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German Pages 264 Year 2014
Daniel Innerarity Demokratie des Wissens
Sozialtheorie
Daniel Innerarity ist Professor für Philosophie an der Universidad del Pais Vasco und Leiter des Institute for Democratic Governance (Globernance). Der mehrfach preisgekrönte Autor und Übersetzer (u.a. Spanischer Nationalpreis für Essays) arbeitet u.a. zur Wissensgesellschaft, zu Demokratie und Globalisierung. Daniel Innerarity ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) und war Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung (Berlin). Seine Werke wurden ins Englische, Französische, Italienische und Portugiesische übersetzt. Der Autor von »La transformación de la política«, »La sociedad invisible« und »The Future and its Enemies« (Stanford University Press) schreibt regelmäßig u.a. für »El País« und »El Correo«. »Le Nouvel Observateur« zählte ihn 2004 zu den 25 wichtigsten Denkern der Zeit.
Daniel Innerarity
Demokratie des Wissens Plädoyer für eine lernfähige Gesellschaft (übersetzt aus dem Spanischen von Volker Rühle)
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Inhalt
Einleitung: Die Erkenntnis lenken | 9
E RSTER T EIL : D IE ÜBERL ASTETE I NTELLIGENZ 1. Die gut informierte Ignoranz | 15 Paradoxien der Wissensgesellschaft | 15 Wissensmanagement | 21 Komplexitätsreduktion und die Bewältigung des Überflusses | 27 Literatur | 31
2. Ordnung und Unordnung. Eine Poetik der Ausnahme | 33 Das ungeordnete Wissen | 34 Die Ungenauigkeit der Regeln | 37 Die unmögliche Wiederholung | 41 Mit der Ausnahme umgehen | 43 Literatur | 48
Z WEITER T EIL : D IE O RGANISATION DER U NGEWISSHEIT 3. Wissensgesellschaft und Nichtwissensgesellschaft | 53 Eine aus Wissen gemachte Welt | 54 Die Nichtwissensgesellschaft | 60 Literatur | 68
4. Das Wissen in der Wissensgesellschaft | 71 Die Kritik der technologischen und wissenschaftlichen Zivilisation | 73 Macht und Ohnmacht des Wissens | 78 Die Struktur der Wissensgesellschaften | 85 Literatur | 90
5. Der Dialog zwischen Wissen und Macht | 93 Die Macht des Wissens und das Wissen der Macht | 96 Expertenwissen und politische Beratung | 101 Das neue Verhältnis von Wissenschaft und Politik | 106 Literatur | 109
6. Wissenschaftlicher Bürgersinn | 111 Mit uns selbst experimentieren | 113 Die Wissenschaft als Angelegenheit aller | 119 Die Wissenschaft und die Menschen | 123 Wissenschaftliche Wahrheit und öffentliche Meinung | 128 Literatur | 131
D RITTER T EIL : D IE KOGNITIVE H ERAUSFORDERUNG DER Ö KONOMIE 7. Die Intelligenz der ökonomischen Krise | 135 Eine politische Krise | 135 Intelligenter sein als die Krise | 138 Die ökonomische Konstruktion des Vertrauens | 143 Das Prinzip Verantwortung | 147 Die kooperative Intelligenz | 150 Literatur | 156
8. Eine Ökonomie für eine unkalkulierbare Welt | 159 Die Exaktheitsheitsillusion | 160 Eine andere ökonomische Wissenschaft | 167 Die Nostalgie der ruhigen Leidenschaften | 175 Literatur | 182
V IERTER T EIL : D IE G EOGRAPHIE DER K REATIVITÄT 9. Der Wert der Kreativität | 187 Rhetoriken der Innovation | 188 Die Paradoxien der Kreativität | 190 Das Erlernen von Kreativität | 195 Lob der Inexaktheit | 200 Die Gesellschaft der Interpreten | 204 Literatur | 210
10. Über den Begriff gesellschaftlicher Innovation | 213 Die Gesellschaft ohne Innovation | 213 Innovation ohne Gesellschaft | 222 Der gesellschaftliche Charakter der Innovation | 226 Die Gesellschaft der Innovation | 231 Literatur | 237
11. Die Regierung intelligenter Territorien | 241 Eine neue Artikulation des Lokalen und Globalen | 241 Formen kollektiver Intelligenz | 249 Die Geographie der Kreativität | 253 Die Wissensgesellschaft regieren | 259 Literatur | 261
Einleitung: Die Erkenntnis lenken
Mehr als ein Mittel zur Wissensbeschaffung ist Erkenntnis ein Medium des Zusammenlebens. Ihre wichtigste Funktion besteht nicht in der Reflexion einer vorausgesetzten objektiven Wahrheit, die unsere Wahrnehmungen einer gegebenen Realität angleicht, sondern darin, sich zum mächtigsten Dispositiv bei der Konstituierung eines demokratischen Raums zwischenmenschlichen Zusammenlebens zu machen. Entgegen einer gängigen Auffassung bestehen die Grundprobleme dieses Raumes heute nämlich gar nicht so sehr in Willensschwäche, Entscheidungsmängeln oder Unmoralität. Vielmehr müssen wir sie darüber hinaus vor allem als Erkenntnisdefizite begreifen, die ihren Ursprung in einer unzureichenden Organisation unseres Wissens im Sinne seiner demokratischen Legitimation haben. Ich teile mit dieser These keineswegs die provokative Intention, mit der Richard Rorty eine ähnlich gelagerte Auffassung verfochten hat, der zufolge die Demokratie wichtiger sei als die Wahrheit, insofern es in ihr nicht nur darum gehe, Prioritäten zu setzen oder gar Unvereinbarkeiten zu konstatieren. Mir geht es in diesem Buch dagegen um eine Ausweitung der Demokratie auf den Bereich der Erkenntnis in einem doppelten Sinn: Zum einen haben die im Bereich der Wissenschaften behandelten Problemstellungen immer auch Dimensionen, welche die Zivilgesellschaft betreffen. Zum anderen lassen sich die Grundprobleme einer Demokratie – wie etwa die Bewältigung der aktuellen ökonomischen Krise – nicht allein auf Fragen politischer Willensbildung beschränken. Vielmehr bestehen sie in Erkenntnisdefiziten, die nach einer differenzierteren Einsicht in die komplexen Realitäten, mit denen wir umgehen, und nach verbesserten Steuerungsinstrumenten verlangen. Hier öffnet sich ein Forschungsfeld, das ich bereits in meinem letzten Buch, El futuro y sus
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enemigos [Die Zukunft und ihre Feinde], betreten habe, in dem ich die These entwickle, dass die Reflexion künftiger Entwicklungen und Konsequenzen das beste Mittel einer Erneuerung der Demokratie ist. Das vorliegende neue Buch schließt an diese Überlegung an, indem es deutlich zu machen sucht, dass Erkenntnis und Wissen und die an sie angrenzenden gesellschaftlichen Gebiete (wie die Politiken von Wissenschaft und Innovation, die politische Beratung der Regierungen, die Evaluation der Politik, das Verständnis der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen oder der Erkenntniskompetenz der für sie Verantwortlichen) Bereiche sind, in denen sich nicht nur die wirtschaftliche Prosperität entscheidet, sondern, grundlegender noch, die Beschaffenheit der Demokratie. Eine Politik der Erkenntnis und vermittels der Erkenntnis ist zu einer fundamentalen Aufgabe der demokratischen Zivilgesellschaft geworden, die uns gewiss auch viele theoretische Probleme stellt, in der vor allem aber die Beschaffenheit unseres öffentlichen Raumes auf dem Spiel steht. Die Eingangsthese dieses Buches ist, dass das Charakteristikum einer Demokratie des Wissens und der gesellschaftlichen Erneuerung in der rapiden Zunahme der sich ihr öffnenden Möglichkeiten besteht und dass sich folglich auch der kontingente Charakter ihrer Grundoperationen verstärkt. Immer wenn es darum geht auszuwählen, zu entscheiden, sich auf etwas zu verlassen oder zu antizipieren, ist der Bereich möglicher Optionen unübersehbar, so dass die schließlich realisierten Resultate niemals über den Verdacht erhaben sein werden, dass man irgendeine relevante Möglichkeit außer Acht gelassen haben könnte. Einzelpersonen stehen ebenso wie ganze Gesellschaften vor dem Problem, mit dieser Explosion sich bietender Möglichkeiten in ihren unterschiedlichen Formen umzugehen (einem Überschuss an Informationen, der Pluralität von Meinungen, einander widerstreitenden Legitimationsanforderungen, der Vervielfältigung von Handlungsoptionen und einer Vermehrung der Risiken, Innovationen mit unbekannten Folgen …), so dass ihre Haupttätigkeit auf eine intelligente Bewältigung dieser Exzesse ausgerichtet sein muss. Kurz, die wichtigste Herausforderung für Subjekte, Organisationen und die Gesellschaft insgesamt besteht in einer gerechten und intelligenten Steuerung dieser unkalkulierbaren Ausweitung von Möglichkeiten. Die überlastete Intelligenz ist die anthropologische Grunderfahrung, in der ein Großteil unserer gesellschaftlichen und politischen Probleme wurzelt; ihr ist der erste Teil dieses Buches gewidmet, der insofern eine Art anthropologische Einleitung in die Lenkung der Erkenntnis darstellt.
Einleitung: Die Erkenntnis lenken
In diesem Zusammenhang besteht die grundlegende politische Aktion in der kollektiven Organisation der Unsicherheit, mit der sich der zweite Teil befasst. Eine demokratische Gesellschaft beruht nicht nur auf legitimen Entscheidungen, sondern auch auf dem ihnen angemessenen Wissen. Erkenntnisprobleme sind insofern immer auch von politischer Natur, und umgekehrt sind politische Probleme ihrerseits in gewisser Weise immer auch Erkenntnisprobleme. Die Fragen nach der Legitimität einer politischen Kontrolle des Wissens und nach der Qualität jenes Wissens, auf dem diese Kontrolle beruht, sind daher nicht nur theoretischer Art, sondern zentrale Dilemmata dessen, was ich Wissensdemokratie nenne. Wenn in diesem Buch von einer Lenkung der Erkenntnis, aber auch von einer Organisation der Unsicherheit die Rede ist, dann deshalb, weil das, was wir euphorisch als Explosion des Wissens und der Informationen zu bezeichnen pflegen, angesichts des Missverhältnisses zwischen dem geringen verfügbaren Wissen und der Größe der zu bewältigenden Probleme, als eine Gesellschaft der Unwissenheit begriffen werden müsste. Ich riskiere sicher nicht zu viel, wenn ich prognostiziere, dass die wichtigsten Kontroversen der kommenden Jahre um Fragen solchen Typs kreisen werden: darum, was wir wissen, was wir nicht wissen und um alle Formen unvollständigen Wissens, in deren Rahmen wir unsere kollektiven Entscheidungen treffen müssen. Der für unsere Wissensgesellschaften charakteristische Imperativ, aktiv Lernprozesse generieren zu müssen, betrifft vor allem den Bereich der Ökonomie. Im dritten Teil dieses Buches untersuche ich diese kognitive Herausforderung der Ökonomie, die sich in der gegenwärtigen ökonomischen Krise besonders deutlich manifestiert. Sie scheint mir eher als Zeichen eines massiven kollektiven Scheiterns vor der Aufgabe zu begreifen zu sein, Risiken zu antizipieren und zu beherrschen, die von ökonomischen Aktivitäten herauf beschworen wurden und die gewissermaßen intelligenter sind als unsere Steuerungsinstrumente. Die Wiederaneignung der hierfür nötigen Erkenntniskompetenz läuft letztlich auf eine Erneuerung der begrifflichen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften hinaus, von deren Messinstrumenten wir nicht mehr so genau wissen, was sie denn überhaupt messen. Wenn denn die Ökonomie immer noch beansprucht, einen allgemeingültigen Diskurs anzubieten, der die gesellschaftliche Ordnung insgesamt betrifft und einbezieht, dann bedarf sie weniger präziser Berechnungen als vielmehr einer systemischen Idee. Unsere diesbezügliche Intention sollte sich an jenem Wahlspruch von
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Keynes orientieren, demzufolge es besser ist, annäherungsweise sicher zu sein, als exakt zu irren. Genau darauf läuft das hinaus, was ich hier eine Ökonomie für eine unkalkulierbare Welt nenne. Eine Wissens- und Innovationsgesellschaft in diesem Sinn verschiebt die alten Bildungsideale – perfekt, gut informiert oder kritisch zu sein – in die Richtung einer neuen Kompetenz, die wir Kreativität zu nennen pflegen. Sie lässt sich als die Fähigkeit begreifen, unsere Erwartungen zu modifizieren, wenn die Wirklichkeit sie widerlegt, statt darauf zu bestehen, der Realität vorzuschreiben, was diese zu sein hat. Der letzte Teil des Buches analysiert deshalb die vielfältigen Paradoxien, die der Begriff der Kreativität impliziert. Die Geographie der Kreativität befragt deren Verteilung in einer Gesellschaft und erwägt die Möglichkeit, dass Gesellschaften und Territorien intelligenter sein könnten als jeder Einzelne von uns. Die kognitive Wende in den Politiken des Raumes und der Regierung im Allgemeinen hat genau mit der Tatsache zu tun, dass die große Herausforderung der Menschheit nicht mehr in der Naturbeherrschung besteht, sondern darin beides, Information und Organisation, in ihrem Zusammenhang zu erkennen und weiterzuentwickeln.
Erster Teil: Die überlastete Intelligenz
1. Die gut informierte Ignoranz
Wir sprechen sehr enthusiastisch über die Wissensgesellschaft, machen uns jedoch weder die Schwierigkeiten und neuen Anforderungen bewusst, die sie mit sich bringt, noch die Fähigkeiten und Kompetenzen, die Personen und Organisationen in ihr erwerben müssen. Der Diskurs über die Wissensgesellschaft ist grenzenlos optimistisch, da ja das Wissen eine scheinbar unerschöpfliche Quelle neuer Instrumentarien ist. Wir haben uns daran gewöhnt, die allgemeine Zugänglichkeit aller Informationen anzupreisen, als machte uns dies schon weise, und übersehen dabei die neue Ignoranz, zu der uns die Komplexität dieser Informationsmengen zu verurteilen scheint. Ich möchte das hier angedeutete Unbehagen etwas dramatisieren, denn Lobpreisungen gibt es im Überfluss, und vor diesem Hintergrund kann es durchaus auch nützlich sein, wenn uns ein Spielverderber gelegentlich an die Probleme erinnert. Es geht mir dabei darum, einige Missstände der Wissensgesellschaft zu thematisieren und nach den entsprechenden Strategien zu fragen, mit ihnen umzugehen. Nur im Licht einer Bestandsaufnahme ihrer Widersprüche werden wir verstehen können, in welchem Sinn die Wissensgesellschaft uns auch einen ganz bestimmten Umgang mit unserer Unwissenheit abverlangt.
PAR ADOXIEN DER W ISSENSGESELLSCHAF T Man spricht leichthin davon, dass wir in einer Informations- oder Wissensgesellschaft leben, und doch müsste man im Grunde ganz im Gegenteil konstatieren, dass wir uns in einer Gesellschaft der Desinformation und des Nichtwissens befinden. Wie ist das zu versehen? Sicher nicht so, als würden uns ideologisch motivierte Machenschaften in die Irre führen,
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deren Drahtzieher in verborgenen Hinterzimmern agierten, sondern eher in einem zugleich komplexeren und banaleren Sinn. Unser Nichtwissen ist eine Konsequenz von drei, für die heutige Gesellschaft charakteristischen, Eigentümlichkeiten: des nicht (mehr) unmittelbaren Charakters unserer Welterfahrung, der Dichte des Informationsflusses und der technischen Vermittlungen unseres Zugangs zur Realität. Betrachten wir sie im Einzelnen.
a) Eine Welt aus zweiter Hand Das grundlegende Problem der Wissensgesellschaft besteht erstaunlicherweise darin, dass sie uns alle etwas dümmer werden lässt. Der Kontrast zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir können und vor allem dem, was wir wissen müssten, ist so groß, dass wir sie eher als Gesellschaft des Nichtwissens bezeichnen sollten. Max Weber hat es so ausgedrückt: »Der ›Wilde‹ weiß unendlich mehr über die ökonomischen und sozialen Konsequenzen seiner Existenz als der ›Zivilisierte‹« (1985, 474). Wir wissen weniger in dem Sinne, dass in früheren Kulturen die Menschen zwar vielleicht über weniger Wissen verfügten, dass aber dieses geringe Wissen praktisch alles enthielt, was sie wissen konnten und mussten. Sie hatten ein Wissen aus erster Hand, das unmittelbar erworben und überprüf bar war, während wir das merkwürdige Privileg genießen, von einer Unmenge von Dingen umgeben zu sein, von denen man nur weiß, dass jemand von ihnen weiß: Dingen, die sich theoretisch in unserer Reichweite befinden, über die wir aber nichts Konkretes wissen. Für Menschen früherer Epochen war die Welt verständlicher und transparenter als für uns. Der Fortschritt der Wissenschaft macht das Verständnis der Welt durchaus nicht einfacher, sondern erschwert es, da Wissen die Information in Komplexität transformiert. Und in einer komplexen Gesellschaft vermehren sich diejenigen Dinge – Artefakte, Informationen und Prozesse –, deren Rationalität wir als gegeben annehmen müssen. Je komplexer ein System ist, desto unvermeidbarer wird eine Akzeptanz ohne entsprechendes Verständnis. Die Erkenntnisse der Wissenschaft haben dann immer weniger mit unserer Lebenswelt zu tun und ihre Erklärungen werden für den gesunden Menschenverstand unverständlich. Die schwarzen Löcher sind ebenso unverständlich wie Nanosekunden, die auf Glauben angenommenen Produkte sind ebenso weit von unserer alltäglichen Erfahrung entfernt wie die Statistiken der
1. Die gut informier te Ignoranz
Kindersterblichkeit in Äthiopien. Man könnte sagen, dass sich die Welt, je mehr wir als Spezies über sie wissen, desto mehr dem gesunden Menschenverstand entfremdet. Unsere Welt ist aus zweiter Hand, sie ist vermittelt und es könnte gar nicht anders sein: Wir wüssten sehr wenig, wenn wir nur über unser persönliches Wissen verfügten. Deshalb bedienen wir uns aus einer Vielzahl epistemologischer Prothesen. Diese kognitive Ergänzung ist konstruiert auf der Grundlage von Vertrauen und Delegierung. Erfahrungen aus zweiter Hand bestimmen das menschliche Leben mit mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr Macht wie die unmittelbaren Erfahrungen, so dass sich schließlich fast alles, was wir über die Welt wissen, bestimmten Vermittlungen verdankt. Es ist dieser Umstand, welcher der Kritik, dass wir schlecht informiert und manipuliert seien, eine gewisse Plausibilität verleiht, auch wenn diese Kritik der Nostalgie einer unwiederbringlich verlorenen Welt entspricht und die Vorteile der Komplexität übergeht.
b) Der Informationsüberschuss Unter den unbequemen Missverhältnissen in unserer Welt gibt es eine für die fortgeschrittene Gesellschaft charakteristische Unwissenheit, die durch einen Überschuss an Informationen hervorgebracht wird, der sich mit Neologismen wie »Infomüll« oder »Inforausch« bezeichnen lässt. Die Spezialisierungen und Fragmentierungen des Wissens haben zu einer Zunahme an Informationen geführt, die mit einem nur sehr bescheidenen Zuwachs unseres Weltverständnisses einhergeht. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle fünf Jahre, aber im Verhältnis zu diesem verfügbaren Wissen nimmt unsere Weisheit immer mehr ab. Aber dieses Wissen lässt sich nicht einfach parzellieren, sondern erfordert zugleich immer komplexere Ganzheitsvorstellungen, da es sich in seinen Vernetzungen als immer unzugänglicher erweist. Softwareentwickler haben dafür das Wort »overlinking«, das einen Exzess an Querverweisen in den Elementen des Wissens bezeichnet. Man weiß zwar, dass alles mit allem verbunden ist, gerade deshalb aber weiß man nichts mehr. Diese theoretische Verlegenheit hat ihre praktische Entsprechung im Überfluss an Meinungen, der Entscheidungen erschwert und sie zuweilen sogar blockieren kann. Kurz, die massiven Informationen und Kommunikationen informieren ohne zu orientieren, sie generieren das Paradox von Mangelerscheinungen inmitten des Überflusses. Wir leben inmitten dieses In-
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formationsüberflusses, aber unsere subjektive Verarbeitungskapazität ist derart begrenzt, dass sich diese Verunsicherung mit einer Formulierung Arnold Gehlens beschreiben lässt, der zufolge wir in einer fremden Welt leben, über die wir im Überfluss informiert sind (1978, 310). In einer Wissensgesellschaft ist der Feind der Überfluss. Dem nordamerikanischen Dichter Donald Hall ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »Information is the enemy of intelligence.« Die schlecht gehandhabte Komplexität ist die neue Form der Ignoranz, oder besser gesagt: »Das Problem ist nicht die Ignoranz, sondern die Konfusion« (Weick 1995). Es gibt eine Form des Anstauens von Problemen, die ihren Ursprung in der bloßen Anhäufung von Informationen hat, denn diese unterscheiden nicht zwischen Sinnvollem und Sinnlosem. Was können wir tun, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen? Wir akkumulieren Daten, begründen zu viel, übernehmen mehr Kompetenzen, breiten uns in der Zeit aus … Die Anhäufung von Informationen ist eine Form, sich von der unbequemen Aufgabe des Denkens zu dispensieren, denn die Augenblicklichkeit der Information verbietet geradezu die Reflexion. So leben wir in einer informationsgesättigten Umgebung, die mit Datenmengen angefüllt ist, die keine Orientierung bieten. Sie enthalten eine Überfülle von Reizen, die den Anschein der Information haben, denen gegenüber wir aber selbst entscheiden müssen, ob wir sie als Information betrachten oder nicht. Es gibt keine Information ohne Interpretation. Informiert ist nicht, wer sich richtungslos im Netz der Medien herumtreibt und alles, was er hört oder liest als Information betrachtet, sondern wer gelernt hat, aus diesem Datenmeer die Botschaften auszufiltern, die seine eigene persönliche Situation betreffen.
c) Der unter worfene Nutzer Alle Paradoxien der Wissensgesellschaft lassen sich in dem Befund zusammenfassen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die intelligenter ist als jeder Einzelne von uns. Überall breitet sich Wissen aus und es gibt mehr davon, als wir wissen können. Wir sind von Experten umgeben, denen wir vertrauen müssen, von intelligenten Maschinen, deren Funktionieren wir nicht nachvollziehen können, von Nachrichten, die wir nicht mehr persönlich überprüfen können … In einer Welt voller Vermittlungen präsentiert sich uns das Wissen unter der Form indirekter Erfahrungen; und der allgemeine Status des vermittelten Wissens ist das Gerücht
1. Die gut informier te Ignoranz
(Marquard 1989, 94). Der Cyberspace ist insofern eine gigantische Gerüchteküche, in der wir mit dem Wissen anderer umgehen. Die Handhabung von Gerüchten und die Verfügbarkeit fremden Wissens sind die übliche Form unserer Erfahrung von Realität. In dieser Hinsicht hat Kant in abstrakter Form eine durchaus konkrete und alltägliche Erfahrung formuliert: Das Ich muss alle meine Vorstellungen begleiten (1927, B 132-135), aber die empirische Realität muss ihnen keineswegs immer entsprechen. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, Autos zu steuern und an Computern zu arbeiten, ohne jemals einen einzigen Blick in ihr Inneres getan zu haben. Allein schon z.B. der Akt, bei einer Panne die Kühlerhaube unseres Autos zu öffnen, ist ein reiner Akt der Souveränität vor der endgültigen Resignation, der nicht mehr ausdrückt, als ein atavistisches Widerstreben zuzugeben, was wir von Anfang an schon wussten: dass wir sobald wie möglich einen Experten rufen sollten. Unsere Automobilität ist im Grunde Heteromobilität. Im Zeitalter der Mikroelektronik sehen wir uns umgeben von obskuren Apparaten, zu denen es keinen intuitiven Zugang gibt. Jeder hat schon die alltägliche Verzweiflung erfahren, die die unverständliche Sprache der Gebrauchsanweisungen unserer elektrischen Haushaltsgeräte auslösen kann. Schon seit langem haben wir uns von einem Weltverhältnis verabschiedet, das Heidegger mit dem Ausdruck »Zuhandenheit« definierte: ein unproblematischer, alltäglicher Bereich der Realität, der uns ohne weiteres zugänglich ist (1986, SZ 55). Zuhanden war, was sich in seinem Gebrauch erschöpfte und nicht eigens als Objekt betrachtet wurde. Das vergleiche man mit einem beliebigen Haushaltsgerät. Die gadgets der multimedialen Gesellschaft sind, mit einem präzisen Ausdruck Hermann Sturms, die »Prothese dessen, was man nicht mehr versteht«, Kapitulationserklärungen der persönlichen Erfahrung. In dieser Welt ist der Gebrauch nicht mehr souverän und einleuchtend, sondern wir leben in der freiwilligen Sklaverei von Nutzern, die sich dem unterwerfen, was sie nicht verstehen, um es zu gebrauchen. Wie in der ökonomischen und politischen Welt so ist auch in der der technischen Gegenstände das Verständnis durch die Akzeptanz abgelöst worden. Zum Glück verbirgt uns die Oberfläche des Gebrauchs die logischen und mechanischen Tiefen der Apparaturen. Die Logik des Gebrauchs und das Verständnis der Instrumente sind zwei verschiedene Dinge. Etwas benutzen zu können entspricht noch keineswegs einem Verständnis; eines ist das »know-how«, etwas anderes die Einsicht. In der heutigen Welt nimmt ein Wissen zu, das man gebraucht,
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ohne es zu verstehen. Der für die Industriegesellschaft noch charakteristischen Arbeitsteilung ist in der Wissensgesellschaft eine Teilung der Kenntnisse widerfahren und ihr Nutzer ist ein Kunde der Vereinfachung. Wir wollen von der Tiefenlogik der Prozessoren und Programme gar nichts wissen, sondern ziehen es vor, auf der gefälligen Oberfläche der Funktionalität zu bleiben. Das hat jedoch weitreichende Konsequenzen für unseren Lebensstil, in dem wir uns daran gewöhnt haben, die Dinge in ihrem »interface value« (Norbert Bolz) zu nehmen, d.h. auf ihre Oberfläche zu vertrauen, ohne ihr Wesentliches in einer verborgenen Tiefe aufzuspüren und sich damit zu begnügen, sie als Mittel zu benutzen. Wir akzeptieren unser Nichtwissen um das Innenleben der Dinge und der benutzten Artefakte, seien es Automobile oder Computer. Helmut Schelsky hat das als »Vertrautheitsselbsttäuschung« bezeichnet, was wir heute einen »Glauben des Kunden« an etwas nennen könnten, das uns bei jedem Schritt in Erinnerung gerufen wird (»Darf nur vom Fachmann geöffnet werden«, »Fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker«), damit wir uns nicht betrogen fühlen und unsere Situation als bloßer Nutzer nicht vergessen. Paradoxerweise bedeutet diese Unterwerfung zugleich ein enormes Anwachsen unserer Freiheiten. Denn wenn wir mehr nutzen können, als wir begreifen, so heißt das nichts anderes, als dass wir dank der Technik davon befreit sind, nachzudenken und jeden Schritt selbst zu entscheiden. Letztlich besteht die Wirksamkeit der Technik darin, einen Automatismus einzuführen, der durch »keine Entscheidung unterbrochen wird« (Luhmann 200, 370). Ein Produkt ist genau dann intelligent, wenn es fähig ist, seinen Abgrund des Nichtwissbaren zu verbergen, so dass der Benutzer ihn nicht sieht und sich von der Einfachheit seines Gebrauches verführen lässt. Darin besteht die Intention jeder Werbung, welche die einfache Handhabbarkeit und die taktile und visuelle Vertrautheit des Produkts herausstellt. Das verständliche Instrument ist das, welches seine Technik verbirgt. Der Erfolg vieler Instrumente verdankt sich genau diesem Umstand, der uns vorspiegelt, es handle sich um leicht handhabbare und erklärbare Techniken. Deshalb ihre Nähe zum Spiel, die es gerade Kindern leicht macht, sich im Universum der neuen Medien zurechtzufinden, in dem sie ihren Eltern sofort an Kompetenz voraus sind. Denn Kompetenz erwirbt man sich hier nicht durch die Lektüre der Gebrauchsanweisungen, sondern durch das Vergnügen am Gebrauch. Nur ein Nostalgiker könnte diese Form der informierten Ignoranz als etwas grundsätzlich Negatives abtun. Denn schließlich verdanken wir den
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Dingen, die für uns denken auch Errungenschaften, die wir nicht mehr missen möchten. Um es auf eine vielleicht etwas provokative Weise auszudrücken: Unsere Zivilisation könnte, wenn es nötig wäre, durchaus auf intelligente Personen verzichten, aber keineswegs mehr auf die intelligenten Dinge. Der zivilisatorische Fortschritt wurde nicht deshalb in Gang gesetzt, damit die Menschen denken, sondern um dessen willen, was ihnen das Denken erspart. Der nordamerikanische Philosoph Whitehead hat dies folgendermaßen ausgedrückt: »Die Zivilisation schreitet proportional zur Anzahl der Operationen voran, welche die Menschen ausführen können, ohne an sie zu denken« (1948, 41-42). Sie entwickelt sich mithin in dem Maße, in dem sie Apparate und Verfahrensweisen anhäuft, die uns erlauben zu handeln, ohne darüber nachzudenken. Genau darin besteht das Vertrauen der Nutzer. Die Grundlage unserer Zivilisation ist daher nichts anderes als die Unterwerfung unter das Unverstandene. Auf diese Weise ermöglicht uns die Technik eine Ignoranz, die nicht nur inoffensiv ist, sondern die wir sogar als wohltätig bezeichnen können.
W ISSENSMANAGEMENT Um zu begreifen, wie man dieses Wissen regiert, dessen Paradoxien wir eben betrachtet haben, müssen wir unterscheiden zwischen Daten, Informationen und Wissen. Nur dann wird verständlich, dass der Gebrauch des Wissens etwas anspruchsvoller ist als die bloße Erhebung von Daten und der Austausch von Informationen. Er besteht in einer konstruktiven Darstellung des Wissens.
a) Das Universum der Daten Eine Organisation muss über Instrumentarien der Beobachtung verfügen, die es ihr ermöglichen, Daten zu generieren, welche die Organisation und ihre Umwelt betreffen. Diesem Erfordernis dient die gesamte Arbeitsleistung, die nötig ist, um etwa Satellitenbilder zu erhalten, ökonomische Indikatoren zu erstellen, Daten aus Meinungsumfragen zu erheben oder Börsenkurse zu notieren. Auch wenn der Datenüberfluss der Normalzustand ist, so kann es auch vorkommen, dass den Organisationen die nötigen Daten oder Beobachtungsinstrumente fehlen. Seit einigen Jahren wird deshalb auch
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verstärkt die praktische Relevanz von Daten hervorgehoben, welche die künftigen Möglichkeiten einer Organisation betreffen. Gewöhnlich verfügt man jedoch nicht über solche Daten, da hierfür keine handhabbaren Beobachtungsinstrumente zur Verfügung stehen. Von hier aus gesehen ist die Entwicklung neuer Instrumentarien durchaus vielversprechend. Auf dieser Linie liegen z.B. das »Balanced Scorecard«, das nicht nur harte quantitative Daten widerspiegelt, sondern auch die Kundenzufriedenheit und die Qualität von Prozessen, das EFQM-Führungsmodell, das eine jährliche Prüfung seiner Mitglieder verlangt, oder das Rating-Modell, das neben der finanziellen Solidität auch die künftige Zahlungsfähigkeit und künftige Schwachstellen aufzeigt. Der Umgang mit dem Wissen befähigt nur dann zu kreativen Veränderungen, wenn man über die adäquaten Instrumentarien zur Qualitätsmessung von Organisationen verfügt. Die doppelte Buchführung hatte geradezu revolutionäre ökonomische Auswirkungen, da sie die Messkriterien für den Wert eines Unternehmens verändert hat. In einer Zeit unablässiger Veränderungen kommt gerade solchen Kriterien für die Messung von Qualitäten eine besondere Bedeutung zu, weil sich nur das verändern lässt, was auch messbar ist und weil sich Veränderungen nur bewerkstelligen lassen, wenn man über Indikatoren dafür verfügt, was für die Organisation und ihre Mitglieder jeweils relevant ist. Wenn sich beispielsweise der Erfolg eines Unternehmens am Börsenwert seiner Aktionen bemisst, so verweist das auf eine relevante Grundlage dieses Wertes, so dass man Veränderungen daran orientieren wird, diesen Börsenwert zu steigern. Wenn sich der Erfolg einer bestimmten Instanz der öffentlichen Verwaltung an der Anzahl erledigter Akten ablesen lässt, dann wird die Organisation versuchen, diese Anzahl zu erhöhen und anderen möglichen Indikatoren weniger Aufmerksamkeit widmen. Und wenn sich schließlich eine Universität für erfolgreich hält, weil sie die Ordnung ihres Betriebs ohne Zwischenfälle aufrechterhalten kann, dann wird sich ihre Organisation künftig an diesen Relevanzkriterien orientieren. Demnach hängen Daten davon ab, was wir aufgrund der Instrumente und Verfahrensweisen der Beobachtung jeweils zu »sehen« vermögen. Zugespitzt formuliert gibt es gar keine Daten an sich, sondern nur beobachtungsabhängige, d.h. durch Beobachtungen generierte oder konstruierte Daten. Im Allgemeinen ist deshalb nicht ein Mangel an Daten das Problem, sondern die Überfülle irrelevanter und sinnloser Daten oder die Verwen-
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dung allzu einfacher Indikatoren. Der größte Teil der von einer Organisation generierten Daten (Berichte, Bilanzen, Jahrbücher) sind nichts weiter als eine Anhäufung »törichter« Daten. Kurz, Daten haben Sinn oder dienen nur dann zu etwas, wenn sie in Informationen transformiert werden.
b) Die Erzeugung der Information Der Umgang mit Daten erfordert zunächst einmal Mechanismen und Routinen zur Reduktion ihrer Quantität und Komplexität. Um von einer Anhäufung von Datenmengen zu Informationen zu gelangen, muss man sie erst einmal in einen Bedeutungskontext einführen. Daten müssen in irgendeiner Weise kodifiziert werden, um überhaupt zu existieren. Da auch Bedeutungen nicht an sich existieren, sondern stets Funktionen eines Systems sind, muss jede Information wiederum auf ein System bezogen werden. Solche Systeme (übergeordnete Einheiten, Personen, Abteilungen, Organisationen) können aus denselben Daten ganz unterschiedliche Informationen extrahieren. Informationen gibt es nur dann, wenn ein Beobachtungssystem über Relevanzkriterien verfügt und in der Lage ist, Daten eine konkrete Relevanz zuzuschreiben. Eine Organisation benötigt Verfahrensweisen der Beobachtung und Relevanzkriterien zur Konstruktion von Informationen; nur so kann sie aus einem Meer von Daten nützliche Informationen für die Strategie und die Ziele der Organisation in den jeweils relevanten Kontexten gewinnen. Das ist vielen Organisationen durchaus nicht immer bewusst. Sie gehen dann davon aus, es mit einem Informationsaustausch zu tun zu haben, beziehen sich aber in Wahrheit auf einen bloßen Datentransport. Der viel beredete »Austausch von Informationen« reduziert sich sehr häufig auf einen Austausch von Daten, den die jeweiligen Akteure in ganz unterschiedliche Informationen übersetzen. Ein wirklicher Informationsaustausch ist nur dann möglich, wenn die Akteure und Systeme, die ihn in Gang setzen, sich zuvor die Mühe gemacht haben, ihre Relevanzkriterien miteinander zu koppeln und dieselbe Sprache sprechen. Aber auch für Informationen gilt in wachsendem Maße, was ich oben bereits über die Daten gesagt habe: Wir sind durchaus auch einem Überfluss an relevanten Informationen ausgesetzt, so dass es immer schwerer wird, einen Überblick zu gewinnen, einzelne Informationen zu verstehen und alle Informationen zu verarbeiten. Damit wächst das Risiko, irrelevante oder unwichtige Informationen auszuwählen und das wirklich
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Wichtige zu übersehen. Deshalb ist es auch hier notwendig, die Suche nach und die Auswahl von Informationen im Einklang mit bestimmten Kriterien und Prämissen zu gestalten. Hier entscheidet sich, ob eine Organisation auf der Stufe einer bloßen Akkumulation von Informationen verbleibt oder in der Lage ist, den Umgang mit ihnen in einen Umgang mit Erkenntnissen zu transformieren. Datenbanken sind deshalb keine Lösung des Informationsproblems, sondern in ihnen besteht im Grunde das Problem. Seit langem schon können wir über alle nötigen Informationen verfügen, die wir gewöhnlich brauchen, aber der Zugang zu diesem angehäuften Wissen ist ein schwieriger Auswahlprozess. Deshalb ergeben sich die Probleme einer Wissensgesellschaft im Allgemeinen nicht aus Informationsmängeln, sondern eher aus fehlenden Kriterien für die Suche nach geeigneten Informationen. Zwar ermöglicht Google jederzeit den Zugriff auf relevante oder unnötige Informationen, aber wer eine konkrete Entscheidung zu treffen hat, wird von dieser Informationsmenge häufig eher entmutigt. Denn über je mehr Informationen wir verfügen, desto schwerer fällt die Entscheidung. Ein anderes, diese Schwierigkeit veranschaulichendes Beispiel ergibt sich aus den Politiken der Transparenz. Man beruft sich häufig auf die Transparenz von Dokumenten und des freien Zugangs zu ihnen, aber wenn jemand Aufschluss über bestimmte Vorgänge sucht, ist durchaus nicht klar, welche Dokumente er dazu anfordern oder einsehen müsste. D.h. Transparenz ist nur dann wirklich gewährleistet, wenn die Regierenden nicht nur Daten, sondern eben auch Informationen zur Verfügung stellen.
c) Der Wert des Wissens Der Druck von Informations- und Kommunikationstechnologien legt es zunächst nahe, alle Probleme als Probleme mangelnder Informationen zu interpretieren. Aber Informationen geben keine Antwort auf Sinnfragen. Insofern ist die Übermittlung von Informationen nur einer von vielen Aspekten der menschlichen Kommunikation. Information und Wissen ist durchaus nicht dasselbe, ja Informationen können wirkliches Wissen geradezu blockieren. Dies zunächst schon deshalb, weil neue Informationen keineswegs notwendig auch schon neues Wissen generieren. Eine Information transformiert sich nur dann in Wissen, wenn man sie angemessen gebraucht, um etwa Vergleiche an-
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zustellen, Konsequenzen zu ziehen oder Verbindungen zu erzeugen. Ein solches Wissen lässt sich als Information verstehen, die von Erfahrungen, Urteilen, Intuitionen und Werten umgeben ist. Eine bloße Akkumulation von Informationen ohne kohärente Ordnung und praktische Relevanz wird niemals ein dauerhaftes und begründetes Wissen hervorbringen. »Wissen ist eine Struktur, die den Umgang mit Informationen ermöglicht und erleichtert« (Luhmann 1997, 124), d.h. ihre Aufnahme, die sie als neu oder auch als irrelevant erkennt. Informationen unterscheiden nicht zwischen Sinnvollem und Sinnlosem. Eine Enzyklopädie enthält mehr Informationen, als die intelligentesten Menschen jemals verarbeiten könnten, sie enthält aber noch kein Wissen. Wissen ist eine Verbindung bedeutsamer Informationen, die einen hohen Grad an Reflexivität voraussetzt. »Wissen hat man nicht. Wissen ist eine Aktivität. Wissen verlangt Aneignung und nicht nur Verbrauch. Informationen hat man und der Zugang zu ihnen verlangt nur geringe kognitive Anstrengung« (Stehr 2003, 47). Informationen »reisen« und übertragen sich ohne große Hemmungen; da sie weniger empfänglich für Kontexte sind und ihren Wert in sich selbst haben, sind sie mobiler als das Wissen. »Information wird berichtet; Wissen wird erzeugt« (Krohn 2003, 99). Aus diesem Grund darf die Informationsübertragung nicht mit der Übermittlung von Wissen verwechselt werden, da sich dieses eigentlich gar nicht übertragen lässt, sondern aktiv hervorgebracht wird. Die uns zur Verfügung stehende Informationsmenge muss bearbeitet werden. Man muss Daten, Ereignisse, Meinungen zum beglaubigten Wissen in Beziehung setzen und ein kohärentes Weltbild generieren. Dabei handelt es sich um ein Vermögen, das man erwerben kann, so dass es durchaus nicht unvermeidlich ist zuzusehen, wie die Welt im Informationsmüll untergeht. Angesichts dieser Entwicklung geht es vielmehr darum, Informationen in Wissen zu transformieren und sie mit Hilfe von Bedeutungskriterien zu bewerten. Gelingt das, dann sind der unbeschränkte Zugang zu Informationen, ihre grenzenlose Kombinationsfähigkeit und ihre universale Verfügbarkeit nicht nur bedrohlich, sondern bergen durchaus auch Chancen. In einer Gesellschaft, die sich nicht mehr auf fraglose Traditionen berufen kann, müssen sich Individuen und Organisationen daran gewöhnen, alle für sie lebenswichtigen Informationen auszufiltern und ihre Routinen auf der Grundlage dieser Prozesse ihrer persönlichen Aneignung ständig zu reformulieren. Genau darin gründet die Notwendigkeit von Innovation.
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Die grundsätzliche Schwierigkeit, der die Organisationen in einer Wissensgesellschaft zu begegnen haben, besteht paradoxerweise nicht so sehr darin, Wissen zu erlangen, sondern eher, sich von ihm zu befreien und den Überfluss an Informationen zu bekämpfen. Ihre wichtigste Aufgabe besteht in der Konstitution von Systemen, die Wissen artikulieren und sich nicht darauf beschränken, lediglich Daten anzuhäufen.
d) Der informative Entwurf Was ist in diesem unüberschaubaren Zusammenhang von Vermittlungen, Überangeboten und Nutzern die wichtigste Kompetenz? Wenn die unmittelbare Erfahrung sehr begrenzt ist und die Anhäufung von Daten ein Ausmaß erreicht, das die Kenntnis des Funktionierens der Artefakte und die Möglichkeiten ihres Gebrauchs überfordert, dann sind Wissenskonstrukteure (-entwickler) vonnöten, welche die Informationen gleichsam zum Sprechen bringen und sie in Wissen transformieren. Die in dieser Hinsicht kreativste Aufgabe besteht in der Bearbeitung und Aufbereitung von Informationen. Der künftige Arbeiter in einer Wissensgesellschaft wird ein Informationsdesigner sein, der Wege im Labyrinth der Informationen bahnt. Dieser Organisator von Wissen erschließt neue begehbare Wege durch die Unmenge gespeicherter und miteinander vernetzter Daten. Seine wichtigste Leistung besteht im »infomapping«, d.h. darin zu wissen, wo das Wissen aufzufinden ist. Denn ab einem bestimmten Moment ihrer Anhäufung nützen Informationen nichts mehr, wenn sie nicht gefiltert, konfiguriert und strukturiert werden. Unablässig versenden, empfangen, speichern und manipulieren wir Informationen. Dabei sind wir einem Datenstrom ausgesetzt, der uns nötigt, Wichtiges von Überflüssigem zu unterscheiden. Da uns die Netze der Datenbeschaffung dabei keine Hilfestellung geben, benötigen wir Techniken der kognitiven Auswahl und Unterscheidung, um nicht im Informationsmeer zu ertrinken. Diesem Zweck dienen »kognitive Karten« (Axelrod 1976), und man wird davon ausgehen können, dass der Bedarf an solchen Karten durch die Landschaften des Wissens in der Zukunft zunehmen wird. Die wichtigste Fähigkeit des Menschen wird dann seine Selektionsfähigkeit sein. Diese Fähigkeit bezieht sich auf den wachsenden Bedarf an bedeutungskonstituierenden Komplexitätsreduktionen, von denen wir zugleich wissen, dass jeder Versuch der Vereinfachung irgendwann eine kritische Grenze erreicht, an der sich die notwendige
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Reduktion in eine unangemessene Simplizität verwandeln kann. Dennoch und gerade deshalb wird die Notwendigkeit intelligenter Vereinfachungen der Welt weiterhin unsere größte Herausforderung bleiben. Vor diesem Hintergrund können wir getrost auch davon ausgehen, dass das Buch, anders als das geläufige Voraussagen unterstellen, durchaus auch in Zukunft weiterbestehen und vonnöten sein wird. Denn das Buch hat in ausgezeichneter Weise eine Filterfunktion, die Informationen auswählt und zu einem intelligiblen Ganzen auf bereitet. In diesem Zusammenhang denken wir beispielsweise auch an den Gebrauch der (elektronischen) Medien. Die Kompetenz in diesem Gebrauch lässt sich keineswegs auf die Beherrschung von Apparaten und Techniken reduzieren, die für sich genommen völlig unzureichend ist, um die Welt zu verstehen und in ihr angemessen zu handeln. Zwar ist sie eine Bedingung für den Umgang mit Informationen, aber dieser Umgang hat eine sehr viel größere Reichweite, angesichts derer es vor allem darum geht, die Bedienung der Medien in den Dienst von Erkenntnisgewinnen und Ausdrucksfähigkeiten zu stellen. Dies verlangt ein reflexives Verhältnis zu den Medien, eine Fähigkeit auszuwählen, ein Verständnis der Symbole, eine Interpretation der Zeichen und eine Zeitökonomie. Im Licht solcher Anforderungen ist ein Wissensdesigner jemand, der nicht vorfabriziertes Wissen bearbeitet, sondern sich der Suche nach den angemessenen Fragen widmet. Denn interessanter als die Suche nach Antworten auf vorformulierte Fragen ist es, die Fragen zu formulieren, aus denen sich originelle Antworten gewinnen lassen. Wir müssen deshalb die Kunst des Fragens erlernen, welche die wichtigste Technik darstellt, um Komplexität zu reduzieren und das wirklich Bedeutsame auszuwählen.
K OMPLE XITÄTSREDUK TION UND DIE B E WÄLTIGUNG DES Ü BERFLUSSES Eine Wissensgesellschaft ist, wie sich gezeigt hat, eine Gesellschaft, die intelligenter ist als wir selbst. Das bedeutet, dass das Individuum gleichsam der »Flaschenhals« (Norbert Bolz) der Informations- und Wissensgesellschaft ist. Wir haben eine Vielzahl von Optionen zur Verfügung, die in keinem Verhältnis mehr zu unseren Zeitreserven steht. Unsere Möglichkeiten und unsere Fähigkeiten stehen völlig disproportional zu-
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einander. Unter diesen Bedingungen drängt sich uns eine Art gedankliches fast food auf und die menschlichen Maßstäbe seiner Bewältigung werden heutzutage in Begriffen von Filtern und Selektionen formuliert. Ein Filter reduziert die Komplexität in dem Maße, wie er eine bestimmte Informationsmenge als »Lärm« aussondert: Informationen, von denen man nichts wissen will. Das Hauptproblem besteht dabei darin, das als Lärm Auszusondernde genau zu treffen und keine relevanten Informationen zu übergehen. Die Komplexität einer unübersichtlichen Welt nötigt uns ständig zu kontingenten und riskanten Auswahlentscheidungen. Wenn es im aktuellen Datenmeer vor allem darum geht, Informationen angemessen zu reduzieren, welche Strategien sind dann am besten geeignet, um sich vor diesem bedrohlichen Überfluss zu schützen? Und worin bestehen dann die wichtigsten Bildungsziele in einer Wissens- und Informationsgesellschaft? Diese lassen sich in zwei grundlegende Fähigkeiten zusammenfassen: die Ausrichtung der Aufmerksamkeit und die Aussonderung von Informationen. Als menschliche Wesen müssen wir unsere Aufmerksamkeit gezielt ausrichten, insofern wir informationsverarbeitende Systeme sind, die ihren Stoff nicht parallel, sondern sukzessiv in zeitlicher Folge bearbeiten, denn normalerweise können wir nicht allzu viele Dinge zugleich tun. In einer komplexen gesellschaftlichen Situation werden sehr schnell die Grenzen der Interaktion gleichzeitiger Subsysteme sichtbar, d.h. man kann nicht zugleich telefonieren und einen Roman schreiben, und es ist unmöglich, alle Informationsquellen mit gleicher Intensität zu beachten. Wer nur ein wenig Organisationserfahrung hat, kennt eine ganze Anzahl von Operationen, die ihren Ursprung in der Begrenztheit unserer Aufmerksamkeit haben und uns zu einer manchmal schmerzlichen Auswahl nötigen. Die knappste Ressource ist die Aufmerksamkeit und deshalb hängt sehr viel davon ab, dass wir angemessen mit ihr umgehen. Ein einfacher Mechanismus besteht in der Unterscheidung zwischen dringenden und weniger dringlichen Aufgaben, ein anderer im Verzicht auf den Versuch, alles unter Kontrolle zu behalten. Zugleich weiß jeder, dass man im Ozean der Informationen sehr leicht Zeit verliert oder die Akkumulation von Daten ab einem gewissen Zeitpunkt nur dazu dient, Entscheidungen zu verzögern. Deshalb ist innerhalb von Organisationen der angemessene Umgang mit der Aufmerksamkeit besonders für diejenigen wichtig, die den Gesamtüberblick behalten müssen.
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Der Reichtum an Informationen und die Armut an Aufmerksamkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Je größer die verfügbare Informationsmenge, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe, unsere Aufmerksamkeit angemessen auszurichten und desto knapper ist die Zeit, die wir für die Suche nach einer nicht verfügbaren Information aufwenden können. Die Konstitution von Informationsnetzen innerhalb von Organisationen hat also von Anfang an mit dem Ausfiltern relevanter Informationen unter den Bedingungen von Zeitknappheit und Unsicherheit zu tun. Dabei geht es nicht darum, den Beteiligten noch mehr Informationen zur Verfügung zu stellen, sondern sie im Gegenteil vor einer Zerstreuung ihrer Aufmerksamkeit zu bewahren. Um diese für eine Wissensgesellschaft typische Eigenschaft der Zerstreutheit zu verstehen, ist zu berücksichtigen, dass Handlungen in einer Welt, in der es an Informationen mangelt, etwas ganz anderes sind als in einer Welt, in der im Gegenteil die Aufmerksamkeit knapp ist. Der Kampf gegen die Überkomplexität nimmt häufig die Form einer Elimination von Informationen an. Denn der Mensch ist nur in begrenztem Maße fähig, seine Erinnerung, sei es auf evolutionärem Weg oder vermittels spezifischer Techniken, zu erweitern. Je mehr deshalb das verfügbare Wissen anwächst, desto dringender wird der Wunsch, ja die Notwendigkeit, bestimmte Informationen zu vernachlässigen und Verfahrensweisen zu entwickeln, um zwischen dem Wissenswerten und Unwichtigem zu unterscheiden. Die Kunst des richtigen Vergessens und einer rational begründeten Abwehr von Informationen wird daher immer wichtiger. Die Tatsache, dass die Fähigkeit der Auswahl von Informationen begrenzt ist, bedeutet durchaus nicht, dass kein Unterschied besteht zwischen einer zufälligen Informations-»incompleteness«, die lediglich das Ergebnis schlechter Vorbereitungen ist und einer bewusst und von Anfang an beabsichtigten Informationsfreigabe (Lindblom 1965, 519). Selektivität in der Auswahl von Informationen ist unumgänglich, sie kann aber willkürlich ausgeübt oder sinnvoll strukturiert werden. Auf jeden Fall müssen wir von einem exzessiven, vom Ideal der Perfektion und Vollständigkeit geleiteten Umgang mit Wissen zu einem eher selektiven Umgang mit ihm übergehen. Wir werden dafür Techniken benötigen, die uns auch und gerade mit einem unvollständigen Wissen Fortschritte ermöglichen. Unsere heutigen Gesellschaften sind daher auf Kulturformen angewiesen, die in der Lage sind, die sich öffnenden Möglichkeiten auf das zu reduzieren, was auszuwählen ist (Luhmann 1997,
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405). Im Horizont dieser Problemstellung sind Begriffe entstanden wie »rational ignorance«, der auf Anthony Downs’ ökonomische Demokratietheorie zurückgeht, oder »simple-minded search« (Cyert/March 1963, 170), ein wachstumsorientierter Begriff, der eine erschöpfende Suche nach allen möglichen Alternativen für ein bestimmtes Problem zurückweist. Ignorieren ist dann rational, wenn die Kosten einer Beschäftigung mit zusätzlichen Informationen höher sind als ihr Nutzen. Solche Verfahrensweisen einer bedeutungsvollen Reduktion relevanter Informationen erleichtern die Konzentration auf das Grundsätzliche und die Aussonderung unnützer Details und Zusammenhänge. Bei diesem Licht besehen befreien uns Verfahren wie Kategorisierungen, Protokollierungen, die Ausbildung von Routinen und Typisierungen von der Anstrengung, jede Situation so anzugehen, als sei sie einzigartig. Ebenso wie Stereotype und Kategorien gestatten uns diese Verfahren, uns in der Welt zu bewegen, ohne ständig Entscheidungen treffen zu müssen (Perrow 1970, 58). Die Angemessenheit der Vorstellung, dass mehr Information nicht schade, ist keineswegs ausgemacht. Denn ein Überfluss an Informationen ist eher schädlich, da er vom Wichtigen ablenkt und Entscheidungen blockieren kann. Deshalb ist es zuweilen notwendig, Informationen zu vernichten, auch wenn dies für den modernen Willen zum Wissen als eine provokative Forderung erscheinen mag. Aber es entspricht durchaus auch der alltäglichen Erfahrung, dass wir unablässig Relevanz- und Selektionsfilter errichten. Von der Plakette »keine Werbung« auf Briefkästen, über die Auswahl des Tagesmenüs im Restaurant, bis zum Rückgriff auf die Kurzversionen der Gebrauchsanweisungen oder den Kanon unentbehrlicher Bücher ist unser Leben voller Verfahren, sich von bestimmten Informationen abzuwenden wie von einem Lärm, der uns vom Wesentlichen ablenkt. Jeder, der nur über ein wenig Arbeitserfahrung verfügt, hat gelernt, dass das wichtigste Element jeder Organisation im Grunde der Papierkorb ist: »Ohne Radiergummi kann man nicht leben« (Bateson). Eines der fundamentalsten Probleme, die sich uns heute stellen, ist das einer intelligenten Diskriminierung: Was können wir getrost übersehen oder ignorieren? Das wertvollste Wissen bezieht sich darauf, was man nicht wissen muss. Weil heutzutage der Mehrwert in weniger Informationen besteht, sind wir ständig auf der Suche nach Synthesen, allgemeinen Ideen, dem Kern eines Sachverhaltes.
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Da wir nicht alle Informationen verarbeiten können, die uns erreichen, können wir die Räume für die Aufmerksamkeit nur dann offenhalten, wenn wir Informationen vernichten. Dafür stehen uns insbesondere die Kräfte des Vergessens und eines organisierten Nichtwissens zur Verfügung, die als Relevanzfilter und Agenten jeder Selektion unentbehrlich sind. Wir müssen dabei freilich wissen, dass jede Vernichtung von Informationen auch ihre Risiken birgt, da wir die Entscheidung, ob ein bestimmtes Wissen sinnvoll ist oder vernachlässigt werden kann, immer ohne eine zureichende Kenntnis des Gesamtzusammenhangs treffen müssen. Jedenfalls bedeutet gut informiert zu sein in der heutigen Wissensgesellschaft, dass man auch spezielle Fähigkeiten zur Unterdrückung, Nichtbeachtung und zum Vergessen von Informationen ausgebildet hat, die Computer nicht besitzen. Denn Maschinen sind programmiert, um zu speichern und sie sperren sich gegen das Vergessen, wie sich schon daran zeigt, dass jeder Befehl zum Löschen sofort die Frage evoziert: »Sind Sie sicher, dass Sie dieses Dokument löschen wollen?«, oder dass es prinzipiell immer möglich ist, eine Information zu restituieren, die wir glaubten, endgültig gelöscht zu haben. Der Vorgang, der bloße Informationen in etwas Nützliches und Bedeutsames transformiert, ist also letztlich eine spezifisch menschliche Weise, mit ihnen umzugehen: das Vergessen.
L ITER ATUR Axelrod, Robert (1976) (Hg.), Structure of Decision. The Cognitive Maps of Political Elites, Princeton University Press. Cyert, Richard M./March, James G. (1963), A Behavioral Theory of the Firm, Cambridge MA: Blackwell. Downs Anthony (1957), An Economic Theory of Democracy, New York: Harper. Gehlen, Arnold (1978), Einblicke, Frankfurt: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1986), Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer. Innerarity, Daniel (2009), El futuro y sus enemigos. Una defensa de la esperanza política, Barcelona: Paidos. Franz. Übersetzung (2008): Le futur et sons enemies, Paris: Flammarion-Climats. Engl. Übersetzung (2012): The future and its enemies, Stanford: Stanford University Press.
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2. Ordnung und Unordnung Eine Poetik der Ausnahme
»Der Geist geht bei seiner Tätigkeit von seiner Unordnung zu seiner Ordnung über. Es ist dabei wichtig, daß er bis zum Schluss die Ressourcen der Unordnung bewahrt und daß ihn die Ordnung, die er sich zu geben begonnen hat, nicht derart festlegt oder ihn zu einem so starren Schulmeister macht, daß er sie nicht mehr verändern und seine anfängliche Freiheit gebrauchen kann.« Paul Valéry 1960, 714
Wir leben in einer Zeit, in der sich nichts, weder Wissen noch Sachverstand, mit absoluter Sicherheit erwerben lässt. Das unablässig Neue, die Vergänglichkeit und beschleunigte Abfolge von Informationen, Produkten und Verhaltensmodellen, die Zwänge häufiger Anpassungen, die Anforderungen der Flexibilität, all das vermittelt den Eindruck, dass wir ausschließlich in der Gegenwart leben und dies auf eine Weise tun müssen, die jede Stabilisierung verwehrt. Die Fähigkeit, etwas in eine Dauer einzuschreiben, scheint dabei weniger bedeutsam zu sein, als die Einschätzung des Augenblicks und des augenblicklichen Geschehens. Nun hat aber das Denken schon immer mit den Operationen des Ordnens und Klassifizierens und mit dem Anspruch zu tun gehabt, der ungeordneten Vielfalt der Erscheinungsweisen von Wirklichkeit einen stabilen Sinn zuzuschreiben. Doch diese Artikulation des Verstreuten muss sich, wenn sie denn überhaupt noch einen Sinn haben soll, den Paradoxien von Ordnung und Organisation stellen. Diese Paradoxien machen sich in unserer Zeit immer deutlicher bemerkbar: Von den Wissenschaften bis zu den
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Organisationstheorien, auf der Ebene der Begriffsbildungen und in den Handlungsmodellen intensiviert sich das Bewusstsein von Unordnung und Irregularitäten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten sind theoretischer und praktischer Natur, die uns nötigen, die Unordnung in allen ihren Erscheinungsweisen neu als Desorganisation, Turbulenz, Chaos, Komplexität oder Entropie zu denken. Die neuen Szenarien des Denkens werden entworfen, um sich nichtlinearer Dynamiken, dissipativer Strukturen, schwankender Ordnungsbildungen, gewohnter Ungleichgewichte, komplexer und offener Systeme, dem Einbruch des Neuen und relativer Stabilisierungen anzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist das Denken eine Aufgabe, die ein Bewusstsein davon verlangt, dass sich Ordnung in der Unordnung verbirgt, dass das Aleatorische unablässig wirksam und die Betrachtung der Bewegung und ihrer Schwankungen bedeutsamer ist als die von Strukturen und Beharrungszuständen. Anders als es maximalistische Ordnungskonzeptionen und definitive Taxonomien nahelegen, denen zufolge die Dinge eine stabile Beschaffenheit in einer harmonischen Totalität finden, ist es deshalb notwendig, so etwas wie eine poetische Epistemologie der Ausnahme zu erarbeiten: Eine Epistemologie, die von der Erfahrung der Unannehmlichkeiten der Ordnung für das Leben, der geistigen Potentiale der Unordnung und der Ausnahmen und Grenzen von jeder Klassifikation ausgeht.
D AS UNGEORDNE TE W ISSEN Die berühmteste Entdeckung der Unordnung des Wissens verdanken wir der Vorstellungskraft von Jorge Luis Borges. Sie findet ihren Ausdruck zunächst in jenem viel zitierten Text, in dem er sich auf die seltsame Klassifikation der Tiere in einer chinesischen Enzyklopädie bezieht, der auch den Ausgangspunkt für Foucaults Buch Die Ordnung der Dinge bildet (1993). In diesem Text werden die Tiere unterteilt in »a) dem Kaiser gehörige, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) schmutzige, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) freigelassene Hunde, h) dieser Klassifikation zugehörige, i) sich verrückt benehmende, j) unzählbare, k) mit einem sehr feinen Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) solche, die soeben eine Porzellanvase zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen« (Borges 2003a). Andere seiner Erzählungen kreisen um die Un-
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möglichkeit, dass Bibliotheken exakte Erinnerungen der Menschheit oder getreue Repräsentationen des kollektiven Wissens sein können. So berichtet etwa die Erzählung Der Kongress vom unnützen Unterfangen einiger Individuen in Lateinamerika, die beschließen, einen Weltkongress und eine ihm zugehörige Bibliothek ins Leben zu rufen, sich dann aber nicht einmal über ihre Einteilung einigen können. Enorme Buchpakte sammeln sich in einer Höhle an, ohne jemals katalogisiert zu werden, bis man sich schließlich dazu entschließt, sie anzuzünden und das Projekt aufzugeben, nachdem man sich dessen bewusst wurde, dass es im Grunde das gesamte Universum enthielt (Borges 2003b). Die Realität und ihre Darstellung sind durch einen Hiatus getrennt, der sich auf keine Weise überwinden lässt. Vielleicht steht diese Einsicht von Borges auch am Ursprung einer Reihe von Erzählungen, die ebenfalls aus der Klassifikation des Wissens eine paradoxe, absurde und unmögliche Aufgabe gemacht haben. Unter den phantastischen Ratschlägen für Bibliothekare in einer postmodernen Epoche ist auch derjenige von Paul Braffort in Les Bibliothèques invisibles hervorzuheben, der anregt, die Bücher nach ihren wörtlichen Titeln und nach Kriterien anzuordnen, wie ihrer Farbe (unter dem sich etwa Der gelbe Hund von Simenon oder Die blauen Blumen von Queneau einordnen ließen), ihrem Kalendarium (das auf Titel wie Dienstag von Melville, Heiliger Donnerstag von Bossuet, Der 18. Brumaire von Marx oder Der Herbst des Mittelalters von Huizinga anwendbar wäre) oder nach familiären Gesichtspunkten (unter denen man z.B. die Brüder Karamasow von Dostojewskij, Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe und Wittgensteins Neffe von Bernhard fände). Ein anderes, genaueres, aber nicht weniger unbrauchbares Kriterium für eine Klassifikation und Organisation des Wissens findet sich in Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung, wo der Bibliothekar eines Gefängnisses einen Katalog führt, der die Bücher nach ihrer Seitenzahl klassifiziert. Diese und andere ähnliche Erzählungen gründen in derselben kulturellen Erfahrung: Indem sie die Beliebigkeit jeder Ordnung im Hinblick darauf unterstreichen, was sie an Unnützem und Lächerlichem enthält, begreifen sie das Wissen als etwas, was sich nicht sinnvoll organisieren lässt und im Grunde geradezu monströs ist. In dieser Hinsicht registriert die Literatur hier ein Problem, das einige der Eigenschaften des Wissens in der heutigen Welt enthüllt; sie zeigt die Komik einer Situation, in der sich die Menschen in den sogenann-
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ten Wissensgesellschaften befinden. Diese Geschichten hätten nur wenig Sinn in einem begrenzteren Universum, ohne den Umfang an Wissen und die enormen, mit ihm verbundenen Schwierigkeiten, die wir zu bewältigen haben. Sie zeigen, dass Bibliotheken und Archive durchaus nicht nur Orte der Auf bewahrung von Büchern und Dokumenten sind, sondern vor allem Systeme der Klassifikation und ausgefeilter Ordnungen, die einer Logik entsprechen, welche sich mit der Zeit weiterentwickelt, aber immer beansprucht hat, das Wissen allgemein verfügbar zu machen. Ordnungssysteme konstituieren insofern ein System der Repräsentation des Wissens, wie es z.B. der Baum des Porphyrios darstellt, dessen Lebensspanne, in der er die Komplexität der Wissensformen und ihrer Gliederung reflektierte, von der Antike bis hin zu Diderot währte. Heute gibt es dafür andere Modelle wie etwa das Netz, die mind map oder das Rhizom, die ihren Vorfahren überlegen zu sein scheinen, welche offenbar an einem Übermaß von Hierarchisierungen und Vereinfachungen litten. Diese neuen Modelle versuchen dem Problem zu entsprechen, dass wir heute die Ordnung und Gliederung der Wissensformen auf wesentlich komplexeren Schauplätzen zu leisten haben, das sich nicht mehr mit dem traditionellen System einer Bibliothek bewältigen lässt. Im Internet benötigt keine Suchmaschine eine Hierarchisierung der Begriffe, und die Gliederung der Themen und Inhalte entzieht sich jeder logischen Metastruktur, ohne deshalb ins Chaos oder die totale Unzugänglichkeit abzustürzen. Das Wissen scheint hier frei und jenseits von Titeln und Rubriken zu flotieren und seine wachsende Zugänglichkeit dürfte mit dem Bedeutungsverlust möglicher Strukturierungen zusammenhängen. Solche und ähnliche Schwierigkeiten laden dazu ein, die Ordnung des Wissens neu zu denken, ohne uns jedoch der Paradoxien, vor die uns jede Klassifikation stellt, einfach zu entledigen. Dabei werden wir vermutlich mit der Forderung konfrontiert, uns von kulturellen, transzendentalen und fraglos gültigen Ordnungsmustern zu verabschieden, in denen jedes Ding seinen Ort hat. Wie soziale Ordnungen so ist auch das Wissen immer instabil, ungeschützt, störanfällig und alles andere als eine unerschütterliche, gegen Destabilisierungen immune Errungenschaft. Auch in der Ordnung des Wissens ist die Ruhe immer trügerisch und nichts mehr als ein Waffenstillstand mit einem bestimmten Ablaufdatum. Schon seit längerem ist es angebracht, der Stabilität Misstrauen und Argwohn entgegenzubringen, ja vielleicht sogar, uns mit ihrer Unmöglichkeit abzufinden. Andererseits scheint aber ein gewisses Maß an
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Ordnung unumgänglich zu sein, um sich in der Wirklichkeit einzurichten und wir könnten unmöglich handeln, ohne eine zumindest minimale Konstanz in der uns umgebenden Welt vorauszusetzen. Kann man unter diesen gegenläufigen Anforderungen und angesichts der Zunahme an Komplexität, mit der uns eine Wissensgesellschaft konfrontiert, überhaupt noch von Regelmäßigkeit, Ordnung und Klassifikation sprechen? Und unter welchen Bedingungen könnte dies geschehen?
D IE U NGENAUIGKEIT DER R EGELN Das Problem der Ordnung, ihrer Komplexität und ihrer Möglichkeit, verlangt zunächst einmal, dass wir die Bedeutung der Operation einer Regelbefolgung klären. Lange Diskussionen in der neueren Philosophie haben zur Frage des rule following eine Reihe von Begriffen hervorgebracht, die darauf abzielen, die allzu einfachen Unterscheidungen zwischen Ordnung und Unordnung, einer Regelbefolgung und ihrer Verletzung, dem Verbotenen und dem Gebotenen zu unterlaufen. So unterschiedliche Denker wie Luhmann (1964), Waldenfels (1987), Elster (1989) und Bourdieu (1987) kommen darin überein, im Blick auf die Begriffspaare Regel/ Ausnahme, Ordnung/Unordnung von einer Zone der Mehrdeutigkeit, einer Schwelle, einem Spiel- und gestaltbaren Raum zwischen ihnen oder einer Indifferenz auszugehen. Ihren Ursprung hat diese Problemstellung aber schon bei Kant, der vielleicht als erster die unvermeidliche Ungenauigkeit der Regeln erkannt hatte, welche die menschlichen Vermögen orientieren. Seine Formulierung bezieht sich auf das Problem der Übertragung der Theorie in den Bereich der Praxis, das offenbar einen Kernbereich darstellt, in dem sich die vielleicht weitreichendste Ungenauigkeit des menschlichen Lebens verdichtet. Kant hat gesehen, dass die Vorstellung, die Anwendung einer Regel in dieser Regel selbst vorschreiben zu können, in einen infiniten Regress führt. In seiner Schrift »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1908, VIII, 275), weist er die Ansicht zurück, dass der Schritt von der Theorie in die Praxis mit absoluter Präzision geregelt werden könnte. Es gibt keine Regel, die bestimmen könnte, ob etwas der Fall einer Regel ist. Regeln können unmöglich eindeutig festsetzen, wann und wie sie angewendet werden sollen, da es hierfür einer spezifischen Urteilskraft bedarf. Die Anwendung von
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Regeln verlangt immer Interpretation, Kreativität und Entscheidung, so dass sie stets eine gewisse Ungenauigkeit impliziert. Dieser Befund rückt sie in die Nähe der Einbildungskraft und des Scharfsinns der künstlerischen Intuition, von der Kant in seiner Anthropologie als einem Vermögen im Hinblick auf das Konkrete spricht (1908, VIII, § 44). Dieses Vermögen lässt sich in keiner Weise demonstrieren, da jede Demonstration immer schon Regeln voraussetzt. Ein anderer Meilenstein dieser Überlegungen ist Wittgensteins bekannte Analyse des Verhaltens der Regelbefolgung. Auch wenn es durchaus gelegentlich Regeln für die Anwendung von Regeln geben mag (1958, 90; Vicente 1988), d.h. auch wenn sich zuweilen die Anwendung von Regeln erster Ordnung durch eine Regelsetzung zweiter Ordnung anleiten lässt, so gelangt der Prozess der Rechtfertigung einer regelgeleiteten Aktion dieser Analyse zufolge stets an ein Ende. Immer gibt es in diesem Prozess einen Moment, in dem er sich auf keine höhere Regel mehr berufen kann, sondern auf eine Handlung verwiesen ist. Die Kette der Gründe, die wir anführen können, um geltend zu machen, dass wir mit unserem Tun einer Regel folgen, hat eine Grenze, denn am Ende dieser Kette, welche die Anwendung von Regeln regelt, steht immer die Spontaneität der Aktion. Keine Regel, so oft man sie auch in der Vergangenheit angewendet haben mag, kann eine gegenwärtige Handlungsweise eindeutig und restlos bestimmen. Diese Ungenauigkeit der Regeln hängt mit ihrer grundsätzlich beschränkten Fähigkeit zusammen, den Kontext einer Handlung zu bestimmen. Regeln können Kontexte zwar spezifizieren, aber diese Bestimmung bleibt grundsätzlich unvollständig, weil sich die unterschiedlichen Kontexte ihrer Anwendung einerseits überlagern und durchdringen und andererseits niemals vollständig eingrenzen lassen. Deshalb sind viele der von uns begangenen Irrtümer auf eine unzureichende Bestimmung des Kontextes zurückzuführen (Bateson 1983, 374). So würde sich z.B. ein Theaterbesucher über den Kontext täuschen, dem es bei Hamlets Erwähnung des Selbstmordes gegenüber Ophelia einfiele, die Polizei oder einen Arzt zu rufen. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Brauchbarkeit automatischer Übersetzungsmaschinen sehr begrenzt. Denn die Berücksichtigung der Kontexte ist die eigentümlichste Leistung der Intelligenz, die sich auf keine Weise durch einen Mechanismus oder eine exakte Regel ersetzen lässt.
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So sind auch die von uns geltend gemachten Wahrheiten, das Gute oder die Gerechtigkeit, nicht mit mathematischer Präzision gegeben, sondern immer in einen lebendigen Kontext eingeschrieben, ohne den sie unverständlich wären. Dieser Kontext verleiht den menschlichen Angelegenheiten eine reichere und komplexere Bedeutung, als es die Exaktheit von Automatismen jemals vermöchte. Es gibt Wahrheiten, die in bestimmten Kontexten jedoch fehl am Platze sind; andere waren einmal wahr, sind es aber nicht mehr. Außerdem gibt es neben dem Wahren auch noch Relevantes, Bedeutsames oder Interessantes … Diese Bestimmtheit und Unvermeidlichkeit der Kontexte ist auf die Einbindung der Dinge in Sinnzusammenhänge zurückzuführen, die keine exakte Regel zu erschöpfen vermag. Es ist die Ungenauigkeit des Lebens selbst, die uns unablässig zwingt, auszuwählen, zu interpretieren und Normen auf konkrete Situationen anzuwenden. Aber dieses Verhältnis zwischen der Regel und ihrer Anwendung ist Paradoxien unterworfen – die in der philosophischen Tradition von Kant bis Derrida immer wieder thematisiert worden sind –, aufgrund derer eine Anwendung Regeln nicht nur befolgt, sondern sie immer auch ergänzt, modifiziert und ihre unbedingte Geltung außer Kraft setzt. Es gibt so etwas wie eine Selbst-Dekonstruktion der Regeln, die dem entspricht, was Derrida différance genannt hat: eine unvermeidliche Verschiebung, einen Aufschub, der besagt, dass die Verletzung einer Regel gerade die Bedingung der Möglichkeit ihrer Anwendung ist. Und genau dieser Sachverhalt gibt uns die Freiheit, Neues zu erfinden. Einer Regel zu folgen beinhaltet immer eine Auswahl unter einer Vielheit von Regeln und insofern auch eine Entscheidung über ihre Relevanz, die durch diese Regeln keineswegs festgelegt ist, so dass die Erfüllung einer Regel häufig eine Verletzung anderer voraussetzt. Jede Regelanwendung hat immer auch etwas von einer Regelverletzung. Das bestätigt auch der altbekannte Spruch, dass die Ausnahmen die Regel bestätigen: eine aufgrund einer zwingenden Ursache gerechtfertigte Ausnahme; eine Pünktlichkeit, die unhöflich sein kann; die einvernehmliche Verspätung cum tempore; die epikeia in der Moraltheologie; die Diskretion, die man sich bei der Anwendung von Normen und Regeln gestattet … Warum bestätigen all diese Ausnahmen eine Regel, indem sie sie verletzen? Weil der Sinn der Regeln nicht darin besteht, eine ausnahmslose Geltung zu beanspruchen und weil die Ausnahme ihren Ort nicht außerhalb, sondern innerhalb einer Regel hat. Irgendwie muss jede
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Regel, um ihrer eigenen Elastizität und Festigkeit willen ihre Ausnahmen voraussehen können. Das für viele Institutionen kennzeichnende Problem eines unendlichen Regresses stellt sich in der Praxis immer dann, wenn ein System tätig werden muss, um Ausnahmen zu regeln. In diesem Fall wird eine Einübung in die Fähigkeit verlangt, mit dem Ungewöhnlichen umzugehen, d.h. den irregulären Fällen einen letzten Rest von Regelmäßigkeit zu entnehmen und eine gewisse Routine im Umgang mit dem Außergewöhnlichen auszubilden: angesichts einer drohenden Katastrophe handlungsfähig zu bleiben oder den Ausnahmezustand zu regeln. Aber ein geregeltes Handeln im Ausnahmezustand ist ein paradoxes Unterfangen, da es dazu tendiert, aus der Ausnahme einen Normalzustand zu machen und sie zu normalisieren, d.h. für alle Ausnahmen eine Regel zu finden, die für diese Regel keine Ausnahme darstellen. Nun generiert aber jede Regel eine Ausnahme, die sich nicht regeln lässt, weil das Außergewöhnliche unvorhersehbar ist und nicht antizipiert werden kann. Dennoch lassen sich in der Praxis durchaus bestimmte Regeln für Ausnahmesituationen aufstellen. Genau darin besteht die Absicht der »patterned evasions«, denen es um die Aufstellung von Normen geht, welche die Normenverletzung regeln. Ihre unvermeidliche Paradoxie wird z.B. im Fall eines falschen Alarms augenfällig. Denn wenn ein Alarm allzu häufig ausgelöst wird, wird er nicht mehr im Sinn der ihm zugrunde liegenden Regel wahrgenommen. Die hier einsetzende Routine erweist sich in solchen Fällen als fatal, in denen der Alarm einmal nicht mehr falsch ist. Einer der berühmtesten Fälle dieser routinemäßigen Sorglosigkeit trotz eines nachdrücklichen Alarms ist der Untergang der Titanic. Die Bestimmung, ob und wann es sich um einen »Ausnahmezustand« handelt, bleibt notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad unbestimmt und sie bedarf jener von Kant so genannten Urteilskraft oder, mit Gadamers Worten, des sensus comunis (1990, 36). Wenn die Regelanwendung immer derart ungenau ist, lässt sich Kreativität als eine Poetik der Ausnahme definieren. Denn die Anwendung von Regeln ist insofern immer auch kreatives Vorgehen, als keine Regel in sich selbst die Methode ihrer Anwendung einschließt. Wenn ein Gesetz die Methode seiner Anwendung enthielte, gäbe es keinerlei Freiraum zwischen ihm und der Aktion und das Verfahren der Normenbefolgung wäre ein rein mechanischer Automatismus, welcher der Freiheit keinen nennenswerten Spielraum mehr ließe. Von hier aus betrachtet, erscheint
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es durchaus natürlich und einleuchtend, dass es so etwas wie Regelverletzungen geben muss. Das leuchtet schon am Beispiel der Sprache unmittelbar ein, deren Potentiale sich nicht auf eine Gesamtheit von Regeln und Verfahrensweisen festlegen lassen, sondern sich im individuellen Gebrauch entfalten. Genau daran erinnert uns die Poesie oder das metaphorische Verfahren. Juristen sprechen in einem vergleichbaren Sinn von »konstruktiver Interpretation« und sie drücken damit die Tatsache aus, dass Interpretation immer kreativ ist. Das heuristische Moment der Vernunft besagt, dass in jede Anwendung eines Gesetzes, einer Regel oder einer Anordnung immer ein bestimmtes Wissen verwickelt und das Verfahren der Regelbefolgung durch die Interpretation der Normen vermittelt ist. Diese Anwendung setzt insofern eine besondere Fähigkeit voraus, die im Wissen um einen angemessenen Umgang mit der entsprechenden Regel gründet. Die Tatsache, dass keine Regel in sich selbst die Methode ihrer Anwendung enthält, bedeutet, dass im Vorgang einer Regelbefolgung stets ein bestimmtes Wissen und eine Erfindungskraft am Werk sind, die sich nach der Analogie der poetischen Einbildungskraft beschreiben lassen. Letztlich läuft dies darauf hinaus, dass ohne Einbildungskraft weder ein angemessenes Verhalten noch eine einsichtige Ordnung möglich ist und dass die Ideen des Guten und Wahren sehr viel mehr mit Ästhetik zu tun haben, als wir glauben.
D IE UNMÖGLICHE W IEDERHOLUNG Eine Regel ist ein allgemeines Verfahren, das gewisse Wiederholungen impliziert. Die Befolgung oder Anwendung von Regeln ist eine alltägliche Erfahrung, die jeder kennt, von der Praxis eines Bibliothekars bis zur Urteilsfindung eines Richters. Bei jeder Organisation der Wissensformen, der Ausbildung des Bewusstseins und in Lernprozessen, überall in gesellschaftlichen und Organisationsentwicklungen kommt der Wiederholung eine fundamentale Rolle zu. Schütz (1971, 153) hat in diesem Zusammenhang von der anthropologischen Nützlichkeit des »Undsoweiter« gesprochen, ohne welches wir gar nicht fähig wären, eine Bewegung wahrzunehmen. Da es für das Leben notwendig ist zu wissen, wonach es sich zu richten hat, sind Regeln und Normen unerlässlich für seine institutionelle Stabilisierung, und diese schließt wiederum die Erwartung von Wiederholungen ein. »Dasselbe unter denselben Umständen tun« heißt
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wiederholen. Institutionen und Organisationen schaffen Wiederholungen und ihre Regeln sind wiederholbare Verfahrensweisen. Dieses Prinzip der Wiederholung ist aber durchaus aporetisch. Einer Regel zu folgen heißt, unter denselben Umständen auf dieselbe Weise zu handeln: »Die Verwendung des Wortes ›Regel‹ ist mit der Verwendung des Wortes ›gleich‹ verwoben« (Wittgenstein 1984, § 225). Aber weder die Umstände noch die Handlungsweisen können jemals genau dieselben sein, so dass wir hinzufügen müssen: »gleich von einem relevanten Gesichtspunkt« oder »im Wesentlichen gleich«, ohne jedoch angeben zu können, was hier relevant oder wesentlich heißt. Daraus ergeben sich Unbestimmtheitszonen: Die Kriterien der Ähnlichkeit, des Verhältnisses, der Relevanz sind nur in praktischen Kontexten handhabbar und lassen sich in keiner Weise als ein Regelkomplex artikulieren. Die Praxis überschreitet, überfordert und dekonstruiert alle Vorschriften, wie Wittgenstein, Bourdieu oder Derrida am Begriff des Spiels gezeigt haben. Bei seinem Versuch, einige Aspekte der Philosophie Wittgensteins für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, hat Peter Winch (1990) behauptet, dass wir nur dann wissen können, ob zwei Dinge in derselben Weise zu behandeln sind, wenn wir auch den Kontext dieser Fragestellung kennen. Hieraus ergibt sich ein Paradox, das aus der Wiederholung etwas Unmögliches macht. Kierkegaard, Deleuze oder Derrida haben auf diese Tatsache aufmerksam gemacht und gezeigt, dass jede Wiederholung, jede Regeln unterworfene Handlung etwas verändert und verfälscht: Jede institutionelle Versicherung ist zerbrechlich, jede Regelanwendung oder Imitation setzt einen singulären Schöpfungsakt voraus, jede Gesetzgebung kommt zu spät. Kierkegaard hat das so formuliert: »Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem« (2000, 22). Freud hat dies auf seine Weise bekräftigt und erkannt, dass in der Wiederholung etwas fixiert wird, was sich gar nicht fixieren lässt (1982, 245). Das Vergnügen der Kinder daran, immer wieder dieselbe Geschichte zu hören oder dasselbe Spiel zu wiederholen, hängt damit zusammen, dass sie noch nicht die Erfahrung der Vergänglichkeit, des Unwiederbringlichen gemacht haben und für sie die Wiederholungen noch rein sind. Reife scheint daher in einer Art Bewusstsein des Unwiederholbaren zu bestehen oder, um es mit einem Ausdruck Lacans zu sagen, die Wiederholung ist ein misslun-
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genes Zusammentreffen und lässt sich einem verlorengegangenen Zitat vergleichen. Wenn jede Wiederholung – jede Regelmäßigkeit – unvermeidlich scheitert, so gering ihre Anomalie auch erscheinen mag, so bedeutet dies, dass man in jeder vermeintlichen Wiederholung etwas Einzigartiges entdecken kann. Die Kybernetik und die Systemtheorie haben für diesen Sachverhalt das Wort »Rekursivität« geprägt. Etwas wird gesetzt und dann angewendet, aber diese Anwendung wird wieder in den Prozess der Konstitutionsprozesse eingeführt. Dabei gibt es so etwas wie eine Insistenz des Einzelnen, des Einzelfalles, eine idiosynkratrische Resistenz, die aus jeder Wissenschaft und jeder Praxis eine Tätigkeit macht, die genötigt ist, zu interpretieren. In dieser Interpretation gibt es ein Moment, das die Subsumtion begrenzt, Verallgemeinerungen relativiert und sie rekontextualisiert. Im Blick auf den konkreten Rechtsfall spricht Derrida davon, dass jeder Fall anders ist und einer vollkommen anderen Interpretation bedarf, durch keine bestehende, geschriebene oder kodifizierte Regel ersetzt werden kann und darf (Derrida 1994). Andernfalls hätten wir es mit einer bloß mechanischen Operation zu tun. Seit Heraklit gibt es zumindest eine allgemeine Übereinstimmung in der Einsicht, dass eine Wiederholung im Grunde genommen eines nicht sein kann: identische Reproduktion. Eine Wiederholung ist niemals rein, sondern hat immer das Merkmal einer konstitutiven Differenz. Es muss an ihr eine Ergänzung, etwas Hinzukommendes, über sie Hinausgehendes geben, da keine Regelanwendung jemals eine Wiederholung im Sinne einer vollständigen Replik, niemals bloße Reproduktion sein kann.
M IT DER A USNAHME UMGEHEN Die Grunderfahrung, auf die die bisher angeschnittenen Themen verweisen, besteht im Bewusstsein der Endlichkeit jeder Ordnung und einer Radikalisierung des Begriffs der Kontingenz. Die radikalste Form der Kontingenz bezieht sich auf die Idee der Ordnung selbst: Kontingent ist nicht nur der Ort, den etwas innerhalb einer Ordnung einnimmt, sondern die Tatsache, dass diese Ordnung selbst auch ganz anders verfasst sein könnte. Da die großen Dispositive, die Ganzheiten, in denen die Dinge ihre Ordnung haben, in die Krise geraten sind, sind wir genötigt, den Zusammenhang von Ordnung und Unordnung neu zu denken. Die Ent-
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deckung der Komplexität konfrontiert uns mit der Tatsache, dass sich die Dinge nicht mehr erschöpfend beschreiben lassen und die Handlungen zunehmend ihrer Begrenztheit innewerden. Die Wissensformen bilden keine einheitlichen Interpretations- oder Handlungssysteme mehr aus, sondern fragmentieren sich und nehmen zugleich an Komplexität und Abstraktion zu. Mit dieser Entwicklung breitet sich das Bewusstsein der Labilität unserer Konstruktionen und Ordnungsleistungen aus, das seinen Ausdruck in den Erfahrungen von Fragilität, Sinnverlust, Ambiguität, Kontingenz, Unbestimmtheit, von Paradoxien und Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen Regel und Ausnahme, Regel und Regelverletzung oder zwischen Normalität und Chaos findet. Auch wenn wir über keine gemeinsamen Nenner, hierarchischen Grundsätze und stabile Fundamente mehr verfügen, die uns eine geordnete Einheit der Welt gewähren, so können wir doch immerhin darin sicher sein, dass die Zeit einfacher Ordnungen definitiv vergangen ist. Wer also die Ordnung der Dinge lediglich als Überwindung der Unordnung und die Unordnung als Fehler, Mangel oder etwas grundsätzlich Negatives begreift, beraubt sich damit selbst der Fähigkeit, mit der Komplexität angemessen umzugehen. Personen und Institutionen lassen sich aufteilen in diejenigen, welche die Ordnung und diejenigen, welche die Unordnung nicht ertragen können. Ein intelligentes Verhalten müsste sich jedoch zwischen diesen Extremen bewegen und über diese Alternative hinausgelangen können. Denn wir machen immer mehr Erfahrungen, die sich mittels dieser vereinfachenden Dichotomie nicht explizieren lassen. Statt die Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung entweder zu ignorieren oder sie zu hypostasieren, müssten wir deshalb lernen, sie wie einen Unterschied zu behandeln, den wir einüben und immer wieder neu orchestrieren müssen. Entscheidend ist dabei, über die einfache Alternative zwischen Ordnung und Unordnung hinaus zu denken, die uns zwingt, zwischen Strenge und Anarchie zu wählen, als ob es zwischen beiden Polen keinen Raum für eine geregelte Anarchie oder eine Artikulation selbständiger Elemente gäbe. Unordnung lässt sich als ein Raum begreifen, der die Möglichkeit eröffnet, sich in Situationen vermehrter Kontingenz und inmitten komplizierter und widersprüchlicher Konstellationen zurechtzufinden. In dynamischen Kontexten wird allzu viel Ordnung irgendwann hinderlich und schließlich mit Kreativitätsblockaden, Auflösung und Verwirrung belegt. Mit Willke lässt sich sagen, »dass sich jede Ordnung notwendig mit Kom-
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ponenten der Unordnung, mit Stärken der Anarchie, mit Ressourcen des Chaos anreichern muss, um als komplexe Ordnung bestehen zu können« (Willke 2003, 9). Komplex sind genau solche »Systeme, die die Fähigkeit erlangt haben, Ordnung und Chaos in eine Art spezifisches Gleichgewicht zu versetzen« (Waldrop 1994, 12). Inmitten der Komplexität bleibt gar nichts anderes übrig, als sich dem Risiko der Unordnung auszusetzen, um eine Architektonik der Ordnung innerhalb der komplexen Systeme zu etablieren. Denn im Grunde genommen ist eine Unordnung, auf die man sich einlassen kann, bereits eine Form der Ordnung. Und bestehende Unordnungen können sich konsolidieren und eine gewisse Orientierung ermöglichen. Auf den Spuren der Hegel’schen Formel, der zufolge Identität eine Verbindung von Identität und Nichtidentität ist (Hegel 1986, 96), hat Luhmann (2002, 109) vorgeschlagen, Ordnung als Einheit von Ordnung und Unordnung zu definieren; denn Systeme sind Routinen und Zufälle, in denen man aufs Geratewohl heterogene Kohärenzen zu etablieren sucht. Bei diesem Licht besehen impliziert Ordnung eine wie auch immer partielle Domestizierung der Unordnung, so dass eine gewisse Toleranz gegenüber der Ausnahme geboten ist. Mit dieser Einsicht hängt auch die Tatsache zusammen, dass heutzutage Handlungen zunehmend als »management by exception« verstanden werden und diese Kompetenz immer wichtiger wird. Es gibt stillschweigende Regelverletzungen, die für das Denken, Handeln und die soziale Organisation unerlässlich geworden sind. Nicht jede Regelübertretung ist deshalb ein Ausdruck des Egoismus oder der Willkür der Handelnden, ebenso wenig wie die strikte Befolgung einer Regel immer ihrem Sinn entsprechen muss (Beispiele dafür sind das Verhältnis des toten Buchstaben zum Geist eines Gesetzes, Streikformen, die in einer übertriebenen Erfüllung der Arbeitsanweisungen bestehen oder die Berufung auf den Befehlsgehorsam, um eigene Entscheidungen vom Gewicht der Verantwortung zu entlasten. Auch Regeln und korrekte Verfahrensweisen lassen sich durchaus für Entschuldigungen instrumentalisieren). Ebenso wie Regelabweichungen manchmal der Befolgung des Sinnes dieser Regel genau angemessen sind, kann zuweilen auch ihre wörtliche Befolgung eine Verfälschung dieses Sinnes darstellen. Regelverletzungen sind zuweilen ebenso ein Moment von Ordnung wie die Löcher in jenem Gewebe, das sich nach der Definition von Julian Barnes in Flauberts Papagei als ein Netzwerk aus miteinander verbundenen Löchern beschreiben lässt. Könnte es sein, dass Ordnung gar nichts
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anderes ist als der Umgang mit Unordnung und dass Regeln im Grunde eine Verbindung von Ausnahmen sind? Alles scheint darauf hinzudeuten, dass das Denken und Handeln wie auch Gesellschaften gar nicht umhin können, ein gewisses Maß an Regelübertretungen und Überschreitungen des Gewohnten zu tolerieren. Diese Paradoxie ließe sich etwas abschwächen, wenn wir sogleich hinzufügen, dass sich solche Übertretungen in gewissen Grenzen halten müssen, um die Flexibilität des Ganzen zu gewährleisten. So ließen sich Wege für Ausnahmen offenhalten, die ja bekanntlich die Regel bestätigen: ab und zu ein Karneval, der die Ordnung und ihre Hierarchien unterläuft, ein Einschluss des Chaos ins Herrschaftsgebiet der Ordnung, um auf diese Weise lokalisierte und inoffensive Abweichungen und Räume für Auflehnungen zu stabilisieren, die das Ganze nicht allzu sehr stören … Aber das Spezifische der Ausnahme besteht ja gerade in ihrer Resistenz gegenüber ihrer Funktionalisierung, so dass solche Strategien keine wirklichen Lösungen bieten. Denn sie binden die Ausnahme an Regeln, als wäre es möglich, damit der Drohung zu entkommen, dass diese Regeln ihrerseits übertreten werden könnten. Daher gehört eine marginale Existenz von Zonen für Abweichungen, Anomalität und Dissens gegenüber dem offiziell Geregelten zur Natur jeder kulturellen Ordnung, und diese Zonen müssen notwendigerweise unscharf sein. Angesichts dieser Unschärfen bietet auch eine Verabsolutierung der Ausnahme keine Lösung. Die Konsequenzen der Einsicht in die Unmöglichkeit der Wiederholung, führen zu einer Hypostasierung der Differenz, was uns wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückbringt. Wie Nietzsche gesehen hat, würde sich der Sinn der Ausnahme verflüchtigen, würde man sie in eine Regel transformieren (1980, 76). Dagegen hilft es auch nichts, sich mit Walter Benjamins Einsicht (1977, 697) zu trösten, dass die Ausnahme die eigentliche Regel sei, denn man hätte damit nur das Eine gegen das Andere ausgetauscht, ohne das Schema als solches zu verändern. Aus der Regel die Ausnahme zu machen stellt unser Problem lediglich auf Dauer und unterläuft unseren Anspruch, den Zusammenhang zwischen der Ordnung und dem Einzelfall nicht vermittels einer starren Unterscheidung zu fixieren. Wenn die Unordnung absolut und alles Ausnahme wäre, dann gäbe es im Grunde gar keine Ausnahmen, die ja Anomalien innerhalb etablierter Ordnungen sind. Wie das Beispiel des falschen Alarms zeigt, endet die in eine Norm verwandelte Ausnahme in der Annullierung ihres exzeptionellen Charakters.
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Die Besonderheiten der Ordnung werfen Licht auf den fundamental heuristischen Charakter der Erkenntnis. Wenn jeder besondere Fall einer Regel immer ein besonderer, d.h. »spezieller« Fall ist, aber in seiner Eigenschaft als bloßer Fall eines allgemeinen Gesetzes nicht aufgeht, dann ist jeder Fall einzigartig und enthält etwas Außerordentliches. Ebenso gibt es in jedem Wissen den Aspekt einer praktischen Umsetzung, die sich nicht in der Ausführung von Routinen und spezifischen Dispositionen erschöpft, sondern in der Urteilsbildung über das im Wissen Implizierte besteht. Damit ist letztlich nichts anderes gemeint als das, was man seit Aristoteles Klugheit genannt hat und heute als Umgang mit dem Unerwarteten als Fähigkeit der Organisation und Improvisation, der Artikulation des Allgemeinen und Besonderen oder als Kreativität bezeichnen könnte. In der Traditionslinie von Kant zu Gadamer wird diese Fähigkeit als Urteilskraft im Sinn einer konstruktiven, kreativen oder genialen Tätigkeit gedacht, der eine Dimension der Konkretisierung, Ergänzung und Zugabe eignet. »Immer handelt es sich um mehr, als um die rechte Anwendung allgemeiner Prinzipien« (Gadamer 1990, 44). Und immer wieder mündet die Frage der Ordnung in die individuelle Kreativität und den Erfindungsreichtum von Organisationen ein. Wie müsste man also mit dem Unerwarteten umgehen? Wie könnte man sich auf das Unvorhersehbare vorbereiten? Und wie ließe sich das Außerordentliche ordnen? Zunächst einmal natürlich nur in begrenzter Weise, denn das Leben und seine bewegliche Logik bringt es mit sich, dass der Gebrauch von Normen, Ordnungen und Regeln stets offen ist für die Neuheit und Besonderheit jeder Situation. Deshalb lässt sich die Integrationsleistung von Organisationen niemals vollständig durch Regeln, institutionelle Muster oder normative Intentionen absichern, denn ihre Einheit von Emergenz und Selbstorganisation, auf welche die modernen Komplexitätstheorien anspielen, hat immer weitreichende kontingente Auswirkungen. Komplexe, anpassungsfähige und dynamische Systeme verwirklichen ihre Ordnungen durch Fluktuation (Prigogine) und mit extrem instabilen Materialien (Luhmann). Aber diese Schwierigkeiten der Ordnung beinhalten zugleich auch die Möglichkeit, die Flüchtigkeit der Gegenwart besser zu begreifen und zu erkennen, wie Ordnung und Unordnung miteinander verwoben sind, so dass sie für neue und flexiblere Ordnungsformen offen sind. Ordnung in diesem Sinne ist kein Gebilde, das sich erhält, indem es sich gegen Bewegung abschottet. Und ihr Umgang mit Unordnung beschränkt sich nicht auf defensive und restaurative
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Operationen, sondern hat eher den Charakter einer Eroberung und einer unablässigen Kreation. Ordnung ist, so gesehen, nichts anderes als eine Fortsetzung des Chaos mit anderen Mitteln.
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Zweiter Teil: Die Organisation der Ungewissheit
3. Wissensgesellschaft und Nichtwissensgesellschaft
In dem Maße, wie sich das Wissen zum entscheidenden Problem in der Wissensgesellschaft ausweitet, wird es zu einer fundamentalen Angelegenheit der demokratischen Zivilgesellschaft. Um dieser Problemstellung zu entsprechen, ist es zunächst notwendig, die Natur der Wissensgesellschaft zu analysieren und konkreter danach zu fragen, in welcher Form das Wissen in ihr zu einer allgemeinen Angelegenheit geworden ist. Wie können wir erkennen, ob es sich bei einer gegebenen Gesellschaft wirklich oder nur scheinbar um eine Wissensgesellschaft handelt? Reicht das Vorhandensein von Wissenschaft und Mode, von Veränderungen und Neuheiten, Patenten und »Hedgefonds«, von Unternehmensgeist und Grenzüberschreitungen aus, um von einer Wissens- und Innovationsgesellschaft zu sprechen? Die erste Schwierigkeit, die sich auftut, wenn wir die Wissensgesellschaft als eine Neuigkeit anpreisen, besteht schon in der Einsicht, dass Wissen eher eine allgemeine menschliche Eigenschaft ist und daher kaum als spezifische Differenz einer bestimmten Epochenbezeichnung taugt. Wissen, verstanden als die Fähigkeit, die Umwelt durch die intentionale Akkumulation konkreter Erfahrungen zu begreifen, eignet dem homo sapiens als solchem und erklärt seinen Erfolg im Vergleich zu anderen Lebewesen. Inwiefern und wann hat es dann Sinn, von einer »Wissensgesellschaft« zu sprechen? Wie lässt sich die neue Rolle des Wissens in einer Gesellschaft begreifen, die sich gerade durch dieses Wissen von allen bisherigen Gesellschaften unterscheiden soll? Und was ist neu an dieser besonders engen Beziehung zwischen Ökonomie und Wissen, über die man heute immer wieder spricht, als würden wir mit ihr eine neue historische Konstellation zur Welt bringen?
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Genauso wichtig wie eine angemessene Antwort auf diese Fragen ist das Verständnis der Funktion des Nichtwissens in einer Wissensgesellschaft, dem beim Erwerb und der Reproduktion des Wissens für die Emergenz und den Wandel der Institutionen eine entscheidende Bedeutung zukommt. Dieses Nichtwissen erschöpft sich nicht einfach nur in Defiziten bei der Entscheidungsfindung, sondern bietet Gelegenheit für kreative Aktivitäten. Eine Wissensgesellschaft ist insofern von vornherein eine Gesellschaft, die Unwissenheit in dem Maße »hervorbringt«, in der sie traditionelle Orientierungen in Frage stellt und unterminiert. Die Rückseite dieser Innovation ist die Produktion von überwundenem Wissen und veralteten Praktiken. In diesen Kontexten sind Wissenschaft und Forschung nicht mehr autoritäre und endgültige Instanzen, sondern werden in dem Maße, wie sie neues Wissen artikulieren, zu Produzenten von Unsicherheit und Instabilität. Eine Wissensgesellschaft ist insofern auch eine Gesellschaft, deren kollektive Intelligenz in der Fähigkeit besteht, umsichtig und rational mit der Unwissenheit umzugehen, in deren Horizont wir handeln müssen, d.h. sie ist im Grunde genommen eine Nichtwissensgesellschaft. Weniger dramatisch formuliert geht es dabei um eine Gesellschaft, in der uns nichts anderes übrig bleibt, als zu lernen, mit einem unvollständigen Wissen umzugehen.
E INE AUS W ISSEN GEMACHTE W ELT Auch wenn es gute Gründe gibt, gegenüber den Verkündigungen von epochalen Umbrüchen skeptisch zu sein, so wird doch zumindest niemand in Frage stellen, dass wir graduelle Veränderungen in unseren Gesellschaften wahrnehmen können, die auf eine zentrale Funktion des Wissens zulaufen. Der Übergang von Organisationen und Gesellschaften zu Wissensformen in einem emphatischen Sinn findet seinen Ausdruck in der Tatsache, dass das Wissen neben den traditionellen Infrastrukturen der Macht und des Geldes mit zunehmendem Gewicht als Operationsform und Ressource des gouvernementalen Handelns auftritt. Die traditionellen Produktionsfaktoren (Boden, Arbeit, Kapital) verlieren gegenüber dem Expertenwissen an Bedeutung und der Umgang mit Wissen wird in den entwickelten Gesellschaften zur wichtigsten Arbeitsform, während die traditionelleren Arbeitsweisen von Maschinen durchgeführt oder in Länder mit niedrigerem Lohnniveau verlegt werden. So gesehen
3. Wissensgesellschaf t und Nichtwissensgesellschaf t
sprechen wir dann von einer Wissensgesellschaft, wenn neue Wissensformen und Symbolwelten alle wesentlichen Bereiche einer Gesellschaft durchdringen und wenn die Reproduktionsprozesse und -verhältnisse in einer Gesellschaft derart von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass diese Operationen, wie Informationsgewinnung, symbolische Analysen und Expertensysteme, wichtiger werden als andere Produktionsfaktoren. Aber die Reduktion des Wissens auf eine ökonomische Ressource wird seiner komplexer werdenden Bedeutung in der heutigen Gesellschaft noch nicht gerecht. Denn darüber hinaus haben wir es auch mit einer Bedeutungszunahme der kognitiven Komponenten des Handelns zu tun. Im Grunde leben wir in einer aus Wissen gemachten Welt: Denn der größte Teil dessen, was wir heute Wissen oder Lernen nennen, besteht nicht in einer direkten Verbindung zu den Dingen, sondern in unserem Verhältnis zum objektivierten, d.h. zu dem Wissen, das zwischen den Menschen und der Natur, innerhalb der Sprache, den Datenspeichern, Büchern, Artefakten … vermittelt. Die gesteigerte Intensität des Wissens macht sich in den unterschiedlichsten Bereichen der Arbeit und Organisation geltend. Vom gesellschaftlichen Gesichtspunkt erklärt sich die Emergenz einer Wissensgesellschaft durch die Präsenz unterschiedlicher Phänomene: das Auftauchen neuer Geschäftsbereiche im sogenannten tertiären, d.h. Dienstleistungssektor, von intensivem Wissen (Patente, Beratung, Bildung, neue Medien, Finanzdienstleistungen), die Entwicklung und Ausbreitung neuer Technologien (Informations- Bio- und Nanotechnologien), die Ausweitung und Anwendung technowissenschaftlicher Forschung, die Beschleunigung von Innovationsprozessen (mit der Folge einer verkürzten Gültigkeit erworbenen Wissens), die wachsende Bedeutung von Kalkulationspraktiken (Rating, Auditing, Benchmarking) oder die Veränderungen von Formen und Inhalten der Qualifikationen (lebenslanges Lernen, neue Fertigkeiten wie die »soft skills«). Die Entstehung der Wissensgesellschaft hängt eng mit der Transformation der gesellschaftlichen Wissensproduktion zusammen. Aus dieser Perspektive lässt sich die Wissensgesellschaft weder allein durch die Zunahme und Anwendung des Wissens noch durch die wachsende Bedeutung der Wissenschaft charakterisieren. Bezeichnender als diese Aspekte ist eine Verallgemeinerung der Handlungstypen wissenschaftlicher Forschung im Sinn einer systematischen und kontrollierten Refle-
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xion und Revision des Wissens. Die Wissensgesellschaft definiert sich insofern durch die Institutionalisierung reflexiver Mechanismen in allen spezifischen Funktionsbereichen, die sich somit in Instrumente gesellschaftlicher Lernprozesse verwandeln. Das Grundprinzip der Forschung, Informationen mit der Intention zu gebrauchen, aus ihnen zu lernen, ist damit zu einer allgemeinen Handlungsform in der heutigen Gesellschaft geworden. Während das Wissen in früheren Gesellschaften auf fraglos überlieferten Regeln beruhte und sich Lernprozesse unbeabsichtigt oder zufällig ergaben, stehen die heutigen Gesellschaften in zunehmendem Maße unter dem Imperativ eines durch aktive Erfahrung geleiteten Lernens. Die Tatsache, dass sich die wissenschaftliche Forschung verallgemeinert, bedeutet auch, dass das hypothetische Wissen und die experimentelle Aktivität die isolierten Bereiche der Laboratorien verlassen haben und sich in der Gesellschaft ausbreiten, wo sie überall dort Anwendung finden, wo sich Handeln auf Wissen gründet. Kein kultureller Bereich, keine Institution oder Weltanschauung kann ohne Forschung überleben, d.h. ohne die Bereitschaft, sich auf ein Spannungsfeld von Unsicherheiten, Diskussionen, Risiken und Kreativität einzulassen. So gesehen sind die entscheidenden Charakteristika einer Gesellschaft als solcher weder ihre Artefakte noch die Qualifikationen ihrer Mitglieder, ja nicht einmal der Erkenntniswert der Produkte und Dienstleistungen. Entscheidend ist vielmehr der Typus des Wissens, das sich in den Wissensgesellschaften zunehmend als ein zentraler Faktor geltend macht, oder genauer gesagt: die Ausbildung und Organisation eines vor allem aktiven und reflexiven Wissens (Giddens 1991). Es gibt und gab Gesellschaften, die sehr viel Wissen akkumuliert haben, auf die aber diese Qualifikation dennoch nicht zutrifft, da dieses Wissen eher passiv und unkritisch gehandhabt und durch autorisierte Traditionen überliefert wurde. Das Wissen, das heute unsere Gesellschaften verändert, ist nicht mehr das alte akkumulierte und unreflektierte, sondern ein neues Wissen. Wir erleben zurzeit eine Gewichtsverlagerung, die uns von der Anwendung vorhandenen Wissens zur Kreation neuen Wissens übergehen lässt. Eine Wissensgesellschaft charakterisiert sich, von hier aus gesehen, durch die Tatsache, dass das für ihre Operationen notwendige Wissen nicht mehr in der erworbenen Erfahrung fundiert ist, sondern durch aktive Lernprozesse generiert werden muss. Die Wissensform, an der wir arbeiten müssen, ist ein revidierbares und revidiertes Wissen, das konstitutiv mit Unwissenheit verbunden ist und deshalb immer spezifische Risiken beinhaltet.
3. Wissensgesellschaf t und Nichtwissensgesellschaf t
Die Reflexivität dieses Wissens unterscheidet es von den Mechanismen akkumulierter Erfahrungen anderer, auch vergangener gesellschaftlicher Formationen ebenso, wie von der modernen Rationalisierung im Sinne Max Webers. Der Unterschied besteht darin, dass Erfahrungen nicht mehr passiv erworben, sondern prospektiv, im Medium forschender, systematischer und reflexiv durchgeführter Aktionen gemacht werden. Die Reproduktion des Wissens vollzieht sich nicht durch Anwendung, sondern über diese strategische Wissensproduktion. Deshalb ist für diese Produktion der Begriff der Innovation so zentral, der für die neuen Technologien, Organisations- und Kommunikationsformen oder auch die Lösung der ökologischen Probleme eine wichtige Rolle spielt. Statt das Wissen als Eigentum oder als ein handhabbares Instrument menschlicher Wesen zu definieren – was eher dem Begriff der Information entspricht –, sollte man es besser als eine menschliche Aktivität bezeichnen, die vor allem auf die Verarbeitung und nicht nur auf den Konsum des Gewussten abzielt. Über Informationen verfügt man und der Zugang zu ihnen stellt keine besonderen kognitiven Anforderungen. Wir sprechen deshalb auch von der Übermittlung von Informationen, wohingegen uns die Vorstellung, dass es so etwas wie eine Übermittlung von Wissen geben könnte eher merkwürdig anmutet. Informationen »veralten« ohne ihrem Verfallsprozess große Hindernisse entgegenzusetzen, sie sind beweglich, allgemein zugänglich und unempfänglich für Kontexte. Eine wirkliche Übermittlung von Wissen ist dagegen immer mit Entdeckungen und Lernprozessen verbunden, die sich nicht mehr auf die Automatismen reduzieren lassen, die das Wort Übermittlung zu suggerieren scheint. In einer Wissensgesellschaft ist der Umgang mit Lernprozessen wichtiger als die Verwaltung von Wissen. In hochdifferenzierten Gesellschaften, die es mit Problemen von enormer Komplexität zu tun haben, ergibt sich die Notwendigkeit, die gelegentlichen Lernprozesse in einen organisierten Wissenserwerb zu transformieren. Diese Reflexivität modifiziert den Stil des Wissens, das sich jetzt nicht mehr in einer bloße Anwendung überlieferten Wissens erschöpft, sondern sich in die Entdeckung prospektiver Erkenntnis verwandelt. Luhmann hat diesen Prozess m.a.W. beschrieben, indem er einen Vorrang des Wissens vor der Präskription postulierte: In weiten Bereichen der Gesellschaft, wie der Wissenschaft, der Technologie, der Wirtschaft und den Medien, nimmt die Bedeutung eines Typus von Erwartungen
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zu, die wir kognitiv, adaptiv und lernorientiert nennen können, während die normativen und präskriptiven Erwartungen an Bedeutung verlieren. Luhmann hat diesen Unterschied folgendermaßen zusammengefasst: »Kognitive Erwartungen versuchen sich selbst zu verändern; normative versuchen ihre Objekte zu verändern« (Luhmann 1991, 55). Kognitive unterscheiden sich von normativen Erwartungen vor allem dadurch, wie sie Enttäuschungen aufnehmen und verarbeiten, was einen fundamental veränderten Begriff des Lernens impliziert. So gesehen können wir Wissensgesellschaft nur diejenigen Gesellschaften nennen, in denen die durch kognitive Erwartungen geleiteten Lernformen allgemein verbindlich sind. Insofern ist eine Wissensgesellschaft nicht nur dadurch charakterisiert, dass ihre Mitglieder eine bessere Bildung hätten, es mehr intelligente Produkte gäbe oder ihre Organisationen sich gewandelt hätten und nun auf der Grundlage von Wissen operierten. Eine Wissensgesellschaft setzt vielmehr auch einen Wandel der Bedeutung von Wissen und Intelligenz auf der Ebene ihrer funktionalen Systeme voraus. Eines der charakteristischen Merkmale der Moderne bestand in der Tatsache, dass dem Wissenschaftssystem eine exklusive Kompetenz für die Produktion, Bewertung und Revision des Wissens zukam. Andere funktionale Systeme wie Politik, Recht, Erziehung oder das Gesundheitswesen eigneten sich das neue Wissen in vermittelter Weise an, wie beispielsweise durch Politikberatung oder die Hinzuziehung von Experten. Diese strenge Arbeitsteilung löst sich heute auf, was eine Vielfalt von »centers of expertise« (Jasanoff 1990) hat entstehen lassen. Deshalb ist das Wissenschaftssystem nicht mehr in der Lage, die Produktion und Anwendung des spezialisierten Wissens zu kontrollieren, das in »anderen« Kontexten hervorgebracht wird. Die Auflösung konventioneller Strukturen der strikten Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Anwendern von Wissen hat zu einer Entwicklung geführt, die wir als Wiedereinführung des peripheren Wissens in die Wissensproduktion bezeichnen können. In dieser Entwicklung ist der Grund dafür zu suchen, dass die Universität, auch wenn ihre Bedeutung in einer Wissensgesellschaft durchaus zunimmt, ihre Monopolstellung als zentrale Institution Wissensproduktion verloren hat. Sie ist der Konkurrenz anderer Institutionen ausgesetzt, die ebenfalls Wissen hervorbringen, gleichzeitig aber eine direktere Verbindung zur Praxis haben. Selbstverständlich bleiben die Universitäten weiterhin die wichtigsten Institutionen der Institutionalisierung von
3. Wissensgesellschaf t und Nichtwissensgesellschaf t
Wissen, der vor allem in instabilen Gesellschaften eine besondere Bedeutung zukommt. Aber die Universität findet sich in einem Kontext der polyzentrischen Wissensproduktion wieder, woraus sich z.B. die Tatsache erklärt, dass die größten Innovationen im Regierungssystem oder der Instrumentarien der Finanzwirtschaft nicht in den dafür spezialisierten Forschungszentren entstehen, sondern eher in hybriden Reflexions- und Aktionsräumen, die schneller agieren können als die Universität und sie so in die Defensive drängen. Kurz, die Produktion und Legitimation des Wissens hat sich vom akademischen System emanzipiert. Die Wissensgesellschaft lässt sich als eine Gesellschaft definieren, die in allen funktionalen Bereichen reflexive Mechanismen institutionalisiert hat. Diese reflexiven Mechanismen unterscheiden sich dadurch von den Verfahren der Akkumulation von Erfahrungen, wie sie anderen Gesellschaftsformen der Vergangenheit eigentümlich war, dass sie Erfahrungen nicht »passiv«, sondern prospektiv und innovativ, selektiv und reflexiv erwerben und aufnehmen. Diese gesellschaftlichen Erneuerungen stehen unter dem Imperativ eines durch die aktive Erfahrung angeleiteten Lernens. Um strategisch handeln zu können, wird Zukunft mittels Modellen und Simulationen antizipiert, werden Abweichungen von den erwarteten Resultaten systematisch erforscht, Daten auf bereitet und verarbeitet … Diesem systematischen Wissen und den Methoden seiner Produktion kommt in den heutigen Gesellschaften eine zentrale Funktion zu. Solche Gesellschaftstypen erkennt man an der Zentralstellung, welche sie dem aktiven Lernen zumessen und an der gesellschaftlichen Verallgemeinerung der den Wissenschaften eigentümlichen Forschungsaktivitäten. Vor allem diese Verallgemeinerung eines für die Wissenschaft charakteristischen Handlungstypus ist für eine Wissensgesellschaft charakteristisch. Sie transformiert die systematische und kontrollierte Reflexion, eine früher fast ausschließlich der Wissenschaft und der Universität vorbehaltene Aktivität, in ein verallgemeinertes Handlungsprinzip der gesamten Gesellschaft. Die vorher unbefragt überlieferten Orientierungen, Normen und Werte, werden der allgemeinen Reflexion ausgesetzt, um sie für die künftige Wissensproduktion für alle gesellschaftliche Systeme nutzbar zu machen (die Ökonomie und die Kunst, das Recht und die Politik, ja sogar die Religion). Dieses Charakteristikum der zeitgenössischen Gesellschaften lässt sich als »Verwissenschaftlichung« der Gesellschaft bezeichnen (Weingart 1983) oder genauer als »reflexive Modernisierung« (Beck/Lasch/Giddens 1996). Um diese Begriffe zu präzisieren, müssen
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wir zunächst einmal festhalten, dass eine Wissensgesellschaft keine Wissenschaftsgesellschaft ist. In den modernen Gesellschaften kann keines ihrer funktionalen Systeme, sei es die Politik, die Wirtschaft oder die Wissenschaft, das gesellschaftliche Ganze repräsentieren, ohne damit dieses Ganze zu deformieren. Wenn sich die Verfahrensweisen der Wissenschaft, insbesondere ihr methodischer Umgang mit innovativem Wissen nunmehr verallgemeinert, so bedeutet das keineswegs, dass die Besonderheiten der unterschiedlichen sozialen Systeme verschwunden sind. Deshalb besteht die große Herausforderung der Wissensgesellschaft in der Ausbildung einer kollektiven Intelligenz. Was in der Industriegesellschaft die Arbeitsteilung war, ist heute eine Teilung des Wissens, d.h. eine Artikulation und Gliederung der in der Gesellschaft verstreuten Wissensformen. Aus dieser Perspektive richtet sich das Hauptinteresse einer Wissensgesellschaft weniger auf die Förderung ihrer einzelnen intelligenten Komponenten als vielmehr auf eine kollektive Intelligenz ihres Zusammenwirkens. Formen kollektiver Intelligenz sind in vielen Bereichen anzutreffen: in Erfahrungen, die sich in technologischen Instrumentarien oder sozialen Praktiken kristallisiert haben, in den Gedächtnissen der »epistemic communities«, in Institutionen und Organisationen, in allen verallgemeinerten Handlungsformen und Regeln, in Sprachen, Kulturen und Symbolen. Kollektive Intelligenz ist eine Eigenschaft, die aus den einzelnen sozialen Systemen hervorgeht, sich aber nicht aus der bloßen Zusammensetzung individueller Intelligenzen ergibt, sondern eine systemeigene Intelligenz konstituiert.
D IE N ICHT WISSENSGESELLSCHAF T Man darf nun keineswegs in den Irrtum verfallen, die Wissensgesellschaft für eine kollektive Feier des Wissens zu halten und dabei zu vergessen, dass die andere Seite ihrer Realisierung eine für sie ebenso konstitutive Form des Nichtwissens ist. Wenn wir etwa an die aktuellen Probleme des Finanzwesens oder des Klimawandels denken, dann klingt die Bezeichnung »Wissensgesellschaft« in diesem Zusammenhang allzu anspruchsvoll. Zumindest dürfte man diesen Ausdruck nicht im Sinn einer Errungenschaft, sondern müsste ihn im Sinn eines Bedürfnisses nach Wissen und einer Verbesserung unserer kognitiven Fähigkeiten verstehen, die für die Bewältigung unserer drängendsten Probleme derzeit
3. Wissensgesellschaf t und Nichtwissensgesellschaf t
offensichtlich nicht ausreichen. Die Wissensgesellschaft hat eine radikale Transformation des Begriffs des Wissens eingeleitet, die sich bis zu einem Punkt zugespitzt hat, an dem sie mit Recht auch eine Nichtwissensgesellschaft genannt werden könnte: Eine Gesellschaft, die sich ihrer Unwissenheit immer bewusster wird und deren Entwicklungsfortschritte sich nicht so sehr an der Vermehrung ihres Wissens bemessen, als vielmehr daran, wie sie mit dieser Unwissenheit in ihren unterschiedlichen Manifestationen umzugehen vermag. Denn angesichts der Risiken und unkalkulierbaren Konsequenzen unserer Entscheidungen breitet sich eine zunehmende Unsicherheit aus, die auch die Ebenen ihrer Normativität und Legitimität nicht unberührt lässt. Wir sind m.a.W. mit neuen und ganz unterschiedlichen Formen der Unsicherheit konfrontiert, die nicht nur mit dem zu tun haben, was wir noch nicht wissen, sondern aus Problemdimensionen hervorgehen, von denen wir gar nichts wissen können. Es trifft keineswegs zu, dass wir in der Lage sind, für jedes auftauchende Problem jederzeit auch das ihm entsprechende Wissen zu generieren. Immer häufiger weist das uns zur Verfügung stehende Wissen einen immer kleineren Teilbereich auf, der auf Gewissheiten beruht und andere, sich ausdehnende Bereiche, die sich lediglich auf Hypothesen, Ahnungen oder Indizien stützen. Aber diese Form der Unwissenheit hat noch einen dramatischeren Aspekt, der damit zusammenhängt, dass auch die anscheinend bereits bewältigten Aufgaben noch unbekannte und zum Teil unerkennbare Dimensionen haben: sekundäre Konsequenzen und Wirkungen, die nicht voraussehbar waren und auf künftige Szenarien verweisen, die sich kaum vorwegnehmen lassen, sowie auf hochkomplexe Rahmenbedingungen, Interdependenzen und Deterritorialisierungen. Ein fundamentaler Aspekt dieser kollektiven Unwissenheit besteht im Problem einer »systemischen Ignoranz« (Willke 2002, 29), das sich immer dann stellt, wenn wir uns auf künftige gesellschaftliche Risiken und Handlungskonstellationen beziehen, in denen zu viele Ereignisse mit zu vielen anderen Ereignissen verbunden sind, so dass die Entscheidungsfähigkeit der individuellen Akteure überfordert ist. Diese Wiederkehr einer überwunden geglaubten Unsicherheit bedeutet keineswegs, dass die heutigen Gesellschaften weniger vom Wissen abhängig wären als früher, denn diese Abhängigkeit hat sich im Gegenteil verstärkt. Wirklich geändert hat sich der gesamte Horizont der Wissenschaft und des Wissens. Schon seit geraumer Zeit müssen wir unsere
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Aufmerksamkeit immer mehr einer Reihe von Aspekten dieser Veränderung zuwenden, die sich unter dem Stichwort »Schwäche der Wissenschaft« zusammenfassen lassen, in dem sich zunehmende Unsicherheiten, Kontextabhängigkeiten, interpretative Flexibilität und Unwissenheit kondensieren. Mit den Ausmaßen und Folgen unserer Probleme verändert sich auch der Charakter des dafür erforderlichen Wissens. In immer mehr Bereichen sind wir auf Theorien verwiesen, die mit Wahrscheinlichkeitsmodellen umgehen, aber keine genauen oder langfristigen Voraussagen mehr treffen können. Unsere schwerwiegendsten, die Natur oder das Geschick der gesamten Menschheit betreffenden Probleme, setzen uns Risiken aus, denen die Wissenschaft keine überzeugenden Lösungen entgegenzusetzen hat. Bestenfalls kann sie die Unwissenheit in Ungewissheit und Unsicherheit transformieren (Heidenreich 2003, 44). Kurz, die Wissenschaft ist keineswegs in der Lage, die Politik von der Verantwortung für Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit zu entlasten. Obwohl die Wissenschaften viel dazu beigetragen haben, die Menge des gesicherten Wissens über hochkomplexe Systeme wie das Klima, das menschliche Verhalten, die Ökonomie oder die Umwelt enorm zu erweitern (»reliable knowledge«), wird es immer schwieriger, kausale Erklärungen zu finden oder genaue Voraussagen zu treffen, da sich im Schatten all des angesammelten Wissens immer deutlicher auch ein unbegrenztes Universum des Nichtwissens abzeichnet. Vermutlich sind die Gründe für die Erosion der staatlichen Autorität und die Krise der Politik in diesen Prozessen der Fragmentierung und Pluralisierung des Wissens zu suchen. Die einstigen systematischen Fähigkeiten dieses Wissens werden wir erst dann wiedererlangen können, wenn wir die Kraft finden, neue Wissensformen zu gestalten. Eine Risikogesellschaft verlangt auch eine Risikokultur. Lange hat die moderne Gesellschaft darauf vertraut, politische und ökonomische Entscheidungen auf der Grundlage eines rationalen, wissenschaftlich gesicherten und gesellschaftlich legitimierten Wissens treffen zu können. Aber die anhaltenden Konflikte um Risiken, Ungewissheiten und Unwissenheit und der andauernde Expertenstreit tragen dazu bei, dieses Vertrauen zunehmend zu erschüttern. Wir wissen inzwischen genauer, dass die Wissenschaft keineswegs absolut vertrauenswürdig und konsistent genug ist, um wirklich fraglose und gesellschaftlich legitimierbare Entscheidungen zu begründen. Dabei brauchen wir dabei nur
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an Risiken zu denken, die mit Gesundheits- oder Umweltproblemen zu tun haben, welche sich generell nur mit einer sehr beschränkten Sicherheit identifizieren lassen. In diesen Bereichen können Entscheidungen niemals einfach auf fragloses Wissen rekurrieren, sondern müssen sich mit einer begründeten, rationalen und legitimen Handhabung von Unwissenheit begnügen. Unser bisher gültiges Modell akkumulativen Wissens ist für solche Problemstellungen zu einfach. Es setzt voraus, dass sich dem bisher angehäuften Wissen neues Wissen hinzufügt, ohne es in Frage zu stellen, so dass sich der Bereich des Unbekannten in wachsendem Maße verringert und die Berechenbarkeit der Welt zunimmt. Genau davon können wir aber nicht mehr ausgehen. Das dynamische Prinzip unserer Gesellschaften besteht nicht mehr in einem permanenten Wissenszuwachs und einem entsprechenden Rückgang der Unwissenheit, sondern es wird durch das Auftauchen eines grundsätzlichen Nichtwissens verunsichert, das die Wissenschaft selbst hervorbringt: eine »science-based ignorance« (Ravetz 1990, 26). Dieses Nichtwissen ist keineswegs nur ein Problem vorläufiger Informationsmängel, denn mit dem Wachstum unseres Wissens und gerade aufgrund seiner nimmt auch unsere Unwissenheit über die Konsequenzen, Reichweiten, Grenzen und die Vertrauenswürdigkeit dieses Wissens überproportional zu (Luhmann 1997, 1106). Zielten die dominierenden Methoden zur Bekämpfung der Unwissenheit in der Vergangenheit darauf ab, sie zu eliminieren, so müssen die heutigen Theoriebildungen von einer irreduziblen Dimension des Nichtwissens ausgehen, die wir verstehen und tolerieren, ja der wir uns bedienen müssen, um sie als Ressource zu nutzen (Smithson 1989; Wehling 2006). Beispielhaft ist dafür die Tatsache, dass in der Wissensgesellschaft die Risiken, die »das Vertrauen in das Wissen der Anderen« birgt, nunmehr zu einem grundsätzlichen Problem geworden sind (Krohn 2003, 99). Die Wissensgesellschaft lässt sich insofern geradezu als eine Gesellschaft definieren, die lernen muss, mit ihrer Unwissenheit umzugehen. Die Grenzen zwischen Wissen und Nichtwissen sind weder unhinterfragbar noch evident oder stabil. In vielen Fällen ist es eine offene Frage, wie viel man noch wissen kann, was man nicht mehr wissen kann oder niemals wissen wird. Dabei geht es nicht mehr um den typischen Diskurs einer Kantianischen Bescheidenheit, die durchaus zugibt, dass wir wenig wissen und menschliches Wissen begrenzt ist. Und auch Mertons Begriff einer »spezifizierten Unwissenheit« ist für unsere Problemstellung noch
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zu ungenau, denn sie bezieht sich eher auf schwache Formen des Nichtwissens: ein unbestimmtes Nichtwissen, das man voraussetzt oder fürchtet, bei dem man aber nicht genau weiß, was oder bis zu welchem Punkt man nichts weiß. Sehr häufig können wir nicht wissen, was geschehen kann, manchmal aber wissen wir darüber hinaus auch nichts über »the area of posible outcomes« (Faber/Proops 1993, 114). Die Berufung auf diese »unknown unknowns«, die sich den wissenschaftlich etablierten Risikoabschätzungen entziehen, ist in den gesellschaftlichen Debatten über die neuen Forschungsbereiche und Technologien zu einem gewichtigen und vieldiskutierten Argument geworden. Selbstverständlich bleibt es auch weiterhin wichtig, die Erwartungshorizonte und die für sie relevanten Bereiche zu erweitern, damit die bisher noch nicht wahrgenommenen Bezirke des nicht Gewussten absehbar werden und wir von hier aus zur Entdeckung jenes »Nichtwissens, von dem wir nichts wissen« vorstoßen können. Aber dieses Bestreben sollte uns nicht mehr zu dem illusionären Glauben verführen, dass das Problem des nicht bewussten Nichtwissens auf traditionelle Weise, d.h. im Sinn seiner vollständigen Auflösung in mehr oder weniger gesichertes Wissen lösbar wäre. Denn selbst dann, wenn man die Relevanz des unbekannten Nichtwissens explizit anerkennt, bleibt immer noch die unbewusste Insistenz dessen, was man nicht weiß und der Zweifel, ob dem Wissen nicht etwas Entscheidendes entgangen ist. Die Wissensgesellschaften müssen sich über ihre geläufigen Begriffshorizonte hinaus auch dem Problem eines unbekannten Nichtwissens stellen, d.h. der Tatsache, dass sie niemals in der Lage sein werden zu wissen, ob und in welchem Maße diese »unknown unknowns«, denen sie notwendigerweise ausgesetzt sind, für sie bedeutsam sind. Ulrich Beck hat bemerkt, dass das Kennzeichen dieser Epoche der sekundären Konsequenzen nicht das Wissen, sondern das Nichtwissen ist (1996, 298). Die Fragen, wer etwas weiß und wer nicht, wie man Wissen und Nichtwissen erkennen und befragen bzw. bestreiten kann, umschreiben das wirkliche Feld der neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Genauer besehen bestehen unsere wichtigsten politischen Auseinandersetzungen in der Tat in unterschiedlichen Bewertungen des Nichtwissens oder der Unsicherheit des Wissens. In den gesellschaftlichen Debatten wetteifern unterschiedliche Bewertungen von Ängsten, Hoffnungen, Erwartungen, Vertrauen, Krisen, denen kein objektives und fragloses Korrelat mehr entspricht. Auch diese Auseinandersetzungen
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lassen sich unter dem Aspekt jener Dimensionen des Nichtwissens betrachten, die auch die Entwicklung der Wissenschaft begleiten: die Unwissenheit um unbekannte Auswirkungen des Gewussten und die Grenzen seines Geltungsbereiches sowie ungelöst bleibende Fragen … Diese Debatten haben weniger das Wissen selbst zum Gegenstand als vielmehr das Nichtwissen, das es unvermeidlich wie ein Schatten begleitet. Im Grunde wendet jeder, der ein anderes oder das dominierende Wissen in Frage stellen will, das Verfahren eines »drawing attention to ignorance« (Stocking 1998) an, indem er gerade das hervorhebt, was dieses Wissen nicht weiß. Diese »Politisierung des Nichtwissens« (Wehling 2006) wurde bereits in den Kontroversen um die Technologiepolitik seit den 1970er Jahren bemerkt. Dabei ging es nicht nur darum, dass man sich der Relevanz des Unbekannten überhaupt bewusst wurde, sondern auch um ein Auseinanderdriften dieses Bewusstseins und der Frage nach der Bewertung jenes Unbekannten. Was bei den einen vor allem Angstimpulse auslöste, weckte bei anderen vielversprechende Erwartungen. Während einige von vorübergehenden Erkenntnisdefiziten sprachen, gingen andere davon aus, dass der Erkenntnis etwas grundsätzlich entzogen sei. Diese Debatten charakterisieren eine Zeit, in der wir uns alle dessen bewusst zu werden begannen, dass die Wissenschaft keineswegs nur Wissen, sondern auch Ungewissheiten, »blinde Flecken« und Unwissenheit hervorbringt. Insofern sind die seither in der öffentlichen Meinung sich ausbreitenden Ängste und Besorgnisse durchaus nicht so unberechtigt, wie es die Verkünder einer risikolosen Technologie immer noch suggerieren. Fast immer wenn technische Optionen auf gesellschaftlichen Widerstand stoßen, schärft sich auch die Wahrnehmung für die sie begleitenden Ungewissheiten und Unwägbarkeiten, auf die Wissenschaft und Technik eingehen sollten. Was in solchen Konflikten aufeinanderprallt, sind im Grunde unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Wahrnehmungen des Nichtwissens. Vor diesem Hintergrund werden sich unsere großen Problemstellungen künftig im Horizont eines »decision-making under ignorance« (Collingridge 1980) entwickeln. Wenn nun Entscheidungen unter Bedingungen der Unwissenheit neue Formen der Begründung, Rechtfertigung und Folgenabschätzung verlangen: Wie könnten uns diese gegen Risiken absichern, von denen wir per definitionem nicht wissen können, was wir zu tun haben? Wie kann man einer Vielfalt von Wahrnehmungen dieses
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Nichtwissens gerecht werden, wenn man seine Reichweite und Relevanz gar nicht kennen kann? Wie viel Nichtwissen können wir uns erlauben, ohne uns unkontrollierbaren Bedrohungen auszusetzen? Welches Nichtwissen müssen wir als bedeutsam ansehen und wie viel können wir als unbedrohlich vernachlässigen? Welches Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Geschick ist von einem verantwortbaren Gesichtspunkt aus noch tolerierbar? Und ist das, was man nicht weiß, ein Freibrief zum Handeln oder eher im Gegenteil eine Bedrohung, die genaueste Vorsichtsmaßnahmen verlangt? Gesellschaften begegnen dem Nichtwissen auf vielfältige Weisen: Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft reagieren sie mit Dissens, unter dem zeitlichen Aspekt mit vorläufigen Verständnisversuchen und auf der objektiven Ebene mit Imperativen, die sie vor dem Schlimmsten bewahren sollen. Nehmen wir beispielsweise den Fall eines »Vorsorgeprinzips«, wie es in die Verträge der Europäischen Union und die Erklärung des Klimagipfels in Rio de Janeiro aufgenommen wurde. Ihm zufolge darf sich Ergreifung effizienter Maßnahmen gegen ernste und irreversible Schäden des Klimawandels nicht durch die Tatsache verzögern, dass in diesem Bereich noch keine vollständige wissenschaftliche Evidenz möglich ist. Dennoch bleibt das Prinzip der Vorsorge eine umstrittene Norm, die ganz unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt ist. Wirklich interessant werden diese erst in dem Maße, wie sie auch die Konsequenzen konkreter Entscheidungen, die Wahrscheinlichkeit bestimmter Schäden und die Kriterien erhellen können, unter denen negative Folgen akzeptierbar wären oder eine Suche nach möglichen Alternativen nötig wird. Mit solchen Überlegungen stehen wir nun vor dem Paradox, dass die Wissensgesellschaft im Grunde mit der Autorität des Wissens Schluss gemacht hat. Das Wissen vervielfältigt und dezentralisiert sich, es ist brüchiger und fragwürdiger geworden. Davon ist aber unausweichlich auch jene Macht betroffen, von der wir – dem Grundsatz Bacons zufolge, dass Wissen Macht sei – gewohnt waren, dass sie vom Wissen gestützt wird. Nun scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein und das Wissen destabilisiert geradezu die Macht im Zuge einer wachsenden Vervielfältigung und Zerstreuung dieses Wissens, die seine einstige Monopolstellung unterminiert und es überaus fragwürdig erscheinen lässt. Neben der traditionellen Form wissenschaftlicher Produktion in den Universitäten tauchen jetzt neue Wissensformen auf, die von einer Vielfalt gesellschaft-
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licher Agenten getragen und vermittelt werden, wie NGOs, professionell qualifizierte Bürger, das Wissen unterschiedlicher gesellschaftlicher Subsysteme, die allgemeinen Zugänglichkeit von Informationen, die Vervielfältigung des Expertenwissens … In dem Maße, in dem sich die Wissensproduktion vervielfältigt, vermindern sich aber zugleich auch die Möglichkeiten, diese Prozesse zu kontrollieren. Die Wissensgesellschaft wird in dieser Hinsicht auch durch die Tatsache charakterisiert, dass eine wachsende Zahl von Akteuren über einen ebenfalls wachsenden Wissensfundus verfügt, so dass diese gut informierten Akteure in der Lage sind, das eigene Wissen auch gegen die Intention von Entscheidungsträgern geltend zu machen. Statt mit einem Anwachsen der Gewissheiten haben wir es nun mit einer Stimmenvielfalt zu tun, in der Wissensansprüche und die Bestimmungen des nicht Gewussten im Missklang vieltönender Debatten erhoben und debattiert werden. Jasanoff hat die geläufigen Begriffe für die Randzonen menschlicher Erkenntnis – das Unbekannte, Unsichere, Zweideutige und Unkontrollierbare – »Technologien der Demut« (2005, 373) genannt und damit die Grenzen ihrer Voraussagbarkeit und Kontrolle bezeichnet. Diese Problemstellung legt uns nahe, auch die Möglichkeit unvorhersehbarer Konsequenzen zu berücksichtigen, die normativen Aspekte hinter den technischen Entscheidungen explizit zu machen und die Notwendigkeit vielfältiger Gesichtspunkte und kollektiver Lernprozesse einzusehen. Dafür müssen wir jedoch das traditionelle Bild einer Wissenschaft preisgeben, die objektive und »harte« Tatsachen produziert, Unwissenheit abbaut und der Politik Entscheidungen vorgibt, um es durch einen Wissenschaftstyp zu ersetzen, der mit der Politik im Umgang mit Ungewissheiten zusammenarbeitet. Dies bedarf der Entwicklung einer Reflexionskultur der Unsicherheit, die das Nichtwissen nicht nur als den Außenbereich des noch nicht Erforschten ansieht (Wehling 2006, 101), sondern es als konstitutiv für das Wissen und die Wissenschaft begreift. Das, was wir nicht wissen, das unsichere Wissen, das bloß Wahrscheinliche, die Formen nichtwissenschaftlichen Wissens und selbst Ignoranz dürften dann nicht mehr als unvollendete Gegebenheiten, sondern müssten als Ressourcen (Bonß 2003, 49) begriffen werden. Es gibt sehr viele Fälle, in denen man ohne über sicheres und risikoloses Wissen zu verfügen, kognitive Strategien zu entwickeln hat, um unter Bedingungen der Ungewissheit handeln zu können. Zu den wichtigsten Wissensformen gehören unter diesem Blickwinkel die Bewertung, Behandlung und Ver-
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mittlung von Risiken. Wir müssen lernen, uns in einer Umwelt zu bewegen, die nicht mehr durch klare Verhältnisse von Ursache und Wirkung strukturiert, sondern brüchig und chaotisch ist. Damit sind die tiefer liegenden Gründe dafür benannt, dass eine Wissensgesellschaft nicht durch Expertensysteme regiert werden kann, sondern diese Systeme in weiträumigere Regierungsmethoden einbeziehen muss, deren Entscheidungen sich unvermeidlich immer auch in Bereichen irreduzibler Unwissenheit bewegen. Deshalb drehen sich unsere grundlegenden demokratischen Kontroversen im Grunde darum, welches Nichtwissen wir uns erlauben können, wie es durch Vorsichtsmaßnahmen reduzierbar wäre und welche Risiken noch tragbar sind. Unsere Herausforderung besteht darin zu lernen, mit Ungewissheiten umzugehen, die sich niemals völlig eliminieren lassen und sie in kalkulierbare Risiken und in die Materie neuer Lernprozesse zu transformieren. Die heutigen Gesellschaften müssen nicht nur ihre Problemlösungskompetenzen weiterentwickeln, sondern auch ihre Fähigkeit, auf Unerwartetes angemessen zu reagieren. Das ist sicher keine einfache Aufgabe, sie hält aber in jedem Fall den Trost bereit, dass wir nicht deshalb eine »Nichtwissensgesellschaft« sind, weil wir zu wenig wüssten, sondern weil wir die Reichweite unserer Aktionen und Unterfangen nicht vollständig absehen können.
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3. Wissensgesellschaf t und Nichtwissensgesellschaf t
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4. Das Wissen in der Wissensgesellschaft
Alle menschlichen Fortschritte werden von einem Schatten begleitet, in dem, wie in einer Traumwelt, Katastrophenszenerien gedeihen. In dem Maße, wie das Wissen fortschreitet, wächst zugleich auch die Angst vor undurchschauten Bedrohungen, die sich hinter seinem Rücken ausbreiten. Wir haben immer mehr Möglichkeiten zu reisen, zu kommunizieren, Wissen zu sammeln oder unsere Meinung zu äußern, aber hinter diesen Möglichkeiten scheint gleichzeitig auch der Verdacht, dass diese Macht illusorisch sein könnte, eine wachsende Faszinationskraft auszuüben. Jedenfalls sind wir immer geneigter, Diskursen Gehör zu schenken, die uns repressive Maßnahmen mächtiger Institutionen gegen das ohnmächtige Individuum enthüllen. Bis heute hat die Erzählung von der Unterdrückung des Individuums, das man sich als wehrlose Person vorstellt (Bürger, Arbeiter, Wähler, Schüler, Patient), durch größere und mächtigere Institutionen (Staat, Erziehung, Kommunikationsmedien, Medizin) nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt. Apokalyptische Beschreibungen der heutigen Gesellschaften haben unsere Phantasie an ohnmächtige Opfer, manipulierte Konsumenten, betrogene Touristen, verwirrte Wähler und unwissende Arbeitnehmer gewöhnt. In diesem Panorama werden Wissenschaft und Technik als Komplizen der Mächtigen und als Instrumente einer neuen repressiven Klasse entlarvt. Wenn diese Entlarvungen, einmal abgesehen von ihrer Faszinationskraft, wirklich wahr wären, dann stünden wir vor dem Paradox, dass die Politik umso irrationaler wäre, je rationaler die Gesellschaft ist. Aber der hier umrissene Begriff der Wissensgesellschaft ist mit jener naiven Wissenschaftsgläubigkeit unvereinbar, die das wissenschaftliche Wissen und seine Möglichkeiten einer Manipulation der gesellschaftlichen Wirklichkeit als unbegrenzt ansieht. Ich bin kein Anhänger der
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– für die einen positiven, für andere schrecklichen – Utopie einer vollständigen Rationalisierung des Irrationalen, des Verschwindens lokaler Identitäten und der Zerstörung anderer, als unwissenschaftlich oder veraltet deklarierter Wissensformen. Gewiss ist keine gesellschaftliche, ökonomische oder kulturelle Wirklichkeit immun gegen wissenschaftliches und technisches Wissen. Aber dennoch bedingt die in diesem Ausmaß noch nicht dagewesene Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens in unseren heutigen Gesellschaften keineswegs eine Unterdrückung anderer Lebens- und Handlungsweisen. Ich werde deshalb eine Sichtweise vertreten, die für diejenigen, die mit großen – sei es optimistischen oder pessimistischen – Erwartungen handeln, vielleicht nicht überzeugend klingt, die mir aber rationaler zu sein scheint als ihr Gegenteil: Die Wissensgesellschaft beinhaltet m.E. durchaus mehr Möglichkeiten der Entfaltung persönlicher Freiheit als alle gesellschaftlichen Formationen vor ihr. Diese Freiheit ist in großem Maße die Kehrseite der Tatsache, dass die Menschen, leider oder auch zum Glück, weder vollkommen Gutes noch völlig Schlechtes zustande bringen. Von hier aus gesehen überschätzt man die Wissenschaft sowohl dann, wenn man von ihr die Lösung aller Probleme erwartet als auch dann, wenn man ihr die Verantwortung für alle, auch die möglichen Unglücksfälle zuschiebt. Es ist nämlich gar nicht so leicht, das Leben wirklich zu verschlimmern, und es lässt sich nicht so einfach an die Technik anpassen, wie deren Enthusiasten wünschen oder ihre Verächter befürchten. Einer Anwendung der Wissenschaft auf die Realität stehen sehr viele Grenzen und Hindernisse im Weg, die zum Teil überwindbar sein mögen, aber zum Glück niemals vollständig zum Verschwinden gebracht werden können. Das Wachstum und die Ausbreitung der Wissenschaft führen insofern keineswegs notwendigerweise zu einer Verminderung von Ungewissheiten, Risiken und unvorhersehbaren Folgen. Deshalb besteht das Problem der heutigen Gesellschaften eher darin, miteinander verflochtene heterogene Komplexe zu regieren, die sich nicht vereinheitlichen lassen. Dieser Befund stellt die gewichtigste Antithese gegen die Vorstellung einer konspirativ verwalteten Welt dar, von der sich die neue Cyber-Epik nährt.
4. Das Wissen in der Wissensgesellschaf t
D IE K RITIK DER TECHNOLOGISCHEN UND WISSENSCHAF TLICHEN Z IVILISATION In den 1960er Jahren haben Gesellschaftstheoretiker ganz unterschiedlicher politischer Orientierungen – von Konservativen bis zu Neomarxisten, von Schelsky (1960) bis zu Marcuse (1964) – die technologisch wissenschaftliche Zivilisation vehement kritisiert und vor der bevorstehenden Ausbreitung einer von der Wissenschaft regierten Kultur sowie der Gefahr eines technokratischen Staates gewarnt. Der Grundton dieser Kritiken war von einer Sicht der instrumentellen Rationalität gefärbt, die in ihr den Ursprung von Manipulation und sozialer Kontrolle sah. Damals war die Zeit günstig für solche düsteren Zukunftsszenarien, da die Wissenschaft den apokalyptischen Albtraum einer globalen Zerstörung zu einer konkreten Möglichkeit gemacht hatte. Es blühten Prophezeiungen einer düsteren Zukunft mit unaufhaltsam voranschreitenden Differenzierungen, Einschränkungen der individuellen Freiheiten und Identitäten, konspirativen, im Verborgenen operierenden Herrschaftsinteressen, Bedrohungen der persönlichen Autonomie, repressiven Strukturen, der Auflösung der Privatsphäre, exzessiven Kontrollen aller Lebensbereiche, zunehmenden und detaillierter werdenden Vorschriften, ausufernden Regulierungen … Seit dieser Zeit ist eine stereotyp wiederholte Kritik der wachsenden Macht von Wissenschaft und Technik geläufig und der Wettbewerb um die treffendsten Stichworte scheint es stets mit eindeutig identifizierbaren Adressaten zu tun zu haben. Die einfallsreichsten dieser Diskurse brachten Formulierungen hervor wie den bedrohlichen Imperialismus der instrumentellen Vernunft (Weizenbaum), die Gefahr einer aggressiven Kolonisierung der Lebenswelt (Habermas) oder die Unvermeidlichkeit einer neuen Taylorisierung der Arbeitswelt (Volpert). In diesen Zusammenhang gehört auch Bells These (1960) vom Ende der Ideologien oder die Prognose Robert Lanes (1966), der uns am Anfang einer neuen Ära der Erosion des Politischen zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnisse sah. Auch die Konstitution eines neuen Typus sozialer Formationen wurde prognostiziert, den man zunächst als »technischen Staat« oder als »wissenschaftlich-technische Zivilisation« entlarvte (Mumford 1962; Schelsky 1961), um ihn später etwas subtiler als »Registrierungsgesellschaft« zu beschreiben (Böhme 1984, 15), in der die Macht enorme Datenmengen über ihre Bürger anhäuft.
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Diese und ähnliche Befunde aus jener Zeit litten durchweg unter einem allzu großen Vertrauen in die praktische Effizienz von Technik und Wissenschaft. Rückblickend können wir heute sagen, dass wir nach 50 Jahren der Formulierung von Theorien der postindustriellen Gesellschaft insgesamt vorsichtiger und skeptischer geworden sind – und zwar sowohl was unsere Hoffnungen als auch was unsere Ängste betrifft. Aber weder technokratische Erwartungen noch humanistische Hoffnungen haben sich bisher erfüllt. Vielleicht ist der Beobachtung Jean Jacques Salomons (1973, 60) Recht zu geben, dass der Mythos vom menschlichen Fortschritt mithilfe des Fortschritts der Wissenschaft paradoxerweise durch eben diesen wissenschaftlichen Fortschritt überwunden wird. Die Wissenschaftskritik, die nun schon zu einem Gemeinplatz geworden ist, bedarf einiger Revisionen, zumal sie zu großen Teilen von einem falschen Verständnis der Wissenschaft ausgeht. Es ist durchaus nicht so, dass die gesellschaftliche Macht von Wissenschaft und Technik kausal alle Aspekte und Phasen des menschlichen Lebens determiniert, wie zu befürchten oder zu erwarten wäre, wenn man in Wissenschaft und Technik ein unabwendbares Schicksal der Moderne sieht. Diese Vermutung überschätzt die gesellschaftliche Macht des wissenschaftlichen Wissens bei weitem und sie übersieht, dass die modernen Gesellschaften diesem Wissen Grenzen setzen. Schon Max Weber und Karl Mannheim haben daraufhin beobachtet, dass der kapitalistische Rationalisierungsprozess Grenzen hat und sich nur in ganz bestimmten Bereichen durchsetzen konnte. Die durchaus dramatischen Auswirkungen der Wissenschaft auf die Lebenswelt beinhalten keineswegs die Notwendigkeit, dass jeder eine wissenschaftliche Weltsicht verinnerlicht hätte, dass der gesunde Menschenverstand durch wissenschaftliches Wissen ersetzt würde, dass politische Macht zentral und autoritär gehandhabt würde, dass es keinerlei Grenzen für die Implementierung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse gäbe und diese jeglicher Risiken entbehrten. Planung kann auch eine Vermehrung von Flexibilität bewirken, sie kann alternative Handlungen hervorrufen oder praktische Konsequenzen zeitigen, deren Unvorhersehbarkeit jedoch keineswegs Ängste vor Kontrollmechanismen rechtfertigt. Der in solchen Kritiken und Ängsten in Anschlag gebrachte Begriff der Technik birgt einige fragwürdige Prämissen. Erstens setzt er eine Art unbegrenzter Elastizität und Pervertierbarkeit sozialer Prozesse im
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Sog der technischen Logik voraus. Diese Sichtweise beruht aber auf der sehr zweifelhaften Vorstellung, dass Geschichte unbeschränkt verfügbar sei und sich restlos unseren technischen Zielen unterordnen lässt. Und zweitens bestimmt er technische Entwicklung als einen autonomen Prozess, der sich aus eigener Kraft erhält. Dass diese Entwicklung aber ausschließlich durch eine eigene und selbstbezügliche Wachstumslogik in Gang gehalten wird, die von selbst optimale und effiziente Problemlösungen zeitigt, halte ich für überaus unwahrscheinlich. Denn meistens sind es eher Präferenzen nichttechnischer Art, die die Bedingungen für technische Entwicklungen und Optimierungen ermöglichen. Das ist z.B. immer dann der Fall, wenn entschieden werden muss, welche von mehreren technischen Lösungen als die beste zu gelten hat und wie sie praktisch anzuwenden ist (Krohn/Rammert 1985). Denn die Einführung neuer Technologien oder der Verzicht auf bestimmte technische Entwicklungen entscheidet sich keineswegs ausschließlich nach technischen Kriterien. Technik kann sich uns nicht bedingungslos aufzwingen, da die Kriterien für die Bevorzugung bestimmter technischer Lösungen in der Regel anderen Lebensbereichen angehören und sich z.B. politischen, ästhetischen oder moralischen Rücksichten unterordnen müssen. Eine der grundlegenden Voraussetzungen der modernen Wissenschaft bestand in ihrer Fähigkeit, andere Wissensformen zu ersetzen. Die Anhänger und die Verächter der modernen Wissenschaft und Technik waren einhellig der Überzeugung, dass das wissenschaftliche Wissen alles andere Wissen eliminiere (Marcuse 1964; Schelsky 1965; Bell 1973). Sie gingen davon aus, dass sich traditionelle oder irrationale Überzeugen im Zuge einer Rationalisierung gesellschaftlicher Maßnahmen auflösen. Dieses Gewicht eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses lastet auch noch auf den ersten Theorien der Wissensgesellschaft. Lane (1966) hat den damit verbundenen Fortschrittsoptimismus zu Beginn der 1960er Jahre zum Ausdruck gebracht, als er seine Überzeugung verkündete, dass das wissenschaftliche Wissen radikal alles vorherige Wissen als unangemessen oder irrational erweisen und restlos ersetzen werde. Aber diese vermeintlich graduelle Auslöschung der traditionellen Sicherheiten, Identitäten, Ideologien und Erwartungen, hat sich eher als eine Wunschoder Angstvorstellung denn als konkrete Wirklichkeit erwiesen. Denn Wissenschaft und Technik gewährleisten durchaus auch das Überleben existierender Handlungsweisen, und in gewisser Weise könnte man so-
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gar sagen, dass sie geradezu dafür verantwortlich sind, dass viele konventionelle Denk- und Handlungsmuster ihre Gültigkeit behalten. Ein anderer Gemeinplatz der Kritik an der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist ihre vermeintlich unaufhaltsame Machtkonzentration, die sich in einer Verfeinerung gesellschaftlicher Kontrollmechanismen manifestiert. Demzufolge würden die neuen Technologien letztlich die gesellschaftlichen Bedingungen für eine forcierte Überwachung schaffen, wie sie Bentham 1791 mit seinem Panoptikum entworfen hatte (Foucault 1975). Zweifellos ermöglichen die neuen Informationstechnologien eine sehr viel wirksamere Organisation der Überwachung, als dies in den vormodernen Gesellschaften der Fall war (Giddens 1990, 22). Dennoch ist es eine offene Frage, ob die heutigen Gesellschaften aufgrund der technischen Entwicklungen in eine perfekt organisierte autoritäre Verfassung abdriften oder ob diese Entwicklungen nicht eher die Möglichkeit ihrer radikalen Demokratisierung schaffen. Sicherlich können bestimmte Techniken alarmierende Entwicklungen in Gang setzen, weil sie in der Tat jene häufig befürchtete zentrale und vollständige Überwachung ermöglichen. Andererseits sind es aber auch gerade diese technischen Entwicklungen, die ein hohes Maß an Dezentralisierung, lokalen Initiativen und auch Möglichkeiten einer wirkungsvollen Überwachung der Überwacher bereitstellen. Eine Wissensgesellschaft bringt andere Zwänge und Einschränkungen mit sich, als die, die ihr die traditionellen Machttheorien und Analysen der politischen Macht zuschreiben. Der traditionelle Begriff der Macht geht davon aus, dass ihr Besitz und Gebrauch bewusst beansprucht und gehandhabt wird; die Verantwortlichkeiten lassen sich zuordnen, Kosten und Nutzen der Machtausübung können im Allgemeinen klar unterschieden werden und scheinen kalkulierbar. Aber die Untersuchung des Machtgebrauchs in einer Wissensgesellschaft muss von einer Zerstreuung der Entscheidungszentren in den spätmodernen Gesellschaften ausgehen und zudem die Tatsache berücksichtigen, dass sich auch der Typus der vom Wissen verschafften Macht, verglichen mit den Erwartungen an Wissenschaft und Technik zu Beginn der Moderne, inzwischen fundamental gewandelt hat. In den Wissensgesellschaften wird menschliches Handeln durchaus in hohem Maße auch durch Umstände bedingt, die sich aus den Imperativen wissenschaftlichen Wissens und den Erfordernissen technischer Artefakte ergeben. Andererseits wächst aber auch die Resistenz der Denk-
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und Handlungsformen in diesen Gesellschaften gegen den Einfluss der Wissenschaft dadurch, dass sich zugleich auch die Möglichkeiten dieser Resistenz entscheidend erweitern. Der durchaus zunehmende Einfluss von Wissenschaft und Technik modifiziert sich ebenso wie die gleichfalls zunehmende Kontingenz und Fragilität sozialer Handlungen, so dass von einer Überwindung der »Irrationalität« zugunsten der von der Wissenschaft produzierten »Rationalität« keine Rede mehr sein kann. Ein wesentliches Charakteristikum der Wissensgesellschaft ist die Tatsache, dass Wissenschaft und Technik neue Handlungsmöglichkeiten für eine wachsende Anzahl von solchen Akteuren eröffnen, die den Widerstand gegen eine Homogenisierung des gesellschaftlichen Handelns geradezu kultivieren. So gesehen vervielfältigen und intensivieren Wissenschaft und Technik die Möglichkeiten, sich den von ihnen ausgelösten Entwicklungen zu widersetzen. Es bilden sich nicht nur Kräfte, die Wahlmöglichkeiten einschränken, effizientere Kontrollmöglichkeiten einführen, Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten verfestigen, da das dafür nötige Wissen auch Bedingungen bereitstellt, um Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, die Mächtigen zu beeinflussen, Autoritäten zu entzaubern, neue Gruppen zu bilden und neue Aktionsmöglichkeiten zu finden. Was seine Macht betrifft, so darf man das Wissen keineswegs – was viele Machttheorien zumindest implizit unterstellen – nur als Unterdrückungsinstrument, sondern kann es zugleich als eine Möglichkeit begreifen, sich gegen Herrschaft zu wehren, Widerstand zu organisieren oder sie zu unterlaufen. Deshalb ist es durchaus kein Widerspruch, wenn man konstatiert, dass in den Wissensgesellschaften die gegenläufigen Entwicklungsrichtungen einer zunehmenden Stabilität und Kontinuität und einer wachsenden Unsicherheit und Fragilität nebeneinander koexistieren. Die Schwierigkeiten, die sich einer Konzentration des Wissens in den Weg stellen, haben sehr viel mit dem sukzessiven Verschwinden zentraler und autoritärer gesellschaftlicher Instanzen zu tun. Mit einer Metapher von Alain Touraine (1984) können wir sagen, dass sich die Akteure in der Wissensgesellschaft nicht mehr auf einen Mittelpunkt, sondern auf getrennte Entscheidungszentren beziehen, die insgesamt ein Mosaik und keine Pyramide mehr bilden. Ungeachtet all der Diskurse, die ihre Homogenisierung konstatieren, besteht die heutige Gesellschaft nicht mehr nur aus einigen wenigen einflussreichen (oder monolithischen) politischen Parteien, Familienstrukturen, Syndikaten, religiösen Gemeinschaften,
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ethnischen Gruppen, gesellschaftlichen Schichten oder Klassen. In jeder dieser Organisationsformen lassen sich heute Dezentralisierungs- und Auflockerungsprozesse ausmachen. Und die Gründe für solche Prozesse sind in der Natur desselben Wissens zu suchen, das sich in einem Verständnishorizont konstituiert hat, der für das Verständnis der heutigen Gesellschaften und ihrer Machtentfaltungen paradigmatisch war. Heute zeigt sich, dass diese Macht auch Möglichkeiten erschließt und von Schwächen keineswegs frei ist.
M ACHT UND O HNMACHT DES W ISSENS Es ist kein Geheimnis unter den Theoretikern der Wissensgesellschaft, dass in ihr der Einfluss der Öffentlichkeit sowie die Ausübung von Macht und Herrschaft in wachsendem Maße wissensvermittelt sind. Das Wissen übernimmt immer mehr die Funktion der klassischen Produktionsfaktoren Eigentum, Arbeit, Grund und Boden, und anstelle des traditionellen Machtapparates ist seine Anwendung zum herrschenden und vorzüglichen Machtmittel der sozialen Aktivitäten geworden. Dieser Wandel nötigt uns, die gesellschaftliche Organisation neu zu denken und nach den Charakteristika eines Wissens zu fragen, das nicht mehr dasselbe ist wie jenes, das noch die klassischen Soziologen im Blick hatten. Die klassischen Gesellschaftstheorien waren weitgehend von einem deterministischen Begriff der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig und hatten deshalb der Macht und der Ohnmacht des wissenschaftlichen Wissens zu wenig Beachtung geschenkt. Das Wissen der Wissensgesellschaften ist in erster Linie ein verstreutes Wissen. Die Kompetenzen, die es verleiht, sind so vielfältig und es selbst ist in einem solchen Maß ersetzbar und kombinierbar, dass die gesellschaftlichen Unterschiede in der Wissensgesellschaft im Unterschied zur klassischen Industriegesellschaft weniger kohärent, nicht so eindimensional und inhomogener sind. Deshalb wird Wissen direkt oder indirekt für immer weitere Bereiche der Bevölkerung immer zugänglicher. Seine Flexibilität zeigt sich auch in der Tatsache, dass seine praktischen Anwendungen nicht mehr so eindeutig sind und so fraglos akzeptiert werden wie in den traditionellen Gesellschaften. Dieses Wissen ist mit den etablierten gesellschaftlichen Strukturen nur noch locker verbunden, und auch deren gegenwärtige Veränderungen hängen ihrerseits
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davon ab, dass sich die gesellschaftliche Konstruktion des Wissens verändert hat. Das bedeutet, dass es immer wichtiger wird, es ständig neu zu (re-)interpretieren, so dass es seine typischen Attribute, sicher, verlässlich, endgültig und unumstritten zu sein, zunehmend einbüßt (Stehr 1994, 223). Die Interpretation und die Reproduktion des Wissens sind damit zu entscheidenden gesellschaftlichen Aufgaben geworden. Aus diesen Gründen bieten die Fortschritte der Wissenschaft keinerlei Erleichterungen für die politische Planung, Prognose und Kontrolle. Unter bestimmten Umständen kann der wissenschaftliche Fortschritt sogar mit gegenläufigen gesellschaftlichen Entwicklungen einhergehen, die Stabilität bestehender Strukturen unterhöhlen und ein gesteigertes Bewusstsein der Grenzen wecken, das im Grunde jedes Wissen wie ein Schatten begleitet. Diese Grenzen sind epistemologischer Art, d.h. vom wissenschaftlichen Wissen selbst gesetzte Grenzen. Wie Gehlen (1949, 12) schon beobachtet hat, übt der Wissenschaftsbetrieb auch Zwänge auf die Wissenschaftler aus. Deshalb wäre es keineswegs zutreffend, wenn man die Grenzen der wissenschaftlichen Macht lediglich auf eine unvermeidliche Irrationalität, auf die mangelnde Aufgeklärtheit gesellschaftlicher Gruppierungen oder gar auf eine bewusste Intention der Wissenschaft zurückführen wollte, die um ihrer eigenen Macht willen die Bevölkerung in Unwissenheit belässt. Die wichtigste Triebkraft für ein angemessenes Verständnis unserer heutigen Gesellschaften besteht vielmehr darin, dass wir die Bedeutung der kognitiven und gesellschaftlichen Qualitäten des nicht wissenschaftlich spezialisierten Wissens erkennen und die Bedeutung der Rolle begreifen, die ihm in den modernen Gesellschaften zukommt. Die angebliche Dynamik einer Ersetzung jeder nichtwissenschaftlichen durch wissenschaftliche Rationalität ist immer wieder in Frage gestellt worden. Schon Durkheim hatte der Ansicht Comtes widersprochen, dass die wissenschaftlichen Wahrheiten die mythologischen Ausdrucksformen radikal auflösen würden. Im Unterschied zu den mythischen Wahrheiten, die ohne weitere Überprüfung akzeptiert werden, müssen sich die wissenschaftlichen Wahrheiten Verifikationsverfahren unterziehen. Nun stehen aber gesellschaftliche Aktivitäten ständig unter Zeitdruck und können nicht darauf warten, dass ihre Probleme auf wissenschaftlichem Wege gelöst werden. Eine der Grundbedingungen der Produktion wissenschaftlichen Wissens ist jedoch gerade die Suspendierung von Zeitdruck und der Imperative des Handelns. Solches Wissen
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beruht geradezu auf Verzögerungen, Distanzierung, nochmaligen Überprüfungen und es muss sich über die Zwänge des alltäglichen Lebens hinwegsetzen, ja in dieser Zurückhaltung liegt sogar ein wesentlicher Grund für seine Geltung. »Das Leben« aber, so formulierte es Durkheim, »kann nicht warten« (Durkheim [1912] 1994). Die Gesellschaft muss mit einer Begrifflichkeit arbeiten, in der sich unmittelbar ihr Selbstverständnis ausdrückt, und die Unsicherheit, die das Element wissenschaftlicher Arbeitsprozesse ist, ist für das gesellschaftliche Leben nicht gleichermaßen gut geeignet. Denn die Praxis, so Pierre Bourdieu, funktioniert nach einer Logik, die weniger strenge logische Ansprüche stellt als die Logik logischer Verfahren. Die Besonderheit der Praxis liegt darin, dass sie nicht allzu viele theoretische Überlegungen gestattet, da ihre Wahrheit in einem blinden Vertrauen in die eigene Wahrheit liegt (Bourdieu 1980). Gerade die Tatsache, dass die Soziologen immer hinterher hinken und die unvermeidliche Verspätung der wissenschaftlichen Entwicklung ermöglichen deshalb, dem Urteil Durkheims zufolge, das Überleben von Ausdrucksformen, die wir mythologisch nennen können. Diese mythologischen Wahrheiten verlieren ihre gesellschaftliche Funktion auch nicht in Gesellschaften, in denen die wissenschaftliche Erkenntnis dominiert. Die Vorstellung eines Triumphmarsches des wissenschaftlichen Wissens und eines damit einhergehenden Verfalls traditioneller Wissensformen setzt zumindest implizit voraus, dass eigentlich nur die Wissenschaft fortschreitet, das nichtwissenschaftliche Wissen aber jeder fortschreitenden Dynamik entbehrt. Die Ohnmacht dieses Wissens fände demnach ihre Entsprechung darin, dass die Wissenschaft den Bereich des traditionellen Wissens kontinuierlich einschränkt, es aber in keiner Weise vermehrt oder gar bereichert. Nun bezieht sich das wissenschaftliche Wissen zwar in der Tat auf andere Wissensformen, insbesondere auf das Allgemeinwissen, sie kann es korrigieren, jedoch aufgrund seiner Spezialisierung keineswegs restlos ersetzen (Luckmann 1981). Insofern ist die Wissenschaft geradezu eine der Quellen des Wachstums und der Weiterentwicklung des nichtwissenschaftlichen Wissens (Brzezinski 1970). »Während unser Wissen nach wie vor exponentiell anwächst, wächst unsere zweckdienliche Unwissenheit sogar noch schneller. Darin besteht die von der Wissenschaft generierte Unwissenheit« (Ravetz 1987, 100). Denn die Fortschritte des wissenschaftlichen Wissens und vor allem die seiner praktischen Anwendung bergen immer neue ungelöste Probleme, Sekundäreffekte und Risiken. Bei diesem Licht betrachtet bringt der
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wissenschaftliche Diskurs Unwissenheit geradezu hervor, wenn auch im Sinn einer beglaubigten, »certified ignorance«. Die Ausweitung unseres Wissens geht also durchaus nicht notwendigerweise auch mit einer gleichzeitigen Reduktion des Nichtwissens einher und sie schließt auch nicht ein, dass die Reichweite dieses Wissens immer größer wird. Ein Wissenszuwachs kann im Gegenteil für eine explosionsartige Zunahme von Verwirrung und Verunsicherung und für eine abnehmende Vorhersehbarkeit der Konsequenzen künftiger Handlungen sorgen. Sicherlich eröffnet die Wissenschaft eine wachsende Vielfalt von Möglichkeiten, aber »mit jeder Befriedigung, jeder Erkenntnis bringt die Wissenschaft eine Masse neuer Fragen hervor, einen ganzen Strom menschlicher Unzufriedenheit« (Richta 1972, 249). Eine der augenfälligsten dieser neuen Formen der Unwissenheit ergibt sich daraus, dass wir immer weniger in der Lage sind, den Verlauf in Gang gesetzter Entwicklungen vorherzusagen. Gerade solche Veränderungen, die durch wissenschaftliche Entwicklungen in Gang gesetzt wurden, entziehen sich paradoxerweise der rationalen Kontrolle, Planung, Programmierung oder Vorhersage. Bedrohliche, nicht einkalkulierte Konsequenzen und schwer erkennbare Risiken spielen heute eine wichtigere Rolle als noch in den sogenannten Industriegesellschaften. Deshalb scheint mir Hermann Lübbes Beobachtung über unsere kollektive Unfähigkeit, die Zukunft zu antizipieren, höchst zutreffend zu sein, denn die Ungenauigkeit der Vorhersagen hat im Verhältnis zum verfügbaren Wissen in der Tat drastisch zugenommen. »Jede frühere Gegenwart«, schreibt Lübbe, »genoss im Verhältnis zu unserer eigenen den kulturell ungemeinen Vorzug, über ihre Zukunft ungleich Genaueres sagen zu können als wir es heute vermögen« (1987, 95). Er bezieht sich mit seinen Beobachtungen zum Verhältnis von Unsicherheit und Quantität des Wissens vor allem auf das technische Wissen. Hier nimmt die Quantität der unsere strukturellen Lebensbedingungen betreffenden Veränderungen im Verhältnis zum verfügbaren Wissen besonders schnell zu. Insofern haben sich die Genauigkeit und Verlässlichkeit unserer Prognosen mit dem Wissensfortschritt nicht verbessert, sondern eher vermindert und die moderne Gesellschaft wird zunehmend anfälliger. Diese Tendenz verschärft sich, obwohl oder gerade weil unser Wissen über Natur und Gesellschaft ständig zunimmt. Paradoxerweise kann uns gerade die Zunahme unseres Wissens auch eine bessere Kenntnis seiner Begrenztheit
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verschaffen. Wissen ist niemals absolut und je größer seine Reichweite wird, desto mehr wird es von diesem Anspruch ablassen. Angesichts dieser durchaus riskanten Potentiale, welche die Wissensgesellschaft freisetzt, könnte sich ein möglicher Vorbehalt gegen sie im Hinweis auf eine »Expertenherrschaft« (Lieberman 1970) und die daraus folgenden Verluste an Evidenzen und Persönlichkeitsrechten ergeben. Manche behaupten, dass die Technik ihre eigene Politik durchsetzt und dass ihre Imperative letztlich den Interessen herrschender Eliten nützen (McDermott 1969). Solche Warnungen verdienen eine genauere Analyse, da sie häufig auf einer ungenauen Vorstellung der gesellschaftlichen Bedeutung beruhen, die der Zunahme von wissensbasierten Berufen zukommt. D.h. nämlich keineswegs, dass mit dieser Zunahme etwa auch die Differenz zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und dem Allgemeinwissen immer größer wird. Dies legt z.B. Habermas mit seiner Auffassung nahe, dass die Rationalisierung die Lebenswelt zunehmend verarmen lasse und die Distanz zwischen den Expertenkulturen und der Allgemeinheit wachse. Aber diese Entwicklung ist durchaus nicht unvermeidlich. Es gibt keinerlei zwingenden Grund für die Annahme, dass unsere zunehmende Angewiesenheit auf Experten zwangsläufig eine Verarmung des alltäglichen Lebens und seiner gewohnten Wissens- und Verhaltensformen oder eine Zunahme an Manipulations- und Kontrollmöglichkeiten mit sich bringen müsse. Ja es erscheint im Gegenteil wahrscheinlicher, dass die offeneren Zugänge zu Expertenberatungen für die Individuen eher emanzipatorische Konsequenzen haben. Die traditionelle Gleichung von Wissen und Macht hat das Wissen als einen privilegierten Bereich verstanden, der privat kontrollierbar und deshalb nur beschränkt zugänglich sei. Entsprechend wurde der traditionelle Begriff politischer Macht konnotiert mit repressiven Möglichkeiten wie der Beschränkung individueller Freiheiten, der Durchsetzung des eigenen Willens gegen äußere Widerstände, der Erzwingung von Gehorsam unter der Androhung von Gewalt und administrativer Verfolgung, die physische Gewalt nicht ausschloss. Dies sind aber keineswegs die typischen Konstellationen, die Wissen und Macht in den Wissensgesellschaften eingehen. Hier geht es nämlich nicht mehr darum, in welchen Händen die Macht liegt, sondern um Veränderungen ihrer Formen und Inhalte, die auch ihre jeweiligen Mittel und ihre Reichweite nicht unberührt lassen können.
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Außerdem würde die der Wissenschaft zugeschriebene gesellschaftliche Macht einen Grad an Kohärenz und eine Einheit ihrer Interessen voraussetzen, die man unter technischen Experten und in den Diskursen über die Autorität der Wissenschaft vergeblich sucht. Ein verbreitetes Bild der Wissenschaft präsentiert sie als ein auf Konsens errichtetes einheitliches Gebäude, das sich nicht mit der Tatsache vereinbaren lässt, dass wir es eher mit divergenten Gemeinschaften zu tun haben, die ihre Debatten um Forschungsstrategien und die Interpretation von Forschungsergebnissen häufig sehr vehement austragen. Experten können von vornherein nicht als Einheit agieren, denn spezialisiertes Wissen ist perspektivisch und alles andere als einheitlich, so dass von einem möglichen definitiven Konsens keine Rede sein kann. Vielmehr untergräbt die Einsicht, dass die Macht des zunehmenden wissenschaftlichen Wissens konstitutiv mit einer Entdeckung seiner Fragilität und Vorläufigkeit verbunden ist, die Autorität von Experten und mahnt zur Skepsis gegenüber jedem letztgültigen Anspruch auf Unparteilichkeit und Objektivität. Die Erfahrung lehrt, dass »die technischen Kontroversen die Form eines Wettstreits zwischen unterschiedlichen Interpretationen einer Situation haben« (Barnes 1985, 106). Nichts wäre realitätsferner als eine konspirative Elite, die sich friedlich der Objektivität ihrer Verfahren ergeben würde und sich unter einer gemeinsamen Zielsetzung gegen die Nichtexperten verbinden könnte. Die These einer neu entstehenden Klasse und neuer Formen von Klassenkämpfen ist also, zumal angesichts der neuen politischen und ökonomischen Konflikte, überaus fragwürdig (Galbraith 1967; Larson 1984). Denn einmal abgesehen davon, dass die Vorstellung, Experten könnten eine ausreichende Kohärenz ihrer Interessen, ihrer Organisationen und ihrer politischen Solidarität auf bringen, jeder Grundlage entbehrt, so wäre selbst das noch nicht ausreichend für die Bildung einer Klasse. Der traditionelle Begriff der Klasse passt nicht mehr auf Entwicklungen, in denen die Ausbreitung der Wissenschaft in allen gesellschaftlichen Beziehungen zu einer Schwächung der gesellschaftlichen Struktur führt, die der Formierung von Monopolen keine Anhaltspunkte mehr bietet. Solchen Befürchtungen kann man mit einiger Sicherheit entgegenhalten, dass die Experten weit davon entfernt sind, die Macht in der Wissensgesellschaft zu übernehmen. Und das hat gar nichts mit Zurückhaltung oder Machtaversionen zu tun, sondern hängt ganz einfach mit den hoch spezialisierten Angelegenheiten zusammen, denen sie sich widmen.
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Denn gerade die Mobilisierung und Anwendung ihres Expertenwissens und ihrer Fähigkeiten vermindern paradoxerweise – und sicher nicht absichtlich – die Wahrscheinlichkeit, dass diese Gruppe der Experten eine beherrschende gesellschaftliche Stellung einnehmen könnte. In dem Maße, wie das Wissen anwendbar wird und in der Lage ist, Entwicklungen in Gang zu setzen, verringert sich auch der Abhängigkeitsgrad der Klienten von den Experten und sei es auch nur deshalb, weil sie das ihnen zur Verfügung gestellte Wissen in Frage stellen können (Stehr 1994, 363). Ein anderer bereits erwähnter Kritikpunkt, der sich aus geläufigen Analysen der Wissensgesellschaft ableiten lässt, konstatiert eine allgemeine Vereinheitlichung des Wissens. Dem widerspricht aber das Bestehen einer Vielfalt lokaler, regionaler oder nationaler Identitäten, die sich erfolgreich dem weltweiten Homogenisierungsprozess widersetzen und dabei von denselben Gründen profitieren, die wir eben schon angeführt haben, um die Ersetzung aller Wissensformen durch das wissenschaftliche Wissen in Frage zu stellen. Was aber eine weltweite Homogenisierung des Wissens noch unwahrscheinlicher macht, ist die Natur des in unseren Gesellschaften erzeugten und verarbeiteten Wissens selbst: seine konstitutive Angewiesenheit auf Interpretation, sein kontextueller Charakter, die Vielfalt seiner Anwendungsmöglichkeiten und seine flexible Verfügbarkeit. Ralf Dahrendorf hat unterstrichen, dass die Homogenisierung in der Moderne ihre Grenzen an der kulturellen und individuellen Vielfalt ihrer Verzweigungen findet: »Jede Kultur hat die Symbole der Modernität in ihre eigene Tradition integriert; jeder einzelne macht diese Symbole zu einem Teil seines und nur seines Lebens« (1980, 753). Es wäre m.a.W. völlig unangemessen, wollte man die lokalen gesellschaftlichen Kontexte im Sinn eines extremen Verständnisses der Homogenisierung lediglich als passive, ihren Außeneinflüssen schutzlos ausgesetzte Entitäten begreifen. Lokale Situiertheiten bergen nämlich nicht nur Widerstandspotentiale, sondern sie verfügen auch über Mittel, um sich importierte kulturelle Praktiken aktiv »anzuverwandeln«. Kulturelle Praktiken und Produkte legen ihre Gebrauchsweisen und Anwendungsmöglichkeiten keineswegs souverän und ein für alle Mal auf den Rahmen der jeweiligen Anwendungskontexte fest. Wir haben uns daran gewöhnt, das Wissen als Instrument aufzufassen, das die existierenden Machtverhältnisse konsolidiert, als würde der wissenschaftliche Fortschritt stets die jeweils Mächtigen begünstigen, sich Monopolisierungstendenzen willig anbieten und traditionelle Wis-
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sensformen aus dem Weg räumen. Doch diese Vorstellung der Wissenschaft als eines eminent repressiven Instruments im Sinne der Mächtigen ist keineswegs angemessen. Vielmehr müssen wir angesichts der neueren Entwicklungen davon ausgehen, dass es »im neuen globalen Alexandrien der computerisierten Information keine letzte Wahrnehmungssicherheit gibt und dass keine ultimative Interpretation eines Textes auf ein geschriebenes Original oder eine ursprüngliche Autorität verweist. Es ist eine Kultur, die sich auf den Begriff eines unablässig interpretationsbedürftigen Wissens gründet« (Smith 1986, 162). Ein solches Wissen bietet emanzipatorische Potentiale für sehr viele Individuen und Gruppen. Denn gerade die Probleme, die es aufwirft, und die Interpretationsräume, die es öffnet, bergen eine unabsehbare Vielfalt neuer Möglichkeiten (Smith/Wynne 1989). Schon die bloße Notwendigkeit, dass dieses Wissen unablässig re-produziert und von den Akteuren immer wieder neu angeeignet werden muss, hält die Möglichkeit offen, dem Wissen jederzeit gleichsam einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Jeder Aneignungsprozess hinterlässt in ihm seine Spuren, denn im Verlauf dieser Prozesse erwerben die Akteure neue kognitive Fähigkeiten, festigen bereits vorhandene und verbessern generell die Effizienz ihres Umgangs mit Wissen, was ihnen dann wieder ermöglicht, kritischer mit neuen Wissensangeboten umzugehen und noch nicht aktualisierte Handlungspotentiale zu entdecken. Kurz, die gesellschaftliche Verteilung des Wissens ist durchaus kein Nullsummenspiel (Stehr 1994, 516-517).
D IE S TRUK TUR DER W ISSENSGESELLSCHAF TEN Unsere Begriffe von gesellschaftlichen Strukturen sind immer noch weitgehend von den Theorien der Industriegesellschaft beeinflusst. In dieser Gesellschaft konstituieren und legitimieren sich die gesellschaftlichen Hierarchien durch ihre Beziehungen zum Produktionsprozess und den Konsequenzen seiner jeweiligen Organisation. In diesem Sinne gingen fast alle Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft von der Voraussetzung aus, dass die gesellschaftliche, die ökonomische und die kulturelle Wirklichkeit letztlich durch Rationalisierung und Planung bestimmt werde und dass die Kontrollinstrumente in den Händen staatlicher Organisationen konzentriert seien. Daraus konnte man die Folgerung ableiten,
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dass sich individuelle Verhaltensweisen und alle sozialen Bewegungen mit administrativen Mitteln leicht erfassen und kontrollieren ließen. Wenn jetzt aber die Arbeit zunehmend durch Wissensberufe verrichtet wird, die zu den politisch aktivsten Gruppierungen einer Gesellschaft gehören, muss sich damit auch die Konfiguration des politischen Systems modifizieren. Von diesen Veränderungen werden insbesondere auch die Mechanismen der Reproduktion traditioneller Abhängigkeitsverhältnisse betroffen sein. Denn im Zuge der Formation von Wissensgesellschaften haben sich die Handlungsspielräume von Individuen und kleineren Gruppen beträchtlich erweitert, auch wenn man noch nicht davon ausgehen kann, dass diese Erweiterung der operativen Fähigkeiten für alle Handlungsniveaus und alle Akteure gilt. Dennoch bedingen diese Veränderungen auf lange Sicht eine eher schwache und vorläufige staatliche Autorität. Auch in diesem Sinne ist die schon angedeutete Schlussfolgerung berechtigt, dass die Zunahme an Wissen und seine progressive gesellschaftliche Ausbreitung mehr Unsicherheit und Kontingenz mit sich bringen und keine Grundlagen für eine effizientere Herrschaft zentraler gesellschaftlicher Institutionen bietet. In den Wissensgesellschaften nimmt die Anfälligkeit gesellschaftlicher Strukturen beträchtlich zu und zugleich ist die Fähigkeit der Gesellschaft, auf sich selbst einzuwirken, sehr viel höher entwickelt als in früheren Gesellschaften. Aber diese Wissensgesellschaften sind nicht – wie viele Konservative behaupten – deshalb politisch anfälliger, weil sie liberale Demokratien, sondern weil sie eben Wissensgesellschaften sind. Als solche erweitern sie sogar den demokratischen Aspekt der liberalen Demokratien, denn im gleichen Maße, wie sich in ihnen die Partizipationsund Wirkungsmöglichkeiten für Viele vermehren, verringert sich auch die Fähigkeit des Staates, seinen Willen durchzusetzen. Da die »Widerständigkeit« der Umstände gegenüber Machtinteressen wächst, sind die Machtverhältnisse ausgewogener als in den alten Industriegesellschaften. Die Verfassung des reflexiven Wissens reduziert die Fähigkeit der traditionellen Kontrollinstanzen, Disziplin und Konformität zu verlangen und durchzusetzen, und im Gegenzug sind die Möglichkeiten, Gegendruck auszuüben, überproportional gewachsen. Die wissenschaftliche Erkenntnis eröffnet Handlungsmöglichkeiten, die sich unablässig erweitern und verändern. Gegenüber dem orthodoxen Bild der modernen Gesellschaften sollte man daher eher die Fähigkeit der sozialen Akteure zu eigenständigem Handeln, die Flexibilität, Heteroge-
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nität und Anfälligkeit der gesellschaftlichen Strukturen hervorheben und die Möglichkeiten von Individuen oder Gruppen unterstreichen, diese Strukturen nach eigenen Kriterien zu beeinflussen und zu reproduzieren. »Die Wissenschaft wird zu einer Komponente der Politik, weil die wissenschaftliche Form des Realitätsverständnisses dafür genutzt wird, die von den politischen Akteuren artikulierten und vertretenen Interessen zu definieren« (Haas 1990, 11). Die Durchsetzung politischer Interessen gründet sich weitgehend auf Konzeptionen der Gesellschaft, wie sie in der Wissenschaft artikuliert werden. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass eine auf wissenschaftliches Wissen gestützte Politik auch eine Politik der Opposition und des Widerstandes sein kann. Denn gerade weil der moderne wissenschaftliche Diskurs keine monolithischen Besitztümer beanspruchen kann, wird er zu einer Ressource für das politische Handeln von Individuen, Gruppen und Organisationen, die ganz unterschiedliche Interessen und Ziele verfolgen. In diesem Sinn ist die Wissenschaft nicht nur ein Instrument der Vereinheitlichung, mit dessen Hilfe man Konflikte aufschieben und Spannungen ausgleichen kann, denn ihr Wissen vermehrt die Handlungsfähigkeit nicht nur der Mächtigen, sondern Aller. Die meisten gesellschaftlichen Analysen gehen davon aus, dass die moderne Gesellschaft eine zivilisatorische Einheit sei, die zu einer Homogenisierung aller Lebensbereiche und Ausdrucksformen tendiert. Viele Beobachtungen aus dieser Perspektive implizieren einen rigorosen Determinismus, weil sie nicht verstehen können, dass das für die Wissensgesellschaften konstitutive Wissen nicht mehr das disziplinierte und exakte Wissen der positiven Wissenschaften ist, sondern ein flexibleres und zerbrechliches Wissen, auf dem sich kaum noch eine starre gesellschaftliche Organisation errichten lässt. Vor diesem Hintergrund kann der Verlauf der Modernisierungsprozesse nicht mehr als linear und zielgerichtet begriffen werden. Selbst die Begriffe der funktionellen Differenzierung und Rationalisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die man als Triebkraft der modernen Gesellschaften verstanden hat, müssen offeneren Versionen der sozialen Entwicklung weichen. So ist z.B. auch der Grundsatz einer Fragmentierung der Gesellschaft, die ihr Zentrum verliert und sich in autonome Subsysteme ausdifferenziert, dahingehend zu korrigieren, dass auch gegenläufige Bewegungen noch erfassbar sind. Weniger deterministische Gesellschaftskonzeptionen sprechen bereits von Prozessen der Integra-
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tion und Entdifferenzierung (Tilly 1984, 48), die ihrerseits die dominierende Tendenz der modernen Gesellschaften in die Richtung einer größeren Veränderbarkeit, Fragilität und Kontingenz der gesellschaftlichen Bindungen modifizieren können. Vor dem Hintergrund dieser Debatten ist die Vorstellung einer einzigen Entwicklungstendenz mehr als fragwürdig geworden. Bezeichnend für die gegenwärtigen Entwicklungen ist vor allem die Tatsache, dass viele der gewohnten Grenzziehungen nicht mehr als Barrieren fungieren und sich bisher ungenutzte Möglichkeiten auftun, scheinbar undurchdringliche Grenzen zu überschreiten. Der Modernisierungsprozess lässt sich nicht mehr im Sinne eines evolutionären und zielgerichteten Verlaufes mit vorherbestimmbaren Stadien verstehen, sondern er erweist sich als ein offener, häufig sogar reversibler Prozess einer Ausweitung der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit. Modernisierung differenziert sich in vielfältige, nicht lineare Entwicklungslinien einer Vervielfältigung operativer Möglichkeiten aus. Die Ausweitung einer gesellschaftlichen Kontrolle des Wissens ist eines der Phänomene, die uns nötigen, den Status und Begriff des Wissens zu modifizieren, die ihm die Kritiker der wissenschaftlichen und technologischen Zivilisation zuschreiben. Denn die Existenz dieser Kontrolle verweist darauf, dass sich die Wissenssphäre keineswegs verselbständigt hat, sondern im Gegenteil für Kontrollen durch andere gesellschaftliche Bereiche, wie das Recht oder die Politik, empfänglicher geworden ist. In den Anfängen ihrer Entwicklung lassen sich Wissenschaft und Technik leicht in den Dienst jedweder Entscheidung stellen. Der esoterische und für Viele unzugängliche Charakter der Wissenschaft macht das Wissenschaftssystem zu einem Bereich, der Unabhängigkeit und Objektivität symbolisiert, und häufig hat sich dieser Bereich eine Autorität angemaßt, die sich willig in den Dienst umstrittener Entscheidungen stellen ließ. Stets war die Entwicklung von Wissenschaft und Technik deshalb auch von einem gewissen Misstrauen begleitet, ohne dass man jedoch davon ausgehen konnte, dass dies ihre Richtung ändern könnte. In der heutigen Gesellschaft gibt es dazu eine merkwürdige Koinzidenz. Denn parallel zu einem Autoritätsverlust der staatlichen Administration ist auch eine wachsende Besorgnis wegen der negativen Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu beobachten. Die Umweltprobleme, die Konsequenzen des Gebrauchs bestimmter technischer Artefakte, die Wahrnehmung, dass nicht alle gesellschaftlichen Probleme
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rational kontrollierbar oder durch Planung vermeidbar oder lösbar sind, all dies sind Anzeichen dafür, dass Wissenschaft und Technik kein allgemeines und fragloses Vertrauen mehr genießen. Es ist, als ob die Verminderung der Angst durch eine Zunahme an Besorgnis kompensiert würde. Es ist daher kein Zufall, dass sich die gesellschaftliche Kontrolle wissenschaftlicher Erkenntnis und technischen Wissens beträchtlich ausgeweitet hat. In allen entwickelten Ländern gibt es komplizierte Vorschriften und eine große Anzahl von Organisationen, die damit beschäftigt sind, sei es pharmazeutische Produkte, die Anwendung riskanter Techniken, Forschungsvorhaben, Patente oder die Lebensmittelkontrolle zu registrieren, zuzulassen, zu verifizieren und zu beaufsichtigen. Wir leben nicht mehr in der Epoche einer autonomen und gegen jede Intervention von außen misstrauischen wissenschaftlichen Sphäre. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse führt dazu, dass sich dieses Wissen immer weiter in externe, nicht wissenschaftliche Kontexte erstreckt. Eine der Konsequenzen dieser Einschreibung wissenschaftlicher Erkenntnisse in einen dem Wissenschaftssystem externen Kontext besteht darin, dass die hier wirksamen Kontrollmechanismen das Wissen beeinflussen, das sich den Selektionsprozessen in diesen Kontexten nicht entziehen kann. Deshalb kann eine politische Aufsicht über das Wissen heute auch nicht mehr als ein inakzeptabler Bruch mit wissenschaftlichen Normen beklagt werden. In dem Maße, in dem das Wissen zu einer konstitutiven Komponente der Gesellschaften wird, kann sich die Produktion, Reproduktion, Distribution und Anwendung des Wissens der öffentlichen politischen Diskussion und rechtlichen Verfügungen nicht mehr entziehen. Die Produktion und Distribution des Wissens sind inzwischen zu geläufigen Gegenständen politischer Fragestellungen und ökonomischer Entscheidungen geworden. Die Wissensgesellschaft versetzt uns in eine Lage, in der nicht mehr wenige Akteure fast alles, sondern eher viele Akteure wenig kontrollieren. Dieses Wissen ist allen leichter zugänglich, so dass es die traditionellen Kontrollinstanzen schwerer haben, ihre Reglementierungen noch durchzusetzen. Die Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, Widerstand zu leisten und Gehör zu finden, sind für die Individuen und in den unterschiedlichsten Gruppierungen der Zivilgesellschaft überproportional angewachsen. Mit der Entdeckung dieser Möglichkeiten öffnen sich auch neue Formen der freien Betätigung und der Alptraum fein gesponnener Manipulationsnetze verliert seine Wirkung. So muss mit dem Fortschritt der
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Wissenschaft zwangsläufig auch das Vertrauen in sie geringer werden. In der Tat hält das ungläubige Staunen über ihre Fähigkeiten, das einst die Austreibung des vermeintlichen Geistes in den Maschinen so lange verhindert hatte, bis wir deren Funktionieren erkannten, heute nicht mehr lange an. Wissen heißt, die prekäre Verfassung des Wissens zu erkennen, seine Verstreuung, seine leichte Zugänglichkeit, seine Empfänglichkeit für Kritik, seine Schwäche gegenüber der Sturheit des gesunden Menschenverstandes und tief verwurzelten Gewohnheiten, kurz: Wissen heißt zu erkennen, dass sich das Leben nur in beschränktem Maße beherrschen lässt und dass die letzte Garantie der persönlichen Freiheit die Trägheit der Dinge ist, mit denen wir umgehen müssen.
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5. Der Dialog zwischen Wissen und Macht
Das alte Problem des Zusammenhangs von Wissen und Macht, das auf Platons Theorie der Philosophenkönige zurückgeht, stellt sich heute in der Form zweier unterschiedlicher Verkörperungen eines Wissens, das sich für die Politikberatung anbietet. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums ist dies die Gestalt des Experten und auf der linken die des Intellektuellen. Der Experte repräsentiert die Überlegenheit der Wissenschaft und ist insofern der Anwalt der Objektivität, während der Intellektuelle eine moralische Überlegenheit geltend macht und statt des objektiven ein kritisches und engagiertes Wissen anbietet. Beide Gestalten sind jedoch Versionen eines Wissensmodells, dessen anachronistischer Charakter auf sie abfärbt: des Modells des »speaking truth to power« (Wildavsky 1979), das davon ausgeht, dass Experten und Intellektuellen die Unsicherheit fremd ist, in der wir anderen Sterblichen leben. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mit dieser Formulierung die Dinge etwas vereinfache und mir nicht wenige Differenzierungen erspare, aber dieses Schema kann uns zumindest helfen, besser zu verstehen, warum das Modell eines Wissens, dem die Politik zu folgen hätte, der Vergangenheit angehört und nicht mehr den komplexen Zusammenhängen entspricht, die das Verhältnis von Wissen und Macht in unseren heutigen Gesellschaften in der Tat bestimmen. Heute müssen wir die Bedingungen, unter denen sich politisches Denken in politischen Prozessen geltend machen kann, anders denken. Bekanntlich hat sich das Wissen in der Wissensgesellschaft insofern verändert, als es nicht mehr nur ein Element der ökonomischen Produktivität ist, sondern auch eine zunehmende Bedeutung für die gesellschaftliche Legitimation politischer Entscheidungen gewinnt. Wissenschaftliche Gutachten, Studien und Expertenkommissionen sind geläufige Bestand-
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teile der uns vertrauten politischen und gesellschaftlichen Landschaft. Und zweifellos gehört der Wissenstransfer zwischen Sozialwissenschaften und Regierungsinstitutionen zu den Aufgaben, die uns in zunehmendem Maße beschäftigen. Wenn wir deshalb die aktuellen Zusammenhänge zwischen Wissen und Macht verstehen wollen, müssen wir den veränderten Status eines Wissens berücksichtigen, das nicht mehr mit den traditionellen Insignien einer Autorität ausgestattet ist, sondern 1) immer weniger ein exklusives Produkt von Experten als vielmehr das Resultat einer gesellschaftlichen Konstruktion ist und 2) immer stärker mit dem Bewusstsein seiner eigenen Grenzen und der Einsicht einhergeht, dass mit seiner Ausweitung auch ein wachsendes Nichtwissen untrennbar verbunden ist. Das Wissen, dessen eine demokratische Regierung heute bedarf, muss sich in diesen neuen Kontext einschreiben. Die Bedingungen, unter denen politisches Handeln heutzutage steht, lassen sich in einer treffenden Formulierung von Ravetz zusammenfassen: »Die Tatsachen sind unsicher und die Werte umstritten, wichtig ist, was gerade ansteht und dringlich, was entschieden werden muss« (Ravetz 1999, 649). Die Probleme, vor die uns drohende Risiken stellen, ziehen die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und öffentlicher Meinung neu. Die Uneinigkeit der Experten, die Unwägbarkeiten wissenschaftlicher Risikoabschätzungen und das bedrohliche Potential wissenschaftlicher Innovationen haben dazu beigetragen, das traditionelle Bild der Wissenschaft als einer Instanz der Beschaffung objektiven, sicheren und universell gültigen Wissens in Frage zu stellen. Zwar vermehrt die Wissenschaft zweifellos unser Wissen, aber mit ihm zugleich auch die Unsicherheit und das Nichtwissen der Gesellschaft, so dass wir uns von einem Verständnis der Wissenschaft als einer objektiven und fraglosen Grundlage politischen Handelns verabschieden müssen. Das Verhältnis zwischen Wissen und Macht ist heutzutage voller Paradoxien. Man verlangt von der Wissenschaft, dass sie relevantes Wissen für kollektive Entscheidungen bereitstellt, deren Tragweite den gesellschaftlichen Rahmen übersteigt. Zugleich lässt sich aber auch ein Vertrauensschwund gegenüber der Wissenschaft oder doch zumindest eine Neubestimmung ihrer traditionellen Rolle als der anerkannten Beschafferin gesicherten Wissens beobachten. Wie das Eurobarometer Social Values, Science and Technology aus dem Jahre 2005 ergab, genießt die Wissenschaft in der öffentlichen Meinung zwar nach wie vor größeres Vertrauen als andere gesellschaftliche Institutionen, aber dennoch gehört ein ungebrochenes
5. Der Dialog zwischen Wissen und Macht
Vertrauen in die Objektivität wissenschaftlicher Expertisen der Vergangenheit an. Polemisch könnte man formulieren, dass in der Wissensgesellschaft die Bedeutung von Wissen zu, die »Relevanz des Wissenschaftssystems aber ab[nimmt]« (Willke 2002, 12). Eine Wissensgesellschaft bemisst sich mithin nicht an der Bedeutung der Wissenschaft, sondern des Wissens. Man wird diesen Gesellschaftstypus nicht verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, dass er in seiner Dynamik und seinen Konflikten eine Vielfalt von Wissensformen beinhaltet, die auch untereinander konkurrieren können. Deshalb muss sich der politische Umgang mit diesem Wissen als eine Politik seiner Diversität etablieren (Rammert 2003, 501), die eine Vielfalt von Akteuren und Szenarien einschließt, in deren Horizont sich Interpretationen und Handlungsformen ausbilden. Parallel dazu lässt sich konstatieren, was Jasanoff eine »periphere Blindheit der modernen Staaten« genannt hat, die das Bekannte zu Ungunsten des Unbekannten privilegieren, allzu sehr dem Bild vertrauen, das sie sich von der Realität machen, sich auf das unmittelbar Bevorstehende konzentrieren und zögern, sich auf unbestimmte, synergetische oder langfristige Risiken einzulassen. Von hier aus gesehen könnte man sagen, dass sich unsere wichtigsten Forderungen an die Politik in einem Erkenntnisimperativ gegenüber der eintönig wiederholten Behauptung zusammenfassen lassen, dass die Instrumentarien ihres Wirklichkeitsverständnisses offenkundig verbesserungsfähig sind. Dieser Imperativ betrifft ein Lernverhalten, das zum eigentlichen Ziel gesellschaftlicher Entwicklung werden muss. Aber »die Lernfähigkeit wird«, so Jasanoff, »durch den Rahmen begrenzt, in dem die Institutionen handeln müssen. Institutionen nehmen nur das wahr, was ihre Diskurse und Praktiken sichtbar machen« (Jasanoff 2005, 386). Wenn dem so ist, dann markiert die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Wissen und Macht neu denken ließe, einen Dreh- und Angelpunkt der heutigen Demokratien. Aus dieser Perspektive wollen wir nun die Möglichkeit einer neuen Politik, d.h. einer Regierung des Wissens und aufgrund seiner untersuchen (Schuppert/Vosskuhle 2008). Es geht dabei um die Gesamtheit der Formationen und Prozesse, in denen die vom wissenschaftlichen Wissen und Nichtwissen ausgelösten Konflikte und Risiken gesellschaftlich bestimmt, behandelt und gestaltet werden. Die Bühne dieses Geschehens ist der öffentliche Raum, jene hybride Agora, auf der Wissenschaft und Gesellschaft, Markt und Politik interagieren (Nowotny/Scott/Gibbons 2004, 253). Die Untersuchung dieser kollektiven Diskussionsprozesse
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soll uns dann Kriterien in die Hand geben, um zu beurteilen, ob die politische Macht und die öffentlichen Institutionen das für ihre Entscheidungen nötige Wissen zur Verfügung haben. Denn man darf nicht vergessen, dass eine der Quellen für die Legitimität dieser Entscheidungen in ihrem Rationalitätsversprechen besteht, d.h. dass man weiß, was man tut, wenn man beispielsweise das Rauchen in öffentlichen Räumen verbietet, curriculare Inhalte aufstellt oder einen bestimmten Impfstoff einführt. Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates hat sich auch seine Aufgabe ausgeweitet, seine Entscheidungen im Rahmen einer systematischen Aufbereitung des Wissens zu begründen.
D IE M ACHT DES W ISSENS UND DAS W ISSEN DER M ACHT Wenn wir von Politiken des Wissens sprechen, dann beziehen wir uns insbesondere auf zwei Aspekte: auf die Regierung des Wissens und auf das Wissen der Regierung, d.h. auf die Frage, wie man das Wissen regiert und wie das Wissen beschaffen ist, aufgrund dessen die Gesellschaft regiert wird. Im Blick auf diese zwei Angelpunkte stellen sich eine Reihe weiterer Fragen, die für eine demokratische Gesellschaft von größter Bedeutung sind, die nicht nur aus legitimierten Entscheidungen besteht, sondern auch über das ihnen entsprechende Wissen verfügt. Der Begriff Demokratisierung bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Produktion des Wissens, seine allgemeine Verfügbarkeit, den Zugang zu den Expertenkulturen und auf das Wissen, aufgrund dessen regiert wird. Die Wissensdemokratie bedarf der Reflexion auf die Verteilung des Wissens in der Gesellschaft, seine Begründungsfunktion für Autorität und wirtschaftliches Wachstum und seinen Einfluss auf die Machtverhältnisse. Wenn Wissen eine zentrale Komponente der heutigen Gesellschaften ist, dann können sich die Bereiche seiner Produktion, seiner Regulierung und seiner Verteilung nicht der expliziten politischen Auseinandersetzung entziehen. Die Zentralstellung des Wissens als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzung wird schon an der Konkurrenz von Politik und Wirtschaft deutlich, die um es wetteifern, sie zeigt sich aber auch daran, dass ideologische Konfrontationen häufig als wissenschaftliche Dispute ausgetragen werden, in denen das Wissen entweder das Motiv der Auseinandersetzung oder der Legitimationsgrund beider Seiten ist.
5. Der Dialog zwischen Wissen und Macht
a) Eine Wissenspolitik hat in erster Linie mit einer Regierung des Wissens zu tun. Der Anspruch, das Wissen politisch zu regulieren, ist durchaus nicht neu. Er war schon das erklärte Ziel der perversesten Versionen des Totalitarismus im vergangenen Jahrhundert, und er macht sich immer noch in den Versuchen unterschiedlicher Gruppen und Institutionen geltend, die Erkenntnis zu disziplinieren, indem sie etwa bestimmte historische Ereignisse leugnen oder Evolutionstheorien vom Unterricht fernhalten wollen. Eine Demokratisierung des Wissens hat jedoch offensichtlich nichts mit seiner politischen Kontrolle zu tun und sie kann sich auch nicht darin erschöpfen, dass Wissensfragen von nun an durch demokratische Abstimmungen entschieden werden. Das wachsende Interesse an einer Regulierung des Wissens (Stehr 2003) und der Kontrolle der Anwendungsbedingungen technischen und wissenschaftlichen Wissens setzt einen neuen Akzent auf die gesellschaftliche Legitimation der Wissenschaft. Denn Innovation in Begriffen des Wissens ist zu einer Hauptquelle ökonomischer Wertschöpfung und gesellschaftlicher Macht geworden, und die Art und Weise der Regelung dieses Wissens ist der beste Gradmesser für die Zivilisiertheit einer Gesellschaft und ihrer Institutionen. Regulierung muss durchaus nicht Behinderung des Wissens bedeuten, sondern kann in der Förderung wünschenswerter Praktiken, dem Aufweis neuer Handlungsmöglichkeiten und Entwicklungsoptionen oder der Bereitstellung von Anwendungsbedingungen bestehen. Eine demokratische Regierung des Wissens bezieht sich von vornherein auf kollektive Entscheidungen über technisches Wissen und technische Erfindungen, deren gesellschaftliche Funktionen und Konsequenzen umstritten sind. Die Entwicklung einer Wissenspolitik ist vor allem eine Reaktion auf die außerordentliche Geschwindigkeit, mit der die heutigen Gesellschaften neues Wissen und neue technische Möglichkeiten hervorbringen. Die kollektive Furcht vor den Konsequenzen der wissenschaftlichen Entwicklung hat uns in eine neue Phase der Beziehungen zwischen dem Wissen und der Gesellschaft befördert, in der eine Kontrolle, Regulierung oder eine Regierung des Wissens unabweisbar wird. Von hier aus betrachtet bewegt sich eine Wissenspolitik auf einem sehr schwierigen und umstrittenen Problemfeld, auf dem sie Innovationsoptionen, die Freiheit der Forschung und unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmungsweisen noch unbekannter Risiken oder schwer voraussagbarer Konsequenzen ausgleichen muss.
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Mit einer solchen Wissenspolitik gewinnen nicht nur wissenschaftliche Beurteilungskriterien an Bedeutung. So sind z.B. bei Entscheidungen über die Finanzierung wissenschaftlicher Aktivitäten nicht nur Kriterien wissenschaftlicher Exzellenz, sondern auch des kollektiven Nutzens im Spiel. Der ganze Problemkomplex dieser mit der Regulierung des Wissens in einer Wissensgesellschaft zusammenhängenden Fragen wird unsere künftigen ideologischen, politischen und Rechtsstreitigkeiten immer mehr beschäftigen. Diese Debatten werden sich zunehmend um den Sinn, die Moralität, die Verantwortung, die ökonomischen Vorteile oder die ökologischen Kosten wissenschaftlicher und technologischer Innovationen drehen müssen. Kurz, die Kontrolle des Wissens ist zu einem zentralen Problem der neuen demokratischen Bürgerlichkeit geworden. Deshalb ist die Vermutung durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass wir möglicherweise schon zu viel wissen, oder etwas weniger provokativ ausgedrückt, dass noch keine Kriterien zur Verfügung stehen, um dieses Wissen in seiner Vielfältigkeit und Divergenz im Gleichgewicht zu halten. Es geht dabei gar nicht nur um die exzessive Anhäufung trivialer und für die Praxis nutzloser und irrelevanter Daten, sondern vor allem um die Möglichkeit, dass bestimmte Innovationen katastrophale Konsequenzen zeitigen können, wenn nicht zugleich Kriterien der Verträglichkeit, Gleichheit oder Gerechtigkeit Anwendung finden. Die Bedeutung der Wissenschaftspolitik gründet darin, dass für eine angemessene Beurteilung neuer Erkenntnisse eine Vielfalt von Kriterien nötig ist. Wahrheitskriterien allein sind nicht mehr ausreichend, wenn nicht zugleich auch nach der demokratischen Legitimation oder der Angemessenheit und Verträglichkeit des Wissens angesichts der Belange der Natur gefragt wird. b) Die zweite Dimension einer Wissenspolitik ist das Wissen der Regierenden. Denn wer rational handeln will, bedarf dafür eines bestimmten Wissens. Deshalb hat der Staat stets den Anspruch erhoben, ein rational handelnder Akteur zu sein. Wie Norbert Elias eindrücklich dargelegt hat (1977), ist der moderne Staat in seinen Anfängen mit der Entstehung von Schlüsselmonopolen verbunden, die sich auf damals unerlässliche Regierungsinstrumentarien bezogen, wie die staatliche Gewalt und Autorität, das Recht und auch den wirksamen Gebrauch des Wissens. Was vor allem Letzteres betrifft, so stehen wir heute vor der Notwendigkeit, von einem Wissen, wie es für die klassische Staatsregierung nötig war, zu einem Wissen überzugehen, das den Erfordernissen einer Regie-
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rung der fortgeschrittenen Wissensgesellschaft und ihrer Innovation gerecht wird. Das Hauptproblem einer neuen politischen Kultur besteht in der Produktion und Verfügbarkeit von solchem Wissen. Neue Aufgaben der Politik, wie die Vermeidung von Risiken, die Regulierung des Finanzmarktes, die Biopolitik oder die Umwelt, sind Herausforderungen, die zunächst einmal die Generierung neuen Wissens und seine allgemeine Verfügbarkeit verlangen. Der traditionelle Begriff der Regierung geht von einer klaren Unterscheidung zwischen ihrem Subjekt und ihrem Objekt aus. Diese Voraussetzung wird heute zunehmend brüchig und der einst als souveränes Kontrollzentrum verstandene Staat hat sich mit der Anerkennung der Pluralität gesellschaftlicher Akteure in eine eher kooperative Form der Machtausübung transformiert (Mayntz 2006). Die politische Autorität sieht sich nicht einer einfachen und passiven Gesellschaft gegenüber, sondern Subsystemen und politischen Akteuren, die sich nur schwer unter Kontrolle halten lassen. Hierbei geht es im Grunde um die Frage, wer wen, mit welchen Mitteln und welchem Erfolg kontrolliert. Der Gesichtspunkt der Regierung muss dabei vor allem der Tatsache Rechnung tragen, dass die gesellschaftliche Vielfalt sowie die Dynamik und Komplexität der anstehenden Aufgaben nicht mehr nach einer zentralen Regierungsinstanz verlangt, sondern auf ein Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Instrumentarien verweist. Hatten die klassischen Staatstheorien ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das Regierungssubjekt gerichtet, so wenden sich die neuen Regierungstheorien insbesondere den Strukturen gesellschaftlicher Regulierung zu. Was das der Regierung zur Verfügung stehende Wissen betrifft, so wird von ihr ein neuer Umgang mit diesem Wissen verlangt, der sich dessen Vorläufigkeit und seiner vervielfältigten gesellschaftlichen Aspekte bewusst wird. Wenn sich unsere Erfahrungen immer offensichtlicher als vorläufig erweisen, dann gilt es eine besondere Sensibilität für die Abweichungen und Unregelmäßigkeiten zu entwickeln, die ihren Verlauf begleiten. Der Sinn, der dem Begriff der Regierung vor diesem Hintergrund noch zukommen kann, besteht dann in der Initiierung von Prozessen, die es erlauben, den öffentlichen Raum unter alternativen Perspektivwinkeln zu beobachten. Denn das Regierungssubjekt ist nicht mehr ein souveräner Urheber von Entscheidungen, sondern es besteht in einer Vielfalt von Autoren, die über Wissen verfügen, auf das man nicht ver-
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zichten sollte. In diesem Sinn müsste Regieren als ein Prozess reflexiver Koordination, d.h. als Kommunikation verstanden werden. Das zentrale Problem der Regierung einer Wissensgesellschaft besteht, so gesehen, in der Organisation der Koproduktion des Wissens. Dafür werden Verfahrensweisen benötigt, die aus einer normalerweise spezialisierten, vielfältigen und fragmentierten sozialen Intelligenz Nutzen ziehen können. Das Problem demokratischer Gesellschaften besteht in einer Artikulation und Organisation dieses Wissens, die seinen in der Wissensgesellschaft angesammelten Reichtum an Ideen, Erfahrungen, Perspektiven und Innovationen nicht verspielt. Die Qualität der kollektiven Willensbildung hängt von der Qualität der kollektiven Ausbildung des Wissens ab (Willke 2002, 174). Denn in einer Zeit der Auflösung hierarchischer Entscheidungsstrukturen zugunsten von Dezentralisierung und Individuierung ist das Expertenwissen kein Monopol staatlicher Bürokratien und Planung mehr, sondern wird zu einem gesellschaftlich verteilten Gut. Eine Anforderung, die in unseren Gesellschaften immer dringlicher wird, besteht darin, die traditionellen Regeln der Organisation kollektiver Lernprozesse neuen Bedingungen anzupassen und ihre Lernfähigkeit durch die Einführung von Mechanismen der Selbstbeobachtung programmatisch zu verbessern. Es geht dabei um nichts Geringeres als die Institutionalisierung einer höheren Reflexivität vermittels geeigneter Strukturen und Verfahrensweisen. Denn wir werden künftig unter Bedingungen immer größerer Unsicherheit lernen und die Schwierigkeiten und Konflikte verarbeiten müssen, welche diese Aufgabe mit sich bringt. In genau diese Richtung zielt die demokratische Beratungstheorie, die sich der Tatsache bewusst ist, dass politische Diskussionsprozesse unter diesen kollektiven Herausforderungen wirkliches und nicht nur taktisches Wissen generieren müssen. Die wichtigste Regierungsfunktion in der Wissensgesellschaft besteht in der Konstitution der Bedingungen der Möglichkeit einer kollektiven Intelligenz. War das fundamentale Anliegen des modernen Staates zuerst die Verhinderung des Bürgerkrieges und dann im Wohlfahrtsstaat die Bekämpfung der Armut, so wird von einer Regierung der Wissensgesellschaft vor allem verlangt, die Grundlagen für eine optimale Ausnutzung der Ressource »Wissen« zu schaffen. Aus der Perspektive der Vermeidung von Risiken und Gefahren besteht eine ihrer wichtigsten öffentlichen Aufgaben in der Entwicklung von Verfahren, die der Un-
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wissenheit dort begegnen können, wo sie systemische Risiken birgt. Und vom Gesichtspunkt einer optimalen Nutzung des Wissens geht es darum, die strukturellen Bedingungen zu schaffen, die aus kollektiver Intelligenz und Innovation die fundamentalen Kompetenzen einer Gesellschaft machen.
E XPERTENWISSEN UND POLITISCHE B ER ATUNG In den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es intensive Debatten über Wissenschaft und Technik, in denen auf der einen Seite deren illegitime Einflussnahme auf die Politik attackiert und auf der anderen von ihnen das Ende der Ideologien erwartet wurde. Eine technokratische Rechte und eine technologiekritische Linke kamen zumindest in einer positivistischen Konzeption wissenschaftlichen Wissens überein, die dem Wissen einen objektiven Status zuerkannte, der Politik letztlich entmachten oder gar unnötig machen sollte. Im Kontext dieser Debatten wurde deshalb auch die Rolle der Experten im politischen Prozess diskutiert. Im Horizont der seitherigen Veränderungen des Wissens zeichnen sich wichtige Konsequenzen aus diesen Überlegungen für den Begriff der politischen Beratung ab. Entgegen allen technokratischen Träumen können wir inzwischen davon ausgehen, dass die Wissenschaft nur eine Stimme unter anderen in einem Konzert ist, in dem auch politische oder ethische Logiken einen Ort als legitime Gesichtspunkte für Entscheidungsfindungen beanspruchen. Die Wissenschaft ist hierbei auch beratend tätig, kann aber keinen der anderen Gesichtspunkte ersetzen. So gesehen ist die Wissensgesellschaft auch eine Beratungsgesellschaft (Schützeichel/Brüsemeister 2004), d.h. eine Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche aufgrund der Zentralstellung des Wissens kognitiver Kompetenzen bedürfen, über die sie nicht immer verfügen, zu denen sie aber prinzipiell Zugang haben: Beratung brauchen nicht nur Regierungen und Organisationen, sondern auch Studenten, Ehepaare und selbst die Seelen. Deshalb haben die heutigen Gesellschaften ein engmaschiges Netz von Beratungstätigkeiten gewoben, das den Bedürfnissen nach einem hohen Grad an Handlungsreflexivität in Kontexten Rechnung trägt, die immer mehr Informationen voraussetzen und eine wachsende Verpflichtung zur Rechtfertigung mit sich bringen. Entscheidungen müssen sich mit Expertenwissen wappnen, aber in dem Maße,
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wie das Expertenwissen die Reflektiertheit der Entscheidungen steigert, trägt es auch dazu bei, dass diese sich ihrer Dimension der Kontingenz bewusst werden. Dieses Wissen ist insofern zugleich das Resultat und die Ursache einer wachsenden Reflexivität des sozialen Lebens. In der Tat ist Politik heute nicht ohne einen ständigen Rückgriff auf Expertenwissen machbar. Dieses Wissen ist die wichtigste Ressource für eine Politik, die riskante und umstrittene Entscheidungen treffen muss. Es gibt heute kaum noch einen Bereich der öffentlichen Verwaltung, der nicht in irgendeiner Weise Expertenwissen für die Information und Legitimation bestimmter Entscheidungen in Anspruch nehmen muss. Ließe sich dieser Befund im Sinn einer Rationalisierung der Politik aufgrund politischer Beratung deuten? Wenn man sich heute auf die Notwendigkeit politischer Beratung beruft, so beinhaltet das keineswegs den Glauben an eine vermeintliche Objektivität, der sich die Politik anzupassen hätte. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil gerade das sich enorm vervielfältigende Expertenwissen diesem Glauben jede Grundlage entzieht. Welchem Experten sollte man angesichts ihrer Vielzahl und sehr häufig entgegengesetzter Expertisen Glauben schenken? Die Vervielfältigung des Wissens impliziert zugleich eine Schwächung seiner Stellung als imperative Instanz, und da die Macht der Experten sich mit ihrer wachsenden Anzahl vermindert, wird das Expertenwissen im selben Maße problematisch, wie man auf es zurückgreift: »Die Risikogesellschaft ist eine tendenziell selbstkritische Gesellschaft, in der Experten durch Gegenexperten relativiert und entthront werden« (Beck 1996, 32). Die Vervielfältigung des sich verallgemeinernden und auffächernden Expertenwissens hat zur Folge, dass es kein Privileg eines Staates oder einer Regierung mehr ist, sondern im Prinzip jedem Staat und jeder gesellschaftlichen Gruppierung zugänglich ist. Anstatt einer vielfach vermuteten oder befürchteten Technokratie von Experten erleben wir heute in Wirklichkeit eher eine globale Demokratisierung des Expertenwissens. Die Beziehungen zwischen Wissen und Macht sind sehr viel komplexer geworden, als es die These von der Unterordnung der politischen Macht unter das Wissen suggeriert hatte. Immer wieder können wir im Gegenteil eine machtpolitische Instrumentalisierung von Expertenwissen zur Legitimation vorgefasster Entscheidungen beobachten. Aber auch die Welt der Experten ist ihrerseits durchaus nicht friedlich und konfliktfrei, ja zuweilen lassen sich politische Konflikte geradezu als Übersetzun-
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gen von Kontroversen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft interpretieren. Selten dient Wissenschaft der Lösung politischer Konflikte, zu denen wissenschaftliche Kontroversen meistens eher verschärfend hinzutreten. Die bloße Tatsache, dass es für jede Expertise Gegenexpertisen gibt, trägt zum Abbau der prätendierten Sicherheit wissenschaftlichen Wissens bei. Immer häufiger tragen Expertenurteile, weit davon entfernt, eine Debatte definitiv zu entscheiden, zu einer Vermehrung der Perspektiven bei und bringen neue Konsequenzen ans Licht, die ebenfalls berücksichtigt werden wollen. Damit beginnt ein Spiel zwischen Experten unterschiedlicher Richtungen, welches die Tatsache ins öffentliche Bewusstsein hebt, dass wissenschaftliche Exaktheit angesichts komplexer Fragestellungen mit politischen und sozialen Konsequenzen keine zweifelsfreie Rationalität von Entscheidungen gewährleisten kann. In letzter Zeit sind in der Demokratisierung des Expertenwissens durchaus Fortschritte zu verzeichnen, die nicht nur die Auswahl der Experten betreffen, sondern insbesondere auch die Hervorbringung und die allgemeine Zugänglichkeit solchen Wissens. Ein wichtiges Problem besteht dabei in der Regulierung und Kontrolle des Wissens, das in politischen Beratungsverfahren Eingang findet: Welcher Wissenstypus benötigt wird, welche Berater hinzugezogen werden, welchen Wissensgebieten sie angehören, von welcher Institution sie kommen, wie sie ihre Arbeitsergebnisse (Empfehlungen, Arbeitsberichte) präsentieren etc. Eine »Demokratisierung des Expertenwissens« erschöpft sich daher durchaus nicht darin, dass man immer mehr Akteure in einen ansonsten invarianten institutionellen und kognitiven Rahmen aufnimmt. Eher und vor allem geht es darum, diesen Rahmen selbst, seine impliziten Wahrnehmungsweisen, Zielsetzungen und Diskussionsverfahren zu reflektieren und nach Maßgabe neuer Gegebenheiten zu verändern. Es gibt bereits sehr viele Maßnahmen, um Expertenwissen zu nutzen und zugleich zu vermeiden, dass unkontrollierte Einflussnahmen von Experten auf die Politik zu einer wahren Kolonisierung von Regierungen und Parlamenten führen. Angesicht der Undurchschaubarkeit komplexen Wissens stellt sich nämlich das Problem, dass die politische Beratung Abhängigkeiten der öffentlichen Akteure von privaten Experten schaffen und Entscheidungen gewissermaßen ihrer parlamentarischen Transparenz berauben oder sie auf unbestimmte Zeit aufschieben und gegen öffentliche Kritik abschotten könnte. Solchen Gefahren sollen Regelungen für die Auswahl und Qualifikation von Experten sowie die
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Kontrolle, Transparenz und Öffentlichkeit ihrer Expertisen vorbeugen. In diesem Sinne hat der britische Chief Scientific Adviser Direktiven für die politische Beratung formuliert, deren oberste Grundsätze auf die Öffentlichkeit und Transparenz der Beratungsprozesse insistieren. Und auch die Europäische Kommission hat im Einklang mit dem Weißbuch europäisches Regieren (2001) Hinweise für die Inanspruchnahme von Expertenberatung formuliert. Die jüngsten Schritte in diese Richtung wurden mit einem Lobbyregister getan, das 2008 auf die Initiative des Kommissars Siim Kallas erstellt wurde. Solche und andere Maßnahmen zielen vor allem darauf ab, eine Vertrauensbasis für das in Anspruch genommene Expertenwissen herzustellen und seine Öffentlichkeit, Vielfalt, Integrität und Qualität zu gewährleisten. Ihre grundsätzliche Fragestellung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Welche institutionellen Formen und Verfahrensweisen politischer Beratung können einerseits die Qualität des Expertenwissens verbürgen und andererseits auch den Kontexten politischen Handelns entsprechen? Diese Fragestellung zeigt, dass der Glaube an eine direkte Übersetzbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in politische Entscheidungen keine Grundlage mehr hat. Die traditionellen Beratungskonzepte hatten noch eine vertikale Struktur, die ihre Resultate »gebrauchsfertig« präsentierte. Dabei kamen ein dezisionistisches (Vorrang der Politik vor den Experten) und ein technokratisches Modell (Vorrang der Expertise vor der politischen Beurteilung) darin überein, dass beide strikt zwischen Urteil und Entscheidung trennten (Millstone 2005). Beide Modelle gehen von einem linearen Wissenstransfer aus, der eine zeitliche Trennung zwischen den Orten der Wissenserzeugung und seiner Anwendung und eine klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und politischen Werten voraussetzt. Und beide trennen die Funktion des Experten von der des Politikers, so dass sich die Beratung im Grunde als Monolog vollzieht: Entweder diktiert die Wissenschaft der Politik ihre Problemlösungen oder die Politik entscheidet, welche Entscheidungen die Wissenschaft zu legitimieren hat. Von diesen Konzeptionen unterscheidet sich das konstruktivistische Modell politischer Beratung, denn es unterbricht die Linie, die von der Identifikation eines Problems über den Rat der Experten zur politischen Entscheidung führt und ersetzt diese Verbindung durch einen diskontinuierlichen Argumentationsprozess. Beratung erschöpft sich dabei nicht mehr in einer Übermittlung von bereits zur Verfügung stehendem Wissen, sondern sie wird zu einem Moment der Selbstreflexion von Wissen-
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schaft und Politik (Gill 1994). Deshalb kann nicht mehr im Sinne von Über- und Unterordnungen, sondern muss als ein Kommunikationsprozess konzipiert werden, den Jasanoff als eine Koproduktion von Beratenden und Ratsuchenden bezeichnet hat (2005). Beratung wird hier zu einem Prozess des Aushandelns, in dem Experten und Entscheidungsträger die Angemessenheit des zur Verfügung stehenden Wissens an das zur Entscheidung stehende Problem diskutieren und das Wissen und das Problem gleichsam gegeneinander abwägen. Die Beratenden präsentieren nicht nur eine Tatsachengrundlage für das Problem, sondern stellen das im Beratungsprozess übermittelte Wissen der Interpretation und Bewertung aller an diesem Prozess Beteiligten zur Verfügung. Auf diese Weise muss das Expertenurteil im Fall riskanter Entscheidungen zugleich auch die Risiken und Unsicherheiten auf beiden Seiten thematisieren. Politische Probleme müssen dabei in die Sprachen der Wissenschaft übersetzt werden, deren Antworten ihrerseits nur dann auf die Politik anwendbar sind, wenn sie ins Format politischer Entscheidungen übertragen werden. Da es keine Interlinearübersetzung von wissenschaftlichen Urteilen in politische Entscheidungen gibt, muss die politische Logik zu einem Beurteilungskriterium des zur Verfügung gestellten Expertenwissens werden. Mit diesem rekursiven Modell sind wir von der Vorstellung des »speaking truth to power« zum »making sense together« gelangt (Hoppe 1999). Damit könnte die Beratung auch dazu beitragen, das Wirklichkeitsverständnis der Politik zu differenzieren und ihre Reflexionskapazitäten zu stärken. Es geht dabei weniger um einen Wissenstransfer von der Wissenschaft auf das Feld der Politik als vielmehr um eine Irritierung der Politik durch das wissenschaftliche Wissen (Martinsen 2006). Angesichts der aktuellen Debatten um die Unsicherheit des Wissens ließe sich dies folgendermaßen formulieren: Die politische Beratung hat die Funktion, die Politik mit mehr Optionen für ihre Entscheidungsfindung auszustatten; aber dieser kommt es letztlich zu, zu entscheiden, welches Wissen als angemessen und politisch relevant anzuerkennen ist (Schützeichel 2008, 16). Die große Herausforderung der politischen Beratung besteht daher in der Verknüpfung des wissenschaftlichen Wissens, das aufgrund interner Kriterien wissenschaftlicher Relevanz generiert wird, mit den Kriterien politischer Bedeutsamkeit. Beratungswissen unterscheidet sich insofern von anderen Wissensformen dadurch, dass es zugleich wissenschaftlich korrekt und politisch nützlich und realisierbar sein muss.
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D AS NEUE V ERHÄLTNIS VON W ISSENSCHAF T UND P OLITIK Das Wissen, auf dem die politischen Institutionen der Moderne errichtet sind, war zugleich als sicheres und fortschreitendes Wissen konzipiert, was in Bacons Axiom »Wissen ist Macht« seinen angemessenen Ausdruck fand. Davon können wir heute aber nicht mehr ausgehen und es wäre sinnlos, von der Wissenschaft zu erwarten, dass sie der Politik ein objektives Wissen als Entscheidungshilfe und einsichtige Legitimationsgrundlage zur Verfügung stellte. Dieser Befund wirft Licht auf die bemerkenswerten Veränderungen, denen der Charakter unseres Wissens, unser Begriff von Wissenschaft und der Sinn politischer Beratung ausgesetzt sind. Diese Veränderungen finden ihren Ausdruck in dem Paradox, dass die Politik mehr als je zuvor des Expertenwissens bedarf, dieses ihr aber weder Legitimität noch Konsens zu garantieren vermag. Kein Wissen kann politischen Entscheidungen noch fraglose Evidenz verschaffen. Auf der anderen Seite sieht sich die Wissenschaft ihrerseits genötigt, mit der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft zu kommunizieren und bei der Formulierung ihrer Probleme die gesellschaftliche Relevanz von Forschungsprioritäten, ihre politische Umsetzung, ihre ökonomischen Kosten oder auch die Gesichtspunkte der Verbraucher und Bürger zu berücksichtigen. Bei diesem Licht besehen ist es nicht nur die Wissenschaft, die der Gesellschaft Wissen zur Verfügung stellt, sondern diese ist ihrerseits in der Lage, der Wissenschaft zu antworten. Diese neuen Überkreuzungen von Logiken und Diskursen hat einer weitreichenden Auflösung der Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft Raum gegeben (Nowotny/Scott/Gibbons 2004). Der Ausdruck »society speaks back to science« (Nowotny 2005, 36) fasst diesen neuen Umstand zusammen, dass sich die öffentliche Meinung nicht mehr damit zufrieden gibt, sich durch die Wissenschaft aufklären zu lassen, sondern diese in wachsendem Maße mit eigenen Erwartungen und Forderungen konfrontiert, die sie ihrerseits an die Wissenschaft hat. Der Enttäuschung der Politiker über das Ausbleiben klarer und sicherer Entscheidungshilfen entspricht die Enttäuschung von Wissenschaftlern über die häufige Nichtbeachtung ihrer Expertisen. Solche und andere Erwartungen stellen das Problem, wie sich Beratung so organisieren ließe, dass sie die doppelseitigen Forderungen nach wahren und zugleich
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umsetzbaren, objektiven und zugleich demokratisch legitimierten Ratschlägen zu erfüllen vermag. Auf den ersten Blick ist klar, dass sich die klassische Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik in dem Moment nicht mehr aufrechterhalten lässt, in dem die Wissenschaft auf politisch brisanten Gebieten operiert, wie dies bei Umweltproblemen, genetischen Interventionen oder ökonomischen Entscheidungen der Fall ist. Die neue Wissenspolitik muss daher mit zwei Dogmen brechen: den strikten Trennungen zwischen Tatsachen und Werten und zwischen Wissenschaft und Politik (Latour 2001). Denn die Komplexität der heutigen Welt verlangt eine engere Verkoppelung von politischen Institutionen und wissenschaftlichen Infrastrukturen. Die modernen Demokratien, insbesondere insofern sie sich als Wissensgesellschaften verstehen, beziehen ihre Legitimationsgrundlagen aus der Verbindung von demokratischer Repräsentation und wissenschaftlicher Rationalität (Weingart/Lentsch 2008, 7). Das große Dilemma der heutigen Demokratien besteht darin, dass ihre Entscheidungen dem verfügbaren wissenschaftlichen Wissen Rechnung tragen müssen und zugleich der demokratischen Legitimation bedürfen. Um diesem Dilemma angemessen zu begegnen, muss man sich zunächst klar machen, dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Problemstellungen handelt. Ungeachtet aller Hoffnungen, dass die politische Beratung das Gewicht politischer Verantwortung erleichtern könnte, bleibt die Wissenschaft weiterhin Wissenschaft und die Politik bleibt Politik, d.h. beide agieren unter differenten systemischen Rationalitätsformen. Um es in der Sprache Luhmanns auszudrücken, gehorcht die Wissenschaft dem Code der Wahrheit und die Politik dem der Macht. Diese unterschiedlichen Rationalitäten übersetzen sich auch in unterschiedliche Erwartungen. So verlangen wir z.B. von der Politik nicht dieselbe Objektivität und Universalität, der die Wissenschaft verpflichtet ist. Und deren Verfahren sind die Kriterien des Kompromisses, der Durchsetzbarkeit und günstigen Gelegenheit eher fremd. Heute sind Wissenschaft und Politik nicht mehr das, was sie noch vor 50 Jahren waren, da sie es weder mit denselben Problemen zu tun haben noch unter denselben Bedingungen agieren. Die technokratischen Hoffnungen sind inzwischen verflogen und die Vorstellung, dass es möglich sei, wissenschaftliche Erkenntnisse unmittelbar in politische Entscheidungen zu übersetzen, hat sich als naiv herausgestellt. Die Politik
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agiert inzwischen in Gesellschaften, die sich über die Kommunikationsmedien zunehmend aufgliedern und neu verbinden und dabei mutiert sie immer mehr zu einem Wettbewerb um populistische Legitimation durch die Medien. Daher müssen ihre Handlungsalternativen zugleich als rational und politisch korrekt erscheinen und die Verbindung von objektiven Lösungen und subjektiven Interessen macht einen immer größeren Teil ihres Gewerbes aus. Schon deshalb darf die politische Beratung nicht die Interessen und Grenzen der politischen Akteure außer Acht lassen und die Reflexion der Akzeptanz und Umsetzbarkeit ihrer Expertisen ist ein zentraler Aspekt ihres Geschäftes. Es geht dabei nur nicht um eine »Übermittlung« wissenschaftlichen Wissens an die Politik, sondern vielmehr darum, dass diese ihr Geschäft intelligent und im Einklang mit ihren eigenen Strukturen, Prozessen und Regeln betreibt. Es gibt einen Initialmoment politischer Entscheidungen, für den ein politisches Urteil unerlässlich ist: Bevor sie sich an die Wissenschaft wendet, hat Politik die Funktion, ein Problem zunächst einmal angemessen zu definieren. Dies gilt vor allem für Probleme, für die wir nicht nur keine Lösung haben, sondern über deren Bestimmung und Ausmaße wir im Unklaren sind (Fischer 2000, 128). In solchen Fällen kollektiver Unschlüssigkeit kommt der freiheitlichen Dimension der Demokratie und ihrer Fähigkeit, nicht nur Interessenausgleich, sondern kollektives Wissen zu generieren, eine wichtige Funktion zu. Denn trotz eines wissenschaftlichen Gewandes, mit dem er sich absichern mag, ist der Augenblick der Entscheidung doch vor allem politischer Natur. Diese Einsicht drückt sich schon in Andromaches Klage in der Tragödie Hekuba aus: »Wenn die Seeleute mit Stürmen zu kämpfen, dann nützen noch so viele anwesende Weise nicht so viel wie ein gemeinerer aber souveräner Verstand.« Wenn wir das Verhältnis von Wissen und Macht neu denken wollen, dann müssen wir auf jeden Fall die Unterscheidung in Frage stellen, der zufolge die eine Seite über die Weisheit, die andere über das Können verfügt. Angesichts ihres Funktionsverlustes können sie sich aber wenigstens gegenseitig damit trösten, dass beide ihre alten Privilegien verloren und an derselben Ungewissheit teilhaben: in der Form theoretischer Ratlosigkeit die eine und im Schwindel angesichts der Kontingenz ihrer Entscheidungen die andere. Welches Privileg ist der Macht verloren gegangen? Das Vorrecht, sich aufs Anordnen zu beschränken, ohne dazulernen zu müssen. Und welches Privileg hat das Wissen eingebüßt? Die Sicherheit und Evidenz eines Wissens, das keiner weiteren Legitimation
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bedarf und dessen soziale Inexaktheit damit nunmehr sichtbar geworden ist. Von hier aus gesehen stellt sich das Problem nicht mehr im Sinn der Vereinbarkeit eines sicheren Wissens mit einer souveränen Macht, sondern als Aufgabe, beide so miteinander in Verbindung zu bringen, dass sich die Schwächen beider Seiten ausgleichen und sie gemeinsam in der Lage sind, der wachsenden Komplexität der Welt zu begegnen.
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Was wir »Wissensgesellschaft« nennen, lässt sich aus einer metaphorischen Perspektive auch als »Gesellschaft der Gerüchte« verstehen. Mit dem Ausdruck metaphorisch will ich keineswegs die Überzeugungskraft dieser Formulierung einschränken oder auf eine tolerierbare Ungenauigkeit verweisen. Er lässt sich in seiner unmittelbaren Wortbedeutung vielleicht leichter akzeptieren, wenn wir uns zunächst einmal fragen, was ein Gerücht überhaupt ist. Die es am besten definierenden Charakteristika sind sein hypothetischer Charakter und die Tatsache, dass sein Urheber unbekannt ist. Ein Gerücht ist eine vage und wenig erprobte Behauptung, die sich weder auf eine offensichtliche Tatsache bezieht noch durch eine Argumentation zu etwas Unumstrittenen wird. Darüber hinaus ist es ein Amalgam von Urteilen und Meinungen von vielfältiger und unbestimmter Autorschaften, die in den Bereich dessen gehört, was »man«, aber niemand Konkretes sagt. Was aber hat das mit dem Wissenstypus in unseren Gesellschaften zu tun? Ist damit die Funktion der Wissenschaft in der heutigen Welt zutreffend umschrieben? Von wissenschaftlichen Aussagen und Urteilen verlangen wir, dass sie behutsam, hypothetisch, vorläufig und vielseitig formuliert sind. Und dieser Forderung genügt tatsächlich am ehesten das Gerücht. Wir leben in einer Welt, in der sich Meinungen, Urteile, Bewertungen, Informationen, journalistische Bekundungen, Tatsachenaussagen, politische und juristische Vorschriften zu einem mehr oder weniger chaotischen Konzert vielstimmiger Gerüchte zusammenfinden; keines von ihnen bietet eine Evidenz, die sich fraglos akzeptieren ließe, Kritik und Argwohn abwiese, oder von vornherein die Berechtigung von Gegenstimmen annullieren könnte. In einer offenen Gesellschaft treiben zweifelhafte Meinungen, umstrittene Autoritäten, fragliche Daten, schwer objektivierbare
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Ängste und Hoffnungen gleichberechtigt nebeneinander. Eine solche Gesellschaft konstituiert sich durch Gerüchte, die miteinander wetteifern und bestrebt sind, zu mobilisieren, Aufmerksamkeit zu erregen, zu beunruhigen oder zu beruhigen. Die Wissensgesellschaft ist durchaus keine Gesellschaft exakten, sicheren, fraglosen und durch eine unumstrittene Wissenschaft monopolisierten Wissens. Die Vervielfältigung der Szenarien und Kontexte hat zu einer gesellschaftlichen Zerstreuung des Wissens beigetragen und die gesellschaftlichen Stimmen formieren sich zu flüchtigen Gebilden, die, Gerüchten sehr ähnlich, aus vielfältigen, umstrittenen, offenen und unsicheren Mutmaßungen zusammengesetzt sind, die durch keine identifizierbare Objektivität bestimmt und von den unterschiedlichsten Interessen geleitet sind. Darunter ist jene in sich geschlossene und fraglose Welt der Tatsachen verschwunden, in der sich die moderne Wissenschaft und die Autorität ihrer Experten einmal begründet hatten. Die aktuellen Diagnosen der Wissensgesellschaft enttäuschen die Erwartung, dass die Wissenschaft ein verlässliches Wissen, mehr Gewissheit und größere Sicherheit biete. Wir haben es eher mit einer Rückkehr der Unsicherheit, Ungewissheit und Vieldeutigkeit zu tun. Die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft der Gerüchte, eine Gesellschaft, in der die Stimmen nicht mehr vor Autoritäten verstummen oder in ihnen konvergieren, sondern sich gegenseitig vervielfältigen und abschwächen. Es macht deshalb durchaus Sinn, die Wissenschaft als eine Art Gerüchtologie zu konzipieren: Denn die wachsende Zerstreuung des Wissens führt zu einer Vervielfältigung weniger vertrauenswürdiger Stimmen. Die andere Seite dieser Münze ist die Tatsache, dass die Forderungen nach Partizipation, dass Proteste oder Konsensbedürfnisse sich in den westlichen Gesellschaften bis in die Bereiche der Wissenschaft hinein ausgeweitet haben, denen man die Fähigkeit kaum noch zutraut, auf dieses Bürgerengagement einzugehen. Die Idee einer »bürgerlichen Wissenschaft« (Irwin 1995) oder eines »wissenschaftlichen Bürgersinnes« (Fischer 2000) verweist genau auf die aktuellen Herausforderungen, nicht wissenschaftliche Akteure in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen, lokales Wissen und lokale Erfahrungen mit zu berücksichtigen, eine transparente Kommunikation der Risiken zu etablieren und andere Demokratisierungsanforderungen mehr. Die Demokratisierung der Wissenschaft bedeutet natürlich nicht, dass alle wissenschaftlichen Fragen durch Abstimmung entschieden wer-
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den sollten, sondern sie zielt auf subtilere und differenziertere Modifikationen, die mit einem Komplex von Legitimationsanforderungen zu tun haben und sich auf Entscheidungen beziehen, die alle angehen: etwa über die Zuteilung von Forschungsmitteln oder eine angemessene Regelung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass immer mehr Autoren und Kräfte an Angelegenheiten beteiligt sind, die sich nicht mehr auf exklusive Expertenkompetenzen beschränken lassen. Auf keinen Fall sollte uns diese partizipative Wende jedoch zu der Annahme verführen, dass es genügt, den Kreis der Akteure einfach zu erweitern, um die entsprechenden Entscheidungen zu verbessern; sie stellt uns vielmehr kognitive und Koordinationsprobleme. Zugleich beinhaltet der Begriff des wissenschaftlichen Bürgersinns auch Rechte und Pflichten, wie etwa das Recht, über Wissenschaft und Technik informiert zu werden, öffentliche Debatten und die Beteiligung an Entscheidungen, aber auch eine gewisse Pflicht, sich weiterzubilden, sich als Teil einer Gesamtheit zu verstehen und deren Interessen im Blick zu haben. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unterliegt tiefgreifenden Veränderungen, die wir im Begriff einer neu entstehenden Komplexität zusammenfassen können, welche aus der Abschwächung jener Grenzen resultiert, an denen sich die traditionelle Wissenschaft noch orientiert hatte. Diese Gesamtheit neuer Umstände nötigt uns, die Unterscheidungen zwischen Tatsachen und Werten, Experten und Laien oder auch zwischen Wissen und Nichtwissen neu zu bestimmen. Die folgende Analyse dieser neuen Aussichten wird von vier grundlegenden Unterscheidungen ausgehen: 1. der Unterscheidung zwischen Labor und Außenwelt; 2. der Unterscheidung zwischen der Wissenschaft und anderen sozialen Systemen, auf der sich die klassische Autonomie der Wissenschaft begründet hat; 3. der Unterscheidung zwischen Wissenschaftlern und nichtwissenschaftlichen Menschen bzw. zwischen Experten und Laien; und 4. der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und öffentlicher Meinung.
M IT UNS SELBST E XPERIMENTIEREN Seit einigen Jahrzehnten sind auf der Bühne der Öffentlichkeit eine Reihe von Themen und Problemstellungen aufgetreten, die für die politische Tagesordnung bislang eher ungewöhnlich waren: die Erhaltung der Natur,
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die Sicherung von Grundbedürfnissen, das globale Klima, der genetische Code, Luftverschmutzung, Krankheiten und Gesundheit im Allgemeinen. Derzeit werden unsere größten Besorgnisse ausgelöst durch Abgasemissionen, Giftrückstände im Öl aus Oliventrester, die Temperatur der Atmosphäre, die Austrocknung der Flüsse und das Meeresniveau, die Gene oder die Rinderherden. Die Protagonisten dieser Problemstellungen sind Veterinäre, Mediziner, Landwirte und Feuerwehrleute. In den Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit sind sogar jene Ministerien gerückt, die mit der Wissenschaft, der Natur oder der Biologie zu tun haben und die man bisher eher für unbedeutender gehalten hatte. Und die Politik verhandelt Angelegenheiten, denen sie bisher kaum Aufmerksamkeit zugewandt hatte und für die sich bisher nur einige technische Spezialisten interessiert hatten. Biologische Fragen sind zu einer zentralen politischen Angelegenheit geworden und eines ihrer grundlegenden Probleme besteht derzeit darin, einen Bereich zu bestimmen, der sich bereits als Naturpolitik oder Biopolitik abzuzeichnen beginnt. In allen diesen Problemstellungen und Besorgnissen kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass die Gesellschaft immer mehr mit Unsicherheiten, Risiken und möglichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Wissens und seiner technischen Anwendung konfrontiert ist. Das Eigentümliche dieser Probleme besteht darin, dass sie die Grenzziehung zwischen den Laboratorien und der Außenwelt überschreiten. Wir sind in einige kollektive Experimente verstrickt, die über die mehr oder weniger handhabbaren Grenzen eines wissenschaftlichen Labors hinausweisen. Eines der deutlichsten Charaktermerkmale dieser sozialen Experimente besteht darin, dass sie nicht im Inneren eines Laboratoriums ausgeführt werden und etablierter Regeln entbehren. Der traditionellen wissenschaftlichen Arbeit war es darum zu tun gewesen, äußerliche Störfaktoren möglichst auszuschalten und von Kontexten abzusehen. Viele wissenschaftliche Techniken bestanden in einer Selbstisolierung, wie sie sich schon im traditionellen Begriff des Laboratoriums ausdrückt. Der traditionelle Wissenschaftler arbeitete mit Modellen und Simulationen, die sich wiederholen, beweisen und absichern ließen, und er hatte die Möglichkeit, zuerst mit Tieren, Materialien oder Software zu experimentieren. Wissen wurde an einem konkreten und bestimmten Ort unter Kontrolle produziert und konnte sich von hier aus – in kalkulierbaren Zeiträumen und unter gegebenen Umständen – weltweit verbreiten. Der Erfolg des klassischen Experiments gründete in der
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Möglichkeit, die Natur zu vereinfachen und auf Dimensionen zu reduzieren, die sich im Labor kontrollieren ließen. Die praktische Anwendung des dabei erreichten Wissens war umso eher gewährleistet, je exakter sich die Bedingungen der Außenwelt den Reduktionen und Vereinfachungen anpassen ließen, die im Innern des Laboratoriums kontrolliert werden konnten. Die Wissenschaft war bis zum Augenblick ihrer Anwendung eine vertrauliche Angelegenheit gewesen. Solange die klare Unterscheidung zwischen den Bereichen von Forschung und technischer Anwendung, von Rechtfertigungs- und Relevanzkontexten (Graham 1981, 379) funktionierte, ließ sich die Verantwortung des Wissenschaftlers relativ einfach begrenzen. Genau diese Bereiche durchdringen sich heute aber in einem Maße, das uns nötigt, das traditionelle Schema neu zu denken. Die Trennung zwischen Grundlagenforschung und technischer Anwendung gilt nicht mehr (Schmoch 1996) in Zeiten, in denen das Wissen in wachsendem Maße in Anwendungskontexten produziert wird (Krohn 2003). Während sich der Abstand zwischen unseren theoretischen Kenntnissen und ihren möglichen praktischen Anwendungen verringert, vermehrt sich unsere Ungewissheit angesichts der impliziten Konsequenzen der sich uns eröffnenden Möglichkeiten. Je kürzer die Zeitspanne zwischen theoretischer Innovation und ihrer technischen Anwendung ist – die in einigen Bereichen gegen Null tendiert – desto enger ist die Beziehung der Forschung zur Praxis, so dass jene genötigt wird, auch die Anwendungsbedingungen zu antizipieren. Die Wissenschaft gerät dadurch unter einen größeren Legitimationsdruck, da die Bestimmung der Risiken immer nur in der Praxis möglich ist. Der Tendenz nach fallen das Experiment und die praktische Anwendung der Forschung damit zusammen. Wenn wir etwa von Nuklearenergie, der Gestaltung des weltweiten Finanzsystems, genetisch veränderten Organismen oder dem Gebrauch bestimmter chemischer Substanzen sprechen, dann lassen sich die Grenzen zwischen der methodisch kontrollierten Produktion des wissenschaftlichen Wissens und seiner Anwendung in offenen gesellschaftlichen und ökologischen Kontexten kaum noch ziehen. Aber in dem Maße, wie die Gesellschaft und die Natur sich selbst in Laboratorien verwandeln, bedarf das Prinzip der Autonomie der Wissenschaft einer neuen Legitimation. Während im Laboratorium mit Modellen in verkleinertem Maßstab gearbeitet wird, finden die heutigen kollektiven Experimente in Originalgröße statt. Unsere Beunruhigungen hängen mit den Komplikationen der
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Tatsache zusammen, dass das heutige Laboratorium der ganze Planet ist. Experimente werden hier im Maßstab 1:1 und in Echtzeit durchgeführt, ohne dass die Möglichkeit bestünde, sie zu wiederholen, ihre Reichweite einzuschränken oder Kenntnisse über die Gründe und Konsequenzen unserer Handlungen zu sammeln. Für diese kollektiven Experimente gibt es keine mögliche Reduktion und keine Modellfälle, die sie ersetzen könnten, so dass wir sie notgedrungen ohne ausreichende Gewissheit durchführen müssen. Diese Ausweitung des Laboratoriums macht die ganze Gesellschaft zu einem allgemeinen Versuchsfeld, so dass die Formulierung »die Gesellschaft als Laboratorium« (Krohn/Weyer 1989, 349) zur Charakterisierung der Wissensgesellschaft vollauf berechtigt ist. Deshalb sind die Fragen der Wissenschaft immer mehr von allgemeinem Interesse und rufen Besorgnisse und Hoffnungen oder auch Ansprüche auf Partizipation hervor. Man hat solche kollektiven Lernprozesse, die nicht nach bestimmten methodologischen Regeln in Laboratorien, sondern in einem offenen Umfeld ablaufen, in dem sich soziale, technische und ökologische Prozesse kreuzen und an denen viele Autoren mit unterschiedlichen Interessen, Werten und Zielen beteiligt sind, »reale Experimente« genannt (Weingart/Carrier/Krohn 2007, 139). Diese realen Experimente finden in einer Umgebung statt, die sich nicht vollständig auf theoretische Modelle reduzieren oder in einem idealen Forschungsraum isolieren lässt, so dass hier die Unsicherheit besonders zunimmt und ein Rückweg praktisch ausgeschlossen ist. Diese Schwierigkeiten werden beim Problem sekundärer Effekte besonders augenfällig. Wenn reversible Prozesse nicht immer auch Sekundäreffekte hätten, könnte die Wissenschaft auch für ihre gescheiterten Experimente mit einer Absolution rechnen. Und in der Tat haben sich die Autonomie der Wissenschaft und die Freiheit der Forschung auf solche Parameter gestützt. Aber innerhalb des wissenschaftlichen Systems wird man sich zunehmend der Anforderung bewusst, die Auswirkungen der Wissenschaft auf eine Welt zu antizipieren, die sich nicht mehr durch die Begrenzung auf ein bestimmtes Experimentierfeld einklammern lässt. Da die Wissenschaft auch irreparable Konsequenzen einkalkulieren muss, ist sie aufgefordert, ein besonderes Unsicherheitsmanagement zu entwickeln. Eine der Paradoxien dieser Aufgabe besteht darin, dass je früher die Reflexion über die Konsequenzen einsetzt, desto unsicherer das Wissen um sie sein wird. Aber je später diese Reflexion einsetzt, desto
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wirkungsloser wird sie sein, wenn es gilt, diese Konsequenzen zu vermeiden oder zu korrigieren. Die Entscheidung über die Fortsetzung oder Unterbrechung eines wissenschaftlichen Prozesses wird immer unter ungewissen Voraussetzungen getroffen. Schon aus finanziellen Gründen wäre es gar nicht möglich, ex ante systematisch alle vorstellbaren Synergien auszuprobieren, die Sekundäreffekte hervorbringen könnten. Es sieht so aus, als hätten wir nur die Wahl zwischen fast blind gefällten Entscheidungen und einem Wissen, das zu spät kommt und nichts mehr verändern kann. Sehr viele Normen etwa im Gesundheitswesen werden unter einem Paradigma von Sicherheit und Vorsorge formuliert, das auf die aktuellen Problemlagen schon gar nicht mehr anwendbar ist. Daraus erklärt sich die nicht seltene Ratlosigkeit der Ministerien oder der öffentlichen Meinung angesichts von Entscheidungen, denen nicht mehr anzusehen ist, ob sie verfrüht oder aus opportunistischen Erwägungen getroffen wurden, ob sie Ausdruck von Machtmissbrauch oder von Verantwortungsbewusstsein sind. Die heutigen kollektiven Experimente können nicht auf konkrete Entscheidungen warten, bis sich eine absolute Gewissheit einstellt. Die Erderwärmung, die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen oder die Ernährungsproduktion sind vielsagende Beispiele für solche Experimentierformen. Die Unruhe und Verunsicherung, die sie hervorrufen, hängen mit den unkontrollierbaren Dimensionen dieser Probleme zusammen, deren irreversibler Verlauf sich nicht regulieren lässt und keine Rückwege mehr zulässt. Bei solchen Experimenten können wir es uns nicht mehr leisten, erst aus Fehlern zu lernen, denn in diesen Fällen würde es sich dabei nicht mehr nur um überzogene Hypothesen oder vorübergehende Fehlentscheidungen, sondern um fatale Irrtümer mit Konsequenzen handeln, vor denen die Gesellschaft unbedingt zu bewahren ist. Mit diesen Überlegungen haben wir uns von den konsistenten Problemlösungsschemata entfernt, welche die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bislang geleitet haben und sind nun mit den Problemen der Reduktion oder Prävention unerwünschter Konsequenzen konfrontiert. Eine Politik des Wissens kann sich unter diesen Anforderungen nicht mehr mit kurzfristigen Aktionen begnügen und sich auf Reparaturen a posteriori verlassen. Interventionen, die erst im Nachhinein erfolgen, verdienen nicht mehr allzu viel Vertrauen. Für diese Experimente, die wir mit uns selbst anstellen, gibt es keine Verlaufsprotokolle mehr, wie sie sich früher in jenen »hybriden Foren«
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(Callon/Rip 1991), d.h. den Schauplätzen wissenschaftlicher und politischer Kontroversen ergeben, haben, die zwischen der Wissenschaft und den Anliegen der Gesellschaft vermitteln. Wenn wir bisher mit einer klaren Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik gelebt haben, so besteht das Neue und Unbekannte unserer jetzigen Situation in einer Vermischung der Kriterien von Präzision und Exaktheit, welche die wissenschaftliche Arbeit bestimmen, mit denen des politischen Raumes, in dem es darum geht, Vertrauen zu schaffen und Wahlentscheidungen zu treffen (Latour 2001). Die bequemen Unterscheidungen zwischen Menschen und Dingen, Tatsachen und Werten sowie den beiden Kulturen von Natur- und Geisteswissenschaft sind nun definitiv zerbrochen und wir müssen unsere Interessen auf ein Zusammenwirken der Bereiche Politik, Wissenschaft und Technologie einstellen. Man kann dabei davon ausgehen, dass diejenigen wissenschaftlichen Bereiche, die nur eine begrenzte Anzahl äußerer Faktoren in ihre Verfahren einbeziehen müssen, immer unproduktiver werden, während die stärker »kontextualisierten« Bereiche an Bedeutung gewinnen (Nowotny/Scott/Gibbons 2004, 211). Natürlich ist wissenschaftliche Objektivität auch weiterhin möglich, aber ihre Gewissheit wächst, je abstrakter sie ist und je weniger praktische Bedeutung ihr zukommt. Deshalb müssen wir uns auch darauf einstellen, dass die Wissenschaft, der wir bislang ein Monopol für die Erklärung der natürlichen Welt zugestanden haben, nicht mehr alle Weltinterpretationen beherrschen kann. Denn andere Wissensformen, die in der Gesellschaft zirkulieren, machen ihre Geltungsansprüche nun zunehmend auch in Konkurrenz zu ihr geltend. So können etwa Sinn- und Orientierungsbedürfnisse von der Wissenschaft nicht mehr ohne weiteres befriedigt werden. Damit stehen wir vor der paradoxen Situation, dass die Wissenschaft, die bei der Erforschung und Erklärung der Wirklichkeit erfolgreicher ist als der gesunde Menschenverstand, sehr viel weniger Erfolg hat, wenn es um Probleme der Interpretation und Fragen nach der Bedeutung ihrer Ergebnisse geht. Wenn auch die Bedeutung der Wissenschaft weiterhin zunehmen mag, so nimmt mit ihr doch zugleich auch die Bedeutung anderer gesellschaftlicher Akteure zu, die von ihr betroffen sind. Selbstverständlich wird die Wissenschaft eine Angelegenheit von Wissenschaftlern bleiben. Aber da in die Debatten um ihre Interpretation immer mehr auch andere Stimmen einbezogen sind, muss die Wissenschaft nach dem Maß dieser Einbeziehung zu einer kollektiven Aufgabe werden.
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D IE W ISSENSCHAF T ALS A NGELEGENHEIT ALLER Der Prozess, in dem sich das moderne Ideal der Autonomie der Wissenschaft herausgebildet hat, war mit einer wachsenden Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft verbunden. Der Wert der Autonomie der Wissenschaft entspricht der Tatsache ihrer Differenzierung. Auch wenn wir heute jenen Wert von dieser Tatsache unterscheiden und die Verbindungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft neu bestimmen können und müssen, so folgt der besagte Differenzierungsprozess doch einer eindeutigen Logik. Die Wissenschaften haben sich in einer gewissen Distanz von der Gesellschaft formiert, sie haben dadurch neue Territorien erschlossen und die Regeln der Generierung des neuen Wissens ließen sich keinen externen Kontrollen unterwerfen. Diese Distanz zur Gesellschaft ist systemischer Natur, da sie sich zumindest zum Teil der Eigendynamik der wissenschaftlichen Differenzierungsprozesse verdankt, die eigene Sprachen hervorgebracht haben und sich hauptsächlich an ein Fachpublikum wenden. Diese Selbstbezüglichkeit hat den Autonomieanspruch der Wissenschaft und die mit ihm zusammenhängende klare Unterscheidung zwischen Experten und Laien legitimiert. Man hat deshalb auch von einer wissenschaftlichen »Klasse« gesprochen, die Derek Price (1967) sogar mit den einstigen Ständen, d.h. jenen sozialen Gruppierungen verglichen hat, die finanzielle Mittel beanspruchten, sich aber keiner Kontrolle ihrer Verantwortung unterziehen wollten. Diese Situation hat sich jedenfalls in der Wissensdemokratie unter den Anforderungen einer Neubestimmung der Beziehungen von Wissenschaft und Gesellschaft im Kontext neuer Realitäten und neuer Verantwortlichkeiten radikal gewandelt. Woran liegt es, dass die traditionelle Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie der klassische Begriff der Autonomie in jüngster Zeit nach neuen Bestimmungen verlangen? Die Gründe dafür sind in einem komplexen Prozess zu suchen, der zu einer »Entdifferenzierung« und einer gewissen Reintegration der Wissenschaft in die Gesellschaft geführt hat und sie zunehmend mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung konfrontiert. Man hat in diesem Zusammenhang auch von einer »Entgrenzung« der Wissenschaft oder einem Verlust ihrer institutionellen Exklusivität gesprochen, in deren Verlauf sie zunehmend kritisch reflektiert wurde und ihre kognitiven und institutionellen Grenzziehungen gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen, Akteuren und Wissensformen durchlässiger geworden sind (Krohn
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2003, 111). Da die durchaus wachsende Bedeutung der Wissenschaft zugleich auch zu gesellschaftlichen Interventionen in ihren Bereich führte, können wir das traditionelle Ideal wissenschaftlicher Selbstregulierung nicht mehr aufrechterhalten. Wissenschaft ist ein durch und durch gesellschaftliches Unternehmen, das auf seine sozialen Kontexte einwirkt, aber auch von ihnen abhängig ist. Als Organisation bedarf sie der Finanzierung und als gesellschaftliche Institution muss sie sich rechtfertigen. Man kann also heute davon ausgehen, dass die wissenschaftliche »Klasse« jene unbegrenzte Autorität eingebüßt hat, die sie ursprünglich einmal genossen hat. Seit längerem schon häufen sich die öffentlichen Kontrollen dieser sozialen Gruppierung, die ja für Aktivitäten finanziert wird, deren Erfolge häufig kaum sichtbar sind und deren Qualität nicht mehr ausschließlich ihrem eigenen Urteil unterliegt. Die »sich selbst regelnde Wissenschaft« ist inzwischen ebenso wie der Mythos der Selbstregulierung des ökonomischen Systems das letzte Skandalon einer demokratischen Gesellschaft (Weingart 2005, 49). Seit den 1990er Jahren wird der Sozialvertrag über die Wissenschaft in der Tat neu verhandelt. Soziale Verantwortung, Legitimitätsanforderungen und öffentliche Verpflichtungen sind einige der Begriffe, die den im Wissenschaftssystem geläufigen Kontrollen, externen Evaluationen und kompetitiven Rankings gesellschaftliches Gewicht verleihen. Alles deutet darauf hin, dass dieser Niedergang eines etablierten wissenschaftlichen Establishments die Notwendigkeit einer Demokratisierung des Expertenwissens zum Ausdruck bringt. Bereits in früheren konfliktreichen Debatten, wie sie etwa über Fragen der Risikoabschätzung geführt wurden, haben sich beträchtliche Veränderungen des Einflusses der Wissenschaft auf die Gesellschaft abgezeichnet. War man unter dem Eindruck der technokratischen Theorien der 1960er und 1970er Jahre noch davon ausgegangen, dass Wissenschaft klare und eindeutige Orientierungen für politisches und gesellschaftliches Handeln ermöglicht, so hat sich seither gezeigt, dass die »Verwissenschaftlichung« ein überaus komplexer und spannungsreicher Prozess ist, der nicht nur den gesellschaftlichen Einfluss wissenschaftlichen Wissens bezeichnet, sondern auch die wissenschaftliche Unsicherheit und Unwissenheit auf die Gesellschaft übertragen hat. Diese hat es nicht nur mit den Ansprüchen »wahren« und wissenschaftlich gesicherten Wissens zu tun, sondern darüber hinaus auch mit einer fundamentalen Verun-
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sicherung bezüglich der Reichweite dieses Wissens, seiner Anwendbarkeit auf unterschiedliche Kontexte sowie mit der latenten Insistenz des nicht Gewußten innerhalb des Wissens. Das wachsende Bewusstsein dieser neuen Konstellation lässt uns »von einer Kultur wissenschaftlicher Autonomie zu einer Kultur der Verantwortlichkeit« übergehen (Gibbons/ Limoges/Nowotny/Schwartzmann/Scott/Trow 1994, 119). Im Verlauf dieser Entwicklungen kann die Wissenschaft kein Monopol auf gesichertes Wissens mehr beanspruchen und muss die Erwartungen an ein verlässliches, gewisses und risikoloses Wissen zwangsläufig enttäuschen. Die sich daraus ergebende gesellschaftliche Verunsicherung muss von den sozialen Systemen kompensiert werden. Insofern haben die Fortschritte der Wissenschaft auch den Bereich des Politischen in dem Maße erweitert, wie sie neue normative Ansprüche und Probleme der Regulierung hervorgebracht haben. Denn die Beurteilungskriterien für die Qualität und die Relevanz des Wissens können nicht mehr allein von der Wissenschaft, sondern müssen auch von denen mit definiert werden, die es anwenden. Solche Kriterien ergeben sich in Anwendungskontexten die von sozialen, politischen und ökonomischen Logiken bestimmt werden. Damit werden die Produktion, Diffusion und Anwendung des Wissens zu reflexiven Aktivitäten mit einer gesellschaftlichen Verantwortung. Da sie angesichts neuer Legitimationsansprüche durch soziale Kompromisse reguliert werden müssen, ist das Wissen insgesamt zu einer eminent politischen Angelegenheit geworden. Da das traditionelle Verständnis einer umstandslos anwendbaren Wissenschaft und einer rationalen und expertengestützten Politik nicht mehr gilt, ist es kein Wunder, dass solche Fragen erst einmal mit einer gewissen Unsicherheit verhandelt werden. Zudem werden unsere kollektiven Experimente immer komplizierter, so dass in ihnen Konsens und Gewissheiten sehr viel schwieriger zu erzielen sind als in den Exerzitien einer innerhalb von Laboratoriumsmauern operierenden Wissenschaft. Die Zunahme öffentlicher Kontroversen über wissenschaftliche Angelegenheiten zeigt sehr deutlich, dass die traditionellen Modelle einer wissenschaftlichen Weltanschauung an Gültigkeit verlieren. Schon aus der einfachen Tatsache, dass immer Kompromisse möglich sind, um politische und wissenschaftliche Kriterien miteinander in Einklang zu bringen, folgt, dass das wissenschaftliche Wissen allein nicht mehr fraglos als Legitimationsinstrument funktionieren kann.
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In einer Wissensdemokratie können die strikten Arbeitsteilungen, in denen die beteiligten Perspektiven der Verantwortung für die Einbeziehung anderer Gesichtspunkte enthoben sind, nicht mehr reibungslos funktionieren. Die neuen Herausforderungen werden uns eine unausgesetzte Aufmerksamkeit für unterschiedliche Logiken abverlangen, die sich auf keineswegs spannungsfreien Schauplätzen bewähren müssen. Auf uns zukommende gesellschaftliche Veränderungen lassen sich weder durch wissenschaftliche Initiativen in Gang setzen, denen die Gesellschaft nur passiv beiwohnt, noch durch ein gesellschaftliches Mandat, das der Wissenschaft ihre Aufgaben zuteilt. Die Wissenschaft ist ebenso in die Gesellschaft eingewandert, wie diese sich Eingänge in wissenschaftliches Terrain öffnet. Wir müssen unsere drängendsten Probleme im Horizont der gegenläufigen Prozesse einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung der Wissenschaft identifizieren und artikulieren. Die hier angesprochene Gesellschaft konstituiert sich als ein vielschichtig verflochtener, von Akteuren unterschiedlichster Herkunft, Interessen und Handlungskapazitäten gebildeter Komplex. Sie ist ein Schauplatz von Debatten zwischen unterschiedlichsten Gesichtspunkten um Entscheidungen, die unsere sozialen Experimente und die Konfiguration unserer gemeinsamen Welt betreffen. Wir leben in einer Welt, die uns so etwas wie ein »Spezialistentum in Kontexten« abverlangt, das in der Lage ist, verschiedene Disziplinen zu verbinden, unterschiedliche Logiken zu vergleichen, auf unerwartete Kausalitäten einzugehen und die damit verbundenen Risiken und Gelegenheiten gegeneinander abzuwägen. Eine Integration der sozialen Systeme kann, wenn sie denn gelingen soll, nur in einem Austausch unterschiedlicher Perspektiven bestehen, der die jeweils eigenen Sehschwächen kompensiert und Formeln für die Kompatibilität differenter Logiken erfindet. Kurz, es geht darum, kollektive Reflexionsprozesse im Sinne jener schon angesprochenen »hybriden Foren« (Callon/Rip 1991) zu initiieren, die sehr vielfältige Funktion zu erfüllen haben. So müssen sie z.B. die Veränderungen der Kriterien für die Bedeutung des Wissens registrieren und als ein Raum der Selbstreflexion fungieren, in dem die gesamtgesellschaftlichen Ansprüche zu Wort kommen. Damit würden sie im Grunde der antiken Idee der Agora entsprechen (Nowotny/Scott/Gibbons 2004), die nicht eine bürokratisch verwaltete Welt bezeichnet, sondern einen Raum eröffnet, in dem eine Vielzahl von Interaktionen Platz findet, um
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ihre Antagonismen auszutragen, unterschiedliche Gesichtspunkte geltend zu machen, ökonomische Grenzen abzustecken, globale Dynamiken zu diskutieren, politische und Rechtsfragen zu regeln, Haushaltsprioritäten zu setzen … Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung müssen neue und innovative Wege finden, um der sozialen Funktion der Wissenschaft zu entsprechen und der wachsenden Unwissenheit um ihre Konsequenzen auf eine produktive, transparente und demokratisch legitimierte Weise begegnen zu können. Es geht dabei nicht einfach um die Alternative, die Wissenschaft entweder unter Kontrolle zu bringen (als ließe sich dies auf institutionellem Wege bewerkstelligen, ohne ihre Innovationskraft zu beschneiden) oder sich ihr ganz zu überlassen und damit die Existenz gleichsam zu »naturalisieren« (was bedeuten würde, dass wir Prozesse wie etwa den Klimawandel oder die weltweiten ökonomischen Transformationen als unvermeidliche Realitäten hinzunehmen hätten, die sich jeglicher Intervention entziehen). Eine Demokratie des Wissens muss sich vielmehr als eine zentrale Vermittlungsinstanz im Labyrinth von Kontroversen, Interessen und Kulturen begreifen.
D IE W ISSENSCHAF T UND DIE M ENSCHEN Eine andere Unterscheidung, die sich in den aktuellen Konstellationen des Wissens auflöst, ist die klare Trennung zwischen Experten und Laien. Die aktuelle öffentliche Präsenz wissenschaftlicher Themen besagt keineswegs, dass wissenschaftliche Kompetenz ihren Sinn verloren hätte, sondern eher, dass die Unterscheidung zwischen den Eingeweihten und Nichteingeweihten in die wissenschaftlichen Disziplinen zu verschwimmen beginnt. Früher wurden Experimente unter der exklusiven Leitung von Wissenschaftlern durchgeführt, während alle anderen, ob sie wollten oder nicht, auf die Rolle von Zuschauern eines Unterfangens verwiesen waren, das sie nicht mehr beurteilen konnten. Aber diese Epoche, in der Experten im Namen undiskutierbarer Daten sprechen und jede Kontroverse unterbinden konnten, neigt sich definitiv dem Ende zu, da die Menschen in einer Wissensgesellschaft über mehr kognitive Fähigkeiten verfügen. Es entstehen neue Organisationen und Interessengruppen, die dazu beitragen, die Autorität der Experten abzuschwächen. Was einst einer esoterischen Macht des Wissens unterstand, wird heute öffentlich
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debattiert, kontrolliert und reguliert. Diese Demokratisierung der Wissenschaft besteht nicht nur darin, die Differenz zwischen Experten und Nichtexperten einzuziehen, sondern in einer Politisierung dieser Differenz. Eine Demokratisierung des Wissens hat per se mit der Tatsache zu tun, dass wissenschaftliche Autorität nicht mehr unbefragt hingenommen wird. Das zeigt sich nirgends deutlicher als daran, dass Expertisen zunehmend auch demokratischen Anforderungen unterworfen werden. Das ist nicht mehr nur ein politischer Imperativ, sondern eine durchaus nachvollziehbare Tatsache, denn jeder hat für die Belange des täglichen Lebens seine Experten, mit deren Meinung man durchaus nicht übereinstimmen muss: Das gilt ebenso für Regierungen wie für Oppositionen oder Protestbewegungen. Die Legitimationsfunktion des wissenschaftlichen Wissens hat zu dem Paradox eines Wettstreits unter Experten geführt, und dieser Umstand erlaubt wiederum die Formulierung des Grundsatzes, dass eine Vermehrung des Wissens in einer Gesellschaft nicht notwendig mehr Konsens bedeutet, sondern eher den Dissens verstärkt, ihm aber zugleich auch Gründe und Argumentationswege hinzufügt. In der Konsequenz dieser Entwicklungen lassen sich politische Entscheidungen nicht mehr, wie einstmals erhofft, auf einer rationalen, evidenten und konsensuellen Grundlage treffen, sondern müssen in spannungsreichen Kontroversen mit ungenügendem Wissen und einem größeren Risikobewusstsein ausgetragen werden. Die erste Bedingung für die Demokratisierung des Expertenwissens und seine gesellschaftliche Bewertung besteht in der Beantwortung der keineswegs von vornherein schon beantworteten Frage, wer sich eigentlich Experte nennen darf. Denn je mehr sich eine Fragestellung dem Bereich des Politischen nähert, desto unschärfer wird die Unterscheidung zwischen Experten und Laien. Nicht, dass es für diesen Bereich keine Experten gäbe, aber die von dieser Unterscheidung festgelegte Kompetenz bedarf der Legitimation. Der Anspruch, dass Experten ihre jeweilige wissenschaftliche Disziplin rechtmäßig vertreten, muss aber mit Gründen gerechtfertigt werden, die sich nicht mehr auf diese Disziplin beschränken lassen. Deshalb kann der Expertenstatus gelegentlich auch »normalen« Bürgern oder Laien (etwa im Fall von Laienrichtern oder der allgemeinen Zugänglichkeit öffentlicher Ämter in einer Demokratie) oder örtlich betroffenen Bürgern zuerkannt werden, die man deshalb auch »uncertified experts« genannt hat (Collins/Evans 2002). Auf diese Weise
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gelangen wir zu einer Art »extended peer community«, die besagt, dass der Kreis derer, welche die Qualität und Zweckmäßigkeit wissenschaftlichen Wissens für die Lösung bestimmter Probleme beurteilen können, stets größer ist als die Anzahl der Experten der entsprechenden Disziplin. Forderungen, das Wissen von Nichtexperten in bestimmten Angelegenheiten ernst zu nehmen, erheben sich in der Tat immer häufiger (Wyne 1989). D.h. durchaus nicht, dass die Wahrheit wissenschaftlicher Fragestellungen der Abstimmung bedürfe oder alle Meinungen gleichwertig seien, sondern dass wir den Nichtexperten vor allem dann Gehör schenken müssen, wenn die Expertenautorität nicht in jeder Hinsicht unumstritten ist und wir über Erfahrungen verfügen, welche die Perspektive von Spezialisten übersteigen. Beispiele für diese Demokratisierung des Expertenwissens und die Einbeziehung der Öffentlichkeit in wissenschaftliche Fragestellungen gibt es zuhauf. Zudem können wir auf eine lange europäische Erfahrung der partizipativen Kontrolle von Wissenschaft und Technik in einem Bereich zurückblicken, den man »partizipative technologische Beratung« genannt hat (Joss/Bellucci 2002), wie sie etwa nach dem dänischen Modell der »konsensuellen Konferenzen« zwischen Experten und Laien schon vielfältig praktiziert wird. Und auch das Working Document der Europäischen Kommission zielt darauf ab, die Zivilgesellschaft in die unterschiedlichen Stadien der Forschung und vor allem bei der Festlegung von Prioritäten ihrer Finanzierung einzubeziehen (Europäische Kommission 2000, 8). Zu diesen Formen einer Demokratisierung des Expertenwissens gehören auch die vielfältigen Maßnahmen, die den allgemeinen Zugang zum Wissen erleichtern, der Geheimhaltung der Administrationen Grenzen setzen und Transparenz gewährleisten, wenn es um politische Beratungsprozesse, öffentliche Entscheidungen oder Stellenbesetzungen wissenschaftlich bedeutsamer Stellen geht. Der Diskurs über die Wissensgesellschaft hat sich bisher vor allem auf die Produktion des Wissens und insofern auf die Rolle der Experten konzentriert. Im Unterschied dazu behandelt die Theorie der Risikogesellschaft, die ihre Aufmerksamkeit auf die von ihren Risiken Betroffenen, wie Konsumenten, Wähler oder Bürger, richtet, die Unterscheidung zwischen Experten und Nichtexperten nur noch als ein sekundäres Phänomen. Der Laie ist für sie jemand, dem zwar spezialisiertes Wissen fehlt, der aber von Entscheidungen betroffen ist oder den entsprechenden Fall
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direkt kennt, so dass er durchaus in der Lage sein kann, über den Horizont von Politikern und Experten hinauszusehen. Solche Nichtexperten können als Repräsentanten der Zivilgesellschaft angesehen werden, über Kompetenzen im Wissen um Werte oder über ein »lokales Wissen« verfügen, d.h. sie repräsentieren jene von Experten häufig »verachtete Meinung«, die Husserl für die Philosophie retten wollte. Aber auch aus epistemologischen Gründen ist es wichtig, dass die Wissenschaft die »von außen« kommenden Impulse oder Irritationen nicht einfach als Ignoranz oder Hysterie diskreditiert. Insbesondere jene Forschungsbereiche, die eine große öffentliche Aufmerksamkeit hervorrufen und eine »gesellschaftlich sensible Epistemologie« (Nowotny/Scott/Gibbons 2004) vertreten, haben keinen Grund, all die Anlässe zur Reflexion und Legitimation ungenutzt zu lassen, die das von ihnen selbst evozierte Nichtwissen bietet. Die Ansprüche der Demokratisierung und Partizipation zielen darauf ab, die Perspektiven von Nichtexperten und Betroffenen einzubeziehen, um kollektive Lernprozesse in Gang zu setzen. Diese »Politisierung des Kognitiven« (van den Daele/Neidhardt 1996) versucht den demokratischen Widerspruch zu vermitteln, dass eine Gesellschaft von Nichtexperten von einer Expertenelite gelenkt wird. Das Ziel einer solchen Wissensdemokratie besteht darin, dass alle Bürger für politische Entscheidungen als gleichermaßen mitverantwortlich zu betrachten sind, ohne dass dadurch jedoch die unterschiedlichen Kompetenzniveaus annulliert würden. Denn die Frage, welches Wissen und welche normativen Kriterien für die wichtigsten der uns betreffenden Angelegenheiten relevant sind, kann nicht mehr im Sinn einer wissenschaftlich bestimmbaren objektiven Gegebenheit und im Rückgriff auf professionelle Expertenkompetenzen entschieden werden. Sie ist vielmehr ein Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen und Verhandlungen. Partizipation ist vor allem dort unerlässlich, wo Entscheidungen in einem Horizont von Ungewissheiten getroffen werden müssen, in dem auch die Rückfrage an Experten nicht mehr ausreicht. Jede technische und wissenschaftliche Innovation birgt Risiken, die sich aus dem sie begleitenden Nichtwissen ergeben. Deshalb ist die Entscheidung darüber, ob eine Gesellschaft sich diesen Risiken aussetzen will, von eminent politischer Natur, in der auch normative Überlegungen eine Rolle spielen. Solche Entscheidungen sind explizit als politische zu behandeln, die sich nicht mehr auf eine Risikobewertung aus der
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gegenstandsbezogenen Perspektive eines wissenschaftlichen Beobachters begrenzen lassen. Dieser Befund beinhaltet einige Konsequenzen. Zunächst einmal können und müssen in politischen Entscheidungen auch nichtkognitive Argumentationen und Kriterien auftauchen, wie der gesellschaftliche Nutzen, die Opportunität, die wirtschaftlichen Kosten oder die Abwägung von Alternativen. Die hier anstehenden Themen lassen sich schon deshalb nicht aufgrund objektiver Expertenkriterien vorentscheiden, sondern müssen politisch behandelt werden, weil politische Schlussfolgerungen aus der Beratung durch Experten, nur in Ausnahmefällen wirklich unumstritten sind. Mit diesen Schlussfolgerungen besteht unser Hauptproblem nunmehr darin, wie die gesellschaftliche Einbindung der Wissenschaft im Wissen darum zu leisten ist, dass die anstehenden Probleme zu groß sind, um sie einzig und allein den Experten zu überlassen. Im Rahmen unserer kollektiven Experimente funktioniert eine Arbeitsteilung nicht mehr, die der Experten als Vermittlern zwischen der Wissensproduktion und der Gesellschaft bedurfte. In der neuen Wissensgesellschaft werden die Experten deshalb durch »Ko-Forscher« ersetzt, wie es Michel Callon einmal genannt hat. Denn niemand ist auf die Rolle eines bloßen Anwenders von Innovationen unbestimmter Herkunft beschränkt und die Zeit, in der die Anwendung wissenschaftlichen Wissens nicht anders als unzweifelhaft und nützlich sein konnte, ist definitiv zu Ende. In der Wissensgesellschaft haben wir es in zunehmendem Maß mit »intelligenten Organisationen« zu, die sich nicht mehr auf die Rolle von »Wissenskonsumenten« beschränken lassen, sondern als »Wissensproduzenten« fungieren. Es ist deshalb durchaus folgerichtig, dass sich die Bürger immer häufiger Gehör verschaffen und an kollektiven Experimenten mitwirken wollen. Damit verändert sich die Kundenmentalität gegenüber der Wissenschaft und die mit ihr verbundene Erwartung, mit bequemen Wahrheiten beliefert zu werden. Denn auch und gerade in demokratischen Gesellschaften weisen die Wahrheiten, die die Wissenschaft zutage fördert, über die Ansprüche der Mächtigen, d.h. der öffentlichen Meinung ebenso hinaus wie über die wissenschaftlichen Intentionen. In diesem Sinne sind Wissenschaftspolitik und Wissensdemokratie als die zentralen Angelegenheiten einer neuen Bürgerlichkeit zu betrachten.
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W ISSENSCHAF TLICHE W AHRHEIT UND ÖFFENTLICHE M EINUNG Wenn sich zeigt, dass das wissenschaftliche Wissen unterschiedliche politische Positionen und Entscheidungen legitimieren kann, gerät die Vorstellung ins Wanken, dass ihre Erkenntnisse eine objektive, evidente und eindimensionale Wahrheit beschreiben. Wissenschaftliche Erkenntnis lässt sich keineswegs so eindeutig von Werturteilen abgrenzen, wie es dezisionistische und technokratische Erkenntnismodelle geglaubt hatten. Die Beziehung zwischen dem Wissen und den Entscheidungen, die auf seiner Grundlage zu treffen sind, ist wesentlich komplizierter und sie wirft Fragen auf, welche die Bedeutungskontexte dieses Wissens in den Blick rücken: Wie und aus welcher Sicht werden die Probleme formuliert? Wie verlässlich ist das gewonnene Wissen? Wie viel Spielraum lässt es für Interpretationen? Welche Antworten ermöglicht es im Blick auf die gestellten Probleme? Und wie verhält es sich zu den gesellschaftlichen Werten und politischen Interessen? Wir müssen deshalb noch einmal kurz auf jene Unterscheidung zurückkommen, die wissenschaftliche Wahrheit und öffentliche Meinung als zwei völlig unterschiedliche Bereiche behandelt. In einer Demokratie ist die Anwendung des Wissens eine »öffentliche« Angelegenheit, d.h. sie bedarf einer kollektiven Billigung. Insofern kommt der Beobachtung der Wissenschaft durch die Kommunikationsmedien nicht nur eine informative, sondern auch kritische Funktion zu. Denn in der Wissensgesellschaft wird die Wissenschaft zu einer öffentlichen Angelegenheit und sie zieht Fragen nach ihren ethischen Implikationen und Forschungsrisiken auf sich, die der gesellschaftlichen Diskussion bedürfen. Insofern sind die Medien ein wichtiger Aspekt der gesellschaftlichen Logiken, die an der Ausformung und kollektiven Legitimation des Wissens mitwirken. Natürlich haben die Kommunikationsmedien wie jedes soziale System nur eine einseitige Perspektive auf die Realität, die selbst wieder einer Befragung von anderen Gesichtspunkten aus bedarf. Dennoch ist die Rolle, die sie bei der kollektiven Legitimation des Wissens in einer Wissensgesellschaft spielen, unersetzlich, ja sie wird immer wichtiger. Das leuchtet ein, wenn man es im Licht der Entwicklung der demokratischen Gesellschaften betrachtet. Die Beziehungen zwischen der Wissenschaft und den Medien hat nichts mehr mit der traditionellen Popularisierung hierarchisch ver-
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standener Wissensformen zu tun. Diesem Vorstellungsmodell zufolge bringt das wissenschaftliche System Wahrheiten hervor, die der öffentlichen Meinung zur Kenntnis gebracht und dabei normalerweise vereinfacht und vulgarisiert werden müssen. Dieses im Zuge der Aufklärung entstandene Modell ist im Grunde immer noch mit den Schlacken der vordemokratischen Formen der öffentlichen Meinung behaftet, da es das Publikum als passive und uninteressierte Masse ansah, die nicht in der Lage war, das ihr übermittelte Wissen zu beurteilen. Demnach sollten die Kommunikationsprozesse nur in einer Richtung verlaufen und aufgrund dieser Asymmetrie kam den Vermittlungsinstanzen keine spezifische Funktion zu. Diesem Modell folgend, gibt es immer noch Programme, die auf eine populäre Verbreitung der Wissenschaft abzielen, der sie mit Hilfe von Spiel- und Unterhaltungsformen Aufmerksamkeit verschaffen wollen und dabei von vornherein mit einem unspezifischen und unstrukturierten Publikum rechnen. Aber der Versuch, diesem Publikum Zugang zur Wissenschaft zu ermöglichen, verlangt sehr viel mehr als deren Anpassung an die ihm vertrauten und verständlichen Perspektiven, auch wenn das durchaus nicht unwichtig ist. Und auch die populäre Präsentation der Wissenschaft als einer Sammlung mehr oder weniger verständlicher Kenntnisse, deren Herkunft sich auf berühmte Denker zurückführen lässt, ist nicht mehr auf der Höhe einer wirklichen Wissensdemokratie. Denn gegenüber den veralteten elitären Vorstellungen von Wissenschaft gewinnt in ihr die Einsicht an Boden, dass das Wissen eine Angelegenheit aller ist und dass es Aufgaben stellt, an denen neben den Wissenschaftlern im engeren Sinn alle Bürger mitwirken und ihren Beitrag leisten müssen. Dabei muss grundsätzlich jedem die Fähigkeit zugestanden und zugetraut werden, an Forschungen in welchem Maße auch immer teilzuhaben, selbst Erfindungen anzustoßen, Wissenschaft betreiben oder doch zumindest die Bedeutung und Reichweite ihrer Ergebnisse beurteilen zu können. Zu Beginn der 1990er Jahre gaben Organisationen wie die American Association for the Advancement of Science (AAAS) und die UNESCO in diesem Sinne die Losung »Science for all« aus, die der Grundsatz zusammenfasst: »Nicht nur Wissenschaft im Dienst aller, sondern Wissenschaft für alle«. Eine Demokratie des Wissens wäre von vornherein nicht möglich, wenn nicht jedermann grundsätzlich die Fähigkeit zugestanden wird, aktiv an der Wissenschaft als einer kollektiven Aufgabe mitzuwirken.
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Damit ist der Kontext umrissen, in dem die aktuelle »Mediatisierung der Wissenschaft« in ihrer tieferen Bedeutung verständlich wird: Aufgrund des wachsenden Anteils der Medien an der Bildung eines öffentlichen Bewusstseins, der politischen Meinungsbildung und letztlich auch an der Weltwahrnehmung ist auch die Medienorientierung seitens der Wissenschaft beträchtlich gestiegen. Dabei spielt sicherlich auch eine wachsende Konkurrenz innerhalb der Wissenschaft und gegenüber anderen sozialen Systemen um knappe Mittel und öffentliche Aufmerksamkeit eine Rolle. Im Raum zwischen Wissenschaft und Politik kommt den Medien die Funktion zu, Themen zu behandeln, die für die Legitimation beider Seiten von Bedeutung sind. Die Medien können sich deshalb nicht auf die bloße Weitergabe wissenschaftlichen Wissens wie tatsächlicher Gegebenheiten beschränken, sondern sie tendieren aufgrund der Logik der Wissenschaftsentwicklung dazu, deren Legitimität, Relevanz, Zweckmäßigkeit und Angemessenheit im Blick auf andere gesellschaftliche Anforderungen zu befragen. Sie ersetzen damit keineswegs wissenschaftliche Bewertungskriterien, ergänzen sie aber aus dem Blickwinkel anderer Perspektiven, auf die eine demokratische Gesellschaft nicht verzichten kann. Demokratie verlangt heutzutage die Wiedergewinnung einer gewissen Souveränität über Naturdinge und -prozesse unter den Bedingungen einer vermehrten Komplexität. D.h. es müssen die alten Vorurteile abgebaut werden, denen zufolge die Welt fraglos gegeben ist und von wenigen Privilegierten definiert wird, so dass alternative Sichtweisen letztlich gesellschaftlich und politisch bedeutungslos sind. Hans Magnus Enzensberger (2001) hat im Zusammenhang dieser Sichtweise einmal von »Putschisten im Laboratorium« gesprochen, die im Grunde absolute Macht beanspruchten und nicht bereit waren, ihre Entscheidungen öffentlichen Begutachtungsprozessen zu unterziehen. Insofern antworten die ökologischen und Anti-Globalisierungsbewegungen auf neue Partizipationsanforderungen und sie folgen dabei einer Logik, die durchaus mit den Kämpfen früherer Zeiten gegen die absoluten Monarchien vergleichbar ist, in denen es darum ging, die Rolle des Untergebenen abzustreifen und an der Gestaltung der gemeinsamen Welt auch aktiv mitzuwirken. Immer noch geht es wie damals darum, die autoritären Stimmen im demokratischen Gespräch der Gerüchte zu dämpfen.
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Dritter Teil: Die kognitive Herausforderung der Ökonomie
7. Die Intelligenz der ökonomischen Krise
Ökonomische Krisen sind Umstände, in denen sich die Anforderungen an die Menschheit aufs Äußerste steigern. Es geht dabei zunächst einmal vor allem darum, sie angemessen zu begreifen und ihnen intelligent zu begegnen. Eine Regierung, die nach Rationalitäts- und Gerechtigkeitskriterien verfährt, muss sich auf eine gesamtgesellschaftliche Intelligenz stützen, deren heute unabdingbare Eigenschaften sich in den Begriffen Antizipation, Vertrauen, Verantwortung und Kooperation zusammenfassen lassen. Jede Artikulation dieser grundlegenden Eigenschaften, die dabei noch von einer Welt ausginge, in der es keine Risiken gäbe und auf deren Bestand man umstandslos vertrauen könnte, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. In gleicher Weise wäre auch eine Krisenbewältigung von vornherein unzureichend, deren Gesichtspunkt sich nicht auf der Höhe der heutigen gesellschaftlichen Komplexität befände und uns einseitige und protektionistische Auswege anbieten wollte. Was wir vor allem benötigen, sind die Fähigkeit zur Antizipation kollektiver Risiken, die Etablierung einer dieser Komplexität angemessenen Vertrauensbasis, eine Klärung der Verantwortlichkeiten und eine kooperative Intelligenz.
E INE POLITISCHE K RISE Krisensituationen sind nicht die günstigsten Gelegenheiten, um die Begriffe, mit denen wir sie interpretieren, einer Prüfung zu unterwerfen. Denn gerade in solchen Situationen scheinen sich die Begriffe noch leichter zu gängigen Topoi zu verfestigen. Einer dieser Gemeinplätze, an den sich in jüngster Zeit viele Emotionen geheftet haben, schreibt die ökonomische Krise Funktionsmängeln des Marktes zu und verkündet deshalb
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eine Rückkehr des Staates. Sicher haben die von vielen Staaten beschlossenen Haushalts- und Währungsmaßnahmen und insbesondere die im September 2008 in Kraft getretenen Maßnahmen zum Finanzausgleich dem Eindruck einer Rückkehr zum klassischen Keynesianismus Vorschub geleistet. Aber einmal abgesehen davon, ob sich Krisen tatsächlich als eine Kette von Misserfolgen erklären lassen, so haben sich die Angriffe gegen den Markt doch allzu sehr zugespitzt, um zu einem tieferen Verständnis dieser Krise zu gelangen. Dafür scheint es mir eher nötig, darauf zu insistieren, dass es sich hierbei vor allem um eine politische, d.h. eine Krise der Staaten handelt, die heutzutage die wichtigsten politischen Akteure sind. Nun scheinen zwar alle Anzeichen darauf hinzudeuten, dass die Ursachen der aktuellen Krise beim Markt liegen: Banken haben die Vernunftregeln missachtet, Investoren sind exzessive Risiken eingegangen, Ratingagenturen haben abwegige Risikoabschätzungen provoziert … Und gewiss hat der Markt tatsächlich Irrtümer akkumuliert, denen die Krise auf dem Fuße folgen musste. Aber die Behauptung, dass dafür allein der Markt die Schuld trage, geht am Scheitern der politischen Institutionen vorbei. Und unzureichende Diagnosen können kaum zu treffenden Prognosen, geschweige denn zu möglichen Lösungen führen. Eine gängige, aber kaum überzeugende Deutung der ökonomischen Krise, ist im Horizont der Debatten zwischen Neoliberalismus und Sozialdemokratie vorgebracht worden. Sie interpretiert diese Krise als eine Bühne ideologischer Auseinandersetzungen zwischen diesen Polen und kann auch mögliche Lösungen nur in diesem Rahmen antizipieren, so dass ihr die schlichte Tatsache entgeht, dass genau diese Alternative angesichts von globalen Krisen keinen Sinn mehr hat. Es ist zwar deshalb durchaus folgerichtig, dass diese Krise dem Neoliberalismus buchstäblich die Sprache verschlagen hat, aber das ist für die Apologeten einer Rückkehr des Staates auf der anderen Seite kein Grund zum Feiern, da sie ihrerseits nicht sagen können, wie diese Rückkehr unter den derzeitigen Bedingungen zu bewerkstelligen wäre. Erklärungsbedürftig und die eigentliche Herausforderung der Krise ist jedoch die Tatsache, dass die Staaten angesichts ihrer globalen Ausmaße und der beschränkten Reichweite der Instrumentarien traditioneller Wirtschaftspolitik geschwächt aus ihr hervorgehen. Im Verlauf der vergangenen Jahre sind den Staaten bei ihrer Finanzund Haushaltspolitik schwere Fehler unterlaufen. Das weltweit zuneh-
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mende Ungleichgewicht zwischen Eigen- und Fremdkapital ist eher auf das Scheitern der makroökonomischen Politik, insbesondere wohl der nordamerikanischen Geldpolitik zurückzuführen als auf ein Versagen der Märkte, deren einziges Versagen darin bestand, auf die Anheizungspolitik mit traditionellen Maßnahmen zu reagieren. Schon 1999, noch unter der Clinton-Regierung, hatte der nordamerikanische Staat unter dem Druck der Verbände, die den diskriminierenden Charakter der Hypotheken-Darlehen kritisierten, die Banken dazu angestiftet, Subprimes-Kredite zu vergeben. Und in Frankreich hatten die Parlamentarier der Linken und Rechten kurz vor dem Ausbruch der Krise noch einen Gesetzesvorschlag über einen unbegrenzten Zugang zu Krediten debattiert. Diese Beispiele sind insofern signifikant, als sie demonstrieren, dass öffentliche Entscheidungen ebenso wie die Entscheidungen der Marktakteure letztlich von kurzfristigen Wahlterminen diktiert werden und schon deshalb die Keime riskanter Fehlentwicklungen mit sich führen. Häufig wird argumentiert, dass die Krise durch Unzulänglichkeiten der Finanzregulierung ausgelöst wurde. Aber schon kleine Fehler bei der Regulierung können gravierende Folgen zeitigen und sind deshalb von einer unzureichenden Regulierung nicht zu unterscheiden. Dass die Banken den Weg der Verbriefung beschritten haben, hängt damit zusammen, dass sie dazu durch Regulierungsmaßnahmen veranlasst wurden, die für diese Kredite ungeachtet ihres Umfangs keinen Kapitalbedarf verlangten, während sie andererseits die für den Bankenausgleich aufgenommenen und durchaus auch unsicheren Kredite wie die subprimes mit hohen Kapitalforderungen belasteten. Diese Maßnahmen der Bankenregulierung haben die Tatsache unterschätzt, dass das Bankensystem durch eine Zunahme externer Risiken ebenso aus dem Gleichgewicht gebracht wird wie von einer Risikozunahme im Innern, sobald diese einen gewissen Rahmen überschreitet und systemische Ausmaße erreicht. Sie mussten sich deshalb als ineffizient erweisen, weil sie nur einer internen Rationalität folgten, die zwar das Insolvenzrisiko einzelner Banken berücksichtigt hat, aber nicht mehr die Insolvenz des gesamten Bankensystems. Der schwerwiegendste Irrtum der Politik angesichts einer Krise globalen Ausmaßes bestand m.E. darin, dass die Staaten ihre Verantwortung gegenüber systemischen Risiken nicht wahrgenommen haben. Ganz von den unmittelbaren gesellschaftlichen Risiken in Anspruch genommen, ist das politische System seiner Verantwortung für die Überwachung und Prävention systemischer Risiken nicht gerecht geworden und hat sie statt-
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dessen an andere Instanzen wie den Markt oder unabhängige Entscheidungsträger delegiert, die ihnen gar nicht gewachsen sind. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass wir uns im Übergang aus der Ära des Wohlfahrtsstaates, der seine Legitimation aus der Umverteilung von Kapital und Einkommen bezog, in eine neue Epoche befinden, in der es mindestens ebenso sehr auf die Prävention systemischer Risiken ankommt. Diese Krise macht deutlich, dass der Bekämpfung systemischer Risiken nicht weniger Bedeutung zukommt wie dem Kampf gegen soziale Ungleichheit und dass beide nur in ihrer Verbindung aussichtsreich sind. Dieser Aufgabenstellung ist das neoliberale Programm eines Rückzugs des Staates ebenso wenig gewachsen wie der klassische sozialdemokratische Interventionismus. Sie beinhaltet nichts Geringeres als Rettung der wichtigsten Instanz der politischen Willensbildung in neuen globalen Zusammenhängen, die nach neuen Strategien verlangen. Die Neuformierung des Staates, zu der uns die derzeitige Krise nötigt, betrifft die Rolle der Staaten weltweit, denen verlorene Handlungsspielräume wieder neu zu erschließen sind. Dabei lenken die Debatten zwischen den Anhängern und Verächtern des Staates lediglich die Aufmerksamkeit vom Hauptproblem ab. Denn es geht keineswegs nur um mehr oder weniger Staat oder um seine bloße Reformierung, sondern um eine Neubestimmung seiner Aufgaben in einer weltweiten Wissensgesellschaft, d.h. in einer Welt, in der sich die souveräne Macht vor dem höheren Gerichtshof ihrer Ohnmacht zu verantworten hat und die öffentlichen Gewalten über nicht mehr Wissen verfügen als die von ihnen regierten Akteure. Wenn wir die Aufgaben der Politik – für die der Staat nur ein Mittel ist – nicht in diesem Kontext neu bedenken, wird uns nicht viel mehr übrig bleiben, als zuzusehen, wie der Staat vor seinen ureigensten Aufgaben versagt.
I NTELLIGENTER SEIN ALS DIE K RISE Man redet sehr viel über Wissensgesellschaft und Wissensökonomie, hat aber vielleicht noch nicht bemerkt, dass wir, um auf die Höhe ihrer Herausforderungen zu gelangen, gewissermaßen klüger sein müssen als die Probleme, die sie aufwerfen. Die tiefere Bedeutung von Bezeichnungen wie Wissensgesellschaft oder Wissensökonomie besteht im Grunde darin, dass sie erkennbar machen, dass der Ursprung unserer Probleme in
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einem kognitiven Versagen liegt, so dass das beste Mittel, sie zu lösen darin besteht, aus diesen Problemen zu lernen und das ihnen entsprechende Wissen zu entwickeln. Insofern braucht die Wissensgesellschaft Regierungsformen, die in der Lage sind, mit diesem Wissen umzugehen. Zwar haben die derzeitigen Gesellschaften dem Wissen sehr viel Aufmerksamkeit zugewandt, aber kaum die ambivalenten Konsequenzen der Wissensproduktion berücksichtigt, wie sie z.B. jetzt im globalen Finanzsystem unter den Herausforderungen ökonomischer Risiken hervortreten. Im Licht dieses erweiterten Kontextes wäre die aktuelle Krise der Ausdruck eines Ungleichgewichts zwischen der Innovationsfähigkeit der Finanzmärkte und unseren kollektiven Fähigkeiten, diese Innovationen intelligent zu gestalten. Während die Finanzmärkte in den letzten drei Jahrzehnten außerordentlich gewachsen sind, haben sich die gesellschaftlichen Aussichten auf eine öffentliche Regelung dieser Märkte kaum erweitert und die Innovation der Märkte ist ihren Regelungsmaßnahmen stets um einige Schritte voraus. Aufgrund einer Asymmetrie zwischen privatem und öffentlichem Wissen stehen einer Beschleunigung der Wissensproduktion in den globalen Finanzzentren nur geringe Kapazitäten der Regulierungsinstitutionen gegenüber. Zwei Triebkräfte treiben die Innovationen im Finanzsystem voran. Die eine beruht in einem hochgradig konkurrenzorientierten Umfeld, in dem jedes Finanzinstitut darauf aus ist, einen wie auch immer zeitlich begrenzten Vorsprung vor ihren Konkurrenten zu gewinnen. Und die andere ergibt sich aus den Veränderungen im Zusammenwirken von einheimischen und internationalen Regulierungsmaßnahmen. Denn häufig haben die Finanzinstitute versucht, neue Regelungen schon vor ihrem Inkrafttreten zu unterlaufen oder neue Produkte zu generieren, mit deren Hilfe sie ihnen ausweichen konnten. Daraus ist eine konsistente »regulative Dialektik« erwachsen, in der die eine Seite zu kontrollieren und die andere dieser Kontrolle auszuweichen suchte. Zudem waren die Regulateure aufgrund ihres Informationsdefizits konstant benachteiligt, so dass sie neue Tendenzen kaum antizipieren konnten und sich damit begnügen mussten, die schon eingetretenen Veränderungen einigermaßen zu verwalten. Politik und Recht sind nicht nur nicht in der Lage, der Deterritorialisierung der Märkte durch die Entwicklung und Implementierung global verbindlicher Normen entgegenzuwirken, sondern sie verlieren auch
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an »kognitiver Kompetenz« (Nonet/Selznick 1978, 112), so dass sie nicht mehr auf der Höhe der ökonomischen Innovationen sind. Ein gutes Beispiel bietet die Ambivalenz der Finanzregulierung. Empirische Studien haben ergeben, dass einige politische und Gesetzesmaßnahmen, wie z.B. die Basler Abkommen, deren pro-zyklischer Charakter heute auf der Hand liegt, die Probleme nur verschärft haben. Seine Maßnahmen bezüglich des Eigenkapitals bedingen eine Erweiterung des Kreditrahmens in günstigen und seine Verengung in ungünstigen Zeiten. Diese Regulierungsmaßnahmen haben nicht nur zu einer Expansion von Folgeerzeugnissen beigetragen, die zu den Auslösern der aktuellen Krise gehören, sondern darüber hinaus auch den Kreditmarkt destabilisiert. Inzwischen mehren sich die Forderungen, diese Maßnahmen angesichts der gegenwärtigen Konjunkturlage neu zu überdenken. Die Basler Vereinbarung von 1988 hat erstmals Prinzipien zur Bankenüberwachung in internationalem Maßstab formuliert, die in ihrem Kern verlangen, dass die Banken ihr Darlehensrisiko mit einer entsprechenden Menge Eigenkapital absichern müssen. Damit waren Präventivmaßnahmen gegen mögliche Krisen geschaffen, die sich aus dem Misstrauen zwischen den Banken ergeben könnten. Auf den Vertrauensverlust antwortete man mit dem Kriterium »ausreichendes Kapital«. Diese »capital requirements directive« beruhte auf der Erfahrung, dass die Finanzinstitute angesichts der Liquiditäts-, Kredit- und Betriebsrisiken, denen sie ein zunehmend globalisiertes Finanzsystem aussetzt, unterkapitalisiert sind. Obwohl diese Übereinkunft im Blick auf die internationale Vereinheitlichung von Normen durchaus erfolgreich war, stellte sich bald heraus, dass sie auf einer allzu statischen Risikoabschätzung beruhte, denn das globale System reagierte auf diese Auflage mit einer Reihe finanzieller Innovationen. Neue Instrumentarien und Methoden wie die Folgeprodukte waren in diesem Modell nicht vorgesehen. Außer den Regelungen von Kreditvergaben durch Banken gab es keine effizienten Methoden, um die sogenannten »Marktrisiken« bewerten zu können, die sich vor allem aus den Folgeprodukten ergaben. Jede Finanzkrise führt per definitionem zur Feststellung ungenügender Kapitalmengen in den betroffenen Institutionen. Es ist jedoch illusorisch zu glauben, dass die daraus erwachsenden Anforderungen bereits zu ausreichenden Absicherungen gegen eine Krise des Gesamtsystems führen. Denn kein Geldinstitut wäre in der Lage, genügend Kapital zurückzulegen, um einer systemischen Krise zu begegnen. Die Suche um
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jeden Preis nach dem geringsten Risiko, sei es um die Risiken des Bankenausgleichs zu vermeiden (durch Verbriefung und Folgeprodukte) oder durch immer höhere Kapitalanforderungen, hat stets indirekte und unkalkulierbare Auswirkungen auf das Finanzsystem insgesamt, auf das die Risiken letztlich verantwortungslos abgeschoben werden. All das sind Hinweise auf die grundsätzlich systemische Natur der Risiken, denen Banken ausgesetzt sind und die ganz anderer Gegenmaßnahmen bedürfen. Die zweiten Basler Vereinbarungen von 2004 waren deshalb ein Versuch, die statische und quantitative Kontrolle durch einen flexibleren institutionellen Ausgleich zu ersetzen. Dieser beruhte auf dem Grundsatz einer »dynamischen Versorgung«, der den prozyklischen Effekten bei den Berechnungen der Anpassung der eigenen Kapitalgrundlagen entgegenwirken sollte. Leitend war dabei die Erfahrung, dass es ohne eine Zusammenarbeit mit den »Regulierten« letztlich keine effizienten Regelungen geben kann. Die gegenwärtige ökonomische Krise hat zwar die Unzulänglichkeit dieser Maßnahmen erwiesen, aber auch einen erweiterten Rahmen für eine intelligente Regelung des Finanzsystems sichtbar gemacht. Auch wenn sich derzeit nicht voraussehen lässt, wann und wie ein neues Abkommen zustande kommen könnte, so kann man doch jetzt schon sagen, dass es zweifellos eine Einübung in eine adaptive Intelligenz sein müsste, die zu ihrer Verwirklichung eines kooperativen Rahmen bedarf. Es ist also durchaus nicht übertrieben zu behaupten, dass zu den Gründen der Krise auch ein kognitives Versagen gehört. Warum erscheint aus dieser Perspektive das Finanzsystem intelligenter und dynamischer als die Bereiche von Politik und Recht? Vor allem deshalb, weil die Wirtschaft kognitiv und flexibler agiert und über eine große Lernfähigkeit verfügt, während sich Politik und Recht an einen normativen Habitus gewöhnt haben, der dazu tendiert, dort, wo eigentlich Lernfähigkeit gefordert wäre, Anweisungen zu geben. Während Politik und Recht dazu neigen, auf Enttäuschungen normativ zu reagieren, herrschen in der Erwartungsstruktur, die ökonomische Operationen im Allgemeinen und die des Finanzsystems im Besonderen bestimmt, kognitive, adaptive und lernoffene Haltungen vor. Deshalb der Vorsprung der Ökonomie und des Finanzsystems bei der Definition der Probleme und der Maßnahmen, die ihnen entgegenwirken sollen.
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Die Komplexität und Geschwindigkeit der Innovationen des Finanzsystems haben den Banken und Versicherungsgesellschaften einen kognitiven Vorsprung verschafft. Die Schwächung der Autorität des Staates in Finanzierungsfragen ist allgemein bekannt: »Waren früher die Staaten die Herren des Marktes, so sind es heute die Märkte, die die Staatsregierungen dominieren« (Strange 1996). Die öffentlichen Autoritäten sind in ihren technischen Fähigkeiten und ihrem Expertenwissen zurückgeblieben, aber wenn die Regulateure und Kontrolleure nicht auf der Höhe ökonomischer Innovationen sind, sind wirksame Regelungen unmöglich (Steinherr 1998). So gesehen leuchtet die These ein, dass es keine wirkliche Lösung der Krise geben wird, solange die öffentlichen Akteure nicht in der Lage sind, das nötige Wissen zu generieren. Bis jetzt hat die Betonung der Kontrollfunktion der Staaten und ihrer Hierarchien die Aufmerksamkeit von den kognitiven und kooperativen Aspekten des Regierungshandelns abgelenkt. Wer nicht über das entsprechende Wissen zum Verständnis der neuen Finanzinstrumentarien und für die Aufklärung der Akteure über ihre spezifischen Risiken verfügt, ist nicht in der Lage, seiner Verantwortung für die Überwachung und Regulierung nachzukommen. Ein gesundes Finanzsystem verlangt vor allem, dass die staatlichen Autoritäten und Anleger über Informationen für eine adäquate Einschätzung der Risiken verfügen, die ihnen in der aktuellen Krise bislang verwehrt geblieben ist. Es geht gar nicht darum, Innovationen des Finanzsystems zu verhindern, die ja legitim und für viele Wirtschaftsbereiche überaus nützlich sind. Da die gegenwärtige Krise nicht durch die Instrumentarien dieses Systems, sondern durch ihren unangemessenen Gebrauch ausgelöst wurde, muss man vielmehr ihren Missbrauch verhindern und sie transparent gestalten, auch wenn das sicherlich nicht einfach sein wird, da diese Innovationen in den nächsten Jahren noch unkalkulierbare Ausmaße annehmen werden. Solche Maßnahmen dürfen daher nicht auf eine Behinderung gemeinnütziger Innovationen abzielen, sondern sie müssen gefährliche und unakzeptable Praktiken korrigieren. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt darin, dass in den letzten Jahren bestimmte Risikoformen aufgetreten sind, die sich mit den traditionellen ökonomischen und politischen Instrumentarien nicht mehr bewältigen lassen. Um die aktuellen Probleme der Regulierung des globalen Finanzmarktes verstehen zu können, sind vor allem die Charakteristika und Konsequenzen der Wissensproduktion im Finanzsystem und die Rele-
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vanz des Wissens für die Politik zu bedenken. Die neuen Verhältnisse, in denen sich diese Probleme stellen, werfen Fragen auf, für deren Beantwortung die alten Lösungen kaum noch taugen, die entweder von einer Priorität des Marktes oder direkter und einseitiger staatlicher Intervention ausgehen. Wirklich innovative Lösungen müssen aber Problemen von noch unbekannter Reichweite entsprechen. Welche neuen Regierungsformen könnten der wachsenden Deterritorialisierung und Verselbständigung der finanziellen Transaktionen angemessen begegnen? Wie müssten die Regulierungsinstitutionen und -systeme für eine globalisierte Welt und ihre finanziellen Innovationen beschaffen sein? Und wie ließen sich die Schwierigkeiten der Politik mit der Etablierung einer weltweiten Regierung und effizienten Eingriffen in die Globalisierungsprozesse überwinden? Die Politik ist aufgefordert, ihre Entscheidungsgewalt unter neuen Bedingungen zurückzugewinnen, wenn sie denn ihre Funktionen weiterhin erfüllen und sich nicht mit der Rolle eines Opfers dieser Entwicklungen begnügen will.
D IE ÖKONOMISCHE K ONSTRUK TION DES V ERTR AUENS Die aktuelle ökonomische Krise enthüllt einen systemischen Vertrauensverlust, der die Fragilität der Architektur des Vertrauens in der Wissensökonomie aufzeigt. Vertrauen aber ist für die Wirtschaft und insbesondere für die Effektenmärkte von essentieller Bedeutung: Investoren vertrauen darauf, dass die Bilanzen stimmen, die Analysten korrekt informieren und die Aufsichtsbehörden kompetent sind; kleine Anleger vertrauen auf die großen Anleger, deren Umgang mit Fonds sie im allgemeinen nicht durchschauen können; jeder muss davon ausgehen können, dass das System genügend Kontrollfunktionen hat und diese unabhängig von den Interessen und Vorlieben der sie Ausübenden funktionieren; von den Ratingagenturen und Wirtschaftsprüfern erwartet man nicht nur Bewertungen, sondern auch eine besondere Aufmerksamkeit für jedes systemrelevante Problem; sie haben Alarm zu schlagen, wenn Gläubiger insolvent werden oder Unternehmensbilanzen falsche Zahlen aufweisen. So gesehen ist das Scheitern der Ratingagenturen einer der beunruhigendsten Aspekte dieser Krise. Der derzeitige Vertrauensverlust lässt sich als eine Reaktion der Investoren auf ein undurchsichtiges Finanzsystem verstehen, dessen Aus-
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maße sie nicht absehen können. »Die mathematische Komplexität der finanziellen Innovationen und Transaktionen überfordert nicht nur die Fähigkeit der Kontrolleure, ihnen nachzukommen (und noch mehr die einer Kontrolle a priori), sondern auch die Fähigkeit vieler Unternehmen, sie überhaupt zu begreifen« (Cerny 1994, 331). Die Welt der Ökonomie ist gewiss keine einfache Realität, aber wenn die unvermeidliche Komplexität zu verdächtigen Undurchsichtigkeiten führt, blockieren sich die Akteure gegenseitig und die Märkte können nicht mehr funktionieren. Die Vertrauenskrise ist ein inständiger Appell an politische und rechtliche Maßnahmen, die das Vertrauen der Konsumenten und Investoren wieder herstellen müssen. Auch wenn bisher die Interventionen der öffentlichen Haushalte eine Panikspirale vermeiden konnten, so ist das Verhalten der ökonomischen Akteure doch eher abwehrend und von einem Misstrauen gezeichnet, das den Kreditmarkt blockiert. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich die grundlegendsten Anliegen der Wissensgesellschaften weltweit in einer angemessenen Kontrolle und Steuerung ihrer Entwicklungen konzentrieren. Warum ist überhaupt Vertrauen in einer komplexen Gesellschaft so nötig und unerlässlich? Zunächst schon deshalb, weil in einer entwickelten Wirtschaft das Vertrauen in die Geldstabilität nicht aus dem Wissen und den Perspektiven Einzelner erwachsen kann. Die unverzichtbare Bedingung für ökonomisches Handeln angesichts einer stets ungewissen Zukunft ist vielmehr ein kollektives Vertrauen in das gesamte System. In dem Maße, in dem Geld in Ländern investiert wird, die man selbst noch gar nicht besucht hat, oder in dem man Unternehmen Geld leiht, deren Mitarbeiter und Produkte man gar nicht kennt, nimmt die ökonomische Notwendigkeit systemischer Sicherheiten zu. Das ganze Wissen von Investoren und Banken ist keine ausreichende Grundlage, um Kreditmöglichkeiten lediglich aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen einschätzen zu können. Sie sind vielmehr auf das Wissen von Dritten angewiesen, weshalb sich Kreditinstitute ja auch auf externe Beobachtungen stützen. Denn ihre Risiken ergeben sich nicht nur aus den einzelnen Komponenten eines durchschaubaren und wie ein Mechanismus funktionierenden Systems mit einer perfekten Arbeitsteilung, sondern aus der Operationsweise des Gesamtsystems, in dem sich partielle Risiken in ihren Verkettungen zu einer systemischen Destabilisierung auswachsen können (Willke 2001, 9).
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Die Einsicht, dass die heutigen Gesellschaften vor allem durch die Ausweitung ihrer Spielräume und ihrer Risiken charakterisiert sind, ist allgemein bekannt. Diese Risiken sind so beschaffen, dass es zwischen Risiko und Risikolosigkeit keine Alternative mehr gibt, so dass die meisten ökonomischen Entscheidungen unkalkulierbare Konsequenzen implizieren. Zunehmende wirtschaftliche Interdependenzen und Komplexitäten erschweren die Einschätzung der Handlungsfolgen und Risiken noch zusätzlich. Die Eigendynamik der Märkte verlangt Entscheidungen, deren Folgen sich in einer unberechenbaren Zukunft geltend machen (Nassehi 1997, 339), so dass auch Präventionsmaßnahmen nicht und vor allem dann nicht risikolos sein können, wenn sie überflüssig sind (Wildavsky 1988). Denn in diesem Fall behindern sie geradezu eine angemessene Prävention, da sie deren Möglichkeiten, aus neu auftretenden Risiken zu lernen, von vornherein einschränken. Bei diesem Licht betrachtet kollidiert die Logik der Prävention mit der Logik der Innovation. Denn während jene Irrtümer möglichst zu vermeiden sucht, besteht diese darin, unablässig mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren. Innovation ist, so gesehen, ein Prozess, der Fehler als Anlässe für neue Lernprozesse nutzt. Im Rahmen dieser Überlegungen zeigt sich, dass die traditionellen Analyse- und Kontrollinstrumentarien nicht mehr oder nur noch in sehr begrenztem Maße in der Lage sind, den derzeitigen Verunsicherungen zu begegnen. Die Wissensökonomie macht deutlich, inwieweit wir vom Wissen Anderer abhängig sind und warum deshalb Vertrauen, auch wenn es irren kann, ein unverzichtbarer Rückhalt ist. Genau deshalb rückt das Phänomen des Vertrauens immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In den immer unübersichtlicheren gesellschaftlichen Beziehungen wird es zu einer ebenso knappen wie wichtigen Ressource, die in dem Maße an Bedeutung gewinnt, in dem auch die Dimension des Nichtwissens zunimmt, das wir zu verarbeiten haben. Hier bestätigt sich Luhmanns Idee, dass das Vertrauen ein Mechanismus der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität ist (1989). Denn es erlaubt, ein größeres Maß an Komplexität und Unsicherheit zu tolerieren und entspricht damit dem Erfordernis neuer Sicherungsmechanismen, die in der Lage sind, den Verlust rationaler Kalküle der Risikoabschätzung zu kompensieren. Deshalb gewinnen Organisationen immer mehr Bedeutung, die Entscheidungsfindungen dadurch unterstützen, dass sie Unsicherheiten strukturieren. Vor allem die Ratingagenturen entsprechen den Anforde-
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rungen einer Herstellung von Vertrauen im Sinn von »Sicherheitsinfrastrukturen« (Hammer 1995), die auch unter unsicheren Bedingungen ein Maximum an Vertrauen, Berechenbarkeit und Prävention gewährleisten. Indem diese Agenturen die Vertrauenswürdigkeit der Schuldner begutachten, ermöglichen sie eine angemessene Festsetzung von Risikoprämien. Man hat sie deshalb auch als »guardians of trust« (Shapiro 1987, 645) oder gar als »quasi regulatory-institutions« (Sinclair 199, 159) bezeichnen können, denn sie entsprechen den wachsenden Anforderungen nach wissensgestützten Mechanismen, die in der Lage sind, den Risiken des globalen Finanzsystems zu begegnen. Insofern ist Michael Powers These (1997, 123) zuzustimmen, dass die heutige Gesellschaft nur an ihrer Oberfläche eine Gesellschaft des Misstrauens ist. Denn ihre Wirtschaft braucht nicht nur mehr Vertrauen, sondern sie bedarf auch eines gewissen »Misstrauens, das Vertrauen schafft«. Wirtschaftsprüfer und zertifizierte Berichterstatter tragen als Anwälte dieses Misstrauens zur Vertrauensbildung bei und unterstützen die ökonomische Entscheidungsfindung. Ratingagenturen transformieren eine unbestimmte Kontingenz in strukturierte und handhabbare Komplexität. Ihre Gutachten über die Wahrscheinlichkeit von Zahlungsunfähigkeiten bewerten die Unbestimmtheit und übersetzen sie in leicht verständliche Buchstabenkombinationen. Wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, dass jede Regulierung der Kontingenz unvermeidlich auch ihre eigenen Risiken generiert und dass die Ratingagenturen, indem sie die Handhabung von Unsicherheiten ermöglichen, zugleich auch das Tempo finanzieller Transaktionen beschleunigen. Wie dem auch sei, jedenfalls ist damit deutlich geworden, dass wir unsere Modelle zur Risikobestimmung verbessern müssen, da sich einer globalen Wissensökonomie künftige Ereignisse nicht mit statischen und quantitativen Mechanismen kontrollieren lassen. Traditionelle Instrumentarien wie Bilanzen, die eine gewisse Rationalität, Kalkulierbarkeit und Glaubwürdigkeit gewährleisten sollten, haben viel von ihrer Wirksamkeit verloren und die bisherigen Kontrollinstanzen sind kaum noch in der Lage, sicheres Wissen für Regulierungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Die Frage der Rationalität der Risiken, d.h. das Problem einer genauen Kenntnis der kognitiven und operativen Instrumentarien von Banken, Ratingagenturen und Kontrollgremien im Umgang mit den aktuellen Risiken des Finanzsystems, bleibt deshalb weiterhin eine unserer größten Herausforderungen.
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Das Erfordernis, unsere Instrumentarien einer Bemessung von Werten und Risiken entscheidend zu verbessern, gewinnt in einer Zeit an Dringlichkeit, in der die Überwachungskapazitäten zugunsten einer Vermehrung der sogenannten »knowledge assets«, d.h. von Produkten abnehmen, die nicht in den Bilanzen erscheinen, wie z.B. Patente, Software, strategische Bündnisse etc. (Boisot 1999; Litan/Wallison 2000). Eine Quantifizierung dieser immateriellen Güter, deren Unbestimmtheit die Verlässlichkeit der aktuellen Bewertungen in Frage stellt, ist daher unerlässlich. Der zeitliche Aspekt dieser Entwicklungen konfrontiert uns zudem mit der Schwierigkeit, dass die Beschleunigung der Wissensproduktion das accounting, d.h. das Rechnungswesen, »entfuturisiert« und entwertet. Es wird, vor allem in Bereichen wie den Informationstechnologien und den Finanzdienstleistungen immer schwerer, aus der Vergangenheit Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Der sich verschärfende Wettbewerb erzwingt nicht nur eine unablässige Revision von Produkten und Dienstleistungen, sondern bewirkt zugleich auch eine Verkürzung der Geltungsdauer von Expertenwissen.
D AS P RINZIP V ER ANT WORTUNG Der Begriff einer vernetzten Welt ist als Bezeichnung der sich realisierenden Globalisierung zu einem Gemeinplatz geworden. Er beinhaltet im Grunde eine Verminderung von Verantwortlichkeit, ja sogar eine mehr oder weniger offen unverantwortliche Welt, die sich jeder Kontrolle und Verwaltung entzieht. Vernetzung bedeutet einerseits Gleichgewicht und gegenseitige Mäßigung, andererseits, wie sich z.B. an der derzeitigen Finanzkrise ablesen lässt, aber auch ansteckungsgleiche Übertragungen, kaskadenförmig sich ausbreitende Effekte und eine lawinenartige Verstärkung von Katastrophen. Eine allseitig vernetzte Welt ist, wie Giddens im Zusammenhang mit den unangenehmeren Aspekten der Globalisierung formuliert (2002), auch eine »entfesselte Welt«. Insofern ist die derzeitige ökonomische Krise letztlich eine Krise der Verantwortlichkeit. Das zeigt sich am deutlichsten in der Verbreitung von Finanzprodukten wie der Verbriefung, die einen Willen zur infiniten Verschiebung von Risiken zum Ausdruck bringen. Die Bereitschaft Risiken einzugehen, ohne die Konsequenzen zu tragen, nannte man früher »risikolose Risiken«. Sie hat die wichtigste Aufgabe der Banken, ihre
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Kreditfunktion, wahrhaft pervertiert. Die Banken haben Produktserien und Wertekombinationen geschaffen, welche die Profitgier der Investoren immer mehr anstacheln mussten. Im Rückblick zeigt sich eine unaufhaltsame Bereicherungsmaschinerie, die wieder einmal die ungebrochene Funktionsfähigkeit des bekannten Syndroms »this time is different« offenbart hat (Reinhart/Rogoff, 2009). Dabei ist zugleich auch deutlich geworden, dass die Globalisierung der Finanzen sehr viel anfälliger ist als die des Handels. Die Verbriefung hat wie ein globaler Mechanismus der Abschwächung von Verantwortlichkeiten gewirkt, der Risiken zugleich verteilt und verdeckt und die Märkte undurchschaubar gemacht hat. Derartige Finanzprodukte haben eine Verschiebung und Neutralisierung der Risiken von Geldanleihen ermöglicht und die Lasten auf die Spekulationsmärkte abgeschoben, deren Undurchschaubarkeit wiederum Kontrollen verhindert, aber exzessive Risiken und riskante, unkalkulierbare Wertpapiere zugelassen hat. Dies und die Entwicklung neuer, ebenso exotischer wie unflexibler Finanzinstrumentarien, die Zunahme immer komplexerer Folgeerzeugnisse sowie das undurchsichtige und unkontrollierte Operieren vieler Finanzinstitute hat jegliches Bemühen um Transparenz verhindert und das Vertrauen der Investoren zerstört. So musste sich die Schwierigkeit, Preise, Risiken und Toxizität zu kalkulieren, schließlich zu einer allgemeinen Verunsicherung auswachsen. All das wäre nicht geschehen, hätten nicht gleichzeitig Staaten, Zentralbanken und globale Geldinstitute ihre Verantwortlichkeiten vernachlässigt. Leitende Wirtschafts- und Finanzmanager haben den Selbstregulierungskräften der Märkte blind vertraut, die Verantwortungslosigkeit der Kreditmärkte akzeptiert und nach Verhaltensmustern agiert, die allein an den Börsen funktionieren. So konnten die von ihnen initiierten unvermeidlichen Rettungsaktionen gar nichts zur Förderung eines verantwortlichen Handelns beitragen. Stattdessen haben sie dazu geführt, dass von diesen Aktionen ökonomische Akteure profitierten, die sich exzessive Risiken leisten konnten, weil sie nicht fürchten mussten, die Konsequenzen der reihenweisen Katastrophen tragen zu müssen, die ihr Bankrott im Wirtschaftsleben hätte auslösen können. Diese Krisensymptome machen die Konstruktion einer neuen Verantwortung in der Finanzwelt unausweichlich, die nicht mehr durch normative
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Regulierungen, sondern nur durch Kontrollen und Aufsicht gewährleistet werden kann. Die Regierenden müssen begreifen, dass sie die großen Wirtschafts- und Finanzakteure mit ihrer Verantwortung zu konfrontieren und gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen haben. So verlangt die Verantwortlichkeit der Kreditgeber nach einer Begrenzung des Verbriefungsrechts, d.h. die Herstellung von Transparenz auf dem Markt der Folgeerzeugnisse, um zu verhindern, dass Schulden zum Spekulationsmittel werden; die Verantwortlichkeit der Aktionäre erfordert, dass nur denen ein Stimmrecht eingeräumt wird, die sich wirklich dauerhaft um eine verlässliche Unternehmensstrategie bemühen; und die Verantwortlichkeit der Staaten besteht darin, sich auf ein System stabiler Paritäten zu verständigen, das in der Lage ist, allzu große Devisenschwankungen mit ihren Verunsicherungen der ökonomischen Akteure zu verhindern. Eine Konstruktion von neuen, die Verantwortlichkeiten regelnden Vereinbarungen darf nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass sie es mit einem immer dichter werdenden Netz von Abhängigkeiten zu tun hat, in dem sich die Pflichten nicht mehr genau ausmachen und eindeutig definieren lassen. In einer Welt wachsender Interdependenzen nimmt auch die Anzahl der Handlungsfolgen zu, die sich keiner eindeutigen Ursache mehr zuordnen lassen. Wir dürfen deshalb nicht der Versuchung erliegen, die Wirklichkeit zu vereinfachen, indem wir die Verantwortlichkeiten personifizieren. Schuld an der Krise sind weder Steuerparadiese noch die Gewinne der Protagonisten. Das unterscheidet sie von der Krise der Jahre 2001-2003, bei der diese Gewinne eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer Blase digitaler Unternehmen gespielt hatten. Auch wenn die heutige Krise ein exzessives Ausmaß von Gewinnen und Vergütungen an den Tag gebracht hat, so heißt das noch nicht, dass dies auch ihre Ursache ist. Und auch wenn Staaten solche Vergütungen in den Unternehmen beschränken, die sie vor dem Konkurs retten mussten, so darf uns das nicht zu der Annahme verleiten, dass allein diese Vergütungen die Probleme dieser Unternehmen verursacht haben, die dank dieser Maßnahmen nunmehr gelöst seien. Angesichts der hier angedeuteten Problemkomplexe ist die Bezeichnung »organisierte Unverantwortlichkeit« für unsere gegenwärtigen Gesellschaften (Beck 1988) durchaus gerechtfertigt, auch wenn man sich fragen kann, ob wir es nicht eher mit einem Mangel an Organisation zu tun haben. Könnte es sein, dass wir angesichts von Entwicklungen, die unsere bisherigen Rechts- und Pflichtauffassungen überforderten, nicht
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mehr in der Lage waren, die Verantwortungen in gesellschaftlichem Maßstab neu zu organisieren? Dieses Versagen des kollektiven Verantwortungsbewusstseins lässt sich nicht einfach den Politikern oder bürgerlichem Unwillen anlasten, sondern hat eher mit jener Mischung aus institutioneller Schwäche und Fatalismus zu tun, die für unsere demokratischen Kompromisse kennzeichnend ist. Angesichts der neuesten Entwicklungen eröffnet sich hier ein weites Feld für Neuorganisationen, die in der Lage wären, die Verantwortlichkeiten neu festzulegen und blinde Entwicklungsdynamiken in beherrschbare Prozesse zu transformieren. Die Schwierigkeit solcher Maßnahmen liegt darin, dass sich die Bedingungen für die Bestimmung und Ausübung gesellschaftlicher Verantwortung geändert haben und wir ganz neue Konzeptionen und Artikulationen einer Form komplexer Verantwortung benötigen (Innerarity 2012). Gesellschaftliche Verantwortung muss in einer Zeit neu gedacht und bestimmt werden, in der der Zusammenhang zwischen dem individuellen Verhalten (als Darlehensgeber, Konsument, Aktionär, Wähler oder Kunde) und seinen globalen Auswirkungen unklar geworden ist. Die Artikulation neuer Verhältnisbestimmungen zwischen Individuellem und Allgemeinem, Eigenem und Gemeinsamen, hängt davon ab, inwieweit es uns gelingt, einen Begriff von Verantwortung zu entwickeln, der den heutigen komplexen Gesellschaften gerecht wird und unseren berechtigten Erwartungen entspricht, in einer regierbaren Welt leben zu können, an deren Entwicklung wir aktiv teilhaben.
D IE KOOPER ATIVE I NTELLIGENZ Die wichtigste Form sozialer Intelligenz, die am ehesten unseren drängendsten Herausforderungen entspricht (die nicht nur ökonomischer Natur sind, sondern auch mit Bedrohungen zu tun haben, die von Problemen der Ökologie, der Sicherheit oder der sozialen Ungleichheit ausgehen), ist zweifellos die kooperative Intelligenz. Diese Kooperation ist in einer Zeit besonders dringlich, in der sich das Finanzsystem weitgehend von seinen territorialen Bezügen gelöst hat und sich den staatlichen Rahmenbedingungen seiner Regulierung und Kontrolle entzieht (O’Brian 1992). Eines der größten Probleme der Finanzregulierung beruht gerade darin, dass die Systeme des Rechts und der Politik dem Rhythmus des globalen Finanzsystems nicht mehr folgen können, da sie über die Grenzen des
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Nationalstaates kaum hinausreichen. Die Staaten können sich nur in der Form eines Nullsummenspiels in die Globalisierung einfügen, das per definitionem konfliktträchtig ist und nur in einem strikt zwischenstaatlichen Rahmen annehmbar wäre. Aber auch ein solcher Rahmen wäre angesichts einer globalen Krisensituation unzureichend und nicht mehr in der Lage, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte weltweit auszugleichen. Denn konjunkturelle Maßnahmen, die einzelne Staaten gegen die Krise ergreifen könnten, sind stets begrenzt und von der Bildung einer neuen, weltweit greifenden, gerechten und intelligenten Wirtschaftsordnung noch weit entfernt. Für diese Aufgabenstellung ist der Rahmen zwischenstaatlicher Beziehungen eindeutig zu eng. Um für dieses ambitionierte Ziel zumindest eine gangbare Richtung ausmachen zu können, kommen wir letztlich nicht umhin, die Missverhältnisse zwischen der globalen Dimension unserer Probleme und dem ohnmächtigen Provinzialismus unserer Lösungen, zwischen dem globalen Charakter der Finanzmärkte und der Standortgebundenheit der Zentralbanken und ihrer Regulierungsinstanzen zu beseitigen. Jede mögliche Lösung dieses Problems ist darauf verwiesen, die globale Reichweite der gegenwärtigen Krise angemessen zu begreifen und sie muss daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen: Die Märkte für die Verbriefung von Folgeprodukten sind weltweit unter vergleichbaren Umständen und aus denselben Gründen eingebrochen; auf die Finanzkrise ist in fast allen Ländern unter denselben Umständen ein Wirtschaftskrise gefolgt; die riskantesten Innovationen des Finanzsystems haben sich weltweit in einer Weise vernetzt, die ihre geographischen Implantierungen und die ihnen entsprechenden Finanz- und Managementstrategien überforderte. Daher ist die gegenwärtige Krise nicht nur eine nordamerikanische Krise, die sich aufgrund der wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen der Vereinigten Staaten mit der übrigen Welt internationalisiert hätte. Es handelt sich vielmehr um eine globale Krise im vollen Wortsinn, ja vielleicht um die erste Krise mit wirklich globaler Reichweite. Das zeigt sich schon daran, dass gerade die weltweiten Interdependenzen zum Ausmaß dieser Krise beigetragen haben. Denn normalerweise haben wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen einen mäßigenden Effekt auf nationale Krisensituationen. Die sie auslösenden Impulse lassen sich durch die internationalen Bewegungen des Kapitals und die Schwankungen der Wechselkurse abschwächen und zumindest teilweise aus Entwicklungen im »Rest der Welt« ableiten. Bei einer Krise
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globalen Ausmaßes gibt es aber keinen »Rest der Welt« mehr, der diese ausgleichende Funktion übernehmen könnte und die Krise muss ihre immanente Logik bis zum Ende entfalten. In der Tat hat sich ja schon deutlich gezeigt, dass international verflochtene Krisen sehr viel tiefgreifender und kostspieliger sind als lokale Krisensituationen. Das gilt natürlich umso mehr für globale Krisen, zumal wir in diesem Maßstab über keinerlei Institutionen verfügen, die in der Lage wären, mit ihren globalen Ausmaßen und deren Risiken umzugehen. Ein Großteil unserer bisher begangenen Fehler lässt sich aus einem Unverständnis für die Bedeutung einer globalisierten Ökonomie und die globale Reichweite der Krise erklären. Zu ihren Auslösern gehört auch mangelnde Kooperationsfähigkeit, und schwerwiegender als die Fehler der Finanzpolitik in den Vereinigten Staaten oder Europa, ist für ihre Entwicklung das Fehlen einer Struktur für internationale Koordinationsmaßnahmen. Die von der American International Group oder Lehman Brothers akkumulierten Ungleichgewichte konnten sich deshalb derart auswachsen, weil die Finanzkontrolleure außerstande waren, auch nur ein Minimum an Informationen auszutauschen. Noch erstaunlicher und auch beunruhigender ist aber die Tatsache, dass sich diese Unfähigkeit zur Zusammenarbeit nicht nur auf die transatlantischen Beziehungen beschränkt, sondern auch die Beziehungen zwischen den Kontrollinstanzen innerhalb der Europäischen Union und hier noch einmal zwischen Versicherungs- und Bankenaufsehern innerhalb eines Landes betrifft. Die bislang eingeleiteten Gegenmaßnahmen gegen die Krise haben diese Kooperationsmängel nicht wirklich beheben können. Kaum eine der einzelstaatlichen Maßnahmen ist im Bewusstsein ihrer Auswirkungen auf andere Staaten getroffen worden. Mit dieser Weigerung, den globalen Charakter der Krise und die Notwendigkeit weltweit wirksamer Gegenmaßnahmen anzuerkennen, laden die Staaten eine große Verantwortung für die weiteren Folgen auf sich. Bislang sind die Treffen des Internationalen Währungsfonds, der G20-Staaten und der Europäischen Union immer noch nicht über eine Addition nationaler Politiken hinaus zu einer weltweit wirksamen Kooperation gelangt. Alle Beteiligten täten deshalb gut daran, sich bewusst zu machen, dass politische Maßnahmen, die nicht in Kooperationen eingebettet sind, gar nicht umhin können, die Weltökonomie insgesamt zu schwächen. Gegen die Versuchungen zum Protektionismus oder zu unilateralen Lösungen ist daran zu erinnern,
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dass auch nach der großen Krise von 1929 nicht der Markt, sondern die nicht kooperationsbereiten Staaten versagt hatten. Deshalb kann eine Reform der Normen der Finanzpolitik und -aufsicht nur in internationalem Maßstab gelingen. Auch wenn die Idee einer globalen Finanzregulierung momentan kaum realistisch (und vielleicht nicht einmal wünschenswert) erscheint, so bleiben jedenfalls alle Gegenmaßnahmen gegen die Krise ohne eine bessere Koordination der politischen Regulierung und Kontrolle der Finanzsysteme von vornherein aussichtslos. In dieser Hinsicht bietet die Tradition der europäischen Zusammenarbeit, welche die Europäische Union zu einem weltweit beispiellosen Rahmen für rechtliche Sicherheit und demokratische Verantwortung hat werden lassen, durchaus vielversprechende Vorteile. Wenn auch Europa nicht das kritische Ausmaß hat, das nötig wäre, um es zu einem Regulierungspol zu machen, so gründet seine Bedeutung doch in der Tatsache, dass es innerhalb seines Bereiches einen Teil der internationalen Regulierungen auf Gegenseitigkeit hat abstellen können, so dass es heute immerhin als der am besten positionierte Akteur für die Durchführung weltweit wirksamer Reformen erscheint. Doch sind wir auch mit diesen Vorteilen von einer befriedigen Synchronisierung der politischen, juridischen und ökonomischen Systeme noch weit entfernt. Denn auch wenn die Europäische Zentralbank ihrer geldpolitischen Funktion durchaus nachkommt, so liegen die Aufsichtsbefugnisse nach wie vor bei den nationalen Banken und dieser staatliche Rahmen ist eindeutig zu eng. Das haben auch die Befürworter der Schaffung einer überstaatlichen Einrichtung in enger Verbindung mit der Europäischen Zentralbank bereits bemerkt (wie z.B. der De-Larosière-Bericht, der vorschlägt, einen Europäischen Rat für systemische Risiken zu schaffen), die sich durchaus nicht notwendigerweise auf den Bereich der EZB beschränken müsste. Letztlich besteht unsere große Herausforderung darin, eine intelligente Regierung der Finanzwirtschaft zu schaffen, die wiederum eine grundlegende Revision der Funktion der Politik in einer Wissensgesellschaft erforderlich macht. Eine neue Politik müsste die Fähigkeit haben, den Verlauf der Ereignisse aktiv zu gestalten, über die Autorität einer Kontrollinstanz verfügen sowie Verständnis und Übersicht für die Komplexität global wirksamer Verhältnisse auf bringen, kurz: Sie bedürfte einer systemischen Intelligenz und ihrer strategischen und antizipatorischen Kompetenzen. Das eigentliche Ziel einer solchen Politik müsste in der Schaffung von Formen »kognitiver Kooperationen« bestehen, die erfor-
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derlich sind, um heterogene funktionale Logiken, Herrschaftsstrukturen und Wissensressourcen optimal aufeinander abzustimmen und damit kollektive Lernprozesse einzuleiten. Nur so lassen sich durchaus berechtigte Klagen in effiziente Lösungen umformulieren. Wir müssen ein neues Paradigma politischer Regulierung und Aufsicht entwickeln, das nicht nur ausschließlich der Kontrolle und Sanktion dienen kann. Eine intelligente Regierung, die der gegenwärtigen Logik einer zunehmend heterarchischen und innovativen Welt entspricht, kann sich nicht mehr der traditionellen Instrumente einer hierarchischen Autorität bedienen. Denn zunehmend wird die Ordnungs- und Kontrollfunktion der Regulierung, die den Staaten eine zentrale Funktion zugewiesen hatte, durch Regeln im Sinne eines global accounting ersetzt. Die nordamerikanischen Rechtlegungsgrundsätze GAAP und die International Financial Reporting Standards machen deutlich, dass sich eine globale Regulierung nicht mehr von den Staaten bewerkstelligen lässt. Weder hierarchische Kontrollformen, wie die harte Hand des Staates, noch die anarchische unsichtbare Hand des Marktes sind noch ausreichend, um die komplizierten Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Akteuren auf dem Feld einer globalen Regulierung zu verstehen. Allein ein Regulierungskonzept, das offen ist für heterarchische Koordinations- und Kooperationsformen, wäre in der Lage, die vielfältigen Beziehungen zwischen unabhängigen und autonomen Akteuren zu regeln. Normenbegründete Regulierungsformen reichen nicht aus, um die Dynamik des Finanzsystems in der globalen Wissensgesellschaft zu beherrschen. Denn gesetzliche Regelungen werden unablässig mit unvorhersehbaren und noch unbekannten Innovationen konfrontiert. Deshalb müssen sich die Systeme von Politik und Gesetzgebung grundlegend ändern, um einem Finanzsystem gewachsen zu sein, das sich ihren Regulierungsmaßnahmen durch die Entwicklung neuer Instrumentarien und Produkte ständig entzieht. Da sich die geläufigen gesellschaftlichen Koordinationsmechanismen wie die Regulierung der Risiken des Finanzsystems zunehmend als wirkungslos erweisen, ist eine Lösung der gegenwärtigen Probleme nicht durch mehr Regulierung und inhaltliche Reformen zu erreichen, sondern sie bedarf einer besseren Regulierung durch Verfahren, an denen vor allem auch die Betroffenen beteiligt werden müssen. Denn die ökonomische Krise wird insbesondere auch unsere kooperative Intelligenz auf allen Ebenen auf die Probe stellen: Das gilt in den Bereichen lokaler Übereinkünfte ebenso wie in den weltweiten zwischen-
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staatlichen Kooperationen oder den Interaktionen zwischen Banken und Bankenaufsehern für neue innovative Modelle der Bankenaufsicht. Neue Formen der Zusammenarbeit werden in diesen Zeiten, in denen die Grenzen des Marktes und des Staates sichtbar werden, geradezu zu einem Paradigma der Krisen- und Konfliktbewältigung. An ihre Grenzen ist die Vorstellungen geraten, dass die spontane und deregulierte Entwicklung der Ökonomie rationalen Maßstäben folgt, und als begrenzt hat sich auch der Glaube erwiesen, dass man diesen Rationalitätszuschlag einer hierarchischen Kontrolle der Märkte anvertrauen könnte. Ich denke, dass sich die kommenden Debatten über diese Probleme auf anderen Feldern abspielen werden als dem, das heute noch Liberale und Sozialdemokraten, Markt und Staat in zwei Parteien spaltet. Wir werden diese Grenzziehungen öffnen und darüber nachdenken müssen, welche Kooperationstypen den neuen sich uns stellenden Problemen angemessen sind. Sicherlich sind wir noch weit von einem Gleichgewicht zwischen beiden Spannungspolen entfernt und vielleicht lässt sich ein Ausgleich zwischen ihnen nur in einem geschichtlich offenen und variablen Verhältnis beider finden, das in bestimmten Momenten der Initiative freien Lauf lässt und in anderen Regulierungsmaßnahmen den Vorzug gibt. Auf alle Fälle aber lässt sich ein solcher Ausgleich nur in einem neuen Rahmen finden, den wir kooperative Rationalität nennen können: ein Zusammenwirken aller Beteiligten, das Regierungsverfahren hervorbringt, in denen sich Voraussicht, Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein miteinander verbinden. Möglich ist dies nur in dem Maße, wie es uns gelingt, unseren Sinn für Gemeinschaft und Öffentlichkeit in einer Bandbreite zu entwickeln, die sich bruchlos von häuslichen und lokalen Bereichen bis hin zu den globalen Dimensionen der gesamten Menschheit erstreckt. Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise hat einmal mehr gezeigt, dass auch der stärkste Staat im Zeitalter der Globalisierung allein nicht handlungsfähig ist und dass sich die gegenwärtige Logik der internationalen Konkurrenz der Staaten nicht mit einer Lösung unserer globalen Probleme vereinbaren lässt, so dass uns nur der Weg in die Richtung einer neuen Kooperation bleibt. Insofern haben wir es mit einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel zu tun, da wir immer noch daran gewöhnt sind, in Begriffen einer multipolaren Welt mit unkooperativen Kräfteverhältnissen zu denken. Aber wir können die Welt, in der wir leben, nicht einfach dem Schicksal ihrer faktischen Entwicklung überlassen, wenn wir nicht weiterhin
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den enormen Preis entrichten wollen, den Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Unsicherheit fordern. Doch diese Welt lässt sich nicht mehr hierarchisch und einseitig oder im Vertrauen auf Kontrollmechanismen beherrschen, die sich als unwirksam erwiesen haben. Eine wirksame Antwort auf diese Problemlage ist nur im Horizont der Konstruktion einer umfassenden kooperativen Intelligenz zu finden, denn sie birgt Herausforderungen, denen niemand allein gewachsen ist: weder der Markt noch der Staat, weder die Regierenden noch die Regierten, weder einzelne von den anderen isolierte Staaten noch ein kurzatmiger Protektionismus. Ich möchte dieses Kapitel deshalb mit der entschiedenen Formulierung schließen, dass wir eine kooperative Intelligenz und den Willen zur Kooperation niemals zuvor dringender nötig hatten als heute.
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Politik ist insofern stets eine inexakte Aktivität, als sie sich auf die Regierung einer gesellschaftlichen Totalität bezieht. Zwar können politische Entscheidungen unter Exaktheitskriterien getroffen werden, die für Teilbereiche oder zugrunde liegende theoretische Modelle gelten, doch im gesellschaftlichen Maßstab sind ihre Kalkulationen immer inexakt. Entscheidungen, die beispielsweise ökologische oder finanzielle Risiken betreffen, bedürfen stets eines solchen Maßstabs, d.h. einer Gesamtübersicht, die sich bestenfalls aus einer politischen Perspektive erreichen lässt. Natürlich sind in Beratungsprozessen immer auch die Urteile von Experten und eine Berücksichtigung partikularer Interessen vonnöten, aber eine abschließende Entscheidung kann letztlich immer nur politischer Natur sein. Politisches Handeln tritt immer dann in Aktion, wenn die Kalkulation an ein Ende gelangt, aber eine Fortsetzung oder Entscheidung noch nicht eindeutig absehbar ist. Eine der Unzulänglichkeiten, die ein Licht auf die gegenwärtige ökonomische Krise werfen, besteht in der Schwäche des politischen Systems bei der Regulierung der potentiellen Risiken einer Erneuerung des Finanzsystems. Es gab schlicht kein politisches Gegengewicht gegen ein übermächtiges Finanzsystem und dessen Glauben an die eigene Exaktheit. Schon die bloße Präsentation finanzieller Angelegenheiten als eminent technischer und komplexer Sachverhalte hat die Autorität der Regierenden in Frage gestellt und sie vermeintlichen Experten übertragen. Das hat zu einer Entpolitisierung diese Sachverhalte geführt und die relevanten Entscheidungen der öffentlichen Diskussion entzogen. Und diese Entpolitisierung der globalen Finanzen hat sich wiederum entscheidend auf die Prioritätensetzung der politischen Akteure ausgewirkt, wovon Be-
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reiche wie die Förderung der sozialen Gleichheit, der Gerechtigkeit oder der demokratischen Verantwortung in negativer Weise betroffen wurden. Die staatlichen Autoritäten sind davon ausgegangen, dass ein für Innovationen offenes System wie die Ökonomie des Marktes sich ohne das Risiko systemischer, d.h. systemimmanent entstehender Krisen entwickeln könnte, wie sie sich schon aus unvermeidlichen individuellen und kollektiven Irrtümern ergeben können. Die gegenwärtige Krise erinnert uns wieder einmal an die Beharrlichkeit solcher Risiken und an die Grenzen der Finanzkultur der letzten drei Jahrzehnte. Es ist, als ob die Ökonomie über keine anderen Mittel verfügte, sich dieser Grenzen bewusst zu werden, als gerade ihre Krisen. Doch diese Krisen lassen sich nur und auch dann nur in sehr begrenztem Maße vorhersehen, wenn man akzeptiert, dass die Ökonomie eine menschliche, allzu menschliche Wissenschaft ist. Auf welche Ursachen lässt sich dieser kollektive Schiff bruch zurückführen? Ich denke, dass unsere Schwierigkeiten, die ökonomischen Realitäten zu begreifen, zutiefst mit der Schwäche unserer (kognitiven und sachbezogenen) Instrumentarien der Antizipation zu tun haben. Wir wohnen einem Zusammenbruch jener Illusion der Exaktheit bei, die die Mathematisierung der Ökonomie und die Missachtung ihrer anthropologischen, sozialen und politischen Faktoren bisher beherrscht hat.
D IE E X AK THEITSHEITSILLUSION Das erste Erfordernis, dessen Nichtbeachtung die Krise mit ausgelöst hat, ist ein Bewusstsein für die Reichweite kollektiver Risiken sowie die Fähigkeit, sie zu antizipieren und zu ermessen. Im konkreten Fall der gegenwärtigen Finanzkrise hat die verbreitete Verantwortungslosigkeit mit einem Mangel an Voraussicht und dem Versagen der Warn- und Präventionssysteme begonnen. Hinzu kommt eine unzureichende Wahrnehmung der Ausmaße dieser Krise seitens der Verantwortungsträger. Dieser Mangel an Voraussicht enthüllt weniger ein moralisches oder politisches Problem, als vielmehr einen gravierenden kognitiven Mangel. Denn anders ließe sich kaum verstehen, warum sich aus einer Geschichte voller spekulativer Blasen und desaströser Auswirkungen keine folgerichtigen Konsequenzen ziehen lassen. Die Krise der sogenannten »neuen Ökonomie« liegt noch gar nicht lange zurück, aber wir haben immer
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noch nicht die Lektion gelernt, dass sich seinerzeit eine neue und durchaus auch viel versprechende ökonomische Ära angekündigt hatte. Aber im Überschwang der in der Finanzwelt verbreiteten Euphorie scheint die Hypothese einer Krise immer als allzu abseitig, als dass sie in der Lage sein könnte, die Reaktionen auszulösen, welche die Klugheit gebietet. Entgegen einer geläufigen Auffassung besteht deshalb ein durchaus häufiger Irrtum im Horizont von Bankenaktivitäten darin, die jeweiligen Szenarien mit einer allzu optimistischen Sicht zu verklären. Auf diese Weise konnte die phantastische Rentabilität bestimmter Produkte dazu führen, ihre Risiken zu unterschätzen oder gar zu ignorieren. Eine erste anthropologisch motivierte Erklärung für diese Unachtsamkeit besteht darin, dass die Überbringer schlechter Nachrichten niemals gut angesehen sind. Es gibt aber auch noch eine ideologische Erklärung, die damit zu tun hat, dass die Anhänger der Theorie finanzieller Effizienz viel Zeit in die Verbreitung der Behauptung investiert haben, dass sich der Markt niemals irre. Die Apologie einer »Weisheit der Massen« (Surowiecki 2005) wurde von einem fast magischen Vertrauen in die Selbstregulierung der Akteure und die Disziplin der Märkte getragen, so dass dadurch die Schaffung von Regulierungsinstrumentarien entscheidend behindert wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob dies, wie man gesagt hat, auf einen Mangel an ökonomischem Erinnerungsvermögen hindeutet oder eher auf eine Blindheit angesichts der Katastrophe. Auf jeden Fall steht fest, dass wir katastrophische Entwicklungen nur sehr schlecht voraussehen können, obwohl wir an verfeinerten mathematischen Kalkülen durchaus keinen Mangel leiden. Was uns fehlte, waren jedoch genaue Kartographien der Risiken, die es uns ermöglicht hätten, ihre irrationalen Verkettungen vorauszusehen. Ein Teil dieser Risiken war im Markt verstreut, so dass auch die Finanzinstitute sie kaum ermessen und ihre künftigen Wirkungen einschätzen konnten. Wenn der Zeithorizont enger wird und man nur noch das unmittelbare Interesse im Blick hat, ist es fast unmöglich, katastrophische Entwicklungen zu vermeiden. Die Kreditbanken arbeiteten mit Hypothesen und statistischen Szenarien nur, um ihre komplexen Produkte zu »verpacken« und ihre Sicherheit zu evaluieren. Aber diese Statistiken stützten sich auf historisch kurzlebige Reihen, ohne die Grenzfälle und akkumulativen Effekte eines Preissturzes der Immobilien in einem bestimmten Bereich zu berücksichtigen. Sowohl vom Gesichtspunkt der Information als auch der Kontrolle haben sich die Mechanis-
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men der Selbstregulierung als ungenügend erwiesen. All dies bringt an den Tag, dass wir durchaus noch nicht in der Lage sind, die globalen Risiken zu erkennen, zu bewältigen und zu kommunizieren. Damit stellt sich eine beunruhigende Frage: Wie ist es möglich, dass verfeinerte Analyseinstrumente für Risiken nicht in der Lage waren, ein katastrophales Ergebnis vorauszusehen? Man könnte zunächst annehmen, dass der Grund für unsere mangelnde Voraussicht der Krise darauf zurückzuführen wäre, dass wir die künftigen Risiken nicht richtig einkalkuliert hatten. Aber könnte es sich nicht ebenso genau umgekehrt verhalten, so dass gerade die Illusion der Exaktheit und der Glaube an die Unbegrenztheit mathematischer Kalküle im Blick auf die Einschätzung künftiger Krisen zu den Auslösern dieser Krise gehören? Wenn dem so wäre, könnten wir daraus schließen, dass sich die Krise weniger durch grenzenloses Gewinnstreben als vielmehr dadurch beschleunigt hätte, dass wir nicht imstande waren, rechtzeitig die immanenten Grenzen der mathematischen Methoden zu erkennen, die gerade bei der Bemessung der Risiken bestimmter Finanzprodukte besonders ungenau funktionieren. Die ökonomische Krise wäre demnach durch Kalkulationen und Messungen ausgelöst worden, welche eine Exaktheit voraussetzten, die sie gar nicht bieten konnten (Charolles 2008; Beauvallet 2009). Die Fortschritte mathematischer Modellbildungen sollten uns nicht zu der illusionären Vorstellung verführen, dass sie jede Ungewissheit beseitigen könnten. Gerade im Verlauf dieser Fortschritte mehren sich auch die Stimmen, die auf die immanenten Grenzen jeder Modellbildung, der nur vermeintlich absoluten Verlässlichkeit der Messsysteme und der Exaktheit ihrer Voraussagen verweisen. Um diese Fragen drehen sich aktuelle Debatten, in denen bestimmte, bisher für abzählbar gehaltene Prinzipien, die Exaktheit von Statistiken und Modellbildungen oder die geläufigen Modelle für die Fortschrittsbemessung auf dem Prüfstand stehen, die, ähnlich wie das Bruttoinlandsprodukt, von allzu einfachen Größen abhängen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Mathematik immer ein Instrument der Vereinfachung ist. Auf bereitete Zahlen enthalten immer auch Bewertungen und sie verändern sich mit diesen. Und Messungen setzen eine Auswahl voraus, deren politische Bedeutung keineswegs zweitrangig ist. Diese Inexaktheit fällt umso mehr ins Gewicht, wenn es um Probleme wie die des Finanzmarktes geht, die in Wahrscheinlichkeiten und Antizipationen künftiger Entwicklungen beruhen. In solchen Fällen kann man guten Gewissens davon ausgehen, dass die Modelle
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unserer Risikoabschätzungen ihrerseits riskant sind. Janet Tavakoli hat in ihrem Buch über Kreditderivate in diesem Zusammenhang von den »Grenzen der Versuche« gesprochen, »mathematische Modelle anzuwenden, um das Nichtwissen zu bestimmen, das man gar nicht kennt« (Tavakoli 2001). Es bedürfte einer wahren epistemologischen Revolution, um die Illusion zu verabschieden, dass wir in einer kalkulierbaren Welt leben könnten, die einer unbegrenzten Anwendung jener Wissenschaftsmodelle offen stünde, die wir von den Naturwissenschaften übernommen und auf die soziale Wirklichkeit übertragen haben. Diese Modelle verdanken ihre Exaktheit lediglich der Tatsache, dass sie objektive, subjektfremde Gegebenheiten messen. Wenn es aber darum geht, menschliches Verhalten zu ermessen, das in allen Aktivitäten des Finanzmarktes wirksam ist, stoßen sie sehr schnell an ihre Grenzen. Auch und gerade der Finanzmarkt ist kein in sich geschlossener Bereich, der sich durch Wissen und Technologie beherrschen ließe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Realität, die sich aus der Summe aller unserer Aktivitäten konstituiert. Deshalb zeigt sich gerade hier, dass Wahrscheinlichkeitsberechnungen höchst problematisch werden, wenn man sie auf menschliche Verhaltensweisen anwendet, in denen Meinungen, Erwartungen und Ängste wirksam sind, die sich keineswegs wie objektive Größen behandeln lassen. Man muss deshalb die ökonomische Wissenschaft als eine Wissenschaft vom Menschen begreifen, die keine Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Forschung zulässt und schon deshalb keine exakte Wissenschaft sein kann. Unsere Risikoanalysen haben bisher weitgehend unterschätzt, dass das Wesentliche an Risiken nicht ihre quantitativen Aspekte sind, sondern dass sie eine bestimmte Bedeutung und einen Sinngehalt haben. Entgegen geläufiger Annahmen ist deshalb etwa das Credit Rating kein nur technischer Prozess, sondern im Gegenteil eine äußerst unbestimmte, qualitative und urteilsabhängige Aktivität. Dieses Rating ist vor allem und im Grunde eine Interpretation der Wirklichkeit, aus der sich mit routinemäßiger Konsequenz Urteile ableiten lassen (Sinclair 2005). Es wäre deshalb unangebracht, wenn man diese Messungsform so handhaben würde, als hätte man es mit einer objektiven Gegebenheit zu tun und nicht mit einer Wirklichkeit, in der in allen sozialen Beziehungen aller Akteure auch Subjektivität wirksam ist. Diese epistemologische Perspektive ist äußerst wichtig, denn Risikomodelle sind keine beliebigen und
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harmlosen Formen der Modellbildung. Es geht hier nicht mehr um die typischen Fälle der angewandten Mathematik und ihre Methoden der Unterscheidung einer endlichen Zahl von Elementen, sondern um Interpretationen und Sinnbildungen, in denen sich Quantitäten unablässig verändern. Fast alle Risiken haben eine Deutungskomponente, die etwa im Fall des Finanzsystems auf einer bestimmten Interpretation der Gesamtwirtschaft beruht. Deshalb wäre es geradezu unlogisch, dem Urteil der öffentlichen Meinung naiv zu vertrauen, das tatsächlich im Marktgeschehen eine wichtige Rolle spielt. Denn der größte Teil aller am Markt Beteiligten vertraut seinerseits auf die Mathematisierungen der Ratingagenturen, so dass solche Urteile nichts über die Unzulänglichkeiten aussagen, die im Verständnis jedes Einzelnen immer auch wirksam sind. In der liberalen Marktwirtschaft steht m.a.W. für die Bemessung von Risiken nur so viel Rationalität zur Verfügung, wie für genau abgemessene und statistisch bestimmte Situationen nötig ist. Bei diesem Licht betrachtet hat die gegenwärtige Krise Probleme an den Tag gebracht, die dadurch entstanden sind, dass man bestimmte Glaubensvorstellungen über den Freihandel auf Gegenstandsbereiche angewandt hat, die auch Zukunftsdeutungen beinhalten. In solchen immer zweifelhaften Fällen ist der Markt mit der Rolle einer interpretierenden Subjektivität hoffnungslos überfordert. Gerade im Bereich der Finanzwirtschaft treten die Grenzen probabilistischer Modellbildungen immer deutlicher hervor. Eine Mathematisierung finanzieller Risiken beansprucht im Grunde, alle möglichen Interpretationen einer Situation auf ein einziges Modell zu reduzieren. Aber solange eine große Anzahl von Beobachtern die ökonomischen Phänomene auf unvorhersehbare Weise deuten, lassen sich Risiken nicht quantifizieren. Wir müssen uns deshalb darüber im Klaren sein, dass in einer derart verflochtenen Welt wie der unseren der Begriff der Kausalität seine Problemlösungskapazitäten weitgehend eingebüßt hat. Die wachsende Relevanz »vieldeutiger Ungewissheiten« (Bonß 1995) bezeichnet einen Übergang von linearen Konstruktionen zu komplexen Konstruktionen von Risiken. Weil z.B. Folgeprodukte auf neuen Finanzinstrumentarien beruhen und zudem häufig noch zusätzliche Risiken miteinander verbinden, lässt sich die Möglichkeit von Verlusten nicht mehr vollständig ermessen. Weil es unmöglich ist, alle relevanten Momente eines Risikos zu erkennen und miteinander zu verbinden, ist eine Urteilsbildung, die Handlungsrisiken einbezieht, ein außerordentlich komplizierter Vor-
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gang. Bedenkt man darüber hinaus auch die systemischen Risiken des globalen Finanzsystems dann zeigt sich, dass innerhalb der Innovationsdynamik der globalen Finanzen eine zusätzliche Verkettung von Risiken wirksam ist, deren noch unbekannte Einflüsse und synergetische Effekte potenzierend wirken können. Ungeachtet aller methodologischen Vorkehrungen haben mathematische Kalküle eine sozusagen angeborene Tendenz, Unwissenheit zu verbergen. Auch deshalb können wir die mit dem Markt und seiner Liquidität verbundenen Risiken nicht wirklich quantifizieren; das gilt umso mehr, wenn auch menschliche Irrtümer mit im Spiel sind oder sich Regelmäßigkeiten verändern. Eine Mathematisierung kann nur in solchen Fällen einigermaßen exakt sein, in denen Interpretationen keine oder kaum eine Rolle spielen. Das aber ist gerade beim Finanzmarkt nicht der Fall, so dass die Ratingagenturen die Risiken verklausulieren und die interpretative Natur ihrer Beurteilungen verschleiern müssen. Daran würde auch eine größere Unabhängigkeit dieser Agenturen nichts ändern können, solange wir nicht gleichzeitig auch unsere Begriffe vom Wesen der Finanzrisiken verändern. Die Illusion, dass sich Risiken exakt bestimmen ließen, hat auch noch einen anderen Traum genährt, in dem wir uns in der Lage glauben, sie minimieren zu können. Die Vorstellung eines »risikolosen Risikos« ist die Ideologie einer Finanzmathematik, die unsere gegenwärtige Krisenlage mit zu verantworten hat. Die Finanzkrise ist vor allem die Konsequenz einer Reihe von Finanzinstrumentarien, die neue Sicherheiten garantieren sollten und sich angeblich auf sichere Risikokalküle stützten. Inzwischen ist aber klar geworden, dass diese Kalkulationen und Prognosen nicht nur inexakt, sondern auch gefährlich waren (Beck 2007, 43). Niemals zuvor waren die Gesellschaften derart von Methoden der Risikoabschätzung abhängig und niemals zuvor war die Zerbrechlichkeit ihrer Kalkulationen so offensichtlich. Die Verfeinerung mathematischer Modelle entspricht der wachsenden Evidenz, dass sich die Komplexität sozialer Systeme niemals vollständig auf Modelle reduzieren lässt, so dass es illusorisch wäre zu glauben, dass sich Risiken, auch Finanzrisiken, vollständig eliminieren ließen. Auch wenn Banken durchaus keine Spielkasinos sind, wie Demagogen gern behaupten, so haben sie mit diesen doch immerhin die Tatsache gemein, dass auch ihnen der Zufall nicht völlig fremd ist. Denn die Transaktionen des globalen Finanzsystems gründen in außerordentlich unsicheren Prognosen und die Märkte haben
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es mit Unwägbarkeiten zu tun, die sich weder beseitigen noch in ihren Ausmaßen vorhersehen lassen. Die gegenwärtige Krise hat ein grundlegendes Charakteristikum der heutigen Gesellschaften an den Tag gebracht: Sie produzieren Risiken von zunehmend globalen Ausmaßen, die sich immer wieder in kollektive Krisenlagen verwandeln. Anders als Erdbeben und andere Naturkatastrophen brechen diese Krisen nicht von außen über die Gesellschaften herein, sondern verdanken sich eher dem Versagen gesellschaftlicher Technologien und Institutionen. Das Nachdenken über die darin beschlossenen Herausforderungen wird uns zweifellos noch lange begleiten. Denn es gibt weder eine tiefer gehende Analyse des Risikobegriffes noch verfügen wir über ausreichende Verfahrensweisen, mit denen wir Risiken kollektiv nach demokratischen Normen und gemäß dem uns verfügbaren Wissen angemessen begegnen könnten. Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre erst einmal das Verständnis dafür, dass ein Risiko nicht einfach ein objektiver Sachverhalt ist, sondern stets auch von bestimmten Interpretationen seitens der Beteiligten durchwirkt ist, sei es, dass sie es verhüten und die bestmögliche Entscheidung treffen wollen oder einfach nur betroffen sind. Deshalb sind kollektive Risikoabschätzungen von grundsätzlich politischer Natur. Schon eine objektive Beurteilung der Vor- und Nachteile einer bestimmten Technologie ist unabhängig von einer Vielfalt politischer Urteile, die in sie eingehen, unmöglich. Insofern Risikoabschätzungen immer auch Perspektiven auf eine sei es erwünschte oder gefürchtete Zukunft abhängen, bergen sie stets eine Menge eminent politischer Probleme (Douglas/Wildavsky 1982, 10). Wie können wir ein Risiko beurteilen, wenn schon ungewiss ist, wie und ob es überhaupt besteht? Und welche Entscheidungen sind angesichts von Risiken zu treffen, die nur unscharf sichtbar sind, sich nicht quantifizieren lassen, aber schwerwiegende Konsequenzen bergen? Um solche Fragen überhaupt beantworten zu können, müssten wir zunächst einmal von einer kollektiven Einschätzung des tolerierbaren Risikoausmaßes ausgehen. Risiken sind m.a.W. immer unter eminent sozialen und politischen Kriterien zu bemessen und zu behandeln. Ob es um die Deckung finanzieller Risiken oder den Umgang mit Gesundheits- oder ökologischen Risiken geht, stets ist eine öffentliche Debatte und sind von allen Beteiligten getragene Regelungen die Voraussetzung für einen
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wirksamen Umgang mit ihnen. Um solche Diskussionen kommen auch Mathematiker nicht herum.
E INE ANDERE ÖKONOMISCHE W ISSENSCHAF T Die ökonomische Krise berührt auch die Instrumentarien, die uns ihre Ausmaße begreif bar machen sollen, d.h. den gesamten intellektuellen und begrifflichen Rahmen für unser Verständnis der ökonomischen Realitäten. Der rapide Vertrauensverlust in die Wirksamkeit ökonomischer Mechanismen hat eine neue Ära eines generellen Misstrauens in die dominierenden Wirtschaftswissenschaften eingeläutet. Ihre evidente Schwäche gibt der Vermutung Nahrung, dass sie im Korsett eines zu engen, an der Nutzenmaximierung orientierten Menschenbildes operiert, dem vereinfachte mechanizistische Modelle zugrunde liegen, und dass sie deshalb kaum genügend Sensibilität für die systemischen und sozialen Dimensionen der ökonomischen Realität auf bringen kann. Gab es nicht schon vor dieser Krise, die eine fatale Entkoppelung zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck bringt, ökonomische Wissenschaften, denen die krisenhaften Entstehungskontexte fast schon systematisch entgangen sind? Niemand kann Wissenschaftlern das Recht bestreiten, abstrakte Modelle und Theorien zu entwickeln; aber wenn es darum geht, Maßnahmen für Entscheidungen mit kollektiven Ausmaßen zu empfehlen, dann sind wissenschaftliche Studien immer auch mit Problemen ihrer öffentlichen Legitimität und der Reichweite ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen konfrontiert. Zahlreiche Beobachter haben darauf hingewiesen, dass die Ursprünge der gegenwärtigen Finanzkrise auch in der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft seit 1970 zu suchen sind. Auch wenn die bekannten, zur Erklärung dieser Krise normalerweise angeführten Gründe durchaus berechtigt sind, dürfen wir nicht vergessen, auch epistemologische oder wissenschaftliche Gründe ins Spiel zu bringen. Denn Theorien sind niemals harmlos und immer hat das Denken seine Auswirkungen auf das, was tatsächlich geschieht. Zweifellos gab es grenzenlose Habgier, Ansteckungseffekte und scheiternde Regelungsmaßnahmen, aber all dies wäre letztlich nicht möglich gewesen, wenn es nicht durch bestimmte ökonomische Denkweisen vorbereitet worden wäre. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten eine ausgesprochen abstrakte Vorstellung vom Markt als
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einem nahezu perfekt funktionierenden Selbstregelungsmechanismus hervorgebracht und genährt. In diesem Rahmen mussten die Rationalität der Akteure, das Idol der Markteffizienz und eine Sichtweise, die ökonomische Sachverhalte aus ihren gesellschaftlichen Kontexten abstrahiert, wie unumstößliche Wahrheiten erscheinen. Bei diesem Licht besehen verlangt diese Krise uns allen die Einübung in ein neues Verantwortungsbewusstsein ab. Den Ökonomen bietet sie konkret die Möglichkeit, die eigene Profession mit anderen, nicht nur selbstgefälligen Augen zu betrachten. Dabei würde sich dann auch zeigen, dass sich einige ihrer schwerwiegendsten Irrtümer der Trägheit ihrer epistemologischen Konstruktionen verdanken, die sich in der Praxis vor allem dann besonders auswirkt, wenn sie der Versuchung erliegen, einen wissenschaftlichen Status zu beanspruchen, der ihr Spezialistentum und ihre Exaktheit garantiert. Vom epistemologischen Gesichtspunkt lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sich der Anspruch der Wirtschaftswissenschaft, über ein exaktes und hoch spezialisiertes Wissen zu verfügen, nunmehr als Unfähigkeit gezeigt hat, die gesellschaftliche Komplexität der ökonomischen Wirklichkeit zu erfassen. Sie hat damit nicht nur ihren einstigen Charakter einer Sozial-, Moral- und politischen Wissenschaft eingebüßt, sondern sich auch ihrer kritischen Fähigkeiten begeben. Die Mathematisierung der Ökonomie kann diesem Fachgebiet, das durchdrungen ist von fragwürdigen Prämissen, allzu einfachen Modellen und ideologischen Parteinahmen, nur eine trügerische Sicherheit verleihen. Die Frühzeit der Wirtschaftswissenschaft als einer selbständigen Disziplin war von ihrem Bemühen gekennzeichnet, sich soweit wie möglich dem Anspruch einer strengen Wissenschaft anzugleichen. Schon diese Konstitutionsphase im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stand bereits im Zeichen der Dominanz der Physik. Sich an dieser zu orientieren, kam dem Versuch der Konstitution einer Physik der ökonomischen Wirklichkeit gleich, der von der Annahme ausgehen musste, dass die Objektivität ökonomischer Voraussagen deren Reinigung von ihrer subjektiven Dimension und eine Befreiung von ihren anthropologischen und sozialen Aspekten verlangte, die der Bildung exakter Urteile im Wege standen. So verlief die Geschichte der Ökonomie als objektiver Wissenschaft im Grunde als Konstruktion eines Gebäudes, aus dem alle diejenigen Elemente ausgesondert wurden, die geeignet schienen, ihren Status als exakte Wissenschaft in Frage stellen. Damit wurde die politische Öko-
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nomie zunächst zu einer mathematischen Analyse und transformierte sich schließlich in eine ökonomische Mathematik, eine Ökonometrie im Sinne einer reinen Technik der Datenanalyse, die sich unterschiedslos auf jeden Sachverhalt und jede Gesellschaft anwenden ließ. Und die Finanzökonomie, die bis in die 1970er Jahre noch zum Gebiet der ökonomischen Theorie gehörte, ist inzwischen fast völlig in die Hände von Statistikern geraten. Als eigenständige Disziplin hat sie sich derart automatisiert, dass sie keine Beziehungen mehr zur traditionellen Makroökonomie unterhält. Insofern ist die gegenwärtige Krise in gewissem Sinne auch eine Krise der Arbeitsteilung zwischen ökonomischen Wissenschaftlern. Vom Exaktheitsideal verführt, scheint die Ökonomie ihren Charakter einer gesellschaftlichen Konstruktion völlig vergessen zu haben. Märkte sind aber keine Angebotskurven, die sich mit Nachfragekurven kombinieren lassen, sondern gesellschaftliche und geschichtliche Konstruktionen: menschliche Institutionen, soziale Netze und Orte machtpolitischer Auseinandersetzungen. Und Preise sind immer auch kondensierte Zustände des Zusammenwirkens unterschiedlicher Meinungen, sie spiegeln psychologische Verfassungen wieder und drücken gesellschaftliche Konventionen aus. Daher können wirtschaftliche Werte – und dies wird besonders deutlich in Zeiten, in denen sie ihr gesellschaftliches Vertrauen einbüßen – gar nicht die objektive Konsistenz besitzen, die ihnen die ökonomischen Theorien zuschreiben möchten. Selbst die Modelle, mit deren Hilfe wir ökonomische Verhaltensweisen zu begreifen suchen, sind bereits soziale Konstruktionen. Jeder Beobachter oder Theoretiker, der die Realität studiert, übt immer auch eine beträchtliche Wirkung auf sie aus. Also kann sich die Wirtschaftswissenschaft gar nicht auf Exaktheit berufen, solange sie nicht in der Lage ist, diese Wirkung ihrer theoretischen Konstruktionen auf die Konstitution ihrer Gegenstände zu ermessen. So hat beispielsweise noch niemand ein Modell für die Möglichkeiten erstellt, hypothetische Modelle zu nutzen, um dem Finanzsektor einen falschen Eindruck von Sicherheit zu vermitteln. Indem sie ihre gesellschaftliche Dimension vernachlässigt, wird die ökonomische Abstraktion in der Tat zu einer Ablenkung und ihr Streben nach Exaktheit gibt einer enormen gesellschaftlichen Ungenauigkeit Raum. Deshalb lässt sich sagen, dass eine derart begrenzte ökonomische Wissenschaft gar nicht in der Lage sein kann, die gesellschaftlichen und politischen Aspekte einer Marktwirtschaft zu formalisieren. Die Kehrseite der Effizienz der Arbeitsteilung in der Wirtschaftsforschung ist ein
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mangelndes Verständnis der vielfältigen Interdependenzen, die in ökonomischen Prozessen wirksam sind, die ja – das darf keineswegs vergessen werden – im Grunde immer gesellschaftliche Ereignisse sind. Wir stoßen hier auf einen ersten Widerspruch, der eine kritische Untersuchung verdient. Das Selbstverständnis der Ökonomie als einer strengen und spezialisierten Wissenschaft ist nicht mehr mit ihrem traditionellen Anspruch vereinbar, die gesellschaftliche Ordnung als Ganze, das Zusammenwirken und die Regierung individueller Interessen sowie die Geschicke der Nationen in den Blick zu bekommen. Glaubt man wirklich, die aus der Spezialisierung resultierende Exaktheit hätte nicht ihren Preis? Dieser Preis kann kein anderer sein als der, der für jede einseitige Aufmerksamkeit zu entrichten ist, nämlich der Verlust einer Gesamtschau und der Fähigkeit, mit Bereichen umzugehen, die sich mathematisch exakt konstruierten Modellen grundsätzlich entziehen. Dass Wirtschaftswissenschaftler die Präzision ihrer Modelle nur auf Kosten der Wahrscheinlichkeit ihrer Voraussagen erreichen können, wäre gar nicht besonders schlimm, wenn man uns nicht zugleich davon überzeugen wollte, dass es die erreichte Exaktheit auch gestattet, weniger präzise Variablen zu vernachlässigen. Das Scheitern der Ökonomen bei der Voraussicht der Krise ist auf die Trennung und Fragmentierung der unterschiedlichen Spezialgebiete zurückzuführen, d.h. durch die Illusion der Kalkulierbarkeit, welche diese Spezialisierung erweckt hat. Deshalb das merkwürdige Paradox, dass die besten Experten nicht in der Lage waren, eine Spekulationsblase zu entdecken, wo doch, wie ein amerikanischer Ökonom angemerkt hat, schon alle Taxifahrer Miamis ihren Kunden sehr genau die Charakteristika jener Immobilienblase erklären konnten, die sich seit Mitte des Jahres 2000 zu bilden begann. In dieser paradoxen Situation findet sich auch die heutige Ökonomie wieder: In dem Augenblick, in dem sie wähnt, dass die Bedingungen für eine Erklärung der ökonomischen und gesellschaftlichen Umstände besonders günstig sind, findet sie sich hilf- und schutzlos inmitten einer Finanzkrise wieder, die sie nicht vorherzusehen vermochte. Der Mythos der Exaktheit beginnt mit einer ungerechtfertigten Hochrechnung. Zwar lassen sich ökonomische Theorien in mikroökonomischen Dimensionen empirisch noch am ehesten verifizieren, aber ihre Übertragung auf komplexere ökonomische Bereiche oder gar auf die globale Wirtschaft stößt sehr schnell an ihre Grenzen. Auf makroöko-
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nomischen Ebenen kommen unendlich viele nichtlineare Elemente und unvorhersehbare Reaktionen ins Spiel, die mikroökonomische Theorien gar nicht antizipieren können. Diese Grenzen aller Modellbildungen zur Erfassung globaler Prozesse hängen vor allem mit unserer grundsätzlichen Unkenntnis der Wahrscheinlichkeitsgesetze für extreme und seltene Ereignisse zusammen. So ist die Ökonomie z.B. nicht in der Lage zu erklären, warum und wie sich die optimale Abdeckung eines Risikos auf der mikroökonomischen Ebene zu einer systemischen Krise auswachsen kann. Denn die neoklassische Theoriebildung verdeckt lediglich die Unermesslichkeit unzureichend verstandener oder instabiler Situationen. Was schon einem normalen Menschen nur schwer einleuchtet, wird für reduktionistische Modellbildungen schlicht unverständlich: Wie konnte die Addierung individueller Verhaltensweisen, die im Sinn der ökonomischen Theorie rational sind, zu massiv irrationalen Resultaten führen? Gegen diese vereinfachte Vorstellung von Exaktheit spricht auch die Tatsache, dass die abzählbaren geltenden Normen im Verlauf der letzten Jahre ihre photographische Neutralität verloren haben. Seit einiger Zeit wissen wir nicht einmal mehr, was denn unsere exakten Messinstrumente überhaupt messen. Seit dem Finanzskandal des Energieunternehmens Enron wissen wir um die Grenzen jener zählbaren Anzahl von Prinzipien, die seit dem Ausgang der industriellen Revolution in der Vorstellung ökonomischer Zyklen überdauert haben. Gleichzeitig sind auch unsere geläufigen Indikatoren für ökonomische Messungen fragwürdig geworden, denn wir werden uns dessen immer bewusster, dass solche Messungen keineswegs neutrale Aktionen sind, sondern immer eine ganze Reihe von Präferenzen implizieren. Dieses Bewusstsein verlangt nach einer sozialen Lesart ökonomischer Daten, damit Wachstumsindikatoren nicht andere Fragen nach der gesellschaftlichen Verteilung des Wohlstands verschleiern. Um solche Fragen drehen sich auch die Debatten um die neuen Reichtumsindikatoren. Die Tatsache, dass wir die Qualität der Umwelt, Sicherheit, kulturelle Dynamiken oder das dankbare Gefühl, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, bewerten, bringt zum Ausdruck, dass unser subjektives Wohlergehen von Gütern abhängt, die nicht gerade im Bereich des Marktes und von Ressourcen, Produkten und Dienstleistungen liegen, so dass wir auch nicht mehr davon ausgehen können, dass ihr Gebrauchswert sich angemessen in ihrem Tauschwert reflektiert. Die damit notwendig werdende Erneuerung unserer Begrifflichkeit war das Anlie-
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gen der sogenannten »Stiglitz-Kommission« die (in Zusammenarbeit mit Sen und Fitoussi) ökonomische Entwicklungen und soziale Fortschritte zum Thema hatte (Stiglitz 2009). Ihre Vorschläge einer Modifikation des Berechnungsmodells für das Bruttoinlandsprodukt und ihre Fragestellungen nach der Bemessung von Wohlstand und Umweltfragen durch statistische Daten zielten darauf ab, die Ökonomie an einem Maßstab des Wohlstands zu orientieren, der über den engen Rahmen des Marktes und das Wachstumsdogma hinausgeht. Dies wäre immerhin eine Zielsetzung, die uns über die geläufige Problemstellung eines »Ausgangs aus der Krise« oder die ritualisierten Diskurse über »andere ökonomische Modelle« hinausführen könnte: Reichtum zu bemessen, ohne sich dabei auf einen Maßstab zu beschränken, an dem gemessen die Extreme lediglich zu vernachlässigende Größen darstellen. Die ökonomischen Theorien strikter Observanz tendieren dazu, andere Sozialwissenschaften zu ignorieren oder sie einfach als Aspekte ihrer eigenen Konstruktionen zu vereinnahmen. Weil die Wirtschaftswissenschaft versucht hat, die zutiefst subjektive Natur ökonomischer Verhaltensweisen einzuklammern, um ihren Anspruch einer exakten Wissenschaft abzusichern und deren Mathematisierung zu gewährleisten, müssen wir im Blick auf sie heute unseren, von der Naturwissenschaft ererbten Begriff von Wissenschaft revidieren: ihre mechanizistischen Modelle und statistischen Abstraktionen, ihre reduktionistische Auffassung von Kausalität, ihre Idee, dass es nur eine mögliche Lösung gibt … Die aktuelle Krisenlage scheint nahe zu legen, dass es auch andere begehbare Wege gibt, die uns z.B. eine Umkehr zu einer Ökonomie der Leidenschaften weisen könnten. Spürbar wird der Wunsch, wieder zu einer integralen Sicht der Ökonomie als einer anthropologischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zurückzukehren. Sie wäre eine Angelegenheit von Geistes- und Sozialwissenschaften, die in der Lage sind, über die geläufigen abstrakten Modelle hinaus die menschlichen Leidenschaften und ihre sozialen Auswirkungen mit zu berücksichtigen. Diese Rückkehr der Leidenschaften in die ökonomische Begrifflichkeit bedeutete eine Rückkehr zu den Ursprüngen des ökonomischen Denkens, das die Ökonomie seit Adam Smith in einem anthropologischen Zusammenhang begriffen hat. Ein Beispiel dieser Bewegung ist der Versuch von Amartya Sen, die Reichweite der ökonomischen Rationalität in den Bereich der menschlichen »Vermögen« hinein zu erweitern. Sen kritisiert Arrows Begriff des »rationalen Idioten«, auf dem die dominierenden wirt-
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schaftswissenschaftlichen Theorien beruhen, er bezieht in seine Kritik aber auch andere, ähnlich gelagerte Sichtweisen ein, auf die ich hier nur ganz allgemein eingehen kann (Sen 1999; Latour/Lépinay 2008; Cohen 2009; Akerlof/Shiller 2009). Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich unter den Wirtschaftswissenschaftlern, die sich im Blick auf die Krise noch am wenigsten geirrt haben, gerade diejenigen befinden, die in ihre Wissenschaft auch andere verwandte Wissensgebiete mit einbeziehen. Unter den vielen möglichen Beispielen möchte ich vor allem Stiglitz oder Akerlof und ihre Kritik an der neoklassischen These hervorheben, dass die Marktteilnehmer über vollständige Informationen verfügen können. Beide insistieren darauf, dass es unerlässlich ist, in die Erklärung ökonomischer Sachverhalte auch massenpsychologische Phänomene einzubeziehen. Die Krise der ökonomischen Vernunft appelliert an die Aktivierung anderer Rationalitätsformen, die auch symbolische und kognitive Bereiche, vor allem aber die sozialen Vermögen und Institutionen berücksichtigen, die das gesellschaftliche Feld strukturieren. Die Verselbständigung der Wirtschaftswissenschaft als akademische Disziplin verdankt sich einer ausgesprochen naiven Interpretation des ökonomischen Feldes. Es gibt aber keine ökonomischen Beziehungen ohne Institutionen, Staaten und Regelungen, ohne Sprache und Kultur. Deshalb ist es nötig, dass die Wirtschaftswissenschaft wieder zu einer Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft wird, ihre Verbindungen zur Sozial- und Politischen Philosophie erneuert und mathematische Modellbildungen nicht als Grundlage, sondern als frei handhabbare Instrumente versteht. Genau deshalb haben auch Wirtschaftswissenschaftler, die der Politik oder Soziologie nahe stehen, in der gegenwärtigen Krise sehr viel mehr Weitblick bewiesen. Wenn denn diese Wirtschaftskrise auf eine Trennung des ökonomischen vom gesamtgesellschaftlichen Bereich zurückzuführen ist, so bedarf es jetzt eines ökonomischen Denkens, das die Verflechtung beider Bereiche menschlichen Handelns neu begreift. Die Wirtschaftswissenschaft ist nur eine unter vielen Sozialwissenschaften, und die Zeit ihrer Autonomisierung und Trennung von ihnen ist letztlich beiden Seiten nicht gut bekommen. Die wachsende Komplexität ökonomischer Angelegenheiten rechtfertigt in der Wirtschaftswissenschaft ebenso wie in anderen Wissenschaften durchaus auch technisch bedingte Spezialisierungen. Diese Entwicklungen dürfen aber nicht dazu führen, den Ort der Wirtschaftswissenschaft in der Gesamtheit der Ins-
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trumente für das Verständnis der menschlichen Wirklichkeit und insbesondere die Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik aus dem Blick zu verlieren. Es wird Zeit, wieder auf diejenigen zu hören, welche diese Wissenschaft stets als Sozialwissenschaft und nicht als exakte Wissenschaft begriffen haben. Denn um Theorien auf die Wirklichkeit anzuwenden, bedarf es einer Vielzahl von Kenntnissen der Politik, der Geschichte und lokaler Zusammenhänge. Dessen waren sich Denker wie Smith, Marx oder Keynes sehr genau bewusst, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie die Ökonomie nicht nur als eine Ansammlung von Märkten, sondern als ein Beziehungssystem begriffen haben. In diesem Zusammenhang fällt auch auf den Beitrag der Traditionslinien von Weber, Durkheim und Polanyi zur Wirtschaftssoziologie das Licht einer neuen Bedeutung. Die Interdisziplinarität und Mehrdimensionalität der ökonomischen Aktivitäten konfrontiert ihre Wissenschaft mit Anforderungen, die Richard Bronk »disziplinierten Eklektizismus« nennt (2009, 282). Dieser müsste sich um eine Zusammenarbeit aller Wissensformen bemühen und sich von eindeutigen Erklärungen freimachen, um zu Reflexionsformen zu gelangen, die aus Interaktivität, Ungewissheit und Komplexität hervorgehen. Um die uns gegenwärtig beschäftigenden Probleme begreifen zu können, muss die ökonomische Wissenschaft über den Bereich des Ökonomischen hinausgehen. Wie sehr kontrastiert doch die gegenwärtige ökonomische Esoterik mit der schlichten Sachlichkeit Alfred Marshalls, eines ebenso großen Mathematikers wie Ökonomen, der einmal einem Schüler empfahl, alles zu tun, um zu »verhindern, dass die Leute Mathematik betreiben, wo doch die englische Sprache so präzise wie eine mathematische Sprache ist« (Marshall 1996, 3, 130). All die Aufrufe, eine »andere Welt« zu konstruieren und die Impulse einer moralischen Kritik am Kapitalismus sind ein Zeichen dafür, dass die Hoffnung auf eine andere Welt dem Gesellschaftsmodell, das sie verneint, zu viel Realität zugesteht. Wenn wir zu einer anderen Welt gelangen müssen, heißt es, so deshalb, weil dieser Welt kein anderer Ausweg mehr bleibe und ihre Erklärung durch die »Realisten« besetzt sei. Nun ist es aber keineswegs ausgemacht, ob dieser »Realismus«, den die Wirtschaftswissenschaft für sich beansprucht, überhaupt die Konsistenz besitzt, die man ihr allgemein zugesteht. Wenn ihr bisher etwas abgegangen ist – das können wir jetzt aus einer durch die jüngste Geschichte beglaubigte Perspektive mit Recht sagen – so ist es Realismus.
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Solche Kritiken haben überdies einen perversen Effekt: Moral reicht nicht nur nicht aus, um die Ökonomie zu verändern, sondern sie kann darüber hinaus sogar als Kontrapunkt der Marktlogik dienen. Die Monopolisten des ökonomischen Realismus haben nur wenige Probleme, wenn ihre Kritiker ihnen nicht auf der Ebene der Beschreibung der Wirklichkeit, sondern der Moral begegnen. Wenn die Kapitalismuskritik heute eher radikal als moralisierend vorgehen will, dann muss sie den vermeintlichen Realismus der dominierenden Wirtschaftswissenschaft bekämpfen. Wir dürfen, wie Popper sagte, nicht mehr länger davon ausgehen, dass wir nur noch die Wahl zwischen Astronomie und Astrologie haben und uns keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als zwischen Exaktheit und Irrationalität zu wählen. Denn das, was uns die Ökonomie an Nachdenkenswertem beibringen kann, ist weder das eine noch das andere, es ist weder unwiderlegbar exakt noch verachtenswert wegen mangelnder Stringenz. Wie fast alles Menschliche bewegt es sich im Allgemeinen im Bereich der wahrscheinlichen Gewissheiten: nicht präzise genug, um jede abweichende Meinung als irrational abzutun und nicht so wenig fundiert, dass sich aus ihm keine kohärenten Entscheidungen ableiten ließen. Das Revolutionärste wäre heute wohl eine gute – ökonomische Theorie. Denn es geht keineswegs darum, sich andere Welten vorzustellen, sondern eine andere Ökonomie zu erarbeiten, um diese Welt zu beschreiben und verbessern zu können. Kurz, was wir brauchen, ist keine andere Welt, sondern eine andere Ökonomie.
D IE N OSTALGIE DER RUHIGEN L EIDENSCHAF TEN Nach dem Ausbruch der Finanzkrise wurde der Begriff der Habgier zu einer geläufigen Kategorie der Erklärung des Geschehens: Habgier der Banker, verantwortungslose Spekulation, maßlose Ansprüche, unhaltbarer Konsum … Natürlich war die Finanzwelt voller Frivolitäten, blindem Optimismus, Opportunismus und Gemeinheiten, die einer kollektiven Dummheit gigantischen Ausmaßes Raum gaben. Zweifellos hat die Habsucht von Investoren, Bankern, Konsumenten und Unternehmern bei der Auslösung der Krise eine Hauptrolle gespielt. Dennoch ist die Meinung, dass sie die Ursache dieser Krise gewesen sei, für das Verständnis von deren Verlauf nicht sehr hilfreich, da sie zu-
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gleich zu wenig und zu viel erklärt. Menschliche Wesen suchen natürlich immer ihren eigenen Vorteil und sie sind weit mehr als andere Lebewesen in der Lage, die sich ihnen bietenden Gelegenheiten zu erkennen. Aber aus dieser elementaren menschlichen Disposition lässt sich die aktuelle Krise keineswegs erklären. Man sollte eher nach den konkreten Interaktionen zwischen den Akteuren und ihren institutionellen Bedingungen fragen. Wer sich einseitig auf die Habgier bezieht, geht von vornherein nach dem alten Schema vor, nach dem nur Individuen, niemals aber das System als solches scheitern können. Auf der anderen Seite geht aber auch der Appell an ein größeres Verantwortungsbewusstsein, so politisch korrekt und moralisch unstrittig er auch sein mag, insofern am Problem vorbei, als er nahe legt, dass die problematischen Sachverhalte schon offen liegen. Wenn man den Begriff der Verantwortung schon ins Spiel bringt, so müsste man dann jedenfalls auch auf die kollektiven Entscheidungsprozesse reflektieren und diesen Begriff unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften reformulieren. Im Licht dieses Anspruches zeigt sich, dass die Diagnose der Habgier als einer »allzumenschlichen« Eigenschaft im Grunde dazu beiträgt, die systemischen Gründe des Debakels der Finanzmärkte zu verschleiern. Versteht man sie andererseits als etwas von außen ins System Hinzukommendes, dann enthebt man die Akteure ihrer Verantwortung. Die Ursache der Finanzkrise wären dann nicht eigentlich fehlende oder mangelhafte Regelungsmaßnahmen, sondern eine angeblich unvermeidliche Leidenschaft, was indirekt einer allgemeinen Entlastung gleichkäme. Denn wenn alle Menschen von Natur aus habsüchtig sind, dann hätten verantwortungslose Banker nichts anderes getan als das, was jeder an ihrer Stelle auch getan hätte. Die Krise lässt sich auch schon deshalb nicht aus bloßer Habsucht erklären, weil diese eine individuelle Eigenschaft, die Krise aber ein Resultat systemischer Entwicklungen ist, die kein Individuum beabsichtigt oder ausgelöst hat und die auch kein Individuum hätte vermeiden können. Begreift man sie aber als systemische Konsequenz statt als intentionales Resultat, dann verflechten sich in ihr sehr vielfältige individuelle Aktionen. Systemische Resultate verweisen nicht auf individuelle Motive oder die Böswilligkeit von Individuen, sondern auf systemische Imperative, denen sich Individuen nur auf Kosten ihres wirtschaftlichen Ruins entziehen könnten. Aus diesem Grund sind die Ursachen der Krise eher
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auf institutioneller Ebene zu suchen, deren Fehlfunktionen ihr Verlauf offenkundig gemacht und gezeigt hat, dass irrationale Verhaltensweisen und falsche Wahrnehmungen der eingegangenen Risiken auf dieser Ebene einen günstigen Nährboden fanden. Es verhält sich hier nicht anders als etwa bei der Korruption, die ebenfalls nur sekundär ein Problem der individuellen Moral, vor allem aber ein Problem der Organisation, d.h. der Bedingungen ist, die sie strukturell ermöglichen oder erschweren. Der dennoch anhaltende Bezug auf die Habsucht als Erklärungsgrund der Finanzkrise, die sie durchaus auch bezeugt, erklärt sich aus den emotionalen Dispositionen des Finanzkapitalismus: Im Verlauf der Entwicklung des modernen Kapitalismus hat sich nämlich das für ihn charakteristische emotionale Leben entscheidend geändert. Um das zu verstehen, muss man den Ort, den der klassische Liberalismus den Leidenschaften und Interessen zuweist, neu bestimmen. Max Weber hat die Entstehung des Kapitalismus als Geschichte der Trennung von Rationalität und Emotionalität, von Interesse und Leidenschaft beschrieben. Demzufolge wäre der moderne Kapitalismus nicht durch Habgier zu charakterisieren, sondern eher durch deren Mäßigung. Denn Leidenschaften sind starke und kaum zu bändigende Emotionen, die jederzeit konstruktiv oder destruktiv sein können. Sie entziehen sich der rationalen Kontrolle und treiben die Menschen über ihre Grenzen hinaus. Der »passive« Aspekt der Leidenschaft ist der unkontrollierbare Trieb zur angestrebten Befriedigung um jeden Preis. Insofern Leidenschaften keine reflexive Distanzierung mehr zulassen, wäre es für Weber undenkbar, dass eine zügellose Leidenschaft wie die Gier die Triebkraft des modernen Kapitalismus sein könnte. Ganz im Gegenteil charakterisiert den Kapitalismus im Grunde die Unterwerfung irrationaler Triebe (Weber 1988 [1920], 4). Eine Gegenposition nimmt Albert Hirschmann ein, der mit seiner Deutung zu zeigen versuchte, dass die Entgegensetzung von Leidenschaften und Interessen mit dem Selbstverständnis des Kapitalismus gar nichts zu tun hat. Denn der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hatte die Habsucht als eine nützliche Leidenschaft verstanden, welche die Kraft zur Aufrechterhaltung des Gewinnstrebens nährte und zugleich die selbstzerstörerischen Leidenschaften im Zaum hielt (1984, 50). Das ökonomische Interesse wäre demnach eine Kreuzung aus Leidenschaft und Vernunft, die zwischen Habsucht und Berechenbarkeit vermittelt (Pixley 2004).
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In dieser ökonomischen Nützlichkeit der Leidenschaften gründet die Idee einer Verwandlung der privaten Laster in öffentliche Tugenden, die in Mandevilles Bienenfabel 1705 ihren Ausdruck fand. Nur das Luststreben der Habsucht ist demnach in der Lage, die nötige Dauer des Gewinnstrebens über die erfolgte Befriedigung der materiellen Bedürfnisse hinaus aufrechtzuerhalten. Verbindet man die Habsucht mit den ökonomischen Interessen und begrenzt ihr Erregungspotential, dann verwandelt sie sich schließlich in das, was David Hume als »calm passion« bezeichnete: eine Leidenschaft, die ökonomischen und sozialen Nutzen bringt. Während die Begründer des Liberalismus noch die Abgründe der Leidenschaften kannten, verstand die ökonomische Wissenschaft des 20. Jahrhunderts die Habsucht in erster Linie als Eigeninteresse. Diesem Verständnis lag das eher harmlose Modell des rationalen Nutzens zu Grunde, das die irrationale Seite des Gewinnstrebens völlig ausblendete. So entstand das Bild einer Welt rationaler ökonomischer Subjekte, die weder lügen noch betrügen, nicht opportunistisch oder verschlagen sind und sich von einer rein instrumentellen, emotionsfreien Vernunft leiten lassen. Damit wurde die Habgier ihrer destruktiven Aspekte entkleidet und lediglich als Gewinnstreben verstanden. Wenn also Soziologen ihr heute immer noch Verteidigungsschriften widmen, so hängt dies mit jenem harmlosen Begriff eines reinen Interesses am ökonomischen Fortschritt zusammen. Aber verhalten sich die Dinge in der gegenwärtigen Finanzökonomie tatsächlich in dieser Weise? Ist in ihr wirklich nur die Triebkraft einiger ruhiger Leidenschaften wirksam, die sich in allgemeinen Nutzen übersetzen und einer Habsucht, die eher eine Dynamik des Systems zum Ausdruck bringt als eine Eigenschaft von Individuen? Richten wir unsere Aufmerksamkeit kurz auf die Funktionsweise eines unbegrenzten Verlangens und seine Wechselwirkung mit den Möglichkeiten des Geldes und der Finanzmärkte. Seit Demokrit wird die Habsucht als ein maßloses Verlangen begriffen, das niemals befriedigt ist, weil es keine Beziehung zu irgendeinem Objekt hat. Das unterscheidet sie vom Wunsch, der etwas Konkretes erstrebt und zufrieden ist, wenn er es erreicht. Das Lustempfinden der maßlosen Habsucht besteht demgegenüber nicht im Erreichen eines Zieles, sondern es liegt im Streben selbst, denn die Erwartung steigert die Erregung mehr als der tatsächliche Genuss. Wenn die Habgier als Leidenschaft nicht befriedigt werden kann, so deshalb, weil für sie das
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Vergnügen nicht im Gegenstand des Verlangens besteht, sondern in der Erwartung. Daher rührt die häufig verurteilte Eigenschaft der Habsucht, unersättlich und grenzenlos zu sein. Die größte Habsucht weckt einen Wunsch, der keinen Gegenstand hat: eine maßlose Tendenz ohne konkreten Nutzen, ein unbegrenztes Potential unendlicher Möglichkeiten. In ihm hat Georg Simmel den Grund für die Geldgier in der modernen Kultur gesehen. Wenn das Geld zu einem »absoluten Wert« wird (Simmel 1999 [1900], 312), bringt es schließlich Pathologien hervor, die jede Nützlichkeit überborden. Für den Habgierigen ist jede vorübergehende Befriedigung weniger erregend als seine Erwartungen. Je abstrakter und unbestimmter das Mittel des Vergnügens ist, auf das sich die Erwartung richtet, desto stärker ist das durch unbegrenzte Möglichkeiten erregte Bestreben. Deshalb ist auch das Geld das ideale Objekt der Habsucht, da »jeder erreichte Punkt eigentlich nur als Durchgangsstadium zu einem darüber hinaus liegenden Definitivum empfunden wird« (303). Lässt sich diese Struktur der reinen Leidenschaft mit den derzeitigen Finanzmärkten in Verbindung bringen? Jedenfalls kann man ohne Übertreibung feststellen, dass die Habsucht niemals zuvor weniger imstande war, die ihr vom klassischen Liberalismus zugeschriebene Nützlichkeitsfunktion auszuüben. Woran liegt das? Finanzmärkte sind dadurch charakterisiert, dass sie nichts mit Gütern, sondern mit Erwartungen zu tun haben, die sich auf künftige Wertsteigerungen der Kapitalinvestitionen richten. Selbst dort, wo auf den Finanzmärkten mit Gütern als materia prima spekuliert wird, beziehen sich die entsprechenden Einsätze auf die eigenen Erwartungen im Verhältnis zur Erwartung anderer Spekulanten bezüglich der Preisentwicklung. Die Finanzmärkte haben unablässig die Erwartungen auf immer höhere und riskante Gewinne angestachelt. Je größer die Bereitschaft, Risiken einzugehen, desto höher die zu erwartenden Gewinne und desto geringer das Verantwortungsbewusstsein. Diese Logik ist die Grundlage der im Finanzbereich getätigten Geschäfte, sie gilt aber auch in den Investitionsabteilungen der Banken, welche dieselben Risiken eingehen und dieselben Gewinne einstreichen wollen. Denn weil die Banken kaum in der Lage sind, den Finanzmärkten systemische Grenzen zu setzen, können sie auch nicht die Gewinnsteigerung der spekulativen Werte begrenzen.
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In dem Maße, wie die Banken im Kreditgeschäft, der Finanzierung von Unternehmen oder der Verwaltung privater Vermögen tätig werden, geht es um ökonomische Aktivitäten, die in ihrer objektiven Dimension mit konkreten Zielen und Objekten zu tun haben und sich in ihrer zeitlichen Dimension über eine längere Dauer erstrecken, die von Einzelereignissen und -entscheidungen nicht beeinflusst wird. Und auch in ihrer sozialen Dimension sind solche ökonomischen Aktivitäten mit dauerhaften gesellschaftlichen Beziehungen verbunden, auf die sich ihre Stabilität und das Vertrauen in sie stützen. All das ändert sich freilich, wenn das Hauptgeschäft der Banken in Spekulationen am Finanzmarkt besteht. In diesem Falle ist jede Investition im Grunde eine Wette, die sich nicht auf Objekte bezieht, auf die man wettet, sondern nur noch selbstbezüglich ist. Der Spekulant trachtet nicht mehr danach, die Ungewissheitsmomente zu vermeiden, die jeder Investor, der sein eigenes Kapital einsetzt, soweit wie möglich auszuschalten sucht. Er tut dies deshalb nicht, weil er mit seinen Wetten gerade diese Ungewissheitsmomente ausnutzen will; sie sind ihm der Stachel einer Erregung, die er unablässig zu wiederholen trachtet. Die zeitlichen Dimensionen der Finanzmärkte tragen zu den emotionalen Turbulenzen bei, die sich aus der raschen Folge von Erwartung und Enttäuschung, Euphorie und Depression, Furcht und Gier ergeben. Der extrem enge zeitliche Horizont, in dem die Broker und Fondsanleger tätig sind, ist auch technisch bedingt. Denn die gegenwärtige Häufigkeit von Transaktionen in Echtzeit wird durch extrem schnelle Computernetze ermöglicht, welche die Formel money never sleeps buchstäblich verwirklichen und immer größere Gewinnerwartungen in immer kürzerer Zeit wecken. Eine objektive Erklärung dieser Verhaltensweisen liegt in der Tatsache, dass einige Fonds Gewinnmargen ermöglichten, die man bisher nur in der Welt des Drogenhandels kannte. Pixley hat den Kern des Problems sehr gut zusammengefasst, als er die These aufstellte, dass »die Habsucht ein Nebenprodukt des Misstrauens in eine kalkulierbare Zukunft« sei (Pixley 2004, 159). Die Rhythmen der Finanzmärkte mit ihren extrem kurzen Taktfolgen beruhen auf einem allgemeinen Misstrauen in die Fähigkeit, künftige Entwicklungen zu steuern, einer exzessiven Ausbeutung der Gegenwart, der Ökonomisierung der allerkleinsten Zeiteinheiten und schließlich einem ruinösen Wettbewerb um den »letzten Moment«, der letztlich nur denen nützt, die um die größten Güter konkurrieren. So gesehen ist die Habgier der In-
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vestitionsbanken keine Eigenschaft, die sich Personen zuschreiben ließe, sondern ein Grundprinzip ihrer Handlungsweisen. Diese Habsucht begleitet unausweichlich eine Wettbewerbsform, deren einziges Kriterium darin besteht, keine Gelegenheit eines noch größeren Ertrags ungenutzt zu lassen. Auf diese Weise haben wir uns einige Monate vor dem Ausbruch der Krise in einer ähnlichen Situation befunden wie in jenen Autorennen, in denen es darum geht, mit voller Geschwindigkeit auf eine Wand zuzurasen und in denen der gewinnt, der zuletzt bremst. Was für Risiken schädliche Leidenschaften bergen können, wird in dieser kollektiven, mimetischen und dummen »Flucht nach vorn« (Neckel 2008) offensichtlich. In der Finanzkrise von 2008 führte der Glaube, dass man Risiken kalkulieren, sich gegen sie absichern und sie anderen verkaufen könne, zu einer immer größeren Risikobereitschaft (Arnoldi 2009, 64). Gleichzeitig nährten verschiedene Instanzen die Illusion, dass man die Dinge im Griff habe: Die Finanzmathematik hielt die Risiken für berechenbar und die dominierende Wirtschaftswissenschaft behauptete, gestützt auf die »Theorie der Geldmärkte«, die volle Rationalität der Preisbildung auf den Finanzmärkten nachvollziehen zu können (Fox 2009). Der vermeintliche Schutz vor den Risiken, den die besagten Instanzen und Mechanismen versprachen, hat auf den Finanzmärkten das jeder Habsucht eigene Potential der Steigerung geradezu institutionalisiert. Auf den Finanzmärkten und in den Banken wurden Verfahrensweisen installiert, die das genaue Gegenteil jener vom klassischen Liberalismus postulierten Neutralisierung der schädlichen Leidenschaften bewirkten. Dabei haben wir auch die Grenzen der von Hirschmann beschriebenen Transformation der Leidenschaften in Interessen feststellen können. Wenn sich der Kalkül der ökonomischen Interessen als Illusion erweist, dann kann es auf den Finanzmärkten keine Vermittlung mehr zwischen Leidenschaft und Vernunft geben. Die Habsucht kann sich nicht in eine ruhige Passion verwandeln, solange sie nicht das Erregungspotential der fancy finance der Investitionsbanken und der Folgeprodukte reduziert und solange der Beruf des Bankers nicht wieder – wie Paul Krugmann empfahl – zu einer langweiligen Angelegenheit wird. Der Kapitalismus kann auf das Gewinnstreben nicht verzichten, das so alt ist wie das Geld; aber wir sollten in der Lage sein, die Gratifikationen zu begrenzen, welche die Habsucht auf den Finanzmärkten dieses emotional aufgeladenen Kapitalismus genießt. Die Funktion dessen, was wir globale Finanzregulierung
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nennen, müsste gewissermaßen in einer Rückkehr zu den ruhigen Emotionen bestehen, die man im gegenwärtigen Finanzwirbel destruktiver Leidenschaften so schmerzlich vermisst.
L ITER ATUR Akerlof, George/Shiller, Robert J. (2009), Animal Spirits: How Human Psychology Drives the Economy and Why it Matters for Global Capitalism, Princeton University Press. Arnoldi, Jakob (2009), Alles Geld verdampft. Finanzkrise in der Weltrisikogesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Beauvallet, Maya (2009), Les stratégies absurdes. Comment faire pire en croyant faire mieux, Paris: Seuil. Beck, Ulrich (2007), Weltrisikogesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Bonß, Wolfgang (1995), Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition. Bronk, Richard (2009), The Romantic Economist. Imagination in Economics, Cambridge University Press. Charolles, Valérie (2008), Croissance, inflation, chômage, crise financière… Et si les chiffres disaent pas toute la vérité. Chroniques économico-philosophiques, Paris: Fayard. Cohen, Daniel (2009), La prospetité du vice. Une introduction (inquiète) à l’économie, Paris: Albin Michel. Douglas, Mary/Wildavsky, Aaron (1982), Risk and Culture: an Essay on Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley: University of California Press. Fox, Justin (2009), The myth of the rational market, New York: Harper. Hirschman, Albert (1984), Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt: Suhrkamp. Latour, Bruno/Lépinay, Vincent-Antonin (2008), L’Économie, science des intéréts passionés, Paris: La Découverte. Marshall, Alfred (1996), The Correspondence of Alfred Marshall, hgg. von J.K. Whitaker, Cambridge University Press. Neckel, Sighard (2008), Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Pixley, Jocelyn (2004), Emotions in finance. Distrust and uncertainty in global markets, Cambridge University Press.
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Vierter Teil: Die Geographie der Kreativität
9. Der Wert der Kreativität »Groß ist die Sache, schwer der Disput, der gewaltsame Streit geht weiter. […] Sagt nun wirklich, was Ihr beiden zu bereden habt. Greift es an und entledigt euch des Alten wie des Neuen, und wagt es, etwas Rechtes und Weises zu sagen.« Aristophanes, Die Frösche, Auftritt des Chors der Eingeweihten, V. 1099-1109.
Kreativität ist ein Begriff, den jeder im Mund führt, den aber keiner wirklich kennt. Wie immer, wenn wir es mit schwierigen Begriffen zu tun haben, erscheint es leichter, ihn negativ zu formulieren und sich dabei vorzustellen, was man verlieren würde, wenn es ihn nicht gäbe. Ohne Kreativität gäbe es weder Konkurrenz auf dem Markt noch neue Attraktionen im Bereich der Kultur und es bliebe uns im Privatleben nichts als Langeweile. Doch bei all solchen negativen Eingrenzungen hört eine positive Formulierung nicht auf, uns wie eine unerledigte Aufgabe zu beunruhigen. Auf welchen Grundlagen beruht Kreativität und wie könnte man sie wecken und gestalten? Diese Frage lässt sich schon deshalb nicht grundsätzlich beantworten, weil wir Unerwartetes nicht bestimmen und das Neueintretende nicht präjudizieren können. Es gibt auch keine Rezepte, um Kreativität freizusetzen. Und von Innovation ist so häufig die Rede, dass es fast schon unmöglich wird, dem noch etwas Neues hinzuzufügen. Was wir tun können, beschränkt sich deshalb darauf, einige Ansätze zu befragen, die das Problem der Kreativität unterlaufen, ihre zahlreichen Paradoxien aufzuzeigen und daraus einige Bedingungen für
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ihr Erscheinen abzuleiten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass diese Bedingungen nichts garantieren, was nicht garantiert werden kann, da es ja um etwas so Unvorhersehbares geht wie der Eintritt des Neuen in die Geschichte.
R HE TORIKEN DER I NNOVATION Innovation ist zu einer allgegenwärtigen rhetorischen Floskel geworden. Wir leben in einer Welt, die das Neue anbetet und seinen Erscheinungsformen den Vorzug gibt und in einer Gegenwart, die man als wesentlich innovativ erlebt und beschreibt. Diese Epiphanie des Anfangs lässt sich als ein Kompensationsphänomen beschreiben, denn sie tritt in einer Kultur auf, die trotz aller Innovationshysterie vom Zweitrangigen und Mittelbaren beherrscht wird: Wir kaufen, was wir nicht hergestellt und verkaufen, was wir nicht erfunden haben, wir essen, was andere für uns gejagt und bewegen uns als Touristen in Gegenden, die andere entdeckt haben, wir benutzen Instrumente, die andere erfanden. Kurz, fast niemand hat mehr eine unmittelbare Welterfahrung in einer Welt, in der an Montagebändern gearbeitet wird oder man Artefakte benutzt, deren Funktionieren man nicht versteht. Alles ist im Grunde schon verarbeitet und konserviert, aus zweiter Hand. Eine Nostalgie des Unmittelbaren kann mit dieser Intensität nur in einer Gesellschaft entstehen, die sich nach Erfahrungen aus erster Hand sehnt. Diese Einsicht reflektiert ein ScienceFiction-Roman, in dem Jean Claude Dunyac die Weltbibliothek als einen derart gesättigten Ort beschreibt, dass ihr Direktor nur noch damit beschäftigt ist, Texte aufzubewahren, die eine originelle Idee formulieren, alles Unnötige zu beseitigen und den Schriftstellern Angst einzujagen, um sie davon abzuhalten, weiter zu schreiben. In dieser Kultur herrscht eine Atmosphäre der Redundanz, gegen die auch wir uns gelegentlich zur Wehr setzen, wenn uns das Gewicht der Wiederholung unerträglich wird. Die emphatische Rhetorik der Innovation verbreitet sich gerade in einer Zeit der Krise der Utopie. Niemals zuvor war eine Gesellschaft so tief davon überzeugt, dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe und es gilt das Postulat, dass es unmöglich sei, noch etwas wirklich Neues zu schaffen. Alles ist Intertextualität, ein Konglomerat von Verweisen, Interpretation, Rekontextualisierungen, Modifikationen des schon Vorhandenen. Die Gesellschaft wird von ihrer Zukunft immer mehr beansprucht,
9. Der Wer t der Kreativität
scheint aber kaum noch Vertrauen in sie zu haben. Dieses Misstrauen wird an einer ausgeklügelten Vergangenheitsorientierung der Innovationen in der Modewelt sichtbar: an der Wiederbelebung bestimmter Stile, den Tendenzen, Vergangenes zu wiederholen und den Vorhersagen der Rückkehr von schon Dagewesenem (der 1970er Jahre, des Marxismus, des mittelalterlichen Romans, des Konservatismus …). Es hat den Anschein, als wäre das Neue, das man unausgesetzt sucht, nichts weiter als das zyklisch wiederkehrende Alte. Deshalb atmet die Innovation immer mehr den Geist der Nostalgie. Andererseits ist aber auch ein Phänomen zu beobachten, das Hermann Lübbe als das »Paradox der Avantgarde« bezeichnet hat (1992, 94): Der programmatische Wunsch nach Neuem und die Fixierung der Zukunftsorientierung als kultureller Norm befördert in Wirklichkeit die Musealisierung und den Klassizismus. Dieses unvermeidliche Schicksal jeder Avantgarde bezieht sich nicht nur auf die Künste, sondern ebenso auch auf die beschleunigten Produktionszyklen, die Mode oder die jeweiligen »Zeitgeister«. Kaum etwas ist gestriger als das Heutige, kaum etwas angepasster als die Kritik, kaum etwas wirkt weniger verändernd als die Agitation oder ist älter als das Moderne, hinfälliger als das Aktuelle und deprimierender als die Euphorie. Es geschieht, was immer dann geschieht, wenn die Neuigkeit emphatisch und mit der Erwartung beschworen wird, dass endlich etwas eintreten möge, nach dem es nichts Neues mehr geben kann, so dass diese endgültige Neuigkeit alles Kommende bestimmt. Zukunft wäre dann nur noch eine Ausbreitung der schon erreichten Gegenwart, so wie in traditionsorientierten Welten die Gegenwart nur als bloße Verlängerung der Vergangenheit verstanden wurde. Boris Groys hat dies »Konservatismus der Zukunft« genannt, in dem die Zukunft ebenso verstanden wird wie in den traditionellen Gesellschaften, d.h. als etwas Harmonisches, Endgültiges und Unveränderliches. Deshalb beziehen viele Ideologien der Innovation extrem konservative Positionen, sobald sie an die Macht gelangen. Denn sie begreifen sehr gut, dass jetzt nichts Neues mehr kommen kann. Der Ausfall der Zukunft im emphatischen Sinn mündet in die Dynamik einer Innovation ohne Neuheiten, in die aufgeregte Trägheit einer Bewegung, die keine Zukunft mehr antizipiert. Deshalb scheint die Menschheit auf eine Zukunft zuzusteuern, die keinen Neuanfang verspricht, sondern eher eine Beschleunigung der schon bekannten Dyna-
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mik mit sich zu bringen scheint. Zwar bezeichnet Innovation eine generische Präferenz des Neuen, aber häufig beschränkt sie sich in Wirklichkeit auf einen Austausch der Moden oder auf Ersatzformen des Marktes. Ungeachtet dessen, was uns die dominierenden Diskurse einreden wollen, können wir feststellen, dass die Räume für das Ausprobieren neuer Möglichkeiten in Wahrheit sehr eng geworden sind. Sicher bewahrt das Neue nach wie vor seine Faszinationskraft, zugleich aber wollen wir von unerwünschten Überraschungen befreit werden und das bedrohliche Unbekannte unserer Kontrolle unterwerfen. Deshalb ist diese Epoche der Innovation zugleich auch eine Epoche des benchmarking, monitoring oder der Befolgung bewährter Praktiken, die immer schon »yesterday’s best practice« sind (Hackett 2000). Die Rhetorik des Neuen, die uns glauben macht, dass in Zukunft alles anders wird, verhindert die Erkenntnis, dass sich nichts ändert, sondern sich alles unter dem Titel des Neuen wiederholt. Das Übliche ist vor allem routinierte Wiederholung, d.h. eine Praxis, auf die sich Foucaults Charakterisierung der Macht anwenden ließe: »arm an Mitteln, knapp an Methoden, eintönig in den Taktiken, die sie anwendet, unfähig zur Erneuerung und wie dazu verurteilt, sich unablässig selbst zu wiederholen« (1976, 112).
D IE P AR ADOXIEN DER K RE ATIVITÄT Alle Welt möchte kreativ sein, bei der Arbeit, in der Freizeit und bei der Liebe. Dieser Anspruch breitet sich als ein Imperativ aus, der seiner eigenen Paradoxien nicht mehr bewusst wird. Um aber zu begreifen, worin das Neue besteht und über welche Möglichkeiten seiner Verwirklichung wir verfügen, müssen wir uns über die Paradoxien der Kreativität klar werden, die ich in den folgenden Punkten zusammenfassen möchte: Das Paradox und seine Hervorbringung: Kreativität erlangt man im Allgemeinen nur, wenn man sie sucht, sie ist jedoch keineswegs das Ergebnis einer intentionalen Handlung. Die bloße Beschwörung des Neuen macht aus ihm noch keine konkrete Realität, d.h. Erneuerung ist und bleibt ein unwägbares Ereignis. Das Phänomen Silicon Valley war nicht das Resultat einer ausdrücklichen politischen Entscheidung, sondern des Zusammentreffens historisch kontingenter Ereignisse. Es gibt also keine Strategien, mit deren Hilfe man sich der Kreativität versichern könnte. Wenn etwas wirklich Neues eintritt, dann konnte es schon per
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definitionem nicht absichtlich hergestellt worden sein. Es ist zwar möglich, a posteriori die gesellschaftlichen oder kulturellen Bedingungen zu rekonstruieren, deren Zusammentreffen Kreativität begünstigt, sie lässt sich aber keinesfalls auf Gesetze zurückführen, aus denen sich die Entstehung von Neuem ableiten ließe. Die institutionellen Bedingungen, die wir solchen Wirkungen zuzuschreiben pflegen, verfügen keineswegs über sein wirkliches Eintreten. Innovation ist deshalb auch kein Privileg einer bestimmten wissenschaftlichen oder kulturellen Elite. Jede institutionelle Einrichtung, die etwas Neues begünstigt, steht unausweichlich vor dem Dilemma, dass sie Unvorhersehbares hervorbringen und gleichzeitig unter Kontrolle halten will. Ihre Ansprüche, noch unbekannte Anwendungen zu ermöglichen und zugleich ihre Risiken zu minimieren, sind letztlich unvereinbar. Aber eine geplante oder erwartete Neuheit ist eben nicht wirklich neu. An diesem unkalkulierbaren Charakter schöpferischer Genialität scheitern letztlich alle Vorrichtungen zur Hervorbringung von Innovationen. Zwar lassen sich durchaus günstige Bedingungen schaffen, die ihr Entstehen begünstigen, aber es ist unmöglich zu sagen, was in einem Augenblick der Erneuerung geschieht und wann er eintreten wird. Auch wenn wir noch so viele Vorkehrungen treffen, um Innovationen zu ermöglichen, so ist doch ihr wirkliches Auftreten immer eine Überraschung und am Ausmaß ihrer überraschenden Wirkung lässt sich eine wirkliche Innovation erkennen und ermessen. Denn das wirklich Neue ist immer etwas ganz Anderes als das, was wir als solches erwartet hatten. Wenn wirklich von radikaler Kreativität und nicht nur von bloßen Variationen oder Modifikationen die Rede ist, so gibt es in kreativen Prozessen stets einen schicksalhaften Aspekt, der für sie entscheidend ist. »Im Gegensatz zur Epigenese oder zur Tautologie, auf denen Welten der Reproduktion beruhen, steht der gesamte Bereich der Kreativität, der Kunst, des Lernens und der Evolution, wo sich Veränderungsprozesse von schicksalhaften Einflüssen nähren« (Bateson, 1995, 276). Aus denselben Gründen begreift Luhmann den Zufall als die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu nutzen, die es selbst weder hervorbringen noch beherrschen kann. Die Irritationen durch ihre Umwelt sind unerlässliche Quellen für die Evolution von Systemen (1994, 138). Wenn es daher darum geht, günstige Bedingungen für einen Einbruch des Neuen zu schaffen, dann stellt sich vor allem das Problem, erst einmal Zurückhaltung zu üben. Denn niemals lässt sich mit Sicherheit festlegen, dass der betrie-
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bene Aufwand an Bildung, Kenntnissen und Forschung notwendig auch zu mehr Kreativität führt. Kurz, Kreativität lässt sich nicht planen und sie ist keine passiv vorliegende Ressource, die sich mit einigen passenden Handgriffen aktivieren ließe. Was jedoch immer im Bereich unserer Möglichkeiten liegt, ist die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, die eine Aktivierung kreativer Kräfte ermöglichen. Das ist immerhin etwas, reicht aber noch nicht aus. Wenn man denn von Kreativität reden will, so erscheint es deshalb einfacher und folgerichtiger, danach zu fragen, wodurch sie blockiert werden könnte. Das Paradox ihrer Beglaubigung: Kreativität ist eine Eigenschaft von Subjekten, ob sie aber wirklich als solche bewertet werden kann, hängt von der Anerkennung der Anderen ab. Insofern ist Kreativität ein sozialer und kommunikativer Sachverhalt. Die Logik der Kulturen lehrt uns, dass niemand vorherzubestimmen vermag, ob und wie eine Neuheit aufgenommen, interpretiert oder bewertet, ja nicht einmal, ob sie überhaupt als solche erkannt wird. Die Bedeutung und der Wert der Neuheit kann uns nicht von einem Einzelnen aufgezwungen werden, sondern sie entscheiden sich in allen kulturellen Bereichen der Gesellschaft. Deshalb hat der schöpferische Wille eines Künstlers, eines Politikers, eines Juristen oder Denkers auch keine Verfügungsgewalt darüber, wie er aufgenommen wird. In dieser ursprünglichen Unsicherheit liegt einer der Gründe dafür, dass wir niemals wirklich im Voraus wissen, ob wir etwas Neues entdecken oder nur Offensichtliches wiederholen, ob wir erfinden oder repetieren. Ob wir der Entstehung einer wirklichen Neuheit beiwohnen, können wir per definitionem nicht im Vorhinein wissen. Unsere Neugier und unser ganzes Tun bereiten uns ständig auf Neues vor, ohne dass wir exakt erkennen könnten, unter welcher Form es uns begegnet. Je unvorhersehbarer es ist, desto mehr fordert es unsere Fähigkeiten der Wahrnehmung und Beschreibung heraus und je weniger es sich aus dem Bisherigen ableiten lässt, desto mehr muss es als irritierende Provokation empfunden werden. Die Kriterien dafür, ob etwas kreativ ist, lassen sich auch nicht aus der subjektiven Empfindung seines Urhebers ableiten, da sich auch diejenigen, die lediglich Banalitäten und Unsinn produzieren, als kreativ empfinden. Solche Kriterien können nur intersubjektiver Natur, sie müssen aber stets vom Bewusstsein begleitet sein, dass auch diese Beglaubigung nicht unfehlbar ist. Sicher können wir nur der Tatsache sein, dass die
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Menschheit nicht selten wirklich Neues versäumt, häufig aber bequeme Fortsetzungen des Alten als Neuheiten zelebriert hat. Das Paradox der Entsubjektivierung: Kreativität ist eine subjektive Leistung, man erreicht sie aber nur, indem man gegen die eigene Subjektivität angeht. Kreativität setzt eine Intelligenz voraus, die mit der eigenen Unwissenheit rechnet und unablässig den Verdacht eher gegen sich selbst als gegen andere richtet. Es geht dabei darum zu verhindern, dass der Blickwinkel durch die ihm eigene Logik verengt wird. Man muss gewissermaßen die Welt aus einer doppelten Perspektive und von zwei Gesichtspunkten aus betrachten: dem eigenen und einem fremden. Man muss m.a.W. zugleich sehen und sich vorstellen, wie man gesehen wird. Darüber hinaus setzt Kreativität aber auch kollektive Lernformen voraus und sei es auch nur um der Tatsache willen, dass es keine nicht geteilte und teilbare Intelligenz gibt. Kreative Intelligenz entsteht nicht unter den Bedingungen eines freiwilligen oder unfreiwilligen Solipsismus, sondern sie braucht im Gegenteil Austausch und Beziehungen. Innovationen entstehen daher auch nicht aus einer bloßen Akkumulation, sondern aus der Koordination und Kooperation zwischen Subjekten, die sich zu bestimmten Zwecken zusammenfinden. Denn die eigene Intelligenz potenziert sich durch die kollektive Intelligenz, wenn ihre Komponenten intelligent kombiniert werden. Wir neigen dazu, Kreativität mit einer außerordentlichen Subjektivität zu assoziieren, aber das verhindert nur das Verständnis der Rolle der Subjektivität in ihr. Der irrationale und genialische Begriff der Kreativität findet sich in romantischen Klischees ebenso wie in überzogenen Vorstellungen der Revolte oder des Managements. Aber eine proklamierte Kreativität ist von vornherein schon eine überaus langweilige Angelegenheit, ebenso wie eine proklamierte Grenzüberschreitung eher eine arme und tendenziell standardisierte Kreativität zum Ausdruck bringt. Der Gestus des Bruches, aus dem nichts Unvorhersehbares folgt, hat sich in unserer Geschichte schon unzählige Male wiederholt. Dem gegenüber ist eine wirkliche Erneuerung ein überaus schwieriges Unterfangen, das sich keineswegs automatisch aus dem Vergessen vergangener Kulturen oder einer Unterbrechung des gerade Geltenden ergibt. Da es keineswegs leicht ist, die Normalität wirklich zu durchbrechen, tritt Neues immer nur gelegentlich und sehr selten auf. Es ist durchaus nicht übertrieben zu behaupten, dass die Banalität der Normalzustand der menschlichen Existenz ist (Groys 1999, 47). Der Einbruch einer wirk-
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lichen Neuheit hat stets einen außerordentlichen und schicksalhaften Charakter, so dass unsere Bemühungen, uns auf sie einzustellen, mit unvorhersehbaren Ereignissen rechnen müssen. Deshalb verbinden sehr viele auf diese Paradoxie anspielende Formulierungen unser Streben nach Kreativität und seine wirkliche Erfüllung im Begriff des Schicksals. Jeder wünscht sich natürlich, dass ihn die Inspiration gerade bei der Arbeit antreffen möge; man muss dazu aber, wie Nietzsche empfahl, erst einmal auf der Höhe seines Schicksals sein. Und dieses Schicksal begünstigt, wie Pasteur erkannt hat, nur diejenigen, die darauf vorbereitet sind, dass sich das sie schließlich treffende Urteil nicht in eine Entschuldigung für jene Faulheit ummünzen lässt, die in einigen romantischen Stereotypen als kreativer gilt als das Büro oder die Werkstatt. Das Paradox des Neuen: Wenn etwas wirklich ganz neu ist, dann verfügt man über keine kulturellen Dispositive mehr, um es als solches zu erkennen; ist es leicht erkennbar, dann heißt das nur, dass es so neu nicht war. Die Tatsache, dass das Neue das Alte stets und sei es auch nur als Kontrast voraussetzt, birgt ein tiefes Paradox. Denn etwas »absolut Neues« lässt sich nicht entwerfen, da wir es in allen seinen Dimensionen nicht auf der Grundlage schon bekannter Eigenschaften erfassen könnten. Ja wir wären nicht einmal in der Lage, es als solches wahrzunehmen. In diesem Sinn ist Heidegger Recht zu geben, der erkannte, dass eine Neuheit, die als solche erkannt werden soll, in eine bestimmte Tradition eingebracht werden muss, und sei es auch nur, um sich von ihr abzusetzen oder sich mit ihr zu messen. Luhmann hat dies so ausgedrückt: »Das Neue setzt immer Redundanzen voraus, im Zusammenhang mit denen es als Variation erkennbar ist« (1998, 1008). Das Neue ist paradox im Verhältnis zur Vergangenheit, aber ebenso auch zur Zukunft, insofern wirkliche Kreativität, weit davon entfernt, ihre Innovationsquellen zu erschöpfen, stets neue Ausgangspunkte für spätere Innovationen schafft. Erneuerung setzt immer die Eröffnung neuer Möglichkeiten voraus, die über die eingewöhnten Routinen hinausgehen. Ja sie definiert sich geradezu durch ihre Fähigkeit, neue Handlungsspielräume zu eröffnen, sei es in der Form technischer Produkte, neuer Märkte, Organisationsformen oder anderer sozialer Errungenschaften. Aus diesem Grund hat es jede Theorie der Innovation unmittelbar auch mit der Mitteilung und Verbreitung von Innovationen zu tun. Bei diesem Licht lässt sich auch verstehen, was Kierkegaard meinte, als er schrieb, dass gerade »die Wiederholung die Realität und der Ernst der Existenz«
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sei (1980, 5). Denn, so seine Überlegung, ein lebendiges Subjekt oder eine individuelle Identität konstituiert sich nicht als momentane Originalität oder ein augenblickliches Ereignis, sondern im Zusammenhang des Ernstes eines ganzen Lebens. Nur wenn die Wiederholung eine gelebte Möglichkeit ist, hat es Sinn von Identität zu reden und nur dann kann sich ein Subjekt als eines und identisch mit sich wissen. Über die Aura des ersten Mals hinaus ist es gerade die Möglichkeit eines zweiten Mals, die einer Entscheidung erst Sinn und Gewicht gibt. In diesem Sinn gründet die Fruchtbarkeit jeder kreativen Handlung vor allem in der Tatsache, dass sie etwas von sich preisgibt und Anderen neue Spielräume eröffnet.
D AS E RLERNEN VON K RE ATIVITÄT Die Fähigkeit der Innovation oder die Kreativität gilt im Allgemeinen als eine der wichtigsten Anforderungen, welche die Wissensgesellschaft an die Menschen stellt. Unter diesem Anspruch sind die Organisationen – etwa Schulen, Universitäten, Parteien oder Parlamente – aufgefordert, sich als Lerngemeinschaften zu konstituieren, um Wissen zu generieren. Was bedeutet das in dem bisher von uns skizzierten Rahmen? Beginnen wir mit einer Unterscheidung, die wir einführen müssen, um zwischen zwei Lerntypen bzw. zwei Kreativitätsniveaus zu unterscheiden, die sie jeweils erfordern. Das erste bezieht sich auf eine Anpassung oder Verbesserung innerhalb eines gegebenen Rahmens, die lediglich eine Wissenserweiterung oder Verhaltensmodifikation innerhalb eines geläufigen Repertoires erfordert. Es geht dabei einfach nur um einen weiteren Schritt im Verlauf einer historischen Reihe, um deren Fortsetzung oder auch darum, einem eingewöhnten Vorstellungsbereich, einem Archiv, Museum oder einer Bibliothek noch ein weiteres Element hinzuzufügen. Dieser Innovationsgrad beinhaltet noch keinerlei Konfliktpotential, ausgenommen vielleicht einige Streitigkeiten zwischen den Befürwortern der Neuerung, die ihnen einen bestimmten Ort im Archiv zuweisen möchten und denen, die an diesem Ort Anstoß nehmen. Beide Positionen definieren sich im Zusammenhang einer gemeinsamen Geschichte und bedienen sich gemeinsamer Kriterien, um zwischen dem Alten und Neuen zu unterscheiden. Auf dieser Ebene können wir den Typus einer Wissenschaft ansiedeln, von der Nietzsche zufolge keinerlei Unordnung zu erwarten ist (1988, 351) und die später den Namen normal
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science erhalten hat: eine Form der Auseinandersetzung, die durchaus tiefgründig sein kann, aber jedenfalls die allgemeinen Vorstellungshorizonte nicht in Frage stellt. Das zweite Kreativitätsniveau besteht in einer Erweiterung des Möglichkeitsraumes, welche die bisher geläufigen Begriffe und Strukturen verändert und einen qualitativen Sprung erfordert. Wir können sie »Lernprozesse zweiter Ordnung« oder reflexive Lernprozesse nennen. Es geht dabei um Veränderungen, welche die bisherigen Kriterien, Paradigmen und Horizonte in Frage stellen, auch wenn dies nicht alle zu gleicher Zeit betreffen muss. Wer sich z.B. anschickt, eine Geschichte des Unbewussten anstelle einer Geschichte des Bewusstseins zu schreiben (oder eine Geschichte des Privatlebens, der Frauen oder der Opfer anstelle einer Geschichte des öffentlichen Lebens, der Männer oder der Sieger), will nicht einem bereits bestehenden Archiv noch ein zusätzliches Element hinzufügen, sondern dieses Archiv zerstören und durch ein neues ersetzen (Groys 1999). In diesem neuen Archiv findet jetzt nicht einfach nur das Neue Beachtung, sondern auch das Alte wird unter ganz neuen Kriterien wieder aufgenommen. Denn neue Wertungskriterien führen automatisch auch zu einer neuen Bewertung der Vergangenheit. Die neuen Wertsetzungen in diesem Archiv sind mit seinen bisherigen Gehalten insofern kommensurabel, als sie bei aller Diskrepanz in der Bewertung dieser Erneuerungen doch stillschweigend das Archiv als solches und die Vergangenheit bejahen, die es enthält. Dennoch haben die unterschiedlichen Archive, die sich in der radikalen Erneuerung gegenüberstehen, keine gemeinsame Sprache. Fragt man nun weiter nach den Bedingungen, um innovativ sein zu können und wie eine Erziehung zur Kreativität aussehen könnte, dann müssen wir noch eine zweite parallele Unterscheidung einführen: die Differenz zwischen Geschicklichkeit und Bildung. Geschicklichkeit macht uns zu Automaten, die auf Reize immer mit denselben Reaktionen antworten, Bildung veranlasst uns dagegen, unsere Fragestellungen zu verändern. Im ersten Fall kann jemand die Handfertigkeit erwerben, geeignete Lösungen für gegebene Probleme zu finden, im zweiten sind es die Probleme selbst, denen man sich stellen, d.h. die man identifizieren, formulieren oder neu stellen muss. Kreative Intelligenz ist eine Eigenschaft, die sich nicht vollständig mit den traditionellen Rationalitätskriterien beschreiben lässt. Wenn es darum geht, neue Erfahrungen zu machen und nicht nur in gewohnten
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Bahnen fortzuschreiten, dann besteht die Intelligenz nicht nur in der Optimierung von Resultaten, sondern in der Fähigkeit, Irrtümer zu verarbeiten und Enttäuschungen in Lernprozesse zu transformieren. In ihrem kreativsten Aspekt ist Intelligenz die Fähigkeit, sich auf Zusammenhänge einzulassen, die man nicht vollständig beherrscht. Wenn von tiefgreifenden Veränderungen, der Neuformulierung von Problemen, von echter Kreativität oder radikaler Erneuerung die Rede ist, dann muss uns klar sein, dass wir damit eine Lebensform ansprechen, die all der Sicherheiten entbehrt, in denen wir uns normalerweise einzurichten pflegen. Wer kreativ sein will, muss zuerst einmal lernen, in instabilen und wechselvollen Verhältnissen zu leben (Senge 1999), denn die Erschaffung neuen Wissens verlangt eine Fähigkeit, auch die Unsicherheit zu ertragen, die aus den neuen Optionen entspringt. Lernen kann man nur in dem Maße, wie man auch die Risiken dieser Unsicherheit annimmt. Immerhin ist es dabei tröstlich zu wissen, dass, wie man gesagt hat, »no risk is the highest risk of all« (Wildavsky 1979), d.h. dass das größte Risiko darin besteht, es nicht eingehen zu wollen, so wie auch die schlimmste Täuschung darin besteht, sich selbst und anderen Irrtümer systematisch zu untersagen. Wer um jeden Preis beansprucht, sich niemals zu irren, unterliegt bereits einem Irrtum und was er auf diese Weise erreichen kann, ist von vornherein schon eine Täuschung. In Situationen objektiver oder gewollter Veränderungen, wenn die Dinge ihre bisherige Geltung zu verlieren scheinen, die ihnen bisher zukam, oder wenn man sie ganz bewusst einer Revision unterzieht, dann steht alles Erlernte unter dem Verdacht, nur vorläufig, bedingt gültig und unsicher zu sein. In solchen Momenten entfaltet der Ausspruch, dass jedes Lernen im Grunde auch ein Verlernen ist, seinen vollen Sinn und es gibt keine Erneuerung, wenn man das bisher Gewusste nicht loslässt. Klugheit, Lernfähigkeit oder Erfahrung sind also nicht fest installiert, sondern Dispositionen für das Neue. Adorno hat das in der Formulierung zusammengefasst, dass die wahre Erfahrung eine Auflehnung gegen die Idee der Erfahrung als Besitz ist (1958, 117). Wenn Lernen eng mit Erfindungen und Erneuerungen zusammenhängt, so heißt das nichts anderes, als dass Lernen Neu-Lernen bedeutet: eine Modifikation des Gewussten und eine Korrektur der bisherigen Erwartungen. Niemand ist lernfähig, der überall nur Gelegenheiten sieht, sein Wissen zu bestätigen und nicht in der Lage ist, jene »Kunst des Ignorierens« (Luhmann 2000) zu be-
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kämpfen, die wir in unserem persönlichen Leben und innerhalb unserer Organisationen normalerweise eher zu kultivieren pflegen. Das Verlernen hat freilich seinen Preis, der besonders hoch ist für Personen und Organisationen, die auf eine erfolgreiche und große Tradition zurückblicken und deshalb keinen Anlass sehen, daran zu denken, dass es in Zukunft anders sein könnte. Gerade in solchen Fällen ist es aber umso wichtiger zu wissen, dass ein System, insbesondere dann, wenn es gut funktioniert, sehr viele Kapazitäten zur Einrichtung »defensiver Routinen« entwickelt. Es gibt sie, sie sind durchaus auffallend und jeder kann sie bemerken, aber es gibt zugleich auch subtilere defensive Strategien, um Irrtümer zu verschleiern. Argyris und Schön haben dafür den Begriff des »learning paradox« geprägt: eine Strategie, die dazu führt, dass »die Anstalten, die wir heute zur Förderung des organisierten Lernens treffen, ein gründlicheres Lernen verhindern« (1996, 281). Es geht dabei darum, auf eine Weise zu lernen, die ein gründlicheres Lernen unterläuft und etwas zu verändern, um nichts wirklich verändern zu müssen. Dies ist häufig der Fall in Unternehmen, Organisationen, Institutionen oder bei programmierten Änderungen, die ein Lernen innerhalb von »discussable domains«, d.h. sicheren und wenig riskanten Bereichen zulassen, es aber in anderen Bereichen argwöhnisch verbieten, in denen die Modifikation eingefahrener Regeln tabu ist. Es gibt daneben noch viele Formen unproduktiven Lernens, wie Erarbeitung von Lösungen, die ein Problem verstärken (im Allgemeinen dadurch, dass sie Symptome bekämpfen, seine Ursachen aber unangetastet lassen), scheinbare Lösungen, opportunistische Kompromisse, verschleierte Widersprüche oder unbemerkte Routinen, die eine Realitätsprüfung vermeiden. Worin besteht dann eigentlich ein Lernen, das neue Erfahrungen eröffnet? Zunächst einmal sicherlich in einer Realitätsoffenheit, die Enttäuschungen aktiv nutzt und kognitiv verarbeitet. Denn lernfähig ist nur, wer nach einer Enttäuschung der Erwartungen (Hoffnungen, Wünsche oder Befürchtungen) nicht auf ihnen beharrt, sondern diese Enttäuschungen annimmt und seine Erwartungen verändert. Dafür muss man den Umgang mit Desorientierungen und die Bereitschaft einüben, nicht alles deutlich vor sich haben zu müssen. Luhmann hat das in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass die Erwerbung neuen Wissens die Fähigkeit verlangt, sich überraschen zu lassen und die »Schwelle der Unwahrscheinlichkeit« zu überschreiten, d.h. dass »die Erfahrung des
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Neuen einen Beobachter voraussetzt, der in der Lage ist zu bemerken, dass sich die Erwartungen ändern« (1994, 216). Diese Lernbereitschaft impliziert einen Kampf gegen die menschliche Tendenz, Urteile zu fällen, bevor Beweise vorliegen und erst später die zu diesen Urteilen passenden Beweise zu suchen. So lassen sich Regierende von Schmeichlern beraten, verordnen Ärzte zuweilen Therapien vor der Diagnose und wir alle nehmen gewöhnlich von der Realität vor allem das wahr, was unsere Vorurteile bestätigt … Auf Enttäuschungen kann man dann auf eine doppelte Weise reagieren: entweder indem man die eigenen Erwartungen an die Enttäuschung anpasst oder indem man darauf besteht, dass andere ihre Erwartungen ändern müssen. Solange der Beobachter seine Erwartungen nicht kognitiv, sondern normativ oder nur ganz unbestimmt reflektiert, wird ihm diese Änderung ein Ärgernis sein und ihn veranlassen, rückwärtsgewandt den Normalzustand wiederherzustellen. Deshalb ist Kreativität nur dort möglich, wo eine kognitive und lernoffene Erwartungshaltung nicht durch ein Festhalten am Vorhersehbaren blockiert wird. Eine Reaktion, die in der Lage ist, Irrtümer zu korrigieren, erfordert eine unablässige Abgleichung zwischen dem, was man erwartet und dem, was in der Tat eintrifft. Letztlich gründet daher Lernen in der Bereitschaft, überraschende Erfahrungen zu machen und das eigene Verhalten im Einklang mit neuen Entdeckungen zu verändern. Dies bedarf einer kognitiven Mobilisierung, welche die Fähigkeit stärkt, sich in dieser strukturellen Unruhe aufzuhalten und die Aufmerksamkeit für unerwartete Brüche und unvorhergesehene Veränderungen zu schulen. Lernfähig sind Systeme nur in dem Maße, wie sie in der Lage sind, ihre strukturelle Unruhe aufrechtzuerhalten. Denn Subjekte und soziale Systeme bedürfen einer beständigen Aufmerksamkeit für unerwartete Diskontinuitäten. Alle Organismen und Organisationen verdanken ihr Überleben ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zu permanenten Verifikationsmaßnahmen. Sie erwerben das dafür nötige Wissen nicht durch die Aneignung fixierter Inhalte, sondern durch eine unablässige Überprüfung und Veränderung ihrer Beobachtungs- und Erwartungsstrukturen. Aus dieser permanenten Unruhe erwächst Systemen die Sensibilität, die ihren reflexiven Aktivitäten zugrunde liegt. Psychische und soziale Systeme stabilisieren sich m.a.W. nur durch Veränderung. Gewissermaßen bestätigt sich hier eine der überraschendsten Paradoxien des kreativen Aktes, der zufolge dieser das Überleben gerade dadurch si-
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cherstellt, dass er eine gewisse Subversion der für Systeme notwendigen Erhaltungstendenz bewirkt. Wenn innerhalb einer Organisation Alternativen auftauchen, dann führt dies jenes Maß an Unsicherheit in sie ein, dessen sie bedarf, um in der Lage zu sein, auf vergessene oder nicht beachtete Wirklichkeitsaspekte zurückzukommen. Eine der wichtigsten Fragen, die sich eine Organisation stellen muss, ist deshalb die, wie sie ein zu geringes Maß an Dissens vermeiden kann, dessen Bedeutung meistens unterschätzt wird. Möglicherweise hängt das zum Teil auch mit der Dominanz der Theorie des kommunikativen Handelns zusammen, in der Habermas die kommunikativen Prozesse einer immanenten Teleologie unterwirft, die vom Maß einer vollkommenen Übereinstimmung reguliert wird. Habermas zufolge gibt es eine »Lebenswelt«, einen Bestand unartikulierten und selbstverständlichen Konsenses, auf den zu rekurrieren ist, wenn man Kontroversen in rationale Diskurse überführen will. Man könnte sich diese »Lebenswelt« aber durchaus auch als eine Welt voller Unstimmigkeiten vorstellen. Wenn Habermas Recht hätte, dann müssten wir uns fragen, warum wir immer noch kommunizieren und die Kommunikation an kein Ende gelangt. Kreativität ereignet sich nämlich durchaus nicht im Rahmen eines allgemeinen Einverständnisses, sondern eher im Gegenteil durch dessen Überschreitung. Zumindest in Organisationen, die sich erneuern, stellt gerade ein Mangel an Dissens ein größeres Problem dar als ein fehlender Konsens. Kreativität stützt sich, bei diesem Licht besehen, nicht auf einen Fortschritt hin zum Einverständnis, sondern beruht im evolutiven – und deshalb notwendigerweise auch konfliktiven – Charakter der Kommunikation.
L OB DER I NE X AK THEIT Möglicherweise leben wir in einer Epoche, die sehr viel weniger kreativ ist, als sie selbst glaubt. Denn die Rhetorik der Kreativität und ihre Wirklichkeit sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Das zeigt sich am deutlichsten am Mythos der Exaktheit, d.h. dem Glauben, dass nur exakte Lösungen korrekt seien und sich jedes Problem auf eine quantitative Behandlung auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Datenmengen reduzieren ließe. Wir verherrlichen die Originalität und den Wert der Entscheidung, leben aber zugleich auch in einer Zeit des
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benchmarking, der Suche nach Quantifikationen und des »governing by numbers«, die nichts weiter sind als eine Form, Entscheidungen so zu treffen, dass es den Anschein hat, als würde gar nichts entschieden (Porter 1985, 8; Miller 2001): Indikatoren, Rankings, Daten und Messungen. Zwar kann man wirklich nicht regieren oder lenken, ohne zu beobachten, was andere tun und ohne die Auswirkungen der eigenen Entscheidungen zu ermessen. Aber all die dafür nötigen Daten und Zahlen müssten Reflexionsprozessen unterzogen werden, die sie angemessen interpretieren und zur Grundlage eines kollektiven Lernens machen. Es geht dabei vor allem darum, Automatismen zu vermeiden, die eines der größten Hindernisse der Kreativität sind, und zwar sowohl was das Verständnis und die Interpretation der Wirklichkeit betrifft als auch im Blick auf zu treffende Entscheidungen. Aber die Datenanalyse hat sich zunehmend gegenüber anderen Erkenntnisformen in den Vordergrund gedrängt. Ihr Rahmen ist ein neopositivistisches Modell der Kognition, das auf dem Umgang mit Daten beruht, deren universale Verfügbarkeit ja in der Tat unsere Epoche kennzeichnet. Dahinter steht der Glaube, dass uns diese Daten, liest man sie richtig, einen Spiegel anbieten, in dem wir uns zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit vollständig erkennen können. Diesem Realitätsverständnis gilt nicht nur die sinnliche Wahrnehmung, sondern auch der größte Teil der begrifflichen Analysen als überflüssig. Darin kommt die Tendenz zum Ausdruck, dass sich die Wissensentwicklung und die Sinnkonstruktionen nicht mehr über die Konfrontation von Theorien mit der Realität vollziehen, sondern lediglich über Kommutationen und Permutationen auf der Grundlage enormer Datenmengen. Diese statistischen Permutationen sind grundsätzlich agnostisch und die Entdeckung neuer Einsichten vollzieht sich hier unter dem Kanon eines induktiven Verstandes. Theorien sind dabei grundsätzlich nicht vonnöten. Das Modell, sofern es überhaupt existiert, ergibt sich aus dem Bottom-up-Prozess der statistischen Datenmanipulation. Es lassen sich sogar Stimmen vernehmen, die in diesem Zusammenhang das Ende der Theorie und der Wissenschaft im gebräuchlichen Sinn eines konzeptuellen, durch empirische Beweise fundierten Verfahrens prophezeien. Sie versichern uns, dass Erkenntnisse künftig ausschließlich aus Korrelationen gewonnen werden, die sich aus großen Datenmengen extrahieren lassen und dass die Zeiten, in denen theorielose Daten nichts weiter als ein Hintergrundrauschen waren, endgültig vorbei seien (Anderson 2006). In
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diesem neopositivistischen Zusammenhang werden begriffliche Analysen als unnütz abgetan und »Realität« ergibt sich als kognitiver »Niederschlag« digitaler Partikel. Diese Denkweise leitet sich aus zahlreichen technologischen und kulturellen Faktoren ab, unter denen die massive Zirkulation verfügbarer kognitiver Elemente in der Form computergestützter Daten hervorzuheben ist, deren statistische Behandlung die Konstruktion von Bedeutungen und praktischen Orientierungen erlaubt. Diese Möglichkeit ist nicht nur auf das wissenschaftliche Wissen beschränkt, sondern verbreitet sich über das soziale Netz durch eine immer dichter werdende Infrastruktur von Informationen, welche die Konfiguration und Übermittlung der Datenmengen ermöglicht. In diesem Prozess vollzieht sich ein heimlicher, aber tiefgreifender Wandel, der nicht nur das existentielle Selbstverständnis wissenschaftlicher Beobachter, sondern auch unsere eigenen Konstruktionen dieses Selbstverständnisses betrifft. Denn wir tendieren dazu, Lebensprobleme wie kognitive Probleme auf digitaler Grundlage zu behandeln und sie in Begriffen des digitalen Surfens zu stellen: Was gibt es zu sehen, was ist zu tun, wie finden wir einen bestimmten Film oder auch Freunde und Partner? So gesehen, scheinen sich diese Probleme mit Hilfe komplexer automatisierter Kalküle lösen zu lassen, die aufgrund von Daten und Informationen zustande kommen, die uns die modernen Technologien und die mit ihr assoziierten Lebensformen bereitstellen. Häufig wird angenommen, dass Computer bereits fertige Information verarbeiten, aber das ist höchstens in einer sehr rudimentären Bedeutung richtig. Denn was wir normalerweise unter Information verstehen, sind nicht einfach Daten, sondern Daten, die mit einem bestimmten Sinn versehen sind. Informationen werden daraus nur in der Interaktion von Mensch und Maschine, denn der Computer allein verarbeitet lediglich Daten- oder Informationspotentiale. Es gibt keine Information im eigentlichen Sinn, wenn die Daten nicht zuvor verarbeitet und interpretiert und solange sie nicht in Sinnkontexte eingeschrieben werden. Natürlich wäre es sinnlos, mit einem Computer um Schnelligkeit, Präzision oder Vollständigkeit zu wetteifern. Unsere Intelligenz verfügt aber über mindestens zwei Dimensionen, die den Maschinen fehlt: analoge Fähigkeiten und die Übersicht über das Ganze. Genau deshalb kann man von uns auch jene kreative Kompetenz erwarten, die darin besteht, inexakt über etwas nachdenken zu können, wie z.B. im uneigentlichen Sprachgebrauch der Bildung von Metaphern. Diese kreative Ungenau-
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igkeit ist eine heuristische Kraft aller möglichen Analogieformen. Und indem wir dieses inexakte Denken befördern, erweitern wir zugleich auch unsere Rechenkompetenzen um intuitive und sogar irrationale Fähigkeiten. Die zweite Besonderheit der menschlichen Kreativität besteht darin, die Ergebnisse von Rechenfunktionen abwägen zu können, sie zu bewerten und zu interpretieren, ihre irreflexiven Anwendungen zu verhindern und Fehler zu korrigieren. Dem metaphorischen Denken, den analogen Kapazitäten und der Urteilskraft ist die Fähigkeit gemeinsam, sich im Raum zwischen Wissen und Nichtwissen zurechtzufinden, die wir den Umgang mit der Unwissenheit nennen können. Kreativität wäre demnach so etwas wie ein Wissen um das Nichtwissen. Jeder, der sich für Kreativität interessiert, tut im Grunde nichts anderes, als jenem Bereich der Unwissenheit, den andere ohne weiteres ignorieren, mehr als die übliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mit dieser Aufmerksamkeit ist noch ein weiterer Bereich der Manifestation menschlicher Kreativität verbunden: die Entdeckung und Formulierung von Problemen. Der bisher entfaltete Gesichtspunkt der Kreativität lehrt uns nämlich, dass die Probleme wichtiger sind als die Lösungen, das »problem discovery« wichtiger als das »problem solving« und damit auch, dass Fragestellungen mehr Intelligenz erfordern als die Antworten. Zwar wird Kreativität häufig auf die Lösung schon bekannter Probleme reduziert, aber sehr viel nötiger haben wir eine Kreativität, welche bisher noch unbekannte Probleme entdeckt und formuliert. Das Aufspüren und Formulieren noch unentdeckter Probleme ist schwieriger, aber auch nötiger, insofern es über eingewöhnte Erfahrungshorizonte hinausweist und sie verändert: Um unbekannte Probleme für mögliche Lösungen zu entdecken, ist sehr viel mehr Qualifikation vonnöten als für das Auffinden schon bekannter Lösungen für bekannte Probleme. Solche Problemlösungen gehören nicht gerade zu den schwierigsten Aufgaben des kreativen Aktes. Beim »creative problem solving« geht es in der Regel um bereits gut strukturierte Probleme, so dass hierbei eher geordnetes Denken als Kreativität erforderlich ist. Anders liegt der Fall bei komplizierteren und noch nicht strukturierten Problemen, die häufig nicht einmal als Probleme erkennbar, geschweige denn als solche definiert sind. In diesem Fall ist Kreativität nicht zur Formulierung neuer Lösungen vonnöten, sondern um neue Konfigurationen oder Entwicklungen als potentielle Probleme zu entdecken. In solchen Fällen manifestiert sich Kreativität als ein produktiver Umgang mit Unwissenheit.
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Es kommt gelegentlich vor, dass sich hinter bestimmten uns beschäftigenden Problemen noch ganz andere Probleme verbergen. Uns allen sind persönliche, familiäre oder soziale Umstände bekannt, in denen wir uns nicht ohne die Hilfe anderer aus Problemlagen befreien können. Häufig besteht ein Problem aber auch gerade darin, dass wir Lösungen für unbekannte oder auch veränderte Problemlagen haben, ohne dass schon jemand in der Lage wäre, die neuen Probleme in dem Licht zu sehen, das wir für ihre Lösung benötigen würden. Es gibt Kommunikationsblockaden und Konflikte, die sich nicht wegen fehlender Lösungen verhärten, sondern weil wir nicht in der Lage sind, die ihnen zugrunde liegenden Probleme angemessen zu benennen. Es sind dies sogenannte »wicked problems«, für die uns nicht nur eine Lösung fehlt, sondern bei denen wir nicht genau wissen, worin das Problem eigentlich besteht. In solchen Fällen erweisen sich unsere kognitiven Grundlagen als ebenso unsicher und fragwürdig wie unsere normativen und pragmatischen Entscheidungskriterien (Fischer 2001). Hier bedarf es der Kreativität nicht mehr nur zur Problemlösung, sondern zur Entdeckung der wirklichen Probleme. Deshalb beinhaltet Kreativität immer auch Potentiale, welche die etablierten Arbeitsteilungen sabotieren und sich gegen die Parzellierung und Spezialisierung des Wissens und die Exaktheit seiner geläufigen Lösungen wenden. Die Aktivierung dieser Potentiale verlangt eine Revision eingefahrener Fähigkeiten und verfestigter Erwartungen sowie die offene Bereitschaft, über etablierte Wissens- und Praxisformen hinauszugehen.
D IE G ESELLSCHAF T DER I NTERPRE TEN Wir haben uns daran gewöhnt, die Welt als unmittelbare, verfügbare und leicht zugängliche Gegebenheit zu betrachten. In diesem Rahmen beschreiben die geläufigen Diskurse über die Wissens- und Informationsgesellschaft die Gesellschaft in Begriffen der Zirkulation von Gütern und Daten, deren Aneignung keine grundsätzlichen Probleme stellt. Diese vorherrschende Sichtweise geht von einer kommunikativen und reproduktiven Transparenz aus, als genüge für eine korrekte Lesart der Daten ein entsprechender Code. Aus dieser Perspektive kommt jedoch das Moment der Interpretation nicht mehr in den Blick, das in jeder Erkenntnis am Werke ist. Stattdessen verlässt sie sich auf wissenschaftliches Wissen,
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das sich leicht in technologische Apparaturen umsetzen lässt, baut auf deren unmittelbare ökonomische Rentabilität und misst anderen, künstlerischen, intuitiven, praktischen oder relationalen Wissensformen keine Bedeutung zu. Es lohnt sich, diesen Sachverhalt genauer zu betrachten, denn es geht hier nicht nur um die Zukunft der Geisteswissenschaften, sondern auch um das Geschick unserer politischen Gemeinschaften. Diese Unstimmigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – um es mit einer alten und geläufigen Unterscheidung auszudrücken – lässt sich in den Gegensatz einer ökonomischen, datenbasierten Wissenschaft und einer politischen Kunst der Interpretation übersetzen (Citton 2010). Entgegen den Tendenzen einer Reduzierung der Kommunikation auf bloße Informationsverarbeitung und einer digitalen Revolution, die sich selbst auf Investitionen in Technologien und die Informationsgesellschaft auf eine Maschinengesellschaft reduziert, verweist die Einsicht in die konstitutive Rolle der Interpretation für die Erkenntnis auf deren schöpferische Aktivität und Komplexität. Sie geht davon aus, dass die wirkliche Herausforderung unserer Zeit darin besteht, dass wir interpretieren müssen, um aus verfügbaren Daten Erfahrungen zu machen und aus Diskursen Sinn zu filtern. Auf diesem Problemfeld sind die Humanund Sozialwissenschaften als Spezialisten für Sinn, d.h. für Wissensformen zuständig, die Bedeutungen hervorbringen und reflektieren. Ein geläufiges Vorurteil setzt alle Erwartungen eines kollektiven Fortschritts in die Entwicklung einer Wissensform, die auf dem Modell wissenschaftlicher Exaktheit und ihrer technischen Umsetzbarkeit beruht. Tatsächlich aber dreht sich der größte Teil der heutigen Debatten gar nicht um Daten und Informationen, sondern um ihren Sinn und ihre Sachdienlichkeit, d.h. darum, wie sie zu interpretieren sind und was wünschenswert, gerecht, legitim oder angebracht ist. Wenn man nun feststellt, dass es in diesen Konflikten nicht wirklich um objektives Wissen geht, sondern vielmehr Interpretationen auf dem Spiel stehen, dann hat man das Wissen gleichsam »entneutralisiert« und ihm das politische Gewicht zurückgegeben, das ihm immer dann zukommt, wenn wir seine menschliche Bedeutung befragen. Um es mit einer etwas geläufigeren Begrifflichkeit zu sagen: Über der materiellen Infrastruktur der Wissensgesellschaft erhebt sich eine symbolische Metastruktur, in der die wirklichen Fragen der individuellen und kollektiven Existenz verhandelt werden. Den Propheten spielend, hat Ray Kurzweil (2005) behauptet, dass unsere Postfächer im Jahr 2048 täglich etwa eine Million E-Mails emp-
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fangen, wir dann aber auch über virtuelle Assistenten verfügen werden, die sie für uns bearbeiten. Es sei sogar möglich, dass Nanorezeptoren und -transmitter unsere Synapsen direkt mit Supercomputern verbinden, die uns in die Lage versetzen, eine Million mal schneller zu denken. Aber was heißt unter solchen Bedingungen überhaupt noch »Denken«? Gegen diese naive Reduktion der Intelligenz auf die Lektüre von Daten oder den Umgang mit vordefinierten Formen ist jedenfalls festzuhalten, dass unser Wissen zwar durchaus freien Zugang zu Informationen braucht, dass wir aber mindestens ebenso nötig die Fähigkeit ausbilden müssen, den »Lärm« des Bedeutungslosen auszuschalten. Denn sehr viel wichtiger und bedeutsamer als die Vorratshaltung von Daten ist immer noch die Interpretation der von ihnen übermittelten Informationen. Das Problem liegt gar nicht in ihrer Verfügbarkeit, sondern in ihrer Bewertung (des Grades ihrer Verlässlichkeit, ihrer Sachdienlichkeit und Bedeutung sowie des Gebrauchs, den wir von ihnen machen können). Die Kunst der Interpretation ist per definitionem inexakt, konkret und aufmerksam für Unregelmäßigkeiten. Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind insofern immer auch in dem Maße undiszipliniert, wie sie in Frage stellen, kritisieren, bewerten und Zusammenhänge herstellen. Die Interpretation ist eine kognitive Operation, die mangels impliziter Codes darauf angewiesen ist, zu improvisieren, in außerplanmäßigen Situationen zu entscheiden und Unbekanntes zu antizipieren. All das hängt mit der für die Geisteswissenschaften charakteristischen Ausrichtung aufs Konkrete zusammen, die anstelle der Ökonomien von Tabellen, Arbeitsteilung und Massenproduktion eine »Ökonomie der Einzelheiten« (Karpik 2007) ins Werk setzt. Eine Erkenntnis, die sich nicht aufs Allgemeine, sondern auf das konkrete Einzelne richtet, bedarf großer intuitiven Fähigkeiten. Zwar gilt eine solche interpretative Intuition im Schatten der Vorherrschaft der Wissenschaften des Allgemeinen als eine geringere, wenn nicht gar irrationale Erkenntnis. Aber alle Erfahrung lehrt, dass es insbesondere in hochkomplexen Zusammenhängen sehr voreilig wäre, uns von dieser Erkenntnisform zu verabschieden. Wenn wir etwa Fälle wie die gegenwärtige Krise betrachten, an deren Ausbruch die Mathematisierung der Ökonomie maßgeblich beteiligt war, erhalten wir ein ganz anderes Bild. Denn hier haben gerade Exaktheitsansprüche irrationalen Entscheidungen Raum gegeben, so dass nur die Interpretationskulturen (d.h. jene Bereiche kritischer Diskussion, in denen über die soziale Verträglichkeit der
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Technologien und ihre Anwendung diskutiert und nach ethischen und politischen Kriterien gefragt wird) in der Lage waren und sind, die gesellschaftlichen Ungenauigkeiten verengter Theoriebildungen zu korrigieren. Insofern enthält die in den Geisteswissenschaften praktizierte interpretative Intuition Potentiale, deren epistemologischer, heuristischer und Erkenntniswert gerade auf unsicherem Terrain, wie es auch unsere heutigen Gesellschaften sind, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Wenn Gewissheiten knapper werden, wird es wichtiger, einen Überblick zu bekommen, als Daten zu sammeln und sich in Einzelheiten eingezäunter Wirklichkeitsbereiche zu verlieren. Im Unterschied zum Spezialwissen setzen Interpretationen des Allgemeinen Orientierungswissen frei, das Spezialisten als solche nicht bieten können. Genau deshalb wächst heute das Verlangen nach Einsichten in künftige Entwicklungen und haben die beunruhigendsten Fragen, die sich uns stellen, mit dem kommenden Gang der Dinge zu tun: Wie kommen wir aus der Krise heraus? Wie wird sich Europa weiterentwickeln? Wie verhalten sich die Wähler? Das Wissen, das wir im Licht solcher Fragen wirklich benötigen, bezieht sich nicht auf unmittelbare oder eingeschränkte Nutzenkalkulationen, sondern es müsste uns einen allgemeinen Begriff von künftigen Entwicklungen geben, der uns instand setzen würde, antizipierende oder Verhütungsmaßnahmen zu treffen und unseren Entscheidungen Orientierung geben könnte. Zwar sind prophetische Aktivitäten durchaus zu Recht in Misskredit geraten und doch bedürfen wir ihrer mehr als jemals zuvor: Das reicht von Wettervorhersagen bis zu ökonomischen Wachstumsprognosen über Meinungsumfragen, Risikoabschätzungen und strategische Wetten, die auf unterschiedlichsten Gebieten eingegangen werden. Um diese wachsende Nachfrage nach Antizipationswissen zu befriedigen, brauchen wir jedoch keine neuen Daten, sondern angemessene Interpretationen der Informationen, über die wir verfügen. Vielleicht hatten wir es niemals zuvor nötiger, eine Kunst der rationalen Voraussicht zu entwickeln, die auch eine Deutung der Vertrauenswürdigkeit von Wahrsagungen und Wahrsagern einschließt. Der Kunst der Interpretation wächst vor allem auch in solchen Zusammenhängen eine ganz besondere Bedeutung zu, die von wachsenden Geschwindigkeiten und Automatismen beherrscht werden. Wir leben in Gesellschaften, in denen uns unablässig Kommunikationsströme durchqueren. Solche Gesellschaften benötigen Filter, um nicht von sinnlosen Informationen und banalen Klischees überflutet zu werden. Die eigent-
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liche epistemologische Souveränität besteht dabei in Fähigkeiten, die darauf abzielen, sich von in Gang befindlichen Entwicklungen nicht vereinnahmen zu lassen: eingespielte Mechanismen gezielt zu unterbrechen, mechanische Reaktionen ebenso zu vermeiden wie die unmittelbare Beantwortung von E-Mails, der Beschleunigung Widerstand entgegen zu setzen und dem Reiz-Reaktions-Schema zu entkommen, sich panischen oder euphorischen Verhaltensweisen zu enthalten, Distanz zu halten und Verzögerungen einzubauen, Antworten aufzuschieben und vielleicht sogar etwas Neues und Unvorhersehbares möglich zu machen. Kurz, die subjektive Intelligenz muss sich um ihrer Freiheit willen insbesondere in diesen Zeiten als ein Zentrum der Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit konstituieren. Bildung ging stets mit den Begriffen der Authentizität und der Fähigkeit einher, aus eigenem Antrieb zu denken. Hat dieses Ideal in einer Informations- und Wissenschaftsgesellschaft noch Sinn? Das ist zweifellos, aber nicht bedingungslos der Fall, denn diese Verbindung bedarf einiger neuer Nuancierungen, die eine wirkliche Fortentwicklung der Bildung mit dem Irrtum und mit einer gewissen Naivität verbinden, d.h. sie gleichsam zu den Rändern jener dominierenden Denk- und Handlungsweisen hinlenken, die vorgeben, Irrtümer jederzeit beherrschen zu können. Um es etwas provokativer auszudrücken: Wir brauchen Einfältige, die sich irren können, die aus eigenem Antrieb und über die Gemeinplätze dessen, was man sagt, hinaus denken. Botho Strauß hat dies mit wünschenswerter Schärfe formuliert: »Der Verlust an genuiner Dummheit oder, um es positiv auszudrücken, an Einfalt ist gewaltig. Sie werden heute keinen einfältigen Menschen mehr finden, sondern Sie finden einen Kommunikationsbestandteil, durch den hindurchgeht, was allgemein geredet wird, der alles, was durch die Kommunikationskanäle fließt, auch durch sich selber hindurchfließen lässt. Eine klare Beschränktheit und einprägsame Form der Naivität gibt es nirgends mehr, die ist überdeckt durch einen Firnis äußerer Intelligenz. Stattdessen finden Sie eine Schicht von sehr informierten Menschen, zumeist anästhetischen Gemütern, die keinen Sinn haben für das, was außerhalb von Information liegt« (Strauß, 2000). Hat dieser Befund eine besondere politische Bedeutung? Wie ließe sich eine Interpretationskultur in eine politische Begrifflichkeit übersetzen? Und in welchem Sinn kann man die Behauptung Martha Nussbaums (2010) verstehen, dass die Demokratie der Geisteswissenschaften bedürfe? Dieser Gesichtspunkt wird verständlich, wenn wir uns die poli-
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tische Bedeutung der Interpretation vergegenwärtigen. Unser gemeinsames Schicksal ist eng mit der Fähigkeit verbunden, unsere alltäglichen Verhaltensweisen und Bedürfnisse zu interpretieren. Für die Deutung eines menschlichen Lebens ist sehr viel mehr Geschicklichkeit vonnöten als für die Auswertung von Daten seiner Beobachtung. So gesehen besteht die politische Bedeutung der Interpretation darin, dass sie gesellschaftliche Veränderungen vom Zentrum eines Bürgersinnes aus interpretiert, d.h. sie in gemeinschaftsbezogenen Kontexten diskutiert, berät und über sie entscheidet. Eine Gesellschaft von Interpreten wäre dann eine Gesellschaft, die über sich selbst reflektiert, diskutiert und in der Lage ist, sich aktiv dem unvorhersehbar Neuen zuzuwenden, das gesellschaftliche Prozesse immer mit sich bringen. Wenn wir unsere demokratischen Gesellschaften als Gesellschaften einrichten, die sich selbst interpretieren, würden sich neue Möglichkeiten eröffnen, das dominierende Paradigma zu überwinden, das die Wissensgesellschaft als ein vertikales Zusammentreffen von Experten und Massen präsentiert. Im Gegenzug ließe sich Demokratie geradezu als dasjenige politische System begreifen, welches darauf beruht, dass wir alle Interpreten sind. Denn Gesellschaft ist im Grunde eine wie auch immer zerbrechliche und konfliktgeladene Übereinkunft unserer Interpretationen, die als solche sehr viel mehr demokratische Potentiale aufweist als die Hörigkeit gegenüber vermeintlich objektiven Daten. Gegenüber den Automatismen einer Gesellschaft von Datenempfängern wäre eine Gesellschaft der Interpreten sehr viel diskontinuierlicher, komplexer und konfliktreicher. Einer so verstandenen Gesellschaft kann keine Politik mehr entsprechen, die dem Modell des reinen Machens folgt. Sie bedarf vielmehr einer Politik der Interpretation, die nicht von Gemeinplätzen abhängig und in der Lage ist, unsere Prioritäten immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen, die Dinge anders zu beschreiben, neue Fragen zu formulieren … Zwar werden sich alle sogenannten Realisten gegen diese demokratische Unbestimmtheit immer wieder auf Daten berufen, um die Erkundung neuer Möglichkeiten zu verhindern. Wir wissen aber inzwischen, dass dies nichts anderes ist als eine subtile Form der Machtausübung, die darin besteht, auf Daten zu beharren, ohne die Herrschaftspraktiken zu hinterfragen, die gerade diese und keine anderen Daten zulassen. Diese kritische Dimension der Interpretation können wir bei der Pflege einer Kultur erlernen, die wir normalerweise
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Geisteswissenschaften nennen. Sie ist sicherlich die bestmögliche Erziehung des Bürgersinnes, die wir haben.
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9. Der Wer t der Kreativität
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10. Über den Begriff gesellschaftlicher Innovation
Der Mangel eines angemessenen Begriffs sozialer Innovation hängt damit zusammen, dass es keine Gesellschaftstheorie der Innovation gibt, welche die Verbindung beider Begriffe klärt. Der folgende Text will dazu beitragen, dieses begriffliche Defizit wenigstens etwas zu lindern. Er geht (1) von einer Kritik an der Vorstellung aus, dass Gesellschaften ohne Erneuerung oder lediglich mithilfe technischer und ökonomischer Innovationen überlebensfähig seien. (2) Betrifft diese Kritik auch die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Mangels an sozialer Integration, den man als Innovation ohne Gesellschaft bezeichnen könnte. In einem zweiten, eher skizzenhaften Teil dieses Abschnitts geht es um die Frage, warum es keine Innovation ohne Gesellschaft geben kann, oder anders gesagt: warum Innovation eine gesellschaftliche Angelegenheit ist. Daraus ergibt sich (3) die Frage, warum es deshalb auch ohne Innovation keine Gesellschaft, zumindest nicht im Sinn einer modernen Gesellschaft geben kann, wie wir sie hier expliziert haben.
D IE G ESELLSCHAF T OHNE I NNOVATION Die dominierenden Diskurse um das Problem der Innovation scheinen allesamt an einer Verengung zu leiden, die sie auf einen Prozess technischer Erneuerungen zur Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit reduziert. Diese verengte Vorstellung spricht auch aus einer Definition der Innovation durch die OECD. Der Determinismus der Gesellschaftskonzeptionen von Marx, Schumpeter oder Taylor hat sich hier in eine Rhetorik der Innovation verwandelt, dem zufolge der soziale Wohlstand
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ausschließlich von technischen und ökonomischen Mitteln abzuhängen scheint. Diese technizistische Begrifflichkeit tritt in den Reflexionen zur Innovation sehr häufig und selbst dort auf, wo sie strukturelle Veränderungen der Gesellschaft zu erklären beanspruchen. Es gibt bislang noch keine Theorie, welche die Verbindung der Innovation mit der Konstitution der modernen Gesellschaft befriedigend erklären würde. Die Trennung beider Bereiche lässt sich wohl dadurch erklären, dass sich die Theoretiker der Innovation kaum an gesellschaftlichen Problemen interessiert zeigen, während die Gesellschaftstheoretiker noch nicht die zentrale Rolle der Innovation bei der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden zu haben scheinen. Gesellschaft wird letztlich entweder als eine Gegebenheit begriffen, die sich nicht oder, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft, nur in Teilbereichen erneuert, die ihre Konstitution als Gesellschaft unberührt lassen. Auf der anderen Seite leiden die geläufigen Erklärungen von Innovation an dem von ihnen vorausgesetzten Determinismus. Das eindeutigste Beispiel dafür liefert die Zyklentheorie von Kondratieff, an die Schumpeter angeknüpft hat (Kondratieff 1926; Schumpeter [1939] 1961). Ihr zufolge lösen grundlegende technische und ökonomische Neuerungen lange Veränderungszyklen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung aus. Aber genau diese implizite Verbindung, die sie zwischen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stiftet, macht in ihrer Einfachheit die Schwäche dieser Theorie aus. Denn Wachstum lässt sich nicht nur ökonomisch erklären, sondern beruht auf Interdependenzen zwischen sozioökomischen und politisch-institutionellen Prozessen. So verkennt diese Innovationstheorie die Eigendynamik der sozialen Subsysteme in der Konsequenz gesellschaftlicher Differenzierungen. Auch in den neueren Theorien der Informations- und Wissensgesellschaft setzt sich die Dominanz der Auffassung einer Abhängigkeit gesellschaftlicher Entwicklung von der Technik fort. Deshalb können sie den Zusammenhang zwischen Innovation, technischer Entwicklung und gesellschaftlichen Veränderungen nur dadurch erklären, dass sie eines dieser Elemente zu seiner Grundlage machen. Aber das Wissen, das sie als Quelle von Innovation und gesellschaftlicher Veränderung konzipieren, hat diese Funktion nur dank einer Verbindung von sozialen Netzen und neuen Informationstechnologien. Auch Castells, der Innovation immerhin als Verknüpfung der Verarbeitung von Informationen und Wissen begreift, knüpft an die Theorie der »großen Zyklen« an, indem er allein in
10. Über den Begriff gesellschaf tlicher Innovation
der Technologie die Grundlage von Veränderungen sieht (Castells 1996). Die wichtigsten Konzeptionen der Wissensgesellschaft erkennen die Bedeutung der Innovation für den gesellschaftlichen Wandel durchaus an, lassen aber ihre impliziten Kausalitäten unerörtert. Indem sie die gesellschaftliche Entwicklung von der Technik abhängig machen und diese wiederum mit Innovation identifizieren, setzen sie lediglich voraus, was eigentlich der Erklärung bedürfte. Um den Zusammenhang von Innovation und Gesellschaft begreifen zu können, müsste man jedoch die Verbindung von technischer Entwicklung und gesellschaftlichem Wandel in ihrer ganzen Komplexität erörtern. Es gibt sicherlich Gründe für diese Verengung des Innovationsbegriffes auf Technik und Ökonomie, wie z.B. die Obsession des »High-Tech« in den Politiken der Innovation: Die neuen Technologien sind sichtbarer als institutionelle Reformen, wirtschaftlicher Erfolg ist berechenbarer als soziale Kohäsion und gesellschaftliche Erneuerungen lassen sich kaum patentieren oder verkaufen. Aber diese Gründe können die theoretische Verengung lediglich erklären, keineswegs jedoch rechtfertigen. Wir müssen deshalb den Begriff der Innovation in den Bereich der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen hinein erweitern und ihn in einem Sinn begreifen, der über Schumpeters Konzeption hinausgeht. Denn Probleme wie Massenarbeitslosigkeit, die Erosion der sozialen Sicherungssysteme oder ökologische Risiken lassen sich ohne grundlegende gesellschaftliche Erneuerungen nicht mehr lösen. Auch wenn der Ausdruck »soziale Innovation« erst vor einigen Jahren von Wolfgang Zapf (1989) geprägt wurde, so lassen sich seine Ursprüngen doch bis zu William Ogburns Theorie sozialen Wandels im Jahre 1923 zurückverfolgen (1969). Diesem nordamerikanischen Soziologen zufolge findet sozialer Wandel in der Interaktion zweier komplementärer Kulturen statt: einer materiellen und einer immateriellen. Jene umfasst Artefakte und technische Projekte und diese Regeln und Praktiken, die unsere Beziehung zur Technologie charakterisieren. Ausgehend von dieser Unterscheidung formuliert Ogburn seine vielzitierte Unterscheidung des »cultural lag«: dem Differential, das man zwischen beide Kulturen aufgrund ihrer unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten einfügen muss. Er führt als Beispiel die Nutzung der Wälder in den Vereinigten Staaten an: In der Zeit der ersten Auswanderer galt das Fällen von Bäumen als eine Lebensnotwendigkeit. Diese immaterielle Kultur befand sich solange im Gleichgewicht mit der natürlichen Regeneration der
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Wälder, wie die Nachfrage nach Holz gering blieb. Diese Beziehung zur Natur änderte sich mit dem Bevölkerungswachstum, als die Menge des benötigten Holzes die Regenerationsfähigkeit der Wälder überstieg und die Überlebensbedingungen gefährdete. Es war schließlich die soziale Erneuerung eines ökologischen Bewusstseins, die später die Überwindung des »cultural lag« zwischen der materiellen und immateriellen Kultur und damit einen gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichte. Ogburns Beispiel macht auf jeden Fall klar, dass auch für diesen Autor der technischen Innovation der Primat in den gesellschaftlichen Entwicklungen zukommt. Eine radikale Änderung von Ogburns These nimmt Mumford mit seiner These vor, dass der Beginn der Zivilisation nicht mit mechanischen Erfindungen einsetzt, sondern mit »einem radikal neuen Typus gesellschaftlicher Organisation« (Mumford 1981, 23). Als Beispiele für diese These, dass gesellschaftliche Erneuerungen technischen Fortschritten vorausgehen, können die Elektrifizierung (David 1990) oder das Telefon (Rammert 1993) gelten. Heute ist jedenfalls die These, dass technische Fortschritte nur dann erfolgreich sind, wenn sie durch gesellschaftliche Lernprozesse vorbereitet und begleitet werden (Hauff/Scharpf 1975), durchaus anerkannt und wir kommen nicht mehr umhin, technische Innovation als ein Moment der gesellschaftlichen Konstruktion von Realität anzusehen (Rammert 1993). Jedenfalls ist heute allgemein anerkannt, dass ökonomische und technische Innovationen keine Alternativen sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Es gibt sogar Stimmen, die meinen, dass ihre Interaktionen sich in Zukunft sogar noch intensivieren werden (Freeman 1996; MeyerKrahmer 1998); in der Tat nimmt die Bedeutung der gesellschaftlichen Komponenten, der sogenannten »weichen Faktoren« der Innovation, wie der Qualifikation, der Kommunikation oder der Verhaltensstile immer mehr zu. Meyer-Krahmer zufolge bemisst sich die neue Phase der Innovation am »System komplexer Innovation« – z.B. Produkt- oder Dienstleistungspaketen oder neuen Anwendungen der Informationstechniken – in dem sich technische Neuerungen und Änderungen der Verhaltensweisen verschränken. Ein anderer Aspekt der Geschichte der gesellschaftlichen Innovation ergibt sich aus der ökonomischen Theoriebildung selbst. Denn wenn man Innovationsprozesse in ihrer gesellschaftlichen und politischen Komplexität verstehen will, dann reicht eine rein technische oder ökonomische Rekonstruktion ihres Verlaufs nicht mehr aus. Deshalb hat die Ökonomie
10. Über den Begriff gesellschaf tlicher Innovation
institutioneller Entwicklungen den Versuch unternommen, den Begriff der Innovation in gesellschaftliche Dimensionen zu erweitern, indem sie sich von der klassischen Innovationstheorie in zwei Punkten absetzte: von ihrer abstrakten Auffassung des Marktverhaltens und ihrem zu einfachen Begriff, den sie sich von Unternehmen machten. Die klassische Wirtschaftstheorie verstand den Markt als eine gleichsam naturgegebene Instanz, die unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen funktioniert und aufgrund ihrer objektiven Gesetzmäßigkeiten selbst darüber entscheidet, ob eine technische Neuerung Erfolg hat oder nicht. In den liberalisierten Märkten entscheiden aber immer gesellschaftliche Kräfte über Innovationen oder beeinflussen sie zumindest entscheidend. Der Markt ist hier keine unabhängige Instanz, sondern ein Bereich, auf den ganz unterschiedliche Interessen einwirken. So wären z.B. Innovationen wie etwa die Nuklearenergie oder ihre Alternativen ohne politische Interventionen gar nicht möglich gewesen, und viele Märkte für innovative Produkte würden ohne öffentliche Investitionen gar nicht existieren. Die Kritik an der technischen Verengung der Innovationsproblematik erreichte in den Diskussionen über die sozialen Folgen der Technik im Verlauf der 1990er Jahre einen weiteren Höhepunkt (Simonis 1993; Sauer/Lang 1999), als man gegen die deterministischen Auffassungen das entgegengesetzte Schema ins Feld führte, für das die gesellschaftlichen Gegebenheiten geradezu die Bedingung der Möglichkeit technischer Innovationen waren (North 1990). Denn diese sind in gesellschaftlichem Maßstab immer auf Bedingungen angewiesen, die sich keineswegs ausschließlich aus technischen Neuerungen erklären lassen. Als Ergebnis dieser Debatten setzte man den Akzent nun auf die sozialen Voraussetzungen (erwünschter und unerwünschter) technischer und ökonomischer Innovationen, ihre gesellschaftliche Aneignung und die Rolle der gesellschaftlichen Institutionen bei ihrer praktischen Umsetzung. Diese Aufmerksamkeit auf den gesellschaftlichen Aspekt der Innovation bewirkte auch eine Akzentverschiebung hin zu einer gesellschaftlichen Konzeption der Technologie. Hatte die Techniksoziologie sie im Sinne eines geregelten, intentionalen und wiederholbaren Mechanismus zu beschreiben versucht, so hob die Innovationssoziologie eher die unkalkulierbaren, nichtintentionalen und differenzierenden Aspekte der Technik hervor. Da sie in ihre Überlegungen auch die durch gesellschaftliche Aktionen ausgelöste konstitutive Unsicherheit mit einbezog, denen
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die Gesellschaft entgegensteuern muss, war sie in der Lage, einen rein instrumentellen und mechanischen Begriff der Technik zu überwinden. Damit war der Weg frei, um die Gesellschaft als Ganze als einen Innovationsbereich zu betrachten. Denn entscheidende Neuerungen gibt es ja keineswegs nur in den Naturwissenschaften, der Technologie oder der Unternehmenspraxis, sondern auch in anderen Bereichen wie der Politik, der Erziehung, dem Gesundheitssystem oder der Verwaltung, die für neue Entdeckungen, Fortschritte und Erfindungen nicht weniger offen sind. Auch in diesen Bereichen gibt es das, was William Ogburn »gesellschaftliche Erfindungen« nannte, d.h. gesamtgesellschaftliche Errungenschaften wie die Einführung des Frauenwahlrechts, der Arbeitslosenversicherung oder von sozialen Übereinkünften, welche die Bedingungen des Zusammenlebens verbessern und gesellschaftliche Veränderungen bewirken. In welchem Sinn erneuern sich Gesellschaften über die Innovationen in ihren technologischen, wissenschaftlichen, Produktions- und ökonomischen Bereiche hinaus? Wir leben heute offensichtlich in Gesellschaften, die aus dem Gleichgewicht geraten und ihren Ort zwischen polaren Gegensetzungen zu suchen scheint: zwischen technisch-wissenschaftlicher Euphorie und Analphabetismus, zwischen technologischer Innovation und gesellschaftlicher Redundanz, zwischen einer Kritikkultur im Wissenschafts- oder Wirtschaftsbereich und politischen und gesellschaftlichen Beharrungskräften. Tatsächlich scheint sich trotz aller Innovationseuphorie auf politischer und gesellschaftlicher Ebene nur wenig wirklich zu verändern und die Fähigkeiten, zwischen Konsens und Dissens ein Gleichgewicht zu finden, sind hier offensichtlich überfordert, so dass sich Konflikte immer schwerer kanalisieren lassen und neue Modelle des Zusammenlebens nicht in Sicht sind. Wir müssen deshalb ernsthafter darüber nachdenken, ob und inwieweit die Politik im weitesten Sinne fähig ist, gesellschaftliche Erneuerungen zu bewirken. Es ist im Allgemeinen unumstritten, dass sich der Gestaltungsspielraum der Politik gemessen an ihren eigenen Ansprüchen und der ihr zukommenden öffentlichen Funktion in besorgniserregender Weise verengt. Diese Schwäche wird vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungen anderer sozialer Systeme umso offensichtlicher. In unseren heutigen Gesellschaften koexistieren rasante Innovationen in den Bereichen der Finanzen, der Technologie, der Wissenschaft und Kultur mit einer trägen und marginalisierten Politik. Diese Tatsache, d.h. der
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Rückzug der Politik vor der Wirtschaftsmacht und ihre Blässe angesichts des Pluralismus der Kultur, bietet sich als Ausgangspunkt einer neuen Reflexion über die Funktion der Politik heute an. Denn schon lange gehen Innovationen nicht mehr von politischen Instanzen aus, sondern haben sich auf den Erfindungsreichtum in anderen gesellschaftlichen Räumen verlagert. Die Politik entwickelt keine Konzepte mehr, sondern begnügt sich mit Reparaturen, wobei sie eine chronische Unfähigkeit an den Tag legt, gesellschaftliche Veränderungen in ihrer Reichweite zu begreifen und künftige Szenarien zu antizipieren. Damit aber steht sie den neuen Anforderungen einer intelligenten und intelligiblen Sozialordnung verständnislos gegenüber. Häufig werden gesellschaftliche Innovationen als kompensatorische Kontrapunkte zu den technologischen Innovationen als bloße »Ergänzung zur technischen Innovation« (Gillwald 2000, 36) verstanden. Diese Auffassung vergisst jedoch, dass technologische Innovationen sehr häufig auch gesellschaftliche Innovationen implizieren. Weitblickende Techniksoziologen erkennen deshalb durchaus an, dass technischen Artefakten immer auch eine politische und gesellschaftliche Struktur eingeschrieben ist (Winner 1980). Insofern sind gesellschaftliche Innovationen keineswegs nur Ergänzungen technischer Innovationen, sondern sie sind in ihnen enthalten. Den Theorien gesellschaftlicher Innovation, welche diese als bloße Ergänzung begreifen, liegt eine dualistische Auffassung der Beziehung zwischen Materie und Geist zugrunde, die das Technische mit dem Materiellen und das Gesellschaftliche mit der symbolischen Ordnung identifiziert. Diese Reduzierung der Technologie auf ein materielles Artefakt vergisst aber all das explizite und implizite Wissen, dessen es bedarf, um eine technologische Innovation zustande zu bringen und zu gebrauchen. Jede Technologie impliziert immer schon und untrennbar voneinander materielle Artefakte und symbolisch codiertes Wissen. Die Dichotomie Materie-Geist hemmt ein angemessenes Verständnis dieser Verbindung ebenso, wie sie auf der anderen Seite verkennt, dass gesellschaftliche Innovation ihrerseits, soll sie dauerhaft sein, immer einer materielle Stabilisierung bedarf. Es macht also wenig Sinn, die Bereiche des Technischen und des Symbolischen einander entgegenzusetzen. Heutzutage besteht die große Frage darin, wie sich symbolische und kommunikative Innovationen mit technischen und materiellen Innovationen verbinden lassen. Der Begriff gesellschaftlicher Innovation verlangt von uns, dass wir über die
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gängigen Dualismen von Natur- und Geisteswissenschaft, Technik und Werten, persönlicher Identität und Bürgersinn, global und lokal hinausdenken. Denn auf jeden Fall werden sich die wirklichen Innovationen in einer neuen Verflechtung dieser Aspekte vollziehen, die man bisher vor allem als Gegensätze wahrgenommen und gelebt hat. Aus dieser Perspektive konnte man stets nur einem dieser Spannungspole das Monopol der Innovation zugestehen, um dem jeweils anderen restaurative Verzögerungen zu bescheinigen. Es geht jetzt aber nicht mehr darum, das Gleichgewicht zwischen ihnen auf einen Pol zu gründen, sondern diese Entgegensetzung als solche in Frage zu stellen und neue Begriffe für ihre konstitutive Spannung zu finden. Wir müssen damit auch die nur scheinbaren Widersprüche zwischen Wirtschaft und Gesellschaft oder Technik und Gesellschaft überwinden. Schon Polanyi hat 1944 die These aufgestellt, dass Industrialisierung und Wachstum weniger durch kapitalbasierte Technologien, als vielmehr durch die Organisationswissenschaften befördert werden. Das würde bedeuten, dass die wichtigsten Impulse der industriellen Revolution von den Entdeckungen der Soziologie und nicht von technischen Erfindungen ausgingen. Statt das Technische auf einzelne Artefakte zu reduzieren, müssten wir demnach vor allem seine Eingebundenheit in soziale Praktiken begreifen. Denn darüber, wie das Neue in die Welt tritt, entscheiden weniger die Potentiale der Technik als vielmehr seine kulturellen und sozialen Aspekte. Wie ließe sich dann das Wesen der gesellschaftlichen Innovation verstehen? Zapf zufolge sind »soziale Innovationen […] neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden« (Zapf 1989, 177). Und Gillwald fügt hinzu, dass wir unter Innovation »gesellschaftlich folgenreiche, vom vorher gewohnten Schema abweichende Regelungen von Tätigkeiten und Vorgehensweisen« (Gillwald 2000, 1) verstehen können. Wenn wir es aber mit wirklichen Innovationen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zu tun haben, dann genügen die Begriffe der Anpassung oder Abweichung nicht mehr. Eine kollektive Debatte würde verarmen, wenn man nicht zusätzlich auch noch danach fragen würde, wer sich woran anpassen soll. Gerade diese Fragestellung wird in der trivialen Auffassung der Innovation im Sinn besserer Konkurrenzfähigkeit sehr häufig mit
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banalen Gemeinplätzen zugedeckt. Was aber wäre, wenn eine wirkliche Innovation, nicht nur im gesellschaftlichen Bereich gar nicht so sehr in der Entdeckung von Lösungen für gegebene Probleme bestünde, sondern von ganz neuen, bisher nicht beachteten oder unterdrückten Problemstellungen? Denn in einer funktionierenden Gesellschaft können rein effizienzorientierte Problemlösungen Legitimationsprobleme nicht einmal ansatzweise lösen. Für solche fundamentalen Probleme muss in demokratischen Gesellschaften ein Raum für Kritik offen stehen, in dem sich Innovationen, die beanspruchen, bislang gültige Kriterien zu erschüttern oder zu überwinden, in kollektiven Diskussionen befragen lassen. Auf diese Einsicht liefen auch Überlegungen hinaus, die in den 1980er Jahren den Begriff der politischen Innovation wieder aufnahmen (Polsby 1984; White 1982). Unter ihnen ist Polsbys Gedanke hervorzuheben, dass politische Innovationen, im Unterschied zu Reformen in den eingefahrenen Bahnen der offiziellen Politik, gesellschaftliche Prozesse auslösen, die mit institutionalisierten Routinen brechen. Denn tatsächlich gibt es immer eine irreduzible Spannung zwischen einem schöpferischen Akt und den bloß funktionalen Anforderungen der Anpassung. In diesem Sinn hat auch die Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass sich Probleme wie Finanzkrisen, ökologische Risiken oder soziale Ausgaben ohne gesellschaftliche Innovationen nicht lösen lassen (Zukunftskommission 1998). Und angesichts der gegenwärtigen Finanz- und ökonomischen Krisen wird vollends deutlich, dass gesellschaftliche Erneuerungen, die unsere gesamten Wirtschafts- und Konsumpraktiken verändern müssen, darüber entscheiden werden, in welcher Welt künftige Generationen leben. Um zu begreifen, worin eine solche gesellschaftliche Innovation bestehen könnte, müssen wir den Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung, Innovation und sozialem Wandel neu bedenken. Erst damit hätten wir einen Boden betreten, auf dem wir der Komplexität der heutigen Gesellschaften wirklich gerecht werden und einen neuen Begriff von Innovation gewinnen könnten: einen Begriff, der ihre innere Spannung aufrechterhält, ihre Potentiale ohne Vorbehalte freisetzt und für ihre Vieldeutigkeiten offen bleibt.
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I NNOVATION OHNE G ESELLSCHAF T Die meisten Probleme, die sich den heutigen Gesellschaften stellen, haben ihren Ursprung nicht in einem Übermaß oder im Fehlen von Innovationen, sondern in einem Ungleichgewicht zwischen den Geschwindigkeiten unterschiedlicher Innovationen. Innovation findet ohne eine Gesellschaft statt, die sie verarbeiten und integrieren könnte. Aus dieser konzeptuellen und praktischen Schwäche der gesellschaftlichen Innovation ergibt sich unser ungebrochenes Vertrauen darauf, dass allein schon die technischen und ökonomischen Innovationen unsere gesamten Lebensbedingungen sichern und verbessern könnten. Tatsächlich aber haben von ihren gesellschaftlichen Bedingungen abgekoppelte Innovationen immer auch gesellschaftlich unerwünschte Auswirkungen, bei denen offen bleibt, wie sie sich begreifen und verarbeiten ließen. Die Welt entwickelt sich nicht linear, sondern mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, so dass sich zwischen den einzelnen Dynamiken der Innovationen unablässig Bruchlinien bilden. Diese Ungleichheiten und Störungsfelder tragen Namen wie décalage, gap, Bresche, Kollision …, die allesamt zum Ausdruck bringen, dass auch die zeitlichen Logiken dieser Entwicklungen unterschiedlich, unvereinbar und sogar antagonistisch sind und dass in einigen von ihnen der Anspruch, sich den anderen aufzuzwingen, sehr stark sein kann. Es gibt Heterochronien, die sich als Konflikte zwischen Subjekten und Gruppen äußern können (die unterschiedlichen Zeiterfahrungen von Jüngeren und Älteren, die Ungleichgewichte zwischen den Generationen oder generelle Ungleichheiten), oder als Ungleichzeitigkeiten zwischen den verschiedenartigen sozialen Systemen (technologische Innovationen gegenüber der Langsamkeit der Rechtsprechung, die Zeit des Konsums gegenüber den Ressourcen, die Zeit der Medien, die von der wissenschaftlichen Zeit abweicht). Je komplexer Gesellschaften werden, desto mehr entwickeln ihre sozialen Subsysteme eine Eigenlogik, so dass auch ihre Dynamiken, Beschleunigungen, Rhythmen und Entwicklungsgeschwindigkeiten weitgehend voneinander unabhängig werden: Die Zeit der Mode stimmt ebenso wenig mit der Zeit der Religion überein wie die der Technologie mit der Zeit der Rechtsprechung oder die Zeit der Ökonomie und des Konsums mit derjenigen der Politik oder des Konsumverhaltens. Diese Ungleichzeitigkeiten belegen, dass der Fortschritt nicht einheitlich verläuft, so dass z.B. der Fortschritt von Wissenschaft und Technik
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ein anderer ist als der gesellschaftliche Fortschritt. Damit dürfte die im Grunde deterministische Voraussetzung, dass ökonomische Innovationen und politische Entwicklung notwendigerweise Hand in Hand gehen, definitiv obsolet geworden sein. Die spannungsreichste dieser die heutige Welt charakterisierenden Ungleichzeitigkeiten, besteht wohl in den Gegensätzen zwischen der Globalzeit und den lokalen Zeiten, den globalen Synchronisierungen (etwa der Finanzen oder der Kommunikation) und den ebenso globalen Synchronisierungsmängeln (Ungleichheiten, Konflikten, überbevölkerte Regionen, die Dritte Welt, Fundamentalismen …). Diese Ungleichgewichte sind offensichtlich und sie erklären die in den Tiefenschichten der globalen Zusammenhänge wirksamen Grundkräfte: Migrationsbewegungen, das Fehlen einer einheitlichen Rechtsordnung, Unterschiede im Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt, hegemoniale Mächte, die sich den Logiken der postsouveränen Synchronisierung entziehen … Diese Synchronisierung einer auseinanderbrechenden Welt wird durch die Schwäche der politischen Institutionen, die sich nicht zu einer Weltregierung zusammenfinden können, enorm behindert, so dass die gesellschaftlichen Innovationen in dieser Hinsicht über ein ganz rudimentäres Stadium noch kaum hinausgelangt sind. Diese Ungleichzeitigkeiten haben zum einen mit der ungleichen Vereinheitlichung der Welt zu tun (die uns alle in die gleiche Gegenwart versetzt, aber nicht wirklich vereint) und zum anderen mit den multikulturellen Differenzierungen unserer Gesellschaften, in denen unterschiedliche Gruppen mit verschiedenartigen Identitäten leben. Wir haben es dabei entweder mit einer Vereinheitlichung der Zeit ohne Einheit des Ortes zu tun (die Augenblicklichkeit der Kommunikation und der Finanzmärkte) oder mit einer Einheit des Ortes ohne zeitliche Einheit (Multikulturalität). Die Spannungen zwischen vereinheitlichenden Kräften, die nicht differenzieren und Differenzen, die nicht in der Lage oder willens sind, sich zusammenzuschließen, zwischen einer Zeit ohne Ort und einem Ort ohne Zeit, werden uns noch solange beschäftigen, bis wir imstande sind, Logiken zu formulieren, die eine zwanglose Synchronisierung dieser auseinanderstrebenden Kräfte ermöglichen (Innerarity 2012). Die globale Gemeinsamkeit der Zeit, in der wir leben, zwingt uns zu Synchronisierungsleistungen, um Kompatibilitäten, Kooperationen oder Konkurrenzen zu regeln. Der Politik kommt dabei die eminent wichtige Funktion zu, angesichts der Tendenzen gesellschaftlicher Desintegration
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eine kulturelle Einheit der Zeit zu gewährleisten und dabei zugleich auch einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Pluralisierung Rechnung zu tragen, die in einer Vielfalt koexistierender Zeiten ihren Ausdruck findet. Eine dieser Problemstellung entsprechende »Politik der Zeit« wäre eine gesellschaftliche Innovation, deren Zielsetzung darin bestehen müsste, die unterschiedlichen institutionellen Ebenen zu koordinieren, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Rhythmen sozialer Interaktion agieren (Pels 2003, 209). Die moderne Demokratie ist, so gesehen, ein kompliziertes Spiel von Gleichgewichten zwischen Geschwindigkeit und Langsamkeit, und der politische Pluralismus spiegelt sich in einem Zeitenpluralismus wieder: die langsame Zeit der Verfassung, die mittlere Zeit der Gesetzgebung und die kurze Zeit der öffentlichen Meinung … Wie ließe sich eine dementsprechende politische Einwirkung politischer Macht auf die Zeit organisieren? Lassen sich die unterschiedlichen Beschleunigungen in der Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und der Medienwelt in ein Gleichgewicht bringen? Und wie könnte man die Heterogenität der Innovationen politisch und gesellschaftlich integrieren? Eine demokratische Politik ist in höchstem Maß der Gefahr einer Desynchronisierung durch die beschleunigten ökonomischen und sozialen Entwicklungen ausgesetzt. Die Hauptquelle dieser Gefahr eines Auseinanderdriftens der sozialen Systeme liegt in der Unstimmigkeit zwischen den Innovationen in Ökonomie, Wissenschaft und Technik und unseren Fähigkeiten, sie politisch zu thematisieren und in eine sinnvolle gesellschaftliche Totalität zu integrieren. Die demokratische Selbstbestimmung der Gesellschaft hat kulturelle, strukturelle und institutionelle Voraussetzungen, die momentan gerade infolge der Beschleunigung ihrer Entwicklungsdynamik durch die dominierenden Innovationen zu erodieren scheinen. Die von einem ursprünglich utopischen Impuls getragenen Innovations- und Beschleunigungsprozesse haben sich auf Kosten der Hoffnungen auf politische und soziale Fortschritte verselbständigt. Dabei wird immer offensichtlicher, dass die Beschleunigung der gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Veränderungen in dem Maße entpolitisierend wirkt, in dem sie die Synchronisierung der Prozesse und Systeme erschwert und die Reflexionskapazitäten des politischen Systems sowie die soziale Integration und das Gleichgewicht der Generationen überlastet. Eines der grundlegendsten Probleme, die sich uns heute stellen, besteht genau in diesem Kontrast zwischen der Schnelligkeit der gesell-
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schaftlichen Veränderungen und der Langsamkeit der Politik: Die Staaten agieren im Verhältnis zur Geschwindigkeit der globalen Transaktionen viel zu langsam, Bildung, Politik und Recht werden vom Rhythmus der globalisierten Welt überfordert, ihre Institutionen verlieren gegenüber den technischen und ökonomischen Innovationsprozessen zunehmend an Gestaltungsfähigkeit und Regieren wird zu einem Problem. Unter der Komplexität der Anforderungen an politische Entscheidungen und dem Zeitdruck der Medienunmittelbarkeit schwindet der Einflussbereich der politischen Institutionen, der sich bestenfalls noch auf die Reparatur der durch die ökonomischen und technologischen Innovationen verursachten Schäden beschränkt. Damit gerät das politische System in ein schwerwiegendes Dilemma. Auf der einen Seite muss es sich der beschleunigten Entwicklung von Wissenschaft und Technik anpassen, um deren Innovationen ins soziale System zu integrieren, und auf der anderen Seite ist es nicht in der Lage, mit dem Tempo der Wissensproduktion Schritt zu halten. Während sich die Technik enormen Beschleunigungen anpassen kann, wird das Tempo der politischen Entscheidungen durch ihre eigenen Verfahrensweisen gebremst. Aus diesem Grund erscheint der Staat, der sich einst als dynamisierendes Element der modernen Gesellschaften konstituierte, heute als eine Gestalt der sozialen Verlangsamung und seine Administrationen und Bürokratien sind zu Paradigmen der Langsamkeit, Ineffizienz und Unbeweglichkeit geworden. Alle Prozesse der Entbürokratisierung und Dezentralisierung sind durch diesen Druck motiviert, die Entscheidungen der öffentlichen Verwaltungen zu beschleunigen. Auf diese verzweifelte Suche nach politischer Effizienz ist auch die Verlagerung der Entscheidungsverfahren von den Bereichen der demokratisch legitimierten Politik auf andere, beweglichere, aber weniger repräsentative und demokratische Bühnen zurückzuführen. Deshalb sind gerade die Bereiche der Verwaltung und Regierung ganz besonders aufgefordert, wirksame Schritte in die Richtung gesellschaftlicher Innovationen zu tun und sich diesen neuen gesellschaftlichen Entwicklungen zu öffnen. Denn die Dynamik der desynchronisierten Innovationen wird in dem Maße zu einer Bedrohung für die Politik, wie sie die Fähigkeit zur politischen Selbstbestimmung der Gesellschaft untergräbt und sich die Tatsache, dass die demokratische Lebensform Selbstbestimmung verlangt, aber die dominierenden Zeitlichkeiten uns immer weniger Verfügungsräume lassen, zu einem Widerspruch auswächst. Diese Dynamik
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gibt Tendenzen Auftrieb, die die Politik zu einem Anachronismus machen und die Welt ihrer politischen Formen entkleiden wollen. So sind die mächtigsten Instanzen der Verfügung über die Zeit bereits nicht mehr demokratisch kontrolliert und kontrollierbar. Schon erheben sich Stimmen, die das »Ende der Politik« verkünden oder als Antwort auf die vermeintliche »Unregierbarkeit« der komplexen Gesellschaften eine »Deregulierung« empfehlen, die in der Tat nichts weiter wäre als eine Kapitulation vor den Imperativen der wirtschaftlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund besteht unsere große Herausforderung darin, die zeitlichen Eigenarten der demokratischen und politischen Willensbildung und ihre diskursiven und reflexiven Verfahren gegen den Imperialismus der technisch-ökonomischen Imperative und das Aufrühren der Zeit in den Kommunikationsmedien zu verteidigen. Die Frage ist, ob eine Gesellschaft trotz der Komplexität der heutigen Welt ihre kollektive Zeit irgendwie durch politische Aktionen zu gestalten und ihr einen Sinn zu geben vermag. Nur dann könnte sie die Probleme lösen, die eine diskriminierende Beschleunigung mit ihren auseinander driftenden Tendenzen mit sich bringt. Wenn wir denn wirklich wollen, dass sich diese Innovationen nicht gegen die Gesellschaft richten, sondern sich in ihrem Sinn auswirken, dann wäre dies wohl einer der entscheidenden Schauplätze gesellschaftlicher Erneuerung.
D ER GESELLSCHAF TLICHE C HAR AK TER DER I NNOVATION In der geläufigen Innovationsrhetorik tritt ein Missverständnis dessen zutage, was Innovation überhaupt bedeutet: eine unvorhersehbare Schöpfung, die eher selten auftritt, aber immer eine gesellschaftliche Dimension hat. Es gibt gar keine Innovation unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, so dass der Ausdruck »soziale Innovation« bereits redundant ist. Insofern müsste man auch die Angemessenheit einer Begrifflichkeit in Frage stellen, die zwischen technologischen oder ökonomischen und anderen, im eigentlichen Sinn gesellschaftlich zu verstehenden Innovationen unterscheidet. Denn eine Innovation auf einem bestimmten gesellschaftlichen Gebiet schließt, wie unmerklich auch immer, Veränderungen des gesellschaftlichen Ganzen ein, oder besser gesagt, eine Gesamtheit von Innovationen unterschiedlichen Typs: »Jede Innovation, selbst wenn sie im Kern technologischer Natur ist, ist eine
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soziale Innovation« (Vordank 2005, 43). Da Innovationen außerhalb eines intersubjektiven Raumes ihrer Anwendung und Anerkennung jeglichen Sinnes entbehren, gibt es sie nur im Horizont von Gesellschaften. D.h. auch, dass sie nicht von außen über Gesellschaften hereinbrechen, sondern von vornherein das interaktive Resultat sozialer Praktiken und Strukturen sind. Es gibt immer soziale Kontexte, die ihnen mehr oder weniger förderlich sind und kein noch so genialischer Erfinder ist in der Lage, sie exklusiv und auf eigene Faust zu bewerkstelligen. Auch das kreativste Genie und die schöpferischste Leistung verdanken sich einer Integration unterschiedlicher Praktiken – zu denen die individuelle Kreativität natürlich auch hinzu gehört – zu einer arbeitsteiligen Aktion. Und da Innovationen immer auch mit anderen Innovationen interagieren, sind sie immer in Veränderungsprozesse eingebettet, in denen sie sich gegenseitig modifizieren. Ebenso wenig wäre die Identifikation oder Zuschreibung einer Erneuerung als solcher außerhalb von Kontexten denkbar. Das müssen nicht nur gegebene gesellschaftliche Kontexte sein, in denen eine Innovation als solche wahrgenommen wird, sondern es geht hier darum, dass auch Urteile darüber, ob etwas neu ist oder nicht, in Strukturen kollektiver und individueller Erwartungen und Erfahrungen eingebettet und von ihnen abhängig sind (Weick 1998). Die Kennzeichnung einer Neuerung als solcher setzt immer einen Beobachter voraus, der in soziale Kontexte eingebunden ist und auf der Grundlage von Erwartungsstrukturen innerhalb eines spezifischen Kontextes eine Abweichung als Neuheit qualifiziert (Luhmann 1994, 216). Der unvorhersehbare Charakter einer Innovation und ihre gesellschaftliche Einbindung sind daher nur zwei Seiten einer Medaille. Denn unvorhersehbar ist sie gerade deshalb, weil sie eine soziale Angelegenheit ist und niemand sicher sein kann, dass auch andere eine vermeintliche, von ihm hervorgebrachte oder erkannte Neuheit als solche anerkennen. Denn um von Innovationen sprechen zu können, genügt nicht schon das Auftreten neuer Ideen, die erst dann als Ideen wirklich vorhanden sind, wenn sich aus ihnen die Aussicht auf neue Produkte oder Dienstleistungen ergibt und sie auf dem Markt akzeptiert wird. Ihre Wirklichkeit als Innovation besteht darüber hinaus dann darin, dass diese Aussichten in konkrete Produkte umgesetzt und diese wiederum von anderen als innovativ anerkannt werden, die sie sich aneignen, indem sie sie gebrauchen oder in sie investieren. Es gibt also eine durchaus merkwürdige Verbin-
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dung zwischen der Entdeckung einer Neuerung und ihrer Anerkennung als Neuheit (Simon 1994), wobei der Ausdruck »Entdeckung« auch einen retrospektiven Sinn hat. Denn die Bezeichnung einer Neuheit als Erneuerung setzt ein Urteil voraus, das unabhängig von dem System ist, das sie hervorgebracht hat. Letztlich entscheidet die gesellschaftliche Anerkennung darüber, ob wir es mit einer wirklichen Innovation oder einer bloßen Gelegenheitsarbeit zu tun haben, so dass eine Erneuerung im Grunde das Ergebnis eines gesellschaftlichen Urteils ist, das nur a posteriori gefällt werden kann. Nachdem bisher noch jeder Versuch gescheitert ist, eine Innovation, das Auftreten von Neuem, zu definieren und dabei zugleich seinen konstitutiven Zusammenhang mit einer objektiven Realität zu berücksichtigen, müssen wir unser Augenmerk zunächst auf die kommunikativen Prozesse einer Gesellschaft richten, in denen sich erst entscheidet, was unter Innovation überhaupt zu verstehen ist. In solchen Prozessen werden Inhalte stets unter den Bedingungen bestimmter struktureller Erwartungen Berücksichtigung finden. Da die Differenz zwischen Kreativität und Innovation in der gesellschaftlichen Natur der Letzteren gründet, sind Erfindungen und Innovationen durchaus nicht dasselbe. Damit eine Innovation im eigentlichen Sinn statthat, bedarf es, wie gesagt, ihrer Einführung in die Gesellschaft oder den Markt, die sie zu einem selbstverständlichen Moment neuer Verhaltensweisen machen. Um eine wirkliche Neuerung zu etablieren, bedarf es also einer Veränderung von Verhaltensweisen in großem Stil. Kurz, Innovationen, welche diesen Namen verdienen, müssen sich in gesellschaftlichen Maßstäben etablieren (Deutsch 1985, 20), andernfalls bleiben sie bloße Ideen. Das kommt auch in Schumpeters berühmter Formulierung zum Ausdruck, der zufolge der Erfinder Ideen produziert, während der Unternehmer »dafür sorgt, dass die Dinge funktionieren« (Schumpeter 1947, 152). So gesehen ist die Innovation die gesellschaftliche Dimension der Kreativität. Beide sind Momente eines Prozesses, in dem die individuelle Kreativität sich mitteilt, interpretiert wird und sich transformiert, um schließlich akzeptiert oder abgelehnt zu werden. »Man spricht über Innovationen häufig als handle es sich dabei um einzelne Ereignisse, die den einzigen und zureichenden Grund bestimmter Veränderungen darstellen. Es ist jedoch viel sinnvoller, den fokalen Effekt – die Innovation – als ein Ereignis innerhalb eines kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandels zu betrachten« (McGrath 1985, 75). Denn unabhängig davon, wer den Anstoß zu einer bestimmten Erneuerung gege-
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ben hat, bedarf es der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren oder doch zumindest ihrer Anerkennung. Insofern lassen sich Innovationsprozesse als »network-effort«, d.h. als kollektive Errungenschaft charakterisieren (van den Ven 1988, 115). Denn als eminent gesellschaftliche Ereignisse sind sie stets auf eine sogenannte Absorption, eine Institutionalisierung und routinemäßige Aneignung der Innovation angewiesen (Rogers/Kim 1985, 192). In dem Maße, wie sich gesellschaftliche Erneuerungen geltend machen, verlangen sie von der gesamten Gesellschaft ein neues Lernverhalten, das mit einem Verlust oder einer Entwertung bisher etablierter Fähigkeiten und Wissensformen einhergeht (Nowotny 1989). Der hier skizzierte gesellschaftliche Charakter der Innovationen und ihre Befreiung von der individuellen Kreativität lassen sich am besten an der Tatsache ihrer geschichtlichen Variationen belegen. Denn viele Neuheiten haben ihre erfolgreiche Form in anderen als den intendierten Bereichen gewonnen und ihre Brauchbarkeit hat ganz andere Aspekte an ihnen enthüllt, als ursprünglich beabsichtigt. Das berühmteste Beispiel in der Technikgeschichte ist wohl das Telefon, das ursprünglich von Bell als Apparat zur Übermittlung von Musik vorgesehen war, sich dann aber im Bereich der mündlichen Kommunikation etablierte (Rammert 1993, 233). Ähnlich liegt der Fall beim Personal Computer oder dem mobilen Telefon, denen man anfangs nur eine sehr geringe Nachfrage und geringe Brauchbarkeit zugetraut hatte. Deshalb können wir durchaus davon ausgehen, dass auch die aktuellen Formen vieler heutiger Innovationen nur flüchtige Gestalten sind, denen Neuerungen folgen, die sie ihrerseits verändern und von denen wir noch gar nicht wissen, was sie an Potentialen bergen. Wegen dieses zeitlichen Aspekts hat man Innovationen häufig auch als flüssige Formen charakterisiert, in deren Werden ein Objekt am Ende nur selten noch in seinem ursprünglichen Zustand erkennbar ist. Ein Grund für diese Fähigkeit zur Veränderung liegt in der Tatsache, dass die Begegnung mit neuen Ideen bei den Betroffenen Lernprozesse auslöst, in denen sich Produkte und Intentionen modifizieren und sich neuen Notwendigkeiten und Interessenlagen anpassen. Da ein und dieselbe Innovation in ganz unterschiedlicher Weise gebraucht werden kann und die Unvorhersehbarkeit ihrer Bestimmung ein Teil des Innovationsprozesses ist, lässt sich dieser Gebrauch in keiner Weise vorab festlegen oder mit Sicherheit voraussagen. Auch wenn die einer Innovation zugrunde liegende Absicht noch so fest gegründet ist, nimmt sie nur in den seltensten Fällen den vorher-
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bestimmten Verlauf. Innovationsprozesse folgen daher einer Logik, die zwar weder vorhersehbar noch berechenbar, aber auch nicht schicksalhaft ist. In diesem nicht festzulegenden Charakter ihrer zeitlichen Entwicklung gründen all die Schwierigkeiten der Versuche, für ihre Erklärung starre Ursache-Wirkungs-modelle heranzuziehen, ihren Verlauf zu prognostizieren, sie ökonomisch zu kalkulieren oder politisch unter Kontrolle zu bringen. Die Soziologie hat wiederholt gezeigt, in welchem Grad Innovationen vom Zeitverlauf abhängig sind. Nicht immer koinzidieren ihr ursprünglicher Sinn, der von ihren Autoren intendierte Sinn und der Gebrauch, den andere von ihnen machen. Spätere Entwicklungen, ihre Kombination mit anderen Ereignissen und Neuinterpretationen durch ihre Nutzer unterwerfen sie unablässigen Veränderungen. Deshalb ist für die Feststellung, ob Innovationen gegeben sind und worin sie bestehen, ihre jeweilige Anwendung ebenso bedeutsam wie die Umstände ihrer Hervorbringung. Denn letztlich entscheiden ihre Aneignung und ihr Gebrauch über Erfolg oder Misserfolg eines Innovationsprozesses. Die kreativen Variationen und Regelverletzungen, die ihre Entstehung begleiten, sind zwar notwendige, aber noch keine zureichenden Elemente für Innovationen, denn nur ihre Wiederholungen und ihre Verbreitung machen aus frei schweifenden Ideen, ungewöhnlichen Praktiken und neuartigen Objekten auch eine gesellschaftlich wirksame Veränderung. Diese Verbindung einer Innovation mit ihrer gesellschaftlichen Verbreitung intensiviert sich, wenn es um gesellschaftliche Innovationen geht, die sich nicht unilateral institutionalisieren lassen und deren Etablierung erst in einer kollektiven Bewertung und Anerkennung zur Ruhe kommt. Solche sozialen Innovationen hängen natürlich weit mehr als technologische von ihren jeweiligen Kontexten ab. Schon vor Jahren hat die Theorie der Ausbreitung von Innovationen (Rogers [1962] 2006) gezeigt, in welchem Maße die Anwender und die Orte ihrer Anwendung entscheidend zur Entwicklung von Neuerungen beitragen. Man hat in diesem Zusammenhang sogar auch schon von einem »rekursiven Prozess« (Asdonk/Bredeweg/Kowol 1991) zwischen Innovation und Verbreitung gesprochen, die sich wechselseitig bedingen. Auch diese, schon länger bekannte Einsicht, legt den Schluss nahe, den man nicht nachdrücklich genug betonen kann, dass ein Begriff von Innovation unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Realisierung und Variation eine Abstraktion darstellt, welche die ganze
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Komplexität des Phänomens verfehlt. Ihr keine Beachtung zu schenken, ist bereits die Vorstufe des Scheiterns einer Politik der Innovation. Auch jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst Innovationen in der Forschung oder in besonders fortschrittlichen industriellen Sektoren keine Wirkung entfalten, wenn nicht auch die Nachfrage der Kunden oder Erfahrungen ihrer Anwendung hinzukommen, die das ausmachen, was man »den systemischen Charakter der Innovationen« genannt hat (Fagerberg/Mowery/Nelson 2005). Aufgrund dieses Charakters lassen sich Innovationsprozesse nicht linear oder sequenziell verstehen (im Sinne einer kausalen Kette von der Forschung über die Anwendung zum Markt), sondern nur in ihrer Verbindung mit komplexen Lernmodellen, unter mehrfachen Hinsichten und in ihren unterschiedlichen Kombinationen.
D IE G ESELLSCHAF T DER I NNOVATION Moderne Gesellschaften lassen sich in ihrer Entwicklungsdynamik nicht verstehen, wenn man nicht die fundamentale Bedeutung einer Institutionalisierung ihrer Innovationen berücksichtigt. Nicht von ungefähr ist das Stichwort Innovation zu einem allgegenwärtigen Motiv gesellschaftlicher Aktionen geworden. Das »Ubiquitious Innovating« (Braun-Thürmann 2005, 5) findet seinen Ausdruck in der in anderen Gesellschaften oder geschichtlichen Epochen undenkbaren Tatsache, dass es in den modernen Gesellschaften kaum einen Bereich gibt, der sich nicht unter dem Gesichtspunkt seiner Erneuerungsbedürftigkeit betrachten ließe. Nicht alle Gesellschaften haben zu allen Zeiten stets das Neue favorisiert. Erst die moderne Gesellschaft hat eine besondere, fast schon ausschließliche Schwäche für das Neue entwickelt, und diese Neigung findet ihren Ausdruck in unterschiedlichen Innovationsdynamiken der einzelnen gesellschaftlichen Bereiche: Die moderne Kunst steht unter der Forderung nach Originalität, auch wenn nicht jedes Angebot, das auf Überschreitung abzielt, auch die entsprechende Akzeptanz findet; die Nachrichten in den Kommunikationsmedien orientieren sich am Wert der Neuheiten, die sie selbst hervorbringen; in der Politik geht es darum, dass die Entscheidungsträger rechtzeitig (d.h. vor den Wahlen) die politisch relevanten Themen erkennen, um sie in die entsprechenden Entscheidungsprozesse zu überführen; seit die Wirtschaft unter Bedingungen der Knappheit produzieren muss, wird es für die Unternehmen
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immer wichtiger, dass sich ihre Produkte hinlänglich von denen der Konkurrenz unterscheiden … Diese universale Forderung nach Innovation hängt mit langen Differenzierungs- und Professionalisierungsprozessen zusammen, aus denen Institutionen hervorgegangen sind, die darauf spezialisiert sind, systematisch Innovationen zu generieren. Insbesondere die Wissenschaften und Künste stehen unter dem Druck einer Dynamik, die auf die Verbreitung neuer und überraschender Informationen abgestellt ist. Während die vormodernen Innovationen noch als Abweichungen konzipiert, als Heterodoxien exorziert oder als Geniestreiche bewundert wurden, konstituieren sich die modernen Gesellschaften dadurch, dass sie die Hervorbringung von Neuem institutionalisieren. Nur auf dieser Grundlage lassen sich für unsere Selbstbeschreibung so grundlegende Phänomene wie das Bewusstsein, der Geschmack oder die Freiheit verstehen. Im Horizont dieser Überlegungen stellt sich nun die Frage, ob und in welchem Maß es überhaupt noch sinnvoll ist, Innovationen aktiv zu begünstigen und voranzutreiben. Auch hier haben wir es mit einem Paradox zu tun, welches darin besteht, dass eine wirklich vorliegende Innovation nicht einer intentionalen Handlung entspringen und das Neue per definitionem nicht im Voraus gewusst werden kann, sondern das riskante Ergebnis von Entdeckungen ist, die niemand beabsichtigt hatte. Ist es möglich, diesen Widerspruch aufzulösen? Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als könne man Innovationen grundsätzlich planen. Wenn dem aber so wäre, gäbe es immer dort und dann Innovationen, wo geeignete Pläne für ihre Produktion bestehen und eine konsequente Anwendung finden. Näher betrachtet, beruht jener Anschein von einer funktionalistischen Vorstellung gesellschaftlicher Institutionen und einem Begriff menschlichen Handelns auf bloßer Anwendung theoretischer Begriffe und Modelle. Es liegt im Licht unserer bisherigen Überlegungen aber auf der Hand, dass die zur Beförderung einer Innovation gewählte Handlungsweise ganz anders beschaffen sein muss wie eine strenge Planung, wie sie bei der Verfolgung anderer, eindeutig definierter Ziele Sinn macht. Innovationen aber kann man genau genommen weder fordern noch auf dezisionistische Weise zustande bringen. Wir können lediglich notwendige, wenn auch nicht alle ausreichenden Bedingungen für ihre Entstehung schaffen und die Routinen und Hemmnisse vermeiden, die sie von vornherein unmöglich machen würden. So gesehen und angesichts der Unberechenbarkeit dessen, was man
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fördern möchte, sind erst einmal negative Formulierungen am hilfreichsten, aber auch am angemessensten. Denn Kreativität, die grundlegende Voraussetzung jeder Innovation, lässt sich nicht erzwingen, und es wäre auch sinnlos, von vornherein bestimmen zu wollen, welche Innovationen man anstrebt. Sehr viel rationaler erscheint es deshalb zu fragen, unter welchen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für Innovationen steigt und diese dann bereitzustellen (Wottawa/Gluminski 1995). Eine gleichzeitig geführte, unsere Problemstellung berührende Diskussion behandelt die Rolle der öffentlichen Gewalten im Hinblick auf eine Politik der Innovation. Nach den Grundsätzen des neoliberalen laissez faire und der traditionellen Arbeitsteilung wäre eigentlich die Industrie für Innovationen zuständig und die Institutionen hätten sich auf das Gebiet der Wissenschaft und Bildung zu beschränken. Demnach könnte sich der Staat nur reaktiv um Innovationen kümmern, indem er die Gesetzgebung neuen technologischen Bedingungen anpasst und die negativen Auswirkungen von Innovationen auf die Gesellschaft abfedert. Ganz anders stellt sich das für eine dirigistische Sichtweise dar, für die der Staat dafür zuständig wäre, Innovationen zu kontrollieren und durch technologische Großprojekte zu initiieren. Diesen beiden Gesichtspunkten ist jedoch ein Verständnis von Politik als kooperativer Macht innerhalb eines Netzwerks heterogener Mächte überlegen, das dem staatlichen Handeln zwar Grenzen setzt, ihm aber gerade dadurch auch neue Möglichkeiten eröffnet: »Der gestaltende Eingriff des Staates [ist] heute mehr denn je darauf beschränkt […], Rahmen zu setzen für weitgehend selbstorganisierte und eigendynamische, durch außerstaatliche Akteure geprägte Forschungs-, Entwicklungs-, Produktions- und Verwendungskontexte neuer Technologien« (Dolata 2004, 23). Damit wird anerkannt, dass der Staat und die öffentlichen Gewalten zwar nicht imstande sind, komplexe Prozesse technologischer Innovationen zu planen, wohl aber die allgemeinen Bedingungen für unterschiedliche innovative Aktivitäten bereitstellen können. Wenn es in komplexen Gesellschaften um Innovationen geht, empfiehlt sich demnach also eine besondere Zurückhaltung, da Gesellschaften und ihre vielfältigen und vielschichtigen Veränderungen nur sehr beschränkt planbar und in einem funktionalen Sinn regierbar sind. Dennoch wäre es im Blick auf die Inhalte von Innovationsprozessen ungeachtet ihrer zeitlichen Unbestimmbarkeit gänzlich verfehlt, auf antizipierende Aktivitäten ganz zu verzichten und diese Prozesse dem Zu-
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fall zu überlassen. Denn sie sind ja keineswegs nur ökonomischer Natur, sondern spielen sich in weitläufigen Zusammenhängen institutioneller, struktureller und politischer Gegebenheiten ab, die ihrerseits in regionalen und supranationalen Kontexten interagieren. Deshalb reichen auch ökonomische Kräfte keineswegs aus, um Innovationen zu »institutionalisieren«. Zweifellos verfügen die öffentlichen Gewalten über gestalterische Fähigkeiten, die Innovationen in der Kultur, der Zivilgesellschaft, in Organisationen und Institutionen fördern können. Die Frage wäre dann, welche strukturellen Bedingungen bereitzustellen sind, um ein günstiges Innovationsklima zu schaffen. Zu solchen innovationsfördernden Faktoren gehören etwa bestimmte kulturelle Bereiche, die teils durch öffentliche Politiken gefördert werden können, sich teilweise aber auch in langfristigen Prozessen entwickeln müssen. Man könnte diese kulturellen Aspekte im Begriff einer lernoffenen Gesellschaft zusammenfassen, die fähig wäre, ihre eigenen Gewissheiten, Evidenzen und Routinen in Frage zu stellen und mit den damit verbundenen destabilisierenden Auswirkungen produktiv umzugehen. Derart lernorientierte Systeme und Gesellschaften wären statischen Systemen und Gesellschaften überlegen, die nur schwer umlernen und darauf abzielen, der Realität vorzuschreiben, wie sie in ihrem Sinne sein sollte. Lerngesellschaften beinhalten dem gegenüber eine neue Organisationskultur, die in der Lage wäre, sich vor allem dann auf strukturelle Veränderungen einzustellen, wenn sich ihr Wissen verändert und Innovationen verarbeitet werden müssen, wobei hierarchisch gegliederten Organisationen enge Grenzen gezogen sind. Der wirkliche Reichtum unserer Gesellschaften gründet vor allem im Wissen. Denn die Energie der es verkörpernden individuellen Begabungen ist rein materiellen Kräften und ihren möglichen Veränderungen weit überlegen. Insofern handelt es sich bei den sogenannten Wissensoder Lerngesellschaften um einen Gesellschaftstypus, dessen Dynamik sich weniger aus materiellen Ressourcen speist als vielmehr aus Vermögen, die mit Wissen im weitesten Sinn zu tun haben. Denn wenn Innovationen vor allem in der Fähigkeit bestehen, von eingelebten Routinen, geläufig gewordenem Wissen und Stereotypen Distanz zu gewinnen und sich mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden zu geben, dann ist ihr größter Feind also das, was wir erworben haben, um unseren gegenwärtigen Standpunkt zu erreichen. Deshalb brauchen Innovationen das Klima einer Risikokultur, in dem Verantwortungsbewusstsein und Lern-
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fähigkeit gedeihen können. Damit sind bereits die Schlüsselbegriffe für soziale Dynamiken und die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften angesprochen. Erneuerung, die sich aus dieser Fähigkeit zur Veränderung ergibt, ist heute ein durchaus allgemeingültiger Imperativ und Wert, der die Unternehmensorganisationen ebenso betrifft, wie Modelle künftigen Zusammenlebens, die unterschiedlichsten kulturellen Ausdrucksformen und öffentliche Politiken. In einer Wissensökonomie werden Erneuerungen durch die Konfiguration von Systemen lokaler Innovationen potenziert: »räumlich konzentrierte, soziokulturell eingebundene und institutionell stabile Unternehmensnetzwerke, die besonders vorteilhaft für die Akkumulation, Rekombination und Ausnutzung technischen Wissens in den von ihnen gewählten technologischen Bereichen sind« (Heidenreich 2000, 89). Auf den ersten Blick könnte es etwas zeitfremd erscheinen, wenn man im Zeitalter der Globalisierung den Blick auf regionale oder nationale Innovationsstrategien richtet. Denn technologisches, wissenschaftliches und kulturelles Wissen wird heute ja weltweit produziert und Innovationen finden ihre Anwendung in globalen Maßstäben. Aber dabei finden räumliche Entfernungen dank neuer Kommunikations- und Transportwege immer mehr an Bedeutung, so dass auch mittelständische Unternehmen in der Lage sein können, globale Produktions- und Distributionsstrukturen zu schaffen. Das aber heißt zugleich, dass sich die Ressourcen einer Wissensökonomie, die im globalen Wettbewerb überleben will, zunehmend im lokalen Maßstab finden: in der Form von Wissen und bestimmten Fähigkeiten sowie in Beziehungen und Motivationen, über die weiter entfernte Konkurrenten nicht verfügen (Cooke/Gómez/Etxebarria 1998; Freeman 1991; Lundvall/Johnson/Andersen/Dalum 2002; Maillat 1995; Nelson 1993; Porter 1990; Storper 1997). Dieser Zusammenhang zwischen der Innovationsgesellschaft und der Neubewertung lokaler Räume folgt einer neuen Logik, die es zu verstehen und zu nutzen gilt. Tatsächlich können wir beobachten, dass räumliche Veränderungen und Innovationsdynamiken ineinander einmünden. Zwar hat man bisher Innovationen eher als ein Problem der Wettbewerbsfähigkeit behandelt und in Faktoren wie dem Zugang zu Rohstoffen, guten Transportwegen und der Bevölkerungsstruktur die entscheidenden Bedingungen für die Entstehung technologischer Schlüsselindustrien gesehen. Aber mit dem Bedeutungsverlust einer Wirtschaftsform, die von der Beschaffung von Rohstoffen und den Arbeitskräften der klassischen Industrie abhängig
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ist, verlieren auch solche Wettbewerbsfaktoren zunehmend an Relevanz. Von dieser Beobachtung gehen zumindest diejenigen Gesellschaftstheorien aus, die einen Übergang von der produktionsorientierten Industriegesellschaft zur postindustriellen Wissensgesellschaft diagnostizieren (Bell 1973; Stehr 1994; Knorr-Cetina 2000; Willke 2001). Dank der Geschwindigkeit, Verbilligung und Reichweite der Kommunikation sowie der damit verbundenen Möglichkeiten der weltweiten Produktion von Expertenwissen ist es möglich, dass auch weit voneinander entfernt lebende Menschen an gemeinsamen Projekten arbeiten. Es wäre deshalb ein Irrtum anzunehmen, dass die Globalisierung die Bedeutung lokaler Räume zugunsten eines deterritorialisierten weltweiten Kommunikations- und Verkehrssystems zum Verschwinden brächte. Im Gegenteil wachsen diesen lokalen Räumen mit dem Globalisierungsprozess ganz neue Bedeutungen zu. Zwar kann die Entwicklung von Innovationen durch die globale Arbeitsteilung angetrieben werden, doch damit bilden sich zugleich auch neue Netzwerke in den Formen regionaler Innovationssysteme. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kann die eher unilaterale und technokratische Auffassung der Globalisierung als überwunden gelten, die davon ausgeht, dass sich die konkreten Örtlichkeiten im Zuge einer globalen Kommunikation und ihrer neuen Technologien an Bedeutung verlieren und konkretes Wissen sich in weltweit zirkulierenden Informationen auflöst. Derzeit spricht man eher von innovativen Bereichen, die sich an Orten konkretisieren, in denen Globalisierungs- und Lokalisierungsprozesse ineinander fließen. Nachdem die lokale Dimension des Wissens und der menschlichen Ressourcen lange Zeit unterschätzt wurde, treten Wissen, Raum und Regierung in den Wissensgesellschaften in eine neue Konstellation ein. Unter diesen Bedingungen entdecken territoriale Politiken zunehmend die Zentralstellung der Wissensthematik. Dabei beginnen sie sich selbst bereits im Sinne eines neuen »knowledge turn of spatial analysis« zu verstehen, in dem die Bedeutung von gesellschaftlicher Nähe und Vertrauen wieder auflebt und dem Begriff Wohlstand neue Bedeutungen zuwachsen. Insofern gehören gerade lokale Netzwerke, weit davon entfernt, die Entwicklung der Wissensgesellschaft zu behindern, ganz im Gegenteil zu ihren kreativsten Momenten.
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Der Zusammenhang zwischen Globalität und Lokalität eröffnet neue Aspekte der Globalisierungswirklichkeit, unter denen sich einige eingewöhnte, aber allzu einfache Vorstellungen über die Dominanz globaler Entwicklungen anders darstellen. Für eine Wissensökonomie bieten sich dabei ungeahnte Möglichkeiten für die Schaffung urbaner und regionaler Räume, in denen neue Wissensformen entstehen und sich miteinander verschränken können. Es entsteht eine ökonomische Geographie der Kreativität, die nach neuen Regierungsformen für diese Territorien verlangt.
E INE NEUE A RTIKUL ATION DES L OK ALEN UND G LOBALEN Die ersten Diagnosen der Globalisierung hatten ihr noch eine Teleologie unterstellt, die sich über lokale Kontexte hinwegsetzt. Implizit oder explizit sind sie davon ausgegangen, dass sich Globalität durch die Unterminierung lokaler Räume definiert, deren physische Realität sich in einer virtuellen Totalität auflöst. Die kühnsten Prognosen verkündeten sogar das Ende der Geographie und mit ihr der räumlichen Entfernungen. Raum im Sinn eines quasi materiellen Substrats schien zu einer fast schon irrelevanten Größe geschrumpft und es gab bereits Stimmen, die daraus den Schluss zogen, dass die Zeit den Raum aufgesogen habe (Harvey 1990, 299) und wir in einer »atopischen Gesellschaft« (Willke 2001) leben, die durch die »Bagatellisierung des Standortes« gekennzeichnet sei (Luhmann 1997, 152). Gleichzeitig haben uns die Theorien der Globalisierung auch daran gewöhnt, fließende und territoriale Gegebenheiten gegeneinander aus-
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zuspielen, als ob sie unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Logiken folgen würden. In der Folge davon ist das Territorialitätsprinzip noch immer großen Verunsicherungen ausgesetzt (Badie 1995; Innerarity 2004): Finanzkreisläufe, Handelsbeziehungen, die Diffusion elektromagnetischer Wellen und digitaler Bilder, menschliche Migrationsbewegungen, das Auseinanderdriften religiöser, kultureller oder sprachlicher Zugehörigkeiten, all das scheint die zerbrechliche Kartographie der Welt zunehmend zu belasten. Zwar ist es sicherlich übertrieben, deshalb gleich das Ende der Territorien auszurufen, aber dennoch ist die Schwerkraft des Raumes zweifellos einer diffusen, mehrdeutigen und unbeständigen Territorialität gewichen. Auf dem globalen Schauplatz greifen derzeit Komplexe politischer, ökonomischer und sozialer Strategien um sich, die dem Prinzip der Territorialität zuwiderlaufen. Im Allgemeinen sieht es so aus, als setzten sich die Logiken der Bewegung gegen die der Territorialisierung durch. In der Tat erleben wir derzeit eine Relativierung von Entfernungen und der Unterscheidung von Nähe und Ferne, die feste und stabile Räumlichkeiten unterminiert. Und zweifellos hat die Globalisierung auch die Vorstellung unbrauchbar gemacht, dass sich soziale Wirklichkeiten in begrenzten territorialen Einheiten konstituieren, so dass ihre Politiken, Kulturen und Identitäten ihnen gleichförmig entsprechen und koextensiv zum Raum einer territorialen Einheit begriffen werden müssen. Territorien sind nicht mehr Räume im Sinne von Containern, sondern Orte, die sich flexibel, auf unterschiedliche Weisen und abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten zur Welt in Beziehung setzen. Damit können gesellschaftliche Realitäten nicht mehr ausschließlich in räumlichen Begriffen gedacht werden. Angesichts und aufgrund dieser Veränderungen sind die derzeitigen Diskurse um die Globalisierung und ihre Konsequenzen voller Missverständnisse. Eines von ihnen besteht in der Auffassung, dass diese Deterritorialisierung eine sukzessive Auflösung von Grenzen und Differenzen bedeute. Wer aber behauptet, »the world is flat« (Friedman 2007), so dass alles ineinanderfließe, hat noch nicht begriffen, dass die räumlichen Entgrenzungen nur ein Phänomen unter anderen im Prozess neuer Territorialisierungen sind: Die Welt ist nicht »eben«,ndern ungleich und unbeständig. Das zeigt sich negativ an den Phänomenen von Ungerechtigkeit und Ausschlussverhältnissen, aber auch an Konkurrenzen, die eng mit
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territorialen Unterschieden verbunden sind. Der Raum ist also keineswegs bedeutungslos geworden, aber er hat sich vervielfältigt. Eine Unfähigkeit, die dialektische Natur des Verhältnisses von globaler und lokalen Ebenen zu erkennen, hat im Einklang mit der Tendenz, die Beziehungen zwischen Akteuren in eindeutigen Begriffen von Siegern und Verlierern zu begreifen, Interpretationen Raum geboten, die nur wenig erklären und noch weniger Orientierung bieten. Aber die Vorstellung, dass das Globale gleichsam in einem Nullsummenspiel all das gewinne, was das Lokale zunehmend verliert, beruht auch schon auf einem kategorialen Fehler. Denn was spricht eigentlich dafür, das Lokale als einzige Form der Territorialität zu begreifen und das Globale nur als einen deterritorialisierten und flüssigen Raum? Das globale Finanzsystem würde ohne seine lokalen Spezifizierungen in Städten wie London und New York gar nicht existieren und lokale Kulturen, Katastrophen und Ungerechtigkeiten würden uns unbekannt bleiben, wenn die Globalisierung uns nicht von ihnen in Kenntnis setzen würde. Die Gleichsetzung des Globalen mit dem Kapital, dem Fortschritt und der Zivilisation und des Lokalen mit Traditionen und Territorialität ist eine Vereinfachung, die der Komplexität der Beziehungen zwischen beiden Sphären nicht gerecht wird. Denn diesem Rahmen kommen lokale Bereiche lediglich als Opfer unkontrollierbarer externer Kräfte in den Blick, als ob sie nicht aus eigener Kraft imstande wären, Kontexte zu bilden. Die Theorien der Deterritorialisierung gehen davon aus, dass das Lokale dem Territorialen entspricht und das Globale ein Prozess sei, der den Raum bedeutungslos macht. Aber allein die Tatsache, dass sich globale Rationalitätsstandards ausbilden, kommt keineswegs schon einer notwendigen kulturellen Uniformierung gleich. Man muss lokale Kulturen und globale Ströme durchaus nicht als Gegensätze begreifen, so dass jene bestenfalls noch die globalen Entwicklungen örtlich kompensieren können. Denn genauer besehen ist es eher so, dass globale Ereignisse in lokale Kontexte einbrechen und hier abgemildert oder verstärkt, jedenfalls aber modifiziert werden. Edward Casey hat deshalb vorgeschlagen, Orte als Ergebnisse des Zusammentreffens unterschiedlicher Geschichten zu begreifen. Die Besonderheit dieses Begriffs des Ortes besteht darin, dass er nicht auf die mythische Wurzel einer relativen Isolierung zurückgreift, sondern von der »absoluten Einzigartigkeit einer Verschmelzung hier wirksamer Einflüsse« ausgeht (2006). Dieser Formulierung zufolge ver-
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dankt sich die Besonderheit eines Ortes nicht seiner Isolierung, sondern der Art und Weise, wie er Vielfältiges verbindet. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, dass Globalität von vornherein nur Herrschaft und Abhängigkeit voraussetzt, während Lokalität Tradition und Kontinuität repräsentiert, denn damit würde gerade die Interaktion beider Bereiche und die schöpferische Entwicklung ihrer Beziehungen völlig ausgeblendet. Berücksichtigt man diese Interaktion, dann hängt die Frage, ob sich ein Territorium von der Globalisierung mehr oder weniger oder auch gar nicht bedroht fühlen muss, von den Beziehungen ab, die es mit der globalen Sphäre unterhält und nicht nur von seiner Fähigkeit, sich gegen globale Strömungen abzuschließen. Einen Ort in der Welt zu konstituieren ist dann keine Frage des Widerstands oder der Abschottung gegen sie, sondern der Art und Weise, wie man seine Beziehungen zu ihr gestaltet. Betrachtet man die Generierung und Zirkulation von Wissen in der heutigen globalen Wirtschaft etwas eingehender, dann wird man entdecken, dass wir es weniger mit einer Destruktion als vielmehr mit einer Transformation des Lokalen zu tun haben: Lokale Orte sind keine geschlossenen Systeme mehr, wir sind nicht mehr in demselben Maße wie frühere Epochen an Lokalitäten als Quellen von Informationen, Erfahrungen, Unterhaltung oder Sicherheit gebunden und der jeweils eigene Ort ist nicht mehr notwendigerweise der zentrale Schauplatz unseres Lebens. Aber deshalb lösen sich die Gemeinschaften keineswegs auf, sondern befreien sich eher von ihrer Abhängigkeit von einem bestimmten Territorium. Die Bildung von Gemeinschaften hat sich zusehends von räumlichen Territorien und ihrem »Prinzip der räumlichen Nähe« (Wiesenthal 1996, 5) abgekoppelt. Mit der Auflösung oder besser Öffnung geschlossener Räume verblasst »der Mythos der nachbarschaftlichen Gemeinschaft« (Albrow 1998, 257) und diese lässt sich nicht mehr als eine örtliche Verflechtung unmittelbarer Beziehungen begreifen. Zwar bleiben räumliche Bindungen durchaus real, sie konstituieren aber nicht mehr den einzigen Typus von Beziehungen. Telefon und Computer ermöglichen die Konstruktion »psychischer Nachbarschaften« (Aronson 1986) und wir gehören dadurch nicht mehr nur einer einzigen Gemeinschaft an. Damit verzweigt sich unser Leben in eine Vielzahl von Netzwerken, von denen keines Exklusivität beanspruchen kann. Wir leben in relationalen und vielfältigen Räumen, die uns weitere Tätigkeitsfelder er-
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öffnen, als dies in Zeiten geschlossener, objektiver und klar abgegrenzter Territorien möglich war. Dieser Befund impliziert keineswegs, dass räumliche Bindungen schwinden oder wir uns frei von ihnen machen, sondern er bringt eine Entwicklung zum Ausdruck, die wir eine »Individualisierung des Umgangs mit Territorien« nennen können. Im Horizont individueller Erfahrung eröffnen diese neuen Milieus mehr Wahlfreiheit als je zuvor. Die Tatsache, dass wir immer weniger davon abhängen, in unmittelbarer Nähe von Anderen zu leben, hat eine Tendenz begünstigt, sich aus den »Zentren« und vom physischen Kontakt mit anderen Menschen zurückzuziehen. Wenn örtliche Bindungen dennoch auch weiterhin wichtig bleiben, so sind sie es doch nicht mehr im traditionellen Sinne. Denn ebenso wenig wie die physische Distanz einer kommunikativen Entfernung entsprechen muss, bedeutet die physische Nähe anderer Menschen notwendig eine Befangenheit in reziproken Abhängigkeiten. Wir können entfernten Menschen sehr nahe und von in der Nähe Lebenden sehr weit entfernt sein. Mit diesen Entwicklungen geht eine zunehmende Widereroberung des Lokalen einher, welche die defizitäre Logik eines zerfließenden globalen Raumes korrigiert. Seit einiger Zeit schon deutet sich aufgrund des Verschmelzens städtischer Zentren mit ihren regionalen Umgebungen ein Perspektivenwechsel an, der den Begriff der »dichten Räume« (Nassehi 2002) hervorgebracht hat: gemeinsame Räume individueller Erfahrungen, ihres Wettbewerbs und ihrer politischen Willensbildung sowie der entsprechenden Dienstleistungen. Wenn es stimmt, dass uns in der Wissensgesellschaft und -ökonomie entsprechend dem Ausdruck »place matters« (Baraldi/Fors/Houlz 2006) Orte wieder verstärkt angehen, dann hängt das auch damit zusammen, dass neues Wissen nicht überall gleich günstige Bedingungen findet. Die ökonomischen Akteure hängen von bestimmten Kontexten ab und diese operieren, wie Polanyi (1957) gezeigt hat, unter institutionellen und kulturellen Bedingungen, von denen sie sich nicht trennen lassen. Deshalb nutzen selbst Global Player besondere territoriale Gegebenheiten für die Generierung des für sie erforderlichen Wissens aus. Die Restrukturierung der Territorien und Städte hängt also nicht allein vom internationalen Kapital- und Informationsfluss ab, sondern auch von lokalen Akteuren, die diesen Prozess behindern oder beschleunigen können. Wo sich die klassische Industrie noch von örtlichen Gegebenheiten unabhängig
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macht und insofern von der globalen Reorganisation profitiert, tendiert die neue kreative Ökonomie immer mehr dazu, sich zu reterritorialisieren und geeignete Räume für die Vernetzung ihrer Beziehungen und ihres Austausches zu suchen. Vor dem Hintergrund geläufiger Stereotype der Globalisierung begann sich Ende der 1990er Jahre ein dazu gegenläufiger, der Realität der Wissensgesellschaft angemessenerer Begriff räumlicher Entwicklung auszubilden. Gegen die vermeintliche Irrelevanz der konkreten Örtlichkeiten und Territorien der Wissensgesellschaft begann man, an ihr eine Gleichzeitigkeit und Hybridisierung globaler und lokaler Entwicklungen wahrzunehmen. Bei dieser Erweiterung der Perspektive spielten vor allem genauere Analysen der differenzierten Beziehung zwischen Globalität und Territorialität eine große Rolle. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet erschienen die lokalen Räume nicht mehr nur als Hindernisse einer allgemeinen Virtualisierung, sondern konnten geradezu als Anreize für Innovationen betrachtet werden. Einer differenzierteren Sicht zeigten sich nun bestimmte lokale Eigentümlichkeiten als Vorteile im Zusammenhang der transnationalen Wettbewerbsfähigkeit und Mobilität. Damit ist klar, dass räumlichen Bedingungen in den Wissensgesellschaften neue Bedeutungen zuwachsen. Empirische Untersuchungen haben belegt, dass Menschen gerade in stark wissensbezogenen Arbeitsweisen eine intensivere Bindung an den jeweiligen Raum ihrer Tätigkeit haben. Zwar hat sich im Zuge der Debatten über die Informations- und Wissensgeographie der Topos verfestigt, dass Informationen und Wissen in einer globalen Gesellschaft im Prinzip allgegenwärtig, d.h. überall und jederzeit verfügbar sind. Doch diese Sicht verändert sich, sobald wir zwischen Information und Wissen unterscheiden. Zwar sind Informationen universal zugänglich, aber Wissen ist stets an konkrete Kontexte gebunden. Denn anders als frei disponible und jederzeit übertragbare Informationen lässt sich Wissen nur in personalen Interaktionen vermitteln. Wenn aber der Austausch von konkretem Wissen und die Lernsituation seiner Aneignung weitestgehend von direkter und interpersonaler Kommunikation abhängig sind, dann sind die räumlichen Bedingungen nicht nur keine mehr oder weniger kontingente Hindernisse, an denen sich der globale Informationsfluss bricht, sondern ihnen kommt im Gegenteil für territoriale Entwicklungen eine ganz zentrale Bedeutung zu. Wissensprozesse sind Lernprozesse, die in Kommunikationen gründen und deshalb auf bestimmte Infrastrukturen angewiesen sind, was nichts anderes be-
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deutet, als dass sie sich in bestimmten Räumen realisieren. Die Entwicklungsfähigkeit eines bestimmten Territoriums beruht deshalb in gleicher Weise auf der Artikulation von explizitem Wissen wie auf den Informationen aus den globalen Netzen. In dieser Hinsicht ist es wichtig, zwischen unterschiedlichen Wissenstypen zu unterscheiden, insbesondere zwischen Informationen als kodifiziertem und leicht übermittelbarem Wissen und dem nicht kodifizierten oder impliziten Wissen, das sich nur in interpersonalen Kontakten vermitteln lässt. Im Licht dieser Unterscheidung ist nicht jedes relevante Wissen auch ubiquitär und die gängige Formel »globale Informationsgesellschaft« erscheint als allzu oberflächlich, um die Realität der heutigen Gesellschaften wirklich beschreiben zu können. Im Unterschied zum Begriff der Informationsgesellschaft, der eine globale Deterritorialisierungsbewegung ausdrückt, hält nämlich der Begriff der Wissensgesellschaft auch an territorialen Bezügen fest. Über die neoklassischen Fiktionen homogener Räume und überall verfügbarer Informationen hinaus müssen wir nämlich im Hinblick auf konkretes Wissen auch noch die Bedingungen seiner Ausbildung in unsere Überlegungen mit einbeziehen: »technologische Breschen« und den »digital divide« zwischen vernetzten und nichtvernetzten Wissensgruppen und vor allem die jeweilige Bedeutung regionaler Peripherien. Räumliche Strukturen und örtliche Bindungen sind also mit der Mobilität von Gütern, Menschen und Informationen zugunsten virtueller Ströme keineswegs obsolet geworden. Ungeachtet der sich ausbreitenden globalen Vernetzungen verlieren die Begriffe des Zentrums und lokaler Bindungen keineswegs an Bedeutung, auch wenn sich ihre Bedeutung verändert. »Wenn die Aktivitäten aus dem digitalen Raum heraustreten, so tun sie dies durch eine massive Konzentration in materiellen Ressourcen, von der entsprechenden Infrastruktur bis hin zu Gebäuden« (Sassen 1998, 349). Mit diesen Worten kritisiert Saskia Sassen den Begriff der »informational cities« und deren Verständnis als austauschbarer Knoten, in denen sich eine Übermacht der Ströme über die Orte manifestiert, insofern sie eine abstrakte Urbanität bezeichnen, in deren Raumökonomie die Zentren ihre Anziehungskraft zugunsten einer rein virtuellen Vernetzung einbüßen. Wenn wir dagegen an der Bedeutung der räumlichen Dimension festhalten, die mit den neuen Beziehungen der ökonomischen Geographie wiederkehrt, so ist damit – das sei nochmals betont – nicht eine Rück-
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kehr der traditionellen lokalen, geschlossenen und selbstgenügsamen Gemeinschaften gemeint, sondern offene Räume, die Teil eines weltweit agierenden Systems sind. Die Räume, die heute wieder zurückgewonnen werden, nachdem die Vorstellung eines abstrakten Globalraumes offensichtlich ausgespielt hat, sind nicht mehr in die festen Grenzen eingeschlossen, an denen sich noch die klassischen Begriffe des Wettbewerbs, nationaler Grenzen und der territorialen Integrität gebildet hatten. Die neuen Räume haben veränderliche Grenzen, die nicht ausschließen, sondern verbinden und offen sind für Überschneidungen und Überlappungen. Wenn ein Territorium innerhalb solcher Grenzen eine gewisse Zentralität erlangt, dann liegt dies allein an seiner Fähigkeit, Verbindungen einzugehen. Aus dieser Perspektive kommt erst die wirkliche Bedeutung, es kommen aber auch die Grenzen des Begriffs der Nähe in den Blick. Nähe ist wichtig, insofern sie Kontakte von Angesicht zu Angesicht ermöglicht, die ein Kapital an Bindungsfähigkeiten entfalten und kollektive Lernprozesse stimulieren können. Dennoch sollte man die lokale Ortsbezogenheit keineswegs mythisch überhöhen, sondern vor dem Hintergrund internationaler Grenzöffnungen und Verflechtungen daran denken, dass sich der Austausch von Wissen auf sehr vielfältige Weise und nicht notwendig nur in Kontexten von Nähe realisiert. So haben beispielsweise zahlreiche Studien ergeben, dass nur wenige der kleinen, in clustern verbundenen Unternehmen das örtliche kollektive Wissen nutzen und genau wie große Unternehmen vor allem durch ihre ortsüberschreitenden Beziehungen lernen. Und zahlreiche soziologische Untersuchungen machen deutlich, dass eine räumliche Nähe ebenso wenig automatisch auch mehr Kontakte zwischen den Akteuren bewirkt, wie dicht besiedelten Räumen eine Dichte sozialer Kontakte entsprechen muss. Kurz, Nähe führt nicht automatisch zur Etablierung fester lokaler Netze. Zur Quelle von wirklicher Innovation und Wettbewerbsfähigkeit wird erst ein Interaktionstypus, den wir »relationale Nähe« nennen können und der sich unabhängig von der Entfernung der an ihm beteiligten Akteure entwickelt. Die heutigen innovativen Medien sind, von hier aus betrachtet, Mischformen von Mobilität und städtischen Stabilitäten. Wenn auch die Kommunikations- und Transporttechniken Konzentrationen, Menschen und Produkten keineswegs unnötig machen, so kommt deshalb doch der geographischen Nähe noch keine zentrale politische oder ökonomische Bedeutung zu. Es entsteht vielmehr eine neue
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Geographie im Spannungsfeld von Zentralität und Marginalität, eine neue »räumliche Zentralökonomie« (Sassen 1996), in der wir Zentrum und Peripherie neu denken und unsere Begriffe von Nähe und Ferne revidieren müssen, weil in ihr die physische Nähe nicht mehr die einzige Variable ist. Die Theorie einer relationalen ökonomischen Geographie (Bathel/Glückler 2002, 49) hat darauf hingewiesen, dass Nähe ein Begriff ist, der mehrere Dimensionen zusammenhält: räumliche, kulturelle, institutionelle, organisatorische und virtuelle Nähe.
F ORMEN KOLLEK TIVER I NTELLIGENZ Wie immer wir auch unsere gegenwärtigen Gesellschaften nennen mögen – postindustrielle, Informations- oder Wissensgesellschaft –, so verweisen doch alle diese Begriffe auf einen tiefgreifenden Wandel, der sich in den letzten Jahrzehnten in den entwickelten Ländern vollzogen hat. Sie beziehen sich auf den Umstand, dass die Ressourcen Information und Wissen im Verhältnis zu materiellen und Energieressourcen stark an Bedeutung gewonnen haben. Die Produktion und Übermittlung von Wissen spielt bei den Veränderungen in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und territorialen Entwicklungen eine immer wichtigere, ja die für sie grundlegende Rolle. Man könnte die Charakterisierung unserer Epoche dahingehend zuspitzen, dass die große Herausforderung der Menschheit heute nicht mehr in der Naturbeherrschung, sondern in der Ausbildung einer gemeinsamen Informations- und Organisationsentwicklung besteht. Unser größter Widersacher ist dabei nicht mehr die Armut oder die Angst, sondern die Unwissenheit. Alle unsere großen Herausforderungen haben mit dem Wissen im weitesten Sinne zu tun und die entscheidenden Strategien zu ihrer Bewältigung kommen nicht umhin, sich an einer Politik des Wissens zu orientieren, welche die Innovationen von Wissenschaft, Technologie, Forschung und Bildung mit den Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zusammenführt. So gesehen besteht der wirkliche Reichtum der Nationen in ihrem Wissen. Was bedeutet das für die territorialen Politiken? Und welche Herausforderungen kommen dabei auf die Regierungen zu? Wir können die derzeitigen Entwicklungen als eine kognitive Wende in der Konzeption des Raumes, seiner Erschließung und seiner Beherrschung bezeichnen. In diesem Sinn geht etwa das 5. Rahmenprogramm
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für Forschung der Europäischen Union schon von einer Bedeutungszunahme des Begriffs territorialer und wissensbasierter Entwicklung aus. Dabei wurde das strategische Ziel der Lissaboner Verträge, die Europa zu einem wissensbasierten Wirtschaftsraum machen sollten, in eine Konzeption territorialer Regierungen in Begriffen intelligenter Territorien oder von Städten des Wissens überführt. Das Thema des Wissens taucht auch in der Begrifflichkeit lokaler Studien und der Praxis lokaler Regierungen immer häufiger auf. Der Ausgangspunkt dieser Tendenz ist die wachsende Einsicht, dass unsere wichtigste Herausforderung darin besteht, Prozesse der Wissensproduktion zu initiieren und dieses in ökonomische Aktivitäten zu übersetzen. Schon seit der Mitte der 1980er Jahre entwickeln europäische Städte und Regionen zunehmend Strategien, um wissensbasierte Innovationsprogramme zu intensivieren. Deren sichtbare Resultate wie innovative Medien, Städte des Wissens, technologische Parks, Universitätscampus, lernfähige Regionen, Start-up-Netze …, etablieren neue Zusammenhänge zwischen räumlichen Gegebenheiten und der Wissensproduktion in kulturellen Entwicklungen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Diesen »Wissensterritorien« kommt die Funktion zu, eventuelle Risiken abzufedern, operative Ressourcen zur Verfügung zu stellen und innovationsgünstige Strukturen zu schaffen (Fürst 2001, 372). Ein solches Wissensterritorium ist ein dichtes Geflecht unterschiedlichster Interaktionen, die Wissen austauschen und gesellschaftlich vermitteln oder wenigstens an einem gemeinsamen impliziten Wissen und an gemeinsamen Praxisformen partizipieren (Matthiesen 1998). Cluster-Formationen dienen dem Zweck, Zugang zu einem impliziten, noch nicht codierten Wissen zu ermöglichen, das in Innovationsprozessen eine strategische Ressource darstellt. In diesem Sinne versuchen zahlreiche Studien zu regionalen Wirtschaftsstrukturen zu messen, inwieweit bestimmte Territorien in der Lage sind, dieses »tacit knowledge« auszutauschen und zu nutzen (Lever 2001). Wenn wir die hierbei entwickelten Indikatoren zur Bestimmung einer territorialen Intelligenz nutzen, können wir davon ausgehen, dass für die Effektivität der Produktion, des Austauschs und des Gebrauch von Wissen mindestens die folgenden vier Faktoren gewährleistet sein müssen (Growe 2009): 1. Infrastrukturen wie Forschungs- und Bildungsinstitutionen für die Produktion und Kommunikation des Wissens; 2. Kreative Interaktionen zwischen vielen Gruppen von Akteuren, d.h. hinreichend
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komplexe Systeme informeller sozialer Kontakte, die einen Wirtschaftsraum zu einem vielschichtig verflochtenen relationalen Raum machen; 3. Konstruktive Verbindungen von endogenen und exogenen Quellen des impliziten und expliziten Wissens mit den örtlichen Wissensressourcen. Denn dank seiner Codierung und Verbreitung durch die Kommunikationstechnologien ist ein Großteil des Wissens weltweit verfügbar geworden. Für ökonomische Erfolge ist daher eine territoriale Öffnung entscheidend, in der die Akteure Anschluss an weitere Aktionsradien gewinnen; 4. Eine generell positive Einstellung, die nur in einem Klima gedeihen kann, das Neugier und eine positive Risikobereitschaft stimuliert. Auf dieser Grundlage gilt es nun klarzustellen, was der Begriff kollektive Intelligenz überhaupt besagt. Dabei müssen wir zunächst einmal individuelles und kollektives Wissen unterscheiden. Denn die Besonderheit von Wissensorganisationen oder -territorien besteht ja in der Ausbildung eines spezifischen Wissens, das zum Wissen ihrer einzelnen Mitglieder hinzukommt und mehr ist als die Summe des Wissens derer, die es hervorbringen. Und die bloße Tatsache, dass man innerhalb dieser Territorien und ihrer Institutionen in Interaktionen lernt, ist ja keineswegs dasselbe wie die Lernfähigkeit der Territorien und Institutionen selbst. Normalerweise geht man eher davon aus, dass das in Organisationen generierte Wissen lediglich das Ergebnis einer Zusammenfassung des Wissens ihrer Mitglieder ist. Zwar hängt die Aktionsfähigkeit von Organisationen natürlich durchaus vom Wissen ihrer einzelnen Glieder ab, aber ebenso wenig wie eine ungeordnete Versammlung von Genies und Nobelpreisträgern schon eine intelligente Organisation ausmacht, konstituiert eine vermehrte Ausbildung von Akademikern schon automatisch eine intelligente Gesellschaft. Für die Entstehung von Wissensräumen oder territorialen Intelligenzen reicht die bloße Existenz von Institutionen für den Wissenserwerb also keineswegs aus. Die Bedingungen dafür, dass eine Verbindung zwischen unterschiedlichen örtlichen intelligenten Institutionen auch zu einem intelligenten Territorium wird, sind erst dann erfüllt, wenn sich die Intelligenz zu einer gesellschaftlichen Fähigkeit im Rahmen eines Territoriums entwickelt. Angesichts kollektiver Dynamiken stellt sich immer die Frage, ob das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und ob es etwas Überindividuelles gibt – ein System, eine organisierte Totalität, ein emergentes, überraschend auftauchendes Phänomen –, »das sich nicht auf die Intentionen der teilnehmenden Individuen reduzieren lässt« (Heintz 2004, 3). Von
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Emergenz spricht man immer dann, wenn allgemeine Eigenschaften im Spiel sind, die nicht auf die Charakteristika der einzelnen Elemente reduzierbar sind. Vor diesem Hintergrund ist eine Wissensgesellschaft keine Gesellschaft, in der es mehr Experten gibt, sondern eine Gesellschaft, deren Systeme die Experten sind. Es reicht dafür keineswegs aus, dass die Individuen lernen und Innovationen hervorbringen und es nützt auch wenig, wenn sich die Bürger neue Kompetenzen erwerben, solange die Regeln, Routinen und Verfahrensweisen, d.h. die organisierte und öffentliche Intelligenz, die Anwendung dieser neuen Kompetenzen blockiert. Das Wissen eines Territoriums ist mehr als eine bloße Akkumulation des vorhandenen Wissens, und eine intelligente Organisation verdient diese Bezeichnung nicht schon durch die Aktionen persönlicher Intelligenzen, sondern erst aufgrund der Synergien ihrer Regelsysteme, Institutionen und Verfahren. Kurz, die Generierung von Wissen ist das Ergebnis kommunikativer Akte oder, anders gesagt, ein relationales Gut. Diese Überlegungen konfrontieren uns nun mit einer Schwierigkeit, die mit dem emergenten Charakter der kollektiven Intelligenz, d.h. der Tatsache zusammenhängt, dass sich diese Intelligenz weder mit Notwendigkeit schon aus der Anwendung bestimmter Maßnahmen ergibt noch sich kurzfristig herstellen lässt, sondern das Ergebnis langwieriger Prozesse mit ungewissem Ausgang ist. Die Konfiguration intelligenter Vernetzungen ist ebenso schwierig wie ihre Beherrschung und Strukturierung, denn soziales Kapital ist nichts, was sich im eigentlichen Sinn schaffen und lenken ließe: »Einen cluster kann man nicht konstruieren, er muss wachsen« (Koch 2007, 202). Die Konfigurationsprozesse kollektiven Wissens sind also überaus komplex, sie erfordern langfristige Perspektiven und sind kaum wahrnehmbar. Deshalb ist im Umgang mit Indikatormodellen besondere Vorsicht geboten, da diese Modelle nicht eigentlich das kollektive Wissen wiederspiegeln, sondern nur seine sichtbaren Resultate. Der emergente Charakter eines Vermögens wie der einer mit Anderen geteilten Intelligenz ergibt sich daraus, dass es keine magischen oder universalen Formeln für die Konfiguration von kollektiven Lern- und Innovationsprozessen gibt. Die wissensbasierten urbanen und territorialen Politiken müssen deshalb sehr genau auf die konkreten Kapazitäten und Probleme der jeweiligen Territorien abgestimmt sein. Dieses Erfordernis widerspricht ausdrücklich Vorstellungen, dass es möglich sei, die Erfahrungen von »icon regions« wie Silicon Valley zu exportieren, oder – wie das
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Beispiel Osteuropas nach 1989 zeigt – Modernisierungen im Rückgriff auf frühere Modelle nachholen zu können. Denn die spezifischen Bedingungen für bestimmte Erfolgsmodelle lassen sich nicht an anderen Orten und zu anderen Zeiten exakt reproduzieren und das Verhalten hochkomplexer Systeme, wie es Territorien nun einmal sind, ist unvorhersehbar. Diese Unvorhersehbarkeit und Unbestimmtheit von Innovationen gehört zur emergenten Natur jedes neu auftretenden Wissens, die durch die zunehmenden Schwierigkeiten, die neuen komplexen Realitäten zu beherrschen, noch verschärft wird. Sicherlich hängen regionale Vorteile mit der Fähigkeit der entsprechenden Regionen zusammen, Talente anzuziehen. Auf diese Tatsache verweist jedenfalls der Begriff des »sticky place« (Markusen 1996). Dabei handelt es sich um Orte, die eine besondere Fähigkeit haben, Talente oder innovative Unternehmen anzuziehen und an sich zu binden. Dennoch sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass solche Politiken nicht auch ihre Grenzen hätten und sie wie automatisch funktionierende magische Formeln behandeln. Denn bisher hat die Verbreitung dieses kreativen Modells vielfach eher dazu geführt, die einzelnen Territorien zu vereinheitlichen, die nun gleichsam alle dieselbe Karte ausspielen. Keine Konstruktion kultureller Infrastrukturen kann eine kulturelle Dynamisierung umstandslos garantieren, ja sie kann im Gegenteil auch dazu führen, dass kreative Entwicklungen an diesen formatierten und durchgeplanten Kulturen vorbeigehen. Will man günstige Bedingungen für Kreativität schaffen, dann reichen geläufige Verfahrensweisen nicht aus, auch wenn sie in als besonders kreativ anerkannten Bereichen gang und gäbe sind, sondern man muss die eigene Kreativität wecken.
D IE G EOGR APHIE DER K RE ATIVITÄT Das in den 1980er und bis in die 1990er Jahre hinein dominierende Paradigma der Informationsgesellschaft hat seinen Ausdruck vor allem in der Schaffung technischer Infrastrukturen gefunden. Die urbanen und territorialen Politiken haben dafür Technologie- und Forschungsparks, nicht selten isoliert und auf dem freien Land errichtet, da man in den konkreten Örtlichkeiten, urbanen Räumen und städtischen Zentren nur noch die Relikte eines allgemeinen Globalisierungs- und Virtualisierungsprozesses sah, dem man sich anpassen wollte. Soziale Räume reduzierten sich
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dabei immer mehr auf periphere Standorte für die Hardware der Kommunikations- und Informationsmedien. Das scheint sich in den letzten Jahren zu ändern und die Debatten über die territorialen Bedingungen für Wissenskreation und Innovationskapazitäten drehen sich nicht mehr nur um die neuen Technologien, sondern wenden sich wieder intensiver ihren territorialen und urbanen Bedingungen zu. Es zeigt sich, dass die Entwicklung der Wissensgesellschaft die Begriffe der sogenannten »harten« und »weichen« Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit verändert und die Bedeutung jener »non-market linkages«, d.h. marktunabhängiger Faktoren wie z.B. Vernetzungen, Vertrauen, soziales Kapital, immer mehr zutage tritt. In diesem Rahmen kann man die »weichen« Wettbewerbsfaktoren nicht mehr nur als akzidentelle und zweitrangige Überbleibsel einer neoklassisch verstandenen ökonomischen Rationalität betrachten. Waren die traditionellen Analysen regionaler Entwicklungen fast ausschließlich auf die Industrie, auf Cluster und Unternehmen ausgerichtet, so lädt uns der neue Begriff der »Wissensumgebungen« dazu ein, unsere Aufmerksamkeit stärker den kulturellen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens und der qualitativen Bedeutung sozialer Strukturen für ökonomische Prozesse zuzuwenden. Wir merken immer mehr, dass die territorialen ökonomischen Entwicklungen in ihrem Kern sehr viele marktunabhängige Elemente enthalten. Lange Zeit war die Theorie der Wettbewerbsfähigkeit eine reine Kostentheorie, der zufolge sich Unternehmen vor allem dort ansiedeln, wo die Kosten für Produktion und Distribution möglichst gering sind. So gesehen waren die »harten« Wettbewerbsfaktoren, wie die Infrastrukturen oder der Arbeitsmarkt, die Schlüsselfaktoren für die Industrieansiedlung. Die daraus folgende Homogenisierung dieser Faktoren hat dann insbesondere in den Ländern der Europäischen Union dazu geführt, dass sich die Territorien eher nach »schwachen« Faktoren, wie einem bestimmten Image, Freizeitmöglichkeiten, Wohnungsangeboten, kulturellen oder ökologischen Kriterien, menschliches und soziales Kapital, ausdifferenzierten. Genau das aber wurde zum Auslöser eines Umdenkens, das die Attraktivität eines Ortes nicht mehr wie früher nur an seinen ökonomischen Vorteilen bemisst, sondern an Faktoren, die auch die Lebensstile und kulturellen Unterhaltungsangebote betreffen. War die für die Industrieepoche charakteristische Sichtweise noch davon ausgegangen, dass Orte deshalb prosperierten, weil sie an Transportrouten oder in der Nähe natürlicher Ressourcen liegen, so setzt dem die Theorie des Humankapi-
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tals nun das Argument entgegen, dass der Schlüssel für Wachstum nicht in der Kostenreduktion, sondern im Vorhandensein gut ausgebildeter und kreativer Persönlichkeiten liegt. Denn in der Wissensökonomie ist vor allem deren kreatives Potential das entscheidende Element für das Wachstum und die Entwicklungen von Städten und Territorien. Ein Großteil der Impulse für diesen Perspektivenwechsel verdankt sich Überlegungen, wie sie insbesondere in Putnams Theorie des sozialen Kapitals (2000) entwickelt wurden. Dieser Begriff des sozialen Kapitals ergab sich aufgrund der Beobachtung, dass die gesamte Struktur der sozialen Beziehungen Auswirkungen auf ökonomische Prozesse hat. Er verweist deshalb auf Ressourcen, die aus mehr oder weniger institutionalisierten gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsen, in denen sich Formen der Anerkennung ausbilden. Dabei rücken nun Elemente wie Vertrauen, Kooperation und Solidarität als grundlegend für soziale Beziehungen in den Blick. Von sozialem Kapital ist hierbei in dem Sinn die Rede, dass diese sozialen Netzwerke auch Werte kreieren, in die es sich lohnt zu investieren (Putnam/Goss 2002, 8). War der technologische Determinismus für diese sozialen Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit blind geblieben, so geht die Theorie des sozialen Kapitals von einem Begriff der Gemeinschaft aus, der sich jedoch mit den heutigen Formen des Individualismus nicht mehr vereinbaren lässt und die kollektiven Anteile an der individuellen Kreativität bestreitet. Gegen Putnam lässt sich deshalb einwenden, dass viele Kategorien der traditionellen Gesellschaftstheorie, die er verwendet, wie z.B. Selbstgenügsamkeit, soziale Kohäsion, Stabilität und Einheit, unter den heutigen Gegebenheiten eher Hindernisse für Entwicklungen darstellen, die zur Öffnung und Verflüssigung fester Bindungen tendieren. Diese Einsicht verdanken wir vor allem Richard Floridas Theorie der Kreativität, die über den bisher geltenden Analyserahmen hinaus weist, der durch Max Weber und Daniel Bell besonders wirkungsmächtig wurde. Er bemisst die kreativen Potentiale einer Gesellschaft allein an ihren Kraftanstrengungen und grenzt Vergnügen und Freude strikt aus. Bell war sogar so weit gegangen, dem Hedonismus der 1960er Jahre negative Auswirkungen auf die ökonomische Innovation und das ökonomische Wachstum zu bescheinigen. Dagegen wurden in den letzten Jahren zahlreiche Theorien der Kreativität formuliert, die den Weg für eine neue Sicht kreativer Energien bahnten und deren berühmteste von Richard Florida stammt (2005). Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der physikali-
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schen Transformationen und der Konstruktion technischer Wunderwerke und Leistungen der Ingenieurskunst stand, wurden die wichtigsten Veränderungen der zweiten Hälfte, wie Florida bemerkte, vor allem von gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Auftreten neuer kultureller Formen bestimmt. Es begannen sich Wissensökonomien auszubilden, in denen Information und Erkenntnis Produktionsmittel und zugleich materia prima sind, und Kreativität sowohl für Unternehmen, Individuen und Territorien einen Wettbewerbsvorteil bedeutet. Als die neuen Indikatoren für ein kreatives Territorium führte man die drei »Ts« an: Talent, Technologie und Toleranz. Ökonomisches Wachstum konzentriert sich demnach insbesondere an Orten, in denen Toleranz und Vielfalt herrscht und sich Kreativität ausleben kann, da solche Orte für kreative Menschen aller Kulturen gleichermaßen attraktiv sind. Florida stellt fest, dass gerade diese Menschen besonders viel Mobilität benötigen und Orte suchen, die ihren Bedürfnissen am besten entgegen kommen. In der Regel werden sie besonderen Wert auf Individualität, Expressivität und Pluralität legen und ihre Arbeit, ihren Arbeitsort und ihre sozialen Beziehungen an diesen Merkmalen ausrichten. Obwohl Floridas Sprache nicht frei von schichtenspezifischen Anklängen ist, entfaltet er doch ein breites Spektrum der Charakteristika jenes Personentypus, der diese »kreative Klasse« ausmacht. Zu ihr gehören Menschen, die sich über die routinierte und repetitive Produktionslogik hinaus mit der Lösung komplizierter Probleme und der Erfindung neuer Wege befassen. Kreative Menschen sind Florida zufolge »symbolische Analysten«, Experten, Geistesarbeiter, Akademiker und Techniker, deren Aufgabe darin besteht, »meaningful new forms« zu generieren. Als Wissenschaftler, Ingenieure, Künstler, Pädagogen oder Musiker besteht ihre Funktion in der Schaffung neuer Technologien oder neuer Inhalte. Was sie von der Mehrzahl der Beschäftigten unterscheidet, ist vor allem die Tatsache, dass sie nicht dafür bezahlt werden, fertige Pläne und vorgegebene Aufgaben zu erfüllen, sondern um neue Ideen, Produkte und Verfahrensweisen zu kreieren. Wollte man einige Charakteristika der neuen Wissensproduktion als Bedingungen der Kreativität zusammenstellen, so bieten sich vor allem drei an: Sie ist nicht exklusiv, heterogen und ungezwungen. Betrachten wir diese Eigenschaften im Einzelnen. Was die Produktion kreativen Wissens zuerst auszeichnet, ist ihre Nicht-Exklusivität. Denn die traditionelle Wissensproduktion hatte sich
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vor allem in geschlossenen Räumen und in Systemen mit geringer, auf Expertenzirkel beschränkter Interaktivität (wie Universitäten und Unternehmen) konzentriert. Dem gegenüber entwickeln sich die neuen Wissensformen in offeneren, komplexeren und weniger exklusiven räumlichen Kontexten in einer Kombination unterschiedlicher Wissensformen. Eine Wissensgesellschaft ist demnach auch durch neue Produktionsformen von Wissen charakterisiert, die sich von traditionellen Formen dadurch unterscheiden, dass sie sich nicht in exklusiven akademischen Institutionen abspielen, sondern in heterogeneren Kontexten und offeneren Kommunikationsnetzen. Daraus ergeben sich neue Formen des Verhältnisses von Expertenwissen und Allgemeinwissen sowie spezifische Prozesse der Generierung und Zirkulation des Wissens, die wiederum die Beziehungen zwischen Universitäten und Unternehmen, öffentlichem und privatem Sektor verändern. Kreatives Wissen und Innovation spielen sich in Kontexten ab, deren Besonderheit auch in ihrer Heterogenität liegt. Die Charakteristika des Wissens intelligenter Territorien sind vor allem seine Hybridisierung, seine Diversität und sein Kontrastreichtum. Es ist nicht Eigentum eines geschlossenen Kreises von Expertengruppen, die als solche anerkannt sind, sondern entsteht in einem offenen Feld zwischen den unterschiedlichsten Akteuren, die zusammenarbeiten oder miteinander wetteifern. In solchem Wissen beruhen die kreativen Potentiale von Städten oder städtischen Räumen, in denen die Phänomene einer kulturellen Hybridisierung besonders gut gedeihen können. Da kulturelle Vielfalt ein wichtiger Faktor für Innovationen ist, bergen besonders diejenigen städtischen Räume der Metropolen, die einen hohen Grad an sozialer, ethnischer und professioneller Diversifizierung aufweisen, reiche Reservoirs für eine interaktive Wissensproduktion. Unter Soziologen war man sich schon immer darin einig, dass Städte gerade auf Fremde eine besondere Anziehungskraft ausüben und städtische Räume für die Entfaltung einer Kultur der Differenzen deshalb den günstigsten Nährboden bieten. Mit all ihrer Großartigkeit und ihrem Elend ist die Stadt ein Raum, in dem immer schon unterschiedliche Lebensweisen, Kulturen und Weltbilder koexistierten und daraus die produktivsten Formen zwischenmenschlichen Austausches hervorgebracht haben. Insofern sind Städte ein vorzügliches Sammelbecken für jene existenziellen Mischformen deterritorialisierter Menschen, die neue Verbindungen eingehen und mit unvorhersehbaren Erfahrungen konfrontiert sind. Die städtischen Entwicklungsdynamiken
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bringen auch immer wieder neue Räume für die Ausdifferenzierung unterschiedlichster Lebensstile hervor, deren Interaktionen die Innovationspotentiale ihrer kulturellen Kräfte potenzieren. Im Licht dieser Einsicht mehren sich die Stimmen derer, die in der Öffnung für Immigration einen Schlüsselfaktor für Innovationen und ökonomisches Wachstum sehen (Zachary 2000). Dennoch entfalten sich die Potentiale urbaner Vielfalt natürlich nicht automatisch, sondern bedürfen bestimmter Bedingungen, die ihr gesellschaftliches Zusammenwirken gewährleisten. Wo diese Bedingungen fehlen, gibt es lediglich die in sehr vielen Städten weltweit beobachtbaren Überlagerungen, in denen sich Vielfalt in Ausschlussverhältnissen und Ungleichheit manifestiert. Drittens schließlich entsteht Kreativität in ungezwungenen Verhältnissen. Forschungen zu innovativen Netzwerken haben ergeben, dass diese Netzwerke ohne zeitweilige personale Kontakte nicht bestehen können. Das entspricht der eben angesprochenen Bedingung der Heterogenität. Denn wenn etwas für die verdichteten Stadträume charakteristisch ist, dann ist es die Tatsache, dass sie Räume der Andersheit, unvorhergesehener Begegnungen, unbekannter Erfahrungen, der Anonymität sowie der Vielheit und Vielfalt von Ressourcen sind (Innerarity 2006). Deshalb können Städte manchmal geradezu zu Brutstätten für Neuheiten, persönliche Kontakte und kreative Wechselwirkungen unterschiedlichster Kenntnisse und Erfahrungen werden. Der Begriff der kreativen Stadt fordert dazu auf, die Potentiale dieser sich vom Zufall, der Bewegung und von Kreativität nährenden Lebensformen zu entdecken. Für eine territoriale Politik ergibt sich dabei die Herausforderung, Bedingungen für Kreativität zu schaffen, die das Auftreten nicht eingeplanter Praktiken sowie unvorhergesehene und unwahrscheinliche Begegnungen nicht nur tolerieren, sondern begünstigen. Denn im Grunde meint das Wort »Stadt« immer die Anderen (Ascher 2007). Diese Herausforderung lädt Regierende und Stadtplaner aber gleichzeitig auch ein, Zurückhaltung statt Aktivismus zu üben. Denn Kreativität lässt sich weder planen noch vorprogrammieren. Egal, ob es sich um künstlerische, soziale, technologische, wissenschaftliche oder urbane Kreativität handelt, sie gedeiht jedenfalls nur dort, wo man sie nicht erwartet. Dennoch und gerade deshalb entbindet uns der ihr eigene emergente Charakter keineswegs von der Arbeit an den geeigneten Bedingungen für ihr unwahrscheinliches Auftreten.
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D IE W ISSENSGESELLSCHAF T REGIEREN Ein auf Wissen gegründeter Begriff territorialer Entwicklung hat viele Implikationen, die ihre Lenkung und die Weisen des Zustandekommens von Entscheidungen betreffen. Denn in gleichem Maße wie sich die Wettbewerbsbedingungen in der vernetzten, komplexen und interdependenten Welt der Wissensgesellschaft radikal verändert haben, sind auch die klassischen Regierungsformen (Markt und Hierarchie) mit ihren Instrumentarien (Preise und Autorität) angesichts dieser Veränderungen überfordert. Denn im Horizont kollektiver Lernprozesse lassen sich die Verhältnisse nicht mehr hierarchisch oder zentral regeln. Wir können heute davon ausgehen, dass hierarchische Strukturen als Gestaltungsprinzip der Gesellschaften ausgedient haben. Komplexe Systeme lassen sich nicht mehr von einem hierarchischen Scheitelpunkt aus regieren, denn dies würde Vereinfachungen voraussetzen, die dem Initiativ- und Erfahrungsreichtum ihrer Elemente nicht mehr angemessen sind. Die Bewältigung von Überkomplexität stellt Probleme, die jeder hierarchisierten Strategie überlegen sind: Wer zu entscheiden hat, der kann die zeitliche Dynamik komplexer Systeme in all ihren Verzweigungen nicht kennen, da er nicht über alle Informationen verfügt und zeitliche Entwicklungen in seinen situationsbezogenen Kalkulationen nicht berücksichtigen kann. Und selbst wenn er dies versuchte, würde er stets zu linearen Extrapolationen tendieren und in Kausalketten statt in Vernetzungen und Zirkularitäten denken. Statt sich auf allgemeine Verbindungen und Panoramaperspektiven zu konzentrieren, würde sich seine Aufmerksamkeit in Details und unmittelbare Gegebenheiten zerstreuen und er müsste seine Problemlösungen nach dem radikalen Prinzip des Alles oder Nichts ansteuern, das die anstehenden Probleme nur noch verschärft. Jede auf Details fixierte Intervention müsste zwangsläufig den Überblick verlieren, der für Regierungsaufgaben unerlässlich ist. Im Grunde müsste also das reflexive Interesse jeder demokratischen Regierung darin bestehen, die Überlastungen zu vermeiden, die einsame, nicht transparente Regierungsformen mit sich bringen. Eine vernetzte Welt bedarf einer relationalen Regierung. Netze verlangen nach komplexeren Instrumentarien auf der Grundlage von Vertrauen, Reputation oder Reziprozität. Die neuen Konstellationen verlangen institutionelle Innovationen in den Regierungsabläufen und eine Überwindung der klassischen administrativen Routinen. Neuen Regierungs-
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formen müsste es deshalb darum gehen, die politischen und gesellschaftlichen Akteure durch Regulierungen, Kooperationen und gemäß dem Prinzip der Horizontalität zu koordinieren. Aus diesen Überlegungen zu einer ortsbezogenen und vielschichtigen Regierungsweise ergibt sich eine wachsende Bedeutung lokaler politischer Netzwerke, die Lenkungsfunktionen im Sinne einer schwachen Regierungsform ausübt. Eine höchst fruchtbare Formel für diesbezügliche Problemlösungen ist die Einbeziehung möglichst vieler der dafür in Frage kommenden Akteure, die das für die Entscheidungen erforderliche Wissen auf der Höhe ihrer Kompetenzen handhaben und seine Demokratisierungspotentiale besser geltend machen können. Nur solche neuen Regierungsformen könnten dem wachsenden Bedarf an kooperativeren Verfahrensweisen der Lenkung und der Einbeziehung aller Beteiligten, d.h. an engeren Verbindungen öffentlicher und privater Elemente entsprechen. Es sind die neuen Bedingungen einer Wissensgesellschaft, in der die Bereitschaft schwindet, hierarchisch getroffene und nicht transparente Entscheidungen zu akzeptieren, die nach neuen Formen der Partizipation und Kommunikation verlangen. Das bringen auch die Thesen des 2004 im Rahmen des Habitat-Programms der UNO organisierten World-Urban-Forums zum Ausdruck. Im Blick auf die fundamentale Bedeutung, die der Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Regierung zukommt, verweisen sie auch auf die Notwendigkeit von Konsensbildungen auf lokaler Ebene, die ein hohes Niveau der Selbstorganisation aufweisen. Damit ist ein Handlungsrahmen bezeichnet, in dem sich insbesondere wegen seiner Bürgernähe und der Offenlegung anstehender Probleme, die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in neue demokratische Regierungsformen wirksam befördern lässt. Insofern ist gerade die lokale Ebene ein geeignetes Experimentierfeld für die Erprobung neuer Formen der Zusammenarbeit. Unter diesen Bedingungen verliert Regieren zunehmend seinen Charakter eines hierarchisch strukturierten Handelns, das für jedes Problem fertige Lösungen präsentiert, und dient eher der Entwicklung von Fähigkeiten zur Problemlösung. Für das politische System bedeutet dies, dass es sich Anforderungen zu stellen hat, die im Grunde auf eine Befähigung (»enabling« oder »empowering«) zum Bürger- und Gemeinsinn hinauslaufen (Giddens 1989). Putnam (1993) hat diese Anforderungen im Begriff des lokalen Sozialkapitals zusammengefasst, das als lebendige Öffent-
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lichkeit in hohem Maße darauf angewiesen ist, die Normen und Bindungen der Kompromissfähigkeit auszubilden. In diesem Sinne beschreibt Haley das, was er »governance capacity« nennt, als ein öffentliches Gut und als wichtigste Infrastruktur des bürgerlichen Lebens (2002): eine »Soft«-Infrastruktur, welche die »Hard«-Infrastrukturen der physischen Netzwerke, der öffentlichen Dienste und rechtlichen Garantien begleitet und ergänzt. Daher setzen die ökonomischen Prozesse in der neuen Wissensökonomie ein funktionierendes gesellschaftliches System voraus. Denn das Ineinandergreifen aller Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Faktor ihrer territorialen Wettbewerbsfähigkeit. Die wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit eines Territoriums hängt insofern davon ab, inwieweit das soziale Kapital der Akteure die Verfügbarkeit von Informationen, Kompetenzen, Ressourcen, qualifizierten Arbeitskräften und Finanzmitteln gewährleistet. Beeinflusst wird dies wiederum von der Regierungsform und -struktur, der Stabilität und Dynamik der sozialen Beziehungen, kurz dem, was man institutionelles Kapital nennt. Im Sinn dieser Verbindung von sozialem und institutionellem Kapital kann man sagen, dass die Stadt der Zukunft dazu aufgerufen ist, zu einem Ort der Versöhnung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Sphären zu werden.
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