geschehen ebenfalls beobachtet, Miki und seine Peiniger sogar zum Wasser begleitet und dabei die Distanz verringert, um die Demütigungen aus nächster Nähe filmen zu können. Diese Darstellung wirft damit grundlegende Fragen nach der Ethik des Dokumentarfilms auf. Inwieweit beeinflusst hier die Anwesenheit der Kamera das Geschehen? Motiviert sie etwa Torsten, der sich im Fokus der Kameraaufmerksamkeit recht wohl 1085 Zuvor wurde die Dreiergruppe aus der größeren Distanz einer Halbtotalen in den Blick genommen.

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Torsten macht sich über Miki lustig

zu fühlen scheint, wie an seinem leutseligen Schmunzeln in vielen Interviewsequenzen ersichtlich wird, zu seinen sozialdarwinistischen Späßen? Inwieweit wird hier das (re-)produziert, was Milosevic durch wiederholte Schnitte auf die Zuschauenden zu skandalisieren versucht? Ist es ein hinnehmbarer »Kollateralschaden«, Mikis Entwürdigung einem Kinopublikum vorzuführen, der durch das größere Ziel, diesem die »Potzlower Zustände« zu präsentieren, gerechtfertigt ist? Die Frage nach den Persönlichkeitsrechten der Gefilmten spielt in der aktuellen US-amerikanischen Debatte um den Dokumentarfilm eine große Rolle.1086 Forschende wie Nichols diskutieren in diesem Zusammenhang etwa die Anwendung des forschungsethischen Konzepts der informierten Einwilligung in der Praxis des dokumentarischen Filmschaffens. Es besagt unter anderem, dass die in wissenschaftlichen Studien und Untersuchungen Beforschten so weit wie möglich über ihre Rechte und die Konsequenzen ihres Mitwirkens informiert werden sollen.1087 Nichols wägt den Rahmen der Möglichkeiten ab, in dem das Konzept in verschiedenen Produktionen Anwendung findet oder finden soll1086 Vgl. dazu exemplarisch Williams 1999 S. 176–189. 1087 Die informierte Einwilligung ist etwa im Ethikkodex des Berufsverbands deutscher Soziologinnen und Soziologen e. V. beschreiben: »Generell gilt für die Beteiligung an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, daß diese freiwillig ist und auf der Grundlage einer möglichst ausführlichen Information über Ziele und Methoden des entsprechenden Forschungsvorhabens erfolgt. Nicht immer kann das Prinzip der informierten Einwilligung in die Praxis umgesetzt werden, z. B. wenn durch eine umfassende Vorabinformation die Forschungsergebnisse in nicht vertretbarer Weise verzerrt würden. In solchen Fällen muß versucht werden, andere Möglichkeiten der informierten Einwilligung zu nutzen.« Berufsverband deutscher Soziologinnen und Soziologen 2014.

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te.1088 Er weist dabei insbesondere auf strukturelle Konflikte zwischen den Interessen von Filmenden und Gefilmten hin: »Given that most filmmakers act as representatives of those they film or of the institution sponsoring them rather than as community members, tension often arise between the filmmaker’s desire to make a compelling film and the individual’s desire to have his or her social rights and personal dignity respected.«1089

Auch Milosevic begibt sich in dieses Spannungsfeld, indem sie einerseits mit der Darstellung von Torstens sozialdarwinistischem Gewalthandeln relevante Aussagen über die Verfasstheit des Potzlower Soziotops treffen will und andererseits das Recht der Dargestellten – Hucki und Miki – auf eine respektvolle Darstellung zu gewährleisten hat. Wo also endet Milosevics sicherlich gutgemeinter Versuch, lokale Zustände dokumentieren zu wollen, und wo reproduziert ein voyeuristischer Blick der Kamera auf den Betrunkenen den Sozialdarwinismus oder beteiligt er sich gar aktiv an der Dynamik des Übergriffs? Nichols stellt zudem die Frage in den Raum, bis zu welchem Grad die Filmschaffenden den Gefilmten ihre Absichten offenbaren (könnten) und ob die mitunter negativen Konsequenzen, die ein Auftauchen im Film für die Gefilmten haben können, überhaupt vorhersehbar seien. Darüber, ob Miki gefragt wurde, ob es für ihn in Ordnung sei, dass seine Demütigung durch Torsten Teil des Films ist, ist mir nichts bekannt. Haben die beiden zugestimmt, dass ein Kinopublikum Zeuge wird, wie sie – wehrlos betrunken – Objekte von Torstens derben Quälereien werden? Aushandlungsprozesse mit den Akteur_innen werden in diesem Film nicht transparent gemacht. Über Absprachen vor und während des Drehs sowie bezüglich des Umgangs mit dem Material ist auch aus dem Begleitmaterial nichts zu erfahren.1090 Auch wenn sich im vorliegenden Fall weder Aussagen über Milosevics ursprüngliche Intention bzw. ob und inwieweit sie die Gefilmten über diese informiert hat, noch über die Konsequenzen, die sich für die verschiedenen Akteur_innen aus dem Film, seiner Produktion und Publikation ergeben haben, treffen lassen, sollen die damit verbundenen Fragen an dieser Stelle zumindest aufgeworfen und auf die Verantwortung der Filmemacherin gegenüber den Gefilmten hingewiesen werden. Diese nimmt angesichts einer Statusdifferenz zwischen den Gefilmten und der Filmemacherin zu, die als Absolventin einer Filmhochschule und Kulturschaffende im Vergleich zu ers1088 Nichols 2010, S. 52f. 1089 Nichols 2010, S. 56. 1090 In Lemkes bereits zitiertem Interview bezieht Milosevic die Frage, ob die Protagonist_innen diesen teilweise »sehr harten« Film gesehen haben, nur auf Mathias und seine Familie. Sie antwortet hierauf: »Ja. Mathias und seinen Eltern habe ich gesagt, dass es um das soziale Miteinander geht, dass ich da mit meinem Material keinen verschont hab. Das haben sie akzeptiert. Mathias wird zur Premiere nach Leipzig kommen.« Lemke 2006, S. 5.

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teren besseren Zugang zu Bildung, den für die Produktion ihres Filmes erforderlichen Skills und Ressourcen sowie den Distributionskanälen und -strukturen zur Verbreitung ihrer Sicht der Dinge hat.1091 Entsprechend fordert der Ethikkodex des Bundesverbands deutscher Soziologinnen und Soziologen von Forschenden gerade dann, besondere Anstrengungen zur Gewährleistung einer angemessenen Information zu unternehmen, wenn die Untersuchten – im vorliegenden Fall die Gefilmten – »über eine geringe Bildung verfügen, einen niedrigen Sozialstatus haben, Minoritäten oder gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen angehören«.1092 Letzteres trifft vor allem auf Miki zu, dessen Alkoholismus und niedriger sozialer Status1093 in der beschriebenen Sequenz markant in Szene gesetzt wird. Im Anschluss an die geschilderte Szene bekommen die Betroffenen die Möglichkeit, den Vorfall selbst zu kommentieren.1094 Mikis Versuche, das Geschehene herunterzuspielen – »Was soll ich sagen, Spaß erlaubt man sich immer« –, weist Hucki zurück: »Das war ja kein Spaß gewesen, wie du da nachher gezittert hast, boah, dir das mit dem Matte da zugedeckt hast. Und da, da hört der Spaß ja auf. Man schmeißt keinen Menschen mit Sachen ins Wasser, weil dann hat der nichts mehr anzuziehen.«1095 Miki schaut betreten zu Boden. Schließlich lenkt Hucki ein: »Na ja, gut. Wollen wir das auch vergessen, das Ding, das bringt ja nichts. Kriegt man ja auch so viele Kopfschmerzen von. Man grübelt da ja, och nee, ich möchte das auch nicht, so viel Grübeln. Nee, muss man nicht.« Miki versucht auch im weiteren Verlauf des Gesprächs, die erlittene Demütigung zu relativieren: »Ich sag ja, ist jeder mal dran. Dass man mal Spaß macht. Da ist keiner von ausgeschlossen.«1096 Diese Aussage steht in einem Widerspruch zu den Informationen, die im Film bis zu diesem Zeitpunkt über die Hierarchien und Dynamiken innerhalb der Gruppe bereitgestellt wurden. Torstens so initiatives wie dominantes Verhalten in allen bislang gezeigten Interaktionen lässt es zumindest fragwürdig erscheinen, dass auch er »mal dran« sei.1097 Ähnlich schätzt auch Hucki das soziale Gefüge sowie Torstens und Mikis Positionen ein. Er kommt auf physische Ge-

1091 Diese Statusdifferenz betrifft auch mich, die ich im Rahmen dieser Dissertation über diesen Film schreibe. 1092 Deutsche Gesellschaft für Soziologie (2014). 1093 Als Anhaltspunkte für diese Behauptung dienen etwa die Tatsache, dass er in Torstens Betrieb angestellt ist sowie seine Sprechweise. Wegen seiner Trunkenheit ist seine Rede hier unartikuliert. Im Interview spricht er mit starkem Dialekt, bildet kurze einfache Sätze. 1094 Zur Falschen Zeit am falschen Ort, TC: 32:41. 1095 Ebd., TC: 33:10ff. 1096 Ebd., TC: 33:16. 1097 In einer vorangegangenen Szene suchte Torsten sich den ebenfalls rangniedrigen Hucki als Opfer aus. Ebd., TC: 17:31.

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walttätigkeiten Torstens gegenüber Miki und auf dessen Machtposition als Mikis Arbeitgeber zu sprechen: »Ja, Miki, ärgern hin, ärgern her, der ärgert dich, joo, das macht der. Der hat dir auch schon mal die Augen dick gehaun, das macht der auch. Aber er weiß, dass du auf ihn immer angewiesen bist hier oben. Bei der Arbeit. Das ist das andere Problem, wenn du hier oben nicht wärst, dann wär das hier schon anders. Dann wär das schon anders.«1098

Während seiner Rede schüttelt er immer wieder den Kopf und schaut dabei resigniert zu Boden. Auf mehreren Ebenen lassen sich damit Parallelen zwischen dem Mord an Marinus und der Szene am See ziehen. Sozial »Randständige«, Wohnungslose und Alkoholkranke bilden in Brandenburg die größte Opfergruppe unter den Todesopfern rechter Gewalt. Sozialdarwinismus war auch beim Mord an Marinus Schöberl eins der Motive. Wurde er doch von seinen Mördern als »Untermensch« verachtet. Eine sozialdarwinistische Verachtung Schwächerer manifestiert sich auch in Torstens Worten und Taten: Wie beschrieben, definiert er Marinus Schöberl aus der Potzlower Dorfgemeinschaft heraus, indem er ihm Eigenschaften wie Schwäche und einen Mangel an Durchsetzungskraft zuschreibt. In der Szene am See wählt er sich den aufgrund seines volltrunkenen Zustands wehrlosen Miki als Opfer seiner demütigenden Aktionen aus. Familienvater Torsten repräsentiert folglich in eindrücklicher Weise den Sozialdarwinismus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Dass dieser nicht nur in neonazistischen Kreisen um Marinus’ Mörder, sondern auch gesamtgesellschaftlich weit verbreitet ist, zeigen aktuelle Umfragen. So äußerten sich in der Mitte-Studie aktuell 8,4 Prozent der Deutschen, im Osten sogar 12,2 Prozent, zustimmend zur Aussage: »Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.«1099 Auch wenn sich also bei Torsten ähnliche Ideologiefragmente wie bei Marinus’ Mördern aufzeigen lassen, bleibt doch die Behauptung eines elementaren qualitativen Unterschieds bestehen. So sind die im Film direkt dargestellten Aktionen im Vergleich zum anfangs in der Anklageschrift geschilderten Foltermord an Marinus Schöberl relativ harmlos. Zudem lässt sich bei Torsten weder eine positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, noch eine ästhetisierende Verherrlichung von Gewalt aufzeigen, die im Weltbild extrem rechter Cliquen ebenfalls zentral ist. Da die Täter und ihre Motive im Film jedoch ausgeblendet werden, bleibt die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Raum stehen.1100 Die wichtige Frage, ob und 1098 Ebd., TC: 35:03. 1099 Decker, Kiess, Brähler 2016 b, S. 36. Zur Drehzeit des Films lag der Zustimmungswert für sozialdarwinistische Items in Ostdeutschland bei 6,2 Prozent. Ebd., S. 46. 1100 Butterwegge beschreibt Gewalt in diesem Zusammenhang neben dem Rassismus als »geistige Klammer« der jeweiligen Bezugsgruppe (Peergroup), als »Handlungsmuster, das

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wo sich letztlich eine Grenze zum ebenfalls sozialdarwinistisch agierenden Torsten ziehen lässt, der – sofern man Huckis Worten Glauben schenkt – gelegentlich auch zum Schläger wird, bleibt offen.

Fazit: Die Darstellung der Potzlower Clique als Versinnbildlichung deutscher Zustände? Tamara Milosevic wählte den Mord an Marinus Schöberl als Ausgangspunkt für ihren Film Zur falschen Zeit am falschen Ort. Abgesehen von der Exposition, in der mit Bildern des Tatorts und Statements der Interviewpartner_innen unmittelbar auf den Mord eingegangen wird, gerät die Tat über weite Strecken des Films zu einem Subtext. Unklare Bezüge zwischen Interviewpassagen und Szenen, in denen der Alltag der Hauptfigur Matthias und seinem Umfeld gezeigt werden, eröffnen dabei vielerlei Interpretationsspielräume. Auf diese Weise werden immer wieder, wenn auch indirekt, Aussagen und Deutungen über die Ursachen des Mordes getätigt. Auch wenn der Mord in einem Klima der sozialen Kälte verortet wird, in dem sozialdarwinistische Handlungen an der Tagesordnung zu sein scheinen – in zwei Szenen wird gezeigt, in welchem Maße es auch in Matthias’ Umfeld üblich zu sein scheint, die Verachtung für Schwächere nicht nur verbal auszuagieren –, vermeidet es der Film, den Mord als rechte Gewalttat zu benennen. Weder der tateskalierende Antisemitismus im Speziellen noch der Neonazismus der Täter im Allgemeinen kommen zur Sprache. Auf diese Weises trägt der Film dazu bei, die weit verbreitete Verdrängung und Relativierung rechter Gewalt fortzuschreiben. Dies, obwohl in seinem Mittelpunkt Matthias, der beste Freund des Mordopfers, steht und die Auswirkungen thematisiert werden, welche die Tat auf dessen (Bildungs-)Biografie haben. Der filmische Diskurs kreist jedoch vor allem um den Konflikt zwischen Matthias und seinem Vater, der den Sohn bezichtigt, »verstockt« zu sein und den Schmerz über den Mord als Vorwand zu nutzen, sich weiter hängenzulassen. Auch wenn der filmische Diskurs Torstens Sprecherposition durch dessen detailliert vorgeführte sozialdarwinistischen Handlungen delegitimiert, scheinen Aussagen und Bilder des kiffenden und fernsehenden Matthias die väterliche Wahrnehmung dennoch an manchen Stellen zu bestätigen. Erst am Ende der Handlung wird Matthias durch ein ärztliches Gutachten eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert. Was es für Matthias (und andere nichtrechte Jugendliche) bedeutet, in unmittelbarer

verschworene Gemeinschaften von Gleichaltrigen und -gesinnten konstituiert« Butterwegge 2002, S. 99. Vgl. dazu auch: Porath 2013, S. 91.

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Tatmotiv Sozialdarwinismus im Film

Nähe des neonazistischen Umfelds der Täter leben zu müssen, wird im Film nicht gefragt. Inwieweit steht die Gruppe um Torsten für das Dorf, das wiederum repräsentativ für die ostdeutsche Provinz steht? Die Frage der Interviewerin Grit Lemke, ob Potzlow typisch deutsch, typisch Osten sei, ein Bild unserer Gesellschaft zeige, bejaht Milosevic. Angesichts der bundesweiten Anzahl Todesopfer rechter Gewalt1101 ist ihre Antwort, dass so »etwas wie in Potzlow überall passieren« könne, da der Ort für viele Orte in ganz Deutschland stehe, durchaus zutreffend.1102 Trotzdem verortet der Film die Handlung eindeutig im Osten und präsentiert, wie ich gezeigt habe, auch auf Ebene der Figuren entsprechende Erklärungsansätze. Will der Film auf das soziale Miteinander im Dorf eingehen, die Clique um Matthias und seine Familie als das Soziotop zeigen, in dem der Mord passieren konnte, müsste zuerst die Frage beantwortet werden, inwieweit diese Übertragung überhaupt funktioniert und sich diese Relation als so etwas wie eine Synekdoche fassen lässt. Eine Deckungsgleichheit, die auch in einigen Kritiken vorausgesetzt wird.1103 Gibt es wirklich keine anderen Freizeitangebote und -treffpunkte? Nach einer Klärung dieses Sachverhalts hätten Fragen nach der Akzeptanz der neonazistischen Täter und des Umgangs mit ihnen in diesem Soziotop überhaupt erst verhandelt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und der Clique herausgearbeitet werden können. Einen kleinen Hinweise darauf, dass es in Matthias’ Umfeld auch zumindest symbolische Abgrenzungstendenzen gegenüber dem offenen Neonazimus zu geben schien, gibt immerhin ein »Nazis raus«-Aufnäher am Rucksack eines namenlos bleibenden Freundes.1104

1101 Nach Zählungen des Opferperspektive e. V. führen die westlichen Bundesländer die Statistik der Todesopfer rechter Gewalt an. Opferperspektive e. V. o. J.a. 1102 Lemke (2006). 1103 Kunstreich 2006. 1104 Zur falschen Zeit am falschen Ort, TC: 12:20.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen: Verfilmungen der Deprivationsthese?

»Ihr müsst sie lieb und nett behandeln, erschreckt sie nicht, sie sind so zart/ Ihr müsst mit Palmen sie umwandeln, getreulich ihrer Eigenart! Pfeift eurem Hunde, wenn er kläfft – : Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.« (Kurt Tucholsky)

Mit dem massiven Anstieg rechter Gewalt in den 1990er Jahren entstand eine Reihe von Dokumentarfilmen, die sich fast ausschließlich mit der Täterseite auseinandersetzten. Die Perspektiven derjenigen, die von rechter Gewalt betroffen waren und sind, kommen hingegen in diesen Filmen wenn dann nur am Rande vor.1105 Finanziert durch die Förderinstitutionen von Bund und Ländern liefen sie in Kinos und auf Filmfestivals. In Filmen wie der Stau-Trilogie des Dokumentaristen Thomas Heise, Stau – Jetzt geht’s los, D 1992,1106 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), D 1999,1107 Kinder. Wie die Zeit vergeht, D 2007, in Glaube, Liebe, Hoffnung (R: Andreas Voigt, D 1994),1108 Torfsturm. Eine rechte Jugendclique (R: Dagmar Gellert, D 1996) und No Exit (R: Franziska Tenner, D 2005) stehen extrem rechte Cliquen und Kameradschaften im Zentrum. Protagonisten sind zumeist männliche Jugendliche und junge Erwachsene zwischen Schule und dem Einstieg ins Berufsleben. Mädchen und junge Frauen werden, wie ich in den anschließenden Film1105 In Beruf Neonazi gibt es eine kurze Szene, in der serbische Überlebende der NS-Vernichtungspolitik gegen den Holocaustleugner David Irwing demonstrieren. Ihre Intervention wird von Althans fotografiert und hämisch kommentiert. 1106 Kapitel 6.1 Tristesse zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt. Der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht’s los (R: Thomas Heise, D 1992). 1107 Kapitel 6.2 Sieben Jahre später : Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (R: Thomas Heise, D 1999). 1108 Kapitel 6.3 Neonaziporträts: Glaube, Liebe , Hoffnung. Leipzig Dez. ’92–Dez. ’93 (R: Andreas Voigt, D 1994).

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

analysen zeige, sofern sie überhaupt vorkommen, meist nicht als aktive Neonazistinnen dargestellt. Eine Ausnahme bildet hier lediglich der Spielfilm Kriegerin, den ich in Kapitel 6.4 analysiere. Einige dieser Filme, etwa Stau – Jetzt geht’s los, lösten heftige Diskussionen darüber aus, »wie man Nazis zeigen« dürfe.1109 Zum einen, weil die Filmschaffenden auf Voiceover und Texteinblendungen verzichteten, mit denen eine kritische Einordnung des Gezeigten und eine Distanzierung von den neonazistischen Protagonisten hätte erfolgen können. Zum anderen, weil die Filme das Individuelle, Private eindeutig ins Zentrum stellen. Sie lassen sich intensiv auf ihre extrem rechten Protagonisten ein, zeigen sie in ihren jeweiligen Lebenssituationen, thematisieren ihre Ängste, Sorgen und Nöte, welche dann als Begründungszusammenhänge für ihre politischen Orientierungen präsentiert werden. Damit folgten diese Filme damals wie heute gängigen Annahmen über rechte Gewalt. Der Jugenddiskurs Stefan Dierbach konstatiert im wissenschaftlichen wie populären Diskurs über rechte Gewalt eine »mindestens seit den 1990er Jahren bestehende Tendenz«, diese als »Jugendgewalt« zu thematisieren, was dazu führe, die Rolle, die rechte Ideologie hierbei einnimmt, »deutlich unter ihrem realen Wert zu verhandeln«.1110 In der Konsequenz würden »die Täter in der Hauptsache als ›Jugendliche‹ wahrgenommen werden, die ihre Taten ausschließlich aus einer altersspezifischen und nicht aus einer politischen Motivation heraus begehen«. Diese Diagnose führe dazu, »dass die spezifische Qualität rechter Gewalt als Mittel des Kampfes um gesellschaftliche Hegemonie nicht adäquat erfasst, sondern auf ein pädagogisches und/oder soziologisches Problem reduziert« werde. Den TäterInnen werde wegen ihres Lebensalters abgesprochen, dass ihre Taten Resultat politischer Entscheidungen seien, die »auf der Grundlage eines Bewusstseins über Sinn, Zweck und Ziel einer Handlung anzusehen sind«. Rechte Gewalttaten, so kritisiert Dierbach, seien dieser Setzung zufolge eher Resultat unbewusster »Impulse[.], die sich jenseits politischer Begründungen quasi hinter dem Rücken der handelnden Subjekte realisieren, eben weil es sich [bei den TäterInnen] um Jugendliche handelt«. Warum mit realen oder vermeintlichen Angehörigen gesellschaftlicher Minderheiten stets ebenjene Menschen angegriffen werden, die gemäß rechten Feindbildern nicht zu einer imaginierten (neo-)nazistischen Volksgemeinschaft gehören, bleibt im Jugenddiskurs eine Leerstelle. Dierbach plädiert daher für einen »political turn« innerhalb 1109 Vgl. Reinecke 1996, S. 44–54. 1110 Dierbach, Stefan 2012, S. 6f.

Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

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der Diskussion um rechte Gewalt.1111 Nicht zuletzt, weil es sich nur bei einem Drittel der im Zusammenhang mit rechten Gewalttaten Verdächtigten tatsächlich um »›Jugendliche‹ im Sinne der gesetzlichen Definition, d. h. zwischen 14 und 17 Jahre alt [handelt] und nur ein sehr kleiner Teil der Gesamtmenge aller Jugendlichen […] überhaupt als rechtsextreme/r Gewalttäter_in auffällig« wird.1112 Der Jugenddiskurs ist meist eng mit der Deprivationsthese verschränkt. Liegt bei ersterem der Fokus auf dem Faktor Jugend, steht beim zweiten Begründungszusammenhang eine Perspektiv- und Orientierungslosigkeit im Zentrum. Die Deprivationsthese Wie ich in den jeweiligen Filmanalysen ausführen werde, folgen insbesondere Stau – Jetzt geht’s los, Glaube, Liebe, Hoffnung sowie Kriegerin der sogenannten Deprivations- oder Individualisierungsthese, die rechte Gewalt – vor allem bei jugendlichen TäterInnen – als Resultat von Orientierungslosigkeit, dem Verlust sozialer Bindungen sowie der steigenden Arbeitslosigkeit vor allem infolge der Deutschen Wiedervereinigung konzeptualisiert.1113 Dieser gerade mit dem Namen Heitmeyer verbundene Ansatz, der bereits in den 1990er Jahren so umstritten wie verbreitet war, hat die Sicht auf reche Gewalttäter nachhaltig beeinflusst.1114 Dies, obwohl sich ein Zusammenhang zwischen rechten Einstellungen und materieller Absicherung in den Ergebnissen von Heitmeyers eigenen empirischen Untersuchungen nicht aufzeigen ließ.1115 In der sozialpädagogischen Arbeit wurde das Konzept der akzeptierenden Sozialarbeit, das ursprünglich in der Arbeit mit jugendlichen Punks und mit Drogenabhängigen Verwendung fand, nun, basierend auf Heitmeyers Individualisierungsthese, auf die pädagogische Arbeit mit rechten Jugendlichen übertragen. Wie Michael Hammerbacher feststellt, wurde der akzeptierende 1111 Zu diesem Ergebnis kommt auch Christoph Butterwegge, demzufolge gerade Heitmeyer durch »seine Medienpräsenz […] – wenngleich sicherlich ungewollt – dazu beigetragen [hat], dass [rechte Gewalt] fast durchgängig als Jugendproblem verhandelt wurde« Butterwegge 2002, S. 109. 1112 Dierbach 2012, S. 7. 1113 Butterwegge schreibt in diesem Zusammenhang von Desintegration. Vgl. Butterwegge 2002, S. 109f. 1114 Die Deprivationsthese wies Rommelspacher bereits 1992 zurück. Vgl. Rommelspacher 1992. Rommelspacher 1998b, S. 81. Rommelspacher 1998a, S. 53. 1115 Heitmeyer selbst räumte bereits 1993 ein, dass sich in »den empirischen Ergebnissen der quantitativen Studie zeigte […], daß die Jugendlichen, die (scheinbar) sozial und beruflich über den Einstieg in einen Ausbildungsplatz integriert waren, überraschenderweise z. T. ausgeprägtere fremdenfeindliche Positionen vertraten als z. T. diejenigen aus der anderen Konstellation [soziale und berufliche Desintegration]« Wilhelm Heitmeyer et al. 1993, S. 10.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

Ansatz 1992 mit dem Aktionsprogramm gegen Gewalt und Aggression des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Angela Merkel zur »dominierenden Handlungsstrategie«.1116 Laut Andreas Buderus versteht sich dieses Konzept »im sozialpädagogischen Feld als die Umsetzung der Forderung Heitmeyers, dass es ›oberstes Ziel von Jugendarbeit (mit desintegrierten rechten Jugendlichen; A.B.) wäre […], Kompetenzen zu fördern, mit den Lebensbedingungen dieser Jugendlichen deutlicher bedürfnis- und interessengeleitet umgehen zu können‹«.1117

Im Fokus stehen also die Probleme der rechten Klientel, denen entgegengewirkt werden soll. »Grobziel ist«, so Buderus, »die Schaffung von Chancen für Jugendliche, sich gerade dort einzubringen und erfolgreich zu handeln, wo es ihnen akut absolut verwehrt ist bzw. erscheint – dies ist ja gerade der Grund für sie, zur Gewalt als ›wesentlichem Mittel‹ zu greifen.«1118 Die Anwendung dieses Ansatzes in der Praxis war jedoch bald höchst umstritten. Auch sein Begründer, Franz Josef Krafeld, ging ob dessen praktischer Umsetzung bald auf Distanz.1119 Heike Kleffner weist auf die Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit bei der Formierung des NSU-Komplex hin: »Experten wie der Jenaer Soziologe Matthias Quent kritisierten vor dem [Thüringer NSU-]Untersuchungsausschuss, dass mithilfe staatlicher Mittel – insbesondere durch das AgAG-Programm [Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, JS] – nicht nur Anlaufpunkte für rechtsgerichtete Jugendliche geschaffen, sondern auch rechtsextreme Strukturen mit aufgebaut worden seien. Vor den Abgeordneten des Thüringer Landtags schilderten Sachverständige und Zeugen – darunter ehemalige Sozialarbeiter, Jugendamtsmitarbeiter, Polizeibeamte und Wissenschaftler –, wie im Winzerla-Jugendtreff und in anderen aus Mitteln des AgAG-Programms finanzierten Jugendprojekten aus auf den ersten Blick losen rechten Gruppen gefestigte neonazistische Kameradschaftsstrukturen wie die ›Kameradschaft Jena‹ entstanden.«1120

Laut Kleffner sei »die Begleitforschung des AgAG-Programms an der Technischen Universität Dresden« bereits 1997 zu dem Ergebnis gekommen, »dass die Projekte nicht nur milieustärkende, sondern auch milieubildende Effekte haben«.1121 Bereits Anfang der 1990er Jahre führte Rommelspacher die Popularität von Heitmeyers Erklärungsansatz auf ihre Funktion zurück, Gesellschaft wie TäterInnen zu entlasten: Indem man Rechtsextremismus auf bestimmte Gruppen 1116 1117 1118 1119 1120 1121

Hammerbacher 2012, S. 29. Buderus 2001. Ebd. Hammerbacher 2012, S. 31. Kleffner 2015. Ebd.

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wie junge Männer und von Deklassierung Bedrohte projiziere, könne man das Problem eingrenzen: »Man kann sich in der Hoffnung wiegen, ›dieses Problem‹ mithilfe von Sozialarbeit (in diesem Zusammenhang wird gerne eine Abenteuerpädagogik für männliche Jugendliche empfohlen), von Wohnungsbau, Arbeitsplatzbeschaffung und nicht zuletzt mithilfe der Polizei ›in den Griff‹ zu bekommen.«1122 Zudem seien somit Fragen nach Kontinuitäten »zum Zentrum der Gesellschaft und zur Geschichte« gekappt. In einem »zweiten Entlastungsmanöver« erfolge nun die Entschuldigung der identifizierten Täter : »Sie haben realiter soviel Probleme, daß ihr Verhalten zwar zu verurteilen, gleichwohl aber auch zu verstehen ist. Alle sind sie wieder Opfer. Auch wenn sich die Jugendlichen noch so menschenverachtend gewalttätig und brutal ethnischen Minderheiten gegenüber verhalten, immer steckt für die Pädagogen dahinter ein noch größeres Problem, das dies Verhalten wenn nicht unbedingt entschuldigt, so doch ›befriedigend‹ erklärt.«1123

Die nach wie vor weit verbreitete Deprivationsthese gilt heute in weiten Teilen der Forschung als widerlegt. Wie der Politologe Michail Logvinov feststellt, scheinen »Perspektivlosigkeit, Deprivation und Anomie […] keine bedeutende Rolle bei der Entwicklung und Manifestation rechter Gewalt zu spielen«.1124 Sie »können genauso zur Erklärung jugendlicher Suizide, psychischer Erkrankungen oder Emigration herangezogen werden«.1125 Als »[p]roblematisch« kritisiert er »hingegen die Täterentlastung in Folge der Darstellung rechter Gewalttäter als passive Opfer der Risikogesellschaft bzw. der soziostrukturellen Prozesse«, entsprechen »diese ›opfertheoretischen‹ Annahmen [doch] dem Selbstverständnis (Selbst-Viktimisierung) der rechtsradikalen Milieus, die Viktimisierungsdiskurse pflegen, um dann von der Opfer- in die Täterrolle zu schlüpfen und sich gegen die ›Unterdrückung‹ und den ›Terror der öffentlichen Meinung‹ zur Wehr zu setzen.«1126

Trotzdem sind derartige Erklärungsansätze nach wie vor weit verbreitet. Thomas Bürk bezeichnet sie sogar als die »gängigsten Erklärungen bei der Suche nach den Ursachen«, als »die gesellschaftlich und wissenschaftlich paradigmatischen Argumente«.1127 Die Deprivationsthese lässt sich auch in einer Reihe weiterer Dokumentarfilme wie Torfsturm. Eine rechte Jugendclique (Dagmar Gellert, D 1996) und No Exit (R: Franziska Tenner, D 2003) aufzeigen. Auch im Spielfilmbereich wird sie von einer Reihe von Filmen aufgegriffen. Zu nennen 1122 1123 1124 1125 1126 1127

Rommelspacher 1992. Ebd. Logvinov 2012, S. 18. Ebd. Ebd. Bürk 2012, S. 348.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

sind hier insbesondere Kahlschlag (R: Hanno Brühl, D 1993) und Kombat sechzehn (R: Mirko Borscht, D 2005).1128

6.1

Tristesse zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt: Der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht ’s los (R: Thomas Heise, D 1992)

In seinem umstrittenen Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht ’s los (D 1992) porträtiert Thomas Heise eine sechsköpfige Clique junger männlicher Neonazis in Halle-Neustadt. Der Dokumentarfilm entstand dem Filmemacher zufolge als Auftragsarbeit für die Ausländerbeauftragte von Sachsen-Anhalt: »Das Thema war vorgegeben und ich musste Geld verdienen. Die Berichterstattung nach Hoyerswerda hatte nichts mit der Realität zu tun, und ich dachte, man muss sich mit den Jugendlichen unterhalten«, beschreibt er seine Intention in einem Interview.1129 Heise, dessen Stau von der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten 1992 zum besten Dokumentarfilm gewählte wurde, erntete Lob dafür, dass er sich intensiv auf seine Protagonisten einlasse, »die Glatzen nicht als exotische Gewaltmonster« präsentiere, »wie es das Fernsehen so gerne in seinen RealityShows« mache.1130 Während sein um Verstehen bemühter Zugang von der Mehrheit der Kritiker goutiert wurde,1131 konstatierten andere darin eine Verharmlosung der Gefahr von rechts. So kritisiert etwa Eva Hohenberger, dass sich Stau auf »dem populistischen Niveau« bewege, »auf dem Rechtsradikale als nette Jungs gelten, denen nur geholfen werden muss«.1132 Sie problematisiert die Haltung der Jury, die den Film ausgezeichnet habe, weil er »einer bequemen und leichtfertigen Ausgrenzung entgegengewirkt.«1133 Doch 1128 1129 1130 1131 1132

Vgl. Stegmann 2015a. Stegmann 2010. So Heise im Interview mit Susanne Gupta. Gupta 2013. Schifferle 1993. Vgl. etwa: Kraft Wenzel 1994, S. 6. Hohenberger 1993b, S. 11. Einen »bemitleidenden Blick« Heises konstatiert auch RolfRuediger Hamacher. Er kritisiert, dass Heise die Verantwortung der Interviewten für ihre Taten »außen vor« lasse und die Schuld stattdessen alleinig den gesellschaftlichen Umständen der Wendezeit zuschreibe. Zudem sei der Film, so Hamacher weiter, »auch nicht die Kehrseite der üblichen Medienberichterstattung aus der rechtsradikalen Szene, die vorwiegend Bilder glatzköpfiger Brandsatzwerfer und ›Heil‹-schreiender Ausländerhasser ins Wohnzimmmer sendet. Auch diese spektakulären Bilder werden oft angereichert mit Interviews, die die Verwirrtheit und Dummheit der Angesprochenen deutlich machen. Heise hat dieses ›Akzeptieren der Blödheit‹ hier nur zur Methode erhoben und setzt die Zuschauer 87 Minuten diesem nichtssagenden Gerede aus.« Hamacher 1993, S. 20. 1133 Zit. n. Hohenberger 1993b, S. 11.

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»nicht der Ausgrenzung von Ausländern (die ja nur stellvertretend für alle Minderheiten stehen) wirkt der Film entgegen, sondern der Ausgrenzung derjenigen, die ihnen nach dem Leben trachten. Beim Publikum immerhin«, so merkt Hohenberger an, »stieß die Preisverkündigung auch auf Widerstand«.1134

Bereits anlässlich der Premiere in Halle (Saale) war es zu Ausschreitungen zwischen neonazistischen und linken Zuschauer_innen gekommen. Dass eine kurz darauf im Berliner Ensemble geplante Aufführung abgesagt wurde,1135 da es Aufforderungen zum »aktiven Boykott« seitens autonomer Antifaschist_innen gab und nun ebenfalls eine gewalttätige Eskalation befürchtet wurde, sorgte im bundesweiten Feuilleton für Empörung.1136 Vor allem über Vorverurteilung durch linke Aktivist_innen, die den Film, der noch nicht in den Kinos angelaufen war, gar nicht gesehen haben konnten,1137 wurde sich echauffiert. In kaum einem Artikel wurde die Kritik an der Aufführung des Films in einen Zusammenhang mit den unmittelbaren Ereignissen und rassistischen Morden in der Zeit gestellt: Zwei Tage vor der im Kino Babylon geplanten Veranstaltung wurden vier Menschen von neonazistischen Tätern ermordet: Am 23. November starben bei dem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan in Mölln Bahide Arslan und die beiden Mädchen Ays¸e Yilmaz und Yeliz Arslan. Am selben Tag war in Berlin der Hausbesetzer Silvio Meier von Neonazis erstochen worden.1138

Aufbau und Struktur Im Zentrum des Films stehen Ronny Gleffe, Falko Pick, Konrad Roock und Roland Maier. Neben weiteren Cliquenmitgliedern werden auch Angehörige der Hauptfiguren, die alleinerziehenden Mütter von Konrad und Falko sowie Ronnys Eltern interviewt. »Heise lässt sich auf die jungen Männer ein, er recherchiert nicht über sie, sondern will von ihnen wissen, wer sie sind und was ihr Leben 1134 Ebd. 1135 Heise begab sich nach der Absetzung des Films im Berliner Ensemble zum Treffpunkt seiner Kritiker_innen, mit denen er den Film nach einer gemeinsamen Sichtung, die nun doch im Kino Babylon stattfand, das kurzfristig sein Programm änderte, kontrovers diskutierte. (Vgl. Tageszeitung o. A., 1992) Auf seiner Webseite dokumentiert Heise neben weiteren Artikeln und Stellungnahmen auch zwei Flugblätter seiner antifaschistischen Kritiker_innen. Vgl.: Heise o. J. 1136 Vgl. exemplarisch dazu: ADN 1992, Speicher 1992. Sterneborg 1992. 1137 Er hatte erst wenige Wochen zuvor am 3. Oktober 1992 seine Premiere. Der Kinostart war erst am 7. Januar 1993. Vgl. Thomas Heise o. J. 1138 Eine Ausnahme bietet hier eine im Neuen Deutschland erschienene Rezension von Walther Weihrauch, in welcher der rassistische Brandanschlag in Mölln erwähnt und immerhin Silvio Meiers Name genannt wird. Vgl.: Weihrauch 1992.

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bestimmt«, beschreibt Bert Rebhandl treffend den individualisierenden Zugang des Filmemachers.1139 Die Interviewpartner_innen werden weder namentlich vorgestellt noch innerhalb der extremen Rechten verortet.1140 Ob und inwieweit sie dort organisiert sind, bleibt somit der Interpretation der Zuschauenden überlassen. Uta Döring rechnet vier der Porträtierten dem Umfeld des im Sommer 1991 durch Neonazis besetzten Hauses in der Kammstraße in HalleNeustadt zu, das sie als ein Zentrum rechter Aktivitäten beschreibt:1141 »Von der martialisch gesicherten Kammstraße gingen mehrere Übergriffe auf von ›Alternativen‹ besetzte Häuser in den innerstädtischen Bezirken aus«, heißt es in ihrer Studie.1142 Von Rassismus und rechter Gewalt Betroffene kommen auch in der StauTrilogie nicht zu Wort. Diese Haltung sowie Heises Verzicht auf einen verbalen Kommentar, mit dem das Gezeigte bewertet und kontextualisiert werden könnte, brachte dem Filmemacher den Vorwurf ein, die Porträtierten zu verharmlosen. Eine Positionierung erfolgte in Stau vor allem durch die Auswahl der Interviewpartner_innen sowie die Anordnung des Materials.1143 Größtenteils basiert der Film auf minutenlangen Interviews mit Cliquenmitgliedern und ihren Angehörigen sowie Szenen, in denen Heise erstere in ihrem Alltag begleitet. Entsprechend lässt sich sein Zugang mit Nichols als partizipatorisch charakterisieren: als teilnehmende Beobachtung mit Kamera.1144 Heise beobachtet etwa Konrad beim Kuchenbacken mit seiner Mutter, filmt Falko auf seiner Arbeitsstelle. Er zeigt die Clique beim Feiern im Jugendclub und dabei, wie sie rechte Parolen rufend durch nächtliche Straßen zieht. Einmal folgt er ihnen bis vor das Tor der Gedenkstätte Buchenwald. Besonders gelobt wurde er für die Distanz, die er hierbei der Clique gegenüber zeigt. Anstatt die Neonazis in die Gedenkstätte zu begleiten, auf dass sie durch die Präsenz der Kamera erst recht zur Beleidigung der Opfer motiviert werden könnten, geht Heise auf Abstand.1145 In einer Totalen ist zu sehen, wie die Gruppe – nicht ohne vorher Hitlergrüße gezeigt zu haben – grölend hinter den Mauern des ehemaligen Konzentrationslagers verschwindet. 1139 Rebhandl 2014, S. 50. 1140 Ihre Namen erschließen sich nur teilweise aus Gesprächen sowie aus dem Abspann des Films. 1141 Bei einer Hausdurchsuchung Ende Oktober 1991 seien in der Kammstraße, so Döring, »20 Molotowcocktails, sechs Rauchgranaten, mehrere Patronengurte, Sportpistolen und mit Benzin gefüllte Ballons« gefunden worden. Döring 2008, S. 118f. 1142 Ebd. 1143 Vgl. Reinecke 1992. 1144 Auch Gupta bezeichnet den Filmemacher als »Filmethnologe[n] im rechtsradikalen Milieu«, Gupta 2013. 1145 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 26:17ff. Wie etwa Rebhandl schreibt, zeige Heise »seine persönliche Pietät und Distanz durch sein Zurückbleiben« Rebhandl 2014, S. 53f.

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Zwischen die Interviews und Beobachtungen aus dem Alltag der Clique sind immer wieder Impressionen des Handlungsorts Halle-Neustadt montiert, die diesen in seiner grauen Trostlosigkeit in Szene setzen. Heise verzichtet auf eine auktoriale Voice-over, auf Titeleinblendungen sowie auf extradiegetische Musik. Die Akustik ist an vielen Stellen schlecht, die Interviewpartner sind an manchen Stellen kaum zu verstehen. Heise hält sich bei der Befragung seiner Gesprächspartner_innen stark im Hintergrund. Seine leisen Fragen scheinen eher dazu zu dienen, das Gespräch in Gang zu halten. Sie zielen auf die Sorgen und Nöte, insbesondere auf das Liebesleben der jungen Männer : Lediglich mit Falko und Ronny kommt der Filmemacher auf rechte Gewalt und diesbezügliche Vorstrafen zu sprechen. In nahezu jedem Interview fragt er allerdings nach einer »Freundin« und deren Aussehen, Ronny wird sogar nach der Zahl seiner Freundinnen gefragt.1146 Für Frauen als Mitstreiterinnen, als »Kameradinnen« scheint sich Heise nicht zu interessieren. Entsprechend kommen mit Ausnahme von Konrads Exfreundin Susann Schwabenland im Film keine jungen Frauen zu Wort. Heise trifft die beiden am Kyffhäuserdenkmal.1147 »Gehört ihr zusammen?«, ist seine erste Frage. Im folgenden Gespräch ergreift Susann zwar selbstbewusst das Wort, ein Einzelinterview wird mit ihr aber nicht geführt. Durch ihre Reduzierung auf die Rolle als »Freundin von« trägt auch dieser Film dazu bei, Frauen in der extremen Rechten unsichtbar zu machen. Abgesehen von den Gesprächen mit Ronny und Falko, in denen Heise widerspricht und seinen Unmut äußert – auf beide Szenen werde ich zurückkommen – müssen sich die Interviewpartner_innen kaum kritische Nachfragen und Kommentare gefallen lassen.

Die Selbstdefinitionen der Neonaziclique Konrad beschreibt die Clique gegen Ende des Films als politisch uneinheitlich, die Bezugnahme auf das politisch breitgefächerte Spektrum der Skinheadkultur als kleinsten gemeinsamen Nenner. In der Gruppe hätten zwar alle ihre »wie auch immer geartete politische Meinung«, versuchten diese jedoch nicht durchzusetzen, »weil das momentan nicht möglich ist«.1148 Momentan sei »Zusammenhalt das Wichtigste«. Ein anderer bezeichnet die Mitglieder des neonazistischen 1146 Diese heteronormative Rede über Frauen, in der Heise als älterer, ›erwachsener‹ Mann die adoleszenten Männer in ihrer Männlichkeit anerkennt – er traut ihnen zu, »hübsche« Freundinnen zu haben –, sehe ich als Akt der Vertrauensbildung und Selbstvergewisserung. 1147 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 1:07:48ff. 1148 Ebd., TC: 1:09:47f.

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Freundeskreises als »ganz normale Leute, nur ein bisschen rechts«.1149 In der Summe lässt sich in den Selbstbeschreibungen der Cliquenmitglieder ein für den Neonazismus typischer Umgang mit positiven Bezügen auf den Nationalsozialismus nachvollziehen, den Georg Seeßlen treffend als »Spiel mit Distanzierungen, Leugnung und Identifikation« bezeichnet.1150 So beschwert sich einer über betrunkenes »Heil Hitler«-Gegröle. Er fordert, dies mit »Anstand, Würde und Respekt« zu sagen. Schließlich habe sein Opa für diesen Satz sein Leben gelassen. Ronny dagegen scheint sich über die diskursive Grenze, die einen offenen Bezug zum Nationalsozialismus tabuisiert, bewusst(er) zu sein. Er versucht »Sieg Heil« zu einem »Protestruf« umzudeuten, der mit dem »Sieg Heil von damals« nichts zu tun habe. Die Frage, inwiefern dies der sozialen Erwünschtheit respektive dem Wunsch, Heise zu gefallen, geschuldet ist, bleibt offen. In der Abschlusssequenz trägt Ronny jedenfalls einen schwarz-weiss-roten Aufnäher: ein Bekenntnis zum sogenannten Dritten Reich. Entsprechende Schlüsse aus diesen verbalen und visuellen Statements und Bekenntnissen zu ziehen, bleibt den Zuschauenden überlassen.

Rechte Gewalt Der Kontext der rassistischen Pogrome der 1990er Jahre wird in Stau weitgehend ausgeblendet. Von rechter Gewalt Betroffene kommen im Film nicht zu Wort.1151 Gleichwohl wird das Thema im Film an mehreren Stellen aufgegriffen. Relativ am Anfang nach Konrads Einführung als »unselbständiger Jugendlicher« folgt eine Szene, in der Gewalt gegen politische Gegner_innen spielerisch angedeutet wird. Im Jugendclub herrscht Karnevalsstimmung: Viele Anwesende haben sich verkleidet. Man feiert zu den Klängen von Gottfried Wendehals’ Polonäse Blankenese. Während einer Art Showeinlage tut ein als Polizist Kostümierter so, 1149 Ebd., TC: 1:20:03. 1150 Seeßlen 2001, S. 19. 1151 Mit der weitgehenden Ausblendung rechter Gewalt werden auch antifaschistische Boykottaufrufe gegen den Film begründet. So heißt es etwa in einem mit »Keine Werbung für Faschisten an der FH« überschriebenen Flugblatt, das Heise auf seiner Webseite dokumentiert: »Der Film zeigt an keiner Stelle, was diese unschuldig in die Kamera lächelnden, etwas dümmlich dargestellten Jugendlichen gegen ausländische Menschen und alle anderen, die ihnen nicht passen, an Terror ausüben. Es gab in den vergangenen Jahren mehrere Morde von z. T. gerade solchen Jugendlichen. Der Film ist so ohne jeden Kommentar Sprachrohr dieser Jugendlichen, bezieht keine politische Position gegen Rassisten und faschistoides Verhalten. Läßt sie einfach, wie sie sind bzw. verharmlost das, was sie sind, indem sie nur untereinander und privat dargestellt werden und nicht in dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie darüber hinaus agieren. Fazit: Der Film kann so nicht gezeigt werden. Er müßte zumindest um Textpassagen, in denen eindeutig rüberkommt, welcher Terror von diesen Jugendlichen ausgeht, erweitert werden.« Heise o. J.

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als ob er einen vermummten Linken mit einem Schlagstock verprügelt. Letzterer kniet auf dem Boden während der »Polizist« Schläge und Tritte in Richtung seines Kopfs andeutet. Wenig später haben sich beide in eine durch den Club ziehende Polonaise eingereiht. Ein Moderator bedankt sich bei »Ronny, unserem Linken«, die Menge johlt und skandiert »Linke raus«.1152 Der Jugendclub Roxy, in dem Heise solche Szenen drehte, wird an keiner Stelle als Institution in den Blick genommen.1153 Pädagogisch und politisch Verantwortliche werden nicht befragt. »Von politischer Distanz zum Klientel, Kenntnis des bundesdeutschen Grundgesetzes oder gar Wertesicherheit bezüglich demokratischer Grundstandards (wie z. B. Minderheitenschutz) konnte bei den Erwachsenen, die Anfang der 90er Jahre in den neuen Bundesländern mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen zu arbeiten begannen, keine Rede sein«,

bilanziert etwa Sylke Kirschnick die damalige Situation der ostdeutschen Jugendarbeit.1154 Sollte es im Roxy irgendeine Form von pädagogischer Betreuung geben, scheint deren Haltung von Kirschnick treffend umrissen zu sein. In Stau inszenieren sich die Interviewpartner zumeist vornehmlich als Angegriffene, die lediglich reagieren würden. Ihre Darstellungen bleiben in den meisten Fällen unwidersprochen. Ein wiederkehrendes Muster in ihren Schilderungen ist die Opfer-Täter-Verkehrung. So erzählt einer, dass sie sich zu Beginn mit »den Punks« noch gut verstanden hätten. Nachdem er jedoch gehört habe, dass »200 Punks in Berlin 30 Glatzen weggeknallt« hätten, seien sie bei einer Punkfeier in Halle »einmarschiert« und hätten »alle aufgeschlagen«.1155 Heise fragt weder nach, was die Punks in Halle mit dem kolportierten Vorfall in Berlin zu tun hätten, noch geht er dem geschilderten Angriff auf den Grund, versucht etwa Hintergründe zu recherchieren oder die Opfer ausfindig zu machen. Am nächsten Tag hätten sie, so sein Interviewpartner weiter, »Türken bekämpft« »wie die harten Männer«. Sie hätten denen »die Bude randaliert, bis es nichts mehr zu randalieren gab«.1156 Auch dieser offensichtlich rassistische Angriff bleibt eine dahingenuschelte Randbemerkung. Das Spezifikum rechter Gewalt, die sich nicht gegen Individuen – etwa aufgrund von persönlichen Streitigkeiten – richtet, sondern gegen vermeintliche Repräsentant_innen bestimmter im rechten Weltbild als Feind konzipierter Gruppen, die stellvertretend für diese angegriffen werden, wird an den meisten Stellen nicht herausgearbeitet. 1152 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 08:23. 1153 An anderer Stelle hört man den einen Liedtext, in dem es um rassistische Vernichtungsphantasien gegen »Türken« geht. Ebd., TC: 56:10ff. 1154 Kirschnick 1999,S. 3. Kleffner weist auf die Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit bei der Formierung des NSU-Komplex hin. Vgl. Kleffner 2015. 1155 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 14:36. 1156 Ebd., TC: 16:36.

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Tiefer wird lediglich auf einen aus der Clique verübten Angriff auf einen Mann aus Libyen eingegangen. Hier widerlegt Heise, der offenkundig Zeuge der rassistischen Attacke war, die Schilderungen der Cliquenmitglieder durch eigene Beobachtungen sowie Pressequellen. Die Gewalttat kommt in einem Interview mit Falko und Roland zur Sprache.1157 Heise (H): Warum habt ihr immer Waffen dabei? Falko (F): Zur Verteidigung, nur zur Verteidigung, nicht zum Angriff, ist nur zur Verteidigung. Wir sind nicht so viele. H: Gegen wen? F: Linke, Ausländer, die uns anfassen wollen, weil wir halt so aussehen, und das unsere Meinung ist. Weißt ja selber, dass sie uns schon angegriffen haben, dass wir uns verteidigen mussten. Von uns geht keine Gewalt aus. H: Weißt du, wo wir in Jena waren, da seid ihr nicht angegriffen worden. F: Frust. H: Da hast du ’ne Bierflasche genommen und auf ’n Auto geschmissen. F: Frust. H: Und das Auto hat einem Libyer gehört. F: Was will der hier? H: Kennst du den? F: Nee. H: Vielleicht fährt er bloß durch? Also warum? F: Frust, gegen die Ausländer. H: Was heißt denn Frust? F: Ich komm mit solchen Leuten nicht klar, ich kenn sie nicht, die Leute. H: Hast du mal versucht, sie kennenzulernen? F: Will ich nicht, will ich nicht. Die Leute, die Rumänen und so, Z*, die sind dafür berüchtigt, dass sie stehlen, ist so. H: Du kennst sie doch gar nicht. F: Ich will sie nicht kennenlernen, warum soll ich sie kennenlernen? Warum? Unsereins hat man auch schon zusammengehauen. Da hat man auch nicht gefragt, ob wir solche Rechte sind oder solche Rechte. Da wird auch der Knüppel genommen und draufgeschlagen. Hass erzeugt Hass. H: Klar.

Auf Heises Frage, warum die Clique »immer Waffen dabei« habe, reagiert Falko mit einer Selbstinszenierung als Opfer. In einer klassischen Opfer-Täter-Verkehrung benennt er nun die typischen Opfergruppen rechter Gewalt als Angreifer : »Linke, Ausländer«.1158 Hier interveniert Heise und korrigiert Falkos Version. Falkos gleich zweifacher Einschub »Frust« lässt sich als Bezugnahme auf das weit verbreitete Klischee von rechten Gewalttätern als »frustrierte« Ju1157 Ebd., TC: 27:43ff. 1158 Heise selbst merkt an, dass Falko von »anfassen« anstelle von angreifen spricht: »Man kann bei ›Männerphantasien‹ von Theweleit nachlesen, was das heißt.« Reinecke 1992.

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gendliche verstehen, das hier als Entschuldungsstrategie in Stellung gebracht wird. Doch Heise fragt weiter. Er entlarvt Falko in seinem unverhohlenen Rassismus und seinen Abwehrstrategien. Dessen anschließende erneute Einnahme der Opferrolle bleibt jedoch unwidersprochen: »Klar«, stimmt Heise zu und liefert seinem Interviewpartner damit die Möglichkeit, sich weiter in der Opferrolle zu inszenieren. Tatsächlich beschwören beide nun eine angebliche Bedrohung durch linke Gewalt herauf. Beide befürchten, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Angehörigen von Linken geschlagen werden könnten. Ob diese extrem rechte Diskursstrategie erkenntlich wird, ist vom jeweiligen Vorwissen der Zuschauenden abhängig, die vom Film selbst in Unkenntnis über die Kräfteverhältnisse in Halle-Neustadt respektive der dortigen Verbreitung rechter Gewalt gelassenen werden. Wie Döring schreibt, war Halle-Neustadt spätestens seit Sommer 1991 »Brennpunkt rechtsextremer Aktivitäten«.1159 Wichtig erscheint es mir in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Film weder im luftleeren Raum erstellt noch rezipiert wurde – und wird. Hier gilt es insbesondere auf die bis heute weit verbreiteten Tendenzen, das Ausmaß von Rassismus und rechter Gewalt zu relativieren, im Hinterkopf zu behalten.1160 Betrachtet man den Film auf einer Metaebene, handelt er weniger von den Vorfällen selbst als von der Art und Weise, in der die Porträtierten über diese sprechen; er zeugt von ihren Einordnungen und Rechtfertigungen, die entlang extrem rechter Deutungsmuster vonstatten gehen. Nach dem Interview mit Falko und Roland sieht man die beiden durch die tristen Weiten einer Industriebrache laufen und im Bildhintergrund verschwinden. Die Kamera verharrt fast eine halbe Minute auf diesem tristen Tableau, in dessen Vordergrund rostiger Metallschrott lagert. In der nächsten Sequenz wird Ronny bei der Arbeit gezeigt. Er versucht, ein Plastikrohr zu zersägen. Im Anschluss läuft auch er durch eine Ruinenlandschaft. Abermals verharrt die Kamera, während er zwischen Bauschutt und Ruinen verschwindet. Danach sieht man ihn auf einer Treppe sitzen. Jetzt liest er zwei kurze Pressemitteilungen über rassistische Gewalttaten vor, von denen sich erstere auf den von der Clique begangenen Angriff zu beziehen scheint: »›An einer Jenaer Tankstelle wurde ein Libyer überfallen, sein Auto durch Stiefeltritte und Bierdosen demoliert. In Erfurt warfen drei Skinheads einen Brandsatz unter das Auto eines Vietnamesen. Der Mann blieb unverletzt, doch sein Wagen ging sofort in Flammen auf und brannte völlig aus.‹ Das war’s«, sagt er und schaut auf.1161 Durch Heises Widerspruch und das Vorlesen der kurzen Pressemitteilungen 1159 Döring 2008, S. 118. 1160 Vgl. dazu: Dierbach 2010, 2012. 1161 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 38:12.

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Roland und Falko verschwinden zwischen Ruinen

wird Falkos Version in Abrede gestellt. Dies ist die einzige Stelle, an welcher der massive Anstieg rechter Gewalt im Film zumindest kurz zur Sprache kommt. Gerahmt von Bildern trostloser Brachen wird der Angriff durch den Schnitt erneut in einen Zusammenhang mit der die Clique umgebenden Trostlosigkeit gestellt. Um von den Interviewpartnern begangene rechte Gewalt geht es auch an einer weiteren Stelle. Hier befragt Heise Ronny nach dessen Vorstrafen. Die Sequenz wird eingeleitet mit einer langen Einstellung eines Parkplatzes an der Autobahn.1162 Ein Zoom-Out setzt dessen Weite in Szene. Die Sonne geht unter, auf der Soundspur ist das Rauschen der Autobahn zu hören: Trostlosigkeit, soweit das Auge reicht. Ronny wird in einer Nahaufnahme in den Blick genommen. Er sitzt in einer McDonalds-Filiale und beißt in einen Burger. Die Kamera beobachtet ihn beim Essen. Im Fenster hinter ihm ist der Parkplatz zu erkennen. Es folgt ein Schnitt. Es scheint einige Zeit vergangen zu sein, denn es ist draußen inzwischen vollkommen dunkel geworden. »Wie viele Verfahren hast du laufen?«, hört man Heise nun fragen.1163 »Drei«, entgegnet Ronny. Auf Nachfrage führt er nun aus: »Das Erste wäre diese Sache mit dem ›Pfusch‹ gewesen.1164 Das Zweite war, da waren wir außerhalb in ’ner Disko gewesen und haben da Saalschutz gemacht gegen Jugoslawen so, aber statt Jugoslawen kamen dann Autonome, vermummt, mit ’nem Knüppel und haben dann von uns welche fertiggemacht. Dann sind wir auch runter und haben uns 1162 Ebd., TC: 46:53. 1163 Ebd., TC: 48:25. 1164 Das »Pfusch« war eine linksalternative Kneipe in Halle, die in den 1990er Jahren öfter Ziel rechter Angriffe war. Für diesen Hinweis danke ich Jens Friedrich.

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mit denen dann rumgeprügelt und so. Aber ich kannte einen von denen, wahrscheinlich war ich der einzige, der erkannt worden ist. Der hat natürlich prompt bei der Polizei gesagt, ich hätte ihn ins Koma gebracht. Der lag dann auch vier Wochen im Krankenhaus, und aber das stimmt jedenfalls nicht und das ist so ’ne Sache, da steht ’ne Aussage gegen ’ne Aussage, naja. Das zweite war, da sind wir nach Halle-Nord gefahren, da war auch ’n Jugendklub: Da war derselbe jenige auch da und da war ich ziemlich sauer, dass der so maßlos gelogen hat, weil ich kannt ihn ja von früher und es war sogar, man kann sagen so ne Art Guten-Tag-Kumpel. Wir haben uns eigentlich so einigermaßen verstanden und da habe ich mir denjenigen eben auch vorgeknöpft, da hab ich dem mal ’n bisschen was angetan.«

Auch hier fragt Heise nicht nach, was es mit dem »Saalschutz gegen Jugoslawen« auf sich hatte. Dem darin enthaltenen Rassismus wird nicht weiter nachgegangen. Wie zuvor Falko versucht auch Ronny sich in der Rolle des in Selbstverteidigung Reagierenden darzustellen: Er beschwört das Bild eines Angriffs durch vermummte Autonome herauf. Die Anzeige des jungen Mannes, der vier Wochen im Krankenhaus lag, erklärt er als eine falsche Beschuldigung, die seinen erneuten Angriff auf diesen motivierte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Neonazi in einem laufenden Verfahren befindet und entsprechend vorsichtig sein muss, dass er vor der Kamera keine Aussagen tätigt, die strafverschärfend wirken könnten. Auch aus diesem Grund ist er keine zuverlässige Quelle, um die Ereignisse zu rekonstruieren. Doch wäre dies Heises Anliegen gewesen, hätte er andere Zeug_innen hinzugezogen. Es scheint dem Filmemacher jedoch alleinig um Ronnys Erleben zu gehen. »Wie machst du denn das, jemanden was antun?«, will Heise nun wissen. »Schlagen, richtig ins Gesicht schlagen, damit es auch blutet. Weil ich war ziemlich wütend. Ich meine, wenn ich gerad dabei bin, mich zu prügeln, da bin ich dann irgendwie, da bin ich irgendwie nicht ich selbst an diesem Abend. Da bin ich in so ’ner Art Traumzustand, da ist es mir egal, ob ich auch gerad getroffen werde, von ’nem Schlag oder so. Da merk ich keine Schmerzen oder so. Da komm ich mir noch stärker vor als sonst.«1165

Rechte Gewalt kommt in Stau mehrfach zur Sprache. Zumeist bleiben die von den Interviewten erwähnten Vorfälle dabei unwidersprochen stehen, werden weder durch die Aussagen weiterer Zeug_innen, noch durch die der Angegriffenen ergänzt. Rebhandls eingangs zitierte Beobachtung, dass Heise seine Interviewpartner_innen für sich selbst sprechen lasse und nicht über sie recherchiere, offenbart somit gerade bei der Thematisierung rechter Gewalt die Problematik des Films. Ohne jegliche Recherche, die den fehlenden Kontext liefern könnte, verbleibt die Deutungsmacht über die geschilderten Gewalttaten im Speziellen wie auch die Situation in Halle im Allgemeinen bei den extrem rechten 1165 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 49:50f.

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InterviewpartnerInnen. Im seitens seiner Kritiker_innen immer wieder eingeforderten Kommentar bestünde eine Möglichkeit, fehlende Hintergrundinformationen zu ergänzen. Konfrontiert mit dem Vorwurf, der Film würde »Rassismus und Faschismus verharmlosen«, gibt Heise an, ein Wissen um das Ausmaß rechter Gewalt bei den Zuschauenden vorauszusetzen: »Die Fratze des Faschismus und die Gewalt habe ich jeden Tag in der Zeitung. Das glaube ich zu kennen und setze es bei den Leuten auch voraus.«1166 Ein Argument, das angesichts der gegensätzlichen Erfahrungen vieler von Rassismus und rechter Gewalt Betroffener und nicht zuletzt der bis heute andauernden zivilgesellschaftlichen Kämpfe um die offizielle Ankerkennung vieler Todesopfer rechter Gewalt mehr als fragwürdig erscheint.1167

Zwischen Platte und Ruinen: Kontextualisierungen Der Kontext, in dem die jungen Rechten verortet werden, ist eine mit dem Obsoletwerden der Werte, Normen und Strukturen der DDR einhergehende Leere und Orientierungslosigkeit. Diese kommt in vielen Interviews zur Sprache und wird mit langen Einstellungen städtischer Brachen sowie der Ruinenlandschaften der Abrisshalden visualisiert. Immer wieder werden die Interviews und 1166 Seidel-Pielen 1992. 1167 Ein besonders drastisches Beispiel dafür ist der staatliche wie mediale Umgang mit der Mordserie des NSU. So gilt es etwa in Erinnerung zu behalten, dass Otto Schily einen Tag nach dem Bombenanschlag auf die Kölner Keupstraße verkündete, dass ein terroristischer Anschlag auszuschließen sei und die Täter entsprechend im kriminellen Milieu zu vermuten seien. »Übersetzt hieß das, es wurden keine Deutschen sondern nur noch vermeintliche Ausländer verdächtigt. Gleichzeitig wurde auf der Keuptstraße und ihrer Umgebung eine Rasterfahndung ausgeschrieben, die auf migrantische junge Männer ausgerichtet war. Türen wurden eingetreten, Telefone abgehört; sogar die Verletzten und ihre Angehörigen wurden stundenlang verhört und eingeschüchtert«, kritisiert die Gruppe Dostluk SinemasI. »Die Nicht-Verfolgung der Täter, die Opfer-Täter-Umkehrung und das Ignorieren der Stimmen der Migrant_innen verbindet die Verbrechen des NSU mit den hunderten von anderen Toten und unzähligen verletzen Opfern rassistischer Gewalt der letzten 25 Jahre.« In ihrem Buch versammeln sie eine Reihe von Berichten der Überlebenden des Bombenanschlags, die von den traumatischen Folgen dieser Behandlung künden. (Dostluk SinemasI 2014, S. 7.) Auch Döring konstatiert, dass von rechter Gewalt Betroffene vielfach negative Erfahrungen mit den ermittelnden Behörden machten. So mussten etliche ihrer Interviewpartner_innen erleben, »trotz ihrer Hinweise auf einen möglicherweise politisch motivierten Tathintergrund nicht als Opfer eines rechts(extrem) motivierten Vergehens oder Verbrechens ernst genommen zu werden« (Döring 2008, S. 220). Zu den Folgen für die Betroffenen führt Döring aus: »Gekoppelt mit negativen Erfahrungen bei einer Anzeigenstellung und das daraus resultierende geringe Vertrauen in institutionalisierte Schutzinstanzen werden Gefühle von Hilflosigkeit und Machtlosigkeit gegenüber rechten/rechtsextremen Aggressionen und eine damit verbundene Raumnahme verstärkt« Ebd., S. 222.

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Cliquenbeobachtungen von solchen geradezu symbolisch anmutenden Impressionen unterbrochen. Der räumliche Kontext wird bereits in der ersten Sequenz in seiner Trostlosigkeit etabliert: Vor einer Häuserzeile brennt qualmend ein blauer Trabbi. Unbeteiligt fahren Autos an dieser Szenerie vorbei. Niemand ruft die Feuerwehr. Die Kamera schwenkt nach rechts, zeigt das bräunliche Grau der in dichten Rauch gehüllten Straße. Es folgen weitere Impressionen urbaner Tristesse: Nach einem Schnitt ist ein verfallenes Haus zu sehen: Dunkelheit hinter blinden Fensterhöhlen. Nun setzt das Heulen einer Sirene ein. Im Bild dazu weitere Ansichten städtischer Ödnis in Grautönen. Nach einem Schnitt nimmt die Kamera eine Brache ausführlicher in den Blick, sie wandert über ausrangierte Lastwagen und Pick-ups, die auf der braungrünen Wiese vor sich hin rotten. Im Hintergrund ragen graue Plattenbauten auf. Zu diesen Bildern setzt die Voiceover einer Mädchenstimme ein, die Susann Schwabenland gehört.1168 Stockend trägt sie eine an revanchistische Mythen vom nationalem Wiedererstarken gemahnende Geschichte vor. Es geht um ein fleißiges »Volk«, dessen großes Land nach Kriegen »einmal groß, und dann auch wieder klein« war, welches irgendwann jedoch »wieder seine neu geschmiedeten und unbesiegbaren Schwerter erheben [wird]. Und wenn sich dann der Strahl der Sonne auf den Klingen bricht und zurückfällt auf die Erde, wird der Feind unter diesem Strahl verglühen.«1169 Die Vision nationaler Neugeburt steht in einem Kontrast zum im Bild gezeigten Verfall und veranlasst die Zuschauenden, nach dem Zusammenhang von Text und Bild zu fragen. Wer ist der »Feind«, der »unter dem Strahl der Klingen« verglühen soll?1170 Es ist die einzige Stelle, an der mit einer Voiceover gearbeitet wird. Doch entbehrt die mädchenhafte Stimme Susann Schwabenlands sowie ihr ungeübt wirkender Stil – sie verzichtet etwa darauf, Satzanfänge und -enden durch Betonung und Sprachmelodie zu akzentuieren, betont Worte falsch, gerät ins Leiern – den autoritären Gestus eines meist sonor-männlichen Voice-of-God-Narrators, was ihren Vortrag als sub-

1168 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 01:35. 1169 »Es war einmal ein Volk, das lebte in einem großen Land. Viele Große und Edle hatten es im Laufe der Zeit regiert. Dieses Land war einmal groß, und dann auch wieder klein, wie das nach den Kriegen so üblich war. In diesem Volke lebten unter seinen Menschen viele Künstler, Sänger, Dichter, Baumeister, aber auch Ingenieure und viele frohe Handwerker. Die Menschen alle waren sehr fleißig, denn sie hatten immer Freude an ihrer Arbeit. Irgendwann, wenn die Stunde gekommen ist, wird dieses Volk einmal wieder seine neu geschmiedeten und unbesiegbaren Schwerter erheben. Und wenn sich dann der Strahl der Sonne auf den Klingen bricht und zurückfällt auf die Erde, wird der Feind unter diesem Strahl verglühen. Solange das Gras wächst, der Wind weht, der Himmel wieder blau wird.« Ebd., TC: 01:35ff. 1170 Woher der Text stammt, bleibt im Film offen. Wie Rebhandl schreibt, habe Susann Schwabenland diesen Text zu einem der Treffen mit Heise mitgebracht. Die Quelle sei auch dem Filmemacher selbst nicht bekannt. Vgl. Rebhandl 2014, S. 49.

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jektiv markiert. Der Text lässt sich somit als eine von diesem trostlosen IstZustand motivierte Utopie der Sprecherin deuten. Als Verweis auf die Situation nach dem Ende der DDR und deren Auswirkungen auf die Porträtierten lässt sich auch der in sich widersprüchliche Titel Stau – Jetzt geht’s los verstehen. Er beinhaltet sowohl erzwungenen Stillstand als auch Aufbruch oder zumindest den Wunsch danach.1171 Die Parole »Jetzt geht’s los« wird von den neonazistischen Protagonisten betrunken im Jugendclub skandiert: Der angestaute »Frust« der jungen Neonazis kurz vor seiner gewalttätigen Entladung. Das Verschwinden von zuvor gültigen Geschichtsbildern, Werten und Normen wird im ersten Interview thematisiert. Hier spricht Konrads Mutter Frau Roock davon, »während der Wende maßlos enttäuscht über [ihr] ganzes Leben« gewesen zu sein.1172 Sie, die »für die ehemalige DDR alles gegeben« und auch ihren Kinder vermittelt habe, dass »man alles für die Idee, dass der Sozialismus in Gang kommt«, tun müsse, stelle nun alles infrage. Da auf »ideeller Ebene alles gescheitert« sei, versuche sie nun, auf »materieller Basis« das Beste für ihren Jungen zu tun. Sie habe »auf Finanzen umgeschaltet« und entschieden, ihre Kraft zusammenzunehmen, um ihrem Sohn eine »gute finanzielle Basis zu schaffen«.1173 Sie habe sich entschlossen, in den Westen zu gehen, um dort zu arbeiten. Vom plötzlichen Verfall staatlich verordneter Geschichtsbilder handelt auch die im Folgenden analysierte Sequenz. Sie beginnt damit, dass Interviewpartner Holli, ein weiteres Cliquenmitglied, einen Text über den Triumph des Sozialismus seit der Oktoberrevolution vorliest, der wohl aus einem FFR-Schulbuch stammt: »Mit der Oktoberrevolution begann sich die Menschheitsgeschichte grundlegend zu verändern. Der Sozialismus bestimmte die Geschichte unserer Zeit. Indem wir den Sozialismus stärken, bringen wir unsere Republik und die ganze sozialistische Staatengemeinschaft voran und verändern das internationale Kräfteverhältnis weiter zugunsten des Sozialismus und des Friedens. Die Zeit in der wir leben, ist unsere Zeit.«1174

1171 Wie Hans-Jörg Rother feststellt, spielt Heise damit auf den Nachwende-Bestseller Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990) des Psychologen Hans-Joachim Maaz an. (Rother 1993, S. 18). Maaz beschreibt darin einen aus dem Verdrängen und Unterdrücken von Gefühlen resultierenden »Gefühlsstau« als psychologische Folge des repressiven DDRRegimes: »Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk. Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hat.« Maaz 2014 S. 95. 1172 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 02:38. 1173 Ebd., TC: 04:33. 1174 Ebd., TC: 14:36.

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Die Kamera wandert derweil über eine Fotocollage: Bilder von Jugendlichen mit dem roten Halstuch der Thälmann-Pioniere hängen hier neben Aufnahmen von jungen Männern in Skinheadmontur.1175 Nach einem Schnitt zeigt Holli seine Pistole, die er sich von seinem Begrüßungsgeld gekauft hat. Er zählt nun auf, was er zu DDR-Zeiten in der Schule gelernt hat: »Der böse Deutsche hat Leute ins KZ gesteckt, der böse Deutsche, der hat den Zweiten Weltkrieg angefangen. Der böse Deutsche hat den Krieg verloren. […] Der böse Westdeutsche, der hat die Bundesrepublik aufgebaut, der böse Westdeutsche, der will uns wieder vernichten und der gute Ostdeutsche, der will bloß Frieden erhalten in Europa und das ist nachher irgendwie …«1176

Später spricht er von seiner ersten Begegnung mit Neonazis, die ihm Bücher über die »SS im Aufbau« zu lesen gegeben hätten. Er habe gedacht, »Mann, so schlecht waren wir Deutschen ja gar nicht.« So habe es bei ihm angefangen. Seitdem habe er Leute »zusammengeschissen«, die im Suff »Heil Hitler« gegrölt und keinen Respekt dafür hätten. Doch anstatt den Fragen nach seiner Politisierung weiter nachzugehen, etwa nach der Rolle des erwähnten Großvaters während des Nationalsozialismus zu fragen oder nach der Art und Weise, wie dies innerhalb der Familie thematisiert wurde, erfolgt ein Schnitt. Nun geht es um den Tod seiner Mutter, den Holli zuerst nicht wahrhaben wollte. Jetzt fehle ihm jemand, der ihn zusammenstaucht, wenn er »Scheiße baut«.1177 Er wisse nun, dass er es alleine nicht hinkriege. Erschien Holli zuerst als politisches Subjekt, das eigenständig aus einer empfundenen Beliebigkeit an Geschichtsdeutungen das für ihn attraktivste Angebot wählt, wird er nun auf die Rolle des unselbständigen Jungen reduziert, einsam und orientierungslos nach der Tod seiner Mutter. Einen anderen Blick auf das Ende der DDR hat Cliquenmitglied Roland. Im Interview mit ihm wird, wie Rebhandl feststellt, »die Wende als Verlusterfahrung verstehbar«.1178 Roland, der sich jetzt »alleingelassen« fühlt, sehnt sich nach dem Halt zurück, den ihm die Institutionen der DDR vermittelt haben:«Hattest du Probleme und wurdest damit nicht mehr fertig, konntest du eben zu jemandem hingehen, zu deinem Lehrer oder zu deinem FDJ-Sekretär. (..) Wenn es dann überhaupt nicht mehr ging, dass überhaupt nichts mehr war, wurde dann eine höhere Stelle eingeschaltet, die dann geholfen hat.« Es sei ein »wahnsinnig durchdachtes System« gewesen, »um Menschen glücklich zu machen und glücklich zu halten.«1179 1175 1176 1177 1178 1179

Ebd., TC: 14:16. Ebd., TC: 14:45. Ebd., TC: 18:56. Rebhandl 2014, S. 52. Stau – Jetzt geht’s los, TC: 57:34f.

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Im Gespräch mit Heise und Konrad wünscht sich Susann Schwabenland, dass »das Volk zusammenhält« und dass »die auf der anderen Seite uns mal akzeptieren«.1180 Sie erzählt von ihren negativen Erfahrungen mit Westdeutschen, die »uns als die dummen Ossis« ansehen und behandeln würden. Auch wenn über die Beurteilung der DDR bei den Interviewten keine Einigkeit herrscht – Ronny Gleffe wirft seinem Vater, der die Radikalität seiner rechten Parolen kritisiert, vor, wieder zu »kuschen wie früher«1181 –, bildet die prominent in Szene gesetzte Tristesse der Wendezeit in Stau den räumlichen wie interpretatorischen Rahmen für den Neonazismus der InterviewpartnerInnen. Einen Zusammenhang zwischen dem mit dem Ende der DDR einhergehenden »Verlust aller bisherigen Orientierungen« – »Alles, was vorher stimmte, stimmt nicht mehr.« – und dem Aufkommen extrem rechter Tendenzen konstatiert auch Rommelspacher.1182 Dies gehe mit einem Zerfall des »Gefühl[s] der Kohärenz des eigenen Ichs, erlebt als Verlust der Mitte, als Zerfall der Kontinuität« einher. »Je mehr die innere Kohärenz zerfällt, desto mehr wird die Hoffnung auf eine übergeordnete Figur gerichtet, die alles zusammenhalten soll. Und um die Beschämung über die Selbstentwertung zu überspielen, liegt es nahe, sich forciert mit den jetzt Mächtigen zu identifizieren, um durch die phantasierte Teilhabe an der fremden Macht die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.«1183

Ihre Deutung lässt sich in Ansätzen in den Gesprächen mit der Clique wiederfinden: Roland fühlt sich nach der Wende »alleingelassen«. Er sehnt sich nach jemandem, der ihm sagt, was er tun soll und ist, wie der Film suggeriert, auch deshalb Neonazi. Ronny will kein Verlierer mehr sein, denn »das sind wir schon seit Kriegsende«, und gibt an, nicht so enden zu wollen wie seine Eltern, die »jahrelang dasselbe« machten.1184 Holli hingegen führt als Gründe für seine Hinwendung zum Neonazismus neben dem Wegfall der früher gelehrten Geschichtsdeutungen auch besagte Bücher über die »SS im Aufbau« auf. Warum ihm gerade diese nazistischen Deutungen zusagen, ist jedoch nicht hinreichend mit einem Zerfall an innerer Kohärenz nach dem Ende der DDR erklärt. Wie Rommelspacher zugleich betont, kann der mit dem Ende der DDR einhergehende Orientierungsverlust jedoch »nur ein Element in der Erklärung des Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR sein, angesichts der Tatsache, daß 1180 1181 1182 1183 1184

Ebd., TC: 1:10:53ff. Ebd., TC: 46:44. Rommelspacher 1992. Ebd. »Warum muss ich 40 Jahre oder länger Verlierer sein? Das sind wir seit Kriegsende. Wir sind das zahlende Volk auf der Welt, die Einfachen, die Arbeiterklasse, und das stinkt mich an und das seh ich an meinen Eltern. Die haben jahrelang gezahlt. Ihr alle, älteren. Ich noch weniger mit meinen 18 Jahren. Und ich seh, wie es meinen Eltern ergangen ist und ich will nicht jahrelang dasselbe machen.« Stau – Jetzt geht’s los, TC: 47:43ff.

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dort auch bereits vor der Öffnung erheblicher Rechtsextremismus existierte.«1185 Andreas Borchers verweist auf die Schätzungen eines Jugendforschers, demzufolge es bereits Anfang 1988 »rund 1000 organisierte Neofaschisten in der DDR gegeben« habe. Diese kämen »aus allen Klassen und Schichten. Bildungsweg und Qualifikation, Familie der Eltern und allgemeine Lebensumstände entsprechen dem Querschnitt dessen, was allgemein in unserer Gesellschaft anzutreffen ist.«1186 Neonazismus in der DDR wird jedoch in kaum einem der analysierten Filme thematisiert. Auch in Stau erscheint er somit als Folge des Umbruchs während der Deutschen Wiedervereinigung.

Die Inszenierung sozialer Deprivation Neben dem Werteverlust ist die individuelle Misere der Porträtierten ein zentraler Erklärungsansatz. »Man muß ja den jungen Rechten aus den trostlosen Plattenbauten von Halle Neustadt in ›Stau – Jetzt geht’s los!‹ nur lange genug zuschauen, und schon drängt sich einem auf, was da zu tun wäre: Um diese jungen Leute müßte man sich ernsthaft, liebevoll kümmern«, lobt Kraft Wenzel die Aussage des Films.1187 Tatsächlich wirken die Porträtierten über weite Strecken unsicher und verloren. Konrad etwa wird in seiner Rolle als Kind und Sohn vorgestellt. Bereits im ersten Interview beschreibt ihn seine Mutter als jemanden, der »bei allem an die Hand genommen werden« müsse. Da sie selbst mittlerweile im Westen lebe, helfe sie ihm in den Ferien. Während ihrer Rede sind seine plumpen, rosigen Hände in einer Detailaufnahme zu sehen.1188 Er schlägt ein Ei in eine Schüssel. Es folgt – in Nahaufnahme – sein konzentrierter Gesichtsausdruck. Da er, wie seine Mutter erzählt, »immer gerne gerührt und gekocht« habe, wäre Bäcker eigentlich ein guter Beruf für ihn, dies habe aber leider nicht geklappt. Der erwachsene Sohn – Konrad scheint um die 18 Jahre alt zu sein – erscheint sowohl in ihrer Rede als auch im Bild als kindlich und unselbständig. Zerlegt in mehrere Sequenzen wird der Film auch an späteren Stellen auf den Akt des Backens zurückkommen. Doch vorerst visualisiert der nächste Schnitt den Blick aus dem Fenster, zeigt grauen Himmel, in der Ferne zeichnen sich ebenfalls graue Plattenbauten ab. Aus dem Off ist dazu die nun tränenerstickte Stimme von Konrads Mutter zu hören, sie spricht davon, dass Konrad nun seinen eigenen Weg gehen wolle. Unvermittelt erwähnt sie, »keine Angst vor diesen ganzen Jugendlichen« zu haben, aber möchte »irgendwie, dass 1185 1186 1187 1188

Rommelspacher 1992. Borchers 1993, S. 122. Wenzel 1994, S. 6. Stau – Jetzt geht’s los, TC: 05:13.

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es nicht so radikal ist«.1189 Wie sich diese Radikalität äussert oder gegen wen sie gerichtet ist, wird nicht nachgefragt.

Konrad backt Kuchen

Interview mit Roland Meyer

Nach einer Sequenz, in der gezeigt wird, wie im Jugendclub zu rassistischer Musik1190 gefeiert wird, wird abrupt zu einem Interview mit Roland geschnitten, 1189 Ebd., TC: 07:23. 1190 In den Liedtexten werden Vernichtungsfantasien gegenüber »Türken« geäußert. Ebd., TC: 54:31.

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der hier eher bemitleidenswert denn furchteinflößend erscheint. In Rolands Interview, das Rebhandl als das »vielleicht beeindruckendste und bedrückendste Zeugnis des Films« bezeichnet, sitzt er mit verschränkten Armen auf einer Bank, die auf einer kleinen Grünfläche vor grauen Plattenbauten steht.1191 Er scheint zu frieren. Der Neonazi trägt eine schwarze Bomberjacke und Jeans. Seine Frisur, ein Flattop mit ausrasierten Seiten, entspricht den damaligen Codes der extremen Rechten. Roland spricht davon, sich seit der Wende »alleingelassen« zu fühlen.1192 Mit stockender Stimme erzählt er von seiner Arbeitslosigkeit. Er habe seine Lehre als Vermessungstechniker »wegen mangelnder Leistungen«1193 aufgeben müssen. Jetzt warte er auf eine Lehrstelle im Baugewerbe. »Was machst du jetzt tagsüber, wenn du nichts zu tun hast?«, erkundigt sich Heise. »Zuhause sitzen, Fernsehen gucken«, antwortet er, »eben rumgammeln.« Er beklagt die Konturlosigkeit seiner Tage: Er habe »jegliches Zeitgefühl verloren«, was er als »grausam« empfinde. Er spricht über seine permanente Müdigkeit: »Ich habe zwölf Stunden geschlafen und könnte mich wieder hinlegen und nochmal zwölf Stunden schlafen.« Ihm fehle »die Arbeit, die Bewegung«. Die Kamera bewegt sich nun zurück, nimmt in einer Halbtotalen die triste Umgebung mit in den Blick. Aus der größeren Distanz ist nun zu erkennen, dass Roland die Jeans hochgekrempelt hat, um seine Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln – ein sichtbares Zeichen seiner extrem rechten Gesinnung – zur Geltung zu bringen. Er erzählt, dass er seine Freunde, von denen die meisten Arbeit hätten, manchmal darum beneide. In den beschriebenen Szenen ist der defizitorientierte Blick Heises auf seine neonazistischen Interviewpartner offensichtlich.

Fazit: Die Ausblendung des Politischen Auch Stau – Jetzt geht’s los interessiert sich ausschließlich für die Täter rechter Gewalt. Obwohl an manchen Stellen die politischen Inhalte und aus der Gruppe heraus begangene rechte Gewalttaten zur Sprache kommen, bleibt der massive Anstieg rechter Gewalt zur Drehzeit des Films eine Leerstelle. Das Interesse gilt vor allem den individuellen Sorgen und Nöten der Neonazis, während ihre politischen Inhalte, Aktionsformen und Organisationsstrukturen sowie die gesellschaftlichen Diskurse und institutionellen Rahmenbedingungen, die diese (mit) hervorbrachten und ermöglichten, ausgeblendet werden. Heise fragt weder nach der Verbreitung rechter Gewalt, rassistischer und rechter Ideologeme in der Hallenser Gesellschaft vor und nach der Wende, noch nimmt er etwa 1191 Rebhandl 2014, S. 52. 1192 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 57:26f. 1193 Ebd., TC: 58:30.

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seinen Drehort, den Jugendclub Roxy, unter die Lupe und untersucht, wie sich dieser so augenscheinlich zum Neonazitreffpunkt entwickeln konnte. Politisch hierfür Verantwortliche, etwa Vertreter_innen von Jugendarbeit, Gemeinde und Polizei, werden nicht interviewt.1194 Die einzigen Menschen über 20, die im Film zu Wort kommen, sind die ebenfalls desillusionierten Eltern der jungen Neonazis. Deutlich lässt sich im Film der von Dierbach kritisierte Jugenddiskurs aufzeigen, dem zufolge rechte Gewalt »der allgemeinen Matrix von ›Jugend‹ zu- und damit untergeordnet [wird]. Dass einer politisch motivierten Gewalttat jedoch ein spezifisches Urteil des Täters über Sinn und Zweck dieser Handlungsform vorausgeht und darüber hinaus auch einen historischen Kontext besitzen könnte, gerät als möglicher Erklärungsfaktor nahezu vollständig aus dem Blick«,

so Dierbach.1195 Tatsächlich umschreibt Heise selbst seinen Ansatz mit einem Gedicht von Erich Fried: Die Kinder werfen aus Spaß mit Steinen, die Frösche sterben im Ernst.1196 Nicht nur, dass hier Opfer rechter Gewalt, wenn auch metaphorisch, zu Fröschen degradiert werden. Die Zeilen implizieren, dass die Täter Kinder seien, die nicht wissen, was sie tun. Dass die Auswahl der Opfer rechter Gewalt jedoch nicht zufällig sondern konsequente Folge entsprechender Ideologie ist, wird ausgeblendet. Auch wird ignoriert, dass rechte Gewalttaten zugleich symbolische Akte sind, mit denen kommuniziert wird, »wer hier die Macht und das Sagen hat und wer an den Rand der Gesellschaft gehört«.1197 1194 Unerwähnt bleibt etwa die gerade in den 1990er Jahren heftig geführte Debatte über die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit mit extrem rechten Jugendlichen. Basierend auf Heitmeyers Desintegrationsthese geht dieser Ansatz davon aus, dass Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt Ausdruck von Orientierungslosigkeit und schwierigen Lebenslagen seien. Dementsprechend sollen die Probleme der Klientel, auf welche diese mit rechter Gewalt reagierten, mit Hilfen im Alltag sowie der Erschließung von Ressourcen und der Bereitstellung von Freizeitangeboten angegangen werden. »Mittelpunkt sozialpädagogischen Handelns nach dem akzeptierenden Ansatz ist das Akzeptieren der Personen, der Subjekte, mit all ihren (teilweise auch unerträglichen) politischen und menschlichen Positionen, Problemen und Brüchen, ohne dabei auf die eigenen Positionen bzw. deren Darstellung zu verzichten«, beschreibt Buderus die diesem Ansatz zumindest in der Theorie zugrunde liegende Haltung. In der Praxis kam es jedoch oftmals zu einer Verstetigung extrem rechter Organisationsstrukturen. Denn um Neonazis »von der Straße« zu bekommen, wurde diesen oftmals städtische Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, in denen, so die Kritik, Führungspersonal der extremen Rechten ein- und ausging. Unzureichend ausgebildete Sozialarbeiter_innen, die in einigen dokumentierten Fällen sogar selbst aus der extremen Rechten stammten und/oder extrem rechtem Dominanzgebaren nichts entgegensetzten, trugen zu dieser problematischen Entwicklung bei. Buderus 2001. Vgl. dazu auch: Kirschnick 1999, S. 3. Kleffner 2015. 1195 Dierbach 2010, S. 55. 1196 Ö-Filmproduktion o. J. 1197 Rommelspacher zit. n. Reif-Spirek 2015.

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Als entpolitisierend kritisiert Dierbach den mit dem Jugenddiskurs einhergehenden – gerade in den 1990er Jahren auch in weiten Teilen der Forschung verbreiteten – defizitorientierten Blick, der rechte Gewalt »vorwiegend als krisenbedingte Reaktion auf ökonomische, entwicklungsspezifische oder persönliche Probleme behandelt«.1198 In Stau, dessen Protagonisten Rezensent Dietmar Göllner entsprechend als »Jugendliche, die von den neuen spezifischen Umstellungen im Osten Deutschlands überwältigt wurden«, bezeichnet, wird die Unselbstständigkeit und Verlorenheit der porträtierten Neonazis fast schon penetrant in Szene gesetzt.1199 Nicht nur, dass sie in den Interviews als unsicher und wenig redegewandt erscheinen: Immer wieder wird etwa gezeigt, wie Konrad unter Anleitung seiner Mutter einen Kuchen bäckt. Insbesondere Roland erscheint als verloren und hilfebedürftig. Auch ein anderer Gesprächspartner gibt zu, nach dem Tod der Mutter allein nicht zurechtgekommen. Der defizitorientierte Blick wird insbesondere durch die Rahmung der Interviews verstärkt: Impressionen urbaner Brachflächen, die sich als geradezu symbolische Visualisierungen der die Clique umgebenden Trost- und Perspektivlosigkeit verstehen lassen. Weniger fragt der Film nach Ideologie(n), etwa der für das rechte Weltbild charakteristischen Unterscheidung zwischen Freund und Feind, entlang der den Opfern das Recht auf körperliche Unversehrtheit abgesprochen wird und deren gesellschaftlicher Verbreitung. Abgesehen von einem einzigen Interview bleiben die Selbstviktimisierungen der Täter unwidersprochen.1200 »Nicht die Skinheads oder Rechtsradikalen sind gewalttätig, sondern das System, in dem wir leben ist gewalttätig«, lautet entsprechend auch das Abschlussfazit der Clique.1201 Der Film endet mit Aufnahmen von Ronny Gleffe, der auf eine Uhr schießt. Er trifft erschreckend gut.1202

1198 Dierbach 2010, S. 57. 1199 Göllner 1992. 1200 Zu einer ähnlichen Einschätzung des Films kommt Hohenberger. Sie schreibt: »Der Film hat keinen Kommentar ; er behauptet nicht verbal, daß das, was er vorzeigt, für das Denken der Jugendlichen verantwortlich wäre, indem er es aber zeigt, legt er die schlechten Arbeitsbedingungen, die unglücklichen Familienverhältnisse und die mangelnden Freizeiteinrichtungen als Gründe immerhin nahe und reiht sich damit in ein Denken ein, das sozialpsychologisch zu verstehen versucht, anstatt politisch zu analysieren. Die auf Verständnis zielende Individualisierung aber verharmlost die Tat des Einzelnen immer dann, wenn sein Leben nicht angebunden wird an die politischen Diskurse, die sein Reden und Handeln erst ermöglichen. Fehlt eine solche Anbindung, vollzieht sich lediglich ein Kreislauf populistischer Erklärungsmuster.« Hohenberger 1993, S. 10. 1201 Stau – Jetzt geht’s los, TC: 1:18:56ff. 1202 Ebd., TC: 1:20:15.

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6.2

Sieben Jahre später: Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (R: Thomas Heise, D 1999)

Für den zweiten Teil der Stau-Trilogie begab sich Thomas Heise 1999 erneut nach Halle-Neustadt. Wie lebt es sich dort, sieben Jahre später, will er von seinen alten und neuen InterviewpartnerInnen wissen. Von der Neonaziclique aus dem Vorgängerfilm sind jetzt nur noch Konrad Roock und Ronny Gleffe dabei.1203 Im Mittelpunkt steht nun Familie Gleffe. In langen Einzelinterviews widmet Heise sich den Geschwistern Jeanette, Danny und Ronny, befragt sie nach ihren Hoffnungen und Plänen. Große Ziele und Träume hat niemand von ihnen. Ronny will seine Schulden loswerden, die er an die Krankenkasse eines seiner früheren Opfer zu zahlen verurteilt ist. Jeanette wünscht sich einen Partner, der sie nicht schlägt. Was er mal werden will, kann der 18-jährige Danny nicht beantworten: »Reich vielleicht?« Die Eltern haben sich hingegen mit dem Umzug in ein Reihenhaus in Bad Dürrenberg alle finanziell realisierbaren Träume erfüllt. Es sind keine mehr übrig. Rezensent Andre Meier bezeichnet Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) als »durch und durch deprimierenden Film«.1204 Parallel zu den Geschichten um Familie Gleffe widmet sich ein zweiter Erzählstrang Konrad Roock, inzwischen Funktionär des Freiheitlichen Volksblocks, und seinen diesbezüglichen Aktivitäten.1205 Neben Interviews mit dem organisierten Neonazi, in denen wie bereits im ersten Teil der Trilogie überwiegend Privates thematisiert wird – es geht vor allem um seine prekäre finanzielle Situation und um seine momentane Beziehung – ist die Kamera zugegen, wenn Kameradschaftsabende abgehalten und am Lagerfeuer Lieder der Hitlerjugend gesungen werden. Der Film, der 2000 seine Premiere hatte, wurde wie bereits der erste Teil mit dem Preis der Filmkritik als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.1206 Gelobt

1203 Vgl. Kapitel 6.1 Tristesse zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt. Der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht’s los (R: Thomas Heise, D 1992). 1204 Meier 2000. 1205 Der Freiheitliche Volksblock (FVB) gründete sich 1994 als Auffangbecken der verbotenen Heimattreuen Vereinigung Deutschlands (HVD), die mit Banküberfällen und Wehrsportübungen Aufsehen erregte. 1997 etablierte sich eine Sektion in Sachsen-Anhalt, die ihre Mitglieder in Halle aus dem ehemaligen Jungsturm Halle rekrutierte. Laut des Antifaschistischen Infoblatts sorgte er Ende der 1990er Jahre »durch verschiedene öffentliche Auftritte und sein elitäres Gehabe bundesweit für Aufsehen«. Der FVB, seinem Selbstverständnis zufolge eine Kaderorganisation, beschrieb sich als »Partei des deutschen Aufbruchs«. Antifaschistisches Infoblatt (AIB 2002). Ab 1998 ging es laut Döring mit dem FVB »bergab«. Seit 1999 sei er weitgehend inaktiv gewesen. Vgl. Döring 2008, S. 120. 1206 Verband der deutschen Filmkritik e. V. 2016.

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wurde insbesondere, dass Heise wie bereits im ersten Teil der Trilogie auf eine Positionierung durch eine Voice-over verzichtet: »Was Heises Film von 1992 auszeichnet, gilt auch für den neuen: absolute Fairness, sein Verzicht auf explizite Verurteilung, Besserwisserei, ja, überhaupt auf einen Kommentar. Stattdessen lässt er die Befragten für sich sprechen und, nicht weniger wichtig, die Bilder sagen, was die Worte verschweigen«, erkennt etwa Thomas Rothschild an.1207 Welche Effekte das Fehlen eines Kommentars auf die Thematisierung von rechter Gewalt und Rassismus haben, werde ich im folgenden Kapitel untersuchen.

Aufbau und Struktur Wie Stau – Jetzt geht’s los beginnt auch Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) mit Susann Schwabenlands Text Es war einmal ein Volk, der dieses Mal im Vorspann als Voice-over über Bildern von herbstlich-braunen Feldern liegt.1208 Ein Schwarm Vögel fliegt in den fahlen Himmel auf, danach ist eine Autobahn zu sehen. Der mythisch anmutende Text über eine völkische Erhebung fungiert als eine Art Motto. Er stiftet zudem eine inhaltliche sowie formale Verbindung zwischen den Teilen der Trilogie. Doch auch wenn das Thema Rechtsextremismus damit bereits zu Beginn anklingt, wird es im Verlauf des Films immer stärker hinter der privaten Geschichte der Gleffes zurücktreten, die den Filmemacher, wie auch Rebhandl feststellt, »mehr interessiert als eine Soziologie oder Sozialpsychologie des Rechtsextremismus«.1209 In Kinder. Wie die Zeit vergeht (2008), dem dritten Teil der Stau-Trilogie, wird das Thema dann vollends zum Nebenschauplatz. Wie sein Vorgänger zeichnet sich auch Neustadt durch eine elliptische Erzählweise aus. Anstatt die Erzählstränge um die Gleffes und Konrad Roock als in sich geschlossene Einheiten aufeinander folgen zu lassen, werden Szenen aus beiden assoziativ oder entlang thematischer Blöcke montiert. So fasst er beispielsweise Konrads Ausführungen zum Thema Zukunftsperspektiven mit denen der Gleffes zusammen oder kontrastiert Konrads phrasenhafte Statements zu den Zielen des Freiheitlichen Volksblocks mit Ronny Gleffes Beobachtungen. Zwischen die Szenen um Konrad und die Gleffes sind Sequenzen geschnitten, die den Handlungsort Halle-Neustadt selbst in den Blick nehmen. Gedreht im Spätherbst und Winter dominieren fahle Farben und Grautöne das Bild und 1207 Thomas Rothschild zit. n.: ö Filmproduktion o. J. 1208 Vgl. Kapitel 6.1. 1209 Rebhandl 2014, S. 56.

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evozieren eine depressive Grundstimmung. Waren es im ersten Teil vor allem Bilder von Brachen und Abrisshalden, werden nun besonders die sich entvölkernden Plattenbauten gezeigt, wohnt doch Jeanette Gleffe in einem dieser Häuser. Besonders eindrücklich in diesem Zusammenhang ist eine Szene zu Anfang des Films. Nachdem die Kamera an der grauen Fassade eines etwa zehnstöckigen Gebäudes entlanggewandert ist, sieht man einen älteren Mann allein vor solch einem Haus stehen. Er singt ein wehmütiges Lied. Es ist immer noch zu hören, wenn auf einen langen dunklen Gang, wohl im Inneren besagten Hauses, geschnitten wird. An dessen Ende spendet ein Fenster Licht. Während sein Gesang immer leiser wird, bewegt sich die Kamera zurück: Der Gang wirkt wie ein Tunnel, das Licht an seinem Ende rückt in die Ferne. Die beinahe surreal anmutende Szene erweckt den Eindruck des Unheimlichen. Sie lässt an die langen Gänge des leerstehenden Hotels im Horrorklassiker Shining (R: Stanley Kubrick, USA 1980) denken. In der nächsten Sequenz beginnt Jeanette ihr erstes Interview mit den Worten, dass »das Haus […] fast ganz leer« sei.1210 Die meisten der umstehenden Wohnungen seien inzwischen unbewohnt. Jeanette, so ist hier zu erfahren, ist mit ihren Kindern in Halle-Neustadt zurückgeblieben.

Hochhaus

Neben solchen Impressionen beobachtet die Kamera das Treiben am Bahnhof, zeigt den neuen Wohnort der Eltern Gleffe oder filmt eine Straßenbahnfahrt. Anders als im ersten Teil arbeitet der Film gerade hierbei mit extradiegetischer Musik. Melancholische Geigenklänge untermalen etwa den Blick aus regenbeschlagenen Straßenbahnfenstern. An anderer Stelle ertönen sie zu Bildern einer 1210 Ebd., TC: 10:21.

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Gruppe Jugendlicher, die zwischen Plattenbauten herumsteht. Graffiti an den Wänden künden vom Hass auf Linke.

Angstzonen1211 für Weiße? – (De-)Thematisierungen des Rassismus Das Themenfeld rechte Gewalt und Rassismus wird bereits in den beiden ersten Sequenzen eingeführt.1212 Auf das Intro, die von Susann Schwabenland vorgetragene völkische Prophezeiung, folgen Aufnahmen des Bahnhofs. Es ist dunkel. Passant_innen laufen vorüber. An einer Straßenbahnhaltestelle wartet eine vierköpfige Gruppe Schwarzer Männer. Darauf nimmt die Kamera eine Gruppe weißer Männer und Frauen in den Blick. Unvermittelt setzt eine junge, weiße, dunkelhaarige Frau mit aggressiver Stimme an: »In der Zeitung steht, die Deutschen greifen die N* an. Das ist gar nicht so. Die N* greifen uns an, fangen Schießereien an und was weiß ich nicht alles. Im Endeffekt sind wir es und wir machen ja gar nichts. Wir stehen hier und unterhalten uns. Und wir greifen die Ausländer an? Ach nee, das kann nicht sein, wie letztens am Freitag. Die N* haben uns angegriffen.«

»Nicht dich direkt«, wendet ein junger Mann ein. »Mich nicht direkt«, gesteht die Sprecherin ein. »Ich war nicht dabei, aber wir haben es erfahren.« »Aber ich war dabei«, ist eine männliche Stimme zu vernehmen. »Wir waren’s wieder«, insistiert die Sprecherin. »Die Ausländer sind immer die, die als Schutzengel wahrgenommen werden. Wir sind immer die Bösen.« »Da ist ein N*«, sagt jemand. Es folgt ein Schnitt auf einen jungen Schwarzen Mann, der in einiger Entfernung inmitten einer Gruppe etwa gleichaltriger Weißer steht. Heises InterviewpartnerInnen beginnen nun, ihn mit Affengeräuschen zu beleidigen, die jedoch bald vom Glockenspiel einer Kirchturmuhr übertönt werden.1213 Das Filmteam greift hier nicht ein oder bezieht Stellung gegen die rassistischen Beleidigungen. Diese bleiben ebenso wie die anfangs geäußerten homogenisierenden und essenzialisierenden Unterstellungen unkommentiert. Heise 1211 Den Begriff der Angstzone prägte Döring für »Territorien […] in denen – wenigstens zu bestimmten Zeiten – rechte/rechtsextreme Gruppen durch ihren Habitus, ihr Auftreten und ihre konkreten Verhaltensweisen versuchen, für andere Gruppen eine Zugangs- und Aufenthaltskontrolle zu praktizieren und eine exklusive Nutzung durch die Eigengruppe durchzusetzen. Durch die Demonstration von tatsächlicher oder vermeintlicher Ordnungskompetenz ›auf der Straße‹ wird der öffentliche Raum zeitweise oder dauerhaft in Zonen der Exklusion verwandelt. Nicht allen Personen ist es gestattet, sich an solchen Orten zu bewegen. Der Begriff ›Angstzone‹ übernimmt die Perspektive derjenigen, die mit unterschiedlichen oftmals gewalttätigen Zugangsverweigerungen konfrontiert sind.« Döring 2008, S. 39. 1212 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), TC: 03:24f. 1213 Ebd., TC: 03:45f.

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lässt die Szene für sich selbst sprechen. Beim genaueren Hinhören entlarvt sich die Sprecherin an dieser Stelle selbst. Ihr Eingeständnis, bei dem vermeintlichen Angriff auf ihre Gruppe selbst nicht dabei gewesen zu sein, verweist ihre Schilderung in dasselbe Reich rassistischer Gerüchte wie ihre Ausführungen über vermeintlich von Schwarzen ausgehende Schießereien. Nicht zuletzt zeugt die aggressiv-rassistische Reaktion der Gruppe auf den jungen Schwarzen Mann, der als Feindbild markiert und entsprechend tituliert und beschimpft wird, davon, dass die Gewalt eindeutig von der weißen Gruppe ausgeht. Es ist im Übrigen die einzige Stelle des Films, an der von Rassismus Betroffene selbst, wenn auch kurz, im Bild sind. Auch in Neustadt lässt Heise ausschließlich Weiße zu Wort kommen. Schwarze und People of Color werden nicht befragt, wie sie die Stimmung am Bahnhof im Speziellen und in Halle im Allgemeinen erleben. Die Wahrnehmung von Rassismus Betroffener scheint den Filmemacher auch im zweiten Teil der Trilogie nicht zu interessieren. Wie bereits im ersten Teil erhalten die Zuschauenden auch in diesem Film keinerlei Hintergrundinformationen über die Verbreitung rechter Gewalt in Halle. »Obwohl sich«, wie Döring für das Jahr 1999 schreibt, »die Bedrohungslage [im Vergleich zum Beginn der 1990er Jahre, JS] entschärft hat, werden nach wie vor in Halle-Neustadt Gewalttaten von Rechten/Rechtsextremen begangen.«1214 Zum Drehzeitpunkt im Jahr 1999 gab es laut der Antifa der Uni Halle »in Sachsen-Anhalt offiziell 929 rechtsextremistisch motivierte Straftaten, 1998 = 1.045, 1997 = 1.164 (VS-Berichte-LSA)«.1215 In der nächsten Sequenz läuft eine Gruppe von Neonazis durch die Stadt. Wohl um ihre Anonymität zu wahren, nimmt die Kamera ihre Rücken in den Blick. Eine Frau namens Bianca stimmt das verbotene Lied der Hitlerjugend Ein junges Volk steht auf an.1216 Es handelt vom Heldentod für das »Vaterland«, preist »die toten Helden der jungen Nation«. Es wird bis heute bei neonazistischen Anlässen gesungen.1217 Wegen der schlechten Sichtverhältnisse, es ist immer noch dunkel, wird nicht klar, ob es sich um die vorher gezeigte Gruppe vom Bahnhof handelt. Während sie vom »Führer im Himmel« singen, der »die Treue der jungen Kameraden« liebt, wird die Gruppe am Lagerfeuer gezeigt. Auch hier sind keine Gesichter zu erkennen. Aus dem Off hört man eine männliche Stimme – später wird sich herausstellen, dass Konrad Roock der Sprecher ist – von der Wichtigkeit kontinuierlicher »nationaler« Arbeit reden. Der am Bahnhof beobachtete Rassismus wird somit durch den Schnitt in 1214 Döring 2008, S. 136. 1215 Eine »Chronik der rassistischen und faschistischen Aktivitäten in Halle« für die Jahre 1989 bis einschließlich 2000 hat die Antifa Uni Halle zusammengestellt. Antifa Uni Halle o. J. 1216 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), TC: 06:30. 1217 Das von Werner Altendorf für die HJ geschriebene Lied wurde in einer Reihe nationalsozialistischer Liederbücher abgedruckt. Vgl.: Maurice Reisinger 2007.

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einen Zusammenhang mit neonazistischen Umtrieben gestellt. Doch beschränkt sich der Film nicht darauf, diesen lediglich bei organisierten Neonazis zu verorten: Beiläufig und unkommentiert tauchen rassistische Stereotype über Schwarze Menschen und People of Color auch in den Interviews mit Jeanette und Danny Gleffe sowie in einem Stammtischgespräch auf. Dass sie sich im Viertel nicht mehr sicher fühlt, führt Jeanette auf den Zuzug von Migrant_innen zurück. Nachdem der von ihr bewohnte Wohnblock im Bild als unheimlich inszeniert wurde, sieht man die junge Frau in Nahaufnahme.1218 Das Licht fällt auf ihr blasses Gesicht. Sie beklagt sich über den Leerstand und merkt an, »nicht mehr freiwillig in dieses Haus hier einziehen« zu wollen. Nahtlos kommt sie auf das Thema Migration zu sprechen. Sie bezeichnet Neustadt als »Ghettoviertel«,1219 was sie darauf zurückführt, »dass gerade hier im Südpark […] viele Ausländer hin[kommen]«. Nach einem Schnitt, kenntlich gemacht durch ein dazwischen montiertes Schwarzbild, erzählt sie, dass sie sich »nicht mehr so wohl hier« fühle. »Was hat dir gefallen?«, lenkt Heise das Thema auf eine glücklichere Vergangenheit um. Janette gibt an, als Kind etwaige Konflikte im Viertel zumindest nicht mitbekommen zu haben. Auf ihren Rassismus, der den Zuzug von Migrant_innen in Kategorien von Niedergang und Bedrohung fasst, geht Heise weder an dieser Stelle, noch im weiteren Verlauf des Films ein. Noch expliziter als seine Schwester äußert sich der 18-jährige Danny Gleffe. Eingeleitet von einer nächtlichen Aussicht vom Balkon des von ihm bewohnten Hochhauses wird auch das mit ihm geführte Interview in den Kontext der Situation im Viertel gestellt. Danny erzählt zuerst von seinem frühen Auszug aus dem Elternhaus und seinen Drogenproblemen. Im Zentrum des Gesprächs steht jedoch die Frage: »Wie lebt es sich in Halle-Neustadt?«1220 Danny antwortet: »Nicht so toll, aber es muss gehen.« Auch er verfällt bei der Begründung seines Frusts in rassistische Argumentationsmuster : »Gerade hier unten ist der ganze Scheiß mit den Drogen und so ’n Kack. Die ganzen Schwarzen und die ganzen Türken an der Spielothek und so. Abends hier rumzulaufen alleine, ist nicht mehr so ratsam.« »Warum?« will Heise nun wissen. »Erst vor Kurzem haben sie ’nen Kumpeln von mir in den Kopf gestochen«, antwortet Danny. Heise fragt an dieser Stelle weder nach, wen Danny genau mit »sie« meint, noch will er wissen, wie es zu dieser Situation kam. Er kommt mit Danny stattdessen auf seine Zukunftswünsche zu sprechen. Es folgt eine Reihe mit Teleobjektiv gefilmter Aufnahmen, auf denen wegen der Dunkelheit jedoch nicht allzu viel zu erkennen ist. Man sieht eine Gruppe junger Männer unter einer Straßenlaterne stehen, 1218 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), TC: 08:29ff. 1219 Ebd., TC: 10:42. 1220 Ebd., TC: 24:31.

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Gesichter leuchten weiß in der Dunkelheit. Jemand zündet sich eine Zigarette an. An einer dunklen Ecke steht jemand und wartet. Eine andere Person überquert zügig einen Platz.1221 Nach einem Zoom-Out erkennt man die Aussicht von Dannys Balkon wieder, welche bereits die Interviewsequenz eingeleitet hat. Es wird somit ersichtlich, dass die nächtlichen Straßenszenen – wie um seine Aussagen zu überprüfen – von Dannys Balkon aus aufgenommen wurden. Auch wenn das Beobachtete Dannys Wahrnehmung der Gegend als gefährlich nicht abschließend bestätigt, wird sie zumindest nicht gebrochen: Es ist letztlich zu dunkel um zu erkennen, ob es sich hier um Beobachtungen einer Drogenszene handelt oder ob die Anwesenden schlicht auf einen Bus warten. Die bedeutungsoffenen Bilder jedenfalls sind nicht geeignet, um die von Danny beschworenen rassistischen Assoziationen, die »Schwarze« und »Türken« in Verbindung mit Gefahr und Drogen bringen, Lügen zu strafen. Zum Stand der Dinge im Viertel äußern sich auch vier ältere Männer.1222 Sie sitzen an einem Kneipentisch. Das Gespräch, das zuerst um ihre Erfahrungen bei Umschulungsmaßnahmen des Arbeitsamts kreist, nimmt bald eine rassistische Wendung: »Hier haben Beamte gelebt, Eisenbahner, und und und. Alles so mittlere Schicht. Und jetzt verkommt das alles so. Asylanten treiben sich hier rum, irgendwelche Leute. Hier ist bestimmt keiner, der, wie sagt man, ausländerfeindlich ist, aber wenn alles auf einmal geballt kommt? Und wenn man selber Sorgen um die Existenz hat, da kann ich mir vorstellen, dass bei manchen die Existenznot in Existenzangst umschlägt. Und es ist nun mal so, dass sind wir ja nicht die ersten, die sagen würden, da sind eben immer zuerst die Andersfarbigen dran.«1223

In ihrer Rede lassen sich eine Reihe rassistischer Denkfiguren aufzeigen. So findet sich die bereits in den Interviews mit Jeanette und Danny auftauchende Assoziation des Zuzugs von Migrant_innen und Menschen of Color – in diesem Fall despektierlich als »Asylanten« bezeichnet – mit dem Niedergang des Viertels. Mit völliger Selbstverständlichkeit wird von den Sprechern zu dem gemäß der rechten Parole »Arbeitsplätze zuerst für Deutsche« auf einer Privilegierung weißer Deutscher bei der Vergabe von Ressourcen bestanden: Kommt es zu Verteilungskämpfen, seien »eben immer zuerst die Andersfarbigen« dran. Eine Sichtweise, die Rassismus vor allem als Reaktion auf wirtschaftliche Probleme deutet, bleibt, wie Rommelspacher treffend analysiert, »in dem Grundmustern des Rassismus befangen, die anderen für sich zu funktionalisieren«.1224 Rassismus ist in dieser Logik lediglich der Anlass, »um auf die Probleme der Domi1221 1222 1223 1224

Ebd., TC: 25:55. Ebd., TC: 35:27. Ebd., TC: 49:00. Rommelspacher 1998 a, S. 53.

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nanten aufmerksam zu machen«.1225 Sie kritisiert, dass Angriffe und diskriminierendes Verhalten, welches weiße Arbeiter beispielsweise gegenüber Schwarzen Arbeitern zeigen, als Ausdruck ihrer Unterdrückung, nicht aber zugleich als ein ureigenes »Interesse an Privilegierung aufgrund der Zugehörigkeit zur weißen Gesellschaft« verstanden werde.1226 Gerahmt von Sequenzen, welche die Trostlosigkeit des Viertels in Szene setzen, wird das am Stammtisch Gesagte in den Kontext völliger Hoffnungslosigkeit gestellt. Unterlegt von melancholischer Musik sah man zuvor wechselweise den Regen an den beschlagenen Fensterscheiben einer Straßenbahn herunterlaufen und sich mit den fahlen Farben des Draußen zu einem einzigen Grau vermischen sowie die leeren Gesichter der Fahrgäste. Da rassistische Gewalt somit unwidersprochen als Folge von Arbeitsund Perspektivlosigkeit dargestellt wird, folgt auch dieser Film der Deprivationsthese. Passend dazu geht es auch in einer der wenigen inhaltlichen Äußerungen, die beim Kameradschaftsabend gefilmt werden (dürfen), um Arbeitslosigkeit: »Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit dem Anschluss Mitteldeutschlands an das kapitalistische System der Bundesrepublik Deutschland war und ist wohl eine der entscheidendsten Veränderungen, die sich vollzogen haben. Von einer zugegeben sozial motivierten Vollbeschäftigung in der DDR entwickelten sich die Arbeitslosenzahlen in eine Höhe«,

heißt es dort.1227 Hier wird deutlich, wie sehr die extreme Rechte die soziale Frage für sich instrumentalisiert. In einer der auf das Kneipengespräch folgenden Sequenzen stellt Jeanette fest, dass Arbeitslosigkeit »wütend« mache.1228 Sie erzählt von ihrem gewalttätigen Exfreund. Der ehemalige Busfahrer reagierte nach dem Verlust seiner Fahrerlaubnis mit psychischer und physischer Gewalt auf ihre erfolgreich umgesetzten Pläne, diesen Beruf ebenfalls zu ergreifen. Er habe versucht, ihre Prüfung zu sabotieren und sie sogar geschlagen. Er konnte es nicht ertragen, dass sie selbst erfolgreich bei etwas ist, in dem er selbst aufgrund seines Alkoholkonsums scheiterte. Seine Aggression lässt sich als gewalttätige Verteidigung seiner heteronormativen Rolle als der Partnerin überlegener Ernährer verstehen: Er versuchte, die erfolgreichere Frau auf »ihren Platz« zurückzudrängen. Als von heterosexistischer Gewalt Betroffene bekommt Jeanette den Raum, für sich selbst zu sprechen. In ihren Ausführungen wird deutlich, dass es 1225 Ebd. 1226 Sie konstatiert, dass die »Geschichte der Rassismen alle Mitglieder der dominanten Gesellschaft verändert – auch wenn diese selbst diskriminiert sind. Sie nehmen das Recht in Anspruch, auf die anderen herabzuschauen, sich auf ihre Kosten zu stabilisieren, sie für das eigene psychische und kulturelle Selbstverständnis zu funktionalisieren und sie von Privilegien innerhalb der Gesellschaft fernzuhalten.« Ebd. 1227 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), TC: 27:02. 1228 Ebd., TC: 41:21.

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hier nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern zugleich um die aggressive Verteidigung männlicher Dominanz geht. Der Raum, für sich selbst zu sprechen, wird von Rassismus Betroffenen nicht zugestanden, die aggressive Verteidigung weißer Dominanz entsprechend nicht als Motiv herausgearbeitet.

Reflexionen über begangene rechte Gewalttaten: Ronny Gleffe Ronny Gleffe, der bereits im ersten Teil der Stau-Trilogie als Mitglied der dort porträtierten Neonaziclique auftrat, lässt sich in Neustadt als Bindeglied zwischen beiden Teilen der Trilogie wie auch den eingangs erwähnten Erzählsträngen verstehen. Mit ihm wurde ein langes Interview geführt, aus dem einige mehrminütige Ausschnitte, über den Film verteilt, zu sehen sind. Er sitzt hier neben seiner namenlos bleibenden Freundin, die abwechselnd ihn und die Kamera anlächelt und sich während des Interviews kaum zu Wort meldet, jedoch auch nicht befragt wird. Längere Gesprächspassagen sind durch Schnitte unterbrochen, die durch dazwischenmontiertes Schwarzbild sichtbar gemacht werden.

Ronny Gleffe mit seiner Freundin

Ronny behauptet, mittlerweile nichts mehr mit der rechten Szene zu tun zu haben. Nach wie vor habe er es, wie er jedoch schelmisch grinsend eingesteht, »ein bisschen so mit der Heimatliebe«.1229 Er beklagt sich, dass ihm dies als »du bist ein Neonazi, ein Faschist« ausgelegt werden würde. »Wobei das so ein breiter 1229 Ebd., TC: 21:39.

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Begriff ist. Das schnallen die meisten Leute heute doch nicht.« Diese Abwehrstrategie ist typisch für die extreme Rechte: Nach der euphemistischen Umschreibung seiner Gesinnung inszeniert er sich in der Opferrolle, beschreibt sich als von der Mehrheitsgesellschaft (»die meisten Leute«) pauschal verurteilt und ungerecht behandelt. Die hier anklingende Opfer-Täter-Verkehrung gemahnt an rechte Parolen vom »linken Meinungsterror«. Ronny wird weder hier noch im weiteren Verlauf des Films aufgefordert, den »breiten Begriff« einzugrenzen und sich selbst in entsprechendem Spektrum zu verorten. Obwohl er in diesem Teil des Interviews mit einem gewissen Stolz von Anwerbeversuchen des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) während seiner Zeit bei der Bundeswehr erzählt, wohl um zu signalisieren, dass er von diesem für einen wichtigen Informanten gehalten wurde, wird er auch seine damalige Szenezugehörigkeit an einer späteren Stelle des Films erneut euphemistisch umschreiben: »Ich hatte mal ein bisschen was mit der rechten Szene zu tun, worauf ich nicht weiter eingehen will oder so.« – »Damals?«, hakt Heise nach. »Damals, wo ich noch jung war.«1230 Heise stößt hier an eine Grenze der Auskunftsbereitschaft seines Gegenübers und gibt sich damit zufrieden. Er unterlässt auch im weiteren Verlauf des Films jeglichen Versuch, seinen Gesprächspartner politisch einzuordnen.1231 Die von Gleffe begangenen rechten Gewalttaten – er hat, wie im ersten Teil der Trilogie deutlich wird, mindestens einen politischen Gegner krankenhausreif geschlagen – kommen an einer späteren Stelle des Films zur Sprache. Aufhänger sind die für ihn hieraus entstandenen Schulden und juristischen Konsequenzen.1232 Während er eingesteht, oft glimpflich davongekommen zu sein – »und bin eigentlich sehr oft, für Sachen, die ich vielleicht mit beteiligt war oder wie auch immer, bin ich eigentlich straffrei ausgegangen« – fühlt er sich dennoch unfair behandelt: »Für ’ne Sache, wo ich eigentlich in Notwehr gehandelt habe, bin ich praktisch verurteilt worden, für ein Jahr und acht Monate ohne Bewährung. Wurde aber am selben Tag noch durch Sofortrevision umgewandelt in ’ne Jugendstrafe und habe dann noch drei Jahre Bewährung gekriegt.« Nach einem Schnitt schildert er den Tatablauf: »Wir waren vielleicht ’ne Gruppe von 10 Mann. Die waren 30 bis 40 oder sowas. Dann haben drei sich um mich

1230 Ebd., TC: 59:00. 1231 Hellhörig werden lässt diesbezüglich, dass er seinen momentanen Job – er arbeitet als Detektiv – über »Freunde von früher« bekommen habe. Ebd., TC: 1:01:24. 1232 Seine Schulden beschreibt er als »diese Altlasten, wo ich die Krankenkasse bezahlen muss, wegen der Körperverletzung früher. Es ist so lange her, aber jetzt, irgendwie versuchen sie natürlich durch die Arbeit, die ich jetzt habe, auch ’ne Lohnpfändung jetzt. Das weiß ich, das haben die schon angekündigt, ist klar. Da ist es praktisch egal, wie lang ich arbeite, wenn ich Überstunden mache, dann ist vielleicht mal ein Jahr eher die Schuld weg oder so.« Heise: »Wie viel?« Ronny : »Nur an Krankenkasse zehn- bis zwölftausend.« Ebd., TC: 57:14.

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gekümmert. Die habe ich dann natürlich zwei von denen so richtig ins Krankenhaus befördert, kann ich ja mal sagen.«1233 Ob es sich hier um denselben Vorfall handelt, wegen dem er im ersten Teil der Trilogie vor Gericht stand, geht aus seiner verkürzten und elliptischen Schilderung nicht mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit hervor. In Stau-Jetzt geht’s los erfahren die Zuschauenden, dass Ronny Gleffe und weitere extrem Rechte in einer Diskothek »Saalschutz gegen Jugoslawen« machten. Dabei kam es zu einer Prügelei mit hinzukommenden Linken. Da Heise im zweiten Teil der Trilogie jedoch nicht aufklärt, wer mit »wir« und »die« gemeint ist, bleibt Ronnys Schilderung des Vorfalls als eine unpolitische Prügelei unwidersprochen. In Neustadt (Stau – Stand der Dinge) fehlt jegliche Einordnung und Kontextualisierung des Angriffs. Weil nicht nach dem Vorhandensein von tatauslösenden Feindbildern und Deutungsmustern gefragt wird, entlang derer eine der Gewalt vorangegangene Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe erfolgte und ohne die man, wie es Holz ausdrückt, entsprechend gar nicht wüsste »gegen wen vorzugehen ist«,1234 entsteht der Eindruck, es handele sich um eine unpolitische Schlägerei unter gewaltaffinen Jugendlichen. Gerade das Vorhandensein entsprechender Kategorien, entlang derer nach Freund und Feind eingeteilt wird, ist jedoch das Kriterium, das rechte Gewalt ausmacht. Wäre es Heises Anliegen, zumindest zu erwähnen, dass es sich damals um einen rechten Angriff handelte, hätte er etwa Ronnys Schilderungen von damals und heute miteinander kontrastieren können.1235 Nach einem weiteren Schnitt äußert Ronny sich zum Thema Reue: »Ich bereue an sich nichts, was ich gemacht habe, nur dass ich mich habe verpfeifen lassen haben ständig oder so, das bereue ich. Weil, was ich gemacht habe, war immer nur, wie soll ich sagen, immer hin und her. Wer hat angefangen, wer nicht? Man hat aber immer eigentlich die Leute gehabt, die unmittelbar mit einem zu tun hatten, die vorher irgendwie einem was angetan haben. Meistens war es jedenfalls so. Sicher hat es aus Versehen mal ’nen Unschuldigen erwischt, aber war umgekehrt genau dasselbe. Nur damals war es auch ’ne ganz andere Zeit, da hat sowieso jeder rumgesponnen, freigedreht, da musste man sich irgendwie zur Wehr setzen: War aber natürlich auch ’n bisschen Spaß dabei, muss ich jetzt auch zugeben.«1236

Auffällig ist hier zum einen die völlige Empathielosigkeit gegenüber dem Geschädigten, dessen Gesundheitszustand auch Heise, der keine entsprechenden 1233 Ebd., TC: 59:34. 1234 Holz 2001, S. 30. 1235 In Kinder. Wie die Zeit vergeht (D 2007) arbeitet Heise mit Sequenzen aus Interviews mit Jeanette, die für Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) aufgenommen wurden und dort teilweise auch Verwendung fanden. Es geht hierbei jedoch weniger darum, Widersprüche aufzuzeigen, denn darum, Kontexte und Entwicklungslinien darzustellen. 1236 Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge), TC: 59:41.

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Fragen stellt, nicht zu interessieren scheint. Zum anderen beschreibt Gleffe die Schlägereien, an denen er zu Beginn der 1990er Jahre als aktiver Neonazi beteiligt war, erneut entpolitisierend als »’ne ganz andere Zeit, in der sowieso jeder rumgesponnen« habe. Er beschwört das Bild zweier beliebiger rivalisierender Gruppen herauf, die einander wechselseitig »was angetan« hätten. Wer diese Gruppen waren und entlang welcher Selbst- und Fremddefinitionen sie sich konstituierten, wird ebenso wenig herausgearbeitet wie Informationen über das Ausmaß rechter Gewalt in Halle der 1990er Jahre. Zumindest die in der Formulierung sich »irgendwie zur Wehr setzen« zu müssen anklingende Selbstviktimisierung wird durch das Eingeständnis, dass »Spaß dabei« gewesen sei, relativiert. Nur in einem einzigen kurzen Interviewfragment an einer späteren Stelle wird ein anderes Bild von den Dynamiken rechter Gewalt entworfen. Gleich einem Kommentar folgt es auf Konrad Roocks an einen Wahlwerbespot erinnernde Ausführungen zum Programm des Freiheitlichen Volksblocks – »Und in dieser Hinsicht möchte ich an jeden appellieren, an uns heranzutreten und mit uns die Zukunft im neuen Jahrtausend zu gestalten.«1237 – »Ach, die stehen mit einem Bein im Knast, jeden Tag auf ’s Neue für nichts. Für nichts. Für sinnlose Scheiße.« – »Was ist die Scheiße?«, fragt Heise nach. »Die sinnlose Scheiße ist die, dass die immer noch dahinterstehen, wenn da ein 15Jähriger seine Mutprobe da abzieht und einem Linken eine auf ’s Maul haut, der da überhaupt nichts dafür kann, weil links ist auch in Anführungsstrichen was für sich, weißt du? Und automatisch, die letzten würden petzen: ›Ich mach doch den nur nach‹. Das darf auch wirklich nicht jetzt mitlaufen, nee.«1238

Wie der Schnitt nahelegt, scheint sich Gleffes Kritik hier auf den Freiheitlichen Volksblock zu beziehen, der, wie aus Konrads vorherigen Ausführungen deutlich wurde, Jugendliche zu politisieren versucht. Während er die Angreifer als »15Jährige« beschreibt, die man nicht als politische Subjekte ernst nehmen könne, da es ihnen lediglich um »Mutproben« ginge, sieht er die Schuld bei denjenigen, die »dahinterstehen« würden, also bei rechten Erwachsenen. Dies wertet er mehrfach als »sinnlose Scheiße«. Auffällig ist dabei, dass Gleffe sich so vehement dagegen wehrt, mit diesen Äußerungen gefilmt zu werden. Vielleicht, weil sie in einem Widerspruch zu dem stehen, was er in den vorherigen Interviewsequenzen vertrat. Beschrieb er vorher die von einem massiven Anstieg rassistischer und rechter Gewalt geprägte Situation zu Anfang der 1990er Jahre euphemistisch als Gewalt zwischen nicht näher bezeichneten, als gleichstark imaginierten Gruppen, benennt er nun 1237 Ebd., TC: 1:04:48. 1238 Ebd., TC: 1:05:06.

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die Opfer und die Stoßrichtung der Gewalt. Nun ist von »Linken« die Rede, die »eine auf ’s Maul« bekommen, obwohl sie »gar nichts dafür« können und von Tätern, die sich damit beweisen wollen. Das kurze Interviewfragment ist die einzige Stelle, an der eine der typischen Opfergruppen rechter Gewalt explizit als solche benannt wird.

Konrad Roock, der Freiheitliche Volksblock und das (öffentlich) Sagbare Konrad Roock, der im ersten Teil der Trilogie mit seiner Mutter beim Kuchenbacken gezeigt wurde, ist nun, sieben Jahre später, Landesvorsitzender des Freiheitlichen Volksblocks in Sachsen-Anhalt und, wie er ebenfalls gegen Ende des Films stolz erzählt, auch im Bundesvorstand dieser neonazistischen Kaderorganisation.1239 Er trägt nun Schnauzbart und Kurzhaarfrisur. Mit ihm wurden mehrere Interviews geführt, die, über den Film verteilt, passagenweise gezeigt werden. Man sieht ihn mit seinem Hund in seiner Wohnung sowie in den Räumlichkeiten, in denen sich auch die Kameradschaft trifft. Die kurzen braunen Haare hat er nach hinten gekämmt und er scheint um ein seriöses Auftreten bemüht. Er trägt beim Auftritt vor den Kameraden sowie in einigen Interviews Hemd und Sakko. Seine neonazistische Gesinnung offenbart sich in den Details im Hintergrund. So hängt an der Wand seines Zimmers der Druck eines von Hitler gemalten Landschaftsbilds, das ihm weniger wegen dessen Ästhetik gefällt. Es zeige vielmehr, dass Hitler, so Roock, »nicht nur Reichskanzler und Führungspersönlichkeit im Dritten Reich war, sondern dass der auch ein Vorleben hatte, ein Privates«.1240 Doch zumeist kreisen auch die mit Roock geführten Gespräche um private Themen. Es geht hier vor allem um seine prekäre finanzielle und berufliche Situation: Unzufrieden mit seinem Ausbildungsberuf ist er derzeit arbeitslos und wird, wie er andeutet, von jemandem finanziert. Ob von Freundin, Mutter oder Kameraden bleibt offen.1241 Auch erfahren die Zuschauenden, dass er seine Freundin bei einer Gedenkfeier für Hitlerstellvertreter Rudolf Hess kennenlernte,1242 und dass sie ihm entsprechend ewig gestriger Geschlechterrollenklischees »die Küche macht«.1243 Seinen Traumberuf – »sich um junge Leute kümmern, Politik ein bisschen den Leuten zu vermitteln und auch mich in der Richtung weiterzubilden« – übe er, unentgeltlich in seiner Freizeit aus.1244 Die Kamera zeigt wenig später, um 1239 1240 1241 1242 1243 1244

Ebd., TC: 1:03:49. Ebd., TC: 55:49. Ebd., TC: 55:00. Ebd., TC: 53:55. Ebd., TC: 53:46. Ebd., TC: 1:02:50.

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welche Art von Leuten es sich bei seiner Klientel handelt.1245 In leichter Untersicht ist zu sehen, wie eine Reihe kahl rasierter Bomberjackenträger eine Wohnung betritt. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Die Kamera nimmt ihre Rücken in den Blick. Die Ankommenden entsprechen allesamt dem gängigen Neonazistereotyp und stellen somit Konrads um Seriosität bemühten Ausführungen über politische Bildungsarbeit mit »Jugendlichen« die Realität extrem rechten Dominanzgebarens gegenüber. »Im Prinzip, man ist ein Suchender nach den großen Fragen unserer Zeit«,1246 verbrämt Konrad seine Schulungen. Während die Interviews zumeist Privates thematisieren, wird in zwei Szenen auf seine politischen Aktivitäten eingegangen. Neben dem bereits beschriebenen Singen am Lagerfeuer sieht man Roock bei einem Kameradschaftsabend. »Im Prinzip läuft der Kameradschaftsabend wie immer ab. Bloß, dass wir halt die Themen entschärft haben, Themen genommen haben, die nicht strafrechtlich relevant sind beziehungsweise die besser rüberkommen«, erklärt Konrad das der Anwesenheit des Filmteams geschuldete Procedere.1247 Seine Stimme ist aus dem Off zu hören, im Bild sieht man derweil die erleuchteten Fenster des Hauses, in dem die Zusammenkunft stattfindet. Es wird weitestgehend vermieden, die anwesenden Neonazis in den Blick zu nehmen. Konrad ist der Einzige, dessen Gesicht gezeigt wird. Dass diese Rücksichtnahme offensichtlich Absprachen mit den Kameradschaftsmitgliedern geschuldet ist, lässt sich aus folgendem Statement folgern. Ebenfalls aus dem Off ist nun eine weibliche Stimme zu hören: »Ich geh deshalb nicht in die Offensive, indem ich mich deutlich vor der Kamera zeige, weil ich anstrebe, Jura zu studieren, um Rechtsanwältin zu werden und dieser Beruf, Rechtsanwältin, soll natürlich auch unserer Sache zugute kommen. Und sollte man mich aber in diesem Film und in diesem Zusammenhang erkennen, wird man es bestimmt zu verhindern wissen, mich diesen Beruf ausüben zu lassen. Das heißt, dass dieser auch nicht der Sache zugute kommen kann. Die sogenannte Demokratie, die hier herrscht, ist eigentlich gar keine Demokratie.«1248

Während ihrer Rede ist der leere Sitzungstisch zu sehen. Er wirkt, als hätten ihn die Anwesenden kurzfristig geräumt, um nicht gefilmt zu werden. Auf seiner langen braunen Platte liegen Papierstapel.Im Hintergrund ist ein Regal voller Pokale zu erkennen. Insgesamt wirkt das Ambiente recht gediegen. Vereinzelt huschen Personen durchs Bild, ein junger Mann, der das Blickfeld der Kamera durchquert, hält sich die Hand vors Gesicht. An dieser Stelle werden die Bedingungen, unter denen der Dreh mit den organisierten Neonazis stattfinden 1245 1246 1247 1248

Ebd., TC: 1:03:12. Ebd., TC: 1:03:26. Ebd., TC: 27:14. Ebd., TC: 27:35.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

konnte, ansatzweise sichtbar. Die mit den zu Filmenden getroffenen Absprachen selbst werden nicht transparent gemacht. Zu sehen sind vielmehr die konkreten Resultate dieser Aushandlung. Erhellend ist in diesem Zusammenhang vor allem die im Anschluss ebenfalls aus dem Off zu vernehmende Diskussion zwischen Konrad und der Sprecherin, bei der es um die Anwesenheit des Filmteams geht. Er fragt, was sie an seinem Vortrag, der allerdings nicht Teil des Filmes war, auszusetzen habe. Sie kritisiert seine Ausführungen als »Gemeckere«, denn wenn er es »schon mit Kamerateam und all dem« mache, solle es »auch handund stichfest« sein. Sie befürchtet, dass wenn »die den Film zeigen, dann gehen sie den bestimmt auseinanderpflücken und die zersetzen den Film und diskutieren ihn«. Konrad rechtfertigt sich nun einerseits damit, dass »die« das sowieso tun würden, andererseits kommt er auf Fragen der Sagbarkeit zu sprechen: »Wenn du das stichhaltig machen willst, wie willst du das machen? Da kommst du schnell in Komponenten rein, die wir gar nicht vor der Kamera erzählen können.« Während ihres Schlagabtausches sind erneut Außenaufnahmen des Hauses zu sehen. In der nächsten Sequenz wird die um den Tisch versammelte Kameradschaft nun doch noch kurz gezeigt. Die Kamera nimmt zuerst Konrad in den Blick und bewegt sich dann den langen Tisch entlang. Etwa 20 meist männliche Personen im Alter zwischen 14 und 30 sind im Raum versammelt. Aus dem Off ist dazu wieder die bereits bekannte Frauenstimme zu hören: »Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit dem Anschluss Mitteldeutschlands an das kapitalistische System der Bundesrepublik Deutschland war und ist wohl eine der entscheidendsten Veränderungen, die sich vollzogen haben. Von einer zugegeben sozial motivierten Vollbeschäftigung in der DDR entwickelten sich die Arbeitslosenzahlen in eine Höhe.«1249

Vor allem die Rede vom »Anschluss Mitteldeutschlands« verweist hier auf den in der extremen Rechten verbreiteten Gebietsrevisionismus: die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Abgesehen von diesen verhältnismäßig harmlosen Sätzen bleiben die weiteren Inhalte des Kameradschaftsabends eine Leerstelle. Zur Sprache kommen vor allem Fragen nach ihrer öffentlichen Kommunizierbarkeit. Den Raum, sein politisches Credo zu verkünden, bekommt Konrad erst im letzten Drittel des Films: Hier erläutert er das Programm des Freiheitlichen Volksblocks: »Wir streben im Prinzip einen dritten Weg an zwischen diesem Kapitalismus, der momentan existiert, und einem Sozialismus, der auch seine Berechtigung hat. Wir streben an, diesen dritten Weg mit autoritären Komponenten zu verbinden.«1250 1249 Ebd., TC: 29:02. 1250 Ebd., TC: 1:03:56.

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Phrasenhaft bezieht er sich hier auf das in der Neonaziszene unter dem Stichwort »Nationaler Sozialismus« populäre Konzept, welches auf den sozialrevolutionären Flügel der NSPAD zurückverweisen soll. Seine Forderungen nach Verstaatlichung industrieller Betriebe und der Banken konnte er bekanntlich nach der sogenannten Machtergreifung 1933 jedoch nicht durchsetzen. An dieser Stelle des Films wird deutlich, dass sich zumindest Konrad positive Effekte von seiner Mitwirkung im Film verspricht. Er versucht seinen Auftritt zu nutzen, um den Freiheitlichen Volksblock vorzustellen und neue Mitglieder zu werben. Ein Anliegen, das, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, zumindest an dieser Stelle durch die Montage konterkariert wird: Ein Kommentar Ronny Gleffes stellt den glatten Phrasen die Praxis rechter Gewalt gegenüber. In ihrer Studie weist Döring auf die Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme mit extrem rechten AkteurInnen hin. Zum einen erachtet sie »Personen mit fester parteipolitischer Einbindung, langjähriger Szenezugehörigkeit oder einer Nähe zu militanten Gruppen als zu ›geschult‹ […], um ein propagandafreies Interview zu führen«.1251 Zum anderen beschreibt auch sie ein tiefes Misstrauen gegenüber Vertreter_innen von Polizei, Medien, Presse und Wissenschaft. Beides lässt sich auch in Neustadt beobachten. So wird nicht nur deutlich, dass die RepräsentantInnen des Freiheitlichen Volksblocks geschult sind – sie streben danach, strafrechtlich relevante Inhalte zu vermeiden –, sondern auch, dass sie mit ihrer Präsenz im Film eigene Ziele verfolgen. So ist es gerade Konrad wichtig, Themen zu wählen, die »besser rüberkommen«. Wie aus dem Statement der angehenden Jurastudentin hervorgeht, herrschen unter den anderen Kameradschaftsmitgliedern große Vorbehalte gegenüber dem Filmvorhaben. Die Sprecherin befürchtet konkrete negative Konsequenzen für ihre berufliche Zukunft, wenn sie in diesem auftauche. Wohl um den Dreh nicht platzen zu lassen, vermeidet es die Kamera weitestgehend, Gesichter in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle werden neben den Grenzen des Sagbaren auch die Grenzen des Zeigbaren deutlich. Diese sind auch eine Konsequenz aus der auf Nähe und Vertrauensaufbau zielenden Arbeitsweise Heises, dessen Interesse ohnehin weniger den politischen Aktivitäten und Weltbildern denn Fragen nach finanziellen und beruflichen Situation, den Zukunftsplänen und dem Liebesleben seiner InterviewpartnerInnen gilt. Anders verfahren hier investigative recherchebasierte Ansätze, bei denen auch mit versteckter Kamera gearbeitet wird. Geht es vor allem um das Denunzieren von extrem rechten Organisationsstrukturen und Aktivitäten, können die Filmschaffenden ohnehin nicht auf eine Mitarbeit der Dargestellten zählen.1252 1251 Döring 2008, S. 32. 1252 Das mitunter komplizierte Procedere der Kontaktaufnahme mit ProtagonistInnen der extremen Rechten wird vor allem in Dokumentarfilmen zum Thema gemacht, in denen die

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Fazit: Weiß-deutsche Befindlichkeiten Sieben Jahre später kehrt Heise für den zweiten Teil der Stau-Trilogie nach HalleNeustadt zurück. Der sozialräumliche Kontext Halle-Neustadt ist von einem starken Rückgang der Wohnbevölkerung geprägt. In langen Sequenzen zeigt Heise den Verfall des Viertels, nimmt verrottende Bahnhöfe und schimmelnde Hausflure und immer wieder graue Plattenbauten in den Blick. Die Kamera fährt über gegen Linke gerichtete Tags und Graffitis an Hauswänden und zeigt (unpolitische) Schmierereien am Bahnhof. Wie bereits sein Vorgänger ist auch Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) von einer depressiven Grundstimmung getragen. Auch im zweiten Teil der Trilogie gilt Heises Interesse vorrangig dem Erleben seiner allesamt weißen, mehr oder weniger offen rechten InterviewpartnerInnen. Obwohl die Kamera zuweilen die Aktivitäten des Neonazifunktionärs Konrad Roock in den Blick nimmt, hat sich der Fokus auf die Familie Gleffe verschoben. Die im Film zentrale Frage, wie es sich in Halle-Neustadt, einem Ort der lange Zeit als Brennpunkt rechter Aktivität galt, lebt, wird keiner potenziell von Rassismus und rechter Gewalt betroffenen Person gestellt. Informationen über die Zahl und Verbreitung rechter Gewalttaten oder die Frage nach der Präsenz der extremen Rechten, mit der von den Interviewten geschilderte Vorkommnisse kritisch eingeordnet werden könnten, werden ebenfalls nicht geliefert. Eine solche Einordnung fehlt auch für die Situation der frühen 1990er Jahre, in denen Interviewpartner Ronny als gewalttätiger Neonazi aktiv war. Dessen euphemistische Schilderungen der damaligen Stimmung wie auch seiner Taten bleiben ebenso unkommentiert wie unkorrigiert. Das Interview dreht sich vor allem um seine daraus resultierenden Schulden. Filmenden einen Überblick über verschiedene extrem rechte Organisationen, ihre Inhalte und Strukturen bieten und versuchen, mit deren Führungspersonal in Kontakt zu treten. So begibt sich etwa der schweizerische Dokumentarist Daniel Schweizer in White Terror (CH, D, FR 2005) auf die Spuren des neonazistischen Videomagazins Kriegsberichter, laut dessen Macher eine Art rassistisches MTV »für bereits Bekehrte«. Wiederholt werden dabei Schweizers mitunter scheiternde Bemühungen, einen Kontakt herzustellen, sowie die Drehbedingungen selbst zum Thema gemacht. So wird etwa gezeigt, wie sein Vorhaben misslingt, die Anführer des amerikanischen Flügels der »White Power«- Bewegung zu interviewen. Bei einigen konspirativen Anlässen ist die Kamera nicht erwünscht, wie bei dem vergeblichen Versuch, ein Konzert der russischen Neonaziband Kolovrat zu filmen. (White Terror, TC: 1:09:59.) Schweizers Selbstinszenierung als investigativer Journalist auf gefährlichem Terrain hat jedoch den unbeabsichtigten Nebeneffekt, extrem rechte Selbstdarstellungen als mächtig und angsteinflößend weiterzutransportieren. Mo Asumang dokumentiert das Scheitern ihrer Versuche, als Schwarze Frau mit den Teilnehmenden eines Aufmarsches der NPD ins Gespräch zu kommen, jedoch eher zu einer Demaskierung der Neonazis beiträgt, die es augenscheinlich kaum schaffen, der Filmemacherin in die Augen zu sehen. Vgl. Kapitel 4.6 Mo Asumang und Michel Abdollahi: Rassismuserfahrene Filmschaffende über die extreme Rechte.

Glaube, Liebe, Hoffnung. Leipzig Dez. ’92–Dez. ’93

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Zeigte der erste Teil der Trilogie Rassismus lediglich innerhalb der Neonaziclique – ausser dieser und ihren Eltern wurde niemand befragt –, nimmt der zweite Teil dessen weite Verbreitung stärker in den Blick: »Bei den Dreharbeiten stellte sich sehr schnell heraus, dass die Art zu denken, mit der wir vor sieben Jahren in der rechten Szene konfrontiert waren, inzwischen Allgemeingut geworden ist«, merkte Heise an.1253 Jeanette, Danny sowie vier Männer an einem Stammtisch assoziieren den Zuzug von Migrant_innen und People of Color mit dem Niedergang ihres Viertels. Da diese Äußerungen von Personen getätigt wurden, die nicht der extremen Rechten angehören, zeugen sie von einem gewissen rassistischen Konsens, der jedoch ausschliesslich bei Arbeitslosen (Danny und die Männer am Stammtisch) und Angestellten mit geringem Einkommen (Jeanette) verortet wird. Dargestellt als Problem der sozial Deklassierten, was als Nebeneffekt ein wohl als weiß und bildungsbürgerlich impliziertes Dokumentarfilmpublikum entlastet, bleiben rassistische Statements unkommentiert stehen, werden weder durch Fragen des Filmemachers, noch durch die Montage problematisiert geschweige denn analysiert. Stattdessen stellt der Film Rassismus gemäß der Deprivationsthese in einen Begründungszusammenhang mit Perspektivlosigkeit, verortet entsprechende Statements zwischen Bildern von Verfall und Tristesse. Fragen nach von den InterviewpartnerInnen verinnerlichten Dominanzideologien, etwa danach, warum immer »die Andersfarbigen zuerst dran« sein sollten, werden nicht gestellt.

6.3

Neonaziporträts: Glaube, Liebe, Hoffnung. Leipzig Dez. ’92– Dez. ’93 (R: Andreas Voigt, D 1994)

In seinem dritten Leipzig-Film Glaube, Liebe, Hoffnung begleitet Andreas Voigt die Leipziger Neonaziskinheads Andr8, Dirk und Janine von Dezember 1992 an ein Jahr lang mit der Kamera.1254 Ein weiterer Interviewpartner ist Papa, ebenfalls Skinhead, bei dem jedoch erst im Verlauf der Handlung deutlich wird, dass er sich als linker SHARP-Skin1255 versteht, der mit Rassisten nichts (mehr) zu tun haben will.1256 Der von der kulturellen Filmförderung des Bundesministeriums des Innern und der Länder Brandenburg und Sachsen (mit-)finanzierte Dokumentarfilm wurde 1994 auf dem Straßburger Filmfestival mit dem Grand Prix 1253 Pehnert 2000. 1254 Die Vorgängerfilm Leipzig im Herbst (DDR 1989) und Letztes Jahr Titanic (1991) nehmen die Demonstrationen vom Herbst 1989 und die aus den Umbrüche in Leipzig resultierenden Lebensentscheidungen dreier Individuen in der Blick. 1255 SHARP steht für Skinheads against racial predjudice. Vgl. Farin 1997, S. 53. Pötsch 2002, S. 49. 1256 Papa war bereits Interviewpartner in Letztes Jahr Titanic (R: Andreas Voigt, D 1991).

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ausgezeichnet.1257 Als Koproduktion zwischen A Jour Film und dok Film Babelsberg, die sich nach dem Verkauf der Berliner Studios DEFA an die KirchGruppe gründete, bezeichnet Helen Hughs Glaube, Liebe, Hoffnung als Voigts letzten DEFA-Film.1258 Gedreht zwischen Dezember 1992 und Dezember 1993 entstand der Film in einer Zeit, in der rechte Gewalttaten in Leipzig deutlich zunahmen. Wie die Aktivist_innen der Kampagne Rassismus tötet1259 feststellen, wurden diese dort seit der Deutschen Wiedervereinigung nicht nur häufiger, »sondern […] auch zunehmend militanter und gefährlicher«.1260 Insbesondere im August 1992 infolge des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, das »auch Leipziger Nazis als Vorbild« diente – also einige Monate vor Voigts offiziellem Drehbeginn im Dezember 1992 –, häuften sich in der sächsischen Stadt rechte – insbesondere rassistische – Angriffe: Neonazis attackierten Wohnheime für Geflüchtete in den Leipziger Stadtteilen Markkleeberg, Grünau und Holzhausen mit Brandsätzen. Vor allem in Grünau hatten die Angreifenden dabei weite Teile der Anwohnerschaft auf ihrer Seite.1261 Weitere Angriffsziele waren linke Jugendclubs und 1257 Berliner Film-Blog des BAF e. V. 2011. 1258 Vgl. dazu: Hughes 1999, S. 286. 1259 Die Kampagne Rassismus tötet gründete sich 2012 anlässlich des 20. Jahrestags des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen » Anspruch und Ziel ist es, Gegeninformation und Gegenmacht zum gesamtgesellschaftlichen Rassismus aufzubauen.Kampagne Rassismus tötet o. J. 1260 Kampagne Rassismus Tötet 2012. 1261 »Das Flüchtlingsheim in Markkleeberg wurde am 26. August 1992 in den frühen Morgenstunden von Neonazis angegriffen. Gezielt fuhren sie mit ihren Autos vor und warfen Brandsätze auf das Gelände. Dieses Szenario wiederholte sich in den folgenden Nächten, ohne dass die Polizei einschritt. Der 28. August 1992 wurde zur Horrornacht für Migrant_innen und Antifaschist_innen. Wenig später gelang es etwa 100 Nazis nichtsdestotrotz das Flüchtlingsheim in Grünau anzugreifen. Mehrere Hundertschaften der Polizei konnten verhindern, dass Schlimmeres passiert, zumindest an diesem Ort. Doch die Nazis ließen nicht locker : Wenig später in dieser Nacht brannten 30 Nazis das Flüchtlingslager in Holzhausen nieder und zündeten eine Handgranate. Die Flüchtlinge konnten entkommen und wurden von einigen Anwohner_ innen versteckt. Die Nazis, unbehelligt von der Polizei, trafen sich nach diesen ›Erfolgen‹ an der Tankstelle in der Marschnerstraße, bewaffneten sich dort mit mit Benzin gefüllten Flaschen und fuhren im Konvoi in Richtung Connewitz. Diesmal war das Markleeberger Flüchtlingsheim Ziel der Brandsätze. Die Nacht wurde mit dem Wurf von Brandflaschen auf das Dach des Kulturzentrums Conne Island beendet. Das Feuer konnte rechtzeitig gelöscht werden. Die Flüchtlinge aus dem Lager in Holzhausen wurden nach dem Überfall am 28. August 1992 in ein ehemaliges Kulturhaus in Lindenthal bei Wahren gebracht. Dort sammelten sich bereits am nächsten Tag wieder Nazis und warfen Steine gegen das Gebäude. Erst als das Auto eines Flüchtlings im Flammen aufging, vertrieb die Polizei die Angreifer_innen. Zwei Tage später wurden die Flüchtlinge auch von dort weggebracht. Der damalige Leipziger Ordnungsdezernent Hans-Eberhard Gemkow zeigte sich entsetzt über die rassistisch aufgeladene Stimmung in der Stadt. Bei einem Besuch in Leipzig-Grünau aus Anlass der Angriffe in der AugustNacht, schlugen ihm Hass und Drohungen entgegen. ›Ganz normale Bürger_innen‹ be-

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Kulturzentren. Die Eskalation rechter Gewalt vom August 1992 sowie die in weiten Teilen der Bevölkerung herrschende rassistische Grundstimmung kommen im Film jedoch nicht zur Sprache.Dennoch klingen die Themen Gewalt und Rassismus an mehreren Stellen an. Kritiker Hans-Jörg Rother bescheinigt Glaube, Liebe, Hoffnung »kein Film über junge Neonazis […], sondern über die (ost-)deutsche Situation der Gegenwart« zu sein.1262 Die sozialen Umbrüche und Verwerfungen der Wendezeit sind im Film ein zentrales Thema. Abgesehen von Dirk, der während der gesamten Drehzeit wegen der Beteiligung an einem rassistischen Angriff im Gefängnis sitzt, sind die Hauptfiguren allesamt – zumindest streckenweise – von Arbeitslosigkeit betroffen. Zur von massiver Arbeitslosigkeit geprägten Situation in Leipzig äußern sich zudem entlassene Arbeiter und der Immobilienunternehmer Jürgen Schneider. Der westdeutsche Bauunternehmer repräsentiert im Film diejenigen, die von den mit dem Regimewechsel einhergehenden Privatisierungen profitierten. Schneider war bekannt dafür, historische Gebäude in Innenstadtlagen aufzukaufen und dort Einkaufspassagen zu eröffnen. Er sorgte für einen Skandal um den Film, der diesem jedoch letztlich mehr Aufmerksamkeit bescherte.1263 Schneiders Welt der schicken Einkaufszentren, der noblen Bars und teuren Geschäfte wird wiederholt in einen Kontrast zu den prekären Lebensumständen der Hauptfiguren gesetzt. Gedreht in Schwarz-weiß, vermittelt der Film eine düstere Zukunftsprognose: »Alte Werte sind verschwunden, neue Beziehungen zerbrechen im alltäglichen Existenzkampf, bessere Aussichten gibt es kaum. Was bleibt dieser Generation in einer Gesellschaft, die sie nicht braucht?«, fragt Voigt.1264 Der an die christlichen Tugenden gemahnende Titel Glaube, Liebe, Hoffnung steht damit in einem Spannungsverhältnis zum Gezeigten. Er verweist geradezu zynisch auf das Gegenteil.

kundeten, dass sie selbst Hand anlegen würden, wenn die Flüchtlinge weiter in der Nachbarschaft verbleiben würden.« Kampagne Rassismus Tötetet 2012, S. 8. 1262 Rother 1994, S. 17. 1263 Weil er entgegen den Aussagen der Produktionsfirma angeblich eine Abnahme mit dem Team vereinbart und im Glauben, »an einem positiven Film« mitzuwirken gehandelt habe, erwirkte er eine einstweilige Verfügung vor dem Landgericht Leipzig. In deren Folge mussten die Sequenzen, in denen der Bauunternehmer auftaucht, geschwärzt werden. Erst nachdem Schneider, nach einer Milliardenpleite wegen Betrugs gesucht, abtauchte, wurde das Bilderverbot nach einem langwierigen Verfahren aufgehoben. Vgl. dazu: Reinecke 1994, S. 36. Löser 1994, S. 23. 1264 Glaube, Liebe Hoffnung, Basis-DVD, Booklet, S. 4.

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Aufbau und Struktur Der Film besteht zum größten Teil aus Interviews mit den vier Hauptfiguren Dirk, Janine, Andr8 und Papa. Neben ihnen und weiteren Neonazis kommen Klaus und weitere, aus ihren ursprünglichen Jobs entlassene Arbeiter, eine Waffenverkäuferin sowie Schneider, kurz auch seine Ehefrau, zu Wort. Diese werden von Impressionen der Stadt Leipzig gerahmt. Die Schönheit der mit 35 Millimeter gedrehten Schwarz-Weiß-Bilder brachte dem Film laut Helen Hughes den Vorwurf ein, artifiziell und manieristisch zu sein.1265 Voigt begründet diese ästhetische Entscheidung damit, den naturalistischen Effekt des Farbfilms bewusst vermeiden zu wollen. Er bekennt sich stattdessen zur Subjektivität: »Colour automatically creates a certain naturalism, and naturalism in documetary film is something that I cannot stand. It is something which is far from my personal taste, because it isn’t reality which I am experiencing. Film is an image, is a very subjective image.«1266 Der Filmemacher selbst ist nicht im Bild zu sehen. Wie auch Thomas Heise verzichtet Voigt sowohl auf einen Voiceover-Kommentar, als auch auf jegliche Text- und Titeleinblendungen mit denen Kontextinformationen wie die Namen der Protagonisten, ihrer Organisationen oder weitere Fakten zu den im Film angerissenen Geschehnissen hätten vermittelt werden können, etwa zu den rassistischen Angriffen auf Geflüchtete in Eilenburg, die neben anderen Delikten Grund für Dirks Inhaftierung waren. Die Verwendung einer subjektiven Voiceover des Filmemachers wäre ein Mittel gewesen, über die eigene Haltung, Widerstände und Zugänge zu reflektieren. Hughes sieht in der Entscheidung gegen eine eindeutige Positionierung via Off-Kommentar »a further dilemma confronting the post-DEFA documentary. Against the background of a plurality of political positions, opinions and voices a refusal to take sides can smack of indifference or indecision where before the Wende the absence of comment could be read as clear position in and of itself«.1267

Sie befürchtet, dass der Versuch, durch den Verzicht auf eine Voiceover der geforderten Eindeutigkeit eines klar definierten Wertesystems der DDR zu entgehen, um jenseits staatssozialistischer Doktrin Raum für (widerständige) Interpretationen zu lassen, nach Ende der Zensur zur Beliebigkeit verkommen könne.1268 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Voigt in Glaube, Liebe, Hoff1265 1266 1267 1268

Vgl. dazu: Hughes 1999, S. 298. Andreas Voigt zit. n. Hughes 1999, S. 298. Vgl. dazu: Hughes 1999, S. 296. Die Abwesenheit von Sprache als Strategie der Verweigerung angesichts der Zensur zeigt Reinhild Steingröver auch im Werk Jürgen Böttchers und Thomas Heises auf. Vgl. Steingröver 2014, S. 197.

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nung auch ohne Voiceover sehr wohl Stellung bezieht, wenn auch keine rassismuskritische. Die Positionierung des filmischen Diskurses zum Gezeigten und damit auch seine Deutung erfolgt zum einen über die Fragen und die raren Statements des Filmemachers, die an einigen Stellen aus dem Off zu hören sind. Seine Fragen zielen größtenteils auf die Themenfelder Liebe und Beziehung sowie auf die Zukunftspläne der Porträtierten. An anderen Stellen befragt Voigt seine Interviewpartner_innen in suggestiver Weise zum Thema Gewalt. »Halb ist er Reporter, halb Seelsorger ; manchmal mischt sich darein auch der unangenehme Tonfall eines Verhörs«,1269 beschreibt Rezensent Stefan Reinecke Voigts Haltung zu seinen Protagonisten. Zum anderen erfolgt eine deutliche Positionierung über die Bild- und TonMontage: Neben den meist in privaten Räumen gedrehten Interviews arbeitet der Film mit Einstellungen, deren Bilder und Töne die Lebenssituation der Hauptfiguren versinnbildlichen (sollen). Etwa, wenn Papa seine Runden durch die Einöde der von ihm als Security bewachten verwaisten Gewerbegelände dreht. Die Interviews und Szenen mit den vier Hauptfiguren werden immer wieder von Impressionen der sich wandelnden Stadt und Interviews mit weiteren Figuren gerahmt. Voigt befragt etwa die mit dem Rückbau ehemaliger Industrieanlagen beschäftigten Bauarbeiter zu ihrer beruflichen Perspektive oder zeigt, wie Arbeiter Klaus eine leerstehende Fabrikhalle fegt, in der er zu DDR-Zeiten zusammen mit tausend anderen Menschen gearbeitet hat. In einer späteren Sequenz ist dort Kunst ausgestellt. Nicht minder bedeutungsgeladen ist eine Reihe weiterer Impressionen der sich wandelnden Stadt: Man sieht, wie Arbeiter Industrieanlagen abreißen. Die Kamera fährt durch leere Fabrikhallen und hell erleuchtete Einkaufspassagen, nimmt teure Geschäfte und ein dort ausgestelltes Luxusauto in den Blick. Zwischen die Interviews montiert, lassen sich diese Szenen als visuelle Kommentare zu den vorherigen Statements verstehen. So folgen etwa auf Klaus’ Appell, gegen die Entlassungen auf die Straße zu gehen und zu »kämpfen«, Bilder eines einsamen Karnevalsumzugs, der am Leipziger Völkerschlachtdenkmal vorbeizieht. Auch Papas Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft, in der irgendwann alles wieder »wie früher« wird und in der sich »die Menschen untereinander helfen«,1270 wird von Aufnahmen einer McDonald’s-Filiale konterkariert.1271 Nachdem Andr8 ein von rassistischen Vernichtungsfantasien strotzendes Lied zum Besten gegeben hat, wird jedoch ein potenziell von Rassismus betroffener Mann gezeigt. Er steht in einer düsteren Unterführung, den Blick starr auf einen aushängenden Fahrplan gerichtet, 1269 Reinecke 1994, S. 36. 1270 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 1:02:42. 1271 Ebd., TC: 1:17:18.

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als sich ihm ein martialisch gekleideter Skinhead nähert und an ihm vorbeigeht. Die kurze Sequenz ist im Übrigen die einzige, in welcher von Rassismus Betroffene zumindest kurz im Bild sind. Immer wieder stellt der Filmemacher den Verlierern der Wende in Kontrastmontagen die durch Schneider personifizierte Gewinnerseite gegenüber. Sequenzen, in denen Schneider etwa bei der feierlichen Eröffnung nobler Bars und Geschäfte gezeigt wird – sehr symbolträchtig die Mephisto-Bar, deren Name auf die Figur aus Goethes Faust anspielt –, unterbrechen die Darstellung der prekären Lebensumstände aller anderen Figuren.1272 So folgen etwa auf eine Szene, in der Papa aus seinem lückenhaften Lebenslauf vorliest, Bilder von der Ankunft der Schneiders am Leipziger Flughafen. In Abendgarderobe läuft das reiche Paar über das Rollfeld. Im Anschluss sieht man Janine in einer Schlange vor dem Arbeitsamt. Der Film verzichtet auf extradiegetische Musik. Er arbeitet jedoch an mehreren Stellen mit überlappendem Ton, dem ebenfalls eine Kommentarfunktion zugewiesen wird. So wird der Rückbau verfallener Industrieanlagen, deren zerbrochene Fenster an Bilder zerbombter Städte gemahnen, mit fröhlicher Akkordeonmusik untermalt. Eine zynische Kommentarfunktion hat Musik auch an anderen Stellen: Nachdem Klaus über seine baldige Arbeitslosigkeit gesprochen und Andr8 auf den Bildschirm eines Ballerspiels gestarrt hat, erklingt in einer Disko der Titel Go West von den Pet Shop Boys.1273 Wenn Janine bei ihrem neuen Job an der Bar einer Diskothek gezeigt wird, ist dazu der Song Happy Nation zu hören.1274

Rechte Gewalt Konkrete, von Voigts Interviewpartner_innen begangene Gewalttaten kommen zumindest ansatzweise in den beiden Szenen zur Sprache, in denen der Filmemacher seine Hauptfigur Dirk nach den Gründen seiner Inhaftierung, später Matze, einen weiteren Neonazi, nach dem Ausgang seines Verfahrens befragt. Dirk sitzt unter anderem wegen der Beteiligung an rassistischen Angriffen auf Geflüchtete in Eilenburg ein. Im Film ist jedoch weder über diese noch über weitere, von den Interviewten begangene rechte Gewalttaten etwas zu erfahren. Da der Filmemacher seine InterviewpartnerInnen nicht innerhalb der extremen Rechten verortet, geschweige denn, dass sie nach ihren politischen Aktivitäten befragt würden, geht aus dem Film nicht hervor, wie tief sie in entsprechende 1272 Ebd., TC: 43:37. 1273 Ebd., TC: 1:06:13. 1274 Ebd., TC: 51:31ff.

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Organisationsstrukturen eingebunden sind. Handelt es sich bei ihnen um MitläuferInnen oder um organisierte Neonazis? Bei Dirk – sein Nachname wird weder im Film selbst noch im Abspann genannt – handelt es sich um Dirk Zimmermann, der eine zentraler Führungsfigur der 1994 verbotenen Freiheitlichen Arbeiter Partei (FAP) war.1275 Diese rekrutierte ihre Mitglieder »größtenteils aus der neofaschistischen Skinhead-Subkultur«1276 und galt bis zu ihrem Verbot im Februar 1995 als »eine der bedeutendsten Nachwuchsorganisationen des militanten Neofaschismus«.1277 Bei Andr8 handelt es sich um Andr8 Rother. Er spielte bei der Neonaziband Toitonen, deren Mitglieder sich aus dem Umfeld der Völkischen Front sowie der FAP rekrutierten.1278 Beide Figuren sind also organisierte Neonazis, die fest in der Neonaziszene verankert sind. Explizit kommt das Thema rechte Gewalt in folgender Szene zur Sprache. Voigt fragt Dirk nach den Gründen für seine Inhaftierung:1279 Eingeleitet von Aufnahmen, in denen Janine durch die Flure des Arbeitsamts läuft, beginnt die Szene mit einer Einstellung, die Dirk in Rückenansicht in seiner Zelle zeigt. Er sitzt am Schreibtisch und hört Musik.1280 Als Voice-over ist dazu Janines Stimme zu hören, die aus einem seiner Liebesbriefe vorliest: »Meine geliebte Janine, heute ist wieder eine Woche der Einsamkeit und Sehnsucht nach dir vergangen.«1281 In der nächsten Einstellung ist die Lesende selbst in einer Halbtotalen zu sehen. Sie sitzt gegenüber der Kamera an einem Couchtisch, das Gesicht über den Brief gebeugt. Ihr Outfit – sie trägt Jeans und ein weites Sweatshirt – verweist nicht auf ihre Szeneangehörigkeit. Lediglich ihre Kurzhaarfrisur mit langen Koteletten gibt einen Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zur Skinhead-Subkultur. Im Brief geht es derweil um Dirks Heiratsantrag und seine Irritation über ihr Schweigen. Voigt fragt sie im Anschluss, ob sie Dirk liebe und was sie an ihm möge. Ersteres bejaht sie. Als sie die zweite, tatsächlich sehr offene Frage nicht beantworten kann, fordert Voigt sie auf, ihre vage Antwort »weiß nicht, so wie er eben ist« zu konkretisieren. Sie beschreibt ihn nun als »lebenslustige« Person, die gut mit anderen auskomme. Eingeleitet durch seine liebevollen Worte und Janines Beschreibung wird zurück zu Dirk geschnitten. Auch er schaut nun in die Kamera. Wenn er, nun befragt zu seinem Outfit, stolz erzählt, dass seine 1275 Vgl. Antifaschistisches Autorenkollektiv 1996a, S. 171; Mond8sir 1995, Vogel 1997. 1276 Bauerschmidt, Brandt, Jentsch, Ohrowski 2005b. Vgl. auch Antifaschistisches Autorenkollektiv 1996a, S. 170f. 1277 Antifaschistisches Autorenkollektiv 1996a, S. 170. 1278 Zu den Toitonen findet sich eine Reihe von Bandinterviews in neonazistischen SkinheadFanzines. Vgl: Interview Toitonen (1993). Toitonen o. J., S. 3. 1279 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 18:48f. 1280 Der Text ist akustisch schwer zu verstehen. Verwendete Begriffe wie »Feindesland« legen jedoch die Vermutung nahe, dass es sich um einen extrem rechten Liedermacher handelt. 1281 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 19:10f.

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Fleckentarnhose »ein Nachbau von ’ner Waffen-SS-Tarnhose« sei, kommt sein Neonazismus deutlich zum Ausdruck.1282 Auf Voigts Frage, was man ihm eigentlich vorwerfe, gibt er an, »genaue Details […] noch nicht nennen« zu können. Er habe »seine Anklageschrift noch nicht erhalten, aber im Moment dreht es sich um Landfriedensbruch wegen einer Auseinandersetzung mit Asylbewerbern in Eilenburg«.1283 Als Voigt wissen möchte, was dort gewesen sei, spielt er die Tat herunter :

Dirk in seiner Zelle

»Ja, wir hatten halt ’ne Auseinandersetzung mit Jugoslawen oder sowas vor ’ner Diskothek. Gegenüber war ein Ausländerwohnheim und da ist es dann zu ’ner ziemlich geringen Auseinandersetzung gekommen, ziemlich geringen. Es war nicht viel. Wir sind dort mit 70 Jugoslawen zusammen gestoßen, circa.« – »Wer ist wir?«, fragt Voigt nach. Doch Dirks Antwort »einige Leipziger und einige Eilenburger Kameraden, die sich in der Disko vergnügt hatten«, ist abermals wenig aufschlussreich. Es ist jedoch wenig verwunderlich, dass sich der ideologisch gefestigte Neonazi, der sich zudem noch im laufenden Verfahren befindet, vor der Kamera keine Details preisgibt, die strafverschärfend wirken könnten.1284 Am Anfang des Interviews ist zudem ein Schließer mit im Bild, der 1282 Ebd., TC: 21:16. 1283 Ebd., TC: 21:20f. 1284 Dies gibt selbst Dirk zu, der am Ende des Films aus der Untersuchungshaft entlassen wird und, von Voigt nach Schuld und Verantwortung gefragt, entgegnet, dass er »sicher, […] Fehler gemacht« habe. Da er noch auf seinen Prozess warte, sei es jedoch »zu früh und zu ungünstig« von »vorhandenen oder nicht vorhandenen Schuldgefühlen« zu reden. Ebd., TC: 1:18:40.

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wohl als Auflage der Haftanstalt während des in Dirks Zelle geführten Gesprächs ebenfalls zugegen ist. Auch seine Präsenz mag dazu beigetragen haben, den Interviewten von unbedachten Äußerungen abzuhalten.1285 Problematisch ist vielmehr, dass Dirks Version unwidersprochen bleibt. Auch wenn Voigt, der Dirk nach den Ursachen »diese[r] Gewalt« fragt, die Geschehnisse als »Übergriffe auf das Ausländerheim« benennt, gilt sein Interesse nicht den konkreten Ereignissen.1286 Die Zuschauenden erhalten weder Informationen über die Abläufe dieser »Auseinandersetzung«, noch über die Zahl der Verletzten oder der beteiligten Neonazis. Laut Presseberichten wurde »das Asylbewerberheim in Eilenburg am Abend des 4. Oktober 1992« von »etwa 35 Skinheads und rechte[n] Sympathisanten« überfallen.1287 Sie versammelten sich vor der Wohnunterkunft und grölten »›Deutschland den Deutschen‹ und ›Ausländer raus‹«. Erst nachdem »20 Glatzen« versucht hätten, das Heim zu »stürmen«, hätten sich die Angegriffenen gewehrt.1288 Sie »lieferten sich mit den Rechten eine erbitterte Straßenschlacht«, bei der es »Verletzte auf beiden Seiten« gegeben hätte.1289 »Insgesamt 14 Angeklagte aus Eilenburg und Leipzig haben sich wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu verantworten«.1290 Auch »der FAP-Chef von Leipzig, Dirk Zimmermann« würde vor Gericht stehen.1291 Der Angriff wird weder hier noch an anderen Stellen des Films in den Kontext des zu Beginn dieses Kapitels erwähnten massiven Anstiegs rechter Gewalt der frühen 1990er Jahre gestellt. Stattdessen wird im Anschluss an Dirks Schilderungen zurück zu Janine geschnitten. Voigt spricht mit der jungen Frau darüber, dass sie nun »lange allein sein«1292 werde und befragt sie nach ihren Zukunftsplänen mit Dirk. Sie gibt an, nach dessen Entlassung »ein bürgerliches Familienleben mit allem Drum und Dran« führen zu wollen. Die Fragen, die Voigt an Janine und Dirk stellt, evozieren eine klare Rollentrennung: Während Dirk immerhin nach den Gründen für seine Inhaftierung befragt wird, interessiert sich Voigt im Gespräch mit Janine in erster Linie für den Themenbereich Liebe 1285 Das von Judith Keilbach beschriebene Schweigen der Täter in Dokumentationen über den Nationalsozialismus, die wenn, dann falsche oder strategische Aussagen vor der Kamera machen, lässt sich auch bei ihren heutigen Gesinnungsgenossen aufzeigen. Vgl.: Keilbach 2003, S. 163. 1286 »Du hast vorher von diesen Übergriffen auf das Ausländerheim gesprochen. Woher kommt für dich ganz persönlich eigentlich diese Gewalt?«, Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 23:16. 1287 SG 1993a. 1288 SG 1993b. 1289 SG 1993a. 1290 EB 1993. 1291 SG 1993a. 1292 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 22:18ff.

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und Beziehung. Die junge Frau wird an keiner Stelle nach ihren politischen Einstellungen respektive danach gefragt, wie sie selbst zu den rassistischen Gewalttaten, deretwegen ihr Partner inhaftiert ist, steht. Reduziert auf die Rolle als Dirks Partnerin erscheint sie somit nicht als eigenständiges politisches Subjekt, obwohl auch sie selbst wenig später umgeben von Insignien des Neonazismus gezeigt wird. Unreflektiert übernimmt der Film damit das von Michaela Köttig und anderen Forschenden kritisierte »übliche Klischee von der unpolitischen Frau«,1293 das sich in den meisten Filmen über Neonazismus aufzeigen lässt und entsprechend von diesen fortgeschrieben wird.1294 Voigts entpolitisierende Haltung seiner Protagonistin gegenüber wird besonders in einer späteren Szene deutlich. Er fragt Janine, ob es ihr Angst mache, wenn Dirk so rede.1295 »Warum?«, fragt die Neonazistin zurück und schüttelt verständnislos den Kopf. Leider bleibt Voigt seiner Interviewpartnerin diese Antwort schuldig. Der nächste Schnitt führt zurück zu Dirk, der den »Bonner Politikern« die Schuld an der Gewalt gegen Geflüchtete zuweist.1296 Diese hätten »bis auf die letzte Minute gewartet, bis es dann halt eskaliert ist«. Dies sei seiner Meinung nach »ganz natürlich und ganz normal. Ob’s richtig ist, ist dann erstmal zweitrangig. Meiner Ansicht nach greift das Volk die unterste Stufe an, die für das Volk erreichbar ist und das sind die Asylbewerber. Die Asylanten. Die Politiker, die die eigentlichen Schuldigen sind an diesem Debakel, die haben ’ne Leibwache um sich gescharrt und an die kommen wir leider nicht ran. Zumindest noch nicht.«1297

Dirk scheint hier auf die wenige Monate zurückliegenden rassistischen Angriffe anzuspielen. Darauf, den politischen Kontext mit dem ideologisch gefestigten Neonazi zu diskutieren, will sich Voigt jedoch nicht einlassen und entgegnet: »Aber ihr übt diese Gewalt aus, also die Politiker sind erstmal das eine, aber ihr übt sie aus.« Dirk antwortet: »Wir üben die Gewalt aus, ja sicher. Aber die Ursachen, die Wurzeln der Gewalt liegen nicht bei uns.« Diese Äußerung bleibt nicht nur unwidersprochen stehen. Sie wird auch in einen Zusammenhang mit dem Regimewechsel gestellt: Das letzte Wort wird Janine zugewiesen, die in der folgenden Sequenz gefragt wird, was sich im Gegensatz zu früher, gemeint ist die DDR, verändert habe. Sie beklagt sich über den fehlenden Zusammenhalt. Heute wäre »alles zerbröckelt. Jeder ist sich selbst der nächste«, was sie »traurig« finde.1298 Während dieses Interviews wird in Detailaufnahmen eine Reihe von 1293 1294 1295 1296 1297 1298

Vgl. dazu auch: Köttig, Kenzo 2011, Rommelspacher 2006, S. 94. Vgl. Jungk 1996, S. 25; Stegmann 2010, S. 219f. Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 1:17:23. Ebd., TC: 23:16ff. Ebd.; TC: 23:28. Ebd., TC: 25:30.

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Fotografien in den Blick genommen. Sie zeigen Dirk und Janine umgeben von Insignien des Nazismus: Über einem Stuhl hängen Hitlerbild und Hakenkreuzfahne.1299 In einer Halbnahen zurück auf Janine geschnitten wird ein Poster sichtbar, das hinter ihr an der Wand hängt. Es zeigt zwei Wehrmachtsoldaten. Derweil fragt Voigt, ob sie sich allein fühle, was die Neonazistin bejaht. Geht es darum, durch das Crosscutting zwischen Dirk und Janine auf die Gleichzeitigkeit zu verweisen, mit der jemand militanter Neonazi sein und Partnerin nebst bürgerlicher Familienpläne haben kann? Soll damit gar eine Widersprüchlichkeit aufgezeigt werden? Oder soll behauptet werden, dass Dirk eigentlich ein liebevoller Mensch sei, den nur die äußeren Umstände zum Gewalttäter werden ließen? Nicht zuletzt wird durch die abschließende Interviewpassage mit Janine die von Dirk begangene und befürwortete rechte Gewalt in einen Zusammenhang mit den Verwerfungen der Wendezeit gestellt. Dirks These, dass die »Wurzeln der Gewalt« nicht bei den Neonazis lägen, wird damit indirekt bestätigt. Dieser Eindruck wird auch durch die Rahmung des Doppelinterviews bestärkt, in dessen Anschluss die Welt der »Wendegewinner« plakativ in Szene gesetzt wird: Die Kamera fährt nun durch die elegante Mädlerpassage, eine von Schneiders Leipziger Investitionsprojekten. Sie nimmt das erleuchtete Schaufenster einer Joop-Boutique in den Blick und kommt vor einem teuren Auto zum Stehen, das dort, bewacht von zwei Securities, ausgestellt ist. Eine ähnliche Argumentationsstruktur zur (De-)Thematisierung der seitens der Interviewten begangenen rechten Gewalttaten lässt sich auch im Gespräch mit Matze aufzeigen. Matze, ein junger Mann mit rundem Gesicht und lockigen Haaren, der das erste Mal als Gitarrist von Andr8s Band zu sehen war,1300 wird von Voigt nach dem Ausgang seines Prozesses befragt.1301 Wegen »Raub, Körperverletzung und Einbruch, alles im schweren Fall« angeklagt, wurde er zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Es stünden, wie er konstatiert, jedoch »noch sechs Landfriedensbrüche zur Verhandlung« an. Auch hier werden die Zuschauenden im Unklaren darüber gelassen, an welchen Gewalttaten er sich beteiligt hat. Der Filmemacher fragt nicht nach, wofür er die sechs Anzeigen wegen Landfriedensbruch bekommen hat – immerhin ein Straftatbestand, der meist in einem Zusammenhang mit aktiver Beteiligung an gewalttätigen Ausschreitun gen steht. Auch die Frage nach den Opfern seiner Taten, wen er ausgeraubt und schwer verletzt hat, wo er eingebrochen ist und was all dies mit seinem Neonazismus zu tun hat, den er in einer vorherigen Sequenz durch »Sieg Heil«Grölen im Proberaum unter Beweis gestellt hatte, scheint für Voigt nicht von 1299 Ebd., TC: 24:58ff. 1300 Ebd., TC: 43:40. 1301 Ebd., TC: 52:12.

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Interesse zu sein.1302 Stattdessen geht es Voigt auch hier um »Gewalt« an sich. So fordert er seinen Interviewpartner auf, zu beschreiben, »woher das mit der Gewalt« käme und wie diese »in ihn reingekommen« sei. Mit dieser sehr offenen Frage kann der Neonazi jedoch nichts anfangen. Er wisse nicht, was Voigt meine. Sie sei »schon immer in ihm drinne gewesen, die Gewalt« entgegnet er. Durch Alkohol werde seine Gewaltbereitschaft zusätzlich verschärft. Gewalt erscheint hier als Normabweichung. Die Frage nach ihrer Motivation und ihrer Zielrichtung wird nicht gestellt. Verbale rechte Gewalt: Rassistische Vernichtungsfantasien Deutlich mehr Raum als den Gewalttaten selbst gibt der Filmemacher den seitens der Interviewpartner geäußerten unverhohlenen Tötöungsfantasien gegen Menschen, die rechten Feindbildern entsprechen. Dies wird insbesondere in einer Sequenz deutlich, in der Voigt Andr8 auffordert, sein neues Lied vorzutragen.1303 In dieser ist die Kamera, wohl wissend, was nun kommt, deutlich distanzierter platziert als im oben beschriebenen Gespräch. In einer Halbtotalen sieht man Andr8 mit seiner Gitarre auf dem Sofa sitzen. Auf Voigts Wunsch spielt er nun sein neues Lied vor. Dessen Text »Ausländer rein, rein ins Gas« ist eine Aneinanderreihung von Vernichtungsfantasien. Im Anschluss an die musikalische Darbietung lässt sich Voigt den Text nochmals aufsagen.1304 Voigt fordert Andr8 nun auf zu beschreiben, warum er dieses Lied gemacht habe. Der Neonazi gibt an, dass es ihm aus »lieber langer Weile eingefallen« sei. »Einen Grund gibt’s dafür nicht.« – »Aber das ist ja, ich sag es mal vorsichtig, ein sehr antihumaner Text«, entgegnet der Filmemacher. Andr8 behauptet nun, dass es »eigentlich mehr Fun« sei und »nicht so ’ne große Bedeutung« für ihn habe – »Ausländer raus« allerdings schon. »Und rein ins Gas?«, fragt Voigt nach. »Das ist ’ne wunderschöne Beschreibung, weil bei Hitler, angeblich, sind ja sämtliche Juden vergast worden und das ist irgendwo meiner Meinung nach ’ne Lüge oder kann gar nicht stimmen, dass die vergast wurden«, führt Andr8 aus. »Wie kommst du darauf, dass das ’ne Lüge ist?«, fragt Voigt nun entrüstet. Andr8 verweist auf den unter Holocaustleugnern weit verbreiteten Leuchter-Report. »Ich hab mich darüber schon mit einigen Leuten, wie zum Beispiel Dirk, drüber unterhalten und der hatte mir da so ’n Heft gegeben von so ’nem englischen Geschichtswissenschaftler, der hatte das, der hatte 60 Prozesse waren das, glaube ich, dafür 1302 Strafgesetzbuch (StGB) § 125. 1303 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 31:24. 1304 »Ausländer rein, es ist nie zu spät, / Ausländer rein, das macht Spaß. / Ausländer rein, rein ins Gas. / Auch die Zecken müssen brennen, / denn im Winter ist es kalt. / Denn zum Heizen sind sie besser / als Bäume aus dem deutschen Wald. / Und so hat auch dieser Dreck alles seinen Verwendungszweck.« Ebd., TC: 33:12.

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gewonnen, dass, dass, dass da eben kein Jude vergast worden sei, ist.« Voigts Stimme wird nun energisch: »Aber das stimmt doch nicht. Die Deutschen haben Millionen von Juden umgebracht.Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass das nicht stimmen könnte?« Andr8 blickt nun zu Boden, fährt aber dennoch fort: »Dieses Gas, Zyklon B, mit dem die angeblich umgebracht wurden, das ist schweineteuer damals gewesen, ich weiß nicht, ob es heute noch schweineteuer ist.« Hier wird er von Voigt unterbrochen: »Warst du in deiner Jugend schon mal in ’nem Konzentrationslager?« – »Ja, in Buchenwald«, entgegnet Andr8. Er habe »die Gaskammern gesehen« und räumt nun ein, dass er einsehe, dass »einige, paar Tausend sicher umgebracht wurden, aber nicht sechs Millionen.« Das Herunterrechnen der Opferzahlen ist eine hinlänglich bekannte Argumentationsstrategie von Geschichtsrevisionisten, die zudem seit 1994, dem Jahr, in dem Glaube, Liebe, Hoffnung seine Premiere hatte, unter Strafe steht. Voigts Interventionsversuch, ob die genaue Zahl der Ermordeten letztlich nicht egal sei,1305 kommentiert Stefan Reinecke treffend: »Ein furchtbarer Satz, geboren aus Hilflosigkeit, der abrupt die Grenzen verständnisvoll-distanzierter Zuwendung zu den Neonazis sichtbar macht.«1306 Dennoch scheint Voigt Andr8 aus dem Konzept gebracht zu haben, der nun auszuweichen beginnt: »Aber das war ja bei Hitler, das ist jetzt 50 bis 60 Jahre her. Damit habe ich nichts zu tun, aber ich finde es idiotisch, dass dir das als Deutscher immer vorgeworfen wird.« Voigt bringt nun das Gespräch zum Lied zurück, dessen Text schließlich einen so offenen wie positiven Bezug auf die nationalsozialistische Massenvernichtung nimmt, und fordert Andr8 abermals auf, sich zu den Gründen für dessen Entstehung zu äußern. Dieser ergeht sich nun in Ausflüchten: »Spaß, in der Szene, wo ich rumhänge, ist nun mal solche Musik gefragt. Harte Texte und gegen Ausländer und das macht eben Spaß, das ist ein einfaches Lied, wo jeder mitsingen kann.« Rommelspacher weist darauf hin, dass die Leugnung der Shoah für die extreme Rechte zudem eine Möglichkeit zur »Demonstration von Macht« bereitstelle: »Wenn gegen millionenfache persönliche Erfahrung und gegen alle wissenschaftliche Evidenzen das Gegenteil behauptet wird, dann schwingt man sich zum alleinigen Herrn über die Geschichte auf.«1307 Als Voigt den Zusammenhang zwischen realen rechten Gewalttaten und deren verbalen Vorlagen herausstellt und rhetorisch fragt, ob »der [Spaß] nicht schon in dem Moment ernst [werde], wenn irgendwelche Leute Ausländerheime angreifen«, erklärt Andr8 auch diese Angriffe zum gedankenlosen Spaß: »Das macht Spaß, so ’n Ausländerwohnheim zu überfallen. Bei vielen ist das überhaupt nicht so ernst 1305 »Aber ist es nicht egal, ob sechs Millionen oder sechzigtausend? Oder ist das ’ne Frage der Zahl?«, heißt es hier. Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 35:45. 1306 Reinecke 1994, S. 36. 1307 Rommelspacher 2006, S. 56.

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gemeint, die überlegen gar nicht groß, was sie da machen.« Da Andr8 sich gegen Voigt verbal nicht durchsetzen kann, wechselt er die Ebene. Ob es hier darum geht, die Banalisierung rechter Gewalt oder die Inkonsistenz von Andr8s Argumentation aufzuzeigen, bleibt letztlich offen. Szenen wie diese, in denen der Filmemacher verbale rechte Gewalt dokumentiert, zeigen auf beklemmende Weise die Grenzen seines um Verständnis bemühten Ansatzes auf. Zudem wird die Problematik des zwischen Filmenden und Gefilmten durch den gemeinsamen Dreh eingegangenen Pakts sichtbar. Sie berührt Fragen nach Absprachen und Vereinbarungen mit den Interviewpartnern wie auch nach der eigenen Haltung bezüglich rechter Straftaten. Was ist der Filmende, um der Realisierung des Projekts willen, bereit mitzutragen? Wie weit geht er, um schockierende Statements vor die Linse zu bekommen? So begeht Andr8 mit der öffentlichen Leugnung des Holocausts vor der und durch die laufende Kamera eine Straftat.1308 Seine in der intimen Atmosphäre des Gesprächs mit dem Filmteam getätigten Äußerungen sind für den Film und damit für die Öffentlichkeit bestimmt. Und werden auch in diesem verwendet. Die nächste Einstellung lässt sich als kritischer Kommentar auf Andr8s Äußerungen deuten.1309 Die Kamera verharrt auf einem älteren Mann, der potenziell von Rassismus betroffen von eben geäußerten Vernichtungsfantasien mitgemeint ist. Er steht, gestützt auf einen Stock in einer S-Bahn-Unterführung und schaut starr auf eine Anzeigentafel, als ein Skinhead ins Bild tritt und den dunklen Tunnel durchschreitet. Auf der Soundspur hallen seine Stiefeltritte. Ungleich länger zeigt der Film jedoch in der folgenden Sequenz eine Gruppe von Arbeitern in einer fast schon apokalyptisch anmutenden Ruinenlandschaft, beschäftigt mit dem Abriss ehemaliger Fabrikanlagen.1310 Auf Nachfrage erklären sie, dass sie »alles kaputt machen« müssten. Die Kamera schwenkt über die Ruinen, zeigt den nun leeren, vermüllten Platz, im Hintergrund leerstehende Gebäude mit zerschlagenen Fenstern. Aus dem Off erklingt eine zynisch-fröhliche Akkordeonmelodie. Auf diese Weise werden verbale rechte Gewalttaten in einen kausalen Zusammenhang mit Zusammenbruch, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit gestellt: Glaube, Liebe, Hoffnung erscheint somit als Verfilmung der Deprivationsthese. Auf diese Weise entpolitisiert, erübrigt sich die Frage nach den der Gewalt zugrunde liegenden Feindbildern wie auch nach der Verbreitung von Rassismus und rechter Gewalt zu DDR-Zeiten.

1308 Trips-Hebe o. J. 1309 Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 37:10. 1310 Ebd., TC: 37:25ff.

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»Links versucht ’s mit Gewalt, rechts versucht ’s mit Gewalt«: Die Inszenierung rechter und linker ProtagonistInnen Papa, der bereits im Vorspann zu sehen war – hier schießt er Leuchtspurmunition in die öden Weiten eines Kohletagebaus –, bekommt seine erste Interviewsequenz erst nach Dirk und Andr8. Wurde in den Gesprächen mit Ersteren schnell deutlich, dass es sich bei ihnen um Neonazis handelt, bleibt die Frage nach Papas politischen Orientierung über weite Strecken des Films offen. Wie Janine, Dirk und Andr8 ist Papa Anfang bis Mitte zwanzig, die blonden Haare trägt der Skinhead wie auch Andr8 kurzgeschoren. Dass er sich als SHARP-Skin versteht und Rassismus dementsprechend ablehnt, erfahren die Zuschauenden jedoch erst nach einer knappen halben Stunde.1311 Neben der Art und Weise, in der er im Film dargestellt wird, tragen weitere Faktoren dazu bei, dass sich Papa zumindest anfangs ebenfalls als Neonazi lesen lässt: Dies ist, neben der optischen Ähnlichkeit zu dem porträtierten rechten Skinhead Andr8 die Dominanz extrem rechter Strömungen in der Skinheadszene in den 1990er Jahren.1312 Sie führte unter anderem dazu, dass der Begriff Skinhead seit den 1990er Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung geradezu als Synonym für Neonazi fungiert(e).1313 Die SHARP-Skins, die dem in der Szene weit verbreiteten Rassismus etwas entgegensetzen und entsprechend nicht als Rechte wahrgenommen werden woll(t)en, blieben insbesondere in den 1990er Jahren sowohl innerhalb der Skinheadszene als auch in der öffentlichen Wahrnehmung marginal.1314 Nicht zuletzt trägt wohl auch die Erwartung des Publikums, einen Film über Neonazis präsentiert zu bekommen, zu einer ersten Kategorisierung Papas als Neonazi bei.1315 Anstatt die Unterschiede zwischen Neonazis und ihren politischen Gegnern herauszuarbeiten, tendiert der Film zur Gleichsetzung von rechtem und linkem »Extremismus«. In diesem Punkt folgt er der umstrittenen Extremismusthese, die beide unter Ausblendung der jeweiligen Inhalte als Abweichung von einer im Konstrukt der Mitte der Gesellschaft verorteten demokratischen Norm parallelisiert. Allerdings ist fraglich, ob es vor dem Hintergrund des von Voigt auf1311 Ebd., TC: 28:39. 1312 »Seit der ›Wiedervereinigung‹ prägen zudem die [extrem rechten, JS] Boneheads das Bild der Skin-Bewegung. Dies liegt vor allem an der Ostdeutschen Skin-Szene, die sich bereits vor 1989 gebildet hatte und durchgängig rechts ausgerichtet war«, beschreibt das Antifaschistische Autorenkollektiv diese Situation. Antifaschistisches Autorenkollektiv 1996b, S. 49. 1313 Noch heute wird das Thema rechte Gewalt oft mit Bildern von Springerstiefel tragenden Glatzköpfen illustriert. Vgl. Stegmann 2010, S. 219. 1314 Vgl. Pötsch 2002, S. 59. 1315 In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass Rezensent Claus Löser biografische Details von Papa und Andr8 miteinander vermischt. Vgl. Löser 1994, S. 23.

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gezeigten allgemeinen Niedergangs überhaupt eine demokratische Norm geben kann und worin diese besteht. Wie der Filmemacher in einem Interview konstatiert, erscheinen ihm die porträtierten rechten und linken Skinheads vielmehr als »Vorboten der Barbarei, die nach dem Ende des Sozialismus unausweichlich zu erwarten ist«.1316 Bei der Inszenierung seines nichtrechten Interviewpartners Papa macht Voigt entsprechend keinen Unterschied zu derjenigen der Neonazis. Nicht nur, dass er ihm ähnliche Fragen stellt, auch die Gespräche mit ihm sind mit ähnlichen Effekten gerahmt. Dabei wird auch Papas »Extremismus« in den kausalen Zusammenhang mit den sozialen Folgen der Deutschen Wiedervereinigung gestellt. Gerahmt von Szenen, in denen die Schließung von Janines Lehrbetrieb sowie Schneiders Eintreffen am Flughafen Leipzig dargestellt werden, liest Papa in seiner ersten Sequenz aus seinem lückenhaften Lebenslauf vor, den er für eine Bewerbung bei einem Sicherheitsdienst geschrieben hat. Nach einer abgebrochenen Lehre als Facharbeiter für Werkzeugmaschinen will er nun sein Hobby – ehrenamtlich arbeitet er im Sicherheitsdienst des »W2« – zum Beruf machen.1317 Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich der darin enthaltene Hinweis auf seine eher linke Gesinnung für die Mehrheit der Zuschauenden decodierbar ist. Das Wissen über die politische Ausrichtung des Werks 2 dürften nur Kenner_innen der alternativen Leipziger Kulturszene besitzen, alle anderen erfahren davon erst an späterer Stelle. Im Ohr bleiben wird vielmehr, dass Papa, wenn er seinen Berufswunsch damit begründet, »für Ruhe und Ordnung« sorgen zu wollen, eher rechts konnotierte Werte vertritt. Erst nach einer halben Stunde wird explizit ausgesprochen, dass Papa sich als links versteht.1318 Nachdem sein beherrscht-konzentrierter Gesichtsausdruck während des Tätowierens in Großaufnahmen in den Blick genommen wurde, ist er während des folgenden Interviews in Nahaufnahmen zu sehen. Mit nacktem Oberkörper lehnt er an der Wand.1319 Papa erzählt, dass er aufgrund einer großen persönlichen Enttäuschung von Leuten in Leipzig-Connewitz »aus Trotz mal kurz das Lager gewechselt« habe und »bei den Rechten rumgesprungen« sei.1320 Dies habe aber für ihn nicht gestimmt:

1316 1317 1318 1319

Andreas Voigt zit. n. Jungk 1996, S. 30. Das Werk 2 ist ein linksalternativer Kultur- und Veranstaltungsort. Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 28:39. Auch an einer anderen Stelle wird Papas Körperlichkeit markant in Szene setzt. Hier sieht man ihn beim Muskeltraining Boxbewegungen in Richtung der Kamera und damit der Zuschauenden vollführen. Danach sitzt er mit seinem Kollegen schwer atmend auf einem Sofa. Ebd., TC: 47:51f. 1320 Ebd., TC: 30:16.

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»Und dann habe ich mir erstmal überlegt, halt kann nicht sein. Du hast irgendwo deine Ideale und dann springst du bei den Idioten rum, früher hast denen auf ’s Maul gehauen, und jetzt? Nee, geht nicht.« – »Und jetzt?«, will Voigt mit autoritärer Stimme wissen. »Ich bin SHARP und hab ziemlich nichts mit Rassisten am Hut und wo ich sie treffe, da gibt’s dann halt auf die Glocke«,

antwortet Papa bestimmt und fügt hinzu: »Wenn’s nicht anders zu lösen ist.« – »Erst links, dann rechts, jetzt wieder links«, fasst Voigt zusammen. Politische Verortungen erscheinen in Papas Rede lediglich als Resultat biografischer Krisen. Da die jeweiligen Inhalte und Wertorientierungen im Film nicht weiter hinterfragt werden, erscheinen die beiden politischen Positionen beliebig austauschbar. Da der Filmemacher zudem darauf verzichtet, den Kontext der von massiven rechten Angriffen geprägten Situation in Leipzig Anfang der 1990er Jahre mitzuliefern, entsteht hier das Bild zweier rivalisierender »extremer« Randgruppen, die sich in ihrer Gewalttätigkeit nicht unterscheiden. Erst an späterer Stelle geht Voigt, wenn auch sehr indirekt, auf die Situation in Leipzig ein.1321 Er fragt Papa, vor wem er die Connewitzer Kulturfabrik bewachen müsse. Dieser zählt zuerst »allgemeine Einbrüche« auf, vor denen er die dort ausgestellten Kunstgegenstände und die teure Soundanlage schützen müsste. Im Anschluss kommt er jedoch darauf zu sprechen, dass der Ort »linksalternativ« sei und erwähnt »Rechtsorientierte, die mal wieder Langeweile haben«, »die Hütte abbrennen« oder »Randale machen« könnten. Doch anstatt hier weiter nachzufragen, etwa die rechten Angriffe vom August 1992 zu erwähnen, bei denen der nahegelegene linke Treffpunkt und Veranstaltungsort Conne Island von Neonazis mit Brandsätzen attackiert wurde, lenkt Voigt das Gespräch auf das Thema Waffen. Ausführlich befragt er Papa und seinen Kollegen dazu und lässt sich deren Waffen vorführen.1322 Es folgt, wie bereits im am Anfang des Films geführten Gespräch mit Andr8, eine Diskussion über deren Gefährlichkeit. Die im Film vollzogene Gleichsetzung von rechts und links zeigt sich insbesondere in der Art und Weise, in welcher der jeweilige Einsatz und Besitz von Waffen thematisiert wird. Zuerst von Andr8, später auch von Papa und dessen Kollegen beim Sicherheitsdienst lässt sich Voigt deren Waffen vorführen: Bereits im ersten Drittel des Films, im zweiten Interview mit Andr8, befüllt dieser auf Aufforderung des Filmemachers seine Pistole bereitwillig mit Patronen und erklärt deren Funktionsweise.1323 Er erzählt, welchen Spaß es ihm mache, mit Leuchtmunition durch die Gegend zu »ballern«, aber »nicht senkrecht, wie es vorgeschrieben ist, sondern eher so waagerecht«, und beteuert treuherzig, »bis

1321 Ebd., TC: 48:36. 1322 Ebd., TC: 49:33. 1323 Ebd., TC: 06:43.

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auf einmal damit noch nie jemanden beschossen« zu haben.1324 »Ganz ehrlich auch noch nie ’nen Ausländer oder dergleichen.« Voigts Einwand, »[a]ber es sind die gleichen Dinger, mit denen das passiert«, wird von Andr8 bestätigt. Er erläutert nun die Effizienz der Munition, die sich »unwahrscheinlich gut in irgendwelche Sachen hinein brennen« und kaum löschbar sei: »Auskriegen tut man die nicht.« Anstatt diese Aussage wirken zu lassen oder zu kommentieren, wechselt Voigt abrupt das Thema und fragt ihn, wie er aufgewachsen sei. Andr8 zählt kurz auf, dass er bei seinen Eltern und im Heim gelebt habe. Hier hakt der Filmemacher nach: »Kinderheim, oder wie?« – »Spezialkinderheim für schwer Erziehbare«, erklärt der Neonazi. Damit suggeriert Voight einen Zusammenhang zwischen Andr8s trauriger Kindheit und dessen Gewaltbereitschaft. In der Psychologisierung seines Protagonisten geht der Filmemacher nun noch einen Schritt weiter. Nach einem Schnitt wird Andr8s Vogelbauer in den Blick genommen. Aus dem Off versucht Voigt, den Wellensittich zum Pfeifen zu bringen, worauf ihm Andr8 erklärt, dass dieser müde sei. »Siehst du nicht, der hat die Augen zu.« Wenn Andr8 nun liebevoll über seinen Vogel Gerri spricht, wird sein zärtlicher Gesichtsausdruck in Großaufnahme in den Blick genommen. »Magst Du den?«, fragt Voigt. »Ja, ich hab mir den ja gewünscht, damit ich nicht immer so alleine bin«, entgegnet Andr8 lächelnd und fügt hinzu, dass er mit Gerri über seine »intimsten Dinger« rede. In dieser Sequenz wird Andr8 als jemand gezeigt, der sehr wohl in der Lage ist, die Bedürfnisse anderer Wesen, jedenfalls diejenigen des Wellensittichs, wahrzunehmen und zu respektieren. Hatte er zuvor den Einsatz von Leuchtspurmunition gegen »Ausländer oder dergleichen« implizit mit deren Effizienz gerechtfertigt, wird im Anschluss auf seine schwierige Kindheit und – ausführlicher – auf seine grundsätzliche Empathiefähigkeit verwiesen. Auffällig ist, dass die Episode mit dem Vogel dabei relativ viel Raum bekommt. Platziert an einer frühen Stelle des Films dient sie dazu, Andr8s »weiche« Seite zu etablieren. Gleichzeitig wird hier das Ausüben und Befürworten rassistischer Gewalt mit seiner grundsätzlichen Fähigkeit zu Zärtlichkeit kontrastiert. Ob es hier darum geht, Widersprüche aufzuzeigen oder ob Voigt ihn als im Grunde liebevollen Menschen darstellen will, den äußere Umstände zum Gewalttäter werden ließen, lässt sich nicht abschließend beantworten. Ein weiterer Begründungszusammenhang für seinen Neonazismus wird aber auch bei Andr8 durch die Rahmung des Interviews geliefert: Der nächste Schnitt zeigt eine leerstehende Fabrikhalle in Aufsicht.1325 Die Person, die sie ausfegt, wirkt in der Totalen abermals winzig und verloren. In der nächsten Einstellung erzählt Klaus, dass an diesem nun verlassenen Ort früher »über Tausend Mann« gearbeitet hätten. Er selbst hätte 1324 Ebd., TC: 08:20f. 1325 Ebd.,TC: 10:30.

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1990 seine Arbeit verloren. Er sei nun »völlig am Ende«, habe sich »vierzig Jahre verarschen lassen«. Jetzt wolle er »auf die Straße gehen und kämpfen«. Voigt fragt hier nicht nach, für oder gegen wen oder was. Wenn in der nächsten Sequenz ein einsamer Karnevalszug unter Helau-Rufen am Völkerschlachtdenkmal vorbeizieht, wird die Vergeblichkeit seine Anliegens offensichtlich:1326 Evoziert wird eine Endzeitstimmung, in der auch der Neonazismus der Interviewpartner verortet wird. Auch im Gespräch mit Papa und dessen Kollegen wird ihr Waffengebrauch ausführlich thematisiert. Wie oben beschrieben, bietet hier ihre Tätigkeit als Wachleute in der linksalternativen Connewitzer Kulturfabrik W2 den Kontext des Gesprächs: »Und die Waffen, was habt ihr da so?«, will Voigt von den beiden Sicherheitsleuten wissen.1327 Papas Kollege zeigt nun seinen Schlagstock und gibt an, zudem »zwei gesunde Hände und zwei gesunde Füße« zu haben, was eigentlich auch reiche. Papa hat eine Pistole, für deren Munition sich Voigt nun eingehend interessiert. Diese sei, wie Papa auf Nachfrage erläutert, momentan mit Platzpatronen geladen, lasse sich »bei anderen Anlässen auf der Straße, wo es zu Auseinandersetzungen kommt« aber auch mit Leuchtspurmunition befüllen, »die auch sehr gut zum Verteidigen von Häusern« sei. Vor wem welche Häuser verteidigt werden müssen, wird nicht gefragt. »Aber damit kann man auch jemanden töten«, gibt Voigt stattdessen mit strenger Stimme zu bedenken. Wie zuvor im Gespräch mit Andr8 liegt der Fokus seines Interesses auf Papas allgemeiner Bereitschaft zu Gewalt. »Was ist das für ’n Gefühl, mit so ’nem Ding umzugehen?«, will Voigt nun wissen. Papa gibt an, sich mal geschworen zu haben, »nie ’ne Waffe in die Hand nehmen« zu wollen. »Aber es geht nicht mehr. Ich bin oft genug von solchen Typen angegriffen worden. Wenn sie jetzt mir gegenüberstehen und Stress haben wollen, dann kriegen sie ihn halt.« Die Waffe sei »das letzte Mittel, sich zu verteidigen«. Dass Papa sich hier offensichtlich auf rechte Schläger bezieht, wird nicht expliziert. Wie gestaltet sich der Alltag von Nazigegner_innen angesichts der Bedrohung von rechts? Mit welchem Risiko bewegen sich Personen, die rechten Feindbildern entsprechen oder als Nazigegner_innen bekannt sind, in der Stadt? Werden etwa bestimmte Orte zu bestimmten Uhrzeiten gemieden? Welche Praktiken des Selbstschutzes wurden entwickelt? Wäre es Voigts Anliegen, den Alltag rechter Gewalt in Leipzig zu thematisieren, böte sich hier die Gelegenheit, auf die von massiver rechter Gewalt geprägte Situation in Leipzig der frühen 1990er Jahre einzugehen. Doch Voigt fragt Papa stattdessen, ob er »dieses Ding«, gemeint ist die Waffe, liebe. Für den Filmemacher scheint es keinen Unterschied zu machen, ob jemand 1326 Ebd.,TC: 12:47. 1327 Ebd.,TC: 49:27.

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ein alternatives Kulturzentrum vor rechten AngreiferInnen schützt oder womöglich zu letzteren gehört. Der Film fokussiert auf die normabweichende Gewaltbereitschaft. Das er die damaligen Machtverhältnisse ausblendet, in denen Neonazis in Leipzig wie auch vielen anderen Städten als Ordnungsmacht auftraten, trägt zu dieser Interpretation bei. Die Gleichsetzung von rechts und links lässt sich der Filmemacher gegen Ende des Films durch Papa als Gewährsmann explizieren. Das Gespräch wird durch Voigts Frage »Du sagst, links und rechts sind ähnlich. Wie meinst du das?« eingeleitet.1328 Als Gemeinsamkeiten zählt Papa nun die ihm zufolge von beiden Seiten vertretenen »sozialen Forderungen und dass es in erster Linie der Bevölkerung gut geht« sowie den Kampf gegen »Armut« und »Klassenunterschiede« auf. Das hier von Papa implizit ins Spiel gebrachte neonazistische Konstrukt des »Nationalen Sozialismus« respektive wer diesem zufolge überhaupt in den Genuss eines Lebens ohne Armut und Klassenunterschiede kommen, und wer gewaltsam aus dem Land vertrieben werden soll, wird von Voigt nicht weiter hinterfragt. Im Gegenteil, ein Insistieren auf die Unterscheidung zwischen rechts und links schiebt er dem Bedürfnis einer nicht weiter spezifizierten Linken zu: »Aber da werden die Linken böse sein, wenn du sagst, es gibt da keine Unterschiede.« – »Links versucht’s mit Gewalt, rechts versucht’s mit Gewalt«, stellt der Skinhead fest. Er zählt zwar nun mit »nationalem Größenwahn« und »Rassenfanatismus, dass sich verschiedene Rassen nicht vermischen dürfen oder irgend so’n Schwachsinn« zwei eklatante Unterschiede auf. Doch auch wenn Papa letzteres »voll daneben« findet, besteht er darauf, »keine großen Unterschiede mehr« zu sehen. Stellung zu dieser Frage bezieht Voigt selbst implizit. Er fragt, ob es überhaupt noch »um rechts und links« gehe. Dies verneint auch Papa: »Das sind pure Existenzängste.« Ob im rechten Leipziger Viertel Grünau oder im linken Stadtteil Connewitz, es sei Zufall, wo man aufwachse und entsprechend geprägt werde. Während des Gesprächs wird Papa auf seinem Zimmer gezeigt. Trug er in den vorherigen Sequenzen meist seine Arbeitsuniform, sitzt er nun in weißem Shirt, enger Jeans und Springerstiefeln auf seinem Bett. Sein Skinhead-Outfit unterstreicht die verbale Gleichsetzung auf visueller Ebene.1329 In diesem Interview bestätigt sich die von Voigt in Bild und Ton vertretene Deprivationsthese: Als Reaktion auf die allgemeine Endzeitstimmung nach 1989, so suggeriert der Film, wird man »Extremist«. Ob rechts oder links scheint nicht wichtig, die jeweiligen Lager ohnehin beliebig wechselbar. Die Gleichsetzung von rechts und links erfolgt im Film dabei nicht nur über die expliziten Äußerungen der Interviewpartner und Fragen des Filmemachers, 1328 Ebd., TC: 1:14:03. 1329 Ebd., TC: 1:14:07.

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sondern auch über das, was nicht gefragt, an- und ausgesprochen wird. Sie äußert sich beispielsweise in der späten Kenntlichmachung Papas als SHARPSkin: Seine Inszenierung entspricht derjenigen der rechten Skinheads. Sie geschieht über implizierte Setzungen zwischen den Zeilen der Interviews und Kontexte, die durch den Schnitt hervorgebracht werden. Geradezu paradigmatisch dafür ist auch folgende Sequenz: Nachdem Andr8 von seiner ihn schlagenden Mutter und seiner prekären finanziellen Lage – er bekommt kein Arbeitslosengeld mehr und weiß kaum, wovon er leben solle – gesprochen hat,1330 erfolgt ein Schnitt.1331 Unvermittelt geht es im Interview um Gewalt. Mit dieser könne laut Andr8 nicht viel erreicht werden: »Weil der Staat ist gewalttätiger als wir paar Skinheads, wir paar Jugendliche.«1332 (Rechte) Gewalt erscheint im Film als verzweifelte Reaktion auf eine extreme prekäre gesellschaftliche Situation. Zu dieser Deutung kommt auch Jungk: »Beide Filme aus dem Osten, Heises ›Stau – Jetzt geht’s los‹ und Voigts ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹ exemplifizieren die These vom Zivilisationsverlust, der eingetreten ist nach dem Zusammenbruch verbindlicher sozialer Regularien – in der Ex-DDR. Ein Raubtierkapitalismus – pars pro toto der [dort auftretende] Spekulant Schneider bei Voigt – tut sein übriges dazu. Kultivierte Umgangsformen fallen von den Menschen. Was dem einen, Schneider, Moral und hemmungsloses kapitalistisches Gewinnlertum, ist den anderen, den Jugendlichen, die über keine anderen Mittel außer denen ihres Leibs verfügen, die Gewalt. Man mag die Perspektive der Filmemacher nicht teilen, aber die Skins und Neonazis, die wir sehen, sind Opfer der Lebensumstände, des Zusammenbruchs der DDR mitsamt ihrer sozialen Verlässlichkeit und der tradierten Männerrolle, die ihnen den Ausweg in die Gewalt nahelegt.«1333

Personifizierte Kapitalismuskritik oder: Wie ein Immobilienunternehmer zum Mephisto wird Immer wieder stellt der Film sowohl auf der Ebene der Figuren als auch in seiner Gesamtheit aus Bildern und Tönen einen Zusammenhang zwischen kapitalistischem Umbruch und seinen Folgen sowie dem Neonazismus beziehungsweise dem »Extremismus« seiner Figuren her. Als Dirk in einer der ersten Sequenzen davon spricht, seine (an dieser Stelle noch nicht ausbuchstabierten) Ideale niemals verraten zu wollen, entgegnet ihm Voigt: »Aber das bedeutet, Gewalt gegen andere und letztendlich möglicherweise eben auch die Vernichtung von 1330 1331 1332 1333

Ebd., TC: 1:09:35. Ebd., TC: 1:10:16. Ebd., TC: 1:19:28. Jungk 1996, S. 31.

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anderen, um selber leben zu können.«1334 Das Thema Sozialdarwinismus ist damit seitens des Filmemachers in die Debatte eingeführt. Dirk stimmt zu und entgegnet: »Es regiert das Gesetz der Natur: Fressen und gefressen werden.« Voigt fragt nun: »Und wenn irgendwann dich jemand frisst?« – »Dann war ich zu schwach, mich dagegen zu wehren. Es gibt immer Stärkere«, antwortet der Neonazi. Der von Dirk vertretene Sozialdarwinismus erscheint im Film als logische Konsequenz des markant in Szene gesetzten kapitalistischen Umbruchs. So wird in der nächsten Szene gezeigt, dass Weihnachten, das »Fest der Liebe«, zu einer kommerziellen Angelegenheit geworden ist. In einer Totalen sieht man eine Person im Weihnachtsmannkostüm vor der beleuchteten Fassade einer Einkaufspassage stehen.1335 Die kleine Gestalt wirkt vor dem Gebäude unter der blinkenden Leuchtschrift verloren. Es ist Andr8, der hier als Kaufhausweihnachtsmann jobbt. Während er mit mäßigem Erfolg versucht, den dortigen Weihnachtsmarkt zu bewerben und Süßigkeiten an Kinder zu verteilen, werden durch einen Schwenk der Kamera unter seinem Mantel Springerstiefel mit Stahlkappen sichtbar. Auf der Soundspur erklingen dazu Weihnachtslieder. Den Abend wird Andr8 in der Disko verbringen. Zu seiner Familie hat er, wie man an späterer Stelle erfährt, keinen Kontakt mehr. In der Darstellung des Weihnachtsgeschäfts aus der Perspektive des prekär Beschäftigten klingt eine moralisch anmutende Kapitalismuskritik an, die sich auch an weiteren Stellen aufzeigen lässt.1336 Eine kulturpessimistische Deutung der Situation in Leipzig wird insbesondere durch die Szenen offensichtlich, in denen der Leipzig-Aufenthalt des Investorenehepaars Schneider gezeigt wird. Immer wieder werden deren Auftritte mit den von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägten Lebenssituationen der übrigen Interviewpartner kontrastiert. Beispielsweise führt Schneider im ersten Drittel des Films ein Gespräch mit einem Taxifahrer, den er zu dessen beruflicher Situation befragt. Als dieser von seinen Schwierigkeiten aufgrund der großen Konkurrenz erzählt, wegen der die Zahl der Taxen verringert werden müsste, stellt der Investor jovial fest, dass er »ja schon etwas vom marktwirtschaftlichen Denken« mitbekommen habe, und lacht gönnerhaft.1337 Es folgen Aufnahmen langer Schlangen vor dem Arbeitsamt. Unter den Wartenden ist Janine zu erkennen.1338 Der Bauunternehmer fungiert, wie auch Jungk feststellt, im Film als Personifikation des Kapitalismus. Einen Kapitalismus, so suggeriert der Film, gegen den die Porträtierten mit ihren jeweiligen »Extremismen« rebellieren. 1334 1335 1336 1337 1338

Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 02:48. Ebd., TC: 04:34. Vgl. Reinecke 1994, S. 36. Glaube, Liebe, Hoffnung, TC: 16:30ff. Ebd., TC: 17:00.

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Herr Schneider eröffnet die Mephisto-Bar

Deutlich positioniert sich der Filmemacher insbesondere in einer Sequenz, in der er Schneider nach seinen Bauprojekten befragt. Zuvor hatte er sich von Schneider Bilder von dessen Häusern, vorführen lassen, die sich nicht nur in Leipzig sondern auch in Hamburg, München sowie in Frankfurt am Main auf »Europas umsatzstärkster Einkaufsmeile« befänden.1339 Die nächsten Sequenzen zeigen den Unternehmer bei einer Reihe feierlicher Eröffnungen.1340 Nicht von ungefähr wird insbesondere die Eröffnung der Mephisto-Bar in Szene gesetzt: Als Hausherr durchschneidet Schneider das von als Faust und Mephisto Kostümierten gehaltene Band.1341 Der literarische Teufelspakt bildet einen Ausgangspunkt für Assoziationen über die diabolisches Seite des von Schneider repräsentierten Kapitalismus. Werden nun, schnell hintereinander geschnitten, weitere solcher Anlässe gezeigt, bekommen die Zuschauenden einen Eindruck vom Umfang seiner unternehmerischen Aktivitäten. Im Anschluss ist Schneider wieder in seinem Büro zu sehen und rechtfertigt sich gegen den Vorwurf, Häuser zu »sammeln«. Er spricht von seiner Liebe zu historischen Gebäuden und davon, seine Häuser langfristig anlegen zu wollen – auch als Erbstücke für seine Kinder. Der Kontext des zuvor Gezeigten lässt Schneiders Ausführungen als leere Phrasen erscheinen. »Denken Sie, dass in dieser Entwicklung alle die gleichen Chancen haben? Sind da nicht von vornherein die Proportionen auch verschoben?«, fragt der Filmemacher den Investor nun so suggestiv wie vorwurfsvoll.1342 Dieser ergeht sich in Ausflüchten: »Natürlich sind diese Propor1339 1340 1341 1342

Ebd., TC: 40:00ff. Ebd., TC: 40:43. Ebd., TC: 39:55. Ebd., TC: 42:55.

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tionen verschoben. Aber das macht doch gar nichts. Es kommt darauf an, dass man ein gemeinsames Ziel verfolgt und« – hier gerät Schneider ins Stammeln – »dass man gemeinsam das Boot rudert und am gleichen Strick zieht. Da muss man einander verstehen. Das werden die Menschen hier, das kann man nicht nur mit Geld sehen, man kann nicht alles nur mit Wirtschaft vergleichen.« Wenn Andr8s Naziskinband im Anschluss wütend den Stolz besingt, Skinhead zu sein, suggeriert der Film einmal mehr, dass dies lediglich eine Trotzreaktion auf die von Schneider verkörperten sozialen Ungerechtigkeiten sei.

Fazit: Von prekären Existenzen und Wendegewinnern Indem der Film seine »extremen« Protagonist(Innen) sowohl durch die Art der Interviewführung als auch durch die Montage in den Begründungszusammenhang der als krisenhaft dargestellten Zeit ab 1989 stellt, folgt der Film der Deprivationsthese. Die Situation in Leipzig erscheint zwischen Dezember 1992 und 1993 als durch materielle, soziale und emotionale Unsicherheiten geprägt: Der einstige Zusammenhalt ist dahin. Jeder schaut nur noch auf sich selbst. Nicht nur die suggestiven Fragen des Filmemachers wie »Fühlst Du dich einsam?« oder »War das früher anders?« geben diese Richtung vor. Plakativ kontrastiert der Film Aufnahmen entlassener Arbeiter in Kulissen, die an Trümmerlandschaften direkt nach dem Krieg gemahnen, niedergegangene Fabriken und Schlangen vor dem Arbeitsamt mit der von Investor Schneider repräsentierten Glitzerwelt der exklusiven Einkaufspassagen. Zwischen »ganz oben« und »ganz unten«, so suggeriert der Film, scheint es nichts zu geben. Repräsentant_innen der sogenannten Mitte der Gesellschaft und ihre Wahrnehmungen der Wendezeit, nicht zuletzt die Frage, welchen Widerhall die von Dirk und Andr8 geäußerten rassistischen und sozialdarwinistischen Positionen bei ihnen finden, kommen im Film nicht vor. Von der Frage nach der Verbreitung rassistischen Gedankenguts zu DDR-Zeiten ganz zu schweigen. Wie auch Hughes bemerkt, trägt das mit hohem Kontrast gedrehte schwarz-weiße Bildmaterial zu diesem plakativen Eindruck bei: »However, it is this very high contrast, black-and-white camerawork, shot by the acclaimed Sebastian Richter, that itself becomes problematic despite, or perhaps because of, its avoidance of the flamboyant pluralism of the 1990s.«1343 Nicht nur im Ausblenden der Frage nach der Verbreitung von Ideologien der Ungleichheit in der Leipziger Gesellschaft folgt der Film der insbesondere seitens des Bundesamts für Verfassungsschutz propagierten Extremismusdoktrin: Indem er SHARP-Skin Papa optisch wie narrativ mit den Neonazis Andr8 und 1343 Vgl. Hughes 1999, S. 296.

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Dirk parallelisiert, beschwört er das Bild zweier verfeindeter »extremer« Randgruppen: »Links versucht’s mit Gewalt, rechts versucht’s mit Gewalt«, lässt Voigt Papa resigniert feststellen. Dass der Film einige Monate nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen entstand, in dessen Folge sich auch in Leipzig rassistische Angriffe häuften, wird nicht thematisiert. Auch wenn mit Dirk Zimmermann und Andr8 Rother zwei von Voigts InterviewpartnerInnen nach eigenen Aussagen an Angriffen auf Geflüchtete beteiligt waren, oder diese zumindest verbal befürworten, bleibt die von massiver rechter Gewalt geprägte Situation, die in den frühen 1990er Jahren in Leipzig und Umgebung herrschte, in Glaube, Liebe, Hoffnung eine Leerstelle. Noch nicht einmal die konkreten Abläufe und Hintergründe zu den Angriffen auf Geflüchtete in Eilenburg, wegen derer Dirk während der Drehzeit in Untersuchungshaft sitzt, werden geliefert.1344 Vor allem wenn Voigt Andr8 auffordert, seine von eliminatorischem Rassismus strotzenden Liedtexte vorzutragen und vor laufender Kamera den Holocaust leugnet, werden die Grenzen seines um Verständnis bemühten Ansatzes offensichtlich. Trotz Voights Widerspruch werfen solche Szenen ethische Fragen nach dem Eingreifen des Filmemachers nicht nur angesichts justiziabler rechter Straftaten, sondern auch angesichts des von den Interviewten vertretenen menschenverachtenden Gedankenguts auf und verweisen somit auf die Grenzen des dokumentarischen Pakts zwischen Filmenden und Gefilmten.

6.4

Der Spielfilm Kriegerin (R: David Wnendt, D 2012). Eine Neonazistin als Fluchthelferin

Während extrem rechte Mädchen und Frauen in nahezu allen Spiel- und Dokumentarfilmen wenn überhaupt als Randfiguren auftauchen, stellt David Wnendt, Absolvent der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam, eine gewalttätige Neonazistin ins Zentrum seines Spielfilmdebüts Kriegerin (2012).1345 Die Selbstenttarnung des rechtsterroristischen Netzwerks NSU im November 2011, kurz vor dem offiziellen Kinostart im Januar 2012, verlieh dem in Zusammenarbeit mit der ZDF-Redaktion Das Kleine Fernsehspiel entstandenen Film zusätzliche Aktualität:1346 »Ein Film über junge Nazis in Ostdeutschland« 1344 Auch Hughes kritisiert »the absence of victims of racial attacs in the picture« Ebd., S. 297. 1345 Ausnahmen bilden hier etwa die vor allem im Kontext der politischen Bildungsarbeit eingesetzten No-Budget-Produktionen der Rechtsextremismusexpertin Andrea Röpke Braune Kameradin (R: Otto Belina, Andrea Röpke, Lars Boje, D 2010, 13 min.) und Neonazistinnen – Frauen in der rechten Szene (R: Recherche Nord, D 2007, 20 min). 1346 Es ist bezeichnend, dass der Film am 4. November 2015, dem vierten Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU im Rahmen eines Themenabends zum NSU-Komplex ge-

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hätte, wie Michael Bergmann in der Jungle World feststellt, »wohl zu kaum einem besseren Zeitpunkt in die Kinos kommen« können.1347 Viele Kritiker_innen rezipierten das mit dem First Steps Adward und weiteren Preisen ausgezeichnete Erstlingswerk, das durch die Mitteldeutsche Medienförderung und das Medienboard Berlin-Brandenburg unterstützt wurde, als »schonungslose Milieustudie«, als quasi dokumentarischen Einblick in die neonazistische Subkultur.1348 In Interviews wurde Wnendt, der gründliche Recherchen betrieben hatte, sich vom Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus beraten ließ und sogar selbst einige Hintergrundgespräche mit Neonazistinnen geführt hatte, in den Rang eines Rechtsextremismusexperten erhoben.1349 Die deutsche Filmund Medienbewertung verlieh Kriegerin das Prädikat »besonders wertvoll«. Der Verleih erstellte pädagogische Begleitmaterialien für den Einsatz des Films im Unterricht.1350 Insbesondere für seine Beschäftigung mit Frauen in der extremen Rechten, einem bislang im deutschen Film gänzlich unbeachteten Thema, erntete Kriegerin das Lob vieler Kritiker_innen. Schließlich sei die Präsenz von Frauen in der extremen Rechten »keine reine Projektion des Kinos«.1351 Tatsächlich liegt, laut Döhring und Feldmann, der Frauenanteil bei »extrem rechten Gruppen, Cliquen und Organisationen des subkulturellen Spektrums« Schätzungen zufolge »bei einem Viertel bis zu einem Drittel«, bei steigender Tendenz.1352 Ob als militante Anti-Antifa- oder Kameradschaftsaktivistin, Autorin einschlägiger Publikationen, Kommunalpolitikerin, Musikerin oder Betreiberin von Szenelokalitäten: Frauen sind innerhalb der extremen Rechten in allen Spektren und Funktionen zu finden.1353 Döhring und Feldmann betonen zudem, dass es Studien zufolge kaum geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Einstellungspotenzialen gebe, Frauen also genauso »rassistisch, nationalistisch und antisemitisch« denken wie Männer. Bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung rechter Frauen konstatieren Heike Radvan und Henrike Voightländer dennoch eine »doppelte Unsichtbarkeit«:1354 »Wird bereits im Allgemeinen eher davon ausgegangen,

1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354

meinsam mit zwei weiteren Dokumentationen und einem Film über die rechte Musikszene als Hauptspielfilm gezeigt wurde. Vgl.: Weise 2015. Auch Rezensent Rüdiger Suchsland bemerkt, dass der Film »durch die Aufdeckung der Zwickauer Terrorzelle eine beklemmende Aktualität erhalten« habe. Suchsland 2012, S. 39. Bergmann 2012. Schöning 2012. Vgl. dazu etwa: Grohmann o. J. Conrad 2012. Schöning 2012. Döhring, Feldmann 2005, S. 18. Vgl. Radvan, Eifler 2014, S. 19. Zu den Stereotypen über rechte Frauen vgl. Radvan, Voightländer 2014, S. 10. Röpke 2014.

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dass Frauen weniger politisch interessiert und friedliebend seien, so geraten weibliche Personen mit ihren rassistischen, rechtsextremen und generell menschenfeindlichen Meinungen und potentiell gewalttätigen Handlungen erst recht aus dem Blick. Dies geschieht auch deswegen, da Rechtsextremismus und Gewalt nach wie vor häufig als ›männliche Phänomens‹ gesehen werden.«1355 Wenn auch ohne Erfolg versuchte Rechtsterroristin Beate Zschäpe Kapital aus derartigen Erzählungen zu schlagen. In der von ihrem Anwalt verlesenen Aussage im NSU-Prozess am 9. Dezember 2015 bediente sie sich nicht nur ebenjener so verbreiteten wie sexistischen Bilder der unpolitischen, unwissenden, bedingungslos liebenden Frau, um ihre Beteiligung an den Morden und Bombenanschlägen des NSU zu relativieren.1356 Indem sie ihre »schwere Kindheit in der DDR«1357 und das konflikthafte Verhältnis zu ihrer alleinerziehenden Mutter in Stellung brachte, spielte sie zudem auf der gesamten Klaviatur exkulpatorischer Narrative, die ich bereits an anderen Stellen der vorliegenden Dissertation aufgezeigt habe:1358 Narrative, an deren Fortschreibung auch die Medien und

1355 Radvan, Voightländer 2014, S. 10. 1356 Röpke beschreibt Zschäpes Funktion innerhalb des NSU wie folgt: »Mit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe im Münchener Terror-Prozess ist inzwischen eine Frau in die Öffentlichkeit gerückt, deren Hauptaufgabe es war, die grausamen Verbrechen der Terrororganisation ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) zu tarnen. Der gesicherte Rückzugsraum in Zwickau bot der Terrorzelle die Möglichkeit, zehn Morde, zwei rassistische Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle zu begehen. Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe spricht in ihrer Anklageschrift von einer ›sozialen Legendierung‹. Zschäpes tragende Rolle im 13 Jahre währenden Untergrund des NSU sei die Vorspiegelung einer geregelten bürgerlichen Existenz gewesen. Ihr politischer Fanatismus, ihr frühes Faible für Waffen und die Bereitschaft, noch nach dem Tod ihrer Mitstreiter die schrecklichen Bekenner-Videos des NSU mit den blutigen Tatortfotos abzuschicken, verstärken den Hinweis auf ein gemeinsames taktisches Vorgehen.« Röpke 2014. 1357 Vgl. Gensing 2015. 1358 Patrick Gensing fasst ihre Einlassung zusammen: »Der Erklärung [Zschäpes im NSUProzess] zufolge ist die Persönlichkeit von Beate Zschäpe exakt die Summe von sämtlichen gängigen Klischees über Frauen. Abhängig von den beiden Uwes sei sie gewesen: Die beiden hätten sie nicht gebraucht, aber Zschäpe die beiden Jungs. Als sie von den Morden erfuhr, sei sie entweder wie betäubt, fassungslos oder so aufgewühlt über die Freunde gewesen, dass sie erst einmal Sekt trinken musste und sogar die Katzen vernachlässigte. Wer würde es ihr verdenken? Ein armes Mädchen mit einer schweren Kindheit in der DDR, das an die falschen Jungs geraten war.« (Gensing 2015). Auch Ulrich Overdieck, der den NSU-Prozess für die Forschungsstelle Gender und Rechtsextremismus der AmadeuAntonio-Stiftung beobachtete, kommt zu dem Schluss, dass das »Stereotyp von der ›friedfertigen und unpolitischen‹ Frau […] von Zschäpe offenbar gezielt bedient und genutzt [wird], um eine bestmögliche Tarnung zu erreichen«. (Overdieck 2014, S. 36). Beate Zschäpes Selbsviktimisierung wird von einem Großteil der Prozessbeobachter_innen kritisiert. Stellvertretend sei hier Bianca Biwer, Geschäftsführerin der Opferhilfeorganisation der Weiße Ring angeführt. Sie moniert, dass sich Zschäpe vor Gericht selbst »als Opfer« inszeniere. (Jahn 2015).Vgl dazu auch Schmidt 2015.

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viele der von mir analysierten Filme einen Anteil haben.1359 Entsprechend konnte die Rechtsterroristin an diese weit verbreiteten Bilder, Vorstellungen und Erzählungen anknüpfen. Artikel, in denen sie als »Nazibraut« betitelt wurde und die mehr mit ihrem Liebesleben denn ihrer Gesinnung befasst waren.1360 »Hätten die Sicherheitsbehörden genauer hingeschaut und rechtsextreme Frauen nicht als ›Freundin von‹ oder als irrelevant abgetan, hätte der NSU früher oder überhaupt aufgedeckt werden können«, bilanziert Heike Radvan der Tagesschau.1361 Wie ich in diesem Abschnitt zeigen werde, räumt David Wnendt in Kriegerin mit einigen dieser Klischees über Neonazistinnen auf, andere werden jedoch reproduziert. Der Vorspann: Erwartungen der Zuschauenden Der Film beginnt mit so etwas wie einem rechten Glaubensbekenntnis. Es ist Hauptfigur Marisa, deren Stimme während des Vorspanns aus dem Off zu hören ist: »Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. In einer Demokratie kann jeder mitbestimmen. Du, ich, Alkoholiker, Junkies, Kinderschänder, N*, Leute, die zu blöd sind, ihren Hauptschulabschluss zu schaffen, Leute, denen der Laden einfach scheißegal ist. Denen egal ist, wenn hier einfach alles den Bach runtergeht. Aber mir ist es nicht egal. Ich liebe mein Land.«1362

Während sie diese allesamt rechten Feindbildern entsprechenden Personengruppen aufzählt, die ihr zufolge kein Recht auf Mitbestimmung haben sollten, zeigt die Kamera die Brandung der Ostsee, wandert über den Strand, verharrt auf einer sterbenden weißen jungen Frau. Marisa (Alina Levshin) liegt dort tödlich verwundet und ringt nach Luft. Neben ihr kniet, sprach- und hilflos, Svenja, eine weiße etwa 15-Jährige (Jella Haase). Eine Kugel hat die Ältere in den Hals getroffen. Eine schmale Blutspur läuft in den Ausschnitt ihres Sommerkleids, bildet einen Kontrast zu den das Bild dominierenden kalten Blautönen. 1359 Vgl. Stegmann 2010. 1360 Vgl. Köttig, Kenzo 2011. Overdieck 2014, S. 39. 1361 Stalinski 2014. Im selben Artikel zitiert Stalinski Antonia von der Behren, Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess, welche die beschriebene Strategie des sich als naiv- und ahnungslos Gerierens bei einer Reihe neonazistischer Zeuginnen im NSU-Prozess beobachtete: »Sie täuschen gezielt Erinnerungslücken vor und zeichnen von sich das Bild einer naiven Mitläuferin, die von nichts wusste.« (Ebd.). Auch Overdieck bilanziert: »Im Ergebnis ist es der rechten Terrorgruppe, ihrem Umfeld und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern auch deswegen möglich, so lange unerkannt schwerste Straftaten zu begehen, weil die Rolle von Frauen in der rechtsextremen Szene seitens der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden unterschätzt wurde.« Overdieck 2014, S. 37. 1362 Kriegerin, TC: 0:19.

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Der Vorspann wirft eine Reihe von Fragen auf: Wer sind die beiden? Was ist passiert? Warum wurde die Ältere erschossen und von wem? Was hat dies mit dem Gesagten zu tun? Ist die Voice-over das Resümee der Sterbenden? Wenn ja, in welchem Zusammenhang steht ihr gewaltsamer Tod mit ihrem offenkundig rechten Weltbild? Die Kamera nimmt ihr Gesicht in Nahaufnahme in den Blick. Der nächste Schnitt führt in ihre Erinnerung. Ihr heftiges Atmen fungiert als Soundbridge. Wieder befindet sie sich am Ostseestrand, wieder ringt sie um Luft. Sie ist jetzt etwa zehn Jahre alt und läuft mit einem schweren Rucksack beladen auf ihren Großvater zu, der sie in einer Art Geländespiel unter Durchhalteparolen abzuhärten sucht. »Meine Kriegerin«, lobt er das erschöpfte Mädchen.1363 Gerahmt von der Sterbeszene am Ostseestrand wird die eigentliche Handlung des Films in einer Rückblende erzählt. Es ist Sommer, wenige Tage oder Wochen vor ihrem gewaltsamen Tod. Die erwachsene Marisa besucht ihren sterbenden Großvater im Krankenhaus: »Alles wird sich ändern. Es ist Krieg und da ist alles erlaubt. Aber in jedem Krieg gibt es Opfer«, fährt die Voice-over fort. Im Bild wird Marisa dazu mit einem großen Blumenstrauß im Fahrstuhl des Krankenhauses gezeigt. Von welchem Krieg spricht sie? Von einem Krieg, den Neonazis gegen alle führen, die ihren Feindbildern entsprechen? Gegen die Demokratie? Wer ist sind die Gegner_innen, wer die Opfer? Sie selbst? Der Großvater, den man nun, ebenfalls sterbend, im Krankenbett liegen sieht? Zusammenfassung der Haupthandlung Nach den einführenden Rückblenden werden die Ereignisse, die zu Marisas Tod führen werden, in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Handlungsort ist eine namenlose ostdeutsche Kleinstadt. Hauptfigur Marisa ist eine der Führungsfiguren einer lokalen Neonazigruppe. Gewaltsam setzt sie ihre territorialen Ansprüche gegen alle, die ihren Feindbildern entsprechen, durch. Bereits in einer der ersten Sequenzen sieht man ihre Clique, angeführt von Marisa selbst und ihrem Freund Sandro (Gerdy Zint), in einem Regionalzug zuerst ihren antiasiatischen Rassismus1364 an einem Paar ausagieren, dann auf einen weißen, offensichtlich nichtrechten Jugendlichen losgehen. Wohl als Folge dieses Angriffs wird die Wohnung, in der Marisa mit ihrer alleinerziehenden Mutter Bea lebt, von einem Sondereinsatzkommando der Polizei gestürmt. Warum nur Sandro bei diesem Einsatz verhaftet wird, bleibt offen. Beim Einkauf im Supermarkt, in dem Marisa mit ihrer Mutter arbeitet, kreuzen sich die Wege der zentralen Figuren das erste Mal: Rasul (Sayed Ahmad 1363 Ebd., TC: 02:16. 1364 Zum Begriff des antiasiatischen Rassismus vgl. Utlu 2013.

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Marisa beim Angriff auf die Reisenden in einem Regionalzug

Wasil Mrowat) und sein älterer Bruder Jamil sind aus Afghanistan geflohen. Sie wollen weiter nach Schweden, wo Verwandte von ihnen leben. Momentan sind sie in einer Unterkunft für Geflüchtete untergebracht. In der Schlange vor der Kasse stehen auch die 15-jährige Svenja, die sich im Verlauf der Handlung der Neonaziclique um Marisa anschließen wird, und ihre Mutter. Wenig später setzt ein rassistischer Angriff am Badesee die Kausalkette der nun folgenden Ereignisse in Gang. Gewaltsam vertreibt die Neonaziclique um Marisa Rasul und Jamil, die ebenfalls schwimmen wollen. Rasul, der die Demütigungen nicht einfach hinnehmen will, tritt den Seitenspiegel von Marisas Auto ab. Die Brüder fliehen mit ihrem Moped. Als Marisa den Schaden bemerkt, nimmt sie die Verfolgung auf und rammt das Moped der Brüder von der Straße. Als sie am nächsten Tag am Tatort vorbeifährt hält sie an und entdeckt das Blut ihrer Opfer im Gras. Konfrontiert mit den Folgen ihrer Tat, regt sich ihr Gewissen. Da Rasul von nun an allein im Supermarkt auftaucht, glaubt Marisa, seinen Bruder getötet zu haben. Auch wegen ihrer Schuldgefühle gelingt es Rasul, ihr ihre Unterstützung abzutrotzen: Er braucht Hilfe bei der Organisation seiner Weiterreise nach Schweden. Wie sich jedoch später herausstellen wird, ist Jamil noch am Leben. Er ist nach Pakistan abgeschoben worden. Ohne den älteren Bruder kann Rasul nicht in der Unterkunft bleiben. Als er in ein Heim für minderjährige unbegleitete Geflüchtete gebracht werden soll, reißt er sich los und flieht vor Heimleiterin und Polizisten. Er findet Unterschlupf in einem leerstehenden Gebäude. Marisa lässt zu, dass er sich im Supermarkt bedient. Es kommt deshalb zu einer Eskalation zwischen Mutter und Tochter. Dies ist der Beginn einer vorsichtigen Annäherung zwischen der Neonazistin und dem Geflüchteten. Immer mehr wird Marisa riskieren, um ihm zu helfen. Wohl auch, weil sie in ihrer Trauer um den sterbenden Großvater in ihrem Umfeld keine Unterstützung

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findet, beginnt sie, Zeit mit Rasul zu verbringen. Einen gegenläufigen Prozess durchläuft Svenja, deren Einstieg in den neonazistischen Freundeskreis nachvollzogen wird. Es sind Sommerferien und die Neonaziclique erscheint als einzige Möglichkeit, etwas zu erleben, hält Spannung, Abenteuer und nicht zuletzt männliche Aufmerksamkeit für Svenja bereit. Zudem leidet die 15-Jährige unter den psychischen Schikanen ihres autoritären Stiefvaters Oliver. So ist es wenig verwunderlich, dass sie gerade die toughe Marisa, die sich von anderen nichts gefallen lässt und nicht nur verbal zurückschlägt, als Vorbild wählt. Dies, obwohl Marisa der Jüngeren unsanft zu verstehen gibt, dass sie in der Clique unerwünscht ist. Marisa hat Rasul zu Hause im Schuppen einquartiert. Dass ein Ort, an dem ihre Neonazifreunde ein- und ausgehen, nicht sicher für Rasul ist, der wegen seiner Sprache und Hautfarbe in deren rassistisches Feindbild passt, scheint sie nicht bedacht zu haben. Insbesondere durch Schlägernazi Sandro droht Gefahr. Aus dem Partner und Gesinnungsgenossen ist eine Bedrohung geworden. Rasul kann es kaum erwarten, zu seinen Angehörigen nach Schweden zu kommen. Doch Rasul und Marisa erfahren, dass die Überfahrt nach Schweden teuer ist. Derweil läuft Svenja nach einem heftigen Streit mit Stiefvater Oliver von zu Hause weg. Zuvor plündert sie noch dessen Bargeldvorräte und besprayt das elterliche Wohnzimmer mit Neonaziparolen. Nun überschlagen sich die Ereignisse: Als Sandro Rasul tatsächlich begegnet, verprügelt er ihn brutal. Nun reicht es Marisa. Sie legt die Insignien ihrer neonazistischen Gesinnung ab und macht sich mit dem blutenden Rasul auf den Weg zur Ostsee, von wo aus seine Überfahrt nach Schweden starten soll. Zuvor rechnet sie noch mit Sandro ab: Mit einem Baseballschläger verprügelt sie den überraschten Sandro und nimmt die ebenfalls konsternierte Svenja mit sich. Als sie an einer Raststätte halten, ruft Svenja Sandro an und verrät ihm das Ziel der Fahrt. Am Ostseestrand schließt sich der Kreis: Rasul besteigt sein Boot nach Schweden. Gleichzeitig erreicht der von Svenja herbeitelefonierte Sandro den Strand. Er erschießt Marisa. Wie bereits im Vorspann liegt sie schließlich tödlich verwundet im Sand. Eine Rückblende zeigt ihre letzte Erinnerung: Abermals ist sie als etwa 10-jähriges Mädchen mit ihrem Großvater am Strand zu sehen: Auf die körperliche Abrichtung im Vorspann folgt nun die ideologische Indoktrination in das antisemitische Weltbild. Der brutale Mord an Marisa veranlasst nun auch Svenja, den Neonazismus zu überdenken. Der Film endet mit ihrer Voice-over, in der die Reflexionen über Demokratie aus dem Vorspann aufgegriffen werden: Dieses Mal jedoch als positives Bekenntnis gewendet.

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Harte Schale: Marisas Inszenierung als gewalttätige Neonazistin Die Zuschauenden lernen Marisa als bereits überzeugte Neonazistin kennen. Eine Kausalkette sich überschlagender Ereignisse lösst eine Rückzugsbewegung aus ihrem neonazistischen Umfeld aus. Optisch entspricht Marisa jedem Neonaziklischee: Sie trägt einen Feathercut, eine typische Reneefrisur : Bis auf den Pony, der seitlich in Koteletten übergeht, sowie den langen Strähnen im Nacken ist ihr Haar wenige Millimeter kurz. Beim Angriff im Regionalzug ist auf ihrem T-Shirt in Frakturschrift »Nazibraut« zu lesen. Als ein weiteres Zeichen ihrer Gesinnung hat sie sich »14 Words«, den Code für das rassistische Bekenntnis des US-amerikanischen Neonazis David Eden Lane – »We must secure the existence of our people and a future for white children« – auf die Unterseite ihres rechten Unterarms tätowieren lassen.1365 Passenderweise wird der Schriftzug in dem Moment sichtbar, in dem sie den Arm zum Hitlergruß hebt.1366 Wird vor allem Sandro gängigen Klischees entsprechend als so stumpfer wie aggressiver Schlägertyp skizziert, erscheint Marisa ungleich facettenreicher, was nicht zuletzt mit der immensen schauspielerischen Leistung Alina Levshins zusammenhängt. Bereits ihre Einführung in die Handlung ist voller Kontraste: Lag sie im Vorspann hilflos sterbend am Strand und wurde anschließend als liebevolle Enkelin am großväterlichen Krankenbett gezeigt, tritt sie in der ersten Sequenz der Haupthandlung als rechte Gewalttäterin in Aktion. Wenn die Clique in einem Regionalzug auf verschiedene Personen losgeht, die entlang rechter Feindbilder als Gegner_innen ausgemacht wurden, ist Marisa, anders als Melanie – vor Svenjas Auftauchen die einzige weitere Frau in der Clique – aktiv an den Angriffen beteiligt. Gemeinsam mit Sandro agiert sie hier als Anführerin.1367 Ihre Gewalttätigkeit wird dabei eindrücklich in Szene gesetzt: Wenn sie auf ihre schon am Boden liegenden Opfer eintritt, ist ihr hasserfülltes Gesicht in Nahaufnahme zu sehen. Hiermit widerspricht der Film den einleitend erwähnten sexistischen Imaginationen von Neonazistinnen als friedfertige, unpolitische und eher passive Freundinnen männlicher Neonazis.1368 Als Rasul und Jamil am Badesee attackiert werden, agiert Marisa sogar aggressiver als die männlichen Neonazis. In einer Verkehrung traditioneller Geschlechterrollen ist sie es, die einem ihrer Kameraden

1365 Vgl.: Netz gegen Nazis 2009. Agentur für soziale Perspektiven e. V. (o. J.). 1366 Kriegerin, TC: 04:05. An anderen Stellen ihres Körpers finden sich weitere tätowierte Bekenntnisse zum Neonazismus, etwa ein unterhalb des Schlüsselbeins platziertes Hakenkreuz, das sie sich wegen dessen Strafbarkeit während der Arbeit im Supermarkt abklebt. Ebd., TC: 07:02. 1367 Ebd., TC: 03:35f. 1368 Zu den Stereotypen über rechte Frauen vgl. Radvan, Voightländer 2014, S. 10.

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gegen Rasul zur Hilfe kommt und damit als Beschützerin eines Mannes agiert.1369 Ihre Gewalttätigkeit tritt insbesondere in der Schlüsselszene zutage, in der sie Rasul und Jamil mit ihrem Auto verfolgt und von der Straße rammt. In Nahaufnahmen ist Marisas grimmig-entschlossener Gesichtsausdruck im Profil zu sehen. Lauter Rechtsrock dröhnt aus der Anlage des Autos. Der Refrain »Reloaded, reloaded, Holocaust reloaded« veranschaulicht und verstärkt ihre Mordlust.1370 Mit seiner Aufforderung, den Holocaust erneut zu vollziehen, bietet der Song somit den passenden Soundtrack zur Jagd auf die entlang rassistischer Feindzuschreibungen als minderwertig markierten Brüder.1371 Der nun folgende Angriff wird ausschließlich aus Marisas Perspektive dargestellt. Von den hinteren Sitzen des Autos gedrehte Einstellungen zeigen, wie das Moped der Brüder in ihr Blickfeld kommt; dazwischen erneut Profilaufnahmen ihres wütenden Gesichts. Während des Aufpralls das Schwanken der nun entfesselten Handkamera, ein Knall ist zu hören. Aus der Distanz einer Totalen sieht man das Moped der Brüder am Straßenrand liegen. Über den Zustand der beiden ist nichts zu erfahren. Die Zuschauenden teilen an dieser Stelle Marisas (Un-) Wissens über die Folgen des Angriffs. Die Kamera ist auch nach dem Angriff ganz bei Marisa, zeigt ihr erhitztes Gesicht. Als sie wendet und erneut Gas gibt, wirkt es zuerst, als würde sie die Brüder erneut anfahren. In einer Detailaufnahme wird gezeigt, wie sie die Musik ausschaltet und sich nervös eine Zigarette anzündet.

Marisa und die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in der extremen Rechten Marisas Machtposition in der Gruppe wird insbesondere an ihrem Verhalten gegenüber Svenja deutlich. Da sie die Jüngere nicht dabei haben will, befiehlt Marisa Svenjas Freund Markus, sie wegzubringen. Obwohl sich die übrigen Cliquenmitglieder augenscheinlich gut mit Svenja verstehen, gehorchen Markus und Svenja. Marisa und nicht etwa einer der männlichen Neonazis ist es, die bestimmt, wer bleiben darf.1372 Auch wenn Marisa weit oben in der Hierarchie ihrer Clique steht, wird ihre Machtposition in anderen neonazistischen Zusammenhängen nicht akzeptiert. Als Frau muss sie sich dort unterordnen. Dies 1369 Kriegerin, TC: 17:30f. 1370 Ebd., TC: 19:11. 1371 Wie Rommelspacher bezüglich des Nationalsozialismus ausführt, nehme man, indem man sich auf dessen »Macht über Leben und Tod« beziehe, »symbolisch an ihr teil«. Entsprechend biete »die Geschichte ein unerschöpfliches Reservoir an Bebilderungen der eigenen Machtphantasien« Rommelspacher 2006, S. 55. 1372 Kriegerin, TC: 22:07.

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wird auf einer Party deutlich.1373 Ein älterer Neonazi will Sandro eine Waffe verkaufen.1374 Marisa, die auf dem Schoß ihres Freundes sitzt, mischt sich in die Verhandlung ein, beschwert sich über den zu hohen Preis für den Revolver. Der ältere Österreicher verlangt von Sandro nun, sie »unter Kontrolle« zu halten: »Musst du immer dazwischen quatschen, wenn Männer Geschäfte machen?«, fährt er sie an. Das lässt sich Marisa nicht gefallen. In einer Detailaufnahme wird gezeigt, wie sie ihm den Mittelfinger entgegenstreckt. »Weißt du, was man mit einer wie dir gemacht hätte früher? Gleich ins Gas«, kontert er. Marisa steht nun auf und zielt mit der Waffe erst auf den Österreicher, dann auf Sandro. Dieser schlägt sie ins Gesicht: »Du weißt einfach nicht, wann es genug ist«, weist er sie zurecht. Um seine Männlichkeit zu verteidigen, meint er dem Ranghöheren beweisen zu müssen, dass er seine Partnerin unter Kontrolle hat. Tatsächlich bildet diese Szene die Geschlechterverhältnisse in der extremen Rechten treffend ab. Auch wenn sich dort einige Frauen gerade in der letzten Zeit durchaus wichtige Positionen erkämpft haben, diene dort, wie Röpke schreibt, »das Frauenbild aus der Zeit des Nationalsozialismus« nach wie vor als Orientierung. Entsprechend sei das »neue Selbstbewusstsein […] gepaart mit dem Bemühen, den Spagat zwischen moderner Gesellschaft und nationalsozialistischer Ideologie hinzubekommen. Insgesamt herrscht bei der NPD, den Freien Kräften und den Autonomen Nationalisten nach wie vor ein traditionsbewusstes Rollen- und Geschlechterverständnis vor.«1375

Opa war ein Nazi oder: Neonazismus als Familiendrama I Marisas Neonazismus wird alleinig in den Begründungszusammenhang innerfamiliärer Konflikte gestellt. Da Mutter Bea, wie gleich an mehren Stellen des Films verdeutlicht wird, der Tochter mit Kälte begegnet, Marisa immer wieder zurückweist, entwickelt die Tochter eine innige Beziehung zu ihrem Großvater. Das angespannte Mutter-Tochter-Verhältnis wird bereits relativ am Anfang deutlich: Marisas Versuch, die Mutter zu umarmen, wird von dieser abgewehrt. Sie stößt die Tochter zurück.1376 Bald wird deutlich, dass der Großvater der Kern des Mutter-Tochter-Konflikts ist. Bea weigert sich, den Sterbenden im Krankenhaus zu besuchen, sie wolle erst kommen, wenn er aufgehört habe zu 1373 Ebd., TC: 51:50. 1374 Er erinnert mit seinem wienerischen Akzent an den prominenten österreichischen Neonazi Gottfried Küssel. Der Verleger und Holocaustleugner gilt als eine der Führungsfiguren der deutschsprachigen Neonaziszene. Vgl.: News ORF 2013. 1375 Röpke 2014. 1376 Kriegerin, TC: 05:30. Auch an anderer Stelle gibt Bea der Tochter ihre Geringschätzung zu spüren: »Es gibt ja nicht sehr viel, was du richtig gut kannst.«Ebd., TC: 10:59.

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atmen.1377 Als sich abzeichnet, dass er nicht mehr nach Hause zurückkehren wird, wirft Bea zu Marisas Verzweiflung dessen Sachen aus dem Fenster.1378 Der Grund für Beas Hass auf den Vater wird jedoch erst im Showdown deutlich: Dass der Großvater Marisas Mutter misshandelte, als sie schwanger wurde, sich gegenüber der Enkeltochter dennoch liebevoll zeigte, vergiftete das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.1379 Warum die Mutter bei ihrem Peiniger wohnen blieb und dieses Geheimnis auf Kosten ihrer Beziehung zu Marisa hütete, ihrem Vater das Kind sogar gewissermaßen überließ, bleibt offen. Zurückgewiesen und unverstanden von ihrer alleinerziehenden Mutter – überforderte alleinerziehende Elternteile sind wie bereits in vorhergehenden Kapiteln gezeigt, ein Klischee im filmischen wie außerfilmischen Diskurs über Neonazis, das sich ausnahmslos durch beinahe jeden Spielfilm zum Thema zieht– sucht Marisa Halt bei ihrem Großvater, einem Altnazi.1380 Auf ihre enge Bindung zu dieser Bezugsperson wird auch ihr Neonazismus zurückgeführt: Zwei Rückblenden in Marisas Kindheit, welche die Handlung des Films rahmen, zeigen ihre an nationalsozialistischen Werten ausgerichtete Abrichtung durch den Großvater. Dort sieht man, wie er sie unter Durchhalteparolen mit einem mit Sand gefüllten Rucksack auf dem Rücken am Ostseestrand entlang treibt. Auf den körperlichen Drill im Vorspann folgt die ideologische Schulung: Am Ende der Handlung wird in einer weiteren Rückblende gezeigt, wie er seine damals etwa 10-jährige Enkelin, die ihn als Zeitzeugen mit in die Schule nehmen möchte, in sein zutiefst antisemitisches geschichtsrevisionistisches Weltbild einweiht, demzufolge alles, was über den Nationalsozialismus gelehrt werde, jüdische Propaganda sei. Er appelliert dabei an die Loyalität der Enkelin: »Du musst genau überlegen, wem du glaubst. Sie sind mächtiger denn je und sie sind immer noch dabei, ihre Lügen und ihr Gift zu verbreiten.«1381 In ihrem Gespräch wird der von Welzer et al. herausgearbeitete Kontrast zwischen dem als »Lexikon« beschriebenen historischen Faktenwissen – hier repräsentiert durch den schulischen Geschichtsunterricht – und dem »Album« der großväterlichen Erzählungen deutlich.1382 Wie Welzer et al. misst auch Rommelspacher, die anhand von 1377 Ebd., TC: 26:15. 1378 Ebd., TC: 27:34. 1379 »Du weißt nicht, was ich hier erlebt habe. Du weißt nicht, was er mir angetan hat, dein lieber Großvater. Wie Dreck hat er mich behandelt. Wie Dreck. Als er gemerkt hat, dass ich schwanger bin, da hat er mich an den Haaren gerissen, die Treppe hinunter, bis unten. Dann mit seinen Stiefeln getreten, in den Bauch, bis mir schwarz vor Augen wurde. Als du dann da warst, da war alles gut, seine Prinzessin«, eröffnet Bea der Tochter. Ebd., TC: 1:25:53. 1380 Auch Cliquenmitglied Markus lebt, wie an späterer Stelle deutlich wird, alleine mit seinem Vater. Ebd., TC: 32:57. 1381 Ebd., TC: 1:35:25. 1382 »Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ›Lexikon‹ der natio-

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Biografien ehemaliger Neonazis deren Motive für ihre jeweiligen Ein-und Ausstiegsprozesse untersuchte, familiären Erzählungen über den Nationalsozialismus eine große Bedeutung für die Hinwendung zum Neonazismus bei. Gerade weil diese in einem Gegensatz zu dem in der Schule Gelernten stünden, und das Thema Nationalsozialismus auch innerhalb der Familien für Kontroversen sorge, könne damit nicht nur wirksam provoziert werden, sondern auch »Loyalität gegenüber bestimmten Familienmitgliedern bzw. gegenüber der Familie im Gegensatz zur Schule unter Beweis« gestellt werden.1383 »Man kann«, so Rommelspacher, »also keineswegs davon sprechen, dass sich im Rechtsextremismus immer der Protest der Jugendlichen gegen die Familie ausdrücke, sondern es können damit im Gegenteil gerade auch Familientraditionen fortgeführt werden, die möglicherweise nicht offen, sondern unterschwellig weitergegeben wurden.«1384 Dies scheint auch auf die Figur Marisa zuzutreffen. In ihrer Entscheidung für die nazistische Weltsicht erweist sie sich gewissermaßen als brave Enkeltochter im großväterlichem Auftrag. Ihr Neonazismus erscheint somit als Akt der Loyalität mit der geliebten Bezugsperson, der erst mit dessen Tod partiell infrage gestellt werden kann. Entsprechend erinnert sie sich an die ideologische Indoktrination durch den Großvater erst, als sie nach ihrem Bruch mit der Neonaziclique sterbend am Strand liegt. Im Licht der gleich an mehreren Stellen penetrant in Szene gesetzten disfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehung erscheint Marisas Hinwendung zum Nazismus als geradezu unvermeidlich: Die ungeliebte Tochter so suggeriert der Film, scheint weniger aus politischer Überzeugung, denn aus emotionaler Bedürftigkeit und Liebe zu ihrem Großvater Neonazistin geworden und geblieben zu sein. Die Art und Weise, in der Marisa sich dessen Ideologie aneignete, die Entscheidungen, die sie dabei traf, die Widerstände, auf die sie dabei stieß, werden nicht thematisiert. Die Zuschauenden bekommen vielmehr das Resultat – die ideologisch gefestigte Neonazistin Marisa – präsentiert.1385 Fragen nach Marisas Entscheidungen und nalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eins zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ›Album‹ vom ›Dritten Reich‹ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht, und Opferbereitschaft, Faszination und Größenfantasien bebildert, und nicht, wie das ›Lexikon‹ mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung«, beschreiben Welzer et al. 2005, S. 10 die beiden Wissensarten. 1383 Rommelspacher 2006, S. 37. 1384 Ebd., S. 38. 1385 Diesen so verkürzten wie psychologisierenden Begründungszusammenhang, der im Film für Marisas Gesinnung präsentiert wird, kritisiert auch Anke Leweke: »Die Mutter von Marisa wiederum schreckt vor den Berührungen ihrer Tochter regelrecht zurück, lässt sie ständig ihre Verachtung spüren. Und erst der in Rückblenden erscheinende Großvater, der seine Zuneigung stets an nationalsozialistisches Gedankengut koppelt! Vor der eigentlichen Herausforderung des Themas drückt sich Wnendt: die Übergänge zwischen ge-

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ihrer Verantwortung für diese kommen erst durch den vermeintlichen Mord an Jamil auf. Marisas Mutter indes kommentiert den Neonazismus der Tochter an keiner Stelle des Films. Zwar zeigt sich ihr Rassismus in der Art und Weise, in der sie Rasul und Jamil behandelt, aber ihre Haltung zum (Neo-)Nazismus wird nicht thematisiert. Indem der Film ausschließlich familiäre Krisen und Dynamiken fokussiert, wird die Rolle weiterer Instanzen der Sozialisation wie Schule, Ausbildungsplatz oder Jugendzentrum und nicht zuletzt diejenigen von (Lokal-)Politik und Medien vollkommen ausgeblendet: Eine Gesellschaft mit ihren Institutionen, Strukturen und Diskursen existiert in der Diegese nicht.

Weicher Kern: Marisas Rückzug aus der Neonaziclique Für einen Ausstieg oder Rückzug aus der extremen Rechten müssen, wie Rommelspacher feststellt, Erfahrungen gemacht werden, die das entsprechende Weltbild nachhaltig ins Wanken bringen: »So etwa, wenn die Rechtsextremen Menschen begegnen, die ›eigentlich‹ ihre Feinde sind, die ihnen jedoch mit Interesse und Respekt begegnen; oder wenn die eigene ›Überlegenheit‹ konkret auf den Prüfstand gestellt wird und gefragt wird, worin sie denn bestehe bzw. wer eigentlich zu den ›Übermenschen‹ gehört und wer nicht. Die Konfrontation mit den Konsequenzen der eigenen Ideologie – und zwar auf der persönlichen wie auf der politischen Ebene – lässt manche an ihrem eingeschlagenen Weg zweifeln. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Konfrontation mit einer persönlichen Krise einhergeht.«1386

Einige der von Rommelspacher aufgezählten Faktoren lassen sich auch bei der Rückzugsbewegung der Figur Marisa beobachten. So dient eine persönliche Krise als Katalysator : Das Sterben ihrer Bezugsperson entzieht ihr den Boden unter den Füßen, zumal der Großvater einen zentralen Einfluss auf ihre politische Sozialisation hatte. Nachdem sie Rasul und Jamil aus einem Wutanfall heraus angefahren hat, ist sie mit den direkten Folgen ihres neonazistischen Weltbildes konfrontiert: Sie glaubt, Jamil getötet zu haben. Getrieben von ihren Schuldgefühlen, dem neuen großväterlichen Auftrag, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen, und nicht zuletzt durch Rasuls Hartnäckigkeit beginnt sie, den geflüchteten Jungen zu unterstützen. Ungeachtet ihres gewalttätigen Rassismus behandelt Rasul sie nicht als Feindin, von der entsprechend nichts zu erwarten ist, sondern adressiert sie als Person, die ihm – gerade weil sie schichtlicher und familiärer Linearität und eigener Verantwortung auszuloten.« Leweke 2012. 1386 Rommelspacher 2006, S. 11.

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ihm etwas angetan hat – etwas schuldig ist. Ihre Annäherung an Rasull führt zunehmend zu einer Entfremdung von Sandro und den Neonazis. Bedingungen: Marisas weicher Kern Parallel zu ihrer Gewalttätigkeit wird Marisas weiche, liebevolle Seite bereits von Beginn an mehrfach in Szene gesetzt. Sie kümmert sich um ihren sterbenden Großvater, kuschelt sich an ihn, versucht, wenn auch vergeblich, mit ihrer Mutter Zärtlichkeiten auszutauschen.1387 Nachdem sie Rasul und Jamil rassistisch diskriminiert hat, sieht man sie etwa vor dem Supermarkt einen hellhaarigen Hund, genauer einen Golden Retriever, liebkosen.1388 Betrachtet man die weitere Entwicklung des Plots, geht es an diesen Stellen des Films weniger darum, die Gleichzeitigkeit zu betonen, mit der die Neonazistin ihre weißen Familienmitglieder und Tiere lieben und Menschen, die in ihrem völkischen Weltbild als unwert gelten, hassen, verachten und entsprechend behandeln kann, sondern darum, ihren sprichwörtlichen weichen Kern aufzuzeigen. Dieser weiche Kern, aufgrund dessen sie von der Vorstellung, Jamils Leben auf dem Gewissen zu haben, zutiefst erschüttert ist, steht in einem engen Zusammenhang mit eingangs erwähnten, tradierten Bildern von Weiblichkeit. Entsprechend gängiger Geschlechterstereotype scheint solch eine weiche Seite den männlichen Neonazis, insbesondere Sandro, vollkommen zu fehlen. Wendepunkte: Der rassistische Mordversuch als unüberlegte »Kurzschlussreaktion« In seiner Studie Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden verweist Welzer auf die »partikuläre nationalsozialistische Moral«. Diese beinhaltete als »zentrales Moment die Vorstellung erstens von einer absoluten Ungleichheit von Menschen, die aus der Sicht der Akteure wissenschaftlich begründet war, und zweitens die Setzung, dass diese Ungleichheit eine Bedrohung für die nach rassistischen Kriterien höherwertige Gruppe von Menschen bedeutete, der man um des eigenen Überlebens willen begegnen musste«.1389

Eine in den Geltungsbereich moralischen Handelns eingeschlossene WirGruppe stehe den daraus ausgeschlossenen Anderen gegenüber. Diese partikulare Moral ist auch zentrales Moment neonazistischer Ideologie. Konse1387 Kriegerin, TC: 04:54. 1388 Ebd., TC: 14:43. 1389 Harald Welzer (2005): Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a. M., S. 31.

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quenterweise müssten Rasul und Jamil, die nicht zur »arischen Volksgemeinschaft« gehören und denen deshalb entlang rassistischer Feindbilder gleiche Rechte sowie der Status als Menschen abgesprochen werden und die somit in den Augen der Neonaziszene aus dem von Welzer als »Universum allgemeiner Verbindlichkeit« bezeichneten »Geltungsbereich moralischen Handelns« von vornherein ausgeschlossen sind, eigentlich auch aus dem Geltungsbereich von Marisas Anteilnahme herausfallen. Zwar hat Marisa, indem sie die Brüder willentlich von der Straße abdrängt, deren Tod dabei zumindest billigend in Kauf genommen, aber ihr Gewalthandeln erscheint als affektgeleitet und spontan: Es erweckt den Anschein, dass Marisa sich der Konsequenzen ihrer Handlungen nicht bewusst ist. Hätte sie die Tat mit kühlerem Kopf geplant, wäre sie sicherlich nicht so schockiert von deren Folgen – Jamilis vermeintlichem Tod – gewesen.1390 Marisas Schuldgefühle werden von Wnendt eindrücklich in Szene gesetzt: Am nächsten Morgen hält sie am Tatort.1391 Zögernd nähert sie sich der mit Absperrband markierten Unfallstelle. In einer Detailaufnahme sieht man ihre Hand, die durch das blutige Gras tastet. Die folgende Einstellung zeigt ihren betretenen Gesichtsausdruck. Sie sucht am Krankenbett des Großvaters Zuflucht. In einem Closeup ist ihr an seine Brust geschmiegtes Gesicht zu sehen. Er scheint zu verstehen, dass etwas passiert ist. »Hast du was ausgefressen?«, fragt er die Enkelin.1392 Als Marisa schweigt, fährt er fort: »Weißt Du, ich hab in meinem Leben so viel Schlimmes gemacht, das reicht für vier. Und was du auch gemacht hast, so schlimm kann das nicht gewesen sein«, versucht er sie zu trösten. »Aber man muss für alles bezahlen und geradestehen und den Dreck wegmachen, den man gemacht hat«, gibt er ihr mit auf den Weg. Dabei hält er ihr Gesicht in den Händen, schaut ihr in die Augen. Ob er von seinen Taten während des Nationalsozialismus oder von den Verletzungen, die er seiner Tochter Bea zugefügt hat, spricht, bleibt offen. Marisa, die sich Absolution wünschte, wird stattdessen mit der so späten wie folgenlosen Reue konfrontiert, die den alten Nazi angesichts des nahenden Todes zu überkommen scheint. Vielleicht bringt auch dessen späte Einsicht ihr Weltbild ins Wanken. Marisas Schuldgefühle jedenfalls erscheinen als Ansatzpunkt und Motor der sich nun entwickelnden

1390 Marisas Gewissensbisse verwundern auch deshalb, da aus vielen Prozessen gegen neonazistische MörderInnen hinlänglich bekannt ist, dass diese keinerlei Reue zeigen, ihre Opfer sogar posthum degradieren – ein so prominentes wie abstoßendes Beispiel ist das Bekennervideo des NSU, in dem die Ermordeten durch zwischen Bilder der einzelnen Morde montierten Sequenzen aus dem Zeichentrickfilm Paulchen Panther verhöhnt werdenAntifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (Hg.) (2011): Transkript Bekennervideo NSU (korr. 05/2013). Online: https://www.nsu-watch.info/files/ 2013/05/NSU-Transkript.pdf. (abgerufen: 25. 06. 2016). 1391 Kriegerin. TC: 25:08. 1392 Ebd., TC: 26:34.

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Kausalkette, die sie näher an Rasul heran- und weg von der Neonaziclique führen wird.

Marisas Annäherung an Rasul Für Marisas Annäherung an Rasul werden im Film zwei Motive aufgezeigt. Nach ihrem im Affekt begangenen Mordversuch hat sie Schuldgefühle. Auch scheint sie sich in ihrer Trauer um den verstorbenen Großvater bei Rasul wohler zu fühlen als bei dem aggressiven Sandro. Wegen ihres eindrücklich in Szene gesetzten schlechten Gewissens ist Marisa, nachdem sie die Brüder mit dem Auto attackiert hat, bei ihrer rassistischen Boykottaktion gegen Rasul weniger entschlossen und erfolgreich.1393 Bei ihrer ersten Begegnung nach dem »Unfall« ist sie allein mit ihm im Supermarkt. Sein herausfordernder Blick trifft die an der Kasse Sitzende von schräg oben. Dieses Mal kann sie nicht standhalten, klingelt nach ihrer Mutter. Als Bea nicht reagiert, beginnt sie, seine Einkäufe zu verbuchen: ein erster Sieg für Rasul. Er reicht ihr seinen Warengutschein. Da dieser für seine Einkäufe nicht ausreicht, ist Marisa gezwungen, das erste Mal mit ihm zu sprechen. »Das reicht nicht, hast du noch so einen Gutschein?« Als er nicht antwortet, legt sie einen Teil der Waren zur Seite. Doch Rasul ignoriert sie und packt alles in seinen Rucksack. Marisa lässt es geschehen. Bei ihrer nächsten Begegnung, Rasul ist inzwischen aus der Wohnunterkunft geflohen, fordert er Geld und Essen.1394 Dies verweigert sie ihm, fragt jedoch nach Jamil. Dass sie seine Antwort – »he gone« – als dessen Tod deutet, ist ihrem betretenen Gesichtsausdruck zu entnehmen. Erst später wird sie ihn direkt nach Jamil fragen und erfahren, dass er infolge des Unfalls ins Krankenhaus kam und aufgrund von Problemen mit seinen Papieren abgeschoben wurde.1395 Rasul beginnt nun, Waren aus den Regalen auf den Boden zu werfen und wiederholt seine Forderung nach Lebensmitteln. Marisa willigt ein, lässt ihn seinen Rucksack füllen. Nun führt eine Aktion zur nächsten: Bea beobachtet, wie Rasul den Laden mit vollgestopften Taschen verlassen will, und versucht, ihn aufzuhalten. Marisa geht dazwischen, ohrfeigt die Mutter. Mit dieser Reaktion hat Marisa nicht nur den Zorn ihrer Mutter auf sich gezogen: Bea will die Polizei rufen, was Marisa, die sich als Mörderin von Jamil sieht, zur Flucht aus dem Laden veranlasst. Indem er sich vor ihr Auto stellt, nötigt Rasul Marisa nun, ihn mitzunehmen. In der nächsten Einstellung sitzen die beiden in Marisas rotem Golf. Wenn auch aus 1393 Ebd., TC: 29:55. 1394 Ebd., TC: 37:47. 1395 Ebd., TC: 1:31:11.

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verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Konsequenzen fliehen Geflüchteter und Neonazistin gemeinsam vor der Polizei: Die Kausalkette der Ereignisse hat, wenn auch gegen Marisas eigentlichen Willen, temporär ein Wir geschaffen, das so gar nicht mit dem völkischen Wir zu tun hat, das Marisa bis zuvor gelebt und vertreten hat. Ein weiterer Meilenstein in der Annäherung zwischen Marisa und Rasul erfolgt gleich im Anschluss: Sie trägt ihm eine im Auto vergessene Konserve nach. Auf dem Gelände der leerstehenden Kaserne, in der er Unterschlupf gefunden hat, tritt Marisa in einen Nagel. Sie schreit vor Schmerz, versucht vergeblich, diesen aus der Sohle ihres Turnschuhs zu ziehen. Rasul, der die Szene zuerst mit skeptischen Blicken aus der Distanz beobachtet, wird in der nächsten Einstellung dabei gezeigt, wie er ihren Fuß fachkundig verarztet. In einer Reihe von Detailaufnahmen sieht man ihn die Wunde reinigen und verbinden. Plötzlich auf ihn angewiesen, wird Marisa trotz allem, was sie ihm und Jamil angetan hat, fair behandelt. Später sitzen die beiden einträchtig auf seinem Matratzenlager. Auf einem Campingkocher hat Rasul Tee gekocht und zeigt Marisa, wie er diesen trinkt: Er nimmt ein Zuckerstück wie ein Bonbon in den Mund, schüttet den Tee hinterher. Marisa, plötzlich aufgeschlossen, macht es ihm nach. Ist das von Kerzenlicht erleuchtete Fenster des verfallenen Hauses in der nächsten Einstellung von außen zu sehen, wird deutlich, dass die beiden wohl einige Zeit miteinander verbracht haben. Auch an anderer Stelle verhält Rasul sich entgegen den Annahmen der Rassistin: Auf ihre suggestive Frage, ob es ihm in Deutschland gefalle, antwortet er : »Germany very bad. I miss my familiy too much.« Er erzählt ihr, dass er weiter nach Schweden will.1396 Als ein weiteres Motiv für Marisas Annäherung an Rasul wird ihre Enttäuschung über Sandro dargestellt. Nach einem heftigen Streit mit diesem ist Marisa in der darauffolgenden Sequenz mit Rasul zu sehen. Sie sitzen im Auto: Es regnet strömend. Rasul umschlingt frierend seinen Oberkörper mit den Armen. Marisa dreht die Autoheizung auf und richtet das Gebläse auf ihn.1397 Diese fürsorgliche Geste wird in einer Detailaufnahme betont. Dass sie ihre neonazistische Gesinnung damit jedoch bei weitem noch nicht abgelegt hat, wird ersichtlich, wenn sie ihm kurz darauf erzählt, dass sie sich die Porträts ihres Großvaters und Hitlers auf die Oberarme tätowieren lassen möchte. Während dieser Worte ist Rasuls verständnisloses Gesicht zu sehen. Von nun an unterstützt Marisa Rasul aktiv dabei, seine Weiterfahrt nach Schweden zu organisieren. Mehrmals ist zu sehen, wie sie mit Fluchthelfer_innen telefoniert. Als Marisa Rasul in ihrem Schuppen versteckt, ist damit ein 1396 Ebd., TC: 1:14:17. 1397 Ebd., TC: 1:12:23.

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weiterer, erzwungener Perspektivwechsel verbunden. Nun muss sie ihn vor der Entdeckung durch ihr neonazistisches Umfeld verbergen. Als sie Rasul einmal belegte Brote bringen will, trifft sie unerwartet auf Sandro. Ihr Schreck wird eindrücklich in Szene gesetzt: Marisa lässt den Teller zu Boden fallen, stammelt eine Ausrede. In Closeups wird gezeigt, wie sie hektische Blicke in Richtung des Schuppens wirft.1398 Als Rasul Sandro und der Clique tatsächlich begegnet, wird er erwartungsgemäß zusammengeschlagen. Dies ist für Marisa ausschlaggebend, mit der Clique zu brechen. Nach dem Angriff, der selbst nicht gezeigt wurde, sitzt Rasul zusammengekauert im Garten, Marisa hockt sich neben ihn, zieht vorsichtig seine Arme zur Seite, in denen er sein Gesicht verborgen hält. In einer Nahaufnahme wird ihr nun schockierter Gesichtsausdruck in den Blick genommen. Ein Teil seines Gesichts ist unscharf am linken Bildrand zu erkennen. Erst in der nächsten Einstellung sind seine Verletzungen zu sehen: Rasul blutet an der Schläfe und der Lippe. Ein Auge ist zugeschwollen. Der Fokus liegt auch in dieser Szene weniger auf Rasul, seiner Angst und seinen Schmerzen, denn darauf, was die rassistische Gewalttat gegen den neuen Freund bei Marisa auslöst. Sie umarmt den Verletzten. In der nächsten Einstellung sieht man, wie sie vor dem Spiegel steht und sich der Symbole des Neonazismus entledigt:1399 Sie legt die Kette mit dem Thorshammer-Anhänger ab, die Sandro ihr zur Versöhnung geschenkt hat, überklebt ihr Hakenkreuztatoo mit einem Pflaster, wischt sich den Kajalstift ab und zieht ein feminines Sommerkleid über. Sie packt ein paar Kleider ein, holt einen Baseballschläger unter dem Bett hervor, verabschiedet sich von Melanie. Die Konsequenz, mit der Marisa diesen Bruch mit ihrem vorherigen Leben vollzieht, wird auch daran deutlich, dass sie Bea zur Seite stößt, die Marisa anfleht zu bleiben, ihr droht – »wenn du jetzt dieses Haus verlässt, dann bist du nicht mehr meine Tochter« – und ihr plötzlich die Wahrheit über den Großvater erzählt. Erst nach dem Bruch mit der Naziclique schafft es Marisa, sich bei Rasul für den vermeintlichen Mord an Jamil zu entschuldigen: » I’m sorry with your brother. Is he dead?« Rasul verneint und fragt, warum sie dies glaube. Auf ihre Antwort »because of me« entgegnet er : »If you kill my brother, I kill you.«1400 Er erzählt nun, dass Jamil noch am Leben sei, jedoch ins Krankenhaus kam und von dort wegen Problemen mit seinen Papieren nach Pakistan abgeschoben worden sei. Warum er ihr diese ebenfalls existentielle Konsequenz des Angriffs verzeiht, bleibt offen. In der letzten Szene verabschiedet Marisa Rasul, der sein Boot nach Schweden besteigt. Mit Tränen in den Augen schaut sie ihm nach. Aus der Neonazistin ist eine Fluchthelferin geworden. 1398 Ebd., TC: 1:21:57. 1399 Ebd., TC: 1:25:10. 1400 Ebd., TC: 1:30:59.

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Marisas Entfremdung von Sandro Sandro trägt seine Glatze nass rasiert. In seinem Nacken prangt unter dem stilisierten Kopf eines Pittbulls der an die Waffen-SS gemahnende Schriftzug »Blut und Ehre«, später kommen noch zwei große Sig-Runen – das Logo der SS – seitlich an seinem Hals hinzu.1401 Inszeniert als stumpfer Schläger wird Sandro als unfähig zum Reden und Zuhören, als wenig empathisch dargestellt. Hatte sich das Paar bereits während seines Gefängnisaufenthalts am Telefon kaum etwas zu sagen, ihr stockendes Gespräch ist im ersten Drittel der Handlung zu vernehmen, versagt er nach dem Tod von Marisas geliebtem Großvater vollends als Partner. Unfähig zu Empathie und Zärtlichkeit scheint Sex die einzige Form zu sein, in der er positive Gefühle auszudrücken weiß. Sex und Gewalt sind auch in ihrer Paardynamik eng aneinander gekoppelt. Während des Angriffs im Regionalzug beginnen Marisa und Sandro, sich wild zu küssen. Nach einem Schnitt werden sie beim Sex gezeigt.1402 Hier erscheint Gewalt als sexuell stimulierend. Auch an anderer Stelle werden Sex und Gewalt als eng verknüpft gezeigt. Als Sandro während der Party auf Markus losgeht, beginnt Marisa, ihn zu küssen. Hier bleibt jedoch offen, ob dies nicht auch geschieht, um ihn davon abzuhalten, weiter auf Markus einzuschlagen.1403 Als Marisa erfährt, dass ihr Großvater verstorben ist, findet sie weder bei Bea noch bei Sandro Trost. Die Mutter stößt sie weg, will gerade in dieser Situation nicht von ihr angefasst werden.1404 Erstarrt von Verlust und Zurückweisung sitzt Marisa auf ihrem Bett. Sandros sexuelle Avancen kann und will sie jetzt nicht erwidern. Er zeigt keinerlei Einfühlungsvermögen und Geduld. Zwar fragt er sie, was los sei, doch als Marisa nicht sofort antwortet, wird er aggressiv, schlägt er ihr ins Gesicht: »Warum erwiderst du meine Liebe nicht?«, schreit er sie an, schlägt sie erneut und beginnt, sie vulgär zu beschimpfen: »Fotze, fick dich selber!« Marisa wirft ihn aus dem Zimmer. Weinend bleibt sie auf dem Bett sitzen: In einem Closeup wird gezeigt, wie ihr die Tränen über das Gesicht laufen, im Hintergrund ist der NS-Propagandafilm, den Sandro sich zuvor angesehen hat, zu hören. Enttäuscht von Mutter und Partner wird Marisa in der nächsten Sequenz mit Rasul gezeigt. Dass Sandro Rasul später zusammenschlägt, führt zum definitiven Bruch mit ihm und den übrigen Neonazis. In der nächsten Szene rechnet sie mit Sandro ab.1405 In der Wohnung, die den Neonazis als Treffpunkt dient, schlägt Marisa ihn mit einem Baseballschläger zusammen. Mit der überraschten Svenja und Rasul 1401 1402 1403 1404 1405

Ebd., TC: 03:42. Ebd., TC: 05:08. Ebd., TC: 50:30. Ebd., TC: 1:08:55. Ebd., TC: 1:27:17.

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will sie vor Sandro fliehen, der nun mit dem Baseballschläger angerannt kommt. Da das Auto zuerst nicht anspringt, gelingt es Sandro noch, eine Seitenscheibe zu zertrümmern. Spätestens ab diesem Punkt wird deutlich, dass nun nicht nur Rasul bedroht ist. Auch Marisa selbst muss jetzt vor der Wut des gewalttätigen Exfreundes fliehen.1406 Tatsächlich wird sie von ihm erschossen.

Rasul und die Thematisierung des Rassismus Rasul ist etwa sechzehn Jahre alt. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Jamil ist er aus Afghanistan geflohen. Aktuell sind sie in einer Wohnunterkunft für Geflüchtete untergebracht. Doch Deutschland ist für die Brüder lediglich eine Zwischenstation: Sie wollen weiter nach Schweden, wo ihr Onkel lebt. Da die beiden noch nicht lange in Deutschland sind, beherrschen sie die Sprache nicht. Rasul verständigt sich mit Deutschen mittels seiner rudimentären Englischkenntnisse.1407 Spricht er mit Jamil, werden ihre Gespräche manchmal untertitelt. In einigen Szenen widmet sich die Kamera ausschließlich Rasul, zeigt seinen Alltag in der heruntergekommenen Wohnunterkunft, später seine Flucht aus dieser. In einer kurzen Sequenz werden etwa die prekären Unterbringungsverhältnisse dargestellt. Da die verdreckte Kochplatte nicht funktioniert, kocht Rasul seinen Reis auf einem umgedrehten Bügeleisen.1408 Besonders nach Jamils Abschiebung verhält sich Rasul Marisa gegenüber offen konfrontativ, wendet jedoch keine körperliche Gewalt an. Schweigend starrt er sie so lange an, bis er seinen Willen bekommt. Die Begegnungen zwischen ihm und der Neonazistin werden als Machtkämpfe inszeniert, die lediglich mit Blicken ausgetragen werden: Montiert wie Western-Duelle im Schuss-Gegenschuss-Prinzip. Es gelingt Rasul, sich gegen Marisa durchzusetzen. Trotzdem bleibt offen, warum er sich auf der Suche nach Hilfe ausgerechnet an die Neonazistin wendet, die sich anfangs weigert, ihn und Jamil zu bedienen, die beide am See angreift und später sogar mutwillig mit dem Auto rammt. Nicht zuletzt ist auch Jamils Abschiebung nach Pakistan eine Folge dieses Angriffs. Dass er auf Lebensmittel angewiesen ist und der Supermarkt, in dem Marisa arbeitet, die einzige Einkaufsmöglichkeit weit und breit zu sein scheint, mag ein Teil der Erklärung sein. Gerade bezüglich Rasuls Suche nach Unterstützung bilden die anderen Geflüchteten, mit denen er untergebracht ist, eine weitere Leerstelle. Sie 1406 Ebd., TC: 1:28:27. 1407 Dass die Englischkenntnisse seiner deutschen Gesprächspartnerinnen – Marisa und der Leiterin der Wohnunterkunft – auf einem ähnlichen Niveau wie dem seinigen rangieren, trägt ebenfalls nicht dazu bei, die Kommunikation zu erleichtern. 1408 Kriegerin. TC: 31:43.

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geraten kaum je ins Bild. Ihre Erfahrungen, die ihnen das Überleben angesichts des grassierenden Rassismus sichern – angefangen von zu bestimmten Uhrzeiten oder generell zu meidenden Orten, Praktiken des Selbstschutzes wie gemeinsames Einkaufen bis zum Wissen über Abläufe des Asylverfahrens und der Organisation der Weiterreise nach Schweden – spielen im Film keine Rolle. Zum Schluss gelingt es Rasul mit Marisas Hilfe seine Weiterflucht nach Schweden zu organisieren.

Rasul ertrotzt Marisas Unterstützung

Alltäglicher Rassismus Rasul wird in der ersten Supermarktszene eingeführt. Hier begleitet die Kamera zuerst Svenja und ihre Mutter, dann ihn und seinen älteren Bruder Jamil beim Einkauf.1409 Ihr Gespräch wird untertitelt, was den Zuschauenden ermöglicht, Nähe zu den Brüdern herzustellen. An der Kasse angelangt, wird in einer Detailaufnahme kurz der Wertgutschein in den Blick genommen, mit dem die beiden Geflüchteten zahlen müssen.1410 Hier wird, wenn auch kurz, auf die diskriminierende Praxis verwiesen, Wertgutscheine statt Bargeld an Geflüchtete auszugeben. Als bekennende Rassistin weigert Marisa sich anfangs, die Brüder zu bedienen.Während Rasul sie direkt anschaut und gegenüber Jamil als »komische Frau« bezeichnet, weist der Ältere, der nicht nur in dieser Szene ängstlich darauf bedacht ist, Konflikte zu vermeiden – ob speziell mit Marisa und ihrer Neonaziclique oder allgemein mit Repräsentant_innen der weißen Mehrheitsgesellschaft bleibt offen –, den Jüngeren an, den Mund zu halten. Es wird nicht klar, 1409 Ebd., TC: 13:25. 1410 Ebd., TC: 14:00.

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wie die Brüder Marisa einordnen, ob sie diese bereits als Neonazistin erkannt haben. Der Film bezieht sogar einen Teil seiner Spannung aus der ungeklärten Frage, was sich Rasul für ein Bild von Marisa gemacht hat. Neben Marisas offen propagiertem Rassismus werden im Supermarkt auch Formen des alltäglichen, kurz sogar des institutionellen Rassismus sichtbar : Svenja und ihre Mutter, die ebenfalls an der Kasse warten, scheinen sich an der respektlosen Behandlung, die den beiden zuteil wird, nicht zu stören. Svenjas Mutter beschwert sich lediglich über die längere Wartezeit. Marisas Mutter, die hinzukommt, will von der Tochter wissen, was los sei. Deren Antwort – »So was bedien’ ich nicht« – bleibt unkommentiert. Bea schickt die Tochter in die Rauchpause. Gilt doch ihre Empörung lediglich der Störung der reibungslosen Abläufe an der Kasse, ihre Sorge einzig der Zufriedenheit der weißen zahlungskräftigen Kundschaft. Dass ihr nicht an einer respektvollen Behandlung aller ihrer Kund_innen – auch der mit Wertgutscheinen ausgestatteten geflüchteten Kund_innen of Color – gelegen ist, wird in der Art und Weise deutlich, in der sie nun Rasul und Jamil behandelt. Barsch fertigt sie die beiden ab, verfällt dabei in grammatikalisch falsches Deutsch: »Kannst schon mal alles einpacken, in Tasche packen, geht schneller.« Nicht nur, dass jegliche Entschuldigung für das Verhalten ihrer Tochter ausbleibt: Mit völliger Selbstverständlichkeit werden die beiden jungen Männer geduzt. Ein Verhalten, das bereits gegenüber dem Teenager Rasul als unhöflich gilt, gegenüber dem Erwachsenen Jamil aus dem Rahmen jeglicher Höflichkeitskonvention fällt. Im krassen Kontrast dazu steht die übertriebene Freundlichkeit, mit der sich Bea kurz darauf Svenjas Mutter zuwendet. Im Supermarkt sind außer den handlungstragenden Figuren keinerlei weitere Kund_innen zu sehen. Da Rassismus nur an diesem engen Personenkreis aufgezeigt wird, gerät dessen weite Verbreitung aus dem Blick. Physische rassistische Gewalt Auch bei der Darstellung des Angriffs am Badesee verpasst es der Film, die Frage nach dessen Akzeptanz anhand der Reaktionen der anderen Badegäste zu thematisieren. Waren diese vor dem Angriff kurz sichtbar – es schien am Badesee sogar recht voll zu sein –, sind sie weder während noch nach dem Angriff im Bild.1411 Sie scheinen plötzlich verschwunden zu sein. Es wirkt, als wären die Brüder mit den Neonazis allein. Die Gesellschaft, hier repräsentiert durch die anderen Badegäste, wird schlicht ausgeblendet und somit aus der Verantwortung genommen. Das Interesse des Films gilt alleinig den direkt Involvierten. Wird die Attacke am Badesee selbst vorwiegend aus der TäterInnenper1411 Ebd., TC: 16:11.

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spektive dargestellt, so zeigt die Kamera nach dem Angriff einen – nun untertitelten – Streit zwischen den Brüdern.1412 Jamil schiebt das Moped einen Uferweg entlang, Rasul trägt derweil dessen von den Neonazis vollgepinkeltes TShirt: »Warum legst du dich mit solchen Leuten an? Hast du gar kein Ehrgefühl?«, fragt er den Jüngeren vorwurfsvoll. Rasul schweigt trotzig. Als sie einen roten Golf passieren – es handelt sich zufällig um Marisas Auto –, tritt er in seiner Wut und zu Jamils Missfallen dessen Seitenspiegel ab: »Bist du noch zu retten? Steig sofort auf«, herrscht der Ältere ihn nun an. An den Brüdern werden unterschiedliche Strategien gezeigt, auf die rassistischen Demütigungen zu reagieren. Angesichts der Übermacht der Neonazis – sie sind zu fünft – entscheidet Jamil sich, auf seinen Bruder einzuwirken. Er schreibt ihm die Schuld an der Eskalation zu, gibt die erlittene Demütigung nach »unten« an den jüngeren Bruder weiter. An dieser Stelle werden die destruktiven Wirkungen des Rassismus auf die davon Betroffenen zumindest kurz angedeutet. Noch an einer anderen Stelle wird Rasul von den Neonazis angegriffen. Er wohnt mittlerweile in Marisas Schuppen und ist dort einer ständigen Bedrohung durch Sandro ausgesetzt. Wurde zuvor gezeigt, wie Sandro, Svenja und zwei weitere junge Männer eine vor einem Asia-Imbiss versammelte, hauptsächlich aus People of Color bestehende Gruppe mit der Pistole bedrohten, sieht man sie nun mit dem Auto bei Marisa ankommen.1413 Im Folgenden wird zwischen Rasul, der sich auf die Motorhaube von Marisas Auto gelegt hat und in den Himmel schaut, und den ankommenden Neonazis hin- und hergeschnitten. Sandros aggressiver Blick wird in einem Closeup fokussiert. Die rassistische Gewalttat selbst wird indes nicht gezeigt, lediglich deren Resultat ist zu sehen: Rasuls lädiertes Gesicht mit zugeschwollenem Auge.

Institutioneller Rassismus An einigen Stellen geht der Film auf Rasuls Situation als minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter ein. Hier geraten die Konsequenzen, welche die Asylgesetze, die mit ihnen einhergehenden Bestimmungen und Regelungen und nicht zuletzt deren Umsetzung für den Teenager haben, in den Blick. An der Supermarktkasse wird deutlich, dass er als Geflüchteter gezwungen ist, mit Wertgutscheinen anstelle von Bargeld zu zahlen.1414 Nach Jamils Abschiebung darf er nicht in der Wohnunterkunft bleiben: »Alone you can not stay here«, versucht die Heimleiterin ihm zu vermitteln.1415 1412 1413 1414 1415

Ebd., TC: 17:54. Ebd., TC: 1:24:26. Ebd., TC: 28:52. Ebd., TC: 35:19.

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Sie ist um die fünfzig, um professionelle Freundlichkeit bemüht. Sie spricht wenig Englisch, wechselt während des Gespräches immer wieder ins Deutsche, keine Sprachmittler_in ist zur Stelle, um Rasul das Procedere zu erklären. Während ihrer Worte wird sein fassungsloses Gesicht in Nahaufnahme gezeigt: »I go to Sweden with my brother«, insistiert er. »We help you but no Sweden«, lautet die bestimmte Antwort. Weder darf Rasul seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen, noch ein Telefongespräch mit seinen Verwandten führen: »You only can call Festnetz in Germany. No Ausland, no Handy.« Im Anschluss sieht man ihn unter ihrer Aufsicht seine Sachen packen. Die Anwesenheit eines Polizeibeamten verdeutlicht die Unfreiwilligkeit seiner Verlegung zusätzlich. Doch Rasul widersetzt sich und rennt davon. Nach seiner Flucht ist er obdachlos, hat noch nicht einmal mehr die Möglichkeit, an Lebensmittelgutscheine zu kommen. Seine existentielle Notsituation dynamisiert die Handlung zusätzlich. Nun ist er vollkommen abhängig von Marisa.

Einstiegsbewegungen: Svenja Parallel zu Marisas Rückzugsbewegung aus der Neonaziclique wird der Einstiegsprozess der 15-jährigen Svenja gezeigt. Entgegen der weit verbreiteten Bilder von Neonazis als deklassierten Jugendlichen mit eingeschränktem Zugang zu Bildung ist Svenja offensichtlich überdurchschnittlich gut in der Schule, kommt aus einem Haushalt der oberen Mittelklasse. Über ihre Familiengeschichte, immerhin der zentrale Punkt in Marisas nazistischer Sozialisation, ist indes wenig zu erfahren. Ihre Mutter hat Svenja sehr jung bekommen. Mit dem Erzeuger ist sie nicht mehr zusammen. Mutter und Tochter leben stattdessen mit Oliver, der um einiges älter als Svenjas Mutter ist, in einem großen Einfamilienhaus mit Garten. Die Mutter scheint Hausfrau zu sein. Die Familie kann es sich leisten, mit Markus jemanden für die Gartenarbeit einzustellen.1416 Freund_innen scheint Svenja keine zu haben, so sie ist mehr als offen für neue Bekanntschaften. Die Tatsache, dass es sich bei der anvisierten Clique um Neonazis handelt, scheint für die Teenagerin keine Rolle zu spielen. Als Weiße ist sie schließlich nicht unmittelbar bedroht; sie ist sogar eingeladen, als potenzielle Mitstreiterin an deren völkischer Sache mitzuwirken. Wie Rommelspacher schreibt, spielen beim Einstieg in die rechte Szene mehrere Faktoren eine Rolle: »Gerade bei jungen Menschen, (..) spielen psychische, soziale und ideologische Motive eng zusammen, befinden sie sich doch in einer Phase, in der sie sich zum einen von der 1416 Ihr relativer Reichtum äußert sich auch dadurch, dass Oliver mehrere Tausend Euro Bargeld in einem Versteck in der Garage hortet.

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Familie lösen und zum anderen einen eigenständigen Platz in der Gesellschaft suchen müssen. Oft sind es rechte Gruppierungen, die das jugendliche Bedürfnis nach Abenteuer, Selbstbehauptung und Protest aufgreifen. Durch die enge Einbindung in die Gruppenaktivitäten übernehmen die Jugendlichen zunehmend die Ideologie, und ihre Vorstellungen von der Gesellschaft formen sie zu einem Weltbild, in dem sie sich selbst als Elite imaginieren und als Retter der Nation begreifen.«1417

Rommelspacher gibt dabei aber zu bedenken, dass die Frage, warum sich die jeweiligen Jugendlichen gerade an eine rechte Gruppierung anschließen, entscheidend sei, schließlich seien »Action und Thrill oder Zugehörigkeit und Orientierung auch in anderen Jugendkulturen zu finden«.1418 Nicht zuletzt wurde seitens der noch aktiven und ehemaligen jungen Rechten, die die Erziehungswissenschaftlerinnen Gabi Elverich, Michaela Glaser und Tabea Schlimbach zu den Gründen für ihren Szeneeinstieg befragten, häufig »die Übereinstimmung mit inhaltlichen Überzeugungen«genannt.1419 Für Svenjas Hinwendung zur Neonaziclique werden im Film zwei Motive aufgezeigt, die ich im Folgenden skizzieren werde. Es geht zum einen um eine Rebellion gegen den verhassten Stiefvater. Zum anderen erscheint die Clique als einzige Möglichkeit der Freizeitgestaltung, verspricht neben Spannung und Abenteuer die Teilhabe an faktischer wie symbolischer Macht.

Neonazismus als Familiendrama II Svenjas Einführung in die Handlung erfolgt direkt im Anschluss an Sandros brutale Verhaftung. Hier wurde gezeigt, wie Marisa von einem vermummten Polizisten mit auf den Rücken gefesselten Händen auf den Boden gedrückt wurde und, auf diese Weise fixiert, tatenlos ansehen musste, wie ihr Partner abgeführt wurde, wie sie versuchte zu schreien, jedoch keinen Ton herausbekam. Nach einer Nahaufnahme ihres verzweifelten Gesichts ist ein Computerbildschirm zu sehen:1420 Ein Chatprofil wird erstellt, »Hasserfüllt« als Nickname eingegeben. Entsteht zunächst der Eindruck, es handele sich um Marisas Computer – dass auch diese »hasserfüllt« ist, wurde gerade eben und zuvor in der Szene im Regionalzug deutlich –, ist nun jedoch zu hören, wie Stiefvater Oliver Svenjas Namen ruft. Im Anschluss sieht man Svenja, eine dunkelblonde 15-Jährige, die eine Brille trägt, vor einem Laptop sitzen. Der nächste Schnitt zeigt erneut ihren Desktop. Auf der Suche nach einem passenden Profilbild klickt sie sich durch einen Ordner mit ihren Kinderbildern sowie aktuelleren 1417 1418 1419 1420

Rommelspacher 2006, S. 9. Ebd. Elverich, Glaser, Schlimbach 2009, S. 22f. Kriegerin, TC: 07:41.

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Fotos. Derweil wird Olivers Rufen immer wütender. Dass Svenja »Vollwaise« als Familienstatus wählt, gibt Auskunft über ihre negativen Gefühle zu ihm. Nachdem sie ihr Chatprofil fertiggestellt hat, begibt sie sich widerwillig zu ihm. Sie muss Oliver ihr Schulzeugnis zeigen. In einem autoritären Tonfall verliest der Mittvierziger ihre Noten. Dass Svenja sehr viele Einsen, seltener Zweien hat, reicht ihm nicht. Auf ihren Einwurf, dass es das »zweitbeste Zeugnis der ganzen Klasse«1421 sei, entgegnet er kühl: »Das nächste Mal besser.« Als Belohnung legt er ihr eine Banknote auf den Tisch, die Svenja kommentarlos einsteckt. Auffällig ist hier das Fehlen jeglicher Wärme und Wertschätzung. Im Anschluss kontrolliert er an ihren Fingern, ob sie geraucht hat, lässt sich sogar von ihr anhauchen. Dass Svenja, wie an späteren Stellen des Films gezeigt wird, tatsächlich heimlich raucht, ist vor diesem Hintergrund als Akt der Rebellion zu werten.1422 Der Umschnitt von Marisa auf Svenja lässt sich somit auch als Art thematischer Matchcut verstehen: Die Ohnmacht angesichts übermächtiger Autoritäten – hier das Sondereinsatzkommando, dort der Stiefvater – als verbindendes Element. Doch während die Staatsgewalt physisch agiert, übt Oliver psychische Gewalt aus. Als er Svenja später anhand von Zigarettenkippen in ihrer Hosentasche tatsächlich des Rauchens überführt, zwingt er sie, unter seiner Aufsicht eine ganze Packung zu rauchen. Sogar als sie sich erbrechen muss, nötigt er sie, unter seinen hämischen Kommentaren fortzufahren.1423 Ihre junge Mutter, die sich eher wie eine ältere Schwester verhält – in einer Szene sieht man Mutter und Tochter sogar gemeinsam heimlich am Fenster rauchen,1424 lässt den Partner gewähren. An keiner Stelle verteidigt sie die Tochter gegen Oliver. Je mehr sich Svenja an die neue neonazistische Peergroup anschließt, desto offener rebelliert sie gegen die Eltern. Erduldete sie Olivers Schikanen zuvor schweigend, verhält sie sich nun offen provokativ. Dies wird insbesondere an einer Szene am Familientisch deutlich. Demonstrativ nimmt sie ihren Laptop mit an den Abendbrottisch, zerbricht ihre verhasste Brille: Als Oliver darauf fordert, dass sie ihren Laptop verkauft, um von diesem Geld eine neue zu kaufen, beschimpft sie ihn als Arschloch. Der Stiefvater indes nimmt ihren Laptop und wirft es auf den Boden: »Das war für das Arschloch.« Ihre Mutter schweigt. In Closeups wird ihr betretener Gesichtsausdruck gezeigt. Später erfahren die Zuschauenden, dass Svenja nach diesem Streit von zu Hause weggelaufen ist. Bedeutungsvoll erzählt sie Marisa und Melanie, dass sie den Eltern eine Nachricht hinterlassen habe.1425 Ein Schnitt ins Elternhaus zeigt, wie Oliver diese 1421 Ebd., TC: 08:37. 1422 Im Gespräch mit Markus erläutert sie ihm ihre Strategien, das Rauchen zu verbergen: Zahnpasta sei wirksamer als Kaugummi. Ebd., TC: 09:17. 1423 Ebd., TC: 44:59. 1424 Ebd., TC: 32:11. 1425 Ebd., TC: 1:18:26.

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entdeckt.1426 Die Kamera begleitet ihn, als er in Badelatschen, um die nackte Brust trägt er noch sein Pulsmessgerät, den roten Pfeilen folgt, die Svenja an die Wände des Treppenhauses geschmiert hat. Der lächerliche Aufzug der als ungebrochen unsympathisch dargestellten Figur verstärkt die Häme, die man an dieser Stelle für Oliver empfindet: Jedenfalls solange, bis die Botschaft selbst ins Blickfeld der Kamera gerät: Die Schriftzüge »Nationaler Widerstand«, »Sieg Heil« sowie mehrere Hakenkreuze leuchten blutrot von der Wand des elterlichen Wohnzimmers sowie der beigefarbenen Couch. Diese Nachricht ist nicht nur als Rache der verletzten Teenagerin, sondern auch als Drohgebärde zu verstehen, als Verweis auf die Macht ihrer neuen Peergroup, an der auch sie, Svenja, von nun an teilhat. Schließlich dienen, wie Rommelspacher treffend feststellt, die »Symbole des Nationalsozialismus […] der Kommunikation von Dominanzansprüchen, da sie von allen als Chiffren dafür verstanden werden. Diese Machthinweise helfen nicht nur, im unmittelbaren sozialen Umfeld zu imponieren, sondern ganze Wohnviertel in Beschlag zu nehmen und den Menschen dort Angst und Schrecken einzujagen.«1427

Svenjas Anschluss an die Neonaziclique erscheint somit als Trotzreaktion einer wütenden, verletzten Jugendlichen, bei der es zunächst recht wenig um die von der favorisierten Clique vertretenen Inhalte zu gehen scheint. Eventuelle Wertorientierungen Svenjas, die ihren Anschluss an die Neonaziclique begünstigen, bleiben weitgehend Leerstellen. Dies gilt auch für die Frage nach der familiären Verstricktheit in den Nationalsozialismus, die immerhin bei Marisa als zentrales Moment ihrer politischen Sozialisation erscheint. Einen vagen Hinweis auf eine rassistische Prägung liefert die Szene im Supermarkt, in der Svenja angesichts der Diskriminierung, die Rasul und Jamil dort zuteil wird, gelangweilt wegschaut.1428 Auch lässt sich argumentieren, dass Olivers autoritärer Erziehungsstil weniger an demokratischen Werten, etwa einer gleichberechtigten Teilhabe an familiären Entscheidungen, als an Machtausübung und Unterwerfung ausgerichtet ist. Während Marisa jedoch im großväterlichen Auftrag unterwegs ist, rebelliert Svenja mit ihrem Anschluss an die Neonaziclique gegen den Stiefvater. Die Darstellung der Neonaziclique als einzige Freizeitmöglichkeit Die 15-jährige Svenja umgibt ein seltsames Vakuum. Freund_innen scheint sie keine zu haben. Auf den Fotos, durch die sie sich beim Erstellen ihres Chatprofils klickt, ist sie stets allein zu sehen. Abgesehen von den jungen Männern of Color, die sich am Asia-Imbiss treffen und erst an einer späteren Stelle in die Handlung 1426 Ebd., TC: 1:19:36. 1427 Rommelspacher 2006, S. 54. 1428 Kriegerin, TC: 14:00ff.

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eingeführt werden, scheinen keine anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der filmischen Welt zu existieren: Die Neonazigruppe wird somit als alternativlos dargestellt. In den einsamen Sommerferien scheint sie für Svenja die einzige Möglichkeit zu sein, etwas zu erleben. Svenja begegnet der Neonaziclique das erste Mal, als sie von Markus zum Grillen an den See mitgenommen wird. Hier rangelt sie mit den Jungs, kreischt fröhlich.1429 Es geht nicht um Politik. Eine Detailaufnahme zeigt zwar einen Thorshammer, den einer der Neonazis als Anhänger um den Hals trägt, doch es ist nicht klar, ob Svenja diesen Code bereits an dieser Stelle zu dechiffrieren weiß. Vielleicht sieht sie, deren Blickpunkt nachvollzogen wird, vor allem seine nackte, gebräunte Brust.1430 So freundlich sie von den männlichen Neonazis aufgenommen wird, so abweisend verhält sich Marisa der Jüngeren gegenüber : »Denkst du, du kannst dich hier einfach so durchschnorren? Verpiss dich!«, herrscht Marisa sie an und befiehlt Markus, sie wegzubringen.1431 Dass sich Svenja trotz dieser rüden Behandlung für die Clique entschieden hat, wird im anschließenden Dialog mit Markus deutlich. Die beiden sitzen in seinem Auto: »Wenn du mich nicht wieder mitnimmst, erzähl ich meinem Vater, dass du mich angegrapscht hast, und dann bist du gefeuert.«1432 Auch wenn Svenjas erster Kontakt zu den Neonazis über Markus verläuft, erscheint sie mitnichten als »Freundin von«, als passive, verliebte Teenagerin. Svenja wird als ein Mädchen dargestellt, die sehr genau weiß, wohin sie will und wie sie es bekommen kann. Nachdem Markus von Sandro unter Schlägen von einer Party der Neonaziszene verjagt wurde, entscheidet sie sich, ohne ihn auf der Party zu bleiben. Dies ist das letzte Mal, dass Svenja und Markus zusammen gezeigt werden. Die Neonaziszene ist offensichtlich interessanter als der Flirt. Gleichzeitig erscheint Svenja als hierarchisch denkende Person: Sobald Markus nicht mehr Teil der Gruppe ist, verliert auch sie das Interesse an ihm. Ein Beweis für diese Deutung ist nicht zuletzt, dass sie sich an der oben in der Hackordnung der Gruppe stehenden Marisa und nicht etwa an der sanften Melanie orientiert, die hier auf einem der letzten Ränge rangiert. Nach Marisas Angriff auf Sandro gilt ihre Loyalität vor allem diesem und der Neonaziclique. Enttäuscht von der neuen Freundin, die ihr Geld an sich genommen hat und sie zurück zu ihren Eltern schicken will, ruft sie Sandro heimlich von einer Autobahnraststätte aus an und setzt ihn von Marisas Plänen in Kenntnis. Über die Konsequenzen ihres Verrats scheint sie sich nicht bewusst zu sein. 1429 1430 1431 1432

Ebd., TC: 20:33. Ebd., TC: 20:48. Ebd., TC: 21:53. Ebd., TC: 22:56.

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Svenja und Sandro

Svenjas Initiation in den Neonazismus Bei Markus zu Hause wird Svenja das erste Mal mit der neonazistischen Ideologie der Clique konfrontiert. Markus lebt mit seinen Vater zusammen. Er führt für den Rollstuhlfahrer den Haushalt. Während Svenja mit dem verbitterten älteren Mann am Kaffeetisch sitzt, ist Markus mit Putzen beschäftigt. »Bist du auch so« – er sucht nach dem richtigen Wort – »politisch? So in die Richtung wie Markus?«, will er von ihr wissen.1433 Svenja zögert, antwortet dann, dass sie nicht politisch sei. Es ist wahrscheinlich, dass ihr verwirrter Gesichtsausdruck, der nun in einer Nahaufnahme in Szene gesetzt wird, ihrer Unwissenheit geschuldet ist. Schließlich war Politik bislang in ihrer Gegenwart noch kein Thema.1434 Wenig später holt Markus eine Kiste mit Propagandamaterialien unter seinem Bett hervor. Svenja betrachtet einen in schwarz-weiß-rot, den Farben des deutschen Reichs, designten Flyer der DNVP.1435 Danach zieht sie ein Poster hervor, auf dem die antisemitische Karikatur eines »Juden« mit großer krummer Nase, fiesem Grinsen und Kaftan dargestellt ist. Es ist in seiner Ästhetik an die Zeichnungen angelehnt, die während des Nationalsozialismus im Stürmer erschienen. Als nächstes holt sie eine weitere Broschüre aus der Kiste. »Das Lügenmärchen von der Multikultur«, liest sie vor.1436 Der Text wird in einer Detailaufnahme gezeigt. »Da kannst du was lernen, nicht wie in der Schule«, erläutert Markus. Auffällig ist, dass Svenja keinerlei Berührungsängste mit dem

1433 Ebd., TC: 33:12. 1434 Auch trafen sie und Markus erst nach dem Angriff auf Rasul und Jamil an der Badestelle ein. 1435 Die Deutsche Nationale Volkspartei (DNVP) ist eine fiktive Partei, die, wie an ihrem Corporate Design und ihren Inhalten unschwer zu erkennen ist, an die NPD angelehnt ist. 1436 Kriegerin, TC: 34:19.

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offenkundig menschenverachtenden Gedankengut hat, das aus diesen Dingen spricht. Als Weiße ist sie weder von verbalem noch tätlichem Rassismus bedroht, hat das Privileg zu wählen, wie sie sich zu diesem positioniert. Als nächstes zieht sie eine Hitlermaske aus der Kiste. »Wer ist denn das?«, will sie von Markus wissen. Es ist schwer zu glauben, dass Svenja, über die die Zuschauenden bereits an früherer Stelle erfahren haben, dass sie auch in Geschichte eine Eins hat, die Maske tatsächlich nicht zuordnen kann. Markus reagiert pikiert: »Leg das wieder weg«, fordert er sie auf. Seine ablehnende Reaktion lässt sich damit erklären, dass es ihm nicht geeignet scheint, bereits in diesem frühen Stadium ihrer Politisierung die sprichwörtliche Katze aus dem Sack zu lassen, ist doch eine positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus gemeinhin tabuisiert. Die Szene in Markus Zimmer ist eine der wenigen Stellen des Films, an der neonazistische Inhalte explizit thematisiert werden. Reagierte Svenja bereits offen und neugierig auf das von Markus unterbreitete Politisierungsangebot, vollzieht sie wenig später so etwas wie einen Initiationsritus: Die Kamera begleitet sie auf eine Party, auf der weite Teile der lokalen Neonaziszene anwesend sind. Gemeinsam mit der Einsteigerin erkunden die Zuschauenden den Ort. Es ist voll, Rockmusik läuft, es wird geraucht und getrunken. Anders als Marisa und Sandro sind die Anwesenden keine Naziskinheads, es dominiert sportliche Freizeitkleidung: Einige lassen sich mit ihrem linken Subkulturen entlehnten Kleidungsstil den Autonomen Nationalisten zurechnen, einer neonazistischen Strömung, die ihre entsprechenden Inhalte lediglich zeitgemäßer verpackt.1437 Etwas verloren irrt Svenja von Raum zu Raum und muss sich die vulgäre Anmache eines älteren Neonazikaders gefallen lassen.1438 Als sie schließlich Markus in einem anderen Raum entdeckt, ist dieser damit beschäftigt, Kokain oder Speed zu ziehen. Daran hat sie kein Interesse, sie stellt sich in den anderen Raum, in dem ein an den prominenten Neonazi Gottfried Küssel erinnernder Österreicher Reden schwingt: »Wir kämpfen so lange, bis jeder Hampelmann dieser jämmerlichen Regierung an einer guten alten deutschen Eiche baumelt.«1439 Neben Party und Besäufnis fungiert die Versammlung gleichzeitig als inhaltliche Schulung: Der ältere Österreicher, offensichtlich eine Autoritätsfigur, beschließt, dass, damit die Anwesenden etwas lernen, nun der verbotene na1437 So trägt der junge Mann, der Svenja die Tür öffnet, ein T-Shirt, auf dem das Logo der Antifa – ein Kreis mit einer roten und einer schwarzen Fahne, darunter der Schriftzug »antifaschistische Aktion« – persifliert wird: Der Schriftzug unter den Fahnen lautet in der Neonaziversion »Nationale Sozialisten Bundesweite Aktion«. Im Film ist die Schrift jedoch kaum zu lesen. (Ebd., TC: 51:14). Zu den Autonomen Nationalisten vgl.: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. 1438 Kriegerin, TC: 52:02. 1439 Ebd., TC: 53:20.

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tionalsozialistische Propagandafilm Der ewige Jude (R: Franz Hippler, D 1940) gezeigt wird. Im Folgenden wird zwischen dem Fernseher und den Closeups der zuschauenden Neonazis hin- und hergeschnitten. Nach dem Einleitungspart des antisemitischen Machwerks wird besonders auf die sogenannte Schächtszene fokussiert. In Nahaufnahme ist Svenja zu sehen, die mit offenem Mund gebannt auf den Bildschirm starrt. Ihr Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Faszination und Ekel. Aus dem Off hört man die Ausführungen des Kommentators über »die Tierliebe des deutschen Menschen« und von den »grausamen Quälereien«, welche »die Juden an unschuldigen und wehrlosen Tieren« begingen. »Die müsste man selber so abschlachten«, kommentiert einer der Anwesenden. Die Empörung über das vermeintliche Leid der geschächteten Tiere paart sich mit menschenverachtenden Kommentaren der Anwesenden. Gerade die Schächtszene ist anschlussfähig an weit verbreitete Debatten über Tierquälerei, die zum Teil ebenfalls antisemitisch aufgeladen sind.1440 Wie ihrem abermals in Szene gesetzten schockierten Gesichtsausdruck zu entnehmen ist, scheint auch Svenja hier mitgehen zu können. Später tritt sie zu Sandro auf den Balkon. Die DNVP-Broschüre, die sie als Zeichen ihres Wunsches nach Zugehörigkeit bei sich trägt, wirft dieser aus dem Fenster : »Das sind nur Worte. Nichts als Worte. Taten, ich will Taten sehen. Ich bin bereit für den Krieg. Es gibt nur zwei Arten, wie das alles weitergeht hier : mit Arbeitslosigkeit, Harz IV, obdachlose Deutsche, Asylanten, Kanacken. Ich schwöre dir, bald platzt die Bombe.«1441 Obwohl der Film bereits vor der Selbstenttarnung des NSU abgedreht war, erinnert sein Aufruf zur Gewalt an das Credo des Terrornetzwerks und weiterer militanter Neonazistrukturen.1442 Seine Worte scheint Svenja sich zu Herzen zu nehmen: Als Marisa sie später erneut wegschicken will, bietet sie der Älteren die Stirn: »Du warst auch mal so alt wie ich, du wurdest nicht weggeschickt. Ich bin keine Mitläuferin.« Marisa droht, sie vom Balkon zu werfen, drückt den Oberkörper der schreienden Teenagerin rückwärts über die Balkonbrüstung.1443 Svenjas Bierflasche fällt auf den Boden. Ein Schnitt veranschaulicht, dass sich der Balkon mindestens im vierten Stock befindet. Als Marisa von ihr ablässt, ist es Svenja, die auf die Ältere losgeht. Unter dem Gejohle der umstehenden Neonazis prügeln sich die beiden Frauen. Damit

1440 In diesem Zusammenhang ist etwa die Kampagne »Der Holocaust auf Ihrem Teller« der Tierschutzorganisation Peta zu nennen, die das Leiden von Masttieren mit dem von KZHäftlingen gleichsetzte. Sie wurde 2012 nach einer Anzeige des Zentralrats der Juden verboten. AFP/CHM 2012. 1441 Kriegerin, TC: 56:35. 1442 Auch im Bekennervideo des NSU wurde die Forderung »Taten statt Worte« erhoben. Vgl. Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin 2011. Radke 2013. 1443 Kriegerin, TC: 58:36.

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hat sie sich Marisas Respekt verdient. Als sie die Ältere später bittet, ihr eine 88 in den Bauch zu tätowieren, kommt diese ihrem Wunsch nach. Dass es Svenja genießt, an der von der Neonaziclique verkörperten Macht teilzuhaben, gemeinsam mit den anderen Angst und Schrecken zu verbreiten, wird an einer späteren Stelle eindrücklich in Szene gesetzt. »Heil Hitler«, krakelt sie, lehnt sich aus dem Schiebedach von Sandros Auto und zeigt den Hitlergruß.1444 Vor dem Asia-Imbiss wiederholt sie diese Dominanzgeste vor den dort versammelten People of Color. Als Sandro diese auch noch mit seiner Pistole bedroht, wird zwischen den panisch Davonrennenden und Svenjas euphorischem Gesichtsausdruck hin- und hergeschnitten. Die Rolle rechter Musik Neben den Filmen und Broschüren wird gerade Musik als wichtiges Medium präsentiert, über das sich insbesondere Svenja die Ideologie ihrer Wunschclique aneignet. Rechte Musik läuft im Auto, unterlegt nicht nur Marisas Angriff auf Rasul und Jamil, sondern auch andere Fahrten der Clique. Svenja hört sie in ihrem Zimmer.1445 Gegen Ende des Films sieht man Svenja in einer Gruppe Neonazis um den älteren Österreicher zur Gitarre singen: »Zusammenstehn, zusammenstehn, / unser Banner wird gehisst, / zusammenstehn, zusammenstehn / bis der Endsieg unser ist. / Gegen die Juden und die N* und den Parlamentarismus, / hilft nur ein Gegengift: Nationaler Sozialismus.«1446 Dass rechte Musik ein wichtiges Vehikel ist, über das entsprechende Weltbilder transportiert und angeeignet werden, ist unumstritten. Musik schafft, wie es Rommelspacher treffend formuliert, »ein Gemeinschaftsgefühl, und die rassistischen Texte kommen mit ihrer Radikalität, ihrer hohen Emotionalität und ihrem Provokationscharakter bei den Jugendlichen gut an. Diese Texte können das inhaltliche Interesse stimulieren.«1447 Der Thüringer NPD-Politiker Sebastian Reiche bezeichnete Musik als »Zugang zur nationalen Jugendkultur, in welcher viele Jugendliche später politisiert werden und endlich beginnen, sich für ihr Land einzusetzen«.1448 Als weniger zentral wird der Stellenwert rechter

1444 1445 1446 1447 1448

Ebd., TC: 1:23:26. Ebd., TC: 1:04:12. Ebd., TC: 1:27:15. Rommelspacher 2006, S. 43. Zit. n. Langebach, Raabe, Begrich 2009, S. 5. Bekanntes Beispiel für die gezielte Verwendung von Musik zu Propagandazwecken sind nicht zuletzt die Versuche der NPD, die sogenannte Schulholf-CD, eine an ein vor allem jugendliches Publikum gerichtete Kompilation rechter Musiktitel unterschiedlicher Genres, vor Schulen und an Wahlkampfständen zu verteilen. Vom neonazistischen Hiphop über klassischen Rechtsrock bis hin zum neonazistischen Liedermacher bilden die seit

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Musik von Elverich et al. bewertet. Sie kritisieren die »Tendenz des dominanten politisch-medialen Diskurses des letzten Jahrzehnts«, die Rolle rechter Musik als »Einstiegsdroge Nummer 1« zu fassen. »Grundtenor« in den Interviews ihrer Untersuchung sei vielmehr »die Einschätzung, dass Musik nur an dem ansetzen könne, was schon vorhanden sei«. Musik sei vielmehr »eine begünstigende Co– Variable, aber in der Regel nicht alleiniger Auslöser für den Szeneeinstieg«.1449 Diese Setzung lässt sich auch im Film Kriegerin beobachten, wo rechte Musik zwar als wichtiges aber nicht als zentrales Moment von Svenjas Politisierung erscheint. Zudem kommt Svenja erst durch die Clique damit in Berührung. Rückzugsbewegungen: Svenjas »Spontanheilung« Nach dem Mord an Marisa ist Svenja schockiert. Wenn sie neben der Sterbenden kauert, wird zwischen einer Nahaufnahme ihres verzweifelten Gesichts und Marisa, die aus Svenjas Perspektive gezeigt wird, hin- und hergeschnitten.1450 Aus der Vogelperspektive wird in einer Totalen gezeigt, wie sie sich neben die inzwischen tote Marisa legt. Die beiden jungen Frauen wirken verloren in der Weite des Ostseestrands, der kalt und öde im bläulichen frühmorgendlichen Licht daliegt. Ihre abschließende Voice-over – »Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. Alles wird sich ändern und jeder kann mitbestimmen.« – schließt an die einleitenden Worte an, wendet diese nun jedoch in ein Bekenntnis zur Demokratie und verweist somit auf Svenjas Abkehr vom Neonazismus.1451 Der Bogen zum Anfang des Films ist geschlagen. Svenjas abrupter Gesinnungswechsel erscheint jedoch als wenig realistisch. So ist es in der Realität meist ein langer Weg zwischen einem ersten Rückzug aus der Neonaziszene und dem Punkt, an dem tatsächlich eine Distanzierung von der dort vertretenen Ideologie in all ihren Fragmenten erfolgt ist. Als Sprecherinstanz des neuen demokratischen Bekenntnisses lässt sich somit bestenfalls eine geläuterte, zukünftige Svenja vermuten.

Die Neonaziclique Die Neonaziclique besteht neben Marisa und Sandro, die in der informellen Gruppenhierarchie Führungspositionen innehaben, aus Markus und Melanie 2004 erscheinenden CDs und Downloadangebote eine breite Palette extrem rechter Musik ab. Vgl. Ebd., S. 3. 1449 Elverich et al. 2009, S. 19. 1450 Kriegerin, TC: 1:38:20. 1451 Ebd., TC: 1:38:40.

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sowie weiteren, während des gesamten Films namenlos bleibenden jungen Männern. Anders als Marisa und Sandro, die jedem visuellen Neonaziklischee entsprechen, sind die anderen Cliquenmitglieder optisch nicht sofort als Neonazis zu erkennen. Sie haben kurze Haare, tragen sommerliche Freizeitkleidung auf die, anders als bei Marisa, keinerlei identitäre Bekenntnisse gedruckt sind. Lediglich am Badesee trägt einer von ihnen einen Thorshammer als Kettenanhänger.1452 Das ob des unter Neonazis verbreiteten Germanenkults in der Szene beliebte Schmuckstück wird in einer Detailaufnahme in den Blick genommen.1453 Ihr uneindeutiges Outfit entspricht tatsächlich aktuellen Entwicklungen extrem rechter Kleidungsstile. Wie Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) schreibt, setzte bereits seit Mitte der 1990er Jahre »eine kulturelle Pluralisierung rechtsextremer Jugendkulturen ein«, in deren Zuge sich insbesondere das äußere Erscheinungsbild der Anhängerschaft ausdifferenziert habe.1454 Mit dieser Entwicklung wurden, so Klose weiter, »[u]rsprünglich nicht-rechte oder sogar gegen rechts gerichtete ästhetische Ausdrucksformen […] gezielt angeeignet und im rechtsextremen Sinne umgedeutet«. Diese Pluralisierung würde zugleich aus den Bedürfnissen der Jugendlichen selbst resultieren, »die sich zwar von rechtsextremen Inhalten angezogen fühlten, sich gleichzeitig aber nicht auf bestimmte rechtsextrem besetzte jugendkulturelle Ausdrucksformen festlegen lassen wollten.«1455 Diese stilistische Offenheit wird im Film an den Outfits der Cliquenmitglieder sichtbar. Daran, dass es sich bei Marisa und ihrer Clique um gewalttätige Neonazis handelt, wird jedoch kein Zweifel gelassen.

1452 Wie die Autor_innen der Broschüre Das Versteckspiel, die über Codes und Symbole der extremen Rechten informiert, schreiben, war der Thorshammer (isländisch: Mjollnier) »bis nach dem Ersten Weltkrieg das populärste Symbol der völkischen Bewegung und hat heute unter extremen Rechten einen sehr hohen Verbreitungsgrad. Er findet sich auf TShirts und Aufnähern wieder, hat besondere Popularität als Halsketten-Anhänger und wird als solcher in unzähligen Modellen angeboten. Er wird jedoch auch in nicht-rechten Teilen der Heiden-, der Dark-Wave- und der Heavy-Metal-Szenen und vereinzelt auch in alternativen Kreisen getragen. Gerade an diesem Beispiel ist der Kontext wichtig! In skandinavischen Ländern bspw. ist der Thorshammer ein recht gebräuchliches Modeutensil, welches keine deutlichen Hinweise auf eine Rechtsorientierung seiner Träger und Trägerinnen zulässt. In Deutschland kann er wesentlich ›eindeutiger‹ einer rechten Einstellung zugeordnet werden.« Vgl.: Agentur für soziale Perspektiven e. V. o. J. 1453 Kriegerin, TC: 20:48. 1454 Klose 2007. 1455 Ebd.

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Gewalt nach außen: Die rechten und rassistischen Gewalttaten der Neonaziclique Aus der Gruppe heraus begangene rechte Gewalttaten werden an gleich zwei Stellen des Films in Szene gesetzt. In einem Regionalzug attackieren sie gezielt Mitreisende, die ihren Feindbildern entsprechen.1456 Unterlegt von treibenden Beats sieht man die Clique zuerst auf einen Jungen losgehen, der durch sein Outfit – er trägt ein weites Shirt, die Haare unter seinem Baseballcap sind kinnlang – als nichtrechter Jugendlicher zu erkennen ist. Einen Döner, den er in der Hand hält, schmieren sie ihm ins Gesicht, beschimpfen ihn als »Schwuchtel« und schubsen ihn in die Zugtoilette. Einen hinzukommenden Schaffner drängen sie an der nächsten Haltestelle aus dem Zug. Einer der Neonazis filmt die Angriffe mit seinem Handy. Schnelle Schnitte sowie die mit entfesselter Handkamera aus dem Handgemenge heraus gefilmten Einstellungen erschweren den Zuschauenden die räumliche Orientierung. Dazwischen sind zudem Aufnahmen montiert, die in ihrer körnigen, rotstichigen, verschwommenen Materialität von der Handykamera eines Cliquenmitglieds zu stammen scheinen. Sie verweisen auf die nicht nur unter Neonazis verbreitete Praxis, Gewalttaten mit Smartphones zu filmen und über soziale Netzwerke zu verbreiten. Marisa zeigt den Hitlergruß. Die Neonazis patrouillieren nun durch den nahezu leeren Zug, finden schließlich ein Paar, das in ihr rassistisches Feindbild passt: »Das ist nicht Vietnam« und »Das ist Deutschland, Mann, verpiss Dich!«1457 Gleich darauf beginnen die Neonazis, auf sie loszugehen.1458 Ihr Ausspruch: »Glaubst du, irgendwer will hier Jin Ling kaufen?« verweist auf weit verbreitete rassistische Stereotype, die Vietnames_innen und Menschen, die als solche wahrgenommen werden, pauschal mit dem illegalen Zigarettenhandel identifizieren.1459 Unter den angsterfüllten Schreien der jungen Frau beginnen sie, zuerst auf ihren Begleiter, kurz darauf auch auf sie selbst einzuschlagen und zu treten. Die Kamera befindet sich auch bei diesem Angriff mitten im Gemenge. Sie nimmt dabei kurz die Perspektive der Angegriffenen ein: Aus dem Blickwinkel der nun am Zugboden Liegenden sind die hasserfüllten Gesichter von Marisa und einem anderen Cliquenmitglied zu sehen.1460 Die Darstellung des Angriffs im Bahnabteil trägt mit seinen schnellen Schnitten und treibenden Beats vor allem zu einer Dynamisierung der Handlung bei. Die Angegriffenen hingegen geraten aus dem Blickfeld der Kamera. Die 1456 Kriegerin, TC: 03:14f. 1457 Über das Paar of Color ist nichts zu erfahren. So bleibt offen, wie sie sich selbst definieren, ob überhaupt, und wenn ja, welchen Bezug sie zu Vietnam haben. 1458 Kriegerin, TC: 04:31. 1459 Vgl. dazu: Basu, Kollath 2012, S. 133. Hentschel, Nonnemann, Piening Wierth 2012, S. 143. 1460 Kriegerin, TC: 04:48.

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nächste Sequenz zeigt Marisa und Sandro, die sich bereits während des Angriffs im Bahnabteil wild küssten, beim Sex. Um Raumhoheit geht es auch beim Angriff am Badesee. Hier sind es Rasul und Jamil, die unter rassistischen Beschimpfungen gewaltsam von der Badestelle, die die Clique als ihr Territorium betrachtet, vertrieben werden. Die Sequenz beginnt mit Bildern von der Clique, die sich dort zum Grillen versammelt hat. Es wird Bier getrunken und gekifft. Als jemand beginnt, mit der Handykamera zu filmen, zeigt einer der Gruppe den Hitlergruß. Die Frage, ob diese Aufnahmen auf youtube gestellt werden würden, wird bejaht. Sie hören laute Musik, dieses Mal mit unpolitischen Texten, markieren den Platz damit als den ihrigen. Diese akustische Raumhoheit wird von Rasul und Jamil herausgefordert, wenn sie mit ihrem laut knatternden Moped angefahren kommen. Das Motorengeräusch ist das erste, was die Zuschauenden von ihrer Ankunft mitbekommen. Eine Nahaufnahme zeigt dazu Marisas wütendes Gesicht.1461 Aus ihrem Blickwinkel beobachtet die Kamera nun, wie sich die Brüder ausziehen und ins Wasser rennen. Der Film folgt der Sicht seiner neonazistischen Hauptfigur auch dahingehend, dass die Rufe der Brüder an dieser Stelle nicht untertitelt werden. Wirkt es zuvor so, als sei die Clique allein, werden nun in der Totale eine Reihe anderer Badegäste sichtbar. In Closeups werden darauf die Gesichter Marisas und einiger männlicher Cliquenmitglieder gezeigt: Sie taxieren die Brüder mit bösen Blicken. In der Gruppe herrscht einen Moment lang angespannte Stille: Ihre Musik tritt in den Hintergrund, vor allem die Stimmen Rasuls und Jamils sind zu hören. Ihre durch den Soundfokus zusätzlich betonte Fixierung auf die Neuankömmlinge verdeutlicht, wie stark rassistische Feindbilder ihre Wahrnehmung bestimmen. »Schnauze«, ruft jemand aus der Gruppe den Brüdern zu. Nun erfolgt, wenn auch kurz, ein Perspektivwechsel: Die Kamera ist nun bei Rasul und Jamil, die sich anfangs der Bedrohung nicht bewusst sind. Sie toben ausgelassen im Wasser herum. Nur kurz reagiert Rasul auf den hasserfüllten Ruf und wirft der Gruppe einen fragenden, wütenden Blick zu. »Was glotzt du so? Geh zurück in deine Höhle«, lautet die Reaktion der Rassisten. Jamil hingegen ignoriert die Rufe und fährt fort, den Bruder mit Wasser zu bespritzen. Werden die Brüder nun in einer Nahaufnahme beim Baden gezeigt, sind es jetzt die weiteren Beleidigungen der Neonazis, die von weitem zu ihnen dringen: Auch der Soundfokus liegt auf den Brüdern. Diese sind zu sehr mit dem Baden beschäftigt, um Notiz von der Clique zu nehmen. Da ihre Provokation ins Leere läuft, greifen die Neonazis am Ufer zu anderen Methoden: Einer von ihnen uriniert auf die Kleidung der Brüder. Rasul kommt hinzu, versucht ihn wegzudrängen. Derselbe Neonazi filmt die Szene mit der Handykamera. Wie bereits 1461 Ebd., TC: 16:11.

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bei der Szene im Regionalzug sind deren verwackelte, blaustichige Bilder dazwischengeschnitten. Nun mischt sich Marisa ein, beginnt Rasul zu schubsen. Jamil geht nun seinerseits dazwischen, er versucht jedoch, zu deeskalieren und drängt seinen aufgebrachten Bruder beiseite. Unter weiteren rassistischen Kommentaren filmen die Neonazis den Rückzug der Brüder. Auch wenn der Film kurz die Perspektive der Angegriffenen einnimmt, überwiegt auch in beschriebener Szene die TäterInnenperspektive: Ein Teil der Aufnahmen gibt sich sogar als von den Neonazis selbst gefilmt aus. Schnelle Schnitte sowie das verwackelte, aus geringer Distanz gefilmte Material erschweren die räumliche Orientierung beim Angriff in der Regionalbahn: Tempo und Dynamik stehen auch bei der Inszenierung des zweiten Angriffs eindeutig im Zentrum. Eine Leerstelle bleiben indes die anderen Badegäste, die während und nach dem Angriff nicht mehr in den Fokus der Kamera geraten. Die Frage nach der Akzeptanz von rechter Gewalt im öffentlichen Raum wird somit gar nicht erst gestellt. Die Ausblendung politischer Inhalte und Aktionen Abgesehen von den Angriffen der Neonaziclique auf als Gegner_innen identifizierte Personen werden keine anderen Formen des politischen Aktivismus thematisiert. Dies betrifft die Darstellung jedweder politischer Organisation und Betätigung, etwa eine Mitarbeit in den Strukturen, Organisationen oder Kampagnen der extremen Rechten: Die Cliquenmitglieder werden weder bei Demonstrationen noch bei Schulungen oder Kameradschaftsabenden gezeigt; man sieht sie weder Aufkleber verkleben noch bei Graffitiaktionen. Politische Inhalte kommen auch in ihren Gesprächen kaum vor. »Immer wieder wird hier ein Lebensgefühl zitiert oder ausgestellt, anstatt es zu durchdringen«, kritisiert Rezensentin Leweke.1462 Als neonazistischer Freundeskreis lässt sich die Gruppe vielleicht am ehesten dem Spektrum der sogenannten freien Kräfte, also der Kameradschaftsszene zurechnen. Bei diesen handelt es sich um parteilich ungebundene, informelle Zusammenschlüsse von Neonazis, die laut Röpke »mit ihrer radikalen Propaganda, ihrem aggressiven Aktionismus und ihrer Kampfbereitschaft« gerade für rechtsoffene Jugendliche anziehend wirken.1463 Auch wenn im Film die Frage nach der politischen Organisierung oder gar der 1462 Leweke 2012. 1463 »In der Öffentlichkeit«, so Röpke weiter, »wollen die ›Freien Kräfte‹ als lose, selbstständig handelnde Kameradschaften erscheinen. Aber der Schein trügt, die lokalen Kameradschaften sind über regionale Aktionsbüros oder Dachorganisationen wie dem ›Sozialen und Nationalen Bündnis Pommern‹ (SNBP) in Vorpommern zusammengeschlossen.« Andrea Röpke 2006.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

Vernetzung der Gruppe kaum eine Rolle spielt, wird an einer Stelle sichtbar, dass sie sich innerhalb der lokalen Neonaziszene bewegt. Bei einer privaten Party sind offensichtlich unterschiedliche Personen und Spektren der extremen Rechten vertreten. An einer späteren Stelle sieht man die männlichen Cliquenmitglieder an einer Wehrsportübung teilnehmen.1464 Marisa, Svenja und Melanie beobachten die Szenerie von weitem. Ansonsten wird die Clique vor allem bei Freizeitaktivitäten dargestellt.

Gewalt nach innen: Melanie und Markus Melanie, vor Svenjas Anschluss an die Clique neben Marisa die einzige weitere Frau, bildet gewissermaßen das Schlusslicht in der Gruppenhierarchie. Die Mitläuferin trägt ihre langen Haare schwarz gefärbt. Mit ihrer ebenfalls schwarzen Kleidung und ihrem Lippenpiercing ist auch sie optisch nicht als Neonazistin zu erkennen. Entsprechende Bekenntnisse sind weder auf ihrer Kleidung zu finden, noch äußert sie diese verbal. Generell hat die Figur nicht viel Text, zudem eine sehr dünne Backstory. Das einzige, was sie über sich erzählt, ist, dass sie mal ein Kind hatte, das ihr jedoch »weggenommen« wurde. Trotzdem ist sie bei allen im Film gezeigten Aktionen der Gruppe zugegen. Sie beteiligt sich zwar nicht aktiv an den Angriffen im Zug und am See, nimmt diese jedoch billigend in Kauf. Die Frage, was Melanie an der Gruppe anzieht, bleibt offen: Ist sie trotz oder wegen deren neonazistischer Ausrichtung mit dabei? Bereits in einer frühen Szene im Supermarkt wird sie Zeugin von Marisas Unterstützung für Rasul.1465 Ob aus Angst vor der dominanten Anführerin oder weil Rassismus doch nicht so weit oben auf ihrer persönlichen Agenda steht: Melanie verrät Marisa und Rasul nicht. Sie handelt damit entgegen der Ideologie der von ihr selbst gewählten Gruppe. Auch an einer späteren Stelle wird Melanie Marisa und Rasul unterstützen. Nachdem dieser von Sandro zusammengeschlagen wurde, holt sie Marisa zu Hilfe. Während die Motive der als Mitläuferin Dargestellten offen bleiben, wird an der Figur Melanie aufgezeigt, wie Schwächere innerhalb der Gruppe gedemütigt werden. Dies wird in der Szene am Badesee deutlich: Gegen ihren Willen wird die Handykamera auf Melanie gehalten, während sie von den Anderen beleidigt wird. Auf ihren Protest wird mit weiteren Beleidigungen reagiert: »Wein, geh sterben, schmeiß dich von ’ner Brücke und roll dich vorher in ’nen Teppich.«1466 Wenig später wird sie Opfer sexualisierter Gewalt. Nachdem sie betrunken 1464 Kriegerin, TC: 1:17:40. 1465 Ebd., TC: 38:51. 1466 Ebd., TC: 16:09.

Der Spielfilm Kriegerin

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eingeschlafen ist, ist zu sehen, wie ihr einer der männlichen Neonazis die Hose herunterzieht und sie dabei mit der Handykamera filmt.1467 Was dann passiert, wird nicht gezeigt. Die nächsten Einstellungen nehmen die schweigenden Gesichter der ums Lagerfeuer versammelten Neonazis und den Badesee im Morgengrauen in den Blick. Auch Markus ist von der Gewalt innerhalb der Clique betroffen: Auf der Party wird er von Sandro wegen seines Drogenkonsums zusammengeschlagen und als Verräter beschimpft. An dieser Stelle wird das ambivalente Verhältnis der Neonaziszene zu Drogen offensichtlich. Während Markus und andere in Sandros Abwesenheit selbstverständlich Kokain oder Speed ziehen und die Clique am See beim Kiffen gezeigt wird, ist Sandro militanter Drogengegner. Seine Ablehnung bezieht sich jedoch nicht auf Alkohol, der während der Party in Strömen fließt. Die im Film dargestellte Ambivalenz entspricht insofern der Realität, als sich die Neonaziszene in offiziellen Verlautbarungen vom Konsum illegaler Drogen distanziert, während sich Teile der Szene de facto etwa über den Handel mit Crystal Meth querfinanzieren.1468 Die Gegner_innen der Neonazis Nachdem er wegen seines Drogenkonsums von Sandro verprügelt und von der Party verwiesen wurde, wird Markus am Asia-Imbiss gezeigt. Eben noch überzeugter Neonazi, der Svenja mit entsprechendem Propagandamaterial versorgte, hält er sich nun inmitten einer Gruppe junger Männer of Color auf.1469 Da niemand über Nacht zum Antirassisten wird, ist es naheliegend, dass es hier um etwas anderes geht. Die Verknüpfung Markus – Drogen – junge Männer of Color schließt an weit verbreitete rassistische Stereotype an, die letztere als Gangs stilisieren und mit Drogen und Gewalt in Verbindung bringen. Sandro, der sich auf die Suche nach Markus gemacht hat, wird von dem ehemaligen Kameraden und seiner neuen Clique brutal verprügelt.1470 In der Gruppe gehen sie auf Sandro los. Jemand schlägt ihm mit einer Flasche auf den Schädel. Als Sandro am Boden liegt, tritt Markus gegen seinen Kopf: »Das ist für dich, du Fotze.« Erschwerten bei der Darstellung der Gewalttaten der Neonazis verwackelte Aufnahmen der entfesselten Handkamera mitten aus dem Gemenge die Orientierung, wird der Tritt gegen Sandros Kopf nun aus der Distanz einer Halbtotalen gezeigt. Da so gut zu erkennen ist, was passiert, wirkt der Angriff ungleich brutaler und exzessiver. In der nächsten Sequenz sieht man Sandro 1467 Ebd., TC: 23:38. 1468 Über die Verstrickungen der realen Neonaziszene in den Handel mit der Droge Crystal Meth vgl. Baumgärtner, Born, Pauly 2015. Knodt 2014. 1469 Kriegerin, TC: 1:07:31. 1470 Ebd., TC: 1:06:56.

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Die Darstellung neonazistischer Cliquen und Einzelpersonen

übel zugerichtet bei Marisa ankommen. Dies ist das erste Mal, dass die körperlichen Folgen von Gewalt in Szene gesetzt werden. Mit den Neonazis und ihren Gegnern stehen sich somit zwei Gruppen gegenüber, die als ähnlich gewalttätig inszeniert werden. Eine Darstellung, die an die zur Drehzeit weit verbreitete Extremismusdoktrin gemahnt. Eine weitere Parallele besteht nicht zuletzt darin, dass auch beim Angriff auf Sandro jemand beim Filmen mit der Handykamera gezeigt wird. Es ist zudem das erste Mal, dass die Clique vom Asia-Imbiss in Erscheinung tritt. Ob der Angriff auf Sandro eine Vorgeschichte hat, bleibt somit offen. Die Frage nach den realen Kräfteverhältnissen vor Ort wird nicht thematisiert.

Fazit: Psychologisierungen Anders als in den meisten anderen Spielfilmen über Neonazis wird die von rechter Gewalt betroffene Person nicht als namenloses, passives, anonym bleibendes »Opfer« dargestellt; immer wieder agiert Rasul widerständig, er wehrt sich, lässt sich nichts gefallen, setzt sich schließlich sogar erfolgreich gegen Marisa durch.1471 Trotzdem überwiegt auch in Kriegerin die TäterInnenperspektive. Proportional ist die meiste Zeit den Geschehnissen um Marisa, dann denjenigen um Svenja gewidmet. Ihre Befindlichkeiten, Sorgen und Nöte stehen eindeutig im Zentrum. Zentrale Momente der Handlung wie Marisas Angriff auf Rasul und Jamil und dessen Folgen werden vorwiegend aus Marisas Perspektive gezeigt. Die Zuschauenden teilen ihre Unwissenheit über Jamils Zustand. Dessen Abschiebung, ein tiefgreifender Einschnitt für Rasul, wird indes nicht dargestellt. Rasul fungiert somit mehr als Katalysator von Marisas Rückzugsbewegung denn als eigenständige Figur. Er bietet eine Projektionsfläche, an welcher der gewalttätige sowie der alltägliche Rassismus anderer Figuren aufgezeigt wird. Rassismus wird im Film hauptsächlich anhand der Neonaziclique verhandelt. Weit weniger prominent geraten die Auswirkungen des institutionellen Rassismus, etwa das Gutscheinsystem für Geflüchtete, in den Blick. Verortet Wnendt rechte Ideologie und ihre Fragmente alleinig in subkulturellen Neonazispektren, werden die üblicherweise als Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft implizierten Zuschauenden nicht angerufen, sich mit eigenen verinnerlichten antisemitischen und rassistischen Wissensbeständen auseinanderzusetzen. Ob im Sportverein, im Jugendclub oder am Ausbildungsplatz: Fragen nach der Akzeptanz und Zustimmung, die der Neonaziclique im sozialen Gefüge des Handlungsorts zuteil wird, werden von Wnendt nicht gestellt. Stattdessen wird 1471 Vgl. Stegmann 2010.

Der Spielfilm Kriegerin

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sowohl Marisas als auch Svenjas Neonazismus allein im Rahmen innerfamiliärer Konflikte verortet. Diese Emotionalisierung und Psychologisierung kritisiert auch Rüdiger Suchsland: »Marisa hat Ärger mit der Mutter, Svenja mit dem Vater ; offenbar wird man ohne missratene Eltern nicht zum Neonazi.«1472 Gesellschaft als Referenzrahmen scheint nicht zu existieren. Auch »Politik, Moral oder gar Ästhetik sind anscheinend nie ausreichende Gründe«, die Handlungen motivieren könnten.1473 Ein weiterer Effekt dieser psychologisierenden Darstellung ist ihre entlastende Funktion. Auch wenn Marisa auf den ersten Blick als toughe Schlägerin erscheint, tritt bald das verletzte Mädchen hinter dieser Fassade hervor : Gemäß der Devise, der zufolge hinter jedem Täter ein Opfer steckt, wird Marisa letztlich durch ihre schwere Kindheit entschuldet: Sie ist Opfer ihres Großvaters und der Lieblosigkeit ihrer Mutter, letztere selbst ein Opfer des Großvaters. Ist Marisa nur die verstoßene Tochter, die liebende Enkelin, nach einer im Affekt begangenen Tat reumütig um Schadensbegrenzung bemüht, hat ihre Geschichte am Ende doch mehr mit den entschuldenden Mythen über rechte Frauen zu tun, die Rechtsterroristinnen wie Beate Zschäpe oftmals erfolgreich zu ihrer Entlastung vor Gericht zitieren. Nicht zuletzt ist in einer Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse wie bereits in Herzsprung auch in Kriegerin die weiße Hauptfigur am Ende das Todesopfer rechter Gewalt.1474 Ein Märchen von der Versöhnung zwischen der Neonazistin und ihrem Opfer hat sein trauriges Ende gefunden.

1472 Suchsland 2012. 1473 Ebd. 1474 Vgl. Kapitel 4.4 Rassismus im Spielfilm Herzsprung (R: Helke Misselwitz, D 1992).

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Abschließende Betrachtungen und Ausblick

Die in der vorliegenden Dissertation analysierten Spiel- und Dokumentarfilme verorten sich auf ihre jeweils spezifische Weise im Diskurs über (gewalttätigen) Rassismus und rechte Gewalt. Eingesetzt in der politischen Bildungsarbeit, befinden sich einige von ihnen genau an den Schnittstellen, an denen generiert, (re-)produziert und multipliziert wird, wie über »Rechtsextremismus« und rechte Gewalt gedacht wird oder werden soll. Analysiert wurden 12 mehrheitlich populäre Spiel- und Dokumentarfilme. Während erstere, so formuliert es die Theorie, fiktive Geschichten über erfundene Menschen und Ereignisse erzählen, handeln letztere von realen rechten Gewalttaten, ihren Opfern oder den TäterInnen. Die untersuchten Filme zeugen dabei alle von der komplexen Wechselwirkung zwischen (populär-)wissenschaftlichen Diskursen über rechte Gewalt, ihren Ursachen, Motivationen und Auswirkungen einerseits und den Filmen andererseits, von denen sie aufgegriffen und fortgeschrieben werden. Vor diesem Hintergrund greife ich im Folgenden einige zentrale Aspekte der analysierten Filme auf, um an ihnen die wichtigsten Ergebnisse meiner Untersuchung zu veranschaulichen. Dabei beginne ich mit zentralen Themen wie der Repräsentation der Betroffenen, dem mit der Thematisierung rechter Gewalt einhergehenden Spannungsfeld zwischen Dokumentieren und Reproduzieren sowie der Frage nach der sozialen Verortung derjenigen Denkmuster, die rechter Gewalt zugrunde liegen. In den weiteren zusammenfassenden Abschnitten gehe ich auf die Inszenierung der Geschlechterverhältnisse ein sowie auf die Fragen nach der Lokalisierung rechter Gewalt und nach der Thematisierung historischer Kontinuitäten in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Nach einem abschließenden Fazit skizziere ich einige Fragestellungen für weitere Forschungen, die sich aus den Resultaten der vorliegenden Studie und angesichts der jüngsten Entwicklungen im Themenbereich (gewalttätiger) Rassismus und rechte Gewalt ergeben.

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Abschließende Betrachtungen und Ausblick

Die (Selbst-)Repräsentation der Betroffenen »Warum immer neue Filme und Berichte über die Täter und fast nichts über die Opfer? Auf erhellende Dokumentationen über die Angst der Türken, Juden, Schwarzen, Obdachlosen, Asylbewerber in Deutschland vor dem braunen Mob warten wir bisher vergeblich. Weil das nicht spektakulär genug ist?«,

fragte Wolf Donner bereits 1993 anlässlich der Kontroverse um Beruf Neonazi.1475 Leider trifft seine Feststellung auch für meinen gesamten Untersuchungszeitraum von 1992 bis 2012 weitgehend zu. Abgesehen von wenigen Ausnahmen beschäftigen sich nach wie vor wenige abendfüllende Filme mit konkreten rechten Gewalttaten. Die Perspektive der Betroffenen bleibt meist ausgeklammert. Als einer der wenigen Filme, in dem Repräsentant_innen der angegriffenen Vietnames_innen und Rromn_ja zu Wort kommen, sticht The Truth lies in Rostock aus den seit dem 20. Jahrestag vermehrt produzierten erinnerungskulturellen Bearbeitungen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen heraus.1476 Die Aussagen der Angegriffenen werden hier durch die Bild-Ton-Montage bestätigt, wodurch diese die Deutungsmacht über das Geschehen erhalten. Auch Philip Scheffner, der sich 20 Jahre nach der Erschießung Eudache Calder¼rs und Grigore Velcus an der deutsch-polnischen Grenze auf Spurensuche begibt, verschafft in seinem Film Revision erstens den vom juristischen wie auch medialen Diskurs ausgeschlossenen Angehörigen und Freund_innen der Getöteten eine Plattform.1477 Dabei stellt er explizit die Frage nach Sprecher_innenpositionen und Repräsentationspolitiken in den Raum. Diese Thematik wird zweitens durch Scheffners Interviewstil evoziert: Die Gespräche wurden zunächst als Audiomitschnitte aufgezeichnet; gefilmt wurden die Gesprächspartner_innen erst in einem zweiten Schritt, beim Anhören dieser Aufnahmen. Insbesondere die Angehörigen der Getöteten bekommen damit die Möglichkeit, das Gesagte Revue passieren zu lassen, es zu ergänzen und zu kommentieren. Für dieses Verfahren entschied sich Scheffner nicht zuletzt, weil er bei den Dreharbeiten mit der Situation konfrontiert war, dass die in Rumänien lebenden Familien seitens der deutschen Behörden keinerlei Informationen über die Todesumstände ihrer Ehemänner, Väter und Freunde erhalten hatten. Anstatt ihre emotionale Überwältigung auszubeuten, wollte er die Familien Velcu und Calder¼r beim Nachdenken zeigen. Diese Methode erzeugt bei den Zuschauenden anfangs eine kalkulierte Irritation: In einer der ersten Sequenzen sitzen die 1475 Donner 1993. 1476 Kapitel 4.1 The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1996): Eine Annäherung an das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen als Teamarbeit. 1477 Kapitel 4.3 Annäherungen an die tödlichen Schüsse von Nadrense 1992 im Dokumentarfilm Revision (R: Philip Scheffner, D 2012).

Abschließende Betrachtungen und Ausblick

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Familien der Ermordeten still auf dem Sofa, dazu sind Stimmen aus dem Off zu vernehmen. »Wer spricht hier?«, fragt man sich, da die im Bild Anwesenden augenscheinlich ihre Lippen nicht bewegen. Diese Anordnung vermag Reflexionen darüber zu stimulieren, wer überhaupt unter welchen Bedingungen zum Thema sprechen kann. Fragen nach Wissen und Macht, vor allem nach dem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Filmenden und Gefilmten, nach Zugängen zu materiellen und symbolischen Ressourcen sowie weißen Privilegien, werden so zumindest angerissen. Auf diese Weise gelingt es Scheffner, einen Blick »hinter die Kulissen der Wahrheitsproduktion« zu werfen.1478 Im Panorama verschiedener Perspektiven auf den Mord an Marinus Schöberl, die in Der Kick präsentiert werden, kommt zwar die Mutter des Mordopfers zu Wort.1479 Doch es fehlen etwa die Stimmen der Menschen, die vor und nach dem Angriff auf Marinus Schöberl – meist aus rassistischer Motivation – von dessen Mördern, den Schönfeld-Brüdern, angegriffen wurden. Eine weitere Leerstelle bilden die Einschätzungen der Menschen, die sich in der Uckermark gegen extrem rechte Umtriebe engagieren. Sie hätten eine profunde Einordnung von Tat und Tätern im Kontext des in der Region Prenzlau grassierenden militanten Neonazismus liefern können. Als beredtes Hintergrundrauschen fungiert der Mord an Marinus Schöberl dagegen in Tamara Milosevics Dokumentarfilm Zur Falschen Zeit am Falschen Ort, in dem der beste Freund des Ermordeten und dessen Umfeld porträtiert werden.1480 Die Filmemacherin entwirft hier ein tristes Tableau allgemeiner Verrohung: exzessiver Alkoholkonsum und »Späße« auf Kosten der Schwächsten in der Clique. Leerstellen bleiben die Einordnung des Mordes an Marinus als rechte Gewalttat sowie daran anschließende Fragen nach dem Weiterleben des Freundes in unmittelbarer Nähe der Täter und ihrem Umfeld. Viel Raum, wenn auch wenig Sympathie, bekommt dagegen sein Vater, der den traumatisierten Sohn für einen Versager hält. Die TV-Reihe Tödliche Begegnungen stellt Menschen, die von Neonazis ermordet wurden, und ihre Angehörigen ins Zentrum.1481 Die drei 45-minütigen Teile rekonstruieren die Biografien von Carlos Fernando, Norbert Plath und Klaus-Peter Beer. Angehörige, Freund_innen und Weggefährt_innen erinnern sich an sie. Anhand ihrer Erzählungen und weiterer Materialien wie Fotos der Getöteten aus verschiedenen Lebensphasen, Norbert Plaths Bildern und Liedern sowie einem Homevideo, das Carlos Fernandos Hochzeit zeigt, entstanden in1478 Lipp 2016, S. 20. 1479 Kapitel 5.1 Der Mord an Marinus Schöberl im dokumentarischen Theaterfilm Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt (R: Andres Veiel, D 2005). 1480 Kapitel 5.2 Beobachtungen am Tatort des Mordes an Marinus Schöberl. Der Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005). 1481 Kapitel 3.1 Erinnerung an drei Todesopfer rechter Gewalt: Die TV- Reihe Tödliche Begegnungen (HR 2001).

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Abschließende Betrachtungen und Ausblick

time Porträts der drei Männer. Insbesondere Klaus-Peter Beer wird hierbei durch seine Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen Kontur verliehen. Die Angegriffenen und ihre Angehörigen kommen auch in weiteren TVBeiträgen zu Wort, die sich mit rechten und rassistischen Angriffen und deren oftmals tödlichen Folgen beschäftigen. Gerade die No-Budget-Produktionen, die ich in einem Exkurs zu den Perspektiven der Rassismuserfahrenen vorstelle, widersetzen sich den dominanten täterInnenzentrierten Narrativen.1482 Gedreht von rassismuserfahrenen Expert_innen oder in enger Kooperation mit ihnen, intervenieren sie kritisch in die Debatte um rechte Gewalt und speisen somit die von Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan geforderten antihegemonialen Sichtweisen in den (filmischen) Diskurs ein. Da die meisten von ihnen weder im Fernsehen, noch im regulären Kinoprogramm gezeigt wurden, ist ihre Reichweite jedoch relativ begrenzt. Trotz zweifellos guter Absichten sind verschiedene weitere Filme, die versuchen, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, selbst in rassistische Diskurse verstrickt. Anstatt rassismuserfahrene Expert_innen zu Wort kommen zu lassen, meinte etwa Günther Wallraff in Schwarz auf Weiß, eine Reise durch Deutschland, den alltäglichen Rassismus, den Schwarze Menschen in Deutschland erfahren, am eigenen Leib nachempfinden zu können.1483 Er bediente sich dabei der Blackface-Maskerade, deren Verstrickung mit der Geschichte des Rassismus gut dokumentiert ist. In eine ähnliche Falle tappt auch Herzsprung.1484 Obwohl dem Film der Anspruch zugrunde liegt, den alltäglichen Rassismus kritisch zu thematisieren, wird dieser gar reproduziert: Nicht nur wird die namenlos bleibende Schwarze Hauptfigur, die in den Credits bezeichnenderweise »Der Fremde« genannt wird, auf dem Soundtrack über Dschungeltrommeln eingeführt. Der gesamte Film bleibt auch der Perspektive der weißen Hauptfigur verhaftet: Ausführlich wird ihr Leiden an der Promiskuität ihres Schwarzen Geliebten – ebenfalls ein rassistisches Klischee – inszeniert. Am Schluss stirbt sie, versehentlich getroffen vom Wurfmesser eines Eifersüchtigen, der sich einer extrem rechten Clique angeschlossen hat. Eine Leerstelle bildet die Perspektive der von (gewalttätigem) Rassismus und rechter Gewalt Betroffenen schließlich in nahezu allen Filmen, die von extrem rechten Cliquen und Einzelpersonen handeln. Beispielsweise lassen sowohl Andreas Voigt (Glaube, Liebe, Hoffnung)1485 als auch Thomas Heise (Stau – Jetzt 1482 Kapitel 4.2. Die Perspektiven der Rassismuserfahrenen: No-Budget-Produktionen über die Pogromzeit und ihre Folgen. 1483 Kapitel 4.5 Günter Wallraff: Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009). 1484 Kapitel 4.4 Rassismus im Spielfilm Herzsprung (R: Helke Misselwitz, D 1992). 1485 Kapitel 6.3 Neonaziporträts: Glaube, Liebe , Hoffnung. Leipzig Dez. ’92–Dez. ’93 (R: Andreas Voigt, D 1994).

Abschließende Betrachtungen und Ausblick

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geht’s los1486 und Neustadt – Stau (Der Stand der Dinge))1487 ausschließlich Weiße zu Wort kommen. Schwarze oder People of Color werden nicht befragt, wie sie die Stimmung in Leipzig und Halle (Saale) erleben. So reproduzieren die genannten Filme die Selbstwahrnehmung der porträtierten Neonaziskinheads. Meist in Bild und Ton unwidersprochen, imaginieren diese sich als Opfer von Migrant_innen, People of Color und Linken. Eine einordnende Kontextualisierung solcher Äußerungen findet nicht statt. Eine Ausnahme stellt lediglich der Spielfilm Kriegerin dar, in dem der geflüchtete Teenager Rasul relativ viel Screentime bekommt.1488 Doch auch er fungiert in erster Linie als Katalysator für die Handlung um Hauptfigur Marisa denn als eigenständige Figur. Ähnliches lässt sich auch für Herzsprung feststellen.

Das Spannungsfeld zwischen Dokumentieren und Reproduzieren Neben der Betrachtung, wer zu Wort kommt und aus wessen Blickwinkel erzählt wird, sind Fragen nach dem Wie der Darstellung, nach den audiovisuellen und ästhetischen Strategien, die bei der Darstellung rechter Gewalt zum Einsatz kommen, ein weiterer zentraler Aspekt meiner Arbeit. Diese Fragen betreffen insbesondere das Spannungsfeld zwischen dem Dokumentieren rechter Gewalt – im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme der Ist-Situation – und deren zuweilen schwer zu vermeidenden Reproduktion, die mit der bildlichen Wiederholung entsprechender Taten und Worte einhergeht und im schlimmsten Fall dazu beitragen kann, extrem rechte Dominanzansprüche weiterzuverbreiten. Ein beispielhaft bewusster Umgang mit Bildern, hier mit denen des rassistischen Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, lässt sich in The Truth lies in Rostock aufzeigen. Hier werden Aufnahmen der Steine und Molotowcocktails werfenden AngreiferInnen stets auf der Soundspur kommentiert. Indem die Sequenzen mit den Aussagen der Angegriffenen an manchen Stellen auch mit bedrohlicher Musik unterlegt sind, wirkt der Film einer voyeuristischen oder neonazistischen Aneignung solcher Bilder entgegen. Anders verfährt der Spielfilm Kriegerin. In ihm werden die von der Neonaziclique um Hauptfigur Marisa verübten rechten Angriffe von Cliquenmitgliedern mit der diegetischen Handykamera gefilmt. Ihre Darstellungen sind von der Ästhetik der blaustichigen, verwackelten, mitten aus dem Geschehen heraus aufgenommenen Bilder geprägt, die kaum 1486 Kapitel 6.1 Tristesse zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt. Der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht ’s los (R: Thomas Heise, D 1992). 1487 Kapitel 6.2 Sieben Jahre später : Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (R: Thomas Heise, D 1999). 1488 Kapitel 6.4 Der Spielfilm Kriegerin (R: David Wnendt, D 2012). Eine Neonazistin als Fluchthelferin.

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Abschließende Betrachtungen und Ausblick

räumliche Orientierung gewähren und sich deutlich als Filme im Film zu erkennen geben. Die Autorschaft dieser Aufnahmen liegt bei der fiktiven Neonaziclique. Dies verweist auf die in der realen Welt nicht nur bei Neonazis häufige Praxis, (selbst) verübte Angriffe mit dem Handy zu dokumentieren und über soziale Medien zu verbreiten. Unterlegt von treibenden Beats tragen diese Bilder vor allem zu einer Dynamisierung des Geschehens bei. Die Folgen rechter Gewalt rücken in diesen Momenten aus dem Blickfeld. Anders ist es bei dem von Hauptfigur Marisa verübten Attentat auf Rasul und seinen Bruder, das der Täterin Schuldgefühle beschert, aus denen dann die Haupthandlung gleich einer Kausalkette motiviert und entwickelt wird. Eine intensive Auseinandersetzung um Fragen nach dem Wie der Darstellung rechter Gewalt führte Andres Veiel in Der Kick. Der sogenannte Bordsteinkick, Schlüsselszene des US-amerikanischen Spielfilms American History X, lieferte im realen Leben die Handlungsvorlage für die Tötung Marinus Schöberls: Nachdem er das spätere Opfer gemeinsam mit zwei weiteren Neonazis über Stunden gequält und gefoltert hatte, reinszenierte Haupttäter Marcel Schönfeld dessen Tötung entlang der filmischen Vorlage. Um eine erneute Nachstellung zu vermeiden, wählte Veiel eine abstrakte Darstellungsweise. Die Schauspielerin Susanne Maria Wrage und der Schauspieler Marcus Lerch verkörpern die rund 20 Prozessbeteiligten, indem sie jeder dieser Personen eine spezifische, sie charakterisierende Gestik und Mimik zuweisen. Ihre Reden basieren auf bearbeiteten Texten aus den Prozessakten gegen Marinus Schöberls Mörder und auf Interviews, die mit den Prozessbeteiligten geführt wurden. Da Der Kick folglich fiktionale und dokumentarische Züge aufweist, lässt er sich als Hybridform aus Spiel- und Dokumentarfilm bezeichnen. Ein Veiels »Bildverbot« diametral entgegengesetztes Verfahren wählte Tamara Milosevic. Erstens drehte sie ihren Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort am Tatort im brandenburgischen Potzlow. Während zweitens der Mord an Marinus Schöberl in Der Kick detailliert zur Sprache kommt, bildet er in ihrem Film lediglich die Hintergrundkulisse, vor der eine Bestandsaufnahme des dortigen Miteinanders unternommen wird. In einigen Sequenzen wird im Gestus des direct cinema beobachtet, wie die Schwächsten in der Hackordnung der porträtierten Clique physisch und psychisch gedemütigt werden. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit es gerade die Anwesenheit der Kamera war, die zu solchen Taten motivierte. Wie weit, so wäre im Anschluss daran zu diskutieren, darf man als Filmemacherin gehen, um ein drastisches Bild der Potzlower Zustände zu zeigen? Vom völligen Verzicht auf die Abbildung rechter Gewalt über ihre actiongeladene Darstellung bis hin zu einem seitens der Angegriffenen kommentierten Einsatz der Bilder des rassistischen Pogroms von Rostock-Lichtenhagen: In den analysierten Filmen lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Strategien für den

Abschließende Betrachtungen und Ausblick

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Umgang mit rechter Gewalt aufzeigen. Sie veranschaulichen nicht zuletzt die jeweilige Haltung der Filmschaffenden zu diesem Thema. Deren Ringen um eine angemessene filmische Darstellung rechter und rassistischer Gewalt, insbesondere das Bemühen um einen »unvoreingenommenen Blick« auf die TäterInnen, führte in vielen Fällen zu einer verharmlosenden Sozialpädagogisierung. Dazu führt vor allem die sogenannte Deprivationsthese, auf die ich im Folgenden eingehe.

Verfilmungen der Deprivationsthese Die meisten Filme, die von rechten TäterInnen handeln, stellen die politische Orientierung ihrer Protagonist_innen in einen kausalen Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen der Wendezeit, die in ihren Analysen mit einem Verlust von Werten und Orientierung sowie hoher Arbeitslosigkeit einhergehen. Diese Deutung lässt sich insbesondere in Thomas Heises Dokumentarfilmen Stau – jetzt geht’s los und Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) und in Andreas Voigts Glaube, Liebe, Hoffnung aufzeigen. Stärker noch als Heise arbeitet Voigt dabei mit visuellen Kontrasten, um Elend und Ungerechtigkeit in Szene zu setzen: Einen Gegensatz zu den prekären Lebensumständen der porträtierten Neonazis bildet die Glitzerwelt der Wendegewinner, die durch den westdeutschen Immobilienmakler Jürgen Schneider repräsentiert wird. Die drei genannten Filme lassen sich daher als Verfilmungen der von Wilhelm Heitmeyer in den frühen 1990er Jahren popularisierten Deprivationsthese bezeichnen, die rechte Gewalt auf die Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie die sozialen Umbrüche nach dem Ende der DDR zurückführt: »Rechtsextremismus« wird als Krisenreaktion verunsicherter, adoleszenter, männlicher Jugendlicher gedeutet. Dass sich rechte Gewalt gezielt gegen die Personengruppen richtet, denen entlang rechter Feindbilder jegliche Rechte abgesprochen werden, fällt in dieser Setzung unter den Tisch. Dieser entpolitisierende Erklärungsansatz ist damals wie heute in der Diskussion über rechte Gewalt weit verbreitet. Wenn etwa Interviewpartner Konrad in Stau – Jetzt geht’s los unter den strengen Blicken seiner Mutter einen Kuchen bäckt, wird ein Bild des Neonazis als unselbstständiger kleiner Junge entworfen. Ein anderer Neonazi klagt minutenlang über seine Arbeitslosigkeit, schildert seine konturlosen Tage vor dem Fernseher. Die von der Clique verübten rechten Gewalttaten hingegen kommen nur am Rande vor. Diese Sichtweise auf rechte TäterInnen lässt sich auch in Herzsprung aufzeigen. Verharmlosend wird Neonazismus dort als Spiel frustrierter, arbeitsloser, postpubertärer Männer dargestellt. Der tödliche Ausgang ist unbeabsichtigt; er wird nicht in den Zusammenhang des neonazistischen Menschenbildes gestellt.

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Abschließende Betrachtungen und Ausblick

Kriegerin dagegen entwirft stärker ein Bild des Neonazismus als einen spezifischen Ausdruck einer – hier weiblichen – Adoleszenzkrise. Auch wenn David Wnendt mit seiner Darstellung eines gewalttätigen weiblichen Mitglieds der Neonaziszene im filmischen Diskurs über die extreme Rechte Neuland betritt, sind die im Film präsentierten Erklärungsversuche hinlänglich bekannt. So wird der Neonazismus der Hauptfigur Marisa in erster Linie als Versuch dargestellt, ein individuelles Familiendrama zu bewältigen, das von ihrer lieblosen, alleinerziehenden Mutter verursacht wurde. Bei der psychologisierenden Deutung, die der Film somit entfaltet, geht es allerdings weniger um soziale Deprivation denn um innerfamiliäre Krisen. Auch die zweite Hauptfigur, Svenja, flüchtet sich vor ihrem autoritären Stiefvater in den Neonazismus. Damit tragen Kriegerin wie auch verschiedene weitere Filme zur Entpolitisierung rechter Ideologie bei. Sie dürften an der Popularisierung dieser von Stefan Dierbach treffend als »grob fahrlässig« bezeichneten Sichtweise einen nicht zu vernachlässigenden Anteil gehabt haben.1489

Die (De-)Thematisierung gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse Werden gewalttätiger Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus als Krisenreaktion unterpreviligierter weißer und meist männlicher Jugendlicher und junger Erwachsener dargestellt, geht damit einher, dass gesellschaftliche Ungleichtheitsverhältnisse nicht benannt werden: Die Dethematisierung von Antisemitismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Klassismus, Ableism und Heteronormativität in den Strukturen, Institutionen, Diskursen und Praktiken der deutschen Gesellschaft ist konstitutiver Bestandteil solcher Sichtweisen. Zudem fragen die Filme weder nach der lokalen Verbreitung rechter Gewalt, noch liefern sie einen Überblick über extrem rechte bzw. neonazistische Strukturen vor Ort – geschweige denn, dass sie ihre ProtagonistInnen hierin verorten würden. In Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) wird immerhin die Allgegenwärtigkeit rassistischer Einstellungen an einigen Stellen offensichtlich: Beiläufig tauchen hier rassistische Stereotype in einigen Interviews mit Personen auf, die nicht als Rechte markiert sind. Rassismus erscheint jedoch als – wenn auch weit verbreitetes – individuelles Vorurteil. Da entsprechende Statements unkommentiert bleiben, stellt sich zudem die Frage nach ihrer Wirkung auf die Zuschauenden. Tamara Milosevic hingegen gelingt es in Zur falschen Zeit am falschen Ort, die Selbstverständlichkeit sozialdarwinistischen Agierens innerhalb der porträtierten Gruppe aufzuzeigen – wenn auch, wie oben beschrieben, mit fragwürdigen Methoden. 1489 Dierbach 2012, S. 8.

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Anders verfahren die Filme The Truth Lies in Rostock und Revision. Ersterer skandalisiert die einem Desinteresse oder gar einer stillen Duldung geschuldete Unfähigkeit der verantwortlichen Behörden, angemessen auf das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zu reagieren. Im Zentrum des Dokumentarfilms stehen Fragen nach dessen Ursachen und Auswirkungen sowie nach der politischen Verantwortung. Das Zusammenspiel zwischen institutionellem Rassismus innerhalb der zuständigen Behörden und dem gewalttätigen Rassismus der Angreifenden wird dabei deutlich herausgearbeitet. Institutioneller Rassismus wird auch in Revision thematisiert. Hier tritt er in den Aussagen der damals mit der Erschießung Velcus und Calder¼rs befassten Zuständigen bei Polizei und Staatsanwaltschaft zutage, offenbart sich aber auch in deren Umgang mit den Angehörigen der Ermordeten. Offensichtlich wird er nicht zuletzt in den Freisprüchen für die Todesschützen nach einem mehr als nachlässig geführten Verfahren. Auch in den drei Teilen der Sendereihe Tödliche Begegnungen wird ersichtlich, dass sich die jeweilige Ideologie der Ungleichwertigkeit, wegen der die drei Männer getötet wurden – Sozialdarwinismus in Das Leben des Norbert Plath, Rassismus in Das Leben des Carlos Fernando sowie Schwulenfeindlichkeit in Das Leben des Klaus-Peter Beer – nicht nur bei den neonazistischen Mördern, sondern auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft, ihren Institutionen und Strukturen aufzeigen lässt. In alltägliche Situationen begibt sich auch Günter Wallraff in Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland, um die weite Verbreitung des Rassismus aufzuzeigen. Mit versteckter Kamera dokumentiert er die ihm in seiner Blackface-Maskerade als Kwami Orgonno entgegenschlagenden Ressentiments, die an manchen Stellen jedoch vielleicht eher auf sein aufdringliches Agieren und seine unglaubwürdige Verkleidung denn auf Rassismus zurückzuführen sind. In der Ausgestaltung seiner Rolle wechselt er zwischen gebrochenem und fließendem Deutsch. Er changiert zwischen der Subjektposition eines Geflüchteten und der eines Schwarzen Deutschen. Damit setzt er sich über die existenziellen, rechtlichen, statusbezogenen und sozialen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen hinweg: Die Frage nach den Lebensbedingungen, denen Geflüchtete zur Drehzeit unterworfen sind – etwa die beengte Unterbringung, das Verbot zu arbeiten oder die Residenzpflicht –, wird im Film nicht thematisiert. Nur in einigen wenigen Filmen wird aufgezeigt, dass es sich bei Rassismus um ein gesellschaftliches Verhältnis handelt. Er legitimiert gesellschaftliche Hierarchien, spricht allen, die aus den Rastern der weißen Dominanzkultur fallen, die Zugehörigkeit ab und schließt sie entsprechend von der Teilhabe an Rechten – auf Wohnraum, Bildung und gut bezahlte Arbeit – aus. Die meisten Filme reduzieren Rassismus, Klassismus, Ableism und weitere Ausgrenzungs- und Diskriminierungshandlungen auf individuelle Vorurteile; diese werden zudem

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mit der prekären Lebenssituation derjenigen, die sie ausüben und vertreten, erklärt bzw. gerechtfertigt. Die Darstellung von Neonazismus und rechter Gewalt als Resultat der prekären Lebenssituation junger Männer hat zudem auf Ebene der Geschlechterverhältnisse Konsequenzen, wie ich im Folgenden ausführe.

Leerstelle Mädchen und Frauen in der extremen Rechten Konzipiert man Neonazismus und rechte Gewalt als männliches Phänomen, werden Mädchen und junge Frauen als (Mit-)Täterinnen unsichtbar gemacht. An der Tradierung dieser Leerstelle haben auch die meisten der analysierten Filme einen Anteil: Geraten Mädchen und junge Frauen etwa in Stau – Jetzt geht’s los und Glaube, Liebe, Hoffnung doch einmal ins Blickfeld der Kamera, werden sie meist auf ihre Rolle als Partnerinnen der männlichen Neonazis reduziert und entsprechend vornehmlich zu den Themenbereichen Liebe und Beziehung befragt. Auf die Idee, dass es sich auch bei ihnen um extrem rechte Aktivistinnen mit eigener politischer Agenda handeln könnte, scheinen weder Thomas Heise noch Andreas Voigt gekommen zu sein. Lediglich Kriegerin handelt von einer gewaltbereiten Neonazistin. Im Gegensatz zu ihren männlichen »Kameraden« wird Hauptfigur Marisa jedoch eine weiche, einfühlsame Seite zugeschrieben. Auf dieser Grundlage wird auch ihr Neonazismus psychologisierend als – wenn auch fehlgeleitete – Suche nach Liebe und Geborgenheit dargestellt.

Die Verortung in Ostdeutschland und das Ausblenden historischer Kontinuitäten Westdeutschland ist Tatort der Morde an Carlos Fernando und Klaus-Peter Beer, die in zwei Teilen der TV-Reihe Tödliche Begegnungen porträtiert werden. Wie es bereits der Titel angedeutet, macht Günter Wallraff in Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland sowohl im Osten wie auch im Westen der Bundesrepublik Station. In den anderen analysierten Filmen liegen die Handlungsorte jedoch im Osten: Rostock-Lichtenhagen (The Truth lies in Rostock, Revision), das mecklenburgische Nadrense (Revision), Halle-Neustadt (Stau-Triologie), Leipzig (Glaube, Liebe, Hoffnung) sowie das brandenburgische Herzsprung. Im Spielfilm Kriegerin schließlich dient eine nicht näher spezifizierte ostdeutsche Provinzstadt als Kulisse. Insbesondere Thomas Heise setzt in seiner Stau-Triolgie die Plattenbautristesse Halle-Neustadts in Szene. So beginnt etwa Stau – Jetzt geht’s los mit Impressionen grauer Straßenzüge. Bilder trister Plattenbauten sind zwischen die Interviewsequenzen mit den porträtierten Neonazis, ihren

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Müttern oder Familien montiert. Auch Andreas Voigt lässt seinen in SchwarzWeiß gedrehten Dokumentarfilm Glaube, Liebe, Hoffnung mit Bildern trostloser Industriebrachen im Leipziger Umland beginnen und enden. Protagonist Papa schießt hier Leuchtspurmunition in die kargen Weiten eines Braukohletagebaus. Zu betonen ist allerdings, dass keiner der genannten Filme aus westdeutscher Sicht versucht, rechte Gewalt in den Osten der Republik zu projizieren. Thomas Heise wie Andreas Voigt, aber auch Helke Misselwitz, die Regisseurin von Herzsprung, haben ihre Ausbildung bei der DEFA absolviert. Insbesondere Misselwitz ist mit ihren DEFA-Arbeiten bekannt geworden. Von allen drei Regisseur_innen werden die Umbrüche der Wendezeit als Bedingungen der Möglichkeit des Neonazismus gefasst, während die Situation in der DDR eine Leerstelle bleibt. Indem die ersten beiden Teile der Stau-Triologie und Glaube, Liebe, Hoffnung den Neonazismus als Resultat ostdeutsch-männlicher Adoleszenzkrisen darstellen, mit denen die neonazistischen Interviewpartner auf die Zumutungen der Deutschen Wiedervereinigung reagieren, wird gerade die Tatsache ausgeblendet, dass Rassismus und rechte Gewalt bereits zu DDR-Zeiten weit verbreitet waren. So werden die Interviewpartner weder in der Stau-Triolgie noch in Glaube, Liebe, Hoffnung explizit nach der Dauer ihrer Szenezugehörigkeit gefragt. Was wäre, wenn sich diese bis in Zeiten vor den Wendejahren zurückverfolgen ließe? Auch in Herzsprung entwickelt sich Soljanka erst nach dem Ende der DDR zum Neonazi. Das Ausblenden von historischen Kontinuitäten, eine Basis bundesdeutscher Geschichtserzählungen der Nachkriegszeit, lässt sich somit auch im ostdeutschen Kontext aufzeigen. Die Existenz rechter Gewalt wurde zu DDR-Zeiten wegen der antifaschistischen Staatsdoktrin verschwiegen. Die Frage nach den familiären Verstrickungen in den Nationalsozialismus sowie nach einer intergenerationalen Tradierung nazistischer Ideologie und ihrer Fragmente wird lediglich im Film Kriegerin verhandelt. Hier ist es der als geliebte Bezugsperson etablierte Großvater der Hauptfigur Marisa, der seine Enkelin im Sinne seines nationalsozialistischen Weltbilds indoktriniert.

Fazit und Ausblick Nach wie vor läuft Kriegerin neben Dokumentationen zum »Rechtsextremismus« im Rahmen entsprechender Themenreihen zur besten Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wie ich in meiner Analyse dargestellt habe, wird ihm – nicht nur durch diese Art der medialen Rahmung – die Fähigkeit attestiert, Aussagen darüber treffen zu können, wie die extreme Rechte »wirklich« ist. Er schreibt mit seiner psychologisierenden und damit entschuldenden Sicht auf die TäterInnen populäre Narrative fort. Solche Erzählungen werden durch andere

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Filme wie Revision und The Truth lies in Rostock dekonstruiert. Indem sie vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragen, tragen sie dazu bei, Gegendiskurse zu popularisieren, und – zumindest auf einer symbolischen Ebene – jene Gerechtigkeit herzustellen, die es auf einer juristischen Ebene nicht gegeben hat. Dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit wie Kriegerin haben sie jedoch nie erhalten. In den letzten Jahren entstand eine Reihe weiterer Filme zum Themenbereich Rassismus und rechte Gewalt. Zu nennen ist hier Wir sind jung. Wir sind stark (R: Burhan Qurbani, D 2014), der Spielfilm über das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, der aktuell in der politischen Bildungsarbeit zum Einsatz kommt.1490 Bereits ein Jahr zuvor kam der Film Der Blinde Fleck – Das Oktoberfestattentat (R: Daniel Harrich, D 2013) heraus. Er belegt eindrücklich, dass Filme konkrete Auswirkungen auf die Diskussion über rechte Gewalt haben können. Aufgrund des Spielfilms kam drei Jahrzehnte nach dem Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest mit 13 Toten und über 200 teilweise Schwerverletzten erneut Bewegung in den Kriminalfall, bei dem bis heute viele Fragen offen sind: Anlässlich der Vorpremiere im Bayrischen Landtag sicherte der Innenminister des Freistaates Joachim Herrmann zu, vollständige Einsicht in verfahrensrelevante Ermittlungsakten zu gewähren.1491 Die Produktion veranlasste zudem neue Zeug_innen, sich bei Ulrich Chaussy zu melden, von dessen Recherchen der Spielfilm handelt und der als Drehbuchautor auch an der im Anschluss ausgestrahlten TV-Dokumentation Attentäter – Einzeltäter? Neues zum Oktoberfestattentat (R: Daniel Harrich, BR 2015) sowie einer interaktiven Webdokumentation beteiligt war.1492 Der offiziellen Sichtweise, nach der Gundolf Köhler als unpolitischer Einzeltäter verurteilt wurde, stellt der Film Chaussys Version des Attentäters Köhler als Teil der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann entgegen. 34 Jahre nach dem Bombenanschlag nahm die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf.1493 Auch die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) am 4. November 2011 fällt in meinen Untersuchungszeitraum. Auf die ab 2015 verstärkt einsetzende filmische Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex konnte ich jedoch nur noch am Rande eingehen.1494 Eine vertiefte Analyse der zu 1490 Vgl. dazu: Stegmann 2015 b. Ericok 2015. 1491 »Die Akten beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz können grundsätzlich nur auf Antrag von betroffenen Personen eingesehen werden, erläuterte [Landespolizeipräsident, JS] Schmidbauer. Laut dem Bayerischen Verfassungsschutzgesetz besteht grundsätzlich kein Einsichtsrecht in die Akten des Verfassungsschutzes.« Verfassungsausschuss des Bayerischen Landtags 2014. 1492 Vgl. Chaussy, Harrich o. J. 1493 Teuthorn-Mohr 2015. 1494 Vgl. Kapitel 2 Rechte und rassistische Gewalttaten und ihre filmische Darstellung seit den 1990er Jahren.

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diesem Thema entstehenden Film- und Fernsehproduktionen wäre eine wichtige Aufgabe für weitere Forschungen. Hier ließe sich etwa fragen, ob sich die in der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Deutungsmuster auch in diesem Korpus finden. So handelt etwa eine Reihe von TV-Produktionen von den TäterInnen. Befragt werden in ihnen etwa die Eltern des Rechtsterroristen Uwe Böhnhard (Vom Nesthäkchen zum Terrorist: Die Verzweiflung der Eltern Böhnhard (R: Dschamila Benkhelouf, Christian Fuchs, Johann Goetz, Anke Hunold, Anna Orth, Andrea Röpke, ARD 2012). Sie kommen auch in Der verlorene Sohn. Uwe Böhnhard (R: Andreas Kuno Richter, RTL 2012) zu Wort, in dem eine Gruppe von Schüler_innen versucht, die Radikalisierungsprozesse der TäterInnen nachzuvollziehen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das Dokudrama Letzte Ausfahrt Gera – Acht Stunden mit Beate Zschäpe (R: Raymond Ley, ZDF 2016), das die Rechtsterroristin Beate Zschäpe auf der Fahrt zu ihrer Großmutter zeigt. Sie wurde hierbei von einem Verhörspezialisten des BKA begleitet, der hoffte, ihr wichtige Informationen entlocken zu können. Die Spielfilmtrilogie Mitten in Deutschland befasst sich mit TäterInnen des NSU (Die Täter – Heute ist nicht alle Tage; R: Christian Schwochow, ARD 2016), den Opfern (Die Opfer – Vergesst mich nicht; R: Züli Aladag, ARD, 2016) sowie den Ermittlungsbehörden (Die Ermittler : Nur für den Dienstgebrauch; R: Florian Cossen, ARD 2016). Angesichts des zu Drehzeiten noch laufenden NSUProzesses wäre es wichtig, einen Blick auf die von diesen drei Filmen entworfenen Mischungen aus Fakt und Fiktion, Deutungen und Spekulationen zu werfen, zu fragen, welche Erklärungen und Mythen hier (re-)produziert werden. Was passiert etwa, wenn die Filme vom heroischen Kampf rechtschaffener Polizist_innen gegen die Windmühlen eines als geradezu diabolisch inszenierten Verfassungsschutzes handeln, wie in Die Ermittler : Nur für den Dienstgebrauch? Welche Rolle wird dem institutionellen Rassismus in solchen Erklärungsansätzen zugewiesen? Welchen Raum nehmen die Perspektive der Angehörigen und Betroffenen und ihre Forderungen in solchen Filmen ein? Immerhin basierte der zweite Teil der Trilogie auf Semiya S¸ims¸eks Buch Tödliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Er rekapituliert ihre Sicht auf die Erschießung des Vaters und die darauffolgenden Ermittlungen gegen die Familie. Auch in anderen Filmen stehen die Ermordeten und ihre Angehörigen im Zentrum. Der erste von ihnen, Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin (R: Matthias Deiß, Eva Müller, Anne Kathrin, Thüringer ARD 2011) entstand bereits kurz nach der Selbstenttarnung des NSU. In der Dokumentation reist das Kamerateam in den Osten der Türkei, um die Eltern des ermordeten Mehmet Turgut zu treffen. Sie decken auf, dass er wegen einer Verwechslung der türkischen Behörden unter falschem Namen betrauert wurde. Ähnlich wie in Revision erfuhren seine Angehörigen erst vom Filmteam über die Mörder ihres Sohnes. Die Betroffenen des rassistischen Nagelbombenanschlags auf die mehrheitlich

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von Migrant_innen und People of Color bewohnte Kölner Keupstraße stehen im Zentrum des Dokumentarfilms Der Kuaför aus der Keupstraße/Keupstrasse’ deki Kuaför (R: Andreas Maus, D 2015). Am Beispiel der Friseure Özcan und Hasan Yıldırım, vor deren Laden die Bombe detonierte, veranschaulicht er die endlosen Verhöre, welche sie nach dem Attentat über sich ergehen lassen mussten. An diesen Stellen arbeitet der Dokumentarfilm ähnlich wie Andres Veiel in Der Kick mit von Schauspieler_innen nachgestellten Szenen, die jedoch auf den realen Vernehmungsprotokollen basieren. Auf diese Weise legt der Film ein wichtiges Zeugnis des gewalttätigen wie institutionellen Rassismus ab. Besteht Hoffnung, dass sich diese rassismuskritische Tendenz im deutschen Film durchsetzen wird? In der vorliegenden Arbeit habe ich gezeigt, dass es zahlreiche Filme gibt, die in verschiedener Hinsicht problematisch sind. Aber es finden sich auch einige ermunternde Signale, wenn sie auch vom gesellschaftlichen Mainstream bisher kaum wahrgenommen wurden. Hier sind insbesondere die politischen Bildungsinstitutionen gefragt.

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Wolle, Stefan (2015): Geschlossene Gesellschaft. In: Zeit Geschichte. Epochen. Menschen. Ideen. Die neuen Deutschen 4, S. 96–97. Wüllenweber, Walter (2016): Die ganze Milde des Gesetzes. In: Stern 17, S. 52–61. ZDF. Das kleine Fernsehspiel (2015): Film ab gegen Rechts.Vierteilige Filmreihe. ZDF vom 20. April 2015. Online: http://www.zdf.de/das-kleine-fernsehspiel/film-ab-gegen-rechtsfilmreihe-das-kleine-fernsehspiel-36744766.html?mediaType=Artikel (abgerufen: 16. 06. 2016). zebra – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe e.V. (o. J.): Kurzkonzept. Online: http:// www.zebraev.de/kurzkonzept-zebra-zentrum-fuer-betroffene-rechter-angriffe-e-v/ (abgerufen: 11. 04. 2016). Zentrum für Antisemitismusforschung, Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung e.V. (Hg.) (2014): Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikatio nen/Expertisen/Bevoelkerungseinstellungen_Sinti_und_Roma_20140829.pdf;jsessionid =6BB980383BA1D1A7547CDE85A8A69747.2_cid322?__blob=publicationFile (abgerufen: 16. 06. 2016). Zick, Andreas (o. J.): Spielarten des Rassismus. Auf: Heinrich Böll Stiftung. Online: https://heimatkunde.boell.de/2010/04/01/spielarten-des-rassismus (abgerufen: 04. 05. 2016). Zick, Andreas / Küpper, Beate / Hövermann, Andreas (2011): Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Bonn.

9

Filmografie

9.1

Analysierte Filme

Das Leben des Carlos Fernando (R: Samuel Schirmbeck, HR 2001) Das Leben des Klaus-Peter Beer (R: Gabriele Jenk, HR 2001) Das Leben des Norbert Plath (R: Sabine Mieder, Eckhard Mieder, HR 2001) Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt (R: Andres Veiel, D 2005/6) Glaube, Liebe, Hoffnung. Leipzig Dez. ’92 bis Dez. ’93 (R: Andreas Voigt, D 1994) Herzsprung (R: Helke Missewitz, D 1992) Kriegerin (R: David Wnendt, D 2011) Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (R: Thomas Heise, D 1999) Revision (R: Philip Scheffner, D 2012) Schwarz auf Weiß. Eine Reise durch Deutschland (R: Pagonis Pagonakis, Susanne Jäger, D 2009) Stau – Jetzt geht’s los (R: Thomas Heise, D 1992) The Truth lies in Rostock (R: Siobhan Cleary, Mark Saunders, GB/D 1993) Zur falschen Zeit am falschen Ort (R: Tamara Milosevic, D 2005)

9.2

Erwähnte Filme und TV-Beiträge

Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin (R: Matthias Deiß, Eva Müller, Anne Kathrin Thüringer ARD, 2011) Alle sind noch da, nur die Toten nicht. Zwanzig Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen (R: Pagonis Pagonakis, Eva Schötteldreier, Charlotte Schwalb, WDR 2013) Als Rostock-Lichtenhagen brannte (R: Florian Huber, NDR 2012) Amadeu Antonio (R: Thomas Balzer, ZDF 1992) American History X (R: Tony Kaye, USA 1998) Beruf Neonazi (R: Winfried Bonengel, D 1993) Braune Kameradin (R: Otto Belina, Andrea Röpke, Lars Boje, D 2010) Bruderland ist abgebrannt (R: Angelika Nguyen, D 1991) Asylbewerberkind angezündet: Die Geschichte von Zainab Saado (R: Peter Hell, SpiegelTV 2014)

456

Filmografie

Ausländerfeindlichkeit vor 20 Jahren – Quedlinburg 1992. Erstausstrahlung: MDR, GMD Das Magazin am 4. September 2012 Ausländerjagd. Rassismus im neuen Deutschland (R: Peter Vinzens, ARD Brennpunkt 1991) Das kurze Leben des Omar Ben Nui (R: Kristian Kähler, RBB 2000) Das Hoyerswerdasyndrom (R: Mogniss H. Abdallah, Yonas Endrias, FR 1996) Die Arier (R: Mo Asumang, D 2014) Der Blinde Fleck. Täter. Attentäter. Einzeltäter? (R: Daniel Harrich, D 2013) Der Kuaför aus der Keupstraße/ Keupstrasse’ deki Kuaför (R: Andreas Maus, D 2016) Der Tag, als der Mob die Inder hetzte (R: Kamil Taylan, HR 2008) Die Brandnacht (Panorama – die Reporter, NDR 2016) Die Ermittler: Nur für den Dienstgebrauch (R: Florian Cossen, ARD 2016) Die Kinder sind tot (R: Aelrun Goette, D 2003) Die Nationale Front. Neonazis in der DDR (R: Andreas K. Richter, Tom Franke, MDR 2006) Die Opfer – Vergesst mich nicht (R: Züli Aladag, ARD 2016) Die Täter – Heute ist nicht alle Tage (R: Christian Schwochow, ARD 2016) Duvarlar – Mauern – Walls (R: Can Candan, USA/TR 2000) Eberswalde und der Mord an Amadeu Antonio Kiowa (R: Spiegel-TV 2012) Hoffnung im Herzen: Mündliche Poesie – May Ayim (R: Maria Binder, D 1997) Honeckers Gastarbeiter. Fremde Freunde in der DDR (R: Lutz Renter, Tom Franke, RBB 2015) ID without Colors (R: Riccardo Valsecchi, D 2013) Ich bin Muslim, was möchten Sie wissen? (Michel Abdollahi, NDR 2015) Im Nazidorf (R: Michel Abdollahi, NDR 2015) Kein 10. Opfer! (R: Gruppe »Was nun?!«, D 2012) Kinder. Wie die Zeit vergeht (R: Thomas Heise, D 2007) Leere Mitte (R: Hito Styerl, D 1998) Michel misst das Mitgefühl (Michel Abdollahi, NDR 2015) Nach dem Brand (R: Malou Berlin, D 2012) Nach Wriezen (R: Daniel Abma, D 2012) Neonazistinnen – Frauen in der rechten Szene (R: Recherche Nord, D 2007) Residenzpflicht (R: Denise Bergt-Garcia, D 2012) Roots Germania (R: Mo Asumang, D 2007) Rostock-Lichtenhagen – Die Medien hetzten mit (NDR Zapp, 22. 08. 2012) Shining (R: Stanley Kubrick, USA 1980) Torfsturm. Eine rechte Jugendclique (R: Dagmar Gellert, D 1996) Tot in Lübeck. Hintergründe des Brandanschlags auf das Lübecker Asylbewerberheim 1996 (R: Lottie Marsau, Katharina Geinitz, D 2003) Trop Noir Pour 9tre FranÅaise? (R: Isabelle Boni-Claverie, ARTE F 2013) Unsere Kinder (R: Roland Steiner, DDR 1989) Viele habe ich erkannt (R: Helmut Dietrich, Julia Oelkers, Lars Maibaum, D 1992) Weltstadt (R: Christian Klandt, D 2008) Wer Gewalt sät. Von Brandstiftern und Biedermännern (R: Gert Monheim, WDR 1993) White Terror (R: Daniel Schweitzer, CH, D, FR 2005) Wir sind jung. Wir sind stark (R: Burhan Qurbani, D 2014) Zeinabs Wunden (R: Esther Schapira, HR 1993)

Erwähnte Filme und TV-Beiträge

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2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (R: Malte Ludin, AT 2008) 20 Jahre Hoyerswerda – Was hat sich seitdem verändert? (R: Charlotte Schwab, Lars Maibaum, Julia Oelkers, BRD 2011) 93/13 zwanzig Jahre nach Solingen (R: Mirza Odabas¸ı, D 2013)