De captu lectoris: Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken [Reprint 2015 ed.] 9783110846164, 9783110099898


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German Pages 324 [328] Year 1988

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Table of contents :
Zum Geleit
De cap tu lectoris – Von der Wirkung des Buches
Dürers theoretische Schriften und ihre Leserschaft
Ein alt verrunzelt buchlin... Johannes Trithemius - Vorbesitzer der Kasseler Tironischen Noten
Klassiker der Weltliteratur als Quelle pro Studio humanitatis: Der Testfall der Basler Kartause
Kölner Kaufleute lesen Brants Narrenschiff. Humanistisch gesinnte Großbürger zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Das Werk des Silius Italicus und Matthias Corvinus
Die Wolfenbütteler Tolhopff-Corvine. Der Hofastronom Johannes Tolhopff und seine Handschrift für den ungarischen König Matthias Corvinus
Pan et Circenses. The Reading of Juvenal in the School of the Ghent Hieronymites in the Fifteenth Century
Notizen zu zwei deutschen Drucken der Niederländischen Privatpresse ,De Waelburgh‘ in Blaricum 1924 und 1925
Twenty Unrecorded Lines of Dutch Amatory Verse discovered in the Princeton University Library
„Aesopus moralisatus“, Antwerp 1488, in the Hands of English Owners. Some thoughts on the study of the trade in Latin books
War Diebold Lauber Verleger?
Christian Allusions and Concerns in the Early Printed Vernacular Translations of Classics ( 1471 — 1520)
Bucheintragungen im Zeitalter der Glaubens Spaltung
„Dahero ist diesem Geschichtschreiber dieser irrthumb erwachsen“. Melchior Goldast von Haiminsfeld über seine akademischen Titel
Textüberlieferung – Marginalienforschung – Literärgeschichte
Die Annotationen des Grafen Friedrich von Hohenzollern in den Annalen des Hauses Habsburg von Gerard de Roo
Consensi e dissensi tra gli Umanisti sui primi libri a stampa
Die Funktion von Hus-Texten in der Reformationspolemik
In illo tempore cum audissent apostoli. Liber secundus Missarum, liber primus Missarum...apud Tylmannum Susato... Cum priuilegio
Die Bedeutung des Beiwerks für die Bestimmung der Gebrauchssituation vorlutherischer deutscher Bibeln
Zur Überlieferung der Weltchronik des Johannes de Utino
Biographica
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De captu lectoris: Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken [Reprint 2015 ed.]
 9783110846164, 9783110099898

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D E CAPTU L E C T O R I S Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert

caj>tu lectoris~" Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken herausgegeben von Wolfgang Milde und Werner Schuder

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988

Library of Congress Cataloging — in— Publication Data De captu lectoris : Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken / herausgegeben von Wolfgang Milde und Werner Schuder. p. cm. German, English, Italian, and Latin. I S B N 0-89925-498-5 (U.S.) 1. Books and reading - History. 2. Books - History — 1400—1600. 3. Printing — History — 16th century. 4. Manuscripts, Renaissance, j. Humanists —Books and reading. 6. Incunabula. I. Milde, Wolfgang. II. Schuder, Werner. III. Title: Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. IV. Title: Wirkungen des Buches im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Z1003.D265 1988 22 19—de 028.9

88-3993 CIP

CIP-Kur^titelaufnähme der Deutschen Bibliothek De captu lectoris : Wirkungen d. Buches im 15. u. 16. Jh. ; dargest. an ausgew. Hs. u. Dr. / hrsg. von Wolfgang Milde u. Werner Schuder. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 I S B N 3-11-009989-6 N E : Milde, Wolfgang [Hrsg.]

©

1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise - vorbehalten. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg Buchbinder: Lüderitz & Bauer, Berlin

Wieland Schmidt Erforscher des Buches Hüter der Tradition Lehrer der Jugend in Verehrung gewidmet

Zum Geleit

Das Buch ist ein Medium der Kommunikation. Geschaffen in dem Bestreben, anderen Menschen über die unmittelbare Ansprache hinaus und unabhängig von Raum und Zeit mehr oder weniger komplexe Denkinhalte und reflektierte Ereignisse zu übermitteln, ist es primär auf Wirkung angelegt. Seine Funktion erfüllt sich in der kommunikativen Reaktion einer - je nach Aussage fachlich begrenzten oder umfassenden - Öffentlichkeit, sei es die einer Einzelperson, einer Personengruppe oder eines allgemeinen Publikums. Dieser grundlegende Aspekt gilt nicht nur für das seit dem fünfzehnten Jahrhundert mechanisch vervielfältigte Buch mit seiner sprunghaft wachsenden Verbreitung und potentiellen Massenwirkung, er ist in gleicher Weise entscheidend für alle handgefertigten Einzelstücke von Büchern, also auch für antike Schriftrollen und mittelalterliche Handschriften. Buchhistorische Forschungen, die in Ergänzung zu den literar- und geistesgeschichtlichen Inhaltsanalysen vor allem das frühe Buch überwiegend als Gegenstand in seinem technischen und künstlerisch-ästhetischen Bezug zu begreifen suchen, müssen trotz spezifisch bedeutsamer Einzelergebnisse so lange einseitig und unvollständig bleiben, wie diese nicht im Zusammenhang mit dem kommunikativ-publikatorischen Grundanliegen des Buches gesehen werden. Denn die eigentliche Bedeutung jedes Buches ergibt sich letztlich aus der Kraft seiner Wirkung auf Menschen, Situationen und Entwicklungen. Diese Wirkung in ihren vielfältigen und wandelbaren Erscheinungen zu untersuchen, ist weitgehend Aufgabe einer umfassenden Rezeptionsforschung. Das nicht nur für die Geistesgeschichte bedeutsame Feld wurde von der historischen Buchwissenschaft bisher verhältnismäßig wenig behandelt und bedarf weiterer intensiver Bearbeitung. Hierbei gilt es, nicht allein die durch technische Entwicklungen bedingten quantitativen Veränderungen in Buchproduktion und Literaturverbreitung zu registrieren, sondern wesentlich auch individuelle Erscheinungen detailliert zu untersuchen und daraus weitergehende Wirkungen abzuleiten. Diesem Forschungsaspekt will das vorliegende Werk neue Impulse verleihen. Im Vordergrund steht die Untersuchung jeweils bestimmter einzelner Bücher (Handschrift — Inkunabel - Frühdruck) mit ihrer Wirkung auf einzelne Personen und der darauf basierenden Folgewirkungen. Eine solche Methode, die das Individuelle eines einzelnen Buches und das einer einzelnen Person in ihrem Verhältnis zueinander zu erkennen und herauszuarbeiten sucht, unterscheidet sich von der

VIII

Zum Geleit

Betrachtung des Buches als Massenprodukt für ein Massenpublikum. Einer Betrachtung des Buches nach der Zahl wird hier die des Einzelstückes und der Einzelperson gegenübergestellt. Der Titel D E C A P T U L E C T O R I S wurde gewählt im Rückblick auf einen Gedanken des spätrömischen Grammatikers Terentianus Maurus (2. Jahrhundert), nach dessen - meist unvollständig nur mit dem zweiten Teil zitierten - Wort „pro captu lectoris habent sua fata libelli" das Schicksal der Bücher davon abhängt, welche Auffassung der Leser von ihnen hat, welche Fassungskraft er besitzt, wie er die Bücher bewertet, welche Bedeutung sie für ihn haben. Entscheidend ist sein persönliches Verhältnis zu einem bestimmten Buch und die daraus resultierenden Wirkung. (Vgl. dazu Seite iff.) Diesem bedeutsamen Aspekt entsprechend wird mit der Herausgabe des vorliegenden Sammelwerkes versucht, gleichsam exemplarisch den „Captus Lectoris" in einem zunächst begrenzten Zeitraum anhand ausgewählter Beispiele zu untersuchen und darzustellen. Besonderer Dank gebührt den Autoren der einzelnen Beiträge, die als Experten in teilweise verschiedenartigem Vorgehen der Zielsetzung des Werkes folgten. Es ist zu wünschen, daß weitere vertiefende Beispiele aus verschiedenen Gebieten und Epochen folgen, um der historischen Forschung bisher nur wenig erschlossenes Material verfügbar zu machen. Herausgeber und Autoren hoffen, daß mit der Publikation des Werkes D E C A P T U L E C T O R I S Anregung und Anstoß zu weiterer fruchtbarer Entwicklung der Wissenschaft vom Buch gegeben wird. Dieses Buch ist Wieland Schmidt gewidmet. Mit ihm soll ein Wissenschaftler geehrt werden, der neben seinem Wirken als Berliner Bibliotheksdirektor in jahrzehntelangem Bemühen die historische Buchwissenschaft durch stärkere Betonung der Rezeptionsforschung zu ergänzen und zu bereichern suchte. Seit seiner Dissertation galt in zahlreichen Publikationen sein besonderes Interesse dem hier behandelten Thema. Als Universitätsprofessor ging es ihm nicht zuletzt um die Forderung, das für die Geistesgeschichte bedeutsame Feld weiterer intensiver Bearbeitung zu erschließen. Alle an dem Werk Beteiligten grüßen den Nestor seines Faches in dankbarer Anerkennung der anregenden wissenschaftlichen Leistungen eines bedeutenden Bibliothekars, Lehrers und Forschers. Berlin und Wolfenbüttel, im März 1988

Die Herausgeber

Inhalt

Z u m Geleit

VII-VIII

De captu lectoris - Von der Wirkung des Buches Prof. Dr. Wolfgang Milde (Wolfenbüttel)

1-28

Dürers theoretische Schriften und ihre Leserschaft Prof. Dr. Fedja An^elewskj (Berlin)

29-38

Ein alt verrunzelt buchlin... Johannes Trithemius - Vorbesitzer der Kasseler Tironischen Noten . . Dr. Hartmut Brossjnski (Kassel) und Dr. Konrad Wiedemann (Kassel)

39—50

Klassiker der Weltliteratur als Quelle pro studio humanitatis: D e r Testfall der Basler Kartause Dr. Dr. Max Burckhardt (Basel)

51-66

Kölner Kaufleute lesen Brants Narrenschiff. Humanistisch gesinnte Großbürger zu Beginn des 16. Jahrhunderts . . . Prof. Dr. Severin Corsten (Köln)

67-80

Das Werk des Silius Italicus und Matthias Corvinus Prof. Dr. Csaba Csapodi (Budapest)

81-86

Die Wolfenbütteler Tolhopff-Corvine. D e r Hofastronom Johannes Tolhopff und seine Handschrift für den ungarischen K ö n i g Matthias Corvinus Dr. Klara Csapodi- Gärdonji (Budapest)

87-104

Pan et Circenses. T h e Reading of Juvenal in the School of the Ghent Hieronymites in the Fifteenth Century Prof. Dr. Albert Deroleζ (Gent)

105-115

Notizen zu zwei deutschen Drucken der Niederländischen Privatpresse ,De Waelburgh' in Blaricum 1924 und 1925 Prof. Dr. Dr. Leonard Forster (Cambridge)

117-128

χ

Inhalt

Twenty Unrecorded Lines of Dutch Amatory Verse discovered in the Princeton University Library Prof. Dr. William S. Heckscher (Princeton, N.J.) „Aesopus moralisatus", Antwerp 1488, in the Hands of English Owners. Some thoughts on the study of the trade in Latin books Dr. Lotte Hellinga (London) War Diebold Lauber Verleger? Dr. Christian von Heusinger (Braunschweig) Christian Allusions and Concerns in the Early Printed Vernacular Translations of Classics (1471 —1520) Prof. Dr. Rudolf Hirsch (Philadelphia, Pa.) Bucheintragungen im Zeitalter der Glaubensspaltung Dr. Helmut Kind (Göttingen) „Dahero ist diesem Geschichtschreiber dieser irrthumb erwachsen". Melchior Goldast von Haiminsfeld über seine akademischen Titel. . . . Prof. Dr. Hans-Albrecht Koch (Bremen) Textüberlieferung — Marginalienforschung - Literärgeschichte Prof. Dr. Hans Liilfing (Berlin) Die Annotationen des Grafen Friedrich von Hohenzollern in den Annalen des Hauses Habsburg von Gerard de Roo Prof. Dr. Otto Ma^al (Wien)

129-134

135-143

145-154

155-165

167-182

183-187

189-194

195-202

Consensi e dissensi tra gli Umanisti sui primi libri a stampa Prof. Dr. Sesto Prete (Lawrence, Kans.)

203-217

Die Funktion von Hus-Texten in der Reformationspolemik Prof. Dr. Hans-Gert Roloff (Berlin)

219-256

In illo tempore cum audissent apostoli. Liber secundus Missarum, liber primus Missarum... apud Tylmannum Susato... Cum priuilegio Dr. Ute Schwab (Gettorf)

257-272

Inhalt Die Bedeutung des Beiwerks für die Bestimmung der Gebrauchssituation vorlutherischer deutscher Bibeln Prof. Dr. Dr. Karl Stackmann (Göttingen)

XI

273-288

Zur Überlieferung der Weltchronik des Johannes de Utino Dr. Andräs Vi^kelety (Budapest)

289-309

Biographica

311-313

De captu lectoris — Von der Wirkung des Buches Wolfgang Milde

Von Menschen Gedachtes, Geschautes, Gedichtetes, Gesehenes, Berichtetes, das in Büchern niedergelegt wurde, ist gewollt oder ungewollt auf Resonanz, auf Wirkung hin angelegt. Zumeist hat sich diese Wirkung auch eingestellt: Bücher haben Menschen oder Menschengruppen bewegt und beeinflußt, haben Zustimmung, Ablehnung oder Widerspruch erfahren; die in ihnen formulierten Ideen konnten in bestimmten Fällen sogar geistige oder gesellschaftliche Veränderungen hervorrufen. Aufdeckung und Untersuchung dieser Wirkungen sind zumindest auf drei unterschiedlichen Wegen möglich: Man kann einzelnen Ideen oder Motiven — etwa der Idee der Bestimmung des Menschen, der religiösen Toleranz, dem Motiv des ewigen Friedens, der Begegnung der Geschlechter - bei einzelnen Autoren nachgehen, man kann ihre Übernahme, ihr Weiterleben, ihre Veränderungen bei anderen Autoren verfolgen, wie es vornehmlich die ideen- bzw. motivgeschichtliche Methode tut. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger das Buch als Vermittler als vielmehr die jeweiligen Ideen bzw. Motive und zwar losgelöst vom konkreten Einzelbuch. M a n kann ferner das Publikum der Bücher untersuchen, das Lesepublikum, um zu ermitteln, welche Personenkreise oder soziologischen Schichten welche Bücher lasen oder besaßen. Die Beantwortung der sich dabei ergebenden vielfältigen Fragen und das Aufdecken entsprechender Zusammenhänge ist Aufgabe der soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Methode. Ihr Hauptanliegen ist nicht die individuelle Erscheinung, sondern der gesellschaftliche Aspekt und damit jeweils eine große Zahl von Personen und Büchern, bei deren Quantitäten kaum feststellbar ist, wie der Einzelleser auf Ideen oder Texte, die in einem konkreten einzelnen Buch vorliegen, reagiert oder reagiert hat. Schließlich ein dritter Weg: Bestimmte einzelne Bücher, die als Vermittler von Ideen bzw. Texten eine mehr oder weniger große Bedeutung erlangt haben, werden in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt. Ihnen steht eine bestimmte Person als Besitzer, als Leser, als Kritiker, als Konsument gegenüber. Wie betrachtet er das Buch, welche Bedeutung hat es für ihn, welchen Wert gibt er ihm? Die Geschichte zahlreicher Bücher läßt sich über weite Strecken hin verfolgen, zuweilen durch

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Wolfgang Milde

Jahrhunderte hindurch. Dabei läßt sich vielfach erkennen, welche Personen in welcher Weise von bestimmten Büchern betroffen oder beeinflußt wurden — oder auch nicht - und inwieweit in verschiedenen geschichtlichen Perioden gleiche, ähnliche oder grundsätzlich andere Auffassungen dem einzelnen, konkreten Buch gegenüber zum Ausdruck gebracht wurden. In günstigen Fällen läßt sich bei ein und demselben Buch erkennen, mit welchen - gleichen oder unterschiedlichen - Absichten, Sichtweisen oder Gesinnungen seine Leser es in verschiedenen Jahrhunderten benutzt, seinen Inhalt aufgefaßt, seinen Wert bestimmt haben.

I Der englische Bibliothekshistoriker Kenneth W. Humphreys, dessen Untersuchungen sich vornehmlich auf die Bibliotheksgeschichte des Mittelalters erstrecken, hat vor kurzem in einer Studie "The Book and the library in society" 1 das Verhältnis zwischen Buch und Leser in programmatischer Weise behandelt. In seinem Aufsatz, dem er den Untertitel "Methodology and readership studies in the context of library history" 2 geben möchte, interessiert ihn die Beziehung zwischen den Büchern, den Bibliotheken und der Gesellschaft, und zwar in der Form der "dissemination of texts" 3 . Er stellt folgende Fragen: "Our questions are: what books were available and where, who read them, what evidence is there that they were used and what effect did this use have on society (if any)? Alternatively we could ask what elements in society affected the supply of certain books and certain types of books. Similarly we could ask where were these libraries, for whom were they organised, what did they contain and what evidence is there of their use?" 4 Humphreys will auf diese Fragen keine fertigen Antworten geben; vielmehr geht es ihm um das Problem und um die Methode, präzise Antworten zu finden. Als Quellen dafür nennt er einerseits Bibliothekskataloge und -inventare, Ausleihverzeichnisse, Leselisten, Testamente, Briefwechsel, Tagebücher, Autobiographien, Reiseberichte und andere schriftliche Quellen, in denen über Bücher, Bücherentleihungen und Bibliotheken berichtet wird; andererseits aber die einzelnen Bücher selbst, mit ihren Provenienzhinweisen, ihren Eigentumsvermerken, Exlibris, Signaturen, ihren Einbänden, Lesenotizen, Federproben, ferner mit ihrer Schriftart und ihrer Illuminationsform: " . . . all of which are important contributions to the history of cultural activities, reflecting the interests of society at a particular period" 5 . Insbesondere sind die mittelalterlichen Bibliothekskataloge wertvolle Zeugnisse für das intellektuelle Leben einer bestimmten Periode bzw. eines Zeitalters, zumal wenn es gelingt, sie in ihrem jeweiligen kulturellen und historischen Kontext zu sehen. Zu beachten ist allerdings, daß das bloße Vorhandensein eines Buches in einer

De captu lectoris - Von der Wirkung des Buches

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Bibliothek noch keineswegs bedeutet, daß es auch gelesen wurde. Daher bezeugen Privatbibliotheken in aller Regel eine engere Beziehung zwischen Buch und Leser. Hierbei kommt den handschriftlichen Eintragungen in Büchern wie Eigentumsvermerken und Lesenotizen besonderes Gewicht zu. Humphreys nennt als Beispiel die Bücher von Robert Grosseteste, erwähnt Handschriften aus dem Besitz Petrarcas und Boccaccios, will sie aber in erster Linie für die Rekonstruktion ihrer eigenen Büchersammlungen verwandt wissen. Doch bezeugen derartige Notizen nicht nur, daß bestimmte Bücher gelesen oder gar intensiv studiert wurden, sie können weiterführend auch darüber Aufschluß geben, wie sie gelesen wurden, unter welchem Blickwinkel, gegebenenfalls auch darüber, warum bestimmte Bücher in einer bestimmten Zeit ihre Leser fanden, andere dagegen nicht. Humphreys merkt zwar an, daß private Bibliotheken aus unterschiedlichen Gründen entstehen konnten - als repräsentatives Schauobjekt, als bibliophile Sammlung, als Gelehrtenbibliothek —, doch gilt sein Hauptinteresse keineswegs diesem Aspekt. Ihn interessieren vielmehr - man kann sagen: so gut wie ausschließlich — die Beziehungen zwischen der Leserschaft im allgemeinen bzw. ihren einzelnen Schichten und den Büchern insgesamt bzw. den einzelnen Buchgattungen. Das zeigt seine Formulierung hinsichtlich empfehlenswerter Bücher ("The books recommended for study in universities and schools, and by the general reader often had a fundamental influence on society of the time" 6 ) ebenso wie seine Auffassung des Ausleihwesens ("One of the most likely sources for assessing the actual reading habits of a society at any particular period are lists of books which were borrowed" 7 ). Dementsprechend nennt er als Exempla mehrere Ausleihverzeichnisse und einige prominente Entleiher nebst ihren entliehenen Büchern; ein Eingehen darauf, was diese Personen mit den Büchern vorhatten, geschieht jedoch nur teilweise (wenn nach entliehenen Handschriften der Vatikanischen Bibliothek Editionen veranstaltet wurden). In der Regel unterbleibt ein genaueres Eingehen auf den Zweck der Entleihung, kann mit der Methode der großen Zahl auch nicht festgestellt werden. Damit ist es nicht einmal möglich, mit Sicherheit anzugeben, ob die Bücher überhaupt gelesen wurden: "Obviously, and this is one of the problems, the fact of a book being borrowed, like the possession of a book does not necessarily imply that it was read" 8 . A m Schluß gibt Humphreys einen Hinweis auf Bücherentleihungen aus öffentlichen Sammlungen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, die für bestimmte Lesegewohnheiten wichtig sein können. Als Beispiel dient ihm die Bristol Library Society. Zahlen werden genannt, ebenso Gruppen der entliehenen Literatur, wenn auch nur kurz. Auch dabei geht es Humphreys um die Erforschung von Leserschichten, Publikumsgeschmack und Literaturgruppen. Die Schlußpassage wiederholt die Fragestellung vom Anfang, jetzt in präzisierter Form: "At the same time these examples will be sufficient in the narrow scope of this paper to illustrate the methods used in research in library history in order to answer the questions posed at the

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Wolfgang Milde

beginning: what books were where at any particular period, who had access to them and what evidence is there for their use? The interpretation of their influence on society in general or, more usually, on a particular section of society is only possible when a large amount of detailed information can be collected" 9 . Der amerikanische Germanist, Literaturwissenschaftler und Literatursoziologe John A. McCarthy ist bereits 1983 in seiner Abhandlung „Lektüre und Lesertypologie im 18. Jahrhundert (1730-1770) — Ein Beitrag zur Lesergeschichte am Beispiel Wolfenbüttels" 10 auf die von Humphreys des öfteren angesprochenen Ausleihverzeichnisse von Büchern in detaillierter Weise eingegangen. Er gibt in seinem Aufsatz zunächst eine instruktive programmatische Einführung in die Problematik der lesersoziologischen und literatursoziologischen Forschung und legt anschließend als Fallstudie für einen einzelnen Ort eine Untersuchung für Wolfenbüttel für die Jahre 1730 bis 1770 vor, der er die Ausleihbücher („Registraturbücher") der Wolfenbütteler Bibliothek zugrunde legt. Die Fallstudie will „tendenziell wichtige Aspekte des Themenkomplexes" erörtern, will „einerseits den Ergebnissen der ,dilettantenhaften' Beschäftigung mit lesergeschichtlichen Fragen, andererseits der streng soziologischen Methode Rechnung tragen" n . Die leitenden Gesichtspunkte dafür sind: Intensität der Benutzung, sozialer Rang der Benutzer, Lektürepräferenzen der Männer, die Frau als Leserin. Dabei arbeitet der Verfasser sowohl mit exakt ermittelten Zahlen („Zahl der Benutzer", „Zahl der Entleihungen", „Zahl der entliehenen Werke") als auch mit Schätzungen (Zahl der in einem bestimmten Zeitraum erschienenen Buchtitel, der in diesem Zeitraum tätigen Schriftsteller und konsumierenden Leser) sowie mit Statistiken (Benutzung in einzelnen Jahrzehnten). Mit Hilfe der Ausleihverzeichnisse möchte er ein genaues Bild der Lesegewohnheiten um 1750 gewinnen, ein genaueres, als es etwa die Moralischen Wochenschriften vermitteln, zumal die Verzeichnisse auch zahlreiche Hinweise auf die soziale Struktur der Wolfenbütteler Leserschaft geben und dadurch eine sowohl für die lesersoziologische als auch für die literatursoziologische Forschung äußerst ergiebige Quellengattung darstellen. Natürlich verkennt McCarthy nicht die Schwierigkeiten, die seinem Forschungsvorhaben und der von ihm angewandten Methodik innewohnen. Das beginnt bei der bereits von Humphreys festgestellten Unsicherheit, ob die entliehenen Bücher auch tatsächlich gelesen worden sind. Dazu ein weiterer kritischer Hinweis von Rene König, der — von McCarthy zitiert - , anmerkt, „daß das Vorhandensein bestimmter Bücher in Nachlässen u. ähnl. ein Hinweis darauf ist, daß sie gerade nicht gelesen worden sind; bei wirklich viel gelesenen Büchern ist die Chance viel größer, daß sie verschwinden" 12 . Wenn ferner auch „die Rekonstruktion der empirischen Leserschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Vergleich etwa zum 19. Jahrhundert beinahe unmöglich ist", so versucht McCarthy doch zu zeigen, daß trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Komplexitäten „wenigstens eine akkurate

De captu lectoris - Von der Wirkung des Buches

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Zeichnung der Konturen des Lesepublikums sogar für das frühere 18. Jahrhundert nicht ausgeschlossen zu sein braucht" 1 3 . Das gilt besonders dann, wenn Quellen wie die Wolfenbütteler Ausleihverzeichnisse zur Verfügung stehen, die sich durch andere Archivalien zur weiteren Klärung der Identität der Leser und durch Auktionskataloge ergänzen sowie durch einen Vergleich mit den in den Moralischen Wochenschriften gegebenen Lesertypologien kombinieren lassen. Als Ergebnis der Studie konstatiert McCarthy u. a., daß sich anhand der Wolfenbütteler Verzeichnisse der „Ubergang von der Erbauungs- und Wissenschaftslektüre zur populär-unterhaltenden Literatur" Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgen läßt 14 . Er spricht in diesem Zusammenhang auch von „Säkularisierung" bzw. „Demokratisierung" des Lesens; der Leser soll sowohl belehrt als auch „zum praktischen Leben" erzogen werden; an Stelle „des traditionsgebundenen Glaubens und der Orthodoxie machten sich diesseitsbezogene Postulate der Rationalität und Nützlichkeit geltend" 15. Neben der Fallstudie kommt den theoretischen Überlegungen McCarthys in seinem einführenden Teil besondere Bedeutung zu. P^s geht um die Erforschung der Literaturrezeption mit Hilfe soziologischer Methoden, unterschieden in lesersoziologische und in literatursoziologische Forschung. Als Leser kommt nicht der einzelne in Betracht, sondern die Leserschaft. Dem entspricht die Forderung nach einer Rekonstruktion der Leserschaft innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts, nach Untersuchung der Leserschichten bzw. der Lesertypologie, nach Erarbeitung einer Lesergeschichte bzw. Benutzergeschichte unter Berücksichtigung von Leserreaktionen (Leserinteressen, Lesegewohnheiten, Leseverhalten wie Lesewut, Lesesucht, Leseabstinenz). Das Lesepublikum wird dabei als Massenpublikum begriffen. Bei literatursoziologischen Forschungen geht es um das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft, um Lektürewandel, um Lektürepräferenzen innerhalb einer bestimmten Zeit, zwischen einzelnen Schichten, zwischen männlichen und weiblichen Lesern; ferner um den Büchermarkt und die Bücherproduktion, um das Verhältnis zwischen Konsumenten und Produzenten, auch hinsichtlich der weiteren literarischen Produktion. Die Quellen für die soziologisch betriebene Leserforschung sind vielfältig: Sie reichen von Meßkatalogen, Auktionskatalogen, Subskriptionslisten, Mitgliederlisten von Lesegesellschaften, Nachlaßinventaren, Lektüreempfehlungen in der belletristischen Literatur und in den Moralischen Wochenschriften über Autobiographien, Briefwechsel, Reisebeschreibungen bis zur Zensur- und Inventurakten, Pfarrvisitations- und Schulprotokollen, Fremden- und Rechnungsbüchern. Hinzu kommen die Bestände und Verzeichnisse von Privat- sowie von Ausleihbibliotheken. Auf den Einzelleser weist McCarthy nur gelegentlich hin, ζ. B. im Falle des Fähnrichs Mengen, der ein fleißiger Benutzer der Wolfenbütteler Bibliothek war

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Wolfgang Milde

und anhand seiner Lektürepräferenzen eine „zunehmende Neigung zum Gedankengut der A u f k l ä r u n g " 1 6 erkennen läßt, oder im Falle des Hauptmanns v o n Kotzebue und des Sekretärs Madihn, ebenfalls eifrige Leser, deren ähnliche oder unterschiedliche Lesemotivationen zu analysieren wären. Im allgemeinen jedoch gilt der Satz „ E s wäre sowieso zwecklos, die Geschichte jedes einzelnen Benutzers hier aufrollen zu w o l l e n " 1 7 . Das läßt die soziologische Methode nicht zu. Auch nicht ein intensives Eingehen auf das äußerst wichtige Problem der unterschiedlichen Lesezwecke ein und desselben Buches: „Dieselbe Lektüre kann mehreren Zwecken dienen: der eine sucht einen politischen Rat, der andere wünscht sich ein Tugendvorbild, und ein dritter will nur belustigt w e r d e n " 1 8 . Die Arbeiten v o n Humphreys und McCarthy, zwei v o n zahlreichen Untersuchungen auf dem Gebiet der modernen Rezeptionsforschung, behandeln Lesergeschichte bzw. Benutzergeschichte mittels soziologischer Methoden. Die leser- und literatursoziologische Forschung arbeitet mit großen Zahlen und mit der Masse, seien es Leser, Leserschichten, konsumierte Bücher, Literaturgattungen oder Produktionsziffern des Buchmarktes. Beide Autoren belegen mit ihren Arbeiten in typischer Weise, daß Rezeptionsgeschichte heute zum überwiegenden Teil sozialwissenschaftlich orientiert ist. Der soeben erschienene, sehr instruktive Forschungsbericht von G e o r g J ä g e r „Historische Lese(r)forschung 1 8 a bestätigt, ergänzt und vertieft die Untersuchungen bzw. Darlegungen von Humphreys und McCarthy, weist aber gleich am Anfang auf „eine in doppelter Weise unbefriedigende Situation" hin, nämlich „auf die Diskrepanz zwischen theoretischer Diskussion und historischer Forschung und das Nebeneinander aktueller und historischer Lese(r)forschung. Auf rezeptionsästhetischer, kommunikations-, handlungstheoretischer und soziologischer Grundlage sind seit etwa 1970 zahlreiche theoretische E n t w ü r f e zu Problemen des Verstehens von Texten, zu Funktionen und Wirkungen des Lesens vorgelegt worden, ohne daß es — von Ausnahmen abgesehen - mit der Historischen Lese(r)forschung zu einem fruchtbaren Gespräch gekommen wäre". J ä g e r versucht, das Gebiet der historischen Lese(r)forschung exakt darzustellen, ein Gebiet, in dem das Interesse am Leser die zentrale Position einnimmt: Der „ L e s e r als Bedeutungsgeber von Texten", die „ W i r k u n g v o n Texten auf den Leser", „Korrelation v o n Text- und Lesergrupp e n " , „Leser als K ä u f e r , Entleiher und Benutzer von Büchern". Letzteres wird zwar erwähnt, bleibt aber peripher, wie besonders der Abschnitt am Schluß „Rückschlüsse vom Buch auf den L e s e r " zeigt, der eine für uns aufschlußreiche Aussage bringt: „ D a Rekonstruktionen der Verstehens- und Verarbeitungshandlungen historischer Leser bislang kaum empirisch überprüfbar sind, verdienen explizite Textaussagen zum Leser und zum Lesen besondere Beachtung. Publikumsformeln der Titel, Dedikationen, persönliche Widmungsbriefe und Vorreden grenzen das Zielpublikum ein" 1 8 b . Hier wird - ähnlich wie bei McCarthy - der Einzelleser apostrophiert, es

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wird auch auf die Wichtigkeit von Untersuchungen dieser Richtung hingewiesen, aber doch alles nur in der Form von kurzen Hinweisen.

II E s ist unbestritten, daß die Literaturgeschichte durch Aufnahme sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden zu neuen Einsichten und Maßstäben bei der Beurteilung literarischer Produkte und Prozesse, überhaupt zu neuen Forschungsaufgaben und -feldern gelangte. E s etablierte sich eine Sozialgeschichte der Literatur, da man erkannte, daß Literatur auch auf sozialen Voraussetzungen beruht, daß zum literarischen Werk auch die Leserschaft in ihren sozialen Schichtungen gehört, daß zwischen Konsumenten und Produzenten eine Rückkoppelung besteht, die für die literarische Produktion von eminenter Bedeutung ist, daß zum literarischen Leben innerhalb einer bestimmten Epoche der Buchmarkt dieser Zeit gehört - um nur einige der wichtigsten Gesichtspunkte dieser Forschungsrichtung zu nennen. E s war der deutsche Anglist Levin L u d w i g Schücking, der durch seine Untersuchung von 1923 bzw. 193 1 „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung" 1 9 auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete. Ihm sind vor allem englische und amerikanische Forscher gefolgt, insbesondere in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg. Durch die Untersuchung des Publikums und seines Geschmacks, durch die Herausarbeitung v o n Leserschichten mit ihren Gewohnheiten und Reaktionen war die Bedeutung sozialgeschichtlicher Fragestellungen für die Literaturgeschichte evident geworden: Die Aufnahme der Literatur ist v o n der Art der Aufnehmenden abhängig (Schücking). Die soziologisch orientierte Forschung auf dem Gebiet der Lesergeschichte hat aber nicht nur die Buchgeschichte im allgemeinen befruchtet, sie hat auch der Rezeptionsgeschichte vielfach Anregungen gegeben. E s kam zu einem vorher nicht geahnten Aufschwung der Rezeptionsforschung, namentlich seitens der Literarhistoriker. Das gilt sowohl für qualität- und anspruchsvolle Literatur als auch für Fachprosa und Texte des Alltags. V o n der engen Verknüpfung der Lesergeschichte mit der Rezeptionsgeschichte konnte auch die Wirkungsgeschichte eines Autors, eines Werkes, eines Textes profitieren. Der Germanist Wilhelm Voßkamp hat hervorgehoben, daß drei Stufen der Publikumsbezogenheit zu beachten sind: Einmal die bereits erwähnte Rückkoppelung zwischen Konsumenten und Produzenten, die für die weitere literarische Produktion v o n Bedeutung ist; zweitens die historische Wirkungsgeschichte eines Werkes bzw. Autors; schließlich die gegenwärtige Rezeption eines Werkes oder Autors 20 . Rezeptionsgeschichte ist innerhalb der Literaturgeschichte wie innerhalb der

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Buchgeschichte zu einem immer mehr beachteten Forschungszweig geworden, größtenteils in sozialwissenschaftlicher Gewandung. Man wird sich jedoch davor hüten müssen, die sozialwissenschaftliche bzw. soziologische Methodik als die einzige anzusehen, wenn man Rezeptionsforschung betreibt. Denn das Buch ist nicht nur ein Massenprodukt, der Leser nicht nur Teil einer Leserschicht. Sondern: Das Buch ist auch ein Einzelstück, ein konkreter, greifbarer, beschriebener oder bedruckter, gebundener Gegenstand mit einer Geschichte, zuweilen sogar mit einem faszinierenden, nur ihm eigenen Schicksal. Es ist auch für den einzelnen, individuellen Leser bestimmt, der seinerseits wiederum ein eigenes Schicksal hat. Das Buch will und soll bei dem jeweiligen Leser etwas Bestimmtes bewirken, sei es Belehrung, Trost, Unterhaltung - oder Widerspruch. Der Leser wiederum erwartet etwas Bestimmtes von dem Buch, das er liest oder studiert. Entspricht das Buch seiner Erwartung oder nicht? Wird ein anderer Leser, vielleicht in einem anderen Jahrzehnt oder gar Jahrhundert, dasselbe von demselben Buch erwarten oder erwarten dürfen? Diesen von einem individuellen Buch und von einem individuellen Leser ausgehenden Fragen kann die sozialwissenschaftliche Methode nicht gerecht werden, sie kann sie aufgrund ihres Selbstverständnisses auch gar nicht ausreichend erfassen, da sie einerseits die gesamte, empirisch faßbare bzw. rekonstruierbare Leserschaft mit ihren vielfaltigen Leserschichten, andererseits das Buch als Massenprodukt in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellt. Diese Untersuchungen müssen ergänzt und erweitert werden durch Forschungen, in denen konsequent das Buch als Einzelobjekt und der Leser als individueller, durch keinen anderen austauschbarer Einzelleser im Mittelpunkt stehen, wobei methodisch stets von dem konkret vorhandenen, d. h. von dem vorliegenden Buch (bzw. von einer kleinen, zusammengehörigen, aber überschaubaren Gruppe von Büchern) auszugehen ist. Behandelt die sozialwissenschaftlich orientierte Rezeptionsgeschichte das Verhältnis zwischen dem Buch als Massenprodukt und dem Leser als Massenkonsumenten, so befaßt sich die auf das Individuelle hin orientierte rezeptionsgeschichtliche Forschung mit dem Einzelbuch, dem Einzelleser und mit dem Verhältnis zwischen beiden. Beide Richtungen sind auf gegenseitige Ergänzung angewiesen. Ansätze dafür zeigen sich bereits in der Untersuchung von McCarthy. Wieland Schmidt hat es als einer von wenigen unternommen, das Wesen des Buches zu bestimmen und eine Definition zu geben: „Bücher sind bewegliche Bildoder Schriftträger, die erhalten und verbreitet werden,sollen und deren Zweck durch die Vermittlung eines geistig-immateriellen Inhalts und durch den Wert für die Allgemeinheit gegeben ist" 2 1 . Dieser Definition hat Wieland Schmidt einen Aufsatz gleichen Themas vorausgeschickt 22 , in dem er in ausführlicher Weise die Überlegungen dargelegt hat, die zu der Definition führten. Die in dem Aufsatz am Schluß 23 gegebene Definition stimmt mit der oben zitierten von unwesentlichen

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Abweichungen abgesehen überein. Umso wichtiger ist es zu verfolgen, wie er zu der Definition gekommen ist und welche Elemente bzw. Charakteristika des Buches ihn dazu bestimmt haben. Zunächst ist zu konstatieren, daß das Buch Träger von Kenntnissen und wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen, d. h. von Forschungsergebnissen ist, die weitergegeben, tradiert werden müssen. Ebenfalls zu tradieren sind auch kanonisch festgelegte Glaubenslehren, auch sie sind in Büchern festgehalten. Im Mittelalter kommt es sogar dazu, daß das liturgische Buch als Behältnis von Gottes Wort „gleichsam sakralen Charakter" 2 4 annimmt. Außer den Forschungsergebnissen und den Glaubenslehren sind es die Gedanken der Philosophen und die Werke der Dichter und Schriftsteller, die ohne Tradierung durch das Buch verloren wären. Von besonderer Wichtigkeit sind Wieland Schmidts Ausführungen über den Unterschied zwischen dem handschriftlichen und dem gedruckten Buch: „Bei einer Gegenüberstellung eines codex manuscriptus und einens codex impressus springt als erstes die Singularität des einen und die Pluralität des anderen in die Augen. Es ergibt sich aber, daß dieser Unterschied keinen grundsätzlichen Gegensatz bedingt, daß er vielmehr nur ein Gradunterschied ist und die Art der Vervielfältigung, nicht aber das Wesen des Buches betrifft" 25 . Abgesehen von diesem Unterschied „enthält der codex impressus nichts, was nicht im codex manuscriptus bereits vorgebildet wäre" 2 6 . Das Merkmal der Singularität kann also auch für das gedruckte Buch zutreffen und umgekehrt, obwohl die Pluralität der Handschrift nicht so sehr ins Auge springt. Sie kann aber durchaus vorhanden sein, wie im ausgehenden Mittelalter beispielsweise die große Menge der Sermoneshandschriften oder der Gebetbücher bezeugt. Nur ist sie eben viel seltener. Denn erst das gedruckte Buch läßt „alle Merkmale mit voller Konsequenz in Erscheinung treten und verleiht den Wirkungen des Buches eine Dynamik, die von codices manuscripti nie hätte ausgehen können" 2 7 . Der einzige wirklich vorhandene Unterschied zwischen Handschrift und Druck ist, daß bei dem gedruckten Buch „das mechanische Prinzip der Identität" auftritt, das dem handgeschriebenen notwendigerweise fehlen muß: „alle Exemplare, die von einem Satz abgezogen sind und als solche eine Auflage bilden, sind im Text völlig übereinstimmend" 2 8 . Da die einzelnen Druckexemplare durch unterschiedliche Ausstattung (Bild- und andere Beigaben, Einband, Papierqualität u. ä.) durchaus voneinander abweichen können, nähern sie sich dadurch wiederum dem Merkmal der Singularität, das die Handschrift charakterisiert. Das mechanische Prinzip der Identität, aber auch das Merkmal des gedruckten Buches als Massenartikel betreffen jedoch nicht die Wirkung des Buches als solche. Sie verstärken sie nur: „ . . . versuchen wir, den Unterschied von Handschrift und gedrucktem Buch zu bestimmen, so ergibt sich, daß der Buchdruck außer der Identität zahlreicher Exemplare keine Wesensmerkmale aufweist, die nicht auch in den Handschriften schon vorgebildet wären; er hat aber die in diesen vorhandenen

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Möglichkeiten in einer Konsequenz entwickelt, daß sie neuen Bestimmungen gleichkommen" 2 9 . Auch die von Wieland Schmidt besonders hervorgehobenen drei Charakteristika des Buches, ihr demagogischer, ihr konservanter und ihr kommerzieller Charakter, treffen sowohl für die Handschrift als auch für den Druck zu, nur eben in ganz unterschiedlichen Größenordnungen. Ebenso wie sich das Wesen des Buches in der Art des codex manuscriptus wie in der des codex impressus gleich bleibt, so ist auch hinsichtlich der Wirkungen die Rolle des Buches als Handschrift wie als Druck die gleiche. Z u allen Zeiten - und waren sie noch so verschieden - gingen v o m Buch Wirkungen aus; nur gab es vor der Erfindung des Buchdrucks kein so stark ausgeprägtes Massenproblem. Wieland Schmidt nennt einige Exempla aus dem 15. und 16. Jahrhundert, darunter die Schriften Luthers, die „ganz Deutschland in eine bis dahin nicht bekannte sofortige E r r e g u n g " stürzten: „ V o n seiner Disputation mit E c k wurden auf der Frankfurter Messe 1 5 1 9 in wenigen Tagen 1400 Exemplare verkauft; die Exemplare der .Deutschen Theologie' und der ,Auslegung deutsch des Vaterunsers f ü r die einfaltigen Laien' wurden 1 5 1 9 ,ηοη venditi, sed rapti'; eine Auflage von 4000 Exemplaren , A n den christlichen Adel deutscher Nation' war 1520 in fünf Tagen vergriffen" usw. 3 0 Als Ergänzung zu diesen Zahlen sind Untersuchungen zu fordern, die eingehend darlegen, wie diese Erregung sich im einzelnen dokumentierte, wie sie im Einzelfall vor sich ging. Haben sich Exemplare von lutherischen Schriften erhalten, in denen etwa durch gleichzeitige Eintragungen wie Lesenotizen, Marginalbemerkungen, Unterstreichungen u. ä. diese „ E r r e g u n g " faßbar wird bzw. sich durch Auseinandersetzung mit Luthers Auffassungen im einzelnen verfolgen läßt? Derartige Belege gibt es durchaus: So besitzt beispielsweise die Herzog August Bibliothek einige kleinere Schriften Luthers von 15 20 (darunter „ D e Captivitate Babylonica Ecclesiae"), die aus einem Sammelband stammen, der dem Johanniskloster in Alt-Ulzen (Oldenstadt) gehörte und in dem sich zahlreiche gleichzeitige handschriftliche Anmerkungen und Hinzufügungen finden, die von einer lebhaften Auseinandersetzung mit der Lehre Luthers zeugen 3 1 . 1529 trat das Kloster dann zum Protestantismus über. Anhand der Schmidtschen Definition des Buches ist klar erkennbar, daß es von zwei Seiten gesehen werden kann: Einmal als Massenprodukt, wobei Kriterien wie Auflagenhöhe, Zahl der verkauften Exemplare, Verbreitungsgebiet, Leserschaft, Leserreaktionen ausschlaggebend sind, zum anderen als individuelles konkretes Einzelexemplar, wobei der Einzelleser, der gerade dieses ihm vorliegende Exemplar mit seiner subjektiven Einstellung liest und studiert bzw. erwirbt und besitzt, die entscheidende Rolle spielt. Daraus läßt sich ableiten, daß auch hinsichtlich der Rezeption und ihrer Erforschung zwei Wege möglich sind: Einmal unter dem G e sichtspunkt des Massenartikels, wobei Quantitäten von Konsumenten und produzierten Büchern Gegenstand der Untersuchung sind und zum anderen unter dem

De captu lectoris — Von der Wirkung des Buches Gesichtspunkt des Einzelstücks, wobei das konkret vorhandene Exemplar mit seinen oft vielfältigen Aussagemöglichkeiten Objekt der Untersuchung ist. Dazu gehört der Einzelleser. Gemeint ist hier nicht der von der Gesellschaft sich isolierende, in sich gekehrte und der Gemeinschaft abgekehrte Leser, der Sonderling seiner Umgebung, sondern derjenige, der sich, seiner Individualität bewußt, des geschriebenen oder gedruckten Buches als Mittler geistiger Inhalte und Werte bedient, um sich und die Gesellschaft, in der er lebt und wirkt, zu verstehen und um mit den durch das Buch vermittelten Einsichten, Erfahrungen, Ergebnissen selbst einsichtiger, erfahrener, klüger - man kann auch sagen schöpferisch leben und wirken zu können. Immer wieder haben bedeutende und weniger bedeutende Autoren sich zum Thema des Lesers als Einzelleser geäußert, so daß es fast überflüssig erscheint, an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen. Ein erfahrener Leser unserer Zeit war Peter Suhrkamp, Verleger und Autor, dessen Gedanken in zahlreichen seiner Reden und Aufsätze immer wieder um das Thema des Lesens und des Lesers kreisen. Eine seiner wichtigsten Äußerungen darüber ist der Aufsatz „ U b e r das L e s e n " von 1947 3 2 , in dem er sich in gültiger Weise über den Leser als Individuum geäußert hat: „ E s gibt viele Arten zu lesen, und man muß zwischen Lesen und Lesen scheiden: Lesen, um zu lernen, Lesen, um in etwas einzudringen, Lesen, um den Geist in Bewegung zu bringen, Lesen als Gespräch, Lesen als Kunst. Alle lassen sich in drei Arten zusammenfassen: Lesen zur Orientierung, Lesen als Übung und schöpferisches Lesen. Dazu ist in neuerer Zeit noch eine sehr verbreitete Art gekommen: Lesen aus G e w o h n h e i t " 3 3 . Doch die Gewohnheitsleser rechnet er zu den „Nicht-Lesern": „bei ihnen ist das Können unheilbar degeneriert" 3 4 . Es geht um das echte Lesen, nicht um Zeitvertreib oder Hobby: „Lesen lernen, das ist die Entdeckung einer neuen Welt. Dem Geist wird ein Fenster für den Blick auf eine andere Wirklichkeit geöffnet. Diese andere Wirklichkeit eröffnet den Kräften des Geistes eine Freiheit, die vorher nicht da war, und sie enthüllt eine Ordnung, die unter den Kräften des Geistes gültig ist; sie offenbart Gesetze, durch die Phantasie, Gedanke, Gefühl und inneres Gesicht zu einer eigenen Welt geordnet w e r d e n " 3 5 . Diese durch das Lesen sich eröffnenden Möglichkeiten erfordern den adäquaten, d. h. den dafür bereiten Leser: „ d e r Leser muß heil sein; er muß bei sich sein; aber er darf nicht ganz und gar mit sich beschäftigt sein, muß K r ä f t e frei haben für etwas anderes; er muß frei genug sein, um sich anderen widmen zu können" 3 6 . Diese „Freiheit von sich", fahrt Suhrkamp fort, gehört zum Menschsein, ist Teil des Humanen. K l a r und eindeutig tritt bei ihm das Bild des Einzellesers h e r v o r : , , . . . wenn ich aber etwas für mich lesen will, dann kehre ich gern immer wieder zu wenigen Büchern zurück. Wenn man dasselbe wieder und immer wieder liest — nur klassische Werke vertragen das tritt einem mit der Zeit aus dem Gelesenen ein Gesicht entgegen: der Mensch, der das schrieb... So kann Lesen zu einem Gespräch werden

Wolfgang Milde mit einem Menschen, der nicht gegenwärtig ist, mit dem Autor. Das erschließt die Möglichkeit, mit großen Menschen Umgang zu haben; und mit Menschen, die mehr wissen und mehr sind als die, denen ich täglich begegne; mit erlauchten Geistern, zu denen ich in einem ehrfürchtigen Verhältnis stehe; und was sie mir geben, ist weit mehr als das, was in dem Buch steht, das ich gerade lese. Das ermöglicht ein Gespräch mit Menschen anderer Zeiten und mit Menschen anderer Welten. Sie treten aus dem Buch, das ich lese, lebendig hervor. Ich erscheine v o r ihnen mit meinen Angelegenheiten, und dann sind es nicht bloß meine Angelegenheiten, sondern sie erscheinen im Licht eines anderen Lebens, einer anderen Welt und einer anderen G r ö ß e " 3 7 . In dem inhaltlich eng verwandten Essay „Wozu eine Bibliothek" von 195 5 38 - gemeint ist die Privatbibliothek - hat Peter Suhrkamp seine Auffassung als Leser in geradezu klassischer Weise ausgedrückt: „Kontakte anzulegen zwischen dem Immateriellen und Materiellen der Existenz, einen Stromkreis herzustellen, dazu dient diese klassische Erfindung - die Bibliothek" 39 . Hinter diesen vielfaltigen Ausführungen und Erläuterungen steht immer wieder ein und dieselbe Grundvorstellung: Lesen als Dialog, als Gespräch mit dem anderen, der körperlich nicht anwesend ist, als Kenntnisnahme und Aufnahme anderer Ansichten, Vorstellungen, Lehren sowie die Auseinandersetzung mit ihnen - es geht dabei um das Charakteristikum des Humanen schlechthin. Dieser Gedanke ist keinesfalls neu; er findet sich in den „ E s s a i s " von Montaigne ebenso wie bei den Humanisten, wenn etwa Petrarca seine Bücher um sich versammelt und seine Lieblingsbücher auswählt, zu denen er eine derart enge persönliche Beziehung entwickelt, daß er sich schließlich eine Liste von ihnen zusammenstellt 40 . Der Gedanke läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wenn Cicero seine Bücher als seine Freunde bezeichnet, mit denen er spricht, die ihn trösten, deren Gesellschaft er nicht entbehren kann. Sein Briefwechsel mit Pomponius Atticus, dem Autor und Buchhändler, ist erfüllt davon. E s ist die Zwiesprache, die der Leser mit dem Buch sucht und führt. Und die ist immer individuell: Der einzelne Leser führt sie mit dem einzelnen ausgewählten Buch, einmal, mehrmals oder immer wieder. Auch das Buch führt einen Dialog mit dem Leser. Ohne diese Dialogfahigkeit wäre etwa die seit der Zeit der Pharaonen bekannte Bezeichnung der Bibliothek als „Heilstätte der Seele" nicht entstanden, vor allem aber nicht tradiert worden und hätte niemals ihre wohl bekannteste und schönste sprachliche Formulierung über dem E i n g a n g zum barocken Bibliothekssaal v o n St. Gallen gefunden: „ΨΥΧΗΣ IATPEION", Seelenapotheke.

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III Ausgangspunkt für unsere weiteren Darlegungen ist gleichfalls die Antike. Der spätrömische Grammatiker und Metriker Terentianus Maurus aus Nordafrika verfaßte gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. eine in Versen gehaltene Abhandlung „ D e litteris de syllabis de metris libri tres" (über die Artikulation der Buchstaben und die metrische Qualität von Buchstaben und Silben), die heute wohl nur noch das Interesse der Grammatikhistoriker hervorrufen würde, hätte der Autor nicht in einer Zeile eine Wendung eingefügt, die wie wenige zum geflügelten Wort in der Welt des Buches wurde und unzählige Male — zuweilen sogar mit unrichtiger Verfasserzuweisung - zitiert worden ist: „Habent sua fata libelli" 4 1 . In aller Regel leider nur diese vier Worte aus dem Schluß des Verses, herausgerissen aus ihrem Zusammenhang. Die drei vorangehenden, von denen sie inhaltlich abhängig sind und die ihnen erst ihren eigentlichen Sinn verleihen, werden nur selten zitiert und sind daher nur wenig bekannt geworden: „ P r o captu lectoris habent sua fata libelli" lautet der Vers vollständig. Allerdings: Die vier letzten Worte sind einfach zu übersetzen und zu verstehen, die drei anderen weniger. Den folgenden Darlegungen, die sich mit der oben erläuterten Rezeptionsgeschichte eines bestimmten individuellen Buches durch den Einzelleser beschäftigen, sollen diese Gedanken des Terentianus Maurus vorausgeschickt werden. A m Ende des Abschnittes „ D e syllabis" unterbricht der Autor die grammatischen Darlegungen seines Lehrgedichtes und wendet sich an den Leser, um eine kurze Bemerkung über sein Lehrbuch und dessen Bedeutung einzuschieben (Vers 1282—1290): Forsitan hunc aliquis verbosum dicere librum non dubitet; forsan multo praestantior alter pauca reperta putet, cum plura invenerit ipse; deses et impatiens nimis haec obscura putabit: pro captu lectoris habent sua fata libelli. sed me iudicii non paenitet: haec bene vobis commisi, quibus est amor et prudentia iuxta, et labor in studiis semper celebratus inhaeret: vos sequar, in vestro satis est examine cautum. In deutscher Übersetzung 42 : Vielleicht würde manch einer nicht zögern, dieses Buch geschwätzig zu nennen; vielleicht könnte ein anderer, mir weit Überlegener, meinen, es sei wenig Neues darin, weil er selbst mehr gefunden habe; der Träge und Ungeduldige wird es für allzu dunkel halten: je nach dem Auffassungsvermögen des Lesers haben Bücher ihre Schicksale. Aber mir ist vor dem Urteil nicht bange; habe ich

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Wolfgang Milde doch dies (mein Werk) Euch gut anvertraut, die Ihr Liebe und Klugheit besitzt und mit gerühmtem Fleiß stets den Studien obliegt. Euch will ich daher folgen, in Eurer Prüfung ist es genügend sicher.

In dieser Bemerkung über Wert und Unwert seines eigenen Werkes verwendet der Autor den berühmten Gedanken über die Schicksale der Bücher, die v o m jeweiligen Leser, korrekter gesagt: von seiner Auffassungsgabe, abhängen. Die Interpretation hat von dem Begriff des „captus" auszugehen, einem Substantiv, das mit „capere = nehmen, fassen" zusammenhängt und mit Auffassungsgabe, Auffassungsvermögen bzw. einfach mit Auffassung wiedergegeben wird 4 3 . So ist es auch stets verstanden worden: „ G e m ä ß der Auffassung des Lesers", „ w i e der Leser es aufnimmt bzw. auffaßt oder begreift", „gemäß der geistigen Fassungskraft des Lesers" - danach gestaltet sich das Schicksal der Bücher: Sie werden gelesen oder nicht, als mehr oder weniger nützlich angesehen, kritisiert, aufbewahrt, zerlesen, verbraucht, vernichtet - entsprechend dem Dialog, den der Leser mit ihnen führt oder nicht führt. Von dieser Dialogfahigkeit des Lesers, seinem Fassungsvermögen, seinem geistigen Aufnahmevermögen, seiner „Kapazität" (facultas percipiendi, capacitas) hängt es in entscheidendem Maße ab, welches Schicksal ein Buch v o r sich hat. Wegen dieser „Schicksalsbezogenheit" wird der Satz gern von Bibliothekaren, Buchhändlern, Büchersammlern zitiert. Es war ebenfalls Wieland Schmidt, der immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, welche große Bedeutung der Gedanke des Terentianus Maurus sowohl f ü r die Buch- und Bibliotheksgeschichte als auch für die Rezeptionsgeschichte besitzt. Eine engagierte Bemerkung darüber stammt von Kurt Lindner, dem Bamberger Sammler von Jagdliteratur, Besitzer der einzigartigen „Bibliotheca Tiliana" und langjährigem Präsidenten der „Gesellschaft der Freunde der Herzog August Bibliothek". In der Eröffnungsrede zu einer Ausstellung aus den Beständen seiner Sammlung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1977 heißt es am Ende: „ D a m i t bin ich am Schluß meiner Ausführungen angekommen. Und doch bitte ich, noch ein letztes Wort anschließen zu dürfen, denn ich fühle, daß etwas in diesem nüchternen Bericht zu kurz gekommen ist: Das persönliche Verhältnis zu jedem dieser vielen Bücher, die in dieser Sammlung zusammengeführt wurden. Ich wage zu sagen: Ich kenne jedes von ihnen wirklich, ich habe es selbst erworben, in E m p f a n g genommen, registriert, durchgesehen, teilweise oder ganz gelesen. Ich kenne seinen Inhalt, weiß ihn zu beurteilen, denn etwas von ihm ist in mich eingegangen. E s ist eine persönliche Bindung entstanden. Viele solcher Bindungen existierten für diese Bücher längst, bevor sie das Schicksal in diese Sammlung verschlug. Mitunter zeigt eine ganze Ahnengalerie von Exlibris, von Eigentumsvermerken und Widmungsworten ihre Vergangenheit auf. Aber erst durch den Umgang mit ihnen wird deutlich, daß nicht ihr materieller Besitz, son-

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dem die damit eingegangene geistige Bindung das Entscheidende ist. Wir sind so leicht mit einem platten Wort zur Stelle: habent sua fata libelli - Bücher haben ihre Schicksale. Aber was heißt das schon? Haben sie andere Schicksale als sonstige Güter - Grundstücke, Häuser, Hausrat aller Art? Keineswegs. Das wollte Terentianus Maurus in seinem Carmen heroicum auch nicht sagen. Denn dort steht etwas ganz anderes, etwas, dem wir seinen tiefen Sinn genommen haben, wenn wir allein den verstümmelten Halbsatz zitieren. Beim Dichter heißt es Pro captu lectoris habent sua fata libelli - je nach der Fassungskraft des Lesers haben Bücher ihre Schicksale. Ihm geht es um das erwähnte Erlebnis. Die geistige Fähigkeit, die Begabung, der Bildungsstand derer, die von den Büchern angesprochen werden, bestimmen ihr Schicksal, ihre Wirkung, ihre Kraft. Aber nicht nur ihr Schicksal, sondern -•• pro captu lectoris - auch das Schicksal derer, die diese Bindung mit ihnen eingegangen sind" 4 4 . Der vorliegende Sammelband ist dem Grammatiker Terentianus Maurus in mehr als einer Hinsicht verbunden: Seine Überlegung gab der Konzeption einen gewichtigen Anstoß, seine Formulierungskunst dem Band den leicht abgewandelten Titel: DE CAPTU LECTORIS. Der Gedankengang des Terentianus weist aber noch auf eine andere historische Dimension hin. Das Auffassungsvermögen des Lesers, sein „captus", muß sich nicht immer gleichbleiben, er kann sich im Laufe der Zeit vielfach verändern, kann im Verlauf von Jahren oder Jahrhunderten sich wandeln und sogar wechseln, und zwar hinsichtlich ein und desselben Buches. Ein und dasselbe Buch kann im Laufe seiner Geschichte auf eine größere Zahl von Lesern treffen, die unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich dieses Buches haben. Anders ausgedrückt: Innerhalb seiner Geschichte kann ein Buch einem Wandel seines Wertes unterworfen werden, es kann in einer späteren Periode anders gewertet (oder bewertet) werden als in einer früheren. Dieser Wandel des Wertes innerhalb der Geschichte eines Buches ist einer der interessantesten Faktoren der Buchgeschichte, speziell der Rezeptionsgeschichte, zumal dadurch das Weiterleben eines Buches in besonderem Maße gesichert wird. Um diese Überlegungen zu verdeutlichen, soll hier der Vorgang der Veränderung des Wertes eines Buches an einem herausragenden konkreten Beispiel erläutert werden: am Evangeliar Heinrichs des Löwen. Als am 6. Dezember 1983 auf einer Auktion bei Sotheby's in London für Deutschland das Evangeliar Heinrichs des Löwen erworben wurde, kehrte nicht nur eine der prachtvollsten und historisch wie kunsthistorisch wertvollsten Handschriften des Mittelalters zu einem hohen Preis in ihr Ursprungsland zurück, sondern es gelangte auch ein Codex aus privater Hand in die Obhut einer öffentlichen Institution. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen wurde gegen 1188 in der berühmten Malschule Helmarshausen - heute Ortsteil von Karlshafen (Weser) - angefertigt.

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Auftraggeber waren Heinrich der L ö w e (bis 1 1 8 0 Herzog v o n Sachsen und Bayern) und seine Gemahlin Mathilde, Tochter König Heinrichs II. von England, die es für die Kirche St. Blasius in Braunschweig bestimmten. Z u Beginn der Handschrift, die aus 226 Pergamentblättern besteht und hervorragend erhalten ist, findet sich auf fol. 4V ein lateinisches Widmungsgedicht, in dem in 20 Hexametern u. a. berichtet wird, daß Heinrich und Mathilde - sie königlicher, er kaiserlicher Abstammung - aus Liebe zu Christus dieses von G o l d glänzende Evangeliar anfertigen ließen, um es, zusammen mit anderen Gaben, die sie ihrer Stadt - gemeint ist Braunschweig - zuteil werden ließen, Christus in Demut darzubringen. Z u unbekanntem Zeitpunkt und auf unbekanntem Weg gelangte das Evangeliar nach Prag in den Schatz des Domes von St. Veit. Dort wurde es 15 94 neu gebunden und erhielt den jetzigen Einband mit Reliquien der Heiligen Sigismund und Markus auf dem Vorderdeckel. Stifter des Einbandes war der Prager Domdekan G e o r g Barthold Pontanus v o n Breitenberg. 1861 kaufte K ö n i g G e o r g V. von Hannover die Handschrift vom Prager Domkapitel für sein Weifenmuseum. 1866, nach dem Sieg Preußens über Hannover und der Entthronung Georgs V., wurde sie nach Schloß Cumberland in Gmunden (Osterreich) gebracht. Sie wurde als Privatbesitz der Weifenfamilie angesehen. 1932/33 konnte sie letztmalig für wissenschaftliche Untersuchungen eingesehen werden. 1945, kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges, wurde sie in England dem englischen K ö n i g zum K a u f angeboten; bei dieser Gelegenheit entstanden die Fotografien des Warburg Institute in London. In den Jahren danach war das Evangeliar nicht zugänglich, auch sein Aufenthaltsort blieb unbekannt. Als Ende August 1983 das Auktionshaus Sotheby's in London das Evangeliar zur Versteigerung erhielt, wurde nicht bekanntgegeben, wer es zur Auktion gegeben hatte. Die K a u f s u m m e von 32,5 Millionen D M setzte sich zusammen aus Geldern Niedersachsens (9,4 Millionen DM), Bayerns (7,5 Millionen D M ) , der Bundesrepublik Deutschland (6 Millionen D M ) , der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (3 Millionen D M ) sowie aus zahlreichen Bürger- und Industriespenden. Ständiger Aufbewahrungsort für das Evangeliar ist entsprechend einem Übereinkommen der Eigentümer die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, die Bibliothek mit dem größten Bestand an mittelalterlichen Handschriften in Niedersachsen. Uberblickt man den Weg, den das Evangeliar v o n seiner Entstehung bis heute genommen hat - soweit die einzelnen Tatsachen bekannt sind dann fallt sehr bald auf, daß es im L a u f e seiner Geschichte recht unterschiedliche Motive und Wertvorstellungen gewesen sind, die die jeweiligen Personen oder Personengruppen wie Auftraggeber, Hersteller, Besitzer, Käufer, Benutzer bewogen haben, sich mit dieser Handschrift zu befassen. Wofür sollte ihnen dieses Buch dienen, unter welchen

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Gesichtspunkten haben sie es betrachtet, welchen Wert maßen sie ihm bei? Das sind Fragen, die auch unter dem Aspekt der Wirkung des Buches zu verstehen sind. Voraussetzung für ihre Beantwortung ist, daß die Handschrift selbst oder die in Verbindung mit ihrer Geschichte bekanntgewordenen Personen und Tatsachen genügend deutliche Hinweise dafür geben. Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind folgende zwei Tatsachen: Erstens: Hergestellt wurde das Evangeliar für den liturgischen Gebrauch, d. h. für den Gebrauch im Gottesdienst. Zweitens: Sein heutiger Wert liegt darin, daß es in überwiegendem Maße zu einem Gegenstand der Wissenschaft geworden ist. Wie aber ist der Weg dahin verlaufen, welche Zwischenstufen sind erkennbar? Wie ist der Wertwandel im einzelnen erfolgt und wie wird er faßbar? Heinrich der L ö w e und seine Gemahlin Mathilde ließen einen Evangeliencodex kostbar ausschmücken, um ihn, den prächtigsten seiner Zeit, Christus als Opfergabe darzubringen in der Hoffnung, durch dieses gute Werk wie auch durch andere - Kirchenbauten, Reliquienstiftungen - am ewigen Leben teilzuhaben. Das Widmungsgedicht sagt eindeutig, wie das Evangeliar als Ausdruck mittelalterlicher Frömmigkeit zu verstehen ist. Damit korrespondiert die Anfertigung der Handschrift in einem Kloster, das als eines der bedeutendsten Kunstzentren im 12. Jahrhundert anzusehen ist. Das Herstellen von Büchern mit dem Worte Gottes galt seit jeher als ein Gott wohlgefälliges Werk: ,Tot enim vulnera Satanas accipit, quot antiquarius Domini verba describit' (Cassiodor, Institutiones, Buch I, Kap. 30). Ein Schreiber konnte zuweilen sogar allein aufgrund seiner Tätigkeit auf Vergebung der Sünden hoffen. Der Wert eines sakralen Buches lag im Mittelalter im Jenseits. Vorgesehen war das Evangeliar zum liturgischen Gebrauch in der Braunschweiger Stiftskirche St. Blasius, wegen seiner großen materiellen und immateriellen Kostbarkeit und des hohen Ranges seiner Stifter wohl nur an besonderen Feiertagen. Auf festerem Boden bewegen wir uns, als es 1594 in Prag im Veitsdom greifbar wird. Aufschluß darüber sowie über seine Verwendung und den neuen ( = jetzigen) Einband gibt ein Eintrag von G e o r g Barthold Pontanus v o n Breitenberg auf fol. 73r. G e o r g Pontanus, geboren um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu Brück in Böhmen, gest. am 20. 2 . 1 6 1 4 , gehört zu den interessantesten Gestalten am Prager Kaiserhof Rudolfs II. Vielfaltig begabt (Dichter, Rhetor, Historiker und Theologe) glänzte er als Prediger und Gelegenheitsdichter, erhielt Ehrentitel und Pfründen. 1588 krönte ihn Rudolf II. zum poeta laureatus und erhob ihn in den Adelsstand. 15 94 wurde er Prager Domdekan. Wohlhabend, förderte er den Prager D o m , sammelte eine ansehnliche Bibliothek und stiftete seiner Geburtsstadt eine Kapelle. Aus dem Eintrag des G e o r g Pontanus geht hervor, daß das Evangeliar lange Zeit nicht beachtet worden war und jetzt von neuem im Gottesdienst verwendet

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werden sollte, zum Gebrauch für Votivmessen, wie ausdrücklich erwähnt wird. Die Erneuerung geschah also nicht etwa aus bibliophilen oder gar historischen Gründen. Die Neubindung mit Reliquien bedeutete ferner, daß das Buch auch in Prozessionen mitgeführt werden konnte. Sein liturgischer Wert war durch die Hinzufügung der Reliquien also noch erhöht worden. Mit dem Prager D o m endet die liturgische Verwendung des Evangeliars Heinrichs des Löwen. Seine moderne Entdeckung erfolgte gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach den Befreiungskriegen die bekannte Neubewertung des Mittelalters eingesetzt hatte. G e o r g Heinrich Pertz (1795 - 1 8 7 6 ) , Archivar, Historiker und Bibliothekar in Hannover und Berlin, der erste wissenschaftliche Leiter der „Monumenta Germaniae Historica", sah auf einer Bibliotheksreise im Auftrag der „ M o n u m e n t a " zwischen dem 13. und 19. September 1843 das Evangeliar im Schatz des Prager Domes. „ D i e merkwürdigste Handschrift Prags sah ich in dem Schatze des Domcapitels; ein Evangeliar, auf Heinrich's des L ö w e n und seiner Gemahlinn Mathilde Befehl v o n dem Helmwardhäuser Mönche Herimann sehr prächtig geschrieben und gemalt, und wahrscheinlich dem St. Blasiusdom in Braunschweig geschenkt; es enthält unter andern Heinrich's des L ö w e n und seiner Gemahlinn Bild e r " , so schilderte Pertz in dem Bericht seiner „Reise nach Böhmen, Oestereich, Salzburg und Mähren, im September 1 8 4 3 " i m „ A r c h i v der Gesellschaft f ü r ältere deutsche Geschichtkunde" 1847 seinen Eindruck. Offenbar fand diese Mitteilung wenig oder kein Interesse. Auch der 1858 in Prag erschienene ausführliche Führer durch D o m und Domschatz von August A m b r o s ( 1 8 1 6 - 1 8 7 6 ) kam kaum zu einer großen Verbreitung in Deutschland. Ambros hatte wie Pertz die Bedeutung des Evangeliars erkannt und den Prager Historiker Konstantin v. Höfler ( 1 8 1 1 — 1897) um eine Würdigung gebeten, die er ebenfalls abdruckte. Darin findet sich auch die bekannte, heute abgelehnte profane Interpretation der Krönungsminiatur. Pertz war es auch, der den Anstoß zum E r w e r b der Handschrift durch K ö n i g G e o r g V. von Hannover gab. Dieser Weifenfürst ( 1 8 1 9 - 1 8 7 8 ) , der von dem Aufschwung der historischen Wissenschaft in ganz besonderem Maße geprägt w a r und sich schon früh lebhaft für die Geschichte seines Hauses interessiert hatte, betrachtete es als verpflichtende Aufgabe, die Tradition seiner Ahnen fortzusetzen und deren Ruhm zu mehren. Dabei war ihm jedoch die Historie nicht allein eine Quelle der Erkenntnis, sondern auch Mittel für sein monarchistisches Selbstverständnis. Sein Vorfahr Heinrich der L ö w e war für ihn eine mystische Symbolfigur in seinem Streben nach Bewahrung der Unabhängigkeit seines Territoriums. In diesen politischen Zusammenhängen muß die E r w e r b u n g des Evangeliars durch den hannoverschen K ö n i g gesehen werden. Pertz, seit 1842 Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin, hatte im Herbst i860 seinem hannoverschen Freund Friedrich Culemann ( 1 8 1 1 - 1886), einem der bedeutendsten Kunstsammler in Norddeutschland, der als Druckereibesitzer auch mit den „ M o n u m e n t a " in enger

De captu lectoris - Von der Wirkung des Buches Verbindung stand, von der Miniatur Heinrichs des L ö w e n in dem Evangeliar berichtet. Culemann, der G e o r g V. auch in Museumsangelegenheiten zu beraten pflegte, berichtete darüber G e o r g V., der begreiflicherweise den Wunsch äußerte, das Buch zu erwerben, in dem sich dieses Bild befindet. Auf Ansuchen des mit Pertz befreundeten böhmischen Historikers Frantisek Palacky ( 1 7 9 8 - 1 8 7 6 ) trug Weihbischof Peter Franz Krejci die Angelegenheit im Domkapitel vor, dessen Mehrheit tatsächlich für einen Verkauf stimmte. Begreiflicherweise wollte man das Evangeliar möglichst teuer verkaufen; der Erlös sollte zur Instandsetzung des Prager Domes verwendet werden. Das Domkapitel einigte sich auf eine Summe v o n 10000 Talern für den Codex. Palacky versprach, das Geschäft zu fördern , , . . . aus dem natürlichen Wunsche, daß ein Schatz wie dieser nicht länger auf dem Boden, dem er nicht entwachsen ist und daher auch nicht angehört, unbeachtet und für die Wissenschaft unbenutzt einem etwaigen immerhin möglichen zufälligen Verluste entgegengehe". A m 20. April 1861 wurde in Prag der Kaufvertrag unterzeichnet und der Kaufpreis ausgezahlt. Damit war das Evangeliar des L ö w e n Eigentum seines Nachkommen, des protestantischen Königs von Hannover geworden. A m 24. April 1861 abends um 19.00 Uhr wurde es ihm in einer Audienz übergeben. Dabei erklärte G e o r g V., daß es für ihn „ein Gegenstand besonderer Freude und ein G r u n d des tiefsten Dankgefühls gegen den allgütigen Gott sei, jenen herrlichen Schatz aus der Zeit Ihres großen Ahnen Heinrichs des L ö w e n den hiesigen Familien-Schätzen hinzufügen zu können". Der Codex wurde dem in der königlichen Schloßkapclle verwahrten Schatz hinzugefügt. Worte und Handlung des Königs belegen einmal die Bedeutung des Evangeliars als Geschichtsquelle für das Weifengeschlecht, zum anderen das historische Sendungsbewußtsein Georgs V. Die Prachthandschrift verband ihn mit Heinrich dem L ö w e n und hatte somit für ihn eine besondere Symbolkraft. Das sakrale, das heilige Buch wurde somit zum käuflichen Wertobjekt; man kann dies auch als Säkularisierungsvorgang ansehen. Denn G e o r g V. kaufte das Buch weder seiner Reliquien noch seines liturgischen Gebrauchs wegen, sondern wegen seiner eminenten Bedeutung f ü r Geschlecht und Geschichte der Weifen. Festzuhalten ist also, daß das liturgische Werk im 19. Jahrhundert seinen gottesdienstlichen Z w e c k verlor und dafür Rang und Wert einer Geschichtsquelle erhielt. Darüberhinaus diente es zur Verherrlichung eines Fürstenhauses. Nach der Entthronung des Weifenkönigs 1866 blieb das Evangeliar Privateigentum des Weifenhauses und wurde in das Exil nach Gmunden mitgenommen. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde es v o m Eigentümer, dem Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Nachkommen des Königs von Hannoer, f ü r wissenschaftliche Studien Benutzern zur Verfügung gestellt, zunächst allerdings ausschließlich Kunsthistorikern.

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Es wurde von seinen Eigentümern auch weiterhin als Privateigentum betrachtet, allerdings als ein Objekt, dessen Wert sich durchaus in Geld ausdrücken läßt. Das Weifenhaus, das nach dem Zweiten Weltkrieg eigenen Angaben zufolge finanziellen Verpflichtungen verschiedener Art nachkommen mußte, entäußerte sich des Evangeliars, wobei die näheren Umstände unbekannt blieben. Als es bei Sotheby's versteigert wird, ist es in erhöhtem Maße zu einem Handelsobjekt geworden. Käufer ist in einer ungewöhnlich spektakulären Aktion, die sehr stark von Emotionen verschiedener Art begleitet wird, die öffentliche Hand in der Bundesrepublik Deutschland, unterstützt von Spendern. Es wird vertraglich festgelegt, daß das Evangeliar in einer wissenschaftlichen Bibliothek von Rangsowohl der Forschung als auch - in musealer Darbietung — dem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden soll. Die großes Aufsehen erregenden Begleitumstände wie auch die Spendenfreudigkeit zahlreicher Bürger der Bundesrepublik machen zugleich aber auch deutlich, daß es sich hier nicht nur um ein Objekt der Wissenschaft handelt, sondern auch um ein Dokument von nationalem Wert, in kultureller wie in historischer Hinsicht, auf das ein Volk, dem man zuweilen das Geschichtsbewußtsein abgesprochen hat, nicht verzichten will. „Eines der großartigsten Zeugnisse unserer Kultur ist durch die Solidaraktion von öffentlicher Hand und engagiertem Bürgertum nun zurückgekehrt. Sie ist Ausdruck des Selbstverständnisses unseres Volkes, welches von den zukünftigen Generationen bewahrt und fortgesetzt werden wird", so urteilte Hermann J . Abs, einer der Hauptbeteiligten bei der Ersteigerung, über den Zweck des Kaufes. Schlagzeilen oder Uberschriften in Zeitungs- und anderen Artikeln, in denen von „Rückkehr" oder „Heimholung" des Evangeliars gesprochen wurde, unterstreichen diese Auffassung. Fassen wir zusammen: Ein und dasselbe kostbar ausgestattete Buch von hoher liturgischer, historischer und künstlerischer Bedeutung steht in den vergangenen Jahrhunderten wie gegenwärtig verschiedenen Auffassungen gegenüber. Man kann sagen, daß nahezu jede Generation, die mit dem Evangeliar in Berührung stand, ihm ihre eigene Wertvorstellung gab. Alle haben ihre Berechtigung. Denn nur durch die unterschiedlichen Auffassungen der Stifter, Hersteller, Besitzer, Käufer, Leser, der Benutzer schlechthin erhält das Buch seine Bedeutung und seinen Wert. Der Wandel der Auffassungen in den einzelnen Perioden der Geschichte ist dabei das Wesentliche: Er garantierte - und garantiert - das Weiterleben des Buches, in unserem Falle des Evangeliars Heinrichs des Löwen 45 .

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IV Aus unseren bisherigen Überlegungen ergibt sich, daß die Erforschung der Rezeptionsgeschichte des Buches sich mit einer noch so gut begründeten Betrachtung des Buches als Massenartikel für ein mehr oder weniger anonymes Massenpublikum nicht begnügen darf. So wichtig und ergebnisreich derartige sozialgeschichtlich orientierte Untersuchungen auch sind, sie bedürfen, gerade wenn sie so exakt durchgeführt werden wie in dem anfangs zitierten Aufsatz von McCarthy, der Ergänzung durch die Betrachtung des Buches als Einzelobjekt für einzelne, nicht anonym bleibende Personen (Leser, Besitzer, Hersteller u. a.). In der Untersuchung von McCarthy wird bereits mehrfach - wenn auch in Ansätzen - darauf hingewiesen, daß die Rezeptionsgeschichte des Buches nicht bei Leserschichten und Lesegewohnheiten aufhört. Der zentrale Gedanke unserer Darlegungen und damit des vorliegenden Bandes ist daher, das einzelne, konkrete Buch in seiner einmaligen Individualität als Handschrift, als Inkunabel, als Druck in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen, d. h. von ihm anstatt von Lesern oder Leserschichten auszugehen. Seiner individuellen Geschichte, seinem Schicksal ist nachzugehen, wie es in minutiöser Weise etwa die Provenienzforschung getan hat und tut. Ziel unserer Untersuchungen ist aber nicht die bloße Erforschung der Herkunft und der Geschichte eines Buches, sondern mit deren Hilfe die Wirkung des Buches auf eine bestimmte individuelle Person zu ermitteln (bzw. auf mehrere Personen zugleich oder nacheinander). Es handelt sich dabei also um die Untersuchung eines oftmals recht komplexen und folgenreichen Aufeinandertreffens zweier Individuen, des Individuums „Buch" und des Individuums „Mensch". Ein und dasselbe Buch, sei es handschriftlich oder gedruckt, kann im Verlauf seiner zuweilen Jahrhunderte umfassenden Geschichte auf eine Anzahl von Personen treffen, deren Ansichten, Intentionen, Sichtweisen, Wertvorstellungen hinsichtlich dieses Buches gleich, ähnlich oder sehr unterschiedlich waren. Es kann, entsprechend diesen Auffassungen, gleiche, ähnliche oder unterschiedliche, zuweilen sogar gegensätzliche Wirkungen ausgeübt haben. Dementsprechend gestaltet sich seine Geschichte. Bei jedem nachweisbaren Leser oder Benutzer sind dieselben Fragen zu stellen: Welche Auffassung hatte er von dem Buch? Aus welchem Grund erwarb er es? Welche Bedeutung hatte es für ihn, für welchen Zweck wollte er es verwenden, welchen Wert gab er ihm, welche Anregungen empfing er von ihm, welche Gedanken bewegten ihn beim Lesen? Nicht immer werden sich diese und ähnliche Fragen schlüssig und lückenlos beantworten lassen, aber immer geht es um das persönliche Verhältnis einer bestimmten Person zu einem bestimmten Buch und um die daraus resultierende Wirkung. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß nur einzelne, ausgewählte Bücher als Gegenstand derartiger Untersuchungen in Betracht kommen, obwohl theoretisch

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die Zahl der in Frage kommenden Bücher so groß ist wie die Zahl der überhaupt existierenden. Die Praxis zeigt jedoch, daß die Zahl sehr viel geringer ist, da bei weitem nicht alle Bücher mangels fehlender Belege für unsere Untersuchungsweise brauchbar sind. Entsprechend unserer Verfahrensweise entstehen auf diese Art Einzelporträts bzw. Individualporträts von Büchern. Dabei soll besonders der Gedanke des ersten Teils des Terentianus-Verses, der „captus lectoris", berücksichtigt werden, d. h. das Individuelle eines Buches ist in Beziehung zu setzen zu den individuellen Interessen der Bücherleser, -besitzer, -benutzer. Schließlich ist zu untersuchen, wie sich in den Wirkungen des Buches kulturelle und politische Entwicklungen widerspiegeln. Diese Einzelporträts sind keine unverbundenen oder beliebigen Mosaiksteine, sondern sollen zusammengefaßt Einblicke ermöglichen in die verzweigte geschichtliche Entwicklung unserer Kultur. Was Alphons Lhotsky vor einer Reihe von Jahren (im Anschluß an Wilhelm Dilthey) über die Bedeutung der Bibliotheksgeschichte anmerkte, daß sie nämlich nicht nur das Wachstum und die Verwaltung der Bücherbestände darzustellen habe, sondern daß die Bibliotheken auch in ihren kulturhistorischen Zusammenhängen zu erkennen und zu untersuchen seien 46 , das läßt sich auf die Buchgeschichte und in besonderem Maße auf die Geschichte einzelner Bücher übertragen. Denn nicht nur Bibliotheken sind historische Denkmäler, Zeugen „für kulturhistorische und gesellschaftliche Veränderungen hohen und höchsten Ranges" 4 7 , Bücher sind es ebenfalls. Auch sie sind als Erscheinungen der „Zeitkulturen und ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, nicht zuletzt politischen Voraussetzungen zu erkennen und nachzuweisen" 4 8 , sowohl in ihren exzeptionellen Ausführungen als auch in ihren typischen Gestaltungen. Das individuelle Moment, das sowohl bei einem kostbar ausgestatteten Luxusbuch wie bei einem schlichten Gebrauchsbuch vorhanden sein kann, zielt auf den schöpferischen Menschen, der bei dieser Art der Buchrezeption im Blickpunkt der gesamten Untersuchung steht: „ W i r müssen uns von dem Zwang freimachen, alles nur nach der Quantität zu messen, und müssen erkennen: wenn eines dieser Bücher nur alle zehn oder auch nur alle hundert Jahre auf einen Leser trifft, in dem es fruchtbar weiterwirkt, in dem es Saiten zum Klingen bringt, die vorher nicht geklungen haben, in dem es etwas aufschließt, was vorher verschlossen war, so ist der Zweck dieses Buches erfüllt" 4 9 . Die Erforschung der äußeren Geschichte von Handschriften und älteren Drukken ist nichts grundlegend Neues, bieten doch zahlreiche Provenienzuntersuchungen etwa in modernen Faksimileausgaben derartige Ermittlungen. Sie berichten mehr oder weniger ausführlich über die einzelnen Abschnitte der Geschichte des Buches, zumeist auch über das Verhältnis zu dessen Besitzern und Benutzern. Um aus der Vielzahl der Beispiele nur eines aus jüngster Zeit herauszugreifen: Im Kommentar zum Faksimile des ältesten deutschen Buches, der St. Galler AbrogansHandschrift - eines lateinisch-deutschen Wörterbuches, das nach seinem ersten

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Wort benannt ist - werden im Kapitel „Aus der Geschichte der St. Galler ,Abrogans'-Handschrift" die „Bibliotheksgeschichte" und die „Benutzungsgeschichte" ( 1 7 . - 2 0 . Jahrhundert) behandelt50. Andere Kommentare von Faksimileausgaben oder von Editionen verfahren in gleicher oder ähnlicher Weise. Unsere Fragestellung geht jedoch weiter, denn die reine Provenienzerforschung geht nicht den Wirkungen nach, die das Buch auf einzelne Personen ausübte, zumindest nicht im Regelfall. Daher ist sie zwar Voraussetzung für unsere Fragestellung, nicht jedoch identisch mit ihr. Es ist ein Unterschied, ob dieselben illuminierten Epen, Historienbücher und Livres d'heures als wertvolle Stücke der Schatzkammer betrachtet wurden wie von Kaiser Friedrich III. oder als Gegenstände zur Verherrlichung des kaiserlichen Hauses und seines höchsten Repräsentanten wie von seinem Sohn Maximilian 51 . Ansätze für unsere Fragen finden sich auch in Spezialuntersuchungen der letzten Jahre. Die Richtung findet sich in aller Deutlichkeit in einer geradezu klassischen Formulierung von Paul Oskar Kristeller ausgedrückt:,,... wir haben gelernt, die einzelne Handschrift nicht nur als abstraktes Element für eine Statistik der Lesarten zu behandeln, sondern als ein konkretes individuelles Buch mit einer einzigartigen Physiognomie und Geschichte" 5 2 . Auch andere neuere Publikationen vertreten diese Auffassung, zumeist jedoch eher angedeutet als ausgeführt. Das gilt sowohl für den anglo-amerikanischen als auch für den europäischen Bereich, einschließlich Osteuropa. In dem Aufsatzband „Manuscripts and Readers in FifteenthCentury England", der 1981 in York gehaltene Vorträge vereinigt, stellt der Herausgeber Derek Pearsall einführend fest: " T h e days are gone when a palaeographer could be dismissed as soon as his job of dating a manuscript was done, or a manuscript dismissed as soon as it was discerned to be of little value to 'the critical edition'... The tyranny exerted by 'the critical edition' is now recognised, and scholars are learning the value o f ' b a d manuscripts': how in the work of interfering and meddling scribes, for instance, can be seen the activities of our first literary critics" 5 3 . In seinem Aufsatz „Kirchliche Publizistik in spätmittelalterlichen Handschriften aus Polen" fordert Edward Potkowski Spezialkataloge mit detaillierten „Angaben zur Feststellung der Besitzer bzw. Leser und des Abnehmerkreises; außerdem Angaben zur Wirkungsforschung, d. h. zur Ermittlung des Einflusses, den diese Texte auf die Einstellungen, Überzeugungen und Emotionen von einzelnen Abnehmern oder Gruppen von ihnen ausgeübt haben" 5 4 . Der sowjetische Historiker Aleksandr S. Myl'nikov hat die Formel aufgestellt „Die Geschichte einer gegebenen Büchersammlung bzw. die Geschichte eines gegebenen Einzelexemplars ist die Analyse des Bücherrepertoires der gegebenen Epoche" 5 5 . Die Münchener Germanistin Gisela Kornrumpf fordert dazu auf, die erhaltenen Zeugnisse wirklich historisch zu lesen, „denn es sind Text-Zeugen und Zeugen des Gebrauchs" 5 6 ; die Gothaer Bi-

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bliothekarin Maria Mitscherling hat nachmittelalterliche Handschriften im Auge, wenn sie im Vorwort ihres Kataloges der Gothaer Lutherhandschriften feststellt: „Die Lutherhandschriften können überdies auch unter anderem als textkritischem Blickwinkel betrachtet werden. So lohnt es sich beispielsweise, den Fragen der Lutherrezeption durch die Jahrhunderte nachzugehen. Was wird handschriftlich tradiert? Von wem? Zu welchem Zwecke?" 5 7 Das sind ebenfalls unsere Fragen. Wieland Schmidt hat als einer der ersten in seiner Untersuchung über die Goethe-Ausgabe der Witwe des Germanisten Wilhelm Scherer, Marie Scherer, ein Beispiel für diese Darstellungsart gegeben 58 . Die Besitzerin des Exemplars der „Vollständigen Ausgabe letzter Hand" hat in den einzelnen Bänden Unterstreichungen und Anstreichungen gemacht, die sich in Beziehung setzen lassen zu Ereignissen ihres Lebens, zu Todesfallen, zu Stunden der Trauer und der Freude. So zeigt gerade dieses Exemplar einen bestimmten „captus" der Besitzerin: Goethes Text war für sie nicht nur Literatur oder literarisches Erlebnis, er gab ihr auch Trost und Stärkung in verschiedenen Lebenslagen, Halt in bestimmten Wendepunkten ihres langen Lebens, und zwar einzig in dem vorliegenden Exemplar, das von dem geliebten, früh verstorbenen Gatten stammte, der es wiederum von seinem Freund und Kollegen Karl Müllenhoff geschenkt erhalten hatte und es - als Goethephilologe - seinerseits bereits mit Bemerkungen und Anstreichungen versehen hatte. Diese für die Schicht der Gebildeten im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so charakteristische Wirkung des Buches an einem konkreten Exemplar mittels der Erforschung der Biographie der Besitzerin so minutiös dargelegt zu haben, zeigt die Effektivität dieser Untersuchungsmethode.

V Zum Schluß sei noch einmal zusammenfassend auf die bereits mehrfach genannten Quellen und auf die Methodik unserer Untersuchungsweise eingegangen. Zur Ermittlung der Geschichte eines einzelnen konkreten Buches (bzw. einer kleinen, überschaubaren Gruppe von zusammengehörigen Büchern) und seiner Wirkung auf eine bestimmte Person (bzw. auf eine Gruppe von zusammengehörigen Personen) ist zunächst das Buch mit seinen in ihm vorhandenen Angaben als Quelle heranzuziehen. Dazu gehören: Namen der Besitzer oder Benutzer, Exlibris, Wappen, Widmungseintragungen, Devisen, Signaturen, Lesenotizen, Anmerkungen, Korrekturen, bibliothekarische Eintragungen, gegebenenfalls auch An- und Unterstreichungen. Hinzu kommen Quellen außerhalb des Buches, die sich auf das Buch beziehen bzw. beziehen lassen: Eintragungen in Katalogen, Erwähnungen in der Literatur, ζ. B. in Briefen, Reisebeschreibungen, Dichtungen. Selbst kleinste Spuren können wichtige Hinweise geben. Die Quellenarten sind demnach diesel-

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ben, die von jeher für Provenienzuntersuchungen herangezogen wurden. Sie sind aber für unsere weitergehenden Untersuchungen, die den „captus lectoris" erkennen und herausarbeiten wollen, in Beziehung zu setzen mit dem Leben, dem Wirken und der Umwelt der jeweiligen Personen, seien es Besitzer, Leser, Käufer oder Verkäufer, um dadurch ihren Intentionen, Motiven, Interessen, Wertvorstellungen hinsichtlich des Buches näherzukommen, sie aufzudecken und klarzulegen. Insbesondere die Herausarbeitung der kulturellen und politischen Umwelt, in die ein bestimmtes Buch im Laufe seiner Geschichte mehr oder weniger intensiv hineingehörte, gestattet es, die Wirkung zu ermitteln, die dieses Buch - und nur dieses - in einer bestimmten Zeit hatte. Ausgehend vom Individuellen des Buches und der Personen führt der Weg der Untersuchung zur Feststellung allgemeiner kultureller und politischer Auffassungen einer oder mehrerer geschichtlicher Epochen. Dieser Weg ist methodisch in drei Schritten zurückzulegen: Zunächst ist das Buch selbst zu untersuchen, sind seine Angaben festzustellen und zu interpretieren. Zweitens sind die Biographien der Besitzer und Benutzer zu untersuchen, um den Platz festzustellen, den das Buch in ihrem Leben und Wirken einnahm. Ihre Motive und Interessen sind mit dem Buch in Beziehung zu setzen. Schließlich sind drittens Buch und Besitzer bzw. Leser in ihre jeweilige kulturelle und politische Situation einzuordnen, um festzustellen, in wie weit die Wirkung des Buches zeittypisch ist oder nicht. Die in den ersten beiden Schritten ermittelten Ergebnisse sind also den geistigen und politischen Strömungen der jeweiligen Zeit zuzuordnen. Der vorliegende Sammelband „ D e captu lectoris - Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert — dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken" versteht sich als Versuch, das Buch nicht als Massenartikel für anonyme Leserschichten zu sehen, sondern als konkretes Einzelstück für Individuen zu begreifen. Die Beiträge befassen sich mit der Wirkung einzelner Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke auf bestimmte Einzelpersonen vorwiegend des 15. und 16. Jahrhunderts, einer Epoche, die als eine Zeit besonderen geistigen Umbruchs gilt. Die Beiträge bieten Einzelporträts von Büchern und ihrer zeitbedingten Wirkung in der Art biographischer Skizzen. Wenn es sich dabei auch überwiegend um Exempla aus verschiedenen Gebieten wie Theologie, Geschichte, Literatur handelt, so dürften doch bereits einige Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Intentionen und Wirkungen in dieser kulturell sowie politisch so bewegten Zeit hervortreten. Herausgeber und Autoren möchten mit den Exempla dieses Sammelbandes einige Bausteine für eine Rezeptionsgeschichte des Buches liefern, bei der das Buch als Individuum für Individuen verstanden wird.

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Anmerkungen 1

K . W . Humphreys: The Book and the library in society. In: Library History 7 (1986) S. 105 - 1 1 8 . 2 Humphreys, S. 105. 3 Humphreys, S. 105. 4 Humphreys, S. 105. 5 Humphreys, S. 106. 6 Humphreys, S. 1 1 5 . 7 Humphreys, S. 1 1 4 . 8 Humphreys, S. 1 1 4 . 9 Humphreys, S. 1 1 8 . 10 John A. McCarthy: Lektüre und Lesertypologie im 18. Jahrhundert ( 1 7 3 0 - 1 7 7 0 ) . Ein Beitrag zur Lesergeschichte am Beispiel Wolfenbüttels. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8 (1983), S. 3 5 - 8 2 . 11 McCarthy, S. 37. 12 Rene König: Geschichte und Sozialstruktur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 (1977), S. 141. - McCarthy, S. 49. 13 McCarthy, S. 81. 14 McCarthy, S. 5 7. 15 McCarthy, S. 40. 16 McCarthy, S.68. 17 McCarthy, S. 62. 18 McCarthy, S. 42. 18 " Georg Jäger: Historische Lese(r)forschung. In: Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Paul Raabe zum 60. Geb. gewidmet. Wiesbaden 1987, S. 4 8 5 - 5 0 7 . 18b Jäger, S. 499. 19 Levin Ludwig Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung 1923. Leipzig 1931. 3. neu bearb. Aufl. Bern u. München 1961 (Dalp-Taschenbücher 354). 20 Wilhelm Voßkamp: Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Studien zum 18. Jahrhundert I. Hrsg. v. Bernhard Fabian u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Nendeln 1978, S. 5 5 f. 21 Wieland Schmidt: Art. „ B u c h " in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Bd. 1, Berlin 1958, S. 195 f. 22 Wieland Schmidt: Vom Wesen des Buches. Ein Versuch. In: Gutenberg-Jahrbuch 1952, S. 1 9 7 - 2 0 8 . Wieder abgedr. in: Wieland Schmidt, Kleine Schriften. Wiesbaden 1969, S. 1 5 - 3 0 . 23 Schmidt, S. 207. 24 Schmidt, S. 200. 25 Schmidt, S. 201. 26 Schmidt, S. 201 f. 27 Schmidt, S. 202. 28 Schmidt, S. 202. 29 Schmidt, S. 204. 30 Schmidt, S. 202 f. 31 Signaturen: Li 5530 (35, 590); Li 5530 (38, 662); Li 5530 (69, 1394).

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Peter Suhrkamp: Über das Lesen. In: Peter Suhrkamp, Der Leser. Reden und Aufsätze. Berlin u. Frankfurt a. M. 1960 (Bibliothek Suhrkamp Bd 55), S. 9 - 2 1 . 33 Suhrkamp, S. 10. - 34 Suhrkamp, S. 19. 35 Suhrkamp, S. 10 f. 36 Suhrkamp, S. 16 f. 37 Suhrkamp, S. 11 f. 38 Peter Suhrkamp: Wozu eine Bibliothek. In: Peter Suhrkamp, Der Leser. Reden und Aufsätze. Berlin u. Frankfurt a. M. 1960 (Bibliothek Suhrkamp Bd. 55), S. 2 2 - 2 9 . 39 Suhrkamp, S. 27f. 40 Zu Petrarca und seinen Lieblingsbüchern vgl. Wolfgang Milde: Petrarch's List of Favorite Books. In: Res Publica Litterarum. Studies in the Classical Tradition 2 (1979) S. 2 2 9 - 2 3 2 . 41 Terentianus Maurus: De litteris de syllabis de metris libri tres. In: Grammatici Latini Bd 6, hrsg. von Heinrich Keil. Leipzig 1874, S. 363 (Vers 1286). Dies in der Spätantike viel benutzte Lehrbuch war im Mittelalter verschollen und wurde erst 1493 in einer Bobienser Handschrift wiederentdeckt, die - inzwischen wieder verloren - der Editio princeps Mailand 1497 zugrunde liegt. - Unerwartet falsche Verfasserzuweisung ζ. B. in: Nouvelles du Livre Ancien, Nr. 48 Oct. 1986, S. 1 (Ovid zugeschrieben). 42 Für Mithilfe bei der Übersetzung danke ich Herrn Peter Mortzfeld Μ. Α., Wolfenbüttel. 43 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert... hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften . . . Bd 2, L f g 2. München 1969, Sp. 256. 44 Kurt Lindner: Pro captu lectoris . . . Betrachtungen eines Büchersammlers. Vortrag, gehalten am 12. Nov. 1977 anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Bibliotheca Tiliana. Alte Jagdbücher aus aller Welt" in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bremen u. Wolfenbüttel 1978 (Wolfenbütteler Hefte 5), S. 29^ 45 Ausführlichere Angaben darüber: Wolfgang Milde: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Ein Überblick. In: Philobiblon 30. 1986, S. 1 9 3 - 2 0 9 . - Klaus Jaitner: Georg Heinrich Pertz, die Monumenta Germaniae Historica und die Wiederentdeckung des Evangeliars Heinrichs des Löwen (1860/61). In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 42 (1986), S. 421—438. — Hermann J . Abs: Die Rückkehr eines der großartigsten Zeugnisse unserer Kultur. In: Evangeliar Heinrichs des Löwen. Dokumentation zur autorisierten Faksimile-Ausgabe. Frankfurt a. M. 1985, S. 7. 46 Alphons Lhotsky: Zur Frühgeschichte der Wiener Hofbibliothek. In: Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung 59. 1951, S. 3 2 9 - 3 6 3 . 47 Lhotsky, S. 331. is Lhotsky, S. 332. 49 Wieland Schmidt: Vom Sinn und Wert der Bibliotheken. Vortrag zur Eröffnung des Hauses der Bibliotheken in Dortmund am 2. Juli 1958. 2. Aufl. Dortmund 1959 (Dortmunder Vorträge 5), S. 9. Wieder abgedr. in: Wieland Schmidt: Kleine Schriften. Wiesbaden 1969, S. 4 6 - 5 7 ; das Zitat S. 52 (mit dem sinnstörenden Fehler „ . . . alle hundert Jahre auf den Leser t r i f f t . . . " anstatt richtig „einen Leser trifft"). 50 Das älteste deutsche Buch: Die „Abrogans"-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen. Im Facsimile hrsg. u. beschrieben von Bernhard BischofF, Johannes Duft, Stefan Sonderegger. 2 Bde. St. Gallen 1977. 51 Vgl. Franz Unterkircher: Maximilian I. Ein kaiserlicher Auftraggeber illustrierter Handschriften. Hamburg 1983, S. 10. 52 Paul Oskar Kristeller: Handschriftenforschung und Geistesgeschichte der italienischen Renaissance. Wiesbaden 1982 (Akademie der Wissenschaften u. der Literatur Mainz, Abh. d. geistes- u. sozialwiss. K l . 1982, Nr. 7), S. 4.

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Wolfgang Milde Manuscripts and Readers in Fifteenth-Century England. T h e Literary Implications o f Manuscript Study. Essays from the 1981 Conference at the University o f York. Ed. by Derek Pearsall. Cambridge 1985, S. 1. - V g l . auch: T h e Role o f the Book in Medieval Culture. Proceedings of the Oxford Internat. Symposium . . . 1982 ed. by Peter Ganz. 2 Bde. Turnhout 1986 (Bibliologia 3 u. 4). Edward Potkowski: Kirchliche Publizistik in spätmittelalterlichen Handschriften aus Polen. In: Probleme der Bearbeitung mittelalterlicher Handschriften. Hrsg. von Helmar Härtel, Wolfgang Milde, Jan Pirozyfiski u. Marian Zwiercan. Wiesbaden 1986 (Wolfenbütteler Forschungen 30), S. 315. Aleksandr S. M y l ' n i k o v u. Wolfgang Milde: Handschriftliche Slavica der Herzog August Bibliothek. In: Wolfenbütteler Beiträge 7, 1987, S. 91. Gisela Kornrumpf: Handschriftenkataloge und Überlieferungsgeschichte. In: Beiträge zur Überlieferung und Beschreibung deutscher Texte des Mittelalters. Referate der 8. Arbeitstagung österr. Handschriften-Bearbeiter . . . 1981 in Rief bei Salzburg. G ö p p i n g e n 1983 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik) S. 2. Maria Mitscherling: Die Lutherhandschriften der Forschungsbibliothek Gotha. G o t h a 1983 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 21) S. 8. Wieland Schmidt: Scherers Goetheausgabe. Aus der geheimen Geschichte der Berliner Germanistik. In: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag . . . Berlin 1963, S. 411—426. Wieder abgedr. in: Wieland Schmidt: Kleine Schriften. Wiesbaden 1969, S. 2 7 7 - 2 9 2 .

Dürers theoretische Schriften und ihre Leserschaft Fedja

An^elewsky

Dürers Bestrebungen, sich die theoretischen Grundlagen seiner Kunst zu erarbeiten, lassen sich bis in die Zeit seiner ersten Reise nach Venedig (1494/95) zurückverfolgen. Der Künstler selbst schreibt darüber aus späterer Sicht im Jahre 1523 in seinem Entwurf zur Widmung seiner „Unterweisung der Messung" an Willibald Pirckheimer: „ J d o c h so ich keinen find, der do etwas beschrieben hett van menschlicher mas zw machen, dan einen Jacobus genennt, van Venedig geporn, ein lieblicher moler. Der wies mir man vnd weib, dy er avs der mas gemacht het, vnd das ich awff dyse zeit liber sehen wolt, was sein mainung wer gewest dan ein new kunigraich, vnd wen ichs hett so wolt jch ims zw eren jn trug pringen, gemeinem nutz zw gut. Aber ich was zw der selben zeit noch jung vnd het nie van solchem ding gehört. Vnd dy kunst ward mir fast üben, vnd nam dy ding zw sin, wy man solche ding möcht zw wegen pringen. Dan mir wolt diser forgemelt Jacobus seinen grunt nit klerlich an tzeigen, das merkett ich woll an j m . " 1 Die vor allem in den Kupferstichen mit allegorischen Themen 2 seit etwa 1496/97 zu beobachtenden Bemühungen um die Darstellung der nackten menschlichen Figur — zunächst nur des weiblichen, bald aber auch des männlichen Aktes — zeigt mit aller Deutlichkeit, daß ihn die Beschäftigung mit der Frage der menschlichen Proportionen nie wieder losgelassen hat. Das zweite Problem der theoretischen Grundlagen der Kunst des Malens stellte die geometrisch konstruierbare Perspektive dar. Dürers Versuche auf diesem Gebiet lassen sich bis in die gleiche Zeit zurückverfolgen. Josef Meder hat gezeigt, daß bereits in der zwischen 1494 und 1496 anzusetzenden Albertina-Passion Dürer die Räume der Dornenkrönung und der Geißelung mit einem einheitlichen Fluchtpunkt konstruiert hat3. Uber diesen Stand ist Dürer in den nächsten Jahren, bis hin zur zweiten Reise nach Italien, kaum hinausgelangt. Auch die Reise nach Bologna im Herbst des Jahres 1506, von der er sich in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse erhofft hatte, blieb enttäuschend 4 . Fortschritte in seinen theoretischen Kenntnissen auf dem Gebiet der Perspektive erbrachte jedoch das Studium der in Venedig 1506 erworbenen Ausgabe des Euklid von 1505 5 .



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Das Studium der Schriften des antiken Mathematikers dürfte für Dürer ausschlaggebend gewesen sein, daß er sich entschloß, seinem geplanten Lehrbuch über die Malerei, das ursprünglich den Titel „speis der maier knaben" 6 tragen sollte, eine Einleitung in die Geometrie voranzuschicken. Für die Proportionslehre, die Perspektive und die meisten anderen der vorgesehenen Themen des Malerbuches bildete die Geometrie die unabdingbare Voraussetzung, die durchaus nicht alle Maler seiner Zeit beherrschten. E r selbst hatte das Glück gehabt, in Michael Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff zwei mit der Mathematik vertraute Lehrmeister zu haben, von denen es in der Schlußschrift der lateinischen Ausgabe der Schedeischen „Weltchronik" hieß, sie seien „magistri mathematicae peritissimi" gewesen 7 . Dürer hat vermutlich schon bald nach der Rückkehr aus Italien, im Februar 1507, begonnen, sich mit den Problemen der Mathematik auseinanderzusetzen. Wie weit er dabei die Hilfe seines Freundes Pirckheimer in Anspruch genommen hat, bedürfte noch intensiver Untersuchung. Die von Rupprich vertretene Auffassung 8 , Pirckheimer habe Dürer ζ. B. die Passagen aus dem Euklid in die Feder diktiert, wird in der neuesten Forschung in Frage gestellt9. Die in London aufbewahrten Fragmente zur „Unterweisung der Messung", die aus der Zeit von etwa 1509/10 stammen, zeigen Dürer bereits mit der Konstruktion der Archimedischen Spirale beschäftigt. Alles weitere Material der folgenden Jahre betrifft bereits die abschließenden Reinschriften 10 . Der nächste erkennbare Entwicklungsschritt auf diesem Gebiet ist dann sein 1525 im Druck erschienenes Buch „Unterweisung der Messung mit Zirkel und Richtscheid". Wie das jüngst in der Bayerischen Staatsbibliothek wiederentdeckte Handexemplar der „Unterweisung der Messung" mit Dürers eigenen Korrekturen und Ergänzungen 11 beweist, erschien es ihm selbst durchaus der Verbesserung bedürftig. Diese von ihm gewünschten Änderungen sind tatsächlich nach seinem Tode in die zweite, 1538 erschienene Auflage eingearbeitet worden. Dürer hatte sich bei der Abfassung des Textes keineswegs auf eine Einführung in die Geometrie, die von Punkt und Linie bis zu den Kegelschnitten sowie zu den Konstruktionen regelmäßiger vielseitiger Körper reichte, beschränkt, er hatte auch bereits einige praktische Anwendungsgebiete behandelt: Gestaltungsprinzipien von Buchstaben in gotischer und in Antiquaschrift, die Konstruktion von Sonnenuhren, Säulen und Denkmälern und schließlich, als Hauptgrund des ganzen Buches, die Schattenkonstruktion und die Perspektive mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten des perspektivischen Zeichnens unter Zuhilfenahme verschiedener Apparate. Dieses umfangreiche Programm sollte nach Dürers - in der Einleitung zu diesem Buch ausgedrückten — Meinung bei Künstlern und Handwerkern verschiedenster Art das Interesse zum Studium wecken, und das hieß natürlich auch zum Kauf. Einen Käufer- oder Interessentenkreis hat Dürer dabei anscheinend übersehen oder aus Bescheidenheit nicht mitaufgeführt, obwohl er einem aus ihrer Mitte,

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nämlich Willibald Pirckheimer, sein Werk gewidmet hatte: die Humanisten. Gerade v o n ihnen aber sollte - wie noch zu zeigen sein wird - das Echo kommen, während die deutschen Künstler und Handwerker offensichtlich damals noch nicht die notwendigen geistigen Voraussetzungen mitbrachten, um L o b oder Widerspruch schriftlich äußern zu können. Vergegenwärtigt man sich jedoch, daß innerhalb von dreizehn Jahren eine zweite Auflage möglich und vermutlich auch notwendig war, dann läßt sich daraus ersehen, daß ein verhältnismäßig großer Bedarf und ein bedeutendes Interesse an einem Buch über Geometrie in deutscher Sprache bestanden haben muß. Dürer hat nämlich mit seiner „Unterweisung der M e s s u n g " nicht allein ein bedeutendes mathematisches Lehrbuch geschaffen, sondern auch einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die v o n den Griechen geprägten Begriffe der Geometrie in Deutschland heimisch zu machen, indem er sie in deutscher Sprache erläuterte. E s scheint sicher zu sein, daß ihm sein Freund Pirckheimer dabei hilfreich zur Hand gegangen ist. Wie weit diese Unterstützung im einzelnen reichte, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls lag Pirckheimer die L o g i k der euklidischen Geometrie weit mehr als die pythagoräische Zahlensymbolik, mit der Konrad Celtis mit Vorliebe spielte 12 . Dürer und Pirckheimer gesellten sich auf diese Weise den Vertretern des naturwissenschaftlichen Humanismus zu, der seit den Tagen Regiomontans in Nürnberg eine Reihe bedeutender Mathematiker und Astronomen hervorgebracht hatte. Aus Dürers Lebenszeit findet man bei Rupprich drei Äußerungen zu dem Buch. Schon am 28. N o v e m b e r des Erscheinungsjahres bittet Johann Schöner, der später Lehrer an dem 1526 gegründeten Nürnberger Gymnasium wurde, in einem Brief an Pirckheimer aus Kirchehrenbach 1 3 , dieser möge ihm behilflich sein, ein Exemplar des gerade erschienenen „libelli" Dürers zu beschaffen 1 4 . - Erasmus v o n Rotterdam bemerkt in einem ebenfalls an Pirckheimer gerichteten Schreiben v o m J u n i des folgenden Jahres, daß er sich bereits für das Buch Dürers bedankt habe 1 5 . — Wesentlich aufschlußreicher als diese beiden Stellen ist ein Brief, den Eufemia Pirckheimer an ihren Vater im Januar 1527 aus dem Kloster Bergen geschrieben hat. Sie berichtet, der Pfalzgraf Ottheinrich habe dem Kloster die dem Vater gewidmete „Unterweisung" in einem schönen Einband geschenkt. Die Malerin des Klosters sei aber der Meinung, sie könne auch ohne die Lektüre des Buches gut genug malen 16 . Vermutlich fühlte sich die Schwester angesichts der ζ. T. recht schwierigen geometrischen Probleme, die Dürer in seinem Werk behandelt hatte, weit überfordert. Sie war keineswegs die einzige, der es so erging. Der sich mit Anonymität umgebende Verfasser der 15 31 in Simmern erschienenen Schrift „ E y n schön nützlich Büchlein vnd vnderweisung der Kunst des Messens mit dem Zirkel Richtscheidt oder Linial." gibt gleich in der langen Titulatur zu erkennen, was er v o n Dürers „Unterweysung der M e s s u n g " hält, wenn er sagt: „Darinn man auch solche kunst leichter dann aufs etzlichen hieuorgedruckten büchern begreiffen vnd lernen m a g . . . " Deutlicher noch

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wird seine Einstellung in seinem Vorwort, das hier im Wortlaut folgt, da es die einzige ausführliche Stellungnahme eines Zeitgenossen ist: „Zu dem Leser.// Des Jars Fünffzehenhundert/ Fünffundzwentzig hat weilund Albrecht Dürer zu Nürmberg/ eyn weitberümbter/ kunstreicher Maler/ im druck verordent außzugeen/ zwey Büchlein/ eyns in seinem begriff/ anzuzeygen die kunst vnd vnderweisung der messung mit dem zirckel vn richtscheidt/ das ander die Proportz menschlicher Bild/ das sie recht vnd wolgestalt gemalt oder sunst gemacht werden sollen zu nutz allen kunstliebhabennden. Wiewol nun dieselben für die/ so eyns grossen verstannds/ villeicht dienlich/ auch deshalben vnuerächlich/ dan ie gemelter Albrecht Dürer/ dieser kunst nit alleyn verstannds genug/ sunder gantz gewissen gebrauch gehabt/ als das seine gemälde vnd kunstück die er gemacht/ beweisen. Jedoch als solche zwey Bücher/ an etliche dieser kunst auch bericht/ gelangt/ haben sie sich nit wol darauß verrichten mögen auch jung anhebende künstner/ so sich auß den angezeygten Büchern zulernen beflissen/ schwerlich ichts darauß erholen oder emphahen mögen/ vnd also zuachten/ es sei so vberkünstlich vnd vnbegreifflich gemacht/ das es alleyn den hochuerstendigen dienlich. Darumb eyner/ welcher die kunnst des messens/ malens vnd was darauß volgen mag (zu Latein Perspectiua genant) hieuor zum theyl auch gelernt/ vn volgends durch tegliche Übung ergründet/ sich vnternomen/ zu nutz vnd gut allen künstnern vnd kunstliebhabennden/ fürnemlich den Malern/ Bildhawern/ Goldschmiden/ Seidenstickern/ Steynmetzen/ Schreinern/ etcet. vnd welche mit dem zirckel/ richtscheidt oder linial vmgehen/ die kunst Perspectiua/ schlechter vnnd begreifilicher/ dann Dürers Bücher auß weisen/ anzuzeygen/ vnd mir Hieronimo Rodlern Fürstlichem Secretario zu Siemern/ dieselbig meynüg in eynem geschribenen Büchlin zugestelt hat/ das ich ferrer als eyner dieser kunst besunder liebhaber/ allen andern vnd sunderlich dem künstner so es gemacht/ zu dienst vnd gefallen/ gleich mit den Worten/ wie es mir zukommen in druck bracht/ gutter hoffnung/ es sollen die junge kunstbegirigen/ so darauß zulernen fürnemen/ behendern vnd statlichern grund (dann auß des Dürers Büchlin) leichtlich vn mit kleyner mühe begreiffen/ auch die meynster dieser kunst/ vnnd eyn ieder kunstliebhabender/ solch mein Büchlin neben Dürers vnuerächtlich in guttem annemen/ das bin ich zuuerdienen alle zeit willig." Was der Autor liefert, der nach der Beweisführung von Georg H. Spohn nicht wie allgemein angenommen - Hieronymus Rodler, der Sekretär des Herzogs Hans, Pfalzgrafen von Simmern, sondern der Fürst selbst gewesen ist 17 , sind ein paar Faustregeln zur perspektivischen Konstruktion. Das Hauptproblem, die Tiefenteilung, um deren Beherrschung Dürer sich viele Jahre bemüht hatte, war ihm jedoch überhaupt nicht bekannt, oder er hat es falsch verstanden. Von mathematisch exakter Grundlegung, wie sie Dürer in geradezu vorbildlicher Weise in seinem Werk geboten hatte, kann bei Herzog Hans keine Rede sein. Dürers wissenschaftlich fundierter Perspektive setzt der Pfalzgraf leicht verständliche Anweisun-

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gen entgegen, wie man räumliche Wirkungen auf dem einfachsten Wege zu erzielen vermag. So klar man in großen Zügen die Entstehung der „Unterweisung der Messung" verfolgen kann, so wenig weiß man über die Entwicklung zu Dürers zweitem gedruckten Buch 18 , das 1527 unter dem Titel „Etliche Unterricht zur Befestigung der Stett, Schlösser und Flecken" erschien. Ob dieses Werk zur Befestigungslehre und zur Stadtbaukunst auch als Teil des Malerbuches anzusehen ist, wie es vielfach angenommen wird, scheint nicht sicher 19 . Die Materie, die sich in manchen Punkten mit den Studien von Leonardo da Vinci berührt, geht aber weit über das hinaus, was Maler oder Kunsthandwerker zur vollendeten Beherrschung ihres Berufes wissen mußten. Unabhängig von dieser Frage verdankt das Buch seine Entstehung in erster Linie der damals akuten Türkengefahr. 15 24 hatte Dürer während des Nürnberger Reichstages den böhmischen Baumeister Tschertte kennengelernt 20 , der in seiner Eigenschaft als Festungsingenieur an den Beratungen zur Abwehr der Türken teilnahm 21 . Mit ihm mag Dürer die Probleme des Schutzes mittelalterlicher Stadtummauerungen gegen den Beschüß der von den Türken meisterlich gehandhabten schweren Belagerungsartillerie diskutiert haben. Dürers Buch erschien jedoch zu spät, um bei der Türkenabwehr noch hilfreich sein zu können. Die Spezialisten der Festungsarchitektur haben sich vom 19. Jahrhundert an bis heute mit geringem Erfolg bemüht, Spuren von nach dem Vorbild des Buches von Dürer gebauten Befestigungen zu finden. Mit Sicherheit läßt sich nur der Munot in Schaffhausen auf Dürers Ideen zur Festungsbaukunst zurückführen; alle anderen Anlagen, die man in Betracht gezogen hat, bleiben zweifelhaft 22 . Die Festungsbauer des 19. Jahrhunderts haben sich für Dürers Theorie besonders interessiert, weil man die seit seiner Zeit gültige Manier mit polygonalen Bastionen zu Gunsten von Rundbastionen, wie sie Dürer vorgesehen hatte, glaubte verlassen zu müssen. Eine einzige zeitgenössische Stimme zu dieser Seite von Dürers Tätigkeit hat sich erhalten. Am 22. Dezember 1529 berichtet der Sekretär des Bischofs Johann V. von Breslau aus der mit den Fuggern verschwägerten Zipser Familie Thurzo in einem an Pirckheimer gerichteten Brief: „librum Dureri legunt diligenter senatores, quiod hoc a republica sunt ordinati, ut sint solliciti de munienda urbe." 2 3 Schließlich konnte sich Dürer wieder dem eigentlichen Thema seiner mehr als zwanzigjährigen theoretischen Bemühungen zuwenden. In den letzten Monaten, die ihm noch zu leben vergönnt waren, beförderte er die Summe seines theoretischen Denkens über die Kunst unter dem Titel „Vier Bücher von menschlicher Proportion" zum Druck. Er hat auch noch die Korrekturen lesen können, aber nicht mehr das Erscheinen des Werkes erlebt. Sein Buch war die erste Schrift zur Kunsttheorie, die in gedruckter Form erschien. Keinem der großen italienischen Theoretiker von Leo Battista Alberti bis zu

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Leonardo da Vinci war es bis dahin gelungen, den gleichen Grad von Publizität zu erreichen; ihre Gedanken waren im besten Fall in einigen handschriftlichen Exemplaren über ganz Europa verteilt24. Durch den Druck wurden Dürers Ideen nicht allein einem wesentlich breiteren Publikum zugänglich, sie setzten ihn auch in einem Maße der Beurteilung durch die Leserschaft aus, die in keinem Vergleich zu dem stand, was die älteren Theoretiker betraf. Ihre Handschriften waren immer nur einigen Fachleuten und nur in Ausnahmefallen auch dem einen oder anderen besonders interessierten Liebhaber zugänglich gewesen. Zunächst meldete sich wieder eine der Töchter Pirckheimers aus dem Kloster Bergen. Dieses Mal schreibt Sabina an ihren Vater am 4. Febr. 15 29, man habe im Kloster von Dürers neuem Buch gehört und die Malerin sei sehr interessiert, es zu studieren 25 . Der Sinneswandel der Schwester-Malerin ist interessant, falls es sich noch um die gleiche handelte wie zwei Jahre zuvor. Für das rein mathematische Buch der „Unterweisung der Messung" hatte sie kein Interesse gezeigt; jetzt aber machte sie das Erscheinen der „Vier Bücher von menschlicher Proportion" zumindest neugierig. Nunmehr war es auch ein Thema, das selbst für die Malerin in einem Frauenkloster von Bedeutung sein mußte. Zwei weitere Nachrichten aus dem Jahre 1529 betreffen lediglich Bitten um Beschaffung der unlängst erschienenen Schrift Dürers durch Pirckheimer 26 . Am 26. Mai 1529 schreibt der Arzt Gabriel Hummelberger an ihn: „Scire enim abs te desidero, qui sit et qualis quantique precii liber Tureri Nurbergensis in rebus mathematicis, cuius olim mentionem fecit in Uteris suis ad fratrem meum dominus Conradus Adelmannus, canonicus Augustensis." - Johannes Hess, der Sekretär des Bischofs Johannes Thurzo von Breslau fügt seinem Schreiben vom 13. Juli 1529 jedoch hinzu: „Erunt enim in ornamentum aliorum librorum meorum." Dürers Buch war sowohl eine sprachliche als auch eine geistige Leistung. Bei aller Abhängigkeit in Einzelheiten von seinen italienischen Vorläufern hatte er doch vollkommen selbständige Lösungen für das Proportionsproblem gefunden und sich auch in der notwendigen sprachlichen Form mit eigenen Wortschöpfungen ausdrücken können. Es sei nur daran erinnert, daß man den Begriff „Landschaftsmalerei" zuerst bei ihm findet und daß er für das italienische „rinascimento" das Wort „Wiedererwachsung" geprägt hat. In der deutschsprachigen Fassung der Bücher des Nürnberger Maler-Humanisten bestand für die damalige Zeit ein entscheidender Mangel, denn sie verhinderte die Verbreitung seiner Werke über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus. Der Lehrer an der 15 26 neugegründeten Lateinschule zu Nürnberg, Joachim Camerarius (1500 — 15 74), der den schwierigen Auftrag übernommen hatte, die Proportionslehre schon im Erscheinungsjahr ins Lateinische zu übersetzen, begründete die von ihm und seinem Auftraggeber dabei verfolgte Absicht mit den Worten: ,,Ac ilium confido virtute meritisque innotuisse, non suae modo patriae sed exteris etiam

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nationibus." 2 7 Unter dem v o n Camerarius gewählten Titel „ D e symmetria partium humanorum c o r p o r u m " wurde Dürers Werk in allen Länden Europas bekannt und bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts auch in andere europäische Sprachen übersetzt 28 . Die Unterweisung der Messung, deren lateinische Übertragung Camerarius 1532 herausbrachte, war offensichtlich, wie es schon die Nonne im Kloster Bergen empfunden hatte, so ausgesprochen wissenschaftlich in ihrem Charakter, daß v o n den zehn Drucken, die bis zum Jahre 1606 erschienen, jeweils die Hälfte im Urtext und in Latein gedruckt worden sind. Die fünf Auflagen der Befestigungslehre sind nur in deutscher Sprache herausgegeben worden. Die lateinische Fassung der Proportionslehre muß es auch gewesen sein, in der Michelangelo gelesen hat, wie Ascanio Condivi in seiner 15 5 3 in Rom erschienenen „ V i t a di Michel Angelo Buonarroti" berichtet 29 . Michelangelo ist zweifellos v o n all denen, die sich über Dürers theoretische Schriften geäußert haben, der gewichtigste Kritiker gewesen. Wie Condivi berichtet, hatte Michelangelo das Sezieren zwar eingestellt, ging aber von Zeit zu Zeit mit dem Gedanken um, über seine Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie ein Buch zu schreiben. Der Biograph fahrt dann fort 3 0 : „ S o bene, che quando legge Alberto Duro, gli par cosa molto debole; vedendo col'animo suo quanto questo suo concetto fosse per esser piü bello e piü utile in tal facultä. Ε a dire il vero, Alberto non tratta se non delle misure e verieta de' corpi, di che certa regola dar non si puo, formando le figure ritte come pali: e quelche piü importava, degli atti e gesti umani non ne dice parola." (Ich weiß wohl, daß er den Albrecht Dürer liest, dieser ihm sehr schwach vorkommt, da er es in seinem Geiste sieht, um wie Vieles schöner und nützlicher dieser sein Entwurf über selbige Materie wäre. Und um die Wahrheit zu sagen, Albrecht handelt nur von den Maßen und der Verschiedenheit der Körper, davon man eine sichere Regel nicht geben kann und macht die Gestalten steif wie Pfahle; von dem aber, was das Wichtigste ist, v o n den menschlichen Gebärden und Bewegungen, sagt er kein Wort.) E s ist schwer zu unterscheiden, was in diesem Abschnitt tatsächlich Michelangelos Meinung wiedergibt und was Condivis Kommentar ist. K l a r wird zunächst, daß Michelangelo im Zusammenhang mit eigenen Publikationsplänen das bislang einzige Buch über den Körperbau des Menschen gelesen hatte: Dürers Proportionslehre. D a er, der an vielen Leichen den Aufbau des menschlichen Körpers studiert hatte, von ganz anderen Vorstellungen ausging, mußte ihn das Werk Dürers enttäuschen, da es - wie Condivi schreibt - nur von den Maßverhältnissen berichtet. Was Condivi weiterhin zu diesem Thema zu sagen hat, scheinen eher seine eigenen Erläuterungen zu Dürers Buch zu sein als daß er Gedanken Michelangelos referiert. Dennoch sind sie als Reaktion eines Italieners auf Dürers Proportionstheorie interessant genug, um näher betrachtet zu werden. Seine Bemerkung, Dürer habe über die Verschiedenheit der menschlichen Körper, w o v o n man keine sichere Regel aufstellen könne, berichtet, bleibt unklar. Meint er nun, die naturgegebene

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Ungleichheit menschlicher Gestalten mache es grundsätzlich unmöglich, eine einheitliche Regel über die menschlichen Proportionen aufzustellen? Dann würde er damit Dürers Erkenntnisse bestätigen. Die andere Deutung, die sich für seine Formulierung anbietet, würde besagen, Dürer habe soviel über die Verschiedenheit der menschlichen Proportionen geschrieben, daß sich daraus keine einheitliche Regel mehr ableiten lasse. Im Sinne der italienischen Renaissance dürfte die zweite Interpretation die zutreffende sein. Dafür spricht auch die Kritik an dem abstrakten Liniengerüst der Dürerschen Proportionsholzschnitte. Michelangelo, bzw. sein Biograph, hat völlig zutreffend erkannt, daß das, was Dürer 1528 unter dem Titel „Vier Bücher von menschlicher Proportion" veröffentlicht hatte, nach seinen ari antiken Vorbildern geschulten und durch selbst erarbeitete anatomische Kenntnisse untermauerten Vorstellungen, kein vollgültiges Proportionssystem mehr war. Dürer, dessen Studien auf dem Bestreben der italienischen Theoretiker der Frührenaissance, den Idealtypus zu finden, aufbaute, war bei der Ausarbeitung seiner Gedanken von der antiken Temperamentelehre bzw. von den ihnen entsprechenden vier Komplexionen ausgegangen. Äußerungen aus den Jahren 1508/09 lassen diese Wendung bereits deutlich erkennen 31 , z.B.: „Dan es sind fyrerley kumplex der menschen, wy dych des dy fisicy berichten kunnen." Noch deutlicher wird diese Richtung seiner Forschungen in dem Passus „van Schönheit"; schon im zweiten Satz bekennt er: „Was aber dy Schönheit sey, daz weis ich nit" 3 2 . Damit hatte er von vornherein auf die Suche nach der Idealproportion verzichtet, denn Schönheit und Idealmaße waren - zumindest für die Italiener gleichbedeutend gewesen. Am eindeutigsten geht seine Einstellung aus dem ersten Satz auf fol Τ 2V der Proportionslehre hervor: „Aber vnmöglich bedunckt mich so einer spricht er wisse die beste maß inn menschlicher gestalt anzuzeigen..." Die Gründe der von ihm angewandten Methode hat Dürer einige Jahre später formuliert 33 . Im Anschluß an die verlorenen Proportionslehren der antiken Theoretiker meint Dürer: „Dan sy (die antiken Schriftsteller) haben gesagt: der Jupiter soll ein solche proportz haben, der Abbollo ein andere, dy Fenus soll also sein, der Ercules allso, des gleichen mit den anderen allen." Wenige Zeilen weiter bringt Dürer sodann die Anwendung auf die eigene Zeit, indem er schreibt: „Dan zw gleicher weis, wy sy dy schönsten gestalt eines menschen haben zw gemessen jrem abgot Abblo, also wollen wijr dy selb mos prawchen zu Crysto dem herren, der der schönste aller weit ist 3 4 ." Wie eine Fortsetzung dieses Gedankenganges muten dann die folgenden Zeilen aus dem sogen. „Ästhetischen Exkurs" am Ende des dritten Buches der Proportionslehre an: „Aus solchem folgt, das sich kein gewaltiger künstner aufF ein art allein gebenn sol, sunder das er in villerley weg vnnd zu allerley art geübt vnd darynn verstendig sey" 3 5 . Dürer ist nicht bei den vier Typen der antiken Temperamente36 stehengeblieben, sondern hat in seiner Proportionslehre noch weitere, in sich stimmige Propor-

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tionen entwickelt und dazu die Methoden dargelegt, mit deren Hilfe man auf geometrischem Wege diese G r u n d t y p e n zu variieren v e r m a g . Damit w a r D ü r e r jedoch endgültig über den Bereich der Proportionsstudien im italienischen Sinn hinaus gelangt. D e n n wenn man die v o n ihm entwickelten Variationsmöglichkeiten des „ F ä l s c h e r s " , „ W ä h l e r s " , „ Z w i l l i n g s " , „ Z e i g e r s " und „ V e r k e h r e r s " in A n w e n d u n g brachte, h o b man damit zwar nicht die Proportionierung der F i g u r e n auf, jedoch konnte man - zumindest in Extremfällen — v o n Wohlgestalt nicht mehr sprechen 3 7 . V o m Standpunkt der italienischen K u n s t und Kunsttheorie w a r Michelangelos harsche Kritik an Dürers Buch daher v ö l l i g berechtigt. D a ß der große Florentiner die ganz anders geartete hohe geistige Leistung des N ü r n b e r g e r Meisters nicht erkannt hat und daher auch nicht zu w ü r d i g e n vermochte, ist ihm kaum als persönliche Beschränktheit zur Last zu legen; vielmehr haben nationale und zeitliche Begrenztheiten zu seinem Urteil wesentlich beigetragen. Faßt man die Stimmen der Zeitgenossen über Dürers theoretische Schriften zusammen, so läßt sich auf Seiten der Künstler, f ü r deren Bedarf D ü r e r seine Bücher doch in erster Linie verfaßt hatte, eine zögernde bis ablehnende Beurteilung feststellen, während die Gelehrten sein schriftstellerisches Werk mit deutlichem Enthusiasmus a u f g e n o m m e n haben. Die Kunstgeschichtsschreibung hat lange Z e i t die gleiche Einstellung zu Dürers theoretischen Arbeiten eingenommen wie die Künstler des 16. Jahrhunderts und seine kunsttheoretischen Bemühungen als eine A r t intellektuellen Sündenfall des großen Künstlers behandelt. Erst seit den Arbeiten von E r w i n Panofsky hat man begonnen, ihre wahre Bedeutung im Rahmen der europäischen Kunst und des europäischen Denkens zu verstehen. So hat es den Anschein, daß die unterschiedliche B e w e r t u n g v o n Dürers Schriften erst heute, viereinhalb Jahrhunderte nach Erscheinen, einer einheitlicheren und gerechteren Beurteilung und gründlicherer Kenntnis zu weichen beginnt.

Anmerkungen 1

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Albrecht Dürer: Schriftlicher Nachlaß. Hrsg. v. Hans Rupprich. B d i - 3 . Berlin, 1956-1969. Bd 1, S. 102 u.ö. - Zum Problem der Begegnung mit Jacopo de Barbari s. Fedja Anzelewsky: Dürer-Studien. Berlin 1983, S. 188f. Vgl. Anzelewsky 1983 und in meinem 1987 erschienen Kommentar zu Cod. lat. fol. 3 5 5 der Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz. Hrsg. v. F. J . Worstbrock u. F. Anzelewsky, S. 51. Josef Meder: Dürer-Katalog. Ein Handbuch über Dürers Stiche, Radierungen, Holzschnitte. Wien 1932, S. 22f. Vgl. Fedja Anzelewsky: Albrecht Dürer. Werk und Wirkung. Stuttgart 1980, S. 136. Fälschlich wird immer wieder geschrieben, das von Dürer erworbene Exemplar in Wolfenbüttel sei 1508 datiert. Tatsächlich heißt es aber im Impressum: Anno reconciliate divinitatis M D V VIII Kalendas Novembris" ( = 26.10.150;). Rupprich 1966, B d 2 , S. 1 3 1 , Nr. 3.

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Fedja Anzelewsky In der deutschen Ausgabe ist dieser Passus fortgelassen. Rupprich 1966, Bd 2, S. 3 7 5 - 3 7 8 . Niklas Holzberg: Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland. München 1981 (Humanistische Bibliothek. Abh., Texte, Skripten. Hrsg. v. Ernesto Grassi u. Eckhard Keßler. R. 1, Abh. B d 4 i ) , S. 69. Rupprich 1969, Bd 3, S. 3 1 9 - 3 6 3 . München Bayerische Staatsbibliothek: 4 0 L. impr. c.n.mss 1 1 9 . - Vgl. Thesaurus librorum. 425 Jahre Bayerische Staatsbibliothek (Ausst.). Wiesbaden 1983, Nr. 73. Vgl. Anzelewsky 1983, S. 194. Kirchehrenbach bei Forchheim hat Dürer auf seiner Eisenradierung von 1518 „ D i e Kanone" (B. 99) dargestellt. Rupprich 1956, Bd 1, S. 273, Nr. 89. Rupprich 1956, Bd 1, S. 275, Nr. 97. Rupprich 1956, B d i , S. 278, Nr. 110. G. H. Spohn: Der Simmerner Meister HH und der Autor der „Kunst des Messens" (Simmern 15 31): Herzog Johann II. von Pfalz-Simmern? In: Zeitschr. d. Vereins f. Kunstwiss. 27, 1973, S. 7 9 - 9 4 . Rupprich 1969, Bd 3, S. 3 8 5 - 4 2 3 , datiert sämtliche Vorarbeiten in die Jahre 1526/27. Dürers eigene Angaben zum Inhalt des Malerbuches (Rupprich Bd 2, S. 94, Nr. 1 u. 2) vom „Maß der Gebäude" könnten darauf hindeuten. Vgl. den Holzschnitt mit dem Wappen Tscherttes (B. 170). Tschertte leitete während der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 15 29 die Befestigungsarbeiten. Zum derzeitigen Stand der Forschung vgl. den Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel „Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden", Wolfenbüttel 1984, S. 349, Nr. 290. Rupprich 1956, Bd 1, S. 2 8 j f . , Nr. 136. So befand sich ζ. B. in der nachgelassenen Bibliothek des Joh. Regiomontanus in Nürnberg ein Exemplar von Alberti „Trattato della pittura". Vgl. Hans Petz: Urkundliche Nachrichten über den literarischen Nachlaß Regiomontans und Bernhard Walthers ( 1 4 7 8 - 1 5 2 2 ) . In: Mitt. Ver. Gesch. Nürnbergs 7 (1888), S. 254. Rupprich 1956, B d i , S. 282, Nr. 1 3 1 . Rupprich 1956, B d i , S. 283^, Nr. 133 u. 134. Rupprich 1956, Bd 1, S. 307, Ζ. 1 1 - 1 3 . Matthias Mende: Dürer-Bibliographie. Wiesbaden 1971, S. 4 6 1 - 4 6 5 . Die erste Ausgabe in italienischer Sprache erschien erst 1591 in Venedig. Ascanio Condivi: Vita Michelangelo Buonarrotti, Kap. 60. Dt. Übers. „Das Leben des Michelangelo Buonarroti" geschr. v. A. Condivi übers, v. R. Valdek, Wien 1874, S. 80f. Rupprich 1966, Bd 2, S. 1 0 1 , Z . 107 f. Rupprich 1966, Bd 2, S. 100, Z. 5 3 f. Zur Datierung vgl. Rupprich 1966, Bd2, S. 102, Nr. 2. Rupprich ist zuzustimmen. Rupprich 1966, Bd 2, S. io3f., Z . 7 - 1 0 u. 1 9 - 2 8 . Vier Bücher von menschlicher Proportion, Bl. Τ 4'. Hans Kauffmann: Dürers rhythmische Kunst. Leipzig 1924, hat als erster erkannt, daß Dürer hier bereits der Lehre Kretschmers von den menschlichen Phaenotypen nahegekommen ist. Vgl. Vier Bücher von menschlicher Proportion, Bl. S 6 r/v .

Ein alt verrunzelt buchlin... Johannes Trithemius — Vorbesitzer der Kasseler Tironischen Noten Hartmut Bros^inski und Konrad Wiedemann

Jeder kennt solche Fälle: Zwei Vorgänge führen, jeweils für sich gründlich erforscht und hinreichend gewürdigt, ein allerorts bekanntes Eigenleben. Nur daß sie zusammengehören, die beiden, das entgeht dem suchenden Auge. Die Rede ist vom Kasseler Codex notarum Tironis et Senecae1 auf der einen und dem Sponheimer Benediktinerabt Johannes Trithemius ( 1 4 6 2 - 1 5 1 6 ) auf der anderen Seite, beide ihrem Rang entsprechend seit Jahrhunderten Gegenstand intensiver Forschungsarbeit. Daß die jetzt in Kassel aufbewahrte Handschrift rund zehn Jahre lang - von 1496 bis 1505 - im Besitz des Sponheimer Bibliophilen war, dieses Detail im fast zwölfhundertjährigen Leben des Codex war nicht bekannt, wurde jetzt bei der Katalogisierung der Kasseler theologischen Handschriften entdeckt und ist Gegenstand dieser Arbeit. Eine kurze Zeitspanne nur, aber bei der Bedeutung des Trithemius im deutschen Humanismus und angesichts der Tatsache, daß er die alte und längst vergessene Kurzschrift wieder ans Licht geholt und für seine Polygraphia direkt verwendet hat, ist dieses Detail wohl der Betrachtung wert. Zunächst zur Handschrift selbst. Sie wird unter der Signatur 2 0 Ms. philol. 2 mit den Beständen der alten Landesbibliothek, die der letzte Krieg verschont hat, jetzt in der Handschriftenabteilung der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel — Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel - aufbewahrt. Der Pergamentcodex umfaßt 147 Blätter. Die frühere Blattgröße war 27,5 χ 19 cm, jetzt ist sie durch Schrumpfung infolge Hitzeeinwirkung bei der Brandkatastrophe vom 8. auf den 9. September 1941 unterschiedlich. Wie furchtbar dieses Feuer neben vielen anderen Handschriften auch dieser mitgespielt hat 2 , zeigt Bild 1: Sie schmolz zu einem bizarren Klumpen deformierter Blätter zusammen. Dank der unendlich mühseligen Arbeit von Erich Hübner, Freiburg, konnten die Blätter 1952 gestreckt werden (Abb. Br 1). 1982 fügte sie der Kasseler Restaurator Heinrich Döring wieder zu einem Bande zusammen. Die Handschrift ist zweispaltig beschrieben in karolingischer Minuskel, Auszeichnungsschriften sind Capitalis quadrata und Uncialis. Entstanden ist sie nach



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Bernhard Bischoff 3 um 800 vermutlich in Saint-Amand, Nordfrankreich. Der zwanzigzeilig geschriebene Text weist zwei Lücken auf: Nach Bl. 6 fehlt ein Blatt mit vermutlich 76 Noten, nach Bl. 7 sind es 5 Blätter mit fast 400 Noten. Der Schreiber hat sein Manuskript nach wohl römischer Vorlage noch einmal durchkorrigiert. Weitere Schreiber verbesserten dann sowohl Noten wie Wörter und ergänzten sie. Über die Bedeutung der Handschrift mit ihren 11 640 Zeichen herrscht Einigkeit: Sie enthält unstreitig die älteste und beste lexikalische Uberlieferung der tironischen Noten.4 Diese Wertschätzung fand ihren sichtbaren Ausdruck in der 1914 veranstalteten Faksimileausgabe 5 , die bemerkenswerterweise auch vom Deutschen Stenographenbund Gabelsberger finanziell unterstützt wurde. Die heute noch nicht ersetzten Grundlagen für die Erforschung der römischen und frühmittelalterlichen Kurzschrift legte neben Wilhelm Schmitz (1828 — 1898) und Emile Chatelain ( 1 8 5 1 - 1 9 3 3 ) vor allem zuvor schon Friedrich Kopp ( 1 7 6 2 - 1834). Kopp stammte aus Kassel, war hoher hessischer Beamter, bis er seine Verwaltungstätigkeit zugunsten seiner wissenschaftlichen Arbeit aufgab. Der zweite Teil seiner Palaeographia criticab, 1817 in Mannheim unter dem Titel Tachygraphia veterum erschienen und einer verständnisvolleren Nachwelt gewidmet, ist in Lexikonform nach Kopps Analyse der Zeichen und

Abb. Br 1: A. Hübner, Freiburg i. Br., bei der Restaurierung des Cassellanus, 1952. (Foto: Genzier, Freiburg)

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Gruppen, in die sie formal gehören, geordnet. Dazu griff er auf den Kasseler Codex zurück. So sind die beiden bedeutendsten Zeugen alter Kurzschrift diese Handschrift und ihr Künder, Cassellani. Der Band liegt seit fast genau 300 Jahren in Kassel: 1686 7 kam er mit rund 4600 Büchern - darunter nicht sehr vielen, darum aber um so wertvolleren Handschriften — von Heidelberg nach Kassel. 1685 war Kurfürst Karl von der Pfalz gestorben. E r hatte testamentarisch alle bewegliche Habe, die sich in seinen Schlössern befand, der fürstlichen Verwandtschaft vermacht. Danach sollte sein Vetter Karl (1680—1730), Landgraf von Hessen-Kassel, neben einigen Geschützen und Kunstgegenständen die gesamte Bibliothek erhalten. Der schwächliche Kurfürst hatte sich bei der Abfassung dieses Testamentes offensichtlich von Günstlingen verleiten lassen. So fiel es den betrogenen engeren Verwandten leicht, es anzufechten, zumal noch ein früheres existierte, das nicht so radikal mit dem Inventar umging. Dennoch erhielt der Kasseler Vetter die wertvolle Büchersammlung, freilich ohne die Bände, die speziell wittelsbachischen Bezug hatten. 8 Bevor die Bibliothek im Juli 1686, in 19 Kisten verpackt, nach Kassel geschafft wurde, legte der kurpfalzische Bibliothekar Lorenz Beger (1653 — 170 j) 9 einen flüchtigen Katalog 1 0 , besser eine Liste der zu überführenden Bestände an, die freilich so lapidare Angaben über die Titel macht, daß eine Identifizierung in vielen Fällen schwer fällt. Sub Lit. Ζ. in folio )2 jedoch verzeichnete er Notae Senecae Msc auff pergament, worunter man ohne Mühe unseren Codex erkennen kann. Bevor der Kasseler Bibliothekar Albert Duncker (1843 1886) sich erstmals mit der Erwerbung der jüngeren Palatina befaßt hatte und dabei mit Hilfe des Begerschen Verzeichnisses die wichtigsten Handschriften aus dieser Transaktion identifizierte, glaubte man an Fuldaer Provenienz der Notae. Wieso diese Handschrift nicht 1622 auf 1623 nach Rom entführt wurde, ist ebenso unbekannt wie bei dem ehemals Heidelberger, jetzt Kasseler Thukjdides, der nach einem Eintrag auf dem vorderen Spiegel in dem Kirchen Rathn gelegen hatte und so der Plünderung entgangen war. Auch bei den anderen Handschriften aus der Jüngeren Palatina wissen wir ja nicht, wie sie nach Heidelberg gekommen sind; wahrscheinlich ist, daß sie zu den Neuerwerbungen gehörten, mit denen Karl Ludw i g v o n der Pfalz nach 1652 seine Hofbibliothek wieder aufbaute 1 2 . Auch die bei der Requirierung übersehenen oder übergangenen Bände fanden hier ihren Platz. 1 3 Die Geschichte dieser Requirierung ist hinlänglich bekannt: 1 4 Nach der Eroberung Heidelbergs durch Tilly trug der päpstliche Skriptor Leone Allacci auf Geheiß Gregors X V . zwischen Dezember 1622 und Februar 1623 Handschriften und Drucke aus allen Heidelberger Bibliotheken - nicht nur aus der eigentlichen Palatina in der Heilig-Geist-Kirche - zusammen. Dann brachte er sie zunächst nach München und schließlich in 196 Fässern nach Rom, w o sie am 5. August 1623 im Vatikan übergeben wurden. Soviel zur bislang bekannten vita der Kasseler Tironischen Noten.

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Die Literatur über den Sponheimer, später Würzburger Abt Johannes Trithemius ist umfangreich, was nicht wundernimmt bei der Schlüsselstellung, die er in der Zeit des Umbruches um 15 00 einnahm, beim Facettenreichtum seiner literarischen Tätigkeit und der Konsequenz, mit der er sich dem Buch verschrieben hatte. Die Reihe der interpretatorischen Annäherungen soll hier nicht vermehrt werden, da sei auf die beiden wichtigsten Monographien der letzten Jahre - von Arnold 1 5 und v o n Brann 1 6 - verwiesen, v o n denen die erstere nützlicher, die zweite anspruchsvoller ist. Wenn man v o n Trithemius redet, meint man zugleich auch immer seine Bibliothek, besser seine beiden Bibliotheken: die im nahe Kreuznach gelegenen Kloster Sponheim und die des Schottenklosters zu Würzburg. Beide sind sein Werk, auch wenn einige Handschriften und Drucke aus der Zeit vor Trithemius stammen. Die Sponheimer Bibliothek hat er in den wenigen Jahren seiner Amtszeit ( 1 4 8 3 - 1 5 0 6 , freilich hatte er schon im April 1505 Sponheim verlassen) fast aus dem Nichts zu einer der bekanntesten Sammlungen seiner Zeit gemacht (rund 2000 Bände sollen es gewesen sein) 17 . Die Würzburger Bibliothek brachte er bis zu seinem Tode ( 1 5 1 5 ) immerhin auf 400 Titel, die in etwa 250 Bänden gebunden waren 1 8 , darunter auch 50 Handschriften, v o n denen noch 40 in Würzburg liegen. Dagegen hat die reiche Sponheimer Bibliothek ein deprimierendes Schicksal nach dem freiwillig-unfreiwilligen Weggang des Abtes erlitten. Doch zunächst zum Wachsen dieser kurzlebigen Sponheimer Einrichtung. Aus der Frühzeit des in den zwanziger Jahren des 12. Jahrhunderts gegründeten K l o sters haben sich nur wenige Handschriften erhalten, so ein Evangeliar saec. X I I , das jetzt in St. Paul in Kärnten liegt. 1 9 Trithemius, auf den literarischen R u h m seines armen Klosters bedacht, dichtete Sponheim schon für die Zeit des ersten Abtes Bernhelm 2 0 eine Blütezeit an. In seinem zu Würzburg verfaßten Chronicon Sponheimense21, der wichtigsten Quelle über das Kloster, seine Bibliothek und natürlich besonders des Trithemius eigenes Wirken dort, berichtet er, daß schon im 14. Jahrhundert Teile dieser ersten Büchersammlung verloren gegangen waren. 1434 gar hatte A b t Gobelinus die verbliebenen wertvollen Handschriften nach Trarbach gebracht. So fand Trithemius' Amtsvorgänger, Johannes v o n Kolenhausen, nur acht Bücher und eine zweibändige Bibel vor, der Trittenheimer selbst bei seiner Wahl zum 25. A b t von Sponheim am 29. Juli 1483 immerhin auch nur 48. 22 In den folgenden 22 Jahren machte er, der finanziell wahrlich nicht auf Rosen gebettet war, in rastloser Schreiber- und Sammlertätigkeit seine Bibliothek zu einem der großen Anziehungspunkte des frühen Humanismus in Deutschland, nicht, weil ein Bestand von 2000 Bänden für eine Klosterbibliothek dieser Zeit so außergewöhnlich gewesen wäre 2 3 , sondern der erlesenen Werke wegen, die er zusammengetragen hatte. So schreibt Magister Matthäus Herbenus am 14. August 1495 aus Sponheim an J o d o cus Beissel:

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... si in Germania nostra Hebraea aliqua Graecave academia sit ea Spanhemense coenobium est: ubi plus eruditionis concipere possis ex parietibus, quam multorum aliorum pulverulentis atque librorum inanibus bibliothecis...24 Hart ist es ihn angekommen, diesen Schatz aufgeben zu müssen. Jahrelange Streitereien mit seinen eigenen Mönchen, die sich nicht mit den häufigen Visitationsreisen ihres Abtes, den vielen Besuchern aus halb Europa, den - wie sie unterstellten - hohen Summen aus Klosterbesitz für Buchkäufe abfinden mochten, schließlich sein Eintreten für den weltoffenen Kurfürsten Philipp von der Pfalz im bayerischen Erbfolgekrieg 1504/5, der für diesen einen unglücklichen Verlauf nahm, alles dies eskalierte letzten Endes in des Trithemius Entscheidung zu resignieren und sich nach einem anderen Wohnsitz umzusehen25, einem, wo er nach aller Voraussicht nicht zu sehr durch die Unbilden prosaischer Verwaltungstätigkeiten von seinem Leben mit Büchern abgelenkt wäre. Und das versprach das Schottenkloster St. Jakob in Würzburg zu sein. Schmerzlich, wie gesagt, daß er seine Bibliothek in Sponheim lassen mußte. Natürlich bemühte er sich von Würzburg aus immer wieder, einzelne Bände in seinen Besitz zu bringen 26 , auch wenn es ihm prinzipiell darum ging, die Sponheimer Bibliothek als Ganzes zu erhalten. Einige Male ist er sogar selbst in seiner alten Wirkungsstätte gewesen, zuletzt 1515 2 7 , um für Kaiser Maximilian und Herzog Friedrich von Sachsen nach bestimmten historischen Werken zu suchen, ein Vorgang, auf den hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zuvor schon (1515) hatte er einen seiner Mönche auf den Weg geschickt, damit er in Sponheim anhand einer von Trithemius selbst geschriebenen Liste nach einer ganzen Reihe von Handschriften suche, die er gerne in Würzburg hätte. Diese Liste hat sich erhalten28, obwohl oder weil der Bote erfolglos war, und diese Liste nun enthielt einen Titel, der hier besonders interessiert: Libellus est antiquissimus in pergameno scriptus sine asseribus notas continens Ciceronis ut sie: Convenit - decet - valet etc. est quasi vocabularius, et note vel characteres verbaprecedunt. Es ist ein alt verrunzelt buchlin. Eis (seil, monachis) non deservitP Daß dem Schottenabt besonders an diesem Codex gelegen war, ist verständlich, hatte er sich doch in zweien seiner Werke selbst mit Geheimschrift bzw. verschlüsseltem, auf graphische Formeln reduziertem Schreiben befaßt: in der um 1500 entstandenen Steganographia und der 1508 geschriebenen, schon 1518 in Basel gedruckten Polygraphia.30 Letztere ist hier relevant, weil er darin 30 tironische Zeichen abdruckte. 31 An diesen antiken Kürzeln war ihm gelegen, ging es ihm in dem Werk doch darum, mittels zahlreicher Alphabetreihen, deren jeder Buchstabe für einen lateinischen Begriff stehen sollte, die ihrerseits wieder - über die gleichen Buchstaben einer anderen Alphabetreihe - mit verwandten Begriffen eine sinnvolle Verbindung eingehen sollten, ging es ihm also darum, eine durch keine statistische Methode zu dechiffrierende Geheimschrift zu schaffen.

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Abb. Co ι : Das Titelblatt



Severin Corsten

sondern in jüngerer Zeit ersetzt wurde. Das muß vor der Aufnahme für den Zettelkatalog der Inkunabeln geschehen sein; denn die Bearbeitungsvermerke (Angabe der bibliographischen Quellen) stehen oberhalb der reparierten Stelle. Älter als alle übrigen handschriftlichen Eintragungen ist ein Besitzvermerk, der sich oberhalb des Sachtitels befindet. Er umfaßt zwei und eine halbe Zeile und ist in einer sauberen gotischen Kursive geschrieben. Er lautet: Anno domini Millesimo quientesimo(l) vicesimo nono dedit mihi Hinrico struys Herrnannus Rinck miles atque eques aura tus hunc librum 9 die octobris Auch das Innere des Buches weist zahlreiche Spuren intensiven Gebrauchs auf. Sehen wir einmal von den Unterstreichungen ab, die sich vor allem in der hinteren Hälfte des Buches häufen. Sie sind schwer einer bestimmten Hand zuzuweisen und sind auch so zahlreich, daß sie den Charakter von Hervorhebungen verloren haben. (Man fühlt sich an die Praxis der heutigen studierenden Jugend gemahnt, die eigene und fremde Bücher bei der Lektüre mit Hilfe von sogenannten Filzstiften in ein Farbenmeer taucht, das einer späteren Lektüre durch andere Personen große Hemmnisse bereitet.) Aber es finden sich auch viele kurze und längere Bemerkungen am Seitenrand, vereinzelt auch in Form von Interlinearglossen im Text, die größeres Interesse verdienen. Sie befinden sich vor allem im rückwärtigen Teil des Buches. Eine handschriftliche Paginierung, welche die eingedruckte mit römischen Ziffern durch solche in den uns heute geläufigen arabischen wiederholt, bricht dagegen nach Blatt 50 ab. Sie scheint nicht sehr alt zu sein und läßt auf einen Leser schließen, der sich mit den römischen Zahlzeichen schwer tat. Von den Glossen und Anmerkungen sind die von geringerem Interesse, die offenbar von einer Hand des 17. (oder gar 18.?) Jahrhunderts herrühren. Wes Geistes Kind dieser Leser war, verrät die Bemerkung die er dem Kapitel „Depotatoribus A C [ CVS »ΛΕΜΟΚΑΓ g U&OfW Λ NTIi^y '.f EXPE Μ £ OV ·• J r o S t > AOßttlA ι Ε t »jiioi ivnl.i UimCV icrt rim> |»τΗΑ fMi'Vl •J® ίηΓαιί/ηο' (iifvr vpw ffrmmirw mouir· · ^Aill Ü.tiifip'.mj,'nm«jHat- A At/ t/*e tnr .,Jf, Ft ΛίΓ Jn-k'TaJrt ' f f o i i·': ^ a η ' h*,fte* j(L.Jir ut *f Yenfh itm ?efi ft» τι Λ0 i Jt*eH?hi •A & m if ^t tnitL i'fi! mte} p f e i f t t*. Rait »fe/> rri /j» wrfi* P & *' *Jßrrn) ι uut ) riikfr ?fJPt/k JaJ t/ttyn Oa¥en +ψ>α »4 enPer u efu'A e ' fen %Aei